a short film documenting work in progress for an oil painting on canvas (200 x 233 cm)

Briefwechsel in umgekehrt chronologischer Reihenfolge


Kiev, den 1. April 2015 – 9:20 bis 10:29

Lieber Volker Nemitz,

Herzliche Gruesse aus der bettelarm-schaebigen Hauptstadt unseres neuen Kriegs im Osten, Kiev. Neben der noetigen antifaschistischen Untergrundarbeit lesen wir viel und die Mehrheit in unseren mit Gefaengnis verfolgten Zirkeln sind Lohnabhaengige - wie vor 100 Jahren (12-Stundentag, umgerechnet 56 Euro im Monat). Das gemeinsame Lerninteresse dieser befreundeten Ueberlebenskuenstler*innen, Proletarier*innen auf tatsaechlich olympischem Niveau, spiegelt sich, nehmen wir ihre eigenen Bekundungen ernst, zB. in der 55-baendigen fuenften russischen Leninausgabe ab 1956 (auf Deutsch wurde nur die 2. (weimarer KPD) und 4. stalin'sche, erklaertermassen Unwissenschaftliche (SED, bis in die 60er) uebersetzt) und siehe... so kamen wir auf die "Wiederspiegelungstheorie" beim verkannten Meister. Von der hatte ich zum ersten Mal in Alfeld auf dem Schulgang gehoert. Und das Geruecht von ihr kam, wenn mich nicht alles taeuscht, aus dem Kunstleistungskurs Nemitz, den ich nichtsahnend abgewaehlt hatte.

Mit der dialektischen Wiederspiegelung ist es also anders als mit der Nemitz'schen "Studiodisziplin", von der inzwischen sogar schon unsere Tochter erzaehlt. Die genaueren Bewegungen rund um Kabel, Kamera und andere Technik ist gesicherter Lernerfolg aus Ihrer Video-AG... aber der Funke Leninismus "im reaktionaersten Winkel Niedersachsens" (Hans-Juergen Krahl zum Alfelder Gymnasium im Prozess kurz vor seinem Tod Anfang der 70er Jahre) koennte ich ihnen auch im Laufe der 30 Folgejahre ungerechtfertigterweise zugeschrieben haben. Vielleicht ist ihre Erinnerung genauer. Lerne gern dazu.

An dem Bild habe ich, mit Vorstudien, vom September 2011 bis zum Februar 2012 gearbeitet, meist mit mehr als 40-Studenwochen. Ich bin froh, dass davon etwas zu merken ist. Vom Begriff Talent halte ich nichts, die genaue Auseinandersetzung mit den materiellen Verhaeltnissen (ihre Wiederspiegelung in einem zur Aufhebung emanzipierenden Zusammenhang) kann nur erarbeitet werden, in einer Industriegesellschaft nur mit einer industriellen Verhaeltnissen entgegenkommenden Disziplin. Dazu gehoerten Fahrten mit Metro und Vorortzug um die schaebige Hauptstadt herum, zum Museum von Ostrovskij ("wie der Stahl gehaertet wurde") in Bojarki... und eines Abends entstand auf der Fahrt von Bojarki zurueck ins Zentrum die entscheidende Skizze auf Packpapier. Alles weitere waren die Muehen der Ebenen, die ich beim Wiedersehen der Arbeit bis zum Weglaufenwollen als Unausgestanden empfinde, auch das wohl ein Mischungseffekt von Wiederspiegelungen.


zum spiegelfaehigen Hintergrund der Arbeit

Der Sieg der US-Buergerkriegstechnik ab 15. November 2011 ueber die occupy-Mobilisierung, der die malerische Arbeit entscheidend erschuetterte, war das Vorspiel zur occupy-Karikatur "Majdan" also jener mordlustige Kiever Klassenkrieg von oben ab November 2013 bis heute. Dass spontane Grosspuppenthatergruppen durch die Vorortzuege gastrollierten war wie so vieles hier ein blosser Traumimport aus Amerika. Immerhin, ein Traum! Edler, menschlich angemessener und weniger fatal war dagegen der Traumimport aus dem pseudosozialistischen Schweden puenklich zum Start der konservativen Gegenrevolution Anfang der 80er. Im Gegensatz zu Astrid Lindgren hatte er nur noch 4 Buchstaben, die Sie ja frueher kannten als alle Betrachter Ihrer Fernsehbildarbeit im sturmreifen WOhlstandsdeutschland. Lindgren zahlte zum Teil mehr als 100 % Steuern, ABBA bekam fuer ihre privatisierten Fischfabriken noch staatliche Subventionen dazubezahlt. ABBA, occupy, zwei surreale Erfolge auf unserem mehrgenerationellen Weg in den ubiquitaer-paranuklearen Buergerkrieg des Spaetkapitalismus, in dem die 4 Buchstaben sich zu bloss noch "TINA" verdichtet haben: "there is no alternative". Nein, es gibt keine "alternative" mehr, keinen 3. Weg und keine Rentensicherung fuer malende meiner Generation. Wir muessen den Klassenkrieg von unten fueren lernen und Pinsel sind eine grundsaetzlich laecherliche Waffe. Aber wenn es gelingt, mit ihnen den historischen Ernst der proletarischen Wut gegen die neuen Kriegsherren hier auch nur - notgedrungenerweise - surreal wiederzuspiegeln, dann hat sich die Leinwanddestillation aus 1000 Arbeitsstunden gelohnt. Nehmen sie sie sich! Die Fruechte der Kunst gehoeren denen, die sich die Arbeit machen sie anzuschauen und jene wesentlichsten Wiederspiegelungen zu realisieren, die den Herstellenden historisch nur im Traum erscheinen konnten.

Zum Deckenbild: "IHR seid der Vulkan" 2,70 cm mal 2,70 cm. Wenn die Deckenkonstruktion (ein Rahmen liegt bereit) zu viel Studiodisziplin bei der Montage ueer den Koepfen der zukuenftigen Vulkane abverlangt, lieber die Skizze auf Leinwand einfach auf den Boden legen. Es geht um Aufhebung der Gravitationsorientierung (Ausbruch). Das geht nicht an der Wand. Das Bild ist in einem Vorstadium. Die Ausfuehrung war moeglich nur vom 5. August 2012 bis zum 8. September 2012, also ein fuenftel des Arbeitsstundenvolumens des Vorlaeufgerbildes. Das Rostocker Landgericht (politischer Prozess zum G8, ungesetzliche Geiselnahme durch deutschen Staatsschutz) hat mich von der Staffelei (einem 6-Meter-Turm an freier Luft) abberufen und dann den Termin nach meiner 50-stuendigen Anfahrt wieder abgesetzt, bis heute. Eine unfertige Sache. Ich habe noch niemanden gefunden, der damit um produktiver Hinweise willen umgehen kann. Dabei habe ich es aktiv in der damaligen Ostukraine, in Kiev, Berlin und in Gruenenplan/Bevern zur Diskussion gestellt. Die Abstimmung mit den Fuessen war eindeutig. Vielleicht ist die Konstruktion fehlerhaft, ich glaube es noch nicht. Ich glaube aber auch nicht dass Alfeld mehr ueber ihren wiederspiegelnden Schatten springen kann als die 4 Ausstellungsorte davor. Lieber zum Neuueberarbeiten noch zurueckstellen aber kritische Blicke sind ein willkommender Auftakt dazu.

dankbar fuer die wichtigen Tips, die Sie als Lehrer uns auf den Weg gegeben haben,

Ihr

Martin Kraemer .
 
Datum: 30. Maerz 2015 20:42:22 MESZ
An: Kraemer
Betreff: Re: theater in einem kiewer vorortzug

Liebe Frau Kraemer,

das Bild beeindruckt mich sehr! Es hat uns (meine Frau ist bei mir) sofort gefallen.
Malerisch wirkt es sehr frisch und die Farben sprechen an; die Perspektive ist spannend und zieht den Betrachter sofort ins Geschehen hinein.
Die schwebenden Figuren oeffnen den Zugang zu einer anderen Realitaet - fast surreal .
Die Personen im Abteil und die Details erzaehlen kleine Geschichten innerhalb der grossen Story.
Das ist sehr schoen beobachtet.

Martins Bildidee ist faszinierend! Ich freue mich, dass ich auf diese Weise Gelegenheit erhalte, etwas von Martins
Kunst zu sehen. Vielleicht haben sie auch noch ein Foto des anderen Gemaeldes?

Ich werde mich bemuehen, einen angemessenen Platz fuer das Bild zu finden.

Seien Sie vorerst herzlich gegruesst
und ich melde mich, sobald etwas in Aussicht steht.

Ihr
Volker Nemitz
 
Kiev, 29. Maerz 2015
An Wiltrud und Bernd Kraemer

Hallo,

ja, Nemitz war nett und immer hilfreich. Bisschen andere Interessen als ich. Hat beim Fernsehen gearbeitet, Anfang der 80-er Jahre ABBA prsoenlich kennengelernt. Ich war sogar mal in seiner Video AG und habe von ihm seitdem den Begriuff "Studiodisziplin" verinnerlicht, den bereits Avietta kennt, das koenntet ihr ihm sagen, das ist ein wirklicher Erfolg seiner Paedagogischen Arbeit. Studiodisziplin heisst im Fernsehumfeld, man kann mit 2 unkoordinierent Bewegungen mehrere Jahresgehaelter an Ausruestung umschmeissen und ruinieren aber das passiert nicht, denn alle bewegen sich eben mit "Studiodisziplin". Wichtig fuer diszipliniertes Arbeiten im Untergrund, z.B. Also sehr aktuell.

prizipiell: Oelbilder versauern erst nach 200 Jahren wenn die Weisstoene ihre Qualitaet verlieren. Transfers bis dann immer gut, Bilder haben ausschliesslich soziale Funktion. "Theaterspieler*innen, um Aufklaerung bemueht, im Vorortzug Richtung Tschernobyl, 2011" Waere der volle Titel. Bitte aufmerksam immer die Butterseite nur nach aussen rollen beim Transport, nach Moeglichkeit nicht gerollt lagern. Moeglichst so auf den Rahmen von Dirk Scheers Vater spannen dass keine Randzentimeter abgeknickt werden wie beim Welttheater leider passiert ist.


Ich habe dreimal versucht anzurufen aber niemanden erreicht auf beiden Nummern, weil Mascha sagte Wiltruds Stimme klang so endgueltig zu der Frage. Wir schaetzen sie etwas anders ein:
Die Kongressentscheidung zu toedlichen Waffen ist eher ein Fahnenschwenken, denn die wirkliche Entscheidung liegt beim Praesidenten, der sich gerade dazu bedeckt haelt. Im Fall einer Praesidentialentscheidung bereiten meine Freunde in der Duma (Assistentenebene) eine Entscheidung vor, die dem russischen Praesidenten den Einmarsch in die Restukraine des Kiever Regimes erlaubt. In dem Fall helfen den Aggressoren weder Tod noch Teufel, sondern nur ihre Kombination noch, d.h. allein die Nuklearstreitmacht der USA (zur Zeit 8000 Wassenstoffbombern). Also kein lokal wirklich eingrenzbares Eskalationsszenario.
Es geht ja auch perfiederweise bloss noch um die Legalisierung eines verdeckten lethalen Waffenexports USA-Ukraine, der seit einem Jahr aberwitzige Blueten treibt. Die Antifaschistischen Aufstaendischen schliessen Wetten darueber ab wie lange die jeweils neuen Panzer auf der Gegenseite kaempfen bis sie dem sozialen Aufstand in die Haende fallen... dieser dialektische Transfer kostet natuerlich extreme Opfer auf Seiten der Antifaschist*innen, aber die russischsprachige Gesellschaft kann damit seit 1941 besser umgehen als irgendeine andere der Welt, das dokumentieren zB. die ausgesprochen sympathischen Witze hier nicht ueber Deutsche, sondern ueber "Fritze", Lieder und so weiter von VOR, wahrend und kurz nach Stalingrad. Respektvoll und unbeugsam gegen den Klassenfeind, gutes Vorbild fuer unsere jetzigen Aufgaben hier. Dazu bitte strikt nichts am Telefon und nicht im Emailaquarium wie ihr wisst.

Rotfront!

Euer Martin

lieber martin,

euer kunstlehrer nemitz leitet jetzt in alfeld die
senioren-akademie. er soll oefters lobende worte (…).
jetzt muss ich dich fragen, ob ich das richtig verstanden habe.
das ganze wurde mir erzaehlt, ich selbst bin ja nicht
bei der senioren-akademie engagiert. wenn du tatsaechlich ein
gutes verhaeltnis zu ihm hattest, moechte ich ihn fragen,
ob er einen ort fuer dein grosses bild als leihgabe oder ankauf hat,
damit es bei uns nicht versauert.

kommt ihr zu ostern, ich denke eine entscheidung
kaeme vielleicht gerade noch rechtzeitig.

also die adresse ist (…)
lasst es uns wissen, was ihr vorhabt.
liebe gtruesse euch allen - wiltrud+bernd

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