XXV. Band 1940 Heft 3/4
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Begründet von
Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
S. G. Biddle G. Bose Helene Deutsch M. Eitingon Lewis B. Hill S. Hollös Philadelphia Kalkutta Boston Jerusalem Baltimore Budapest Ernest Jones J. W. Kannabich L.S. Kubie Helen V. Maclean K. Marui K.A. Menninger London Moskau New York Chicago Sendai - Topeka S. J. R. de Monchy Ch. Odier Philipp Sarasin H.Schjelderup Alfhild Tamm Y.K. Yabe Rotterdam Paris Basel Oslo Stockholm Tokio
herausgegeben von Anna Freud
redigiert von
Edward Bibring Heinz Hartmann Wilhelm Hoffer London Lausanne London Ernst Kris Robert Waelder | London Boston EN TEEN ELTERN TE ET EEE VE RETTET EEE TEE EEE EEE Sigm. Freud . . . . 2.2.0.0. 0. Die Ichspaltung im Abwehrvorgang P. Federn . . . . 2. 20.20.20... Hysterie und Zwang in der Neurosenwahl W. Hoffer. /. . . 2 20.200.000. Analyse einer postencephalitischen Geistes- | störung L. Eidelbeeg . . . . . 2.2... Triebschicksal und Triebabwehr D. Burlingham . . . . . 2.0.0. Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern -E. Glover . . . 2. 2 2.20.2020. Über die durch den Krieg verursachten Än- derungen unserer in psychischen Ökonomie I K. Mannheim . . . . » 2... Über die durch den Krieg verursachten Än- derungen in unserer psychischen Ökonomie I M. Mitnitzky-Vagö . . . . . ...... Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt
Mitteilungen und Diskussionen
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Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago
Begründet von Sıgm. Freud
XXV. BAND 1940 Heft 3/4
Die Ichspaltung ım Abwehrvorgang‘
(Aus dem Nachlass)
von Sigm. Freud
Ich befinde mich einen Moment lang in der interessanten Lage nicht zu wissen, ob das, was ich mitteilen will, als längst bekannt und selbstverständlich oder als völlig neu und befremdend gewertet werden soll. Ich glaube aber eher das letztere.
Es ıst mir endlich aufgefallen, dass das jugendliche Ich der Person, die man Jahrzehnte später als analytischen Patienten kennen lernt, sich in bestimmten Situationen der Bedrängnis in merkwürdiger Weise benommen hat. Die Be- dingung hiefür kann man allgemein und eher unbestimmt angeben, wenn man sagt, es geschieht unter der Einwirkung eines psychischen 'Traumas. Ich ziehe esvor, einen scharf umschriebenen Einzelfall hervorzuheben, der gewiss nicht alle Möglichkeiten der Verursachung deckt. Das Ich des Kindes befinde sich also im Dienste eines mächtigen 'Iriebanspruchs, den zu befriedigen es gewohnt ist, und wird plötzlich durch ein Erlebnis geschreckt, das es lehrt, die Fortsetzung dieser Befriedigung werde eine schwer erträgliche Gefahr zur Folge haben. Es soll sich nun ent- scheiden: entweder die reale Gefahr anerkennen, sich vor ihr beugen und auf die Triebbefriedigung verzichten, oder die Realität verleugnen, sich glauben machen,
1) Das Manuskript, das Fragment geblieben ist, trägt das Datum 2. Januar 1938. 17
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dass kein Grund zum Fürchten besteht, damit es an der Befriedigung festhalten kann. Es ist also ein Konflikt zwischen dem Anspruch des Triebes und dem Ein- spruch der Realität. Das Kind tut aber keines von beiden, oder vielmehr, es tut gleichzeitig beides, was auf dasselbe hinauskommt. Es antwortet auf den Konflikt mit zwei entgegengesetzten Reaktionen, beide giltig und wirksam. Einerseits weist es mit Hilfe bestimmter Mechanismen die Realität ab und lässt sich nichts verbieten, anderseits anerkennt es im gleichen Atem die Gefahr der Realität, nımmt die Angst vor ihr als I,eidenssymptom auf sich und sucht sich später ihrer zu erwehren. Man muss zugeben, das ist eine sehr geschickte Lösung der Schwierigkeit. Beide streitenden Parteien haben ihr T'eil bekommen; der Trieb darf seine Befriedigung behalten, der Realität ist der gebührende Respekt gezollt worden. Aber umsonst ist bekanntlich nur der Tod. Der Erfolg wurde erreicht auf Kosten eines Einrisses im Ich, der nie wieder verheilen, aber sich mit der Zeit vergrössern wird. Die beiden entgegengesetzten Reaktionen auf den Konflikt bleiben als Kern einer Ichspaltung bestehen. Der ganze Vorgang erscheint uns so sonderbar, weil wir die Synthese der Ichvorgänge für etwas Selbstverständ- liches halten. Aber wir haben offenbar darin Unrecht. Die so ausserordentlich wichtige synthetische Funktion des Ichs hat ihre besonderen Bedingungen und unterliegt einer ganzen Reihe von Störungen.
Es kann nur von Vorteil sein, wenn ich in diese schematische Darstellung die Daten einer besonderen Krankengeschichte einsetze. Ein Knabe hat im Alter zwischen drei und vier Jahren das weibliche Genitale kennen gelernt durch Ver- führung von Seiten eines älteren Mädchens. Nach Abbruch dieser Beziehungen setzt er die so empfangene sexuelle Anregung in eifriger manueller Onanie fort, wird aber bald von der energischen Kinderpflegerin ertappt und mit der Kastra- tion bedroht, deren Ausführung, wie gewöhnlich, dem Vater zugeschoben wird. Die Bedingungen für eine ungeheure Schreckwirkung sind in diesem Falle gege- ben. Die Kastrationsdrohung für sich allein muss nicht viel Eindruck machen, das Kind verweigert ihr den Glauben, es kann sich nicht leicht vorstellen, dass eine Trennung von dem so hoch eingeschätzten Körperteil möglich ist. Beim Anblick des weiblichen Genitales hätte sich das Kind von einer solchen Möglich- keit überzeugen können, aber das Kind hatte damals den Schluss nicht gezogen, weil die Abneigung dagegen zu gross und kein Motiv vorhanden war, das ihn erzwang. Im Gegenteile, was sich etwa an Unbehagen regte, wurde durch die
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Auskunft beschwichtigt, was da fehlt, wird noch kommen, es — das Glied — wird ihr später wachsen. Wer genug kleine Knaben beobachtet hat, kann sich an eine solche Äusserung beim Anblick des Genitales der kleinen Schwester erinnern. Anders aber, wenn beide Momente zusammengetroffen sind. Dann weckt die Drohung die Erinnerung an die für harmlos gehaltene Wahrnehmung und findet in ihr die gefürchtete Bestätigung. Der Knabe glaubt jetzt zu verstehen, warum das Genitale des Mädchens keinen Penis zeigte, und wagt es nicht mehr zu bezweifeln, dass seinem eigenen Genitale das Gleiche widerfahren kann. Er muss fortan an die Realität der Kastrationsgefahr glauben.
Die gewöhnliche, die als normal geltende Folge des Kastrationsschrecks ist nun, dass der Knabe der Drohung nachgibt, im vollen oder wenigstens im par- tiellen Gehorsam — indem er nicht mehr die Hand ans Genitale führt — ent- weder sofort oder nach längerem Kampf, also auf die Befriedigung des 'I'riebes ganz oder teilweise verzichtet. Wir sind aber darauf vorbereitet, dass unser Patient sich anders zu helfen wusste. Er schut sich einen Ersatz für den vermissten Penis des Weibes, einen Fetisch. Damit hatte er zwar die Realität verleugnet, aber seinen eigenen Penis gerettet. Wenn er nicht anerkennen musste, dass das Weib ihren Penis verloren hatte, so büsste die ihm erteilte Drohung ihre Glaub- würdigkeit ein, dann brauchte er auch für seinen Penis nicht zu fürchten, konnte ungestört seine Masturbation fortsetzen. Dieser Akt unseres Patienten imponiert uns als eine Abwendung von der Realität, als ein Vorgang, den wir gern der Psychose vorbehalten möchten. Er ist auch nicht viel anders, aber wir wollen doch unser Urteil suspendieren, denn bei näherer Betrachtung entdecken wir einen nicht unwichtigen Unterschied. Der Knabe hat nicht einfach seiner Wahr- _ nehmung widersprochen, einen Penis dorthin halluziniert, wo keiner zu sehen war, sondern er hat nur eine Wertverschiebung vorgenommen, die Penis- bedeutung einem anderen Körperteil übertragen, wobei ihm — in hier nicht anzuführender Weise — der Mechanismus der Regression zu Hilfe kam. Freilich betraf diese Verschiebung nur den Körper des Weibes, für den eigenen Penis änderte sich nichts.
Diese, man möchte sagen, kniflige Behandlung der Realität entscheidet über das praktische Benehmen des Knaben. Er betreibt seine Masturbation weiter, als ob sie seinem Penis keine Gefahr bringen könnte, aber gleichzeitig entwickelt er in vollem Widerspruch zu seiner anscheinenden Tapferkeit oder Unbekümmert-
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heit ein Symptom, welches beweist, dass er diese Gefahr doch anerkennt. Es ist ihm angedroht worden, dass der Vater ihn kastrieren wird, und unmittelbar nachher, gleichzeitig mit der Schöpfung des Fetisch, tritt bei ihm eine intensive Angst vor der Bestrafung durch den Vater auf, die ihn lange beschäftigen wird, die er nur mit dem ganzen Aufwand seiner Männlichkeit bewältigen und über- kompensieren kann. Auch diese Angst vor dem Vater schweigt von der Kastration. Mit Hilfe der Regression auf eine orale Phase erscheint sie als Angst, vom Vater gefressen zu werden. Es ist unmöglich, hier nicht eines urtümlichen Stücks der griechischen Mythologie zu gedenken, das berichtet, wie der alte Vatergott Kronos seine Kinder verschlingt und auch den jüngsten Sohn Zeus verschlingen will, und wie der durch die List der Mutter gerettete Zeus später den Vater entmannt. Um aber zu unserem Fall zurückzukehren, fügen wir hinzu, dass er noch ein anderes, wenn auch geringfügiges Symptom produzierte, das er bis auf den heutigen Tag festgehalten hat, eine ängstliche Empfindlichkeit seiner beiden kleinen Zehen gegen Berührung, als ob in dem sonstigen Hin und Her von Ver- leugnung und Anerkennung der Kastration doch noch ein deutlicherer Ausdruck
zukäme....
Hysterie und Zwang ın der Neurosenwahl
von
Paul Federn
New York
Es soll uns hier die Frage beschäftigen, worin sich die Kindheitsentwicklung des späteren Zwangsneurotikers von der des späteren Hysterikers unterscheidet. Wir setzen dabei voraus, dass es nötig ist, die beiden Krankheitsformen zu unter- scheiden. Dadurch, dass wir eine frühe Differentialdiagnose zwischen ihnen finden, ist diese Trennung neuerlich gerechtfertigt. Über den Weg genauer diagnostischer Unterscheidung wollen wir zum Hauptunterschied in der Genese gelangen. Der Unterschied in der Frühentwicklung muss mit der bereits be- kannten Verschiedenheit in der Disposition übereinstimmen.
Von Beginn seiner Forschungen an interessierte sich Freud für die Frage, die er das Problem der ‚Neurosenwahl’” genannt hat. Freud und alle, die ihm folgen, halten daran fest, die verschiedenen Arten der funktionellen Störungen zu unterscheiden und nicht zu der alten Methode zurückzukehren, alle nicht wesentlich organischen Krankheiten mit banalen Namen, wie Neurasthenie, Erschöpfungszustand und neuerlich ‚neurotischer Zustand’’ zu bezeichnen. Früh hat Freud Angstneurose und Hysterie getrennt, und bei letzterer unter- schied er wieder Hysterie im engeren Sinne und Angsthysterie, die man all- gemein als Phobie bezeichnet.
Einige Konversionssymptome, z. B. Krämpfe, Kontrakturen, Lähmungen, Erbrechen und Schmerzen, Anfälle und Trancezustände, schliesslich die hysteri- schen Stigmen werden von jedem Arzt als hysterische Symptome anerkannt, und ebenso werden typische Rituale und Zeremonielle immer der Zwangsneurose zugeschrieben. Aber es gibt Symptome, die Züge von beiden Krankheiten tragen und nicht mit Entschiedenheit einer von ihnen zugeschrieben werden können. Die Tics sind solch eine Gruppe: das Individuum ist ihnen unterworfen wie einem Zwange, sie drücken aber seelische Reaktionen körperlich aus, wie z. B. ein Konversionssymptom. Auch die allgemeine Haltung des Patienten bringt keine Entscheidung, weil man Tics sowohl bei hysterischem wie bei zwangs- neurotischem Charakter auftreten sieht. Manche Tics werden völlig zwangsartig, und man könnte auch das immer wiederholte Denken an einen und denselben Gegenstand einen Denktic nennen. Die ganze Frage kann man umgehen, wenn man die Tics als genügend spezifisch ansieht, um aus ihnen eine spezielle Neurosen-Gruppe zu machen, etwa eine Gruppe von „Muskel-Organneurosen”.
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Immerhin glaube ich, dass die Analytiker darin einig sind, dass die Tics nicht zur Zwangsneurose gehören.
Eine weitere Schwierigkeit bildet eine Art Phobie: Viele Zwangsneurotiker wissen ganz genau, welche Gegenstände oder welche Bedingungen notwendiger- weise ihre Zwänge auslösen. In Bezug auf diesen Gegenstand entwickeln sie eine ausgesprochene Phobie. Jederman kennt das tragikomische Bemühen, mit dem solche Kranke es vermeiden, bestimmte Arten von Schmutz oder Glas-Splitter, eine bestimmte Feuchtigkeit oder Geldnoten in’s Auge zu fassen oder sogar auf die Uhr oder noch spezieller auf eine Turmuhr zu schauen.
Der Unterschied zwischen hysterischen und zwangsneurotischen Phobien ist, dass der Zwangsneurotiker Angst davor hat, seinem Zwang zu verfallen, der Hysteriker den Angstanfall selbst fürchtet. Der Hysteriker rationalisiert seine Phobien mehr, weit mehr als der Zwangsneurotiker, der sie als gegebene Ab- sonderlichkeiten seines Wesens auffasst. Dafür versteckt er seine Phobien in einem stärkeren Masse als der Hysteriker es zu tun versucht. Da aber manche Zwänge eine ganz bestimmte Besorgnis oder Gefahr bringende Möglichkeit zum Inhalt haben, entwickeln sie sich im Mechanismus sehr ähnlich einer Phobie gleichen Inhalts, die den Hysteriker, wie sonst den Zwangsneurotiker, in seinem Tun und Lassen hemmt. Die Angst und ihre Vermeidung ist eben beiden Zuständen gemeinsam und bedingt Gleichheit des manifesten Benehmens. Und doch ist der Mechanismus beider Zustände typisch verschieden. Wenn aber schon solche Gleichheit zwischen Zwangsbefürchtung und Phobie besteht, soll man wenig- stens sonst den klinischen Begriff der Zwangsneurose präzis festhalten und nicht bereits von Zwang sprechen, wo und wann immer eine starke triebhafte Ursache einem Zustand den Charakter der Unvermeidlichkeit verleiht. Allge- meine Süchtigkeit und spezielle Süchte, Klepto- oder Pyromanie, kriminelle Neigungen oder Perversionen dürfen wir nicht als Zwangsneurose bezeichnen. Nicht alles, was beherrscht, ist ein „Zwang’.
Verallgemeinerung eines Begriffes verschleiert die klinischen und ursächlichen Unterschiede. Bestimmte klinische Zeichen des Zwanges habe ich in einer vorläufigen Mitteilung und in mehreren Vorträgen beschrieben. In jedem zwangs- neurotischen System, ob blosse Vorstellung oder Handlung, müssen bestimmte Vorschriften vom Kranken eingehalten werden, die nicht verstandesmässig, sondern gefühlsmässig gegeben sind; die gefühlsmässig richtige Befolgung ver- langt aber intensive Gedankenarbeit und vor allem eine merkwürdige, nur bei der Zwangsneurose uns begegnende Mischung von Aufmerksamkeit und Unauf- merksamkeit.
Diese Gesetze sind dem Kranken als unerlässlich aufgezwungen und werden wie eine „Frohnarbeit”’ empfunden. Ich spreche deshalb von den sechs Frohn-
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gesetzen der Zwangsneurose, von denen vier allgemein gelten. Die früher genannten Krankheiten oder krankhaften Neigungen, die auch das Individuum gleichsam unterwerfen, zeigen nicht die Notwendigkeit, den Frohngesetzen zu folgen. Selbst der einzelne Anfall einer ausgesprochenen Kleptomanie, den die Kranke als einen Impuls, dem sie nicht entgehen konnte, vorher und nachher beschreibt, wird während des Zustandes als leidenschaftliches Verlangen und Wollen, nicht als Müssen empfunden und wird nicht durch auftretende Angst sanktioniert.
Nur wenn der Zwangsneurotiker die von ihm gefühlten, in ihm unbewusst entstandenen, sehr präzisen, aber nicht formulierten Vorschriften befolgt hat, ist die Funktion des Zwangssymptoms erfüllt; sein Seelenzustand tritt aus dem der Eingeengtheit in den des Behagens, allerdings eines Behagens, das in schweren Fällen von vielen Fussangeln und Versuchungen umlauert wird. Er hat dann das Gefühl, seine nun ihm krankhaft erscheinende Pflicht erfüllt zu haben. Die Befriedigung besteht darin, dass er fühlt, den Zwang inhaltlich völlig genau, und dies ohne Zweifel und Gegenwillen, ohne Nebengedanken im Zustand völliger Konzentration ausgeführt zu haben. Die Regel bezieht sich sowohl auf den ganzen Zwang als auf die Teilinhalte.
Die Strenge dieser Verpflichtungen macht die häufige Wiederholung nötig, so dass Zwangshandlungen trotz ihrer scheinbaren Einfachheit Stunden in Anspruch nehmen. Die Regeln sind jede für sich nicht leicht zu befolgen; mit einander kombiniert sind sie aber an der Grenze der Erfüllbarkeit. Kaum zu schildern ist die Schwierigkeit in der ökonomischen Besetzung der einzelnen Handlungen oder Denkvorgänge: um nämlich exakt, rein, isoliert, in richtiger Aufeinanderfolge und ganz hingegeben eine solche Reihe von Innervationen zu vollenden, muss Schwung und Rhythmus unter Bedachtnahme der Gesamtaufgabe, aber ohne bewusst auf sie zu achten, in jeder einzelnen Handlung richtig bemessen sein. Der gesamte Zwang ist eine Einheit an Verteilung des psychischen Ge- wichts auf alle Teilaufgaben. Der Kompromiss-Charakter des neurotischen Symptoms zeigt sich in den Zwangsregeln und wird durch die Ökonomie der Ausführung symbolisiert.
Am schwersten ist die Aufgabe, mit dem ganzen Ich dabei zu sein und doch nichts anderes zu denken als die jeweils an die Reihe kommende Einzelaufgabe. Die Aufgabe wird mit aller Strenge vom Über-Ich verlangt; die Regelerfüllung wird unbedingt durchgesetzt, und zwar mit voller Folgsamkeit des Ichs; dieser Zwang des Ichs ist bewusst, unbewusst ist, dass er vom Über-Ich ausgeht; das ist nur analytisch aufzudecken.
Wir gewinnen aus alledem den Eindruck, dass jeder Zwang phäno- menologisch eine in seinem Wesen liegende Einheit
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verrät. Von dieser Einheitlichkeit aus kommen wir zum T'hema der Neurosen- wahl. Solche Einheit ist nämlich charakteristisch für den Zwang, aber nicht für das hysterische Symptom. Diese Einheitlichkeit betrifft den Ichzustand, der zum Symptom wesentlich dazugehört, wenngleich, bei blossem Interesse für die inhaltliche Genese krankhafter Erscheinungen, in der Psychoanalyse nicht danach gesucht wird und er daher auch unerkannt bleibt. Jeder Zwang verlangt — das ist die vierte, wichtigste innere Vorschreibung — volle Ganzheit und Gegen- wärtigkeit des Ichs. Die „Sühne’” für unbewusste Konflikte wird vom Zwang unter dauernder vollster Selbstüberwachung geleistet. Mit aller Konzentrations- kraft, mit voll besetzten Ichgrenzen reagiert das Ich im Zwange auf seine neuro- tische Angst.
Im Gebot, dass der Fromme ‚‚mit ganzen Herzen und ganzem Leibe’’ seinem Herrn dienen soll, hat der Psychologe aus jener frühen Zeit einen Gehorsam mit seinem ganzen Ich verlangt, mit dem körperlichen wie mit dem seelischen. Gemeint war freiwilliger Gehorsam; die Massenneurose hat daraus ein Müssen gemacht, das sich auf immer mehr Selbsteinschränkungen mit wachsender inhaltlicher Genauigkeit und auf immer weitere Gebiete erstreckte, gleichwie sich jede Zwangsneurose weiter entwickelt. Unter den Auslegern der Gesetze gab es wohl viele Zwangsneurotiker, wie unter den Heiligen Hysteriker, die sich für fromm und erwählt, aber nicht für krank hielten.
Der individuelle Zwangsneurotiker mag heutzutage das Wort ‚„Krankheit’’, durch die psychoanalytische Einsicht aufgeklärt, auf sich anwenden. Ehrlicher- weise hält er sich nicht für krank. Er hat Krankheitseinsicht ohne Krankheits- gefühl, der Hysteriker Krankheitsgefühl ohne Einsicht. Der Zwangsneurotiker empfindet sich als absonderlich, er fühlt sich anders als in zwangsfreien Perioden und verschieden von den anderen, er wird von seinen Absurditäten intrigiert, geärgert und belustigt. Sein Leiden fühlt er als Mischung von seelischer Schwäche und Überstärke. Es ist paradox, dass man so machtlos gegenüber seinem Zwange und so unermüdlich und stark im Dienst des Zwanges sein kann. Für die Umge- bung scheint es unmöglich, einer Zwangsneurose gegenüber ihre Ruhe zu be- wahren; sie sieht eine ungeheure Willenskraft vergeudet und verlangt immer wieder, er solle sie zum Aufgeben des Zwangs verwenden, oder mit seiner unge- wöhnlichen Intelligenz gescheit genug sein, von den absurden Verrichtungen zu lassen. Hier wird das Wort Nestroys zur ständigen Wirklichkeit: ‚Jetzt weiss ich nicht, bin Ich stärker oder Ich ?” Die abnormale Ichstärke wird von dem noch stärkeren Über-Ich im Schach gehalten und gezwungen, allen Willen gegen sich selbst zu benutzen. Nur der Zwangsneurotiker weiss so recht, was es heisst, „zu müssen”; das Müssen des Gesunden bedeutet doch immer ein ihm aufge- zwungenes eigenes Wollen. Aber die Zwangsneurose beraubt den Kranken völlig
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seines subjektiv freien Willens, soweit die Neurose reicht. „Soll er gehen, soll er kommen, der Entschluss ist ihm genommen”, heisst es in der vollendet schönen Schilderung der Zwangsneurose im letzten Akte des zweiten Teils Faust. Aber er schwankt nicht zwischen Eigenwillen und Gehorsam, vielmehr besteht die zur Schau gestellte Ambivalenz im Widerstreit der Teile eines Zwanges und stammt aus einander widersprechenden verschiedenen Wurzeln und Schichten des Zwanges.
Im Gegensatz zum geschilderten Phänomen des Zwangszustandes erfüllt jede Hysterie ganz andere innere Bedingungen. Das Krankheitsgefühl des Hy- sterischen ist grösser als der Arzt ihm zubilligt. Die Umgebung des Kranken aber würde die Krankheit überhaupt nicht bezweifeln, wenn nicht die wissen- schaftliche Anschauung seit Charcot und noch mehr seit der Ausbreitung psychoanalytischer Kenntnisse auch die Laien über die Absicht, die sich hinter den Symptomen verbirgt, belehrt hätte. Während die zwangsneurotische Persön- lichkeit starr erscheint, ist die hysterische lenkbar und wechselnd; selbst die „belle indifference’’ ist nicht unveränderlich. Immer wurde die Passivität des Ichs hervorgehoben. Am Zwang haben wir hervorgehoben, dass er keine Unter- brechung durch äussere oder innere, physische und psychische Reize duldet; hysterische Phantasien, Reaktionen und auch Symptome werden durch neue Reize und Assoziationen leicht unterbrochen und modifiziert, wenn die Bedingung der Übertragung gegeben ist. Je nachdem, ob solche Reize von andern Personen oder vom Kranken selbst kommen, spricht man von der besonderen hysterischen Suggestibilit oder von Autosuggestion.
Das Ich des Zwangsneurotikers behält seine Ichgrenzen mit aller Energie bei, das ist ein Hauptzug des zwangsneurotischen Charakters. Bei der Hysterie sind die Ichgrenzen leicht beweglich, sie sind immer bereit, andere Personen in sich einzuschliessen, oder, richtiger gesagt, sich hierzu zu erweitern. Identifizierungen sind leicht herstellbar und ebenso leicht auf andere Personen zu übertragen. Die hysterischen Phantasien entstehen leicht und werden noch leichter von andern Personen ‚erborgt’’. In der Blütezeit der „grande hysterie’’ bekamen alle Kranken in einem Krankensaal mit der Zeit alle Symptome. Oft wurden sie unverdienterweise der Lüge bezichtigt, während sie tatsächlich nur eine andere Person in ihre Ichgrenze eingeschlossen hatten. So wird oft jede neu auftretende Person nachgeahmt und werden alle möglichen Vorbilder angenommen und agiert. Meinung, Glauben, Stimmung, Rationalisierung, Anhängerschaft wech- seln so oft und leicht, dass man immer auf Überraschungen gefasst sein kann. Der Hysteriker tut, was er andere tun sieht.
Wenn der Zwangsneurotiker seine Anschauungen schwer erwirbt, dann nur schwer aber zu ändern vermag, so fehlt dem Hysteriker alle Beständigkeit. Er
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m 1177000000000.
bleibt allerdings so lange sich treu, als er ein Übertragungsverhältnis beibehält. Da wird er bejahen und verneinen, was die Person, auf die er positiv übertragen hat, bejaht oder verneint hat, und er wird sich entgegengesetzt einstellen, wenn ihn Hass und negative Übertragung beeinflussen. Aber seine Feindschaft ist weniger intensiv als seine Übertragungsliebe. Der Zwangsneurotiker ist der bessere Hasser, aber er ist arm an Liebesbereitschaft; freilich liebt er stärker, wenn er es überhaupt zustandebringt.
Weil der Hysteriker so leicht Einflüsse annimmt, so entwickelt er oft Ansichten und Haltungen, die einander widersprechen. Deshalb sind hysterische Menschen als schillernd bezeichnet worden: nur wenn die Übertragung richtig benutzt wird, vermag er dauernd etwas zu leisten. Sonst fehlen ihm das beständige Ziel und bleibender Charakter. Der Zwangsneurotiker strebt hingegen immer nach Einheit in seiner Persönlichkeit, die ihm aber infolge der tiefen Ambivalenz doch versagt bleibt.
Jede Art Neurose hat ihre charakteristische Art der Abwehr. Der Unterschied liegt, wie Freud erkannt hat, in der Verwendungsart und in der weiteren Ent- wicklung der Gegenbesetzungen. In einer späten Arbeit teilte er als Ergebnis analytischer Funde mit, dass er die Hysterie bis zu den tiefen Konflikten der ersten Loslösung von der Mutter zurückverfolgt habe. Damit schien er seine Lehre, dass die Fixierungszeit der Hysterie eine spätere sei als die der Zwangs- neurose, zu modifizieren. Unsere Untersuchung löst diesen Widerspruch in be- friedigender Art; der Widerspruch besteht übrigens nur scheinbar, denn der Konflikt kann tiefer liegen als die Libidoorganisation, der entsprechend die Symptome entstehen. Es dauert verschieden lange Zeit, die mit unbewusster Arbeit an dem Material ausgefüllt ist, bis eine Neurose ‚‚fertig’’ wird.
Aber der Beginn der Neurose unterscheidet bereits die Neurosenwahl. Der charakteristische Unterschied, den wir zwischen zwangsneurotischer und hysteri- scher Persönlichkeit fanden und den wir phänomenologisch als einheitliche Widerstandskraft, bezw. als zerfallsbereite Schwäche der Ichbesetzung beschreiben konnten, besteht vom Anfang an; er ist nicht Folge sondern Ursache der unter- schiedlichen neurotischen Mechanismen; andere Unterschiede kommen dazu, denn je nach dem Grade des Zusammenhalts in der Besetzungskraft eines Ichs stehen diesem andere Abwehrkräfte zur Verfügung und werden andere Abwehr- mechanismen gewählt; das Wort „Neurosenwahl’”, welches alle Psychoana- Iytiker und noch mehr andere Leser wundernahm, trifft das Wesen des Vor- gangs. Je nach seiner Leistungskraft wählt das kindliche Ich den Mechanismus, mit dem es die Abwehr besorgt, und damit entscheidet sich die Art der späteren Neurose. Deshalb schliesst die eine Neurose nicht aus, dass Züge und Symptome der andern sich gleichfalls entwickeln, wenn in einer früheren oder späteren
Hysterie und Zwang in der Neurosenwahl 251 Lebensepoche die Besetzungsstärke und die Widerstandskraft des Ichs eine relativ andere wurden. Finden sich aber beide Neurosen so gemischt, dass die Diagnose unsicher wird, dann lehrt die Erfahrung, dass eine schwere Icher- krankung schizophrener Art latent bereits vorhanden ist. In diesem Falle werden alle neurotischen Abwehrmechanismen maximal und bis zur Erschöpfung ver- wendet, um es möglichst lange nicht zum Einbruch des Ichs mit Durchbruch der Psychosen kommen zu lassen.
Verfolgen wir beide Neurosen von ihrem ersten Auftreten an, so finden wir, dass bei der Zwangsneurose von Anfang an der Konflikt als ein seelischer und moralischer empfunden wird. Neue Konflikte und Abwehrreaktionen machen die Aufgabe komplizierter, immer mehr Konflikte werden von den entstehenden Zwangsformeln und dem Zwangsbenehmen repräsentiert. Aber vom Anfang an ist der gleiche Ichzustand festgehalten; vom Anfang an ist die vierte Regel aufer- legt: keine Ablenkung und keine geteilte Aufmerksamkeit. So wie es zwei Arten gibt, einem äussern Feind zu begegnen, die eine, ihn nicht aus dem Auge zu lassen und die andere, sicher zu sein, dass er nicht mehr in Augenweite weilt, so grundverschieden ist die Abwehr, was das Ich betrifft, bei Zwang und bei Hysterie. Dieser Unterschied im Augenmerk begleitet die Entwicklung jedes Zwanges, bezw. jeder Hysterie. Das Ich behält seine Totalität und seine starre Einheit, es bleibt dem Zwange ganz hingegeben, vom Anfang bis zum Alter. (Selbst bei der scheinbaren Ausnahme, dass ausgebildete Rituale verschoben und vorläufig durch ein kleines ‚Facsimile’”” ersetzt werden, wobei das Ich gleichsam nicht hinschaut, wie es den ‚‚kleinen’”’ Zwang unterschiebt, bestehen für die Art und Weise des Beginnens mit diesem kleinen Ersatzzwange dennoch dieselben Regeln, wie für einen Vollzwang.) Wir wissen, dass die Kindheits- neurose wieder ‚„d’emblee’”’ verdrängt werden kann und wiedererscheint. Auch in bezug auf diese wiederholten Inszenierungen besteht ein Unterschied zwischen beiden Neurosen. Der Zwang ändert sich mit jedem neuen Konfliktsinhalte, das hysterische Symptom bleibt dasselbe, auch wenn es neue Wurzeln bekommen hat; anders werden nur die auslösenden Gelegenheiten, sie verraten die Art des dazugekommenen Konflikts. So kann ein Brechen, welches von der Essneurose, die unter dem Entwöhnungstrauma entstand, später wieder erscheinen und neue Bedeutungen angenommen haben z.B. sexuellen Ekel, Abwehr oralsadi- stischer Wünsche, Identifizierung mit der schwanger gewordenen Mutter, mit dem Vater, der an Appendicitis erkrankte, u.a.m. Alle Bedeutungen werden im Symptom vereinigt. Bei der Hysterie ist immer das Symptom das gleich- bleibende Zentrum, bei der Zwangsneurose ist es der einheitliche Ichzustand. Bei der Hysterie gehören zu jeder Symptomwurzel, demnach zu jeder Bedeutung eines Symptomes, die vielen jeweilig dem Konflikt zugewendeten Ichzustände
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und Ichgrenzen; im Symptom sind viele Ichzustände aus allen Tagen des Lebens vereint. Bei der Zwangsneurose ist jeder Konflikt in einem andern Teil des Zwanges vertreten, der Ichzustand aber ist ein und derselbe, so starr und kon- zentriert wie am ersten Tag. Wir müssen annehmen, dass bei der Hysterie mit dem Konflikt die zu ihm gehörige Ichgrenze, ja der ganze gleichzeitige Ichzustand, verdrängt wurde, bei der Zwangsneurose nur die Objektbeziehungen und deren Zusammenhänge. Wir wissen, dass tatsächlich bei letzterer das Verdrängte viel eher wieder ins Bewusstsein kommt als bei der Hysterie. Daher war es eine der frühesten Annahmen von Breuer und Freud, dass immer bei der Hysterie Ichanteile abgespalten werden. Beim Zwangsneurotiker ist das Ich als ganzes beteiligt und bemüht, aus den verschiedensten Strebungen eine allem gerecht werdende Aufgabe zu machen, alle Schwierigkeiten werden im Ich empfunden. Bei der Hysterie hat das Ich nachgegeben, es leidet nicht im Ich, es empfindet das Symptom wie eine äussere, körperliche Krankheit. Der Zwangsneurotiker fühlt seine Beschwerden geistig, in seinem geistigen Ich, der Hysteriker nicht einmal im körperlichen Ich, sondern körperlich als Objektbeziehung seines geistigen Ichs, wie jede andere körperliche Krankheit.
Hysterische ’Symptome sind deshalb automatisch; bei der Zwangsneurose darf kein Zwang automatisch, d.h. ohne Ichgefühl erfolgen. Landauer hat das Aufhören des Zwangsgefühls, wenn ein Automatismus aus dem Zwange wird, hervorgehoben. Der hysterische Automatismus ist möglich, weil eben die zugehörigen Ichzustände mitverdrängt sind. Dass ganze Ichzustände oder partielle Ichreaktionen, nicht nur Objektrepräsentanzen, verdrängt werden können, habe ich öfters hervorgehoben.
Freud zeigte, dass die Hysterie die Aufgabe jeder Neurose, die neurotische Angst zu beseitigen, am besten erfülle. Das ist eben die Folge davon, dass die Ichreaktionen, ja die ganzen zu den Störungsursachen gehörigen Ich-Zustände mitverdrängt werden. Breuer nahm an, dass die hysterischen Symptome sich in „hypnoiden’” Zuständen bilden. Ich konnte beobachten, dass sie mitunter im Schlafe, im Anschluss an die Traumarbeit beginnen. Dem Zwangsneurotiker entschwindet nicht seine Ichreaktion. Er verbraucht viel mehr bewusste Beset- zungsenergie in seinen Ichreaktionen als der Normale, der einen 'Triebkonflikt beherrscht. Die zwangsneurotische Gegenbesetzung erfolgt bewussterweise. Unbewusst sind die Zusammenhänge zwischen den frühen Konflikten und den Ersatzreaktionen. Die Verdrängung erfolgt gegen Gedanken und Denkimpulse, die von der Triebregung ausgingen, nicht gegen die 'Triebregung selbst. Das ist der Grund, weshalb es nicht zur sexuellen Anästhesie wie beim Hysteriker kommt, aber andererseits sich das Ich nicht so unbeteiligt fühlt wie bei der Hysterie.
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Dass die Abwehr als bewusste Ichfunktion mit voller Aufmerksamkeit ge- schieht, hängt mit der Art des Angstgefühls bei beiden Neurosen zusammen. So wie wir phänomenologisch präzise das Körper-Ich vom seelischen Ich unter- scheiden, ebenso haben wir Körperangst von Seelenangst zu trennen. Bei der Hysterie wird die Angst stets unmittelbar körperlich empfunden, wann immer die Neurose in ihrer Aufgabe, das Individuum vor Angst zu schützen, versagte; bei der Zwangsneurose wird sie als Seelenangst gefühlt. Bei der Hysterie wird das Körper-Ich von Vernichtung bedroht und wird von unmittelbarer 'T'odes- angst ergriffen. Der Zwangsneurotiker fühlt zunächst sein geistiges Ich bedroht, es ist Angst vor Wahnsinn und Vernichtung, die sich allerdings auch zu T'odes- angst steigert; denn das körperliche und das seelische Ich sind zwar verschiedene Besetzungseinheiten, sie bilden aber zusammen ein Ganzes. Das Körper-Ich fühlt auch die Gefahr der drohenden Vernichtung des seelischen Ichs als 'T'odes- drohung und vice versa, wenn auch in anderer Art, das geistige Ich jede Körper- angst als Selbstbedrohung. Aufhören des Körper-Ichs ist ebenso Tod wie Aufhören des seelischen Ichs; und doch besteht der Unterschied, dass die Be- drohung des Körper-Ichs mehr unmittelbar als Todesangst empfunden wird.
Der Unterschied zwischen Körper- und Seelenangst ist bereits beim Klein- kinde zu erkennen, so bald das seelische Ich sich mehr und mehr vom körper- lichen abhebt, oder— wahrscheinlich ist das die richtigere Vorstellung — sobald sich das Körper-Ich zu einer Einheit, die das seelische Ich umschliesst, ver- bunden hat. Aber, obgleich das Körper-Ich wahrscheinlich später zur Einheit wird, kommt es schneller zur Reife als das seelische Ich. Das seelische Ich wird nur langsam widerstandsfähig. Wir nehmen nun an, dass es bei der Neurosenwahl darauf ankommt, welchen Grad von Widerstandskraft das seelische Ich bereits erreicht hat. In meiner Arbeit über die Unterscheidung zwischen dem normalen und dem krankhaften Narzissmus habe ich dem Begriffe ‚„Ichstärke”, bezw. „Ichschwäche’” bestimmte Eigenschaften zuzuordnen versucht. Es ist nun keine Frage, dass das hysterische Ich weniger Widerstandskraft aufweist als das zwangs- neurotische, denn dieses bleibt einheitlich, während jenes zerfällt; das zwangs- neurotische Ich bleibt unverändert dasselbe, während das hysterische sich jedem andern anschliesst und sich durch solche Identifizierung ändert. Das Aufrechter- halten der Einheit des Ichs während der Zwänge ist eine so drangvolle Last, dass an ihr ein Rest des sonst durch den Zwang vermiedenen Angstgefühls haften bleibt; bei der Hysterie hingegen bleibt ein Rest des Angstgefühls erhalten im Gefühl des Verlustes der Ichanteile, es ist eine besondere Art von ängstlicher Schwäche. In beidem zeigt sich das Misslingen der Verdrängung, das Nachdrän- gen des jeweilig Verdrängten und ergibt die bekannte ständige Bedrohtheit jedes Neurotikers. Diese Angstanteile sind in der Regel gering und werden grösser,
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sooft das durch die Neurose erreichte Gleichgewicht zwischen verdrängenden und verdrängten Kräften gestört wird.
Wenn wir annehmen, dass die Individuen sich schon in den ersten Lebens- jahren in Bezug auf die Schnelligkeit unterscheiden, mit der ihr seelisches Ich reift und Stärke gewinnt, so wird erklärlich, warum das eine Kind in seinem Ab- wehrkampf die spätere Zwangsneurose, das andere die Hysterie determinierend vorbereitet. Freud hat einmal ganz allgemein aber präzis ausgesprochen, dass die Zwangsneurose ins Psychische, die Hysterie ins Körperliche ausweicht.
Wir fügen hinzu, dass das eine Kampf, das andere Nachgeben bedeutet, beides nicht in Bezug auf Verdrängung und Triebbewältigung, sondern in Bezug auf das Ich selbst. Das seelische Ich kämpft im Zwange gegen den unbewussten Konflikt mit voller Ichbesetzung, ın der Hysterie aber gibt es diese auf.
Die Neurosenwahl ist damit metapsychologisch und psychologisch formuliert. Topisch ist sie dem geistigen Ich zugeschrieben, dynamisch von der Libidobesetzung und ökonomisch von der Stärke des einheitlichen Zu- sammenhangs der Ichbesetzung abhängig. Dass es sich um die Stärke des primären Narzissmus handelt, ist in der topischen Bestimmung bereits ausgesprochen.
Psychologisch betrachtet hat jede Neurose ihren Ursprung in der Not- wendigkeit, die entstandene Angst zu bewältigen. Alfred Adler hat die Angst als Halluzination einer Gefahr definiert; diese Definition bezieht sich auf den objektiven Inhalt der Halluzination; ebenso wichtig ist es hervozuheben, dass der Angst der Affekt des Schreckens vorausgegangen ist und dass Angst die halluzinierte Wiederholung des erlebten Erschreckens ist. Während das Er- schrecken von kurzer Dauer ist, ist die Schreckenshalluzination als Angst ein Zustand von längerer Dauer. Gegen den allen Reizschutz plötzlich durchbrechen- den Schrecken gibt es keine Abwehr, wohl aber gegen die zeitlich andauernde "Angst. Wie Freud lehrte, ist die Angst selbst zur Abwehr der traumatischen Folgen des Erschreckens durch eine traumatische Gefahr dienlich; bei jedem Angstgefühl ist das Ich stark besetzt und deshalb imstande, der Bedrohung durch die kommende Gefahr standzuhalten. So entsteht die Neurose als Folge zu starker, gefährdender Erlebnisse und als Mittel, deren weitere Wirkung schadlos, oder wenigstens mit verringertem Schaden und Leiden, zu bewältigen, bezw. abzuwehren. Bewältigung und Abwehr werden anders erfolgen, je nachdem wie stark die Ichbesetzung ist. Das schwächere Ich ıst mehr passiv und muss nach- geben, das stärkere Ich widersetzt sich der Bedrohung. Nur das seelische Ich kann sich aktiv wehren, das körperliche Ich ist der Angst gegenüber wehrlos; so lange es stark genug ist, d.h. stärker als das Drohende, kommt es zu keinem Angstgefühl. Bei dem Kinde sind die gegebenen Kräfteverhältnisse immer so, dass es sich kaum je mit dem körperlichen Ich wehren kann. Freud hat mit
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vollem Recht Feigheit als den ersten Grund für jede Neurose bezeichnet. Auch im erwachsenen Bilde der Hysterie wird die Angstbereitschaft zur Feigheit, was aber plötzliche ‚‚Mut-Affekt”’-Ausbrüche nicht ausschliesst. Unter den Zwangs- neurotikern fanden sich Soldaten von erprobter "Tapferkeit. Gegen die normale Feigheit, welche der kindlichen Schwäche entspricht, hilft frühzeitige Stärke des seelischen und körperlichen Ichs, meist parallel mit kräftiger körperlicher Entwicklung, wie sie die Sage vom kleinen Herkules und den Schlangen darstellt. Die Neurose entsteht als Abwehr innerer Gefahren, wenngleich auch äussere Schreckerlebnisse zur Neurosenbereitschaft beitragen. Die aktive Abwehr gegen innere Gefahren wird von dem frühreifen psychischen Ich versucht, indem es gegen drohende Verbote verbotene Wunschgedanken bildet und diese wieder mit sich selbst auferlegten Gedanken sühnt. Diese aktiven Reaktionen kehren wieder und bilden Zwänge, um die ursprünglichen bösen Gedanken verdrängt zu halten. Während sich so das geistig frühreife Kind gegen die Angst wehrt, sucht es nicht körperliche Hilfe, weder beim Vater noch bei der Mutter. Aber psychisch identifiziert es sich mit demselben strengen Vater, gegen den es sich gedanklich aggressiv einstellt. Damit beginnt die schwere Doppelaufgabe für die Ichbesetzung, die in den Frohngesetzen ihre volle Form erhält.
Das nicht zur geistigen Frühreife gekommene Kind entflieht seiner Angst und entwickelt eine andere Art der psychischen Abwehr. Zusammen mit der angstvollen oder Angst erregenden Phantasie verdrängt es den Ichzustand, in dem es in Angst geriet und damit einen Anteil seines Ichs. Daher ist das hysterische Ich eingeengt und geteilt.
Hysteriker sind stets bereit zu agieren statt zu erinnern; selbst bei vorsichtiger Widerstandsanalyse kommt es zu Affektausbrüchen während der Stunde. Das bedeutet, dass der verdrängte Ichzustand wiedererweckt wurde, sei es durch assoziative bewusste Erinnerung, sei es durch unbewusste 'Triebanregung. Auch haben jene Autoren recht, welche auch bei dem geringsten hysterischen Symptom eine Spaltung der Persönlichkeit erkennen, die durch Verdrängung innerhalb des Ichs erfolgte. Die hysterischen Stigmen zeigen, dass im unbewussten Ab- spaltungsvorgänge sensorische dem Ich zugehörige Funktionen aufgegeben wurden, dass sensorische Ichgrenzen ihre Besetzung dauernd verloren haben.
Wenn die englische Schule von der Introjection, beziehungsweise von der Projection des bösen oder guten Objectes spricht, so beschreibt das die Vorgänge nicht ganz richtig. Sie übersehen dabei, dass jeweilig ein Ichzustand, entweder der mit positiver Besetzung der dem betreffenden Objekte zugewendeten Ich- grenze oder der mit negativer, feindlicher Besetzung, abgespalten und verdrängt wird. Die Verdrängungen und Spaltungen gehen an den Objektrepräsentanzen gleichzeitig und im Zusammenhang mit der Trennung der entgegengesetzten
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Icheinstellungen vor sich. Und gleichzeitig kommt es zur Identifizierung mit dem Objekte, mit dem guten mehr als mit dem bösen, aber durchaus nicht nur mit diesem. (Es scheint, dass die englische Schule diese in ihrer Komplikation nur angedeuteten Reaktionsvorgänge im Ich und die Änderungen an den Objekt- repräsentanzen möglichst einfach zu formulieren versuchte.)
Der oft mit Willfährigkeit abwechselnde Eigensinn der Hysterie ist eine durch Identifizierung erborgte Gesinnung, oder blieb nach der Ichspaltung übrig und ist Ausdruck der geistigen Ichschwäche. Der gequälte Trotz der Zwangsneurose ist Zeichen der Besetzungsstärke des aktiven einheitlichen psychischen Ichs. Im Gegensatz zur Hysterie beginnt die Zwangsneurose mit einem Sublimie- rungsvorgang, indem die körperliche Angst psychisch erledigt wird. Wir ver- wenden damit das Wort Sublimierung zur Bezeichnung solcher Vorgänge, bei denen oder durch welche das seelische Ich an Stelle des körperlichen tritt. Die verschiedensten Sublimierungen stimmen mit dieser Definition überein; sie er- laubt es, Libidinisierung, Verschiebung und Ersatzbildung von Sublimierung exakt zu trennen. Bei der Hysterie finden wir Sublimierungen in Ausgange der Krankheit, wenn die Identifizierung mit Helden und Heiligen, Wohltätern und Helfern eine dauernde wird.
Trotz der lebhaften Phantasietätigkeit der beginnenden Hysterie, ja, grade weil diese Phantasien nur narzisstisch betonte leichte Wunscherfüllungen erträumen, gehört geistige Aktivität und Konzentrationskraft nicht zum Bild des später hysterisch werdenden Kindes. Es wäre interessant, durch Tests unsern Eindruck zu überprüfen, dass in bezug auf Selbständigkeit, Aktivität, Kritik, Logik und Konzentration Kinder, die der Zwangsneurose oder Hysterie verfallen, dem Durchschnitt gegenüber über-, bezw. unterlegen sind. Der erwachsene Zwangs- neurotiker zeigt dieselbe geistige Qualität, soweit es erlaubt ist, ohne exaktes Vergleichen seinem Eindruck zu vertrauen. Die analsadistische Disposition stellt die aktiven Triebkomponenten für das geistige Ich bei. Der anale Komplex ver- langt am frühesten starke Willensanstrengung des geistigen Ichs, um Körper- regungen und -bedürfnisse zu beherrschen. Trotz, Eigensinn und Ausdauer sind einheitlich konvergierende Gegenbesetzungen im geistigen Ich, welche seine Widerstandskraft und sein Festhalten an seiner einheitlichen Energie formen. In bezug auf die Disposition halte ich mit vielen Untersuchern an der Bedeutung der bisexuellen Anlage für die Neurosenentwicklung fest. Was Fliess in genialer Voraussicht erschloss, ist seither von der physiologischen F orschung, namentlich von Goldman, Moscowitsch und Hartmann nachgewiesen worden. Immer enstpricht aktive Männlichkeit der Zwangsneurose, weibliche Passıvität der Hysterie. Jeder erkennt den männlichen Typus bei Frauen mit Zwangsneurose und den weiblichen bei Männern mit Hysterie.
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Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass man das Charakteristische einer Störung oder eines Krankheitsbildes am besten an den maximal ausgebildeten und anderer- seits an den leichtesten Formen erkennt, an den ersteren, weil die Ursachen ihre volle Wirkung entfalten, an den letzteren, weil keine komplizierenden Allgemein- reaktionen und keine sekundären Kompensationen Zeit hatten, das Bild zu verschleiern, so dass nur die unmittelbaren Wirkungen der Krankheitsursachen sich zeigen.
Als schwerste Hysterie müssen wir die Fälle von hysterischer doppelter oder mehrfacher Persönlichkeit bezeichnen; gleich bedeutend ist, ob es nur zum vor- übergehenden Anfalle oder zu dauernder Trennung der Iche kommt. In all diesen Fällen ist die Schwäche, durch die das geistige Ich seinen Zusammenhang verlieren konnte, manifest; die abgespaltenen Iche haben viel vorbewusstes Material und vorbewusste Funktionen gemeinsam zur Verfügung; die sind und fühlen sich aber nur durch das gemeinsame Körper-Ich an einander geknüpft. Am genauesten ist bisher der Fall von Morton Prince beschrieben. Zu seiner Er- klärung haben die Autoren sogar spiritistische 'T'heorien aufgestellt. Für uns beweisen solche und ähnliche Falle, dass die Verdrängung mit Ichzerfall und ohne einen solchen erfolgen kann. Das Wort ‚Zerfall’’ ist aber ohne Inhalt, solange man das „geistige Ich” nur als eine Gruppe von Funktionen auffasst und nicht als eine Besetzungseinheit. Analytisch lassen sich die Einwirkungen fest- stellen, welche das geistige Ich hindern, seine durch Bewusstseinsstörung aufge- hobene Kontinuität wieder herzustellen, so dass nun zwei Besetzungseinheiten entstehen. Es ist der gleiche Vorgang, wenn ausnahmsweise das Traum-Ich nichts mehr vom Ich des 'Träumers weiss.
Den Gegensatz zu diesen ganz ‚‚grossen’’ Hysterien bilden solche, die man klinisch wegen Mangels an Symptomen gar nicht mit dieser Diagnose belegt. Merkwürdigerweise hat aber die Volksmeinung immer gerade nur diese Individuen als hysterisch bezeichnet, während sie die ärztlich so diagnostizierten Fälle für „wirklich”, d.h. körperlich krank hält. Solche symptomlose oder wenigstens fast symptomlose Hysterie ist eine unvollendete Neurose, sie ist bei den Folgen der hystersichen Ichschwäche stehen geblieben, ohne sich weiter zu entwickeln. Es hat zur Herstellung relativer seelischer Euphorie genügt, auf die Bildung der einheitlichen Persönlichkeit zu verzichten. Damit war den krankmachenden Konflikten ausgewichen: und mangels dauernder Konflikte, wahrscheinlich auch mangels der uns bekannten 'T’raumaätiologie waren die komplizierten unbewussten Mechanismen, welche die Konversion und sonstige Symptombildung bewerk- stelligen, nicht nötig geworden.
Jeder weiss, welche Individuen man gewöhnlich als hysterisch bezeichnet; auf
Grund dieser meiner Ausführungen wird man nicht mehr der Bezeichnung als 81
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unrichtig zu widersprechen brauchen. Das für sie Charakteristische ist, paradoxer- weise, die Charakterlosigkeit. Einstellungen und persönliches Verhalten sind ganz launenhaft, alles Persönliche ist unverlässlich, das seelische Ich ist nicht imstande, eine Gefühlsreaktion zu meistern; neben körperlichem Infantilismus blieb das seelische Ich teils auf kindlicher, teils auf Pubertätsstufe. Ihr Urteil ist vom zufälligerweise letzten Eindruck bestimmt. Zu- und Abneigung werden von einem Wort, von einer Geste umgewandelt. Ihre Beurteilung anderer Personen nennt meistens nur deren Beziehung zu ihrer Person. Kaum je ist Objektivität für sie erreichbar. Man kann sie zu vernünftigem Handeln bewegen, wenn man ihre Wünsche vorher befriedigte, ihre Affekte austoben liess; dann sind sie plötz- lich ganz anders gesinnt. Sie sind bald uninteressiert, bald reizbar.
Niemals ist solch ein Verhalten bei Zwangsneurotikern zu sehen. Wir haben aber auch bei der voll entwickelten Hysterie das gleiche beschrieben, doch ist bei dieser der ‚‚hysterische Charakter’ nicht in solchem Ausmass zu finden. In den Symptomen sind nämlich manche von den verschiedenen Identifizierungen und Icheinflüssen unbewusst verarbeitet, so dass das restlich verbleibende Ich eher etwas Konstanz aufweisen kann. Die symptomlos hysterische Persönlichkeit ist noch mehr den wechselnden Einflüssen ausgeliefert. Mehr als bei Hysterie mit Symptombildung ist die Schwäche des Ichs auch subjektiv bewusst und oft die einzige Klage. In andern Fällen treten Entfremdungen und Depersonalisa- tionsklagen in bezug auf das geistige und körperliche Ich auf; sie sind ein weiterer Beweis für die Schwäche der Besetzung der Ichgrenzen und ein weiteres wich- tiges Argument für die Richtigkeit der hier vorgebrachten Erklärung und erlauben weitere Folgerungen in der Richtung, dass auch Verdrängung und Symptom- bildung mit der Stärke der Ichbesetzung zusammenhängt.
Bei der Zwangsneurose finden wir keine Zeichen von Ichbesetzungsschwäche. Im Gegenteil, bei den maximalen Fällen ist alle psychische Energie an den Ich- grenzen konzentriert. Die Ichgrenze zwischen Über-Ich und Ich ist derart ver- stärkt, dass man aus den Schilderungen den Eindruck gewinnt, dass sie körperlich geworden ist. Ich würde nicht wagen, solch eine Annahme auszusprechen, wenn sie nicht mit der Annahme Freuds von einer organisch gewordenen Verdrängung übereinstimmen würde. Es gibt organisch bedingte Zwangsneurosen als irrever- sible Alterserkrankung. Wüssten wir die anatomisch-pathologische Veränderung, die ihnen zugrundeliegt, so würden wir vielleicht einen Anhaltspunkt für die Lokalisation der Ichgrenze zwischen Ich und Über-Ich gewinnen. In maximalen Zwangsneurosen sind die Frohngesetze besonders intensiv wirksam. Das ganze Ich ist von Zwangssymptomen absorbiert, alles andere, selbst die Stillung des Hungers, geschieht automatisch.
Analog der symptomlosen Hysterie gibt es aber auch eine symptomlose Zwangs-
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neurose. Sie dürfte gar nicht selten sein. Auch bei ihr besteht nur die Ichstörung; sie ist der hysterischen grade entgegengesetzt; ist dort gar keine Einheit, so ist hier zuviel Einheit des Ichs entstanden. Diese Art von Persönlichkeit ist in Andersens Märchen vom standhaften Zinnsoldaten symbolisiert. Solche Individuen müssen alles, was sie tun, mit bewusster Überstärke von Willenskraft, Aufmerksamkeit, mit voller Anwesenheit des Geistes, mit ‚„magischer’’ Denk- kraft und auch mit Vollbewusstheit ihres körperlichen Ichs tun. Wie dem Zwangs- neurotiker fehlt ihnen das Erlebnis des Behagens; aus entgegengesetzten Gründen als bei der Hysterie ist ihre Liebesfähigkeit gestört. Sie haben wie der Zwangs- neurotiker kein Krankheitsgefühl, können auch so wie er Krankheitseinsicht gewinnen; sie sind der Psychoanalyse zugänglich.
Wollen wir alle Stufen zwischen der ‚unfertigen’ und der ‚‚fertigen”’ Neurose kennen lernen, so müssen wir die Änderung der Ichbesetzung phänomenologisch genau verfolgen. Ich hätte nicht das Wesen der ‚„unfertigen Neurose’” als blosser Ichstörung ohne Symptombildung erkannt, wenn mir nicht schon vorher der Unterschied zwischen fertigen und unfertigen 'Traumteilen klar geworden wäre. Mir sind mehrere Formen unfertiger 'ITraumarbeit bekannt, von denen die eine der unfertigen Hysterie, die andere der unfertigen Zwangsneurose entspricht.
Die hysterische Form unfertiger 'Träume ist die, dass der Traum nicht mit einem einzigen Ichzustand erlebt wird. Das Ich erwacht vielmehr zu verschiedener Entwicklungshöhe, wobei die Entwicklungshöhe einem bestimmten vergangenen Alter entspricht. Ganze 'Traumteile werden mit dem einen, andere mit einem andern Ichzustand erlebt. Ein ‚‚fertiger”’ "Traum wird immer in ein und demselben Ichzustand durchlebt. So wie bei der ‚unfertigen” Hysterie die unbewusste Bildung der Symptome fehlt, so ist auch bei dieser Art unfertiger Träume wenig Verdichtungsarbeit geleistet; das 'Traummaterial wird zum Teile unverarbeitet aus den 'Tagesresten und den infantilen Wünschen des erwachten Ichs leicht deutbar aneinandergefügt. Doch fehlt niemals die Traumarbeit völlig. Nur Traumteile sind unfertig. Wahrscheinlich kommen im höheren Alter, in welchem die Wunscherfüllung schon dadurch erfolgt, dass man sich als jung gebliebenes Ich träumt, mehr unfertige 'Träume dieser Art zustande.
Das Erwachen des Ichs im 'Traume wurde Gegenstand eines interessanten Buches von M. Combes, einer französischen Autorin, der aber jedes Verständnis für die Psychoanalyse abgeht. Das Erwachen des Ichs im 'Traume ist sowohl die Voraussetzung als die Folge davon, dass jeder Traum ein Bewusstseinsvorgang ist. Der Kompromisscharakter des 'Traums, dass er einerseits den Schlaf schützen soll, dass andererseits ohne Erwecken oder Wiedererwachen des Bewusstseins kein Träumen möglich ist, spiegelt sich im Grade des Icherwachens wieder. Je tiefer der Schlaf des Träumenden, desto stärker kann das Ich erwachen, ohne
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dass der Schlaf unterbrochen wird; je seichter der Schlaf, desto mehr beteiligt sich das Ich am T’räumen, desto mehr flicht es beinahe wache Phantasien in den Traum ein. Im tiefen Schlaf erlebt daher das Ich die durch unbewusste 'Iraumar- beit völlig fertiggestellten Träume intensiver, während im seichten Schlaf weit mehr dem wachen Ich verständliche Träume mit verringertem Ichgefühl, Affekt und Interesse erlebt werden. Könnten wir den Anteil am manifesten 'Iraum, der
vom erwachenden Ich beigetragen wird, von dem Anteil, den die unbewusste _
Traumarbeit leistet, scheiden, so wäre für Traumdeutung und Nachgehen der Traummechanik viel erreicht. Aber wir konnten nur wenig in dieser Richtung sicher erkennen. Dazu gehört, dass gleichbleibende Traumszenerien sich auf das Ich beziehen, dass sie oft wie Kulissen, die historisch richtig gemalt sind, die Lebensepoche angeben, zu der das Ich erwacht ist. Ferner, dass Teile der Szenerie sich auf das Körper-Ich des Träumers beziehen (Scherner); Änderungen der Szenerie bedeuten eine Änderung des Ichzustandes, oft Änderung der Einstellung und damit die Verneinung, das Aufgeben der bisherigen Einstellung. Auch die Helligkeit der 'Traumszene kann auffallen und sich auffallenderweise ändern. Die Selbstspiegelung und Symbolisierung von Inhalt des Traumes im Traum-Ich und die Darstellung der Eigenschaften des Ichs im T'rrauminhalt sind gegenseitig und so mannigfaltig, dass der Traum nicht nur das „Denken’” des Schlafenden, sondern sein ‚„‚Dichten”’ ist, wie viele Dichter verstanden haben. Aber nur wenige Träume sind vollendete Dichtungen; meistens ist das Material, das zur Ver- dichtung kommen sollte, noch nebeneinander stehen geblieben, wie es in den verschiedenen Zeiten, aus denen es stammte oder für die es bedeutsam wurde, also den verschiedenen Ichzuständen, die erweckt wurden, erschien. Freud und andere nach und vor ihm haben die mehrfachen Darstellungs- und Symbolisie- rungsversuche derselben "Traumgedanken in aufeinanderfolgenden Traumteilen hervorgehoben. Der "Träumer ahnt das manchmal schon im Träumen. Das Un- fertigsein des Traumes erlebe ich manchmal deutlich als Erleben eines in einander verschlungenen Doppeltraumes, der nicht nacheinander, sondern gleichzeitig abläuft. Solche Träume kann man nicht nacherzählen; nur der Film könnte sie wiedergeben. Im Gegensatz zu der viel häufigeren Unfertigkeit des Traumes infolge mangelnder Vereinigung verschiedener Ichzustände und unvollendeter Traumarbeit, ist hier der Ichzustand einheitlich und nur der Traum selbst doppelt geblieben; ich glaube, dass in solchen Fällen das Denken im Schlafe von Ver- gangenheit zur Zukunft und gleichzeitig von der Zukunft in die Vergangenheit abläuft. Viel neurotisches Wünschen ist in die Vergangenheit gerichtet, um sie ungeschehen zu machen. Dieses scheint aber eine Beziehung zur Zwangsneurose zu haben, in der Wiederholung und Wieder-Aufheben des Wiederholten erfolgen muss. Eigentlich ist jedes Gefühl des Behagens an das freie Strömen des Erlebens
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gebunden, d.h. an libidinöse Spannungen und ihre Erfüllung mit entsprechend wechselnder Ichgrenze; jedes Gefühl des Zwanges ist ein durch die libidinöse Versagung, vielleicht infolge unaufhebbarer Besetzung mit Mortido, mit Todes- trieb, ständig gestörtes Erleben, so dass der Ichzustand bleibt und die Ichgrenze vom Wechseln zurückgehalten ist.
Damit kehren wir zu unserer Behauptung zurück: psychische Erscheinungen verlaufen anders je nach dem Verhalten der Ichgrenzen und je nach der Beteiligung des seelischen und des körperlichen Ichs. Da ganze Ichzustände verdrängt sind, bezw. aus der Verdrängung auftauchen, gilt das für unbewusste wie für bewusste Vorgänge.
Die Neurosenwahl ist eine Frage der durch die seelische und körperliche Entwicklung erreichten Stärke des seelischen Ichs. Erfolgt die Abwehr gegen Angst erregende Wünsche, Phantasien, Erinnerungen durch seelische Ichbeset- zung mit aktiver, einheitlicher Anstrengung des ganzen psychischen Ichs, so beginnt damit die Zwangsneurose, im entgegengesetzten Falle, bei Abspaltung von Ichzuständen, bei hauptsächlicher Erledigung im Körper-Ich, bei Passivität der Gegenbesetzung die Hysterie. Im Falle der Zwangsneurose hat das Kind etwas Unerwartetes geleistet; die körperliche Angst wird in psychische um- gewandelt, sublimiert und wird psychisch abgewehrt. Überlässt hingegen das seelische Ich die Abwehr dem körperlichen Ich, so ist damit bereits auch die zukünftige Topik der Wiederkehr des Verdrängten in der Hysterie mit ihren Konversionssymptomen vorgezeichnet.
Es entspricht mehr dem Kind, sich mit dem Körper im Moment der Gefahr zur Mutter zu flüchten, zu weinen und alle Affekte auszuschreien, bis die Mutter das kleine Wesen aufnimmt und ihm Sicherheit gibt; in diesem Moment wird das Körper-Ich des Kindes gestärkt, weil sich seine körperlichen Ichgrenzen zur Grösse der Schutzperson erweitern. Die Hysterie ist daher die normalere Art der Neurosenbildung, was den Beginn im Kindesalter betrifft; für das Kind ist Flucht und Verzichten auf alle bereits erreichte geistige Wehrkraft und Aufgabe der zeitweise erreichten geistigen Reife das zu erwartende Verhalten; dass im selben Alter ein Kind bereits sich unabhängig zur Wehr setzt und alle geistige Kraft dazu braucht, ist früh-reif und gelingt in abnormer Form im Zwange. Freilich, was dem Kinde mehr entsprach, entspricht kaum dem Erwachsenen; die Hysterie ist die kindische und kindliche Neurosenform, die Zwangsneurose die unkindliche, übergescheite Form. Beide Neurosen haben Besonderheiten ihrer Ichreaktionsart aus der Zeit des beschriebenen ersten Beginns beibehalten. Wenn die erwachsene Hysterica in Eigenschaften und Symptomen nur Teil- reaktionen und Identifizierungen darbietet, so wiederholt sie unbewusst die Schutzreaktion des Kleinkindes, das zuerst sein Körper-Ich jeweilig zu dem der
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Schutzperson erweitert und später diesen Schutz auch mit dem seelischen Ich aufsucht. Meistens, aber nicht ausschliesslich, ist es ein Identifizierungsversuch mit der Mutter und den Mutterersatzpersonen bei beiden Geschlechtern. Der erwachsene Zwangsneurotiker leistet geistige Selbsthilfe mit dem ganzen psychi- schen Ich. Das Infantile liegt in dieser Neurose in zwei Momenten, die ich bisher unerwähnt gelassen habe, weil sie ohnedies bekannt sind. Die vorzeitige Abwehr mit geistigen Kräften ist begleitet von einer ebenfalls geistig gewordenen Angst vor dem vorzeitig gebildeten Über-Ich; Schuldangst und Strafangst behalten kindliche, magische Inhalte auch beim erwachsenen Neurotiker. Die Kastrations- angst ist beim Zwangsneurotiker zur geistigen Strafangst aus Schuldgefühl geworden; die betreffenden Gedanken sind für das Kind vorzeitig gewesen, für den Erwachsenen sind sie ein rückständiger infantiler Codex von drohenden Konsequenzen. In geistiger Angst verlangt das Kind nicht unbedingt die körper- liche Berührung; der Erwachsene kann durch Sprechen, Erklären, Versöhnen beruhigend wirken. Das psychische Ich identifiziert sich mit dem so helfenden Erwachsenen. Solche Identifizierung ist anders als die oben beschriebene; sie geschieht mit dem ganzen Ich des Kindes und umfasst die dauernde Persönlich- keit des Erwachsenen, der in der Regel der Vater oder ein Vaterersatz ist. Durch diese dauernde Identifizierung erweitert sich das geistige Ich, das erweiterte geistige Ich erhält durch Inanspruchnahme in wichtigen Situationen und bei ernsten Entscheidungen allmählich in verlässlich gleicher Art wiederkehrende Grenzen auch den sonstigen wechselnden Ichzuständen gegenüber. Freud nannte dieses zum Teil unbewusst wirkende, erweiterte Ich das Über-Ich; dieses tritt dem Ich leitend und helfend, mahnend und strafend, lobend und lohnend gegenüber.
Doch wäre es unrichtig zu meinen, dass die Zwänge von einem überstrengen Über-Ich geleistet werden. -Das Ich leistet sie, indem es fortfährt, mit eigener einheitlicher Aktivität sie gehorsam zu erfüllen. Während der Normale sich vom Über-Ich unbewusst leiten lässt, kommt das zwangsneurotische Ich dem Über- Ich gleichsam darin zuvor; während der Normale seine „Schuld und Sühne” unbewusst erledigt, muss der Zwangsneurotiker, ohne zu wissen warum, sie im und durch das Ich erledigen.
Beide Neurosen können ihre individuelle Form von der sozialen aufnehmen lassen. Sie bleiben auch dabei ihrem Wesen treu. Beim Ritual und Gesetzkodex besteht das geistige Verhältnis zum Vater, zum gemeinsamen ‚„Über-Uns”, zu Gott fort; das geistige Ich ist Träger der Identifizierung. Bei der Hysterie erfolgt die religiöse Identifizierung zuerst mit dem Körper-Ich, die seelische Identi- fizierung folgt nach. Der Glaube an berichtete Wunder, ja, der Glaube als Quelle sicheren Wissens, ja mehr gesicherten Wissens, wenn man glaubt, als wenn man
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Hysterie und Zwang in der Neurosenwahl 263 bloss ‚‚weiss’’, geht auf die früheste körperliche Icherweiterung durch Identi- fizierung des Kindes mit der Mutter zurück, durch die das von der Mutter als „wirklich” Berichtete für das Kind volle Wirklichkeit erhält. Die Hysterie steigert und bewahrt den kindlichen Glauben, wenn sie in halbwachen Traum- und Trancezuständen ihre Gedankenbilder als völlig real erlebt. Auch in der religiösen Sublimierung sehen wir den Zwangsneurotiker die Erlösung durch aktive Eigen- leistung gewinnen, den Hysteriker durch passives Hingegebensein.
Wir kommen zur ersten Antwort zurück, die Freud auf die Frage der Neurosenwahl zu geben versucht hat, als er vorläufig den Eindruck gewann, dass es auf das 'Trauma, und zwar ob dieses mit aktiver Beteiligung oder ohne eine solche erfolgte, ankomme. Später fand er sie in der Fixierungsstufe der Libido und in der libidinösen Disposition. Alle diese und weitere Momente bestimmen die Neurosenwahl, weil und insofern es von ihnen abhängt, ob ein aktives, geistiges Ich frühzeitig — d.h. noch zur Zeit des magischen Denkens — mit Aufrechter- haltung desselben einheitlichen Ichzustandes die Abwehr zu übernehmen im- stande ist oder nicht. Mein Beitrag versucht im Sinne Freuds seine topische, dynamische und ökonomische Auffassung für die Ich-Analyse zu verwenden. Damit ist nicht nur dem Verständnis der Neurosen und der Neurosenwahl gedient. Die genauere Kenntnis der Vorgänge der Ichbesetzung lässt die ersten Anfänge besser verstehen und erlaubt, präziser auf das Entstehen heilend und prophylaktisch einzugreifen.
Analyse einer postencephalitischen Geistesstorung
von
W. Hoffer
London
Die Gelegenheit, einen Fall von postencephalitischer Geistesstörung zu studieren, gehört sicher zu den Ausnahmen der analytischen Praxis, und wenn ich in der Lage bin, über einen solchen Versuch hier zu berichten, so verdanke ich es günstigen Umständen, nicht aber einer vorgefassten Absicht, mich mit dieser Krankheitsgruppe zu beschäftigen. Es wird hier von einer Patientin die Rede sein, die mich im Jahre 1932 zum Zwecke einer psychoanalytischen Be- handlung aufsuchte, da sie seit 5 Jahren von merkwürdigen, periodischen An- fällen heimgesucht war, die analytisch zu studieren ich durch 10 Monate Gelegen- heit hatte. Die Anfälle begannen mit einem unwiderstehlichem Drang zu rauchen, wobei sie bis zu 30 und mehr Zigaretten konsumierte, und waren von einem Ausnahmszustand von hysterisch-depressivem Einschlag begleitet, der für einige Stunden anhielt und dann in vollkommene Erholung oder Schlaf auszuklingen pflegte. Die Kranke war vor der psychoanalytischen Behandlung wiederholt neurologisch untersucht und zweimal in psychiatrischen Anstalten beobachtet worden, die eigentliche Veranlassung ihres Zustandes war aber noch nicht fest- stellbar gewesen. Erst im Verlauf der analytischen Behandlung stellten sich Symptome ein, die dann die encephalitische Ätiologie erkennen liessen. E. Pappenheim undE. Stengl haben hierauf die Patientin neurologisch und psychiatrisch eingehend-untersucht und publizierten den ‚eigenartigen Fall von postencephalitischem Parkinsonismus”, „der unter den bisher beschriebenen Fällen eine Sonderstellung einnimmt’’ im Archiv für Psychiatrie.cı)
Die Encephalitis epidemica (lethargica) kann bekanntlich eine kaum über- schaubare Varietät von psychischen Folgezuständen produzieren, um deren genetische Ableitung und Ordnung die Psychiatrie in den vergangenen 20 Jahren überaus bemüht war. Die Untersuchungen von S. E. Jelliffe stehen hiebei an hervorragender Stelle und sein Beitrag(2) sowie die zusammenfassende Darstel- lung von E. Steng lo in dieser Zeitschrift sollen uns hier zuerst beschäftigen, da wir uns fragen, welche Ziele wir mit einem analytischen Beitrag zum Encepha- litisproblem verfolgen wollen.
Wenn ein Mensch an einer Encephalitis erkrankt, so erlebt er nach Jelliffe ein Trauma. Die Krankheitsfolgen sind etwas Ichfremdes, womit der Kranke
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sich auseinanderzusetzen hat. Nach seiner Erfahrung zeigen manche Patienten eine starke Heilungstendenz und ihr Ich ist im Stande ‚sich von der unum- gänglichen Realität zu überzeugen und so Regressionen zu verhindern”. Das Ich solcher Kranker kann also fähig bleiben, ‚den Apparat auch im geschädigten Zustand vorteilhaft zu handhaben und ihn trotz des Defektes zur normalen Funktion zurückzuführen’. Meistens aber muss sich das Ich umformen, sich selbst dem geänderten Körperzustand entsprechend verändern. Nach Jelliffe stehen ihm hiebei zwei Wege offen, die Leugnung des Defektes und die Re- gression. Als Beispiel für den letzteren Verarbeitungsmechanismus führt er einen Patienten an, der unter 'Tremor, Speichelfluss usw. litt und dessen Analyse zeigte, dass er seine Konflikte mit Hilfe von perversen Phantasien und Handlungen zu lösen versuchte; seine vor der Erkrankung scheinbar normale Sexualität hätte somit eine Umgestaltung erfahren, sie wurde verkindlicht und ist regrediert. Nach Jelliffe kann diese Regression die Persönlichkeit als Ganzes treffen und zu einer Veränderung und Rückbildung des Charakters führen oder sie kann partiell sein und einen neurotischen Konflikt schaffen. Er meint, dass das von der Stellungnahme des Überich abhänge; billigt das Überich die Regression, so wird sich bald die ganze Persönlichkeit verändern, der Einwand des Überich aber wird im Ich Schuldgefühle erzeugen, und dieses wird dann — statt in die Perver- sion zu regredieren — einen neurotischen Überbau entwickeln. Die Vielfältigkeit und Kompliziertheit mancher Parkinsonistischer Folgezustände wäre darnach — ein Vergleich mit der Zwangsneurose liegt hier nahe — auf die Einmischung des Überich zurückzuführen. Welcher Weg gewählt wird, darüber entscheidet die Struktur der Persönlichkeit vor der encephalitischen Erkrankung. Ichveränderungen in diesem Rahmen sind jedenfalls unspezifische, mögliche Folgen eines jeden 'T’raumas, insbesondere dann, wenn es von einer so weit- gehenden Veränderung des Körperzustandes gefolgt ist. Es scheint, dass die von Jelliffe als ‚Regression” aufgefasste Ichveränderung dort zu erwarten ist, wo die normalen Triebansprüche infolge der Apparatstörung nicht mehr realisiert werden können und das Ich auf andere Abfuhrmöglichkeiten sich umstellt. In anderen Fällen scheint das Ich des Parkinsonkranken vor andere Aufgaben gestellt zu sein; ich denke hier an die ichfremden Zwangsbewegungen, von denen Stenglsagt, sie würden bei manchen Kranken in Kratz- und Wischbewegungen umgewandelt. „Dieses Verhalten der Kranken erinnert an jene psychischen Phänomene, bei denen das Ich so tut als würde die ihm aufgezwungene Hand- lung eigentlich seinen Intentionen entsprechen”. Stengl meint, dass solche Bewegungen einen Rationalisierungsversuch des Ich darstellen; aber man muss fragen, ob hier nicht vielmehr auch die Ichtendenz passiv Erlebtes in Ichaktivität umzugestalten Platz greift. Dieselbe Tendenz des Ich, nämlich die vom Es her
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wirkenden Impulse durch aktive Umformung dem Ich zu assimilieren, könnte man dann auch in dem Beispiel, ds Bürgerund Mayer-Gross«) mitge- teilt haben, wiedererkennen. Diese Autoren diskutieren das Zwangsdenken der Encephalitiker und kommen im Gegensatz zu anderen Autoren), die es für den primären Ausdruck einer bestimmten zentralen Störung halten (und denen von Jelliffe widersprochen wird), zu dem Ergebnis, dass das Zwangsdenken nur eine Reaktion auf einen von innen her wirkenden motorischen Drang ist. Das Ich versucht somit den innerlich wahrgenommenen Zwang oder Drang durch Überführung in Gedanken und Denktätigkeit zu verarbeiten und sich seiner so zu erwehren.
Weiter fortgeschrittene Fälle zeigen dann nach Stengl Erscheinungen, die auf eine völlige Schrumpfung des Ich schliessen lassen, wobei allerdings das Ich plötzlich wieder aktiv werden kann. ‚Wir finden in fortgeschrittenen Fällen die Kranken monate- und jahrelang bewegungslos in totenähnlicher Starre sitzen. Würde man sich um sie nicht kümmern, sie würden infolge des Versagens der Ichfunktionen in wenigen Tagen sterben. Sie zeigen vielfach die Erscheinungen der Katalepsie. Dass es sich um einen Zustand von Dauerspannung handelt, der auch durchbrochen werden kann, zeigt unter anderem die Tatsache, dass die Kranken, die jahrelang tagsüber unbewegt dasitzen, eines Nachts schlafwandelnd aus dem Bette steigen und flott herumlaufen und sprechen können.”
Die analytische Krankengeschichte, die ich hier mitteilen werde, wird sich vor allem auf die Beschreibung und Genese solcher Ichveränderungen beschränken, die psychologische Problematik, die Jelliffe und Sten gl beschäftigt, geht aber weiter. Es wird von diesen Autoren die Möglichkeit von grundlegenden Änderungen im Triebleben selbst diskutiert, die für den Parkinsonismus spezi- fisch sind; nach Jelliffe ist es die Steigerung der Aggressivität, deren Abwehr über die körperliche Einschränkung hinaus für die Ichveränderung verantwortlich gemacht wird, nach Stengl erfolgt eine Triebentmischung, wobei abnorme Quantitäten destruktiver Energien zum Vorschein kommen, die das Ich über- wältigen und seine Funktionen nun mehr weniger beherrschen. Jelliffe sieht daher in der parkinsonistischen Körperhaltung eine unwillkürliche Ver- teidigungsstellung, die er mit der des Boxers und Ringers und mit religiösen Tanzritualen vergleicht. Die Ichinteressen konzentrieren sich nunmehr auf die Beherrschung und Abwehr dieser Feindseligkeit, die in der Körperhaltung und in gewissen Charakterzügen, wie gesteigerte narzisstische Empfindlichkeit, sowie in Neigung zu Wutausbrüchen und Zerstörungslust Ausdruck findet. Stengl meint im Gegensatz hiezu, dass Jelliffe die parkinsonistischen Phänomene zu sehr vom Ich her zu verstehen versucht hat: seiner Meinung nach handelt
es sich hier nicht mehr um die Abwehrtätigkeit des Ich gegen die Aggression
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sondern um den Destruktionstrieb selbst, der das Ich überwältigt, das ihm nun völlig unterworfen bleibt.
Mit der Annahme einer genuinen, quantitativen Triebsteigerung ändert und kompliziert sich das psychologische Bild des Parkinsonismus weitgehend. Wir konnten dieses von der Ichseite her gesehen solange verfolgen, als wir an der von Jelliffe vertretenen „traumatischen Ätiologie” der Folgezustände festhielten. Mit der Einführung der Idee einer Triebsteigerung ist die Analogie zu den neuro- tischen Vorgängenz war nicht aufgehoben, aber ich möchte das quantitave Mo- ment hier nicht weiter diskutieren und erst sehen, ob das zur Verfügung stehende analytische Material dafür Anhaltspunkte bietet.
Allgemeine Krankengeschichte
Die Erscheinungen, derentwegen die Patientin im Juni 1932 die analytische Behandlung aufsuchte, waren plötzlich ohne somatische Begleiterscheinungen am 12. Juli 1927 aufgetreten. Die Patientin war damals 23 Jahre alt. Am Morgen dieses "Tages war ihr Schwiegervater nach längerer Alterskrankheit gestorben. Sein Sohn, mit dem die Patientin seit 5 Monaten verheiratet war, überbrachte die Todesnachricht und forderte sie auf, nun gleich mit ihm ins Sanatorium zu dem Toten zu fahren. Die Kranke, die bisher nur wenige Zigaretten täglich zu rau- chen gewohnt war, hielt gerade eine brennende Zigarette in der Hand, die sie beim Weggehen in den Wasserkübel warf. Während der Fahrt nun, vollends aber im Sanatorium peinigte sie die Sorge, zu Hause könnte ein Feuer ausgebrochen sein, und diese Angst steigerte sich soweit, dass sie in ihre Wohnung zurück- gebracht werden musste. Dort begann sie gierig Zigaretten zu rauchen und verfiel dabei in einen Zustand von Verwirrtheit, wobei sie weinte und schrie, die Mutter sei gestorben und sie sei Schuld daran, weil sie geraucht habe. Sie sprach auch von Kleidern, war ratlos darüber, weil sie nicht wusste, welche sie anziehen sollte und verlangte nach der Hose des Vaters, um sie zu putzen. Ein Arzt be- ruhigte sie durch eine Injektion, und als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wieder vollkommen wohl, erinnerte sich verschämt der Ereignisse und besorgte wie bisher den Haushalt. Aber am 5. Tage, nachdem sie sich beherrscht und nicht geraucht hatte, störte sie die Zigarette ihres Mannes, dann schielte sie nach der Zigarettenschachtel und begann so eindringlich darnach zu verlangen, dass ihr niemand in der Familie widerstehen konnte. Sie musste wieder eine Zigarette nach der anderen rauchen und verfiel in den gleichen Verwirrtheits- zustand wie wenige Tage vorher. Dasselbe wiederholte sich nun immer wieder, gewöhnlich in 4-5tägigen Intervallen; es gab Pausen bis zu wenigen Wochen,
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einmal sogar von 8 Wochen, als die Patientin in eine geschlossene Anstalt gebracht und somit von ihrem Mann getrennt war.
Beim Rauchen inhalierte sie wenig, machte vielmehr nur gierige, saugende Züge, warf die Zigarette bald wieder weg und zündete eine andere an, griff dann, wenn der Vorrat zu Ende ging, auf die weggelegten zurück. Nichts konnte sie dabei mehr beunruhigen als der Mangel an einem entsprechenden Vorrat. Die Qualität der Zigaretten spielte keine Rolle; vor die Wahl gestellt, zog sie milde vor.
An den Tagen mit Anfällen wurde die Kranke gewöhnlich im Bett gehalten, das Leben der Familie und ihrer Eltern, die in der Wohnung nebenan lebten, war ım Laufe der Jahre ganz auf diesen Rhythmus eingestellt worden. Manchmal konnten die Anfälle aufgeschoben werden, wie gesagt, besonders dann, wenn die Patientin von ihrem Mann getrennt war, z.B. wenn er verreist war. Das verstärkte bei den Angehörigen die Meinung, dass die Anfälle ‚„‚gewollt’’ waren, und es wurde nichts unversucht gelassen, um sie an den kritischen Tagen abzulenken. Wenn sie aber unruhig wurde, zu betteln begann, man möchte ihr doch eine Zigarette geben, wenn sie dann forderte und drängte und sich schliesslich aus dem Fenster zu stürzen drohte, konnte ihr niemand widerstehen. Wenn man ihr, wie es an der psychiatrischen Station versuchsweise geschah, die Zigaretten dennoch vor- enthielt, steigerte sich der Zustand zur Raserei, und sie versuchte sich zu strangu- lieren. Die Anfälle endeten in einem körperlichen Erschöpfungszustand, die Verwirrtheit klang dann ab oder ging häufig in Schlaf über, der rascher eintrat, wenn man ihr im Anfall ein Schlafmittel gereicht hatte. Später verlangte sie spontan nach einem solchen.
Bis zur Eheschliessung hatte sie bei ihren Eltern gelebt. Der Vater ist ein gut- mütiger, tüchtiger Mensch, die Mutter führt den Haushalt, sie ist überfürsorg- lich, zerfahren, exaltiert. Die Patientin ist das ältere von zwei Kinder, der etwa 1} Jahre jüngere Bruder starb jedoch, als sie fast 10 Jahre alt war. Bis zum 14. Lebensjahr besuchte sie die Schule. Das ist das Jahr, in das wir die encephali- tische Erkrankung verlegen müssen. Sie war dann als Privatsekretärin tätig, nebenbei begann sie sich auf die Prüfung als Klavierlehrerin vorzubereiten. Von Männern war sie sehr unworben, mit 23 Jahren heiratete sie, die Ehe war kinder- los. In den guten sozialen Beziehungen, die sie mit einem grossen Bekanntenkreis verbanden, gab es nur eine Ausnahme. Sie fürchtete ihre Schwiegermutter von dem 'Tag an, da sie ihr das erstemal begegnet war, und mied sie, wo immer sie konnte. Als Grund wurde angegeben, dass die Schwiegermutter Frauen nicht leiden mochte, wenn sie Zigaretten rauchten, und sie verbat einem ihrer Söhne, ein bestimmtes Mädchen zu heiraten, von der sie wusste, dass sie rauchte. Da die Patientin selbst bis kurz nach der Eheschliessung keinesfalls eine leidenschaft-
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liche Raucherin war, fiel es ihr und ihrem Mann nicht schwer, vor der Schwieger- mutter das Rauchen geheimzuhalten. Die Spannung bestand aber vom Anfang der Bekanntschaft an und geht auf bestimmte Erlebnisse und Phantasien mit Zigaretten und Feuer zurück, von denen wir im Verlauf der Analyse nähere Mitteilungen bekommen werden.
Nennenswerte Erkrankungen waren bei unserer Patientin nicht vorgefallen, zur Zeit der grossen Encephalitisepidemie im Jahre 1918 hatte sie eine fieberhafte Erkrankung mitgemacht, zu der aber der Arzt nicht hinzugezogen worden war.
Seit Ausbruch der Anfälle war die Kranke bei vielen Ärzten in Behandlung gestanden, namhafte Neurologen und Psychiater waren konsultiert worden, privat sowohl wie von der Krankenkasse. Sie war medikamentös, physikalisch und psychotherapeutisch behandelt worden, alle möglichen Vermutungsdiagnosen (Nikotinsucht, Manie, Epilepsie, nasale Reflexneurose u.a.m.) waren gestellt und die Behandlung darnach eingerichtet worden. Es bestand zur Zeit, als sie von einer psychiatrischen Beobachtungsstation in analytische Behandlung kam, weder eine Störung des Bewegungsapparates noch Speichelfluss, Fettabsonderung, Blick- krämpfe usw.; jetzt nachträglich möchte ich allerdings geltend machen, dass die Frau in Gang und Haltung eine Auffälligkeit verriet, die ich (und vielleicht auch die Neurologen) psychologisch, nicht aber im Sinne des Parkinsonismus deutete: ihr Schritt war gemessen, ihre Haltung betont aufrecht und stolz, beides aber schien mit ihrer sonstigen Persönlichkeit ganz in Übereinstimmung zu stehen, es war die bestimmten Formen der Hysterie entsprechende Abwehrhaltung. Beim Klavierspiel, beim Tanz und Eislaufen war sie niemals behindert gewesen, ihr Gesichtsausdruck war niemals starr, oftmals sogar überaus lebhaft, ebenso ihre sonstigen Bewegungen, besonders wenn sie unter den Einfluss von Emotionen geriet.
Analytische Krankengeschichte
Für die Einstellung zur analytischen Arbeit waren bei der Patientin zwei Momente massgebend: die dem Milieu entsprechende Überschätzung der ärzt- lichen Kunst, die Erwartung der magischen Kraft und ein überaus starker Gene- sungswunsch, den ich nicht nur auf die Schuldgefühle wegen des Rauchens sondern auch auf ein dunkles Wissen um die eigentliche Schwere des Leidens zurückführen möchte. Ich hatte erwartet, dass beide Momente bald zu Schwierig- keiten mit der Patientin oder deren Familie führen würden, umsomehr als ich begreiflicherweise die Heilungsaussichten überaus zurückhaltend beurteilte. Aber schon in der Probezeit entwickelte die Kranke einen solchen Eifer für die gemeinsame Arbeit, dass die blosse Bereitwilligkeit zu helfen genügte, ihr Inter-
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esse an dieser Methode, die im Gegensatz zu allen früheren ihrer geistigen Ak- tivität einen weiten Spielraum liess, rege zu halten. Sie war bald imstande, die Grundregel äusserst ernst zu nehmen, wobei sie oft starke, im kleinbürgerlichen Milieu sehr geförderte Schamschranken zu überwinden hatte, aber ihre Bereit- schaft zum Zwang half ihr dabei sehr. Daraus resultierte eine ihr ungewohnte und bemerkenswerte Denkaktivität, die sie in den nächsten Monaten sehr genoss.
Die Patientin konzentrierte ihre Aufmerksamkeit sofort auf die Rauchsucht und auf die Reden in den Anfällen, und da sie immer eine gute Träumerin ge- wesen war, boten sich ihr von allen Seiten Anregungen.
Sıe hatte wegen des Rauchens immer ein starkes Schuldgefühl empfunden und oberflächlich machte sie nur sich für die Anfälle verantwortlich. Bis zur Analyse hatte sie daher erwartet, sich das Rauchen durch eine Willensleistung abzu- gewöhnen, und der Misserfolg im Lauf von fünf Jahren hatte ihre Kraft in diesen Glauben nicht geschwächt. In Wirklichkeit glaubte sie aber fest daran, dass ihr Mann dafür verantwortlich sei. Er war es, der sie auf einer Reise während der Brautzeit veranlasst hatte zu rauchen, und seither habe sie eigentlich nie auf- gehört öffentlich zu tun, was sie bis dahin einige Male heimlich getan hatte. Sie erzählt unter Überwindung von Hemmungen, dass sie sich von dieser Reise etwas anderes erhofft habe, aber die erste ‚offizielle Zigarette”’ habe sie so aufgeregt, dass sie „an das andere”’ nicht mehr dachte. Hier fügt sie an, dass sie bis zum 19. Lebensjahr ein Kind gewesen sei, dann habe sie das Eheleben sehr überschätzt. „Der erste Verkehr war ein 'Trauerspiel, eine lustige Braut, traurige Flitter- wochen”, mit diesen Worten schilderte sie die grosse Enttäuschung des Ehelebens. Sie war vaginal vollkommen frigid und kam nur durch Klitoriserregung zum Orgasmus. Sie empfand das als Enttäuschung und Mangel, aber nicht als abnorm. Die Angst, die sie bei der Kohabitation gelegentlich erlebte, bezeichnet sie als „Erdbebenangst’.
Die Anfälle traten an den kritischen Tagen entweder dann auf, wenn sie ihren Mann, Vater oder sonst jemanden rauchen sah, oder spontan, unabhängig von der Beobachtung. In diesem Fall empfand sie vorher eine gewisse Spannung, oft auch in der Klitoris, ein Unbehagen, das sich allmählich bis zur Änsstlichkeit steigerte. Masturbation konnte den Anfall nicht verhindern. Für die Ängstlich- keit weiss sie drei Gründe anzugeben: 1) die Mutter könnte sterben, und sie fühle sich dafür verantwortlich (‚weil ich rauche, deshalb stirbt die Mutter”), 2) die Schwiegermutter könnte kommen und böse werden oder sie könnte plötzlich zur Schwiegermutter gerufen werden und sie wisse dann nicht — weil sie geraucht habe — welche Hose anzuziehen, und 3) sie könnte durch die Zigarette ein Feuer verursachen. Diese letzte Angstvorstellung habe sie das erstemal einige Wochen vor Ausbruch der eigentlichen Anfälle auf einer. Reise mit ihrem Mann — kurz
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nach der Hochzeit — erlebt. Er war während eines Zugsaufenthaltes ausgestiegen, um Zigaretten zu besorgen. Sie ängstigte sich sehr, der Zug könnte ohne ihn weiterfahren. Als er ins Coupe zurückkam, streifte er zufällig etwas Glut und Asche am Mantel einer Mitreisenden ab, und sooft sie daran denke, überkomme sie der Zwangsgedanke, dem Mädchen könne durch Feuer etwas passiert sein. Sie hatte zwar immer vollkommene Einsicht in die Grundlosigkeit dieser Befürch- tung, aber Angst und Erregung überfalle sie, wenn sie daran denken müsse.
In den Anfällen pflegte sie gewisse stereotype Sätze vor sich herzusagen, die sie nun sehr zu interessieren begannen. Bisher hatte sie und die Familie diese Reden für krankhaften Unsinn gehalten. So sagte sie: „Ich brauche einen Tschi- kerldoktor!, der mir das Rauchen erlaubt und wenn es ein schwarzer wäre,.... aber einer mit einem Bart muss es sein’’. Sie entschloss sich darüber zu sprechen, als sie in der Nacht vorher von mir geträumt hatte; ich trug im Traum einen schwarzen Schnurrbart. Der Tschikerldoktor mit dem schwarzen Bart bezog sich auf ein Erlebnis im 16. Lebensjahr. Sie traf sich damals öfter mit anderen jungen Leuten auf einem Bauernhof. Die Burschen pflegten viel zu rauchen. Der Sohn der Bäuerin war in die Patientin sichtlich verliebt, er schrieb ihr Liebes- briefe, die ihre Mutter verbrannte. Die Mutter dieses jungen Mannes, der später Arzt wurde und einen schwarzen Bart trug, rauchte selbst Pfeife, und Patientin erinnert sich an das Lachen dieser Frau, als der Sohn sie, die Patientin, ins Heu warf. Das eigentlich Aufregende an dieser Szene aber war, dass die Bäuerin rauchend dabei stand und keine Sorge zeigte, sie könnte beim Rauchen ein Feuer verursachen. Nach der Heirat liess sich ihr Mann auf ihr Drängen einen Schnurr- bart wachsen, das Kitzeln der Haare fand sie so wohlig. Dieser Jugendfreund- Arzt besuchte sie später gelegentlich, was ihr schmeichelte, ihr tiefes Interesse aber galt damals nicht mehr seiner Mutter sondern seiner Schwägerin, der Frau seines Bruders. ‚‚Sie trägt das Haar gescheitelt und geschnitten wie ein Mann. Ich habe mir gedacht, die würde ich sofort heiraten, wenn ihr Mann stirbt. Das etwas Männliches in mir ist, spüre ich gerade ihr gegenüber am deutlichsten”. Hier sei an die Tatsache erinnert, dass die Schwiegermutter einem ihrer Söhne die Heirat mit einem Mädchen verboten hatte, die rauchte; dieses Mädchen, die ihre Schwägerin hätte werden sollen, durfte nicht männlich werden, weil es die Schwiegermutter nicht erlaubte, die Schwägerin des Jugendfreundes war aber männlich und ihre Pfeife rauchende Schwiegermutter offenbar auch. In einem Traum, der in den gleichen Zeitraum fällt, bewundert eine Schwester ihres Mannes eine schöne Unterhose an der Patientin; sie wacht aus dem 'T’raum mit der ängst-
ER 2 ee DEREN NEN NL ET 1) „Tschikerldoktor” ist ein Doktor, der etwas mit „Tschikerln” zu tun hat. Tschikerl ist ein Dialektwort für Zigarettenstummel.
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lichen Frage auf, welche Unterhose sie anziehen solle, wenn sie jetzt zur Schwie- germutter gerufen würde.
Hier ist der Platz, wo das analytische Verständnis dieses Falles nach einer ersten vorläufigen Formulierung verlangt. Diese Patientin ist von Wünschen und Phan- tasien aus der phallischen Phase beherrscht. Sie muss den Penis besitzen, den sie von der Mutter nicht bekommen hat, weswegen sie die Mutter unbewusst hasst und zugleich fürchtet, da sie die Versagung nicht akzeptiert hat. Ihre Sexual- entwicklung ist im Wesentlichen hier stehengeblieben. Mehr noch, sie wünscht sich den Penis, um die Frau aktiv befriedigen zu können, eine Frau, die selbst einen Penis besitzt und, wenn das Material auch darauf hindeutet, dass sie auch aktive Wünsche gegen den Vater hat (sowie sie sie gegen den Bruder gefühlt und ausgelebt hatte), so scheint dieser Teil der Vaterbindung doch nur das Resultat einer Verschiebung von der Mutter auf den Mann zu sein. Als Mädchen träumte sie einmal, dass ihre Cousine sich den Fuss verstaucht hat, sie massiert den Fuss und erwacht mit sexueller Erregung, die zur Klitorisonanie führt. Als ihr Bruder starb, hatte sie von einem aufgestellten Kinderfuss geträumt. Der Bruder, der Vater, die Männer überhaupt interessieren sie soweit, als sie das haben, was sie nıcht hat. Sie möchte die Männer haben, nicht um sie der Mutter wegzunehmen sondern um von ihnen die ‚„Männlichkeit’’ zu bekommen und damit zur Mutter zurückzukehren. Wir können sagen, die libidinöse Struktur dieses Falles spricht für eine Fixierung auf der phallischen Stufe, ausgedrückt in einer männlichen (männlich-homosexuellen) Einstellung zur Mutter und in Spuren von Über- tragung dieser Mutterbeziehung auf den Mann (Vater). Das weitere Material wird dafür noch manche Belege bringen.
Wenn sie in der Analyse einen stereotypen Satz, wie den ‚ich brauche einen Tschikerldoktor, der mir das Rauchen erlaubt” durchbesprochen und seine Abkunft aufgeklärt hatte (ohne dass sein unbewusster Inhalt vorläufig gedeutet wurde), so trat diese Formel gewöhnlich in den Anfällen zurück und eine andere kam zum Vorschein. |
Bevor wir auf die nächste eingehen, noch ein Erlebnis mit einer Zigarette. Mit 15 Jahren wollte eine Freundin sie veranlassen mit ihr eine Zigarette zu rauchen, ein Hustenanfall aber machte es ihr unmöglich. In der Nacht nun nahm sie heim- lich ihrem Vater eine Zigarette weg und rauchte sie unter dem Klavier, unter demselben Klavier, unter dem sie ihren Bruder zu sexuellen Spielen verführt hatte, bei denen sie immer obenauf zu liegen kam. Sie setzte damals das Ziga- rettenrauchen nachts am Klosett fort.
Das bringt uns zur Frage einer Schlafstörung, von der aber die klinische Vorgeschichte nichts zu berichten weiss. Die Kranke selbst klagte weder über zuviel noch zuwenig Schlafbedürfnis, aber eine gewisse Schlafstörung, Unruhe,
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leichtes Erwachen, eine Neigung, dann aufzustehen und etwas in der Wohnung zu tun, hatte sie seit vielen Jahren beobachtet. Während der Behandlung klagte sie durch Wochen über den Zwangsgedanken, den sie auch ausführte, sie müsse ein Packet Zigaretten und Veramon (oder Medinal) mit sich tragen. Mit Schlaf könnte sie den Wunsch zu rauchen bekämpfen, den Anfall abkürzen, wenn er auftrat, man könne aber auch durch Schlafmittel sterben, wenn man am Rauchen gehindert sein sollte. Ein anderes sicheres Einschlafmittel ist — nach ihren eigenen Worten — die Klitorisonanie.
Zu Beginn des Weltkrieges war Patientin 10 Jahre alt. Sie beteiligte sich be- geistert am Zigarettenstopfen für verwundete Soldaten. Einmal will sie einen Waschkorb voll Zigaretten mit ihrer Grossmutter zur Bahn gebracht haben, wo sie sie verteilten. Mit diesem Erlebnis erklärt Patientin folgende Reden im Anfall: „Ich wıll 100 Zigaretten rauchen, ich brauche 1000 und mehr Zigaretten, sperren sie mich ein, weil ich 100 und mehr, weil ich 100 Zigaretten haben und rauchen möchte, deshalb komme ich auf die Psychiatrie, und mein armes Mutterl muss sterben, weil ich soviel rauchen muss’. Ein Onkel, ein jüngerer Bruder der Mutter, sah beim Stopfen der Zigaretten zu und nahm scherzhalber fünf Ziga- retten zugleich in den Mund. Die Patientin versuchte sie ihm wegzunehmen, sprang auf ıhn hinauf und bekam einen Wutanfall, als es ihr misslang. Dieses Erlebnis fällt in die Zeit vor der encephalitischen Infektion. Als sie ihre Leiden- schaft für Zigaretten im Zusammenhang mit der Konkurrenzeinstellung zum Mann zu verstehen begann, meinte sie, es war ihr wohl darauf angekommen, dass sie alle, der Onkel keine von ihren Zigaretten haben sollte.
Nun begann sie in den Anfällen öfter von einem alten Mann zu sprechen, der sie in ihren Träumen seit langem beschäftigte, von einem Mann mit einem Bart. Mutter und Tante erinnerten sie, dass der Grossvater einen Bart getragen hatte, und Patientin ergänzt diese Erinnerung. Er rauchte Pfeife undsie— ein kleines Kind von 2-3 Jahren — sass auf seinen Schoss und manchmal durfte sie sogar an seiner kalten Pfeife lutschen. Sie will auch die Genitalien des Grossvaters gesehen haben, als er am Nachtstuhl sass. „Ich habe mir gedacht, was dann sein muss, vom Glied hatte ich keine Ahnung, noch mit 19 habe ich ans Christkindl geglaubt.” Diese Erinnerungen waren mit einer starken allgemeinen Erregung verbunden, und sie glaubte nun den Kern der Sucht entdeckt zu haben, umsomehr als die Anfälle nun einigemale bis zu 8 Tagen ausgesetzt hatten. Aber bald fiel sie in den alten Rhythmus zurück und sagte in der Verwirrtheit: „Ich geh’ zum alten Mann, der muss mir sagen, ob ich rauchen darf”. Sie brachte dann für den alten Mann folgende Erklärung: „Das ist der alte K., die Mutter hat immer gesagt, er ist ein Schweinigl, ein Schürzenjäger, er hat mich oft auf den Schoss genommen,
ich muss damals 2-3 Jahre alt gewesen sein, er hat mich gefüttert, damals war er 19
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noch nicht so schlimm, sagt die Mutter, die Tante aber sagt, sicher hat er mir etwas getan....Ich hab mit seinem Bart gespielt, er hat mich mit Eierspeis gefüttert.” Sie erinnert hier ein Lied, mit dem ein Jugendfreund die Gesellschaft zu unterhalten und, wie ihr bewusst ist, sexuell zu reizen pflegte. Es beginnt mit den Worten: ‚Alte magst a Eierspeis?” (,,Alte” ist eine vulgäre Bezeichnung für Gattin, ‚„‚Eierspeis’ heisst hier „Hodenspeise’”’). In diesen Tagen klagte Patien- tin, dass sie eine Unmenge von Gurken essen müsse.
Wir hatten nun ein reichliches Erinnerungsmaterial, von dem ich nur die Endresultate, aber nicht die Entwicklung an der Hand des Übertragungsmaterials wiedergeben konnte, gesammelt und den wichtigsten Anteil der Symptomwahl bis an die Grenze des zweiten Lebensjahres zurückverfolgt. Ergänzungen dieses Materials in der Richtung des Ödipuskomplexes und des Penisneides sind hier angezeigt. Bei einer Patientin, die in so ausgesprochener Form auf der phallischen Stufe verharrt, werden wir nur Ansätze, nicht aber eine entwickelte Ödipus- situation erwarten und die praeödipale Mutterbindung wird in verschiedenen Auswirkungen, — wie wir bereits angedeutet haben — auch in der Beziehung zum Mann in Erscheinung treten. Die Patientin hatte eine Aufteilung der ur- sprünglich von der Mutter besorgten Funktionen auf die Schwiegermutter, die eigene Mutter und die Männer selbst vorgenommen. Die Mutter spielte in ihrem Leben fast immer nur die Rolle der Beschützerin, das war selbstverständlich in der Kindheit so, aber auch im Verlauf der Pubertät änderte sich daran wenig. Dass die Mutter sie bewachte, z.B. die Liebesbriefe des Jugendfreundes ver- brannte, darüber fühlte sie weder Ärger noch Feindseligkeit. Seitdem sie verhei- ratet ıst, hat sich daran wenig geändert. Sie wohnte Tür an Tür mit der Mutter, und in den Anfällen besorgt die Mutter nicht nur die nötige Aufsicht über die Patientin sondern auch deren Haushalt. Die Äusserungen, dass die Mutter ge- storben ist und sie schuld daran sei, sind ihr im Gefühl gänzlich fremd und unverständlich gewesen, und sie konnte sich in den 10 Monaten analytischer Be- handlung mit der Idee der Rückverlegung der Hassregungen, wie sie sie gegen die Schwiegermutter empfand, nicht näher einlassen. Viele der Mutter gegenüber unterdrückte Regungen waren ihr hingegen voll bewusst gegenüber der Schwieger- mutter. Auch dass sie die Forderung nach einem Penis, die sich an die Mutter richtete, zum Vater und zum Bruder verlegt hatte, war ihr intellektuell nicht mehr ganz fremd. Diese Verschiebung zum Vater und Bruder möchte ich nun an einigen Äusserungen und Handlungen zeigen. Eine häufige Rede im Anfall war die folgende: „Mein armes Vaterl soll kommen und mir eine Zigarette schenken, er soll mir die letzte, das letzte soll er mir schenken. Wo ist nur seine Hose, dass ich sie putzen kann. Ich und er gehen jetzt auf die Psychiatrie, er und ich gehen’. Einmal konnte ich, selbst Zeuge des Anfalls, sie sagen hören: ‚„I-er
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geht jetzt auf die Psychiatrie’; befragt wer „I-er” sei, antwortet sie, sie wisse nicht, warum sie im Anfall dieses unverständliche Wort sooft gebrauche. Auf den Hinweis, dass sie im Anfall die Hose des Vaters zu putzen wünsche, erzählt sie, dass sie zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr gern in Unterhosen in der Wohnung herumlief und auch gelegentlich eine Hose des Vaters anzog. Wenn ihr Vater raucht und die Zigarette zwischen den Fingern hält, so fühlt sie den Impuls, von rückwärts sich zu nähern und einen Zug aus seiner Zigarette zu machen. Die Anwesenheit der Mutter würde sie dabei nicht stören, aber die Schwiegermutter dürfe es nicht erfahren. Wie die Mutter sie beschützt, so be- schützt sie dıe Mutter. Sıe ist meist voller Fürsorge für sie und fürchtet, sie könnte verreisen, der Vater könnte die Wohnungstür offen lassen, und Einbrecher könnten in Mutters Wohnung kommen; dass sie, die Patientin, der Einbrecher ist, scheint ihr noch recht fremd. Sie hatte als Mädchen oft gedacht, wie das Glied des Vaters aussehen mag und als sie es als 16 jährige, noch immer bei den Eltern schlafend, einmal sah, wunderte sie sich, wie klein es war. Sie habe damals schon dem Vater gegenüber manchmal ‚Erdbebenangst’’ empfunden, dieselbe Angst, von der sie erzählt hatte, sie sei ein Begleitgefühl der Kohabitation. Sie schildert auch plastisch eine Szene aus der Kindheit, als sie zwischen den Eltern schlief: „Der Vater muss mich in der Nacht verkannt haben, ich habe ıhn einmal so nah gespürt und als ich fragte, ‚was willst denn, Papa’, sagte er ‚ach nichts’. Ich hab den Vater so gern, ich glaub ich krieg eine Zigarette von ihm’ war eine häufige Äusserung, wenn vom Vater die Rede war. Die Deutung dieser Äusserung konnte erfolgen, als sie in der Analyse phantasierte, ich werde einmal aus dem Zimmer gehen, sie werde sich eine Zigarette vom Schreibtisch nehmen, um zu beweisen, dass sie rauchen kann. Am nächsten Morgen erzählte ıhr dann ıhr Mann, dass sie aus dem Schlaf gesprochen habe: ‚Ach, der Dr. H. ist ja impotent’’. Zwischen der frühen Kindheit, in der sie an der Pfeife des Grossvaters lut- schen durfte, und der Vorpubertät, in der das Interesse für Zigaretten und Rau- chen da und dort agiert wurde, stand die sexuelle Aktivität mit dem Bruder im Vordergrund. Nicht nur, dass sie ihn zu sexuellen Spielen verführte und sich dabei auf ihn legte, sie empfand ihn immer als zart und weiblich, vertauschte ihre Mädchenspielsachen mit den seinen, sie erinnert sich auch direkt aggressiver Akte gegen ihn. Einmal soll er weinend zur Mutter gelaufen sein und geklagt haben, die Schwester habe ihn am ‚‚Pipi” gestossen. Dass der Vater sie als Kind lieber hatte, die Mutter aber den Bruder vorzog, empfand sie keineswegs als gerechte Verteilung, die Liebe des Vaters war für sie immer nur ein Ersatz. Der Bruder starb, wie gesagt, als die Patientin fast 10 Jahre alt war. Sein Tod dürfte der stärkste Anstoss gegen die Realisierung des Peniswunsches gewesen sein. In der Trauer um ihn hatte sie ein wesentliches Stück der komplizierten Mutter-
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beziehung untergebracht. Der Tod hatte die Mutter überaus getroffen, noch zur Zeit der analytischen Behandlung, also 18 Jahre später, besuchte sie wöchentlich den Friedhof und Patientin begleitete sie oft dahin. Der Bruder war zuerst, da die Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte, in einem Schachtgrab bestattet worden; später war er dann auf Betreiben der Mutter exhumiert und in einem Einzelgrab begraben worden. Der Wunsch, zu ihm zu gehen, wurde im Anfall oft geäussert.
Die Unzufriedenheit mit der Klitoris kann durch einige Äusserungen belegt werden, wobei es interessant ist, dass solche leicht entstellte Klagen bewusst nur gegen die Schwiegermutter, im Traum und Anfall aber auch gegen die Mutter geäussert wurden. Die Mutter besass einen kleinen Hund, den sie mit der Idee die Kranke zu beschäftigen ihr oft überliess; im Anfall sagte sie: „Ich will nicht einen kleinen Hund, ich will einen grossen”, oder „Mama, wenn du stirbst, musst du mir eine grosse Zigarette schenken, ich bekomme sonst nur Stum- merln’’. Einmal träumte sie von einem Liliputaner, der weint, weil er so klein ist. Ein Mitschüler ihres Bruders soll ein Zwerg gewesen sein. Der Schwiegermutter aber trägt sie nach, dass sie ihr im 1. Jahr der Ehe zu Weihnachten nicht einen grossen, sondern einen kleinen Christbaum geschenkt hatte.
Bevor wir aber auf dieses Material näher eingehen konnten, hatten sich Zeichen von Veränderungen, diesmal von somatischen, bemerkbar gemacht. Es trat eine sich steigernde fettige Sekretion im Gesicht auf, der sie zuerst kaum Aufmerk- samkeit zuwandte. Sie hatte im 8. Monat der Analyse mit forcierten Klavier- übungen begonnen, um sich auf die Klavierlehrerprüfung vorzubereiten. Seit der Eheschliessung hatte sie an diesen Plan nicht mehr gedacht, nun nahm sie ihn wieder auf und entwickelte damit eine ihr sehr wichtige Ichaktivität. Sie ratio- nalisierte sie mit der Notwendigkeit, im Falle einer Ehescheidung, die ihr wohl durch das Verhalten des Mannes nahegelegt war, für sich selbst sorgen zu müssen. Das 'Triebmotiv war der Männlichkeitswunsch, der durch die Analyse aktiviert aber nicht durchgearbeitet war. Es stellte sich nun eine Versteifung des linken Kleinfingers ein, die sie zuerst mit dem Klavierspiel in Zusammenhang bringen wollte. Die neurologische Untersuchung, diesmal von Dr. Stengl durchgeführt, liess aber nunmehr an der encephalitischen Ätiologie keinen Zweifel offen.
Epikrise
Die Kranke hatte nun eine Atropinkur durchzumachen und sich deren Hand- habung für die weitere Zukunft anzugewöhnen. Sie wurde in eine offene Nerven- heilanstalt gebracht, wo sie mehrere Wochen blieb. Wenn sie mit dem Atropin für einige Zeit aussetzte, so trat auch neben den genannten somatischen Erschei-
Analyse einer postencephalitischen Geistesstörung 2
nungen erhöhter Speichelfluss auf, was früher nicht beobachtet wurde. 1935 wurde sie neuerdings einer psychiatrischen Untersuchungsstation zugewiesen, da sie sich im Anfall zu strangulieren versuchte. EPappenheimundE. Stengl haben dort die eingangs erwähnte Untersuchung durchgeführt. Stengl reiht den Fall unter die postencephalitischen Drangzustände ein. Er verabreichte der Kranken ohne ıhr Wissen Nicotin in Form des geschmacklosen, wasserlöslichen Nicotintatrats, er konnte aber keinerlei Einfluss auf die Anfälle beobachten. Die Kranke hat mich bis zum Jahre 1938 wiederholt besucht. Ihre Ehe war bald nach Feststellung der encephalitischen Diagnose geschieden worden. Die Anfälle setzten manchmal bis zu mehreren Wochen aus, es scheint aber, dass nicht die Anfälle, hingegen Speichelfluss und Talgabsonderung durch die Atropinbehand- lung beeinflusst wurden. Für lange Perioden traten dann die Anfälle nur einmal monatlich, unabhängig von der Menstruation, aber an dem Tage auf, an dem sie die Alimente von ihrem Mann erwartete. 1936 hatte sie den Wunsch geäussert hypnotisiert zu werden, offenbar auf Drängen der Mutter, nicht so sehr im Glauben, dass ihr damit geholfen werden könne. Die behandelnde Ärztin berich- tete, dass die Patientin auf die Hypnose gut ansprach und für Wochen und Monate anfallsfrei blieb. Der körperliche Zustand war bis 1938 stabil, dann traten Bewe- gungsstörungen in einem Bein auf, über deren Natur ich aber nichts Näheres
erfahren konnte. Neurose und Encephalitis
Ich habe, wie eingangs erwähnt, diese Analyse nicht unternommen, um die Folgen der Encephalitis zu studieren, schon gar nicht, um zur seelischen Therapie dieser Störungen, die bekanntlich sehr aktuell ist(o) und auch von Smith E. Jelliffe in seiner Arbeit gestreift wird, einen Beitrag zu leisten. Ich habe mich vielmehr nach Klarstellung der encephalitischen Genese bemüht, der Kranken verständlich zu machen, welcher Art das Grundleiden ist, und mir im übrigen die Anschauung gebildet, dass das Rauchen nur ein Symptom des unerledigten Kindheitskonfliktes darstellt, das man ihr nicht entziehen konnte, ohne ihr ein entsprechendes, psycho-ökonomisch und sozial brauchbares Äquivalent zu bieten. Für eine Fortsetzung der analytischen Behandlung in Kollaboration mit einem Neurologen, die vom wissenschaftlichen Interesse aus sehr erwünscht gewesen wäre, sah ich keine Möglichkeit. Ich hatte auch Bedenken gegen eine Fortführung aus folgenden Überlegungen: das Auftreten der Fingerversteifung war eine direkte Antwort auf die Deutung des Materials den Kastrationskomplex (Peenisneid) betreffend. In der Fingerversteifung sehe ich einen Ausdruck der encephalitischen Störung, die durchbrach, als ihre Widerstandskraft gegen die
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Passivität geschwächt worden war; bisher hatte sie sich praktisch erfolgreich dagegen gewehrt. In der Körperhaltung und im Gang hatte sie die encephalitische Störung in Sinne ihrer Charakterhaltung sogar nutzbar gemacht, eine scheue, zur Passivität neigende Patientin aber hätte vielleicht vom Anfang an die gleichen Symptome als störend und ichfremd empfunden, über sie geklagt und sie dadurch der Umgebung sehr deutlich zu Verstehen gegeben. Ich kann nicht entscheiden, ob die Patientin zu einer weiteren ernsthaften Zusammenarbeit überhaupt bereit oder fähig gewesen wäre, die Anfälle waren für sie und ihre Familie jedenfalls das kleinere Übel verglichen mit einer rascher fortschreitenden parkinsonistischen Veränderung. Die weitere Diskussion des Falles — wenn auch nur auf ein lücken- haftes Wissen aufgebaut — wird diese Erwägungen rechtfertigen.
Wir hatten es mit einer Patientin zu tun, die in ihrer frühen Kindheit, zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr, eine bestimmte, uns gut bekannte Aufgabe zu lösen hatte, was ihr nicht gelang. Es muss in der Zeit stärkster Bindung an die Mutter eine Fixierung der phallischen Vorstellungen stattgefunden haben; ihr Kern, eine Urphantasie, enthielt die Hoffnung, sie werde den in Grösse und Befriedi- gung vollkommenen Penis von der Mutter später bekommen. Von einem kon- stitutionellen Beitrag abgesehen, können wir dafür noch folgende Umstände verantwortlich machen. Es wurde ihr ein Bruder geboren, der von nun an neben dem Vater die zärtlich-sinnliche Beziehung zur Mutter zu stören imstande ist. In den gleichen Zeitraum, in dem die Rolle der anal-sadistischen Partialtriebe im Dunkeln geblieben ist, fallen zwei (oder vielleicht noch andere) Erlebnisse, die für das Mädchen später von grösster Bedeutung werden sollten. Der Bruder hatte den grösseren Teil der Mutterinteressen auf sich gezogen, das Mädchen hatte sich scheinbar anderen Familienmitgliedern zugewendet. Dabei hatte ihr das Entgegenkommen des Grossvaters die Bekanntschaft mit seiner Pfeife ver- mittelt, eine Verwöhnung und Verführung, die in den Onanieerlebnissen kleiner, speziell von Greisen verführter Mädchen ihre Parallele haben mag. Noch dazu hatte der alte K. die Verführung tatsächlich besorgt. Glauben wir zuerst und vor allem der Patientin, dass der alte K. sie an der Klitoris gereizt haben muss. Dafür spricht ja auch neben ihrem eigenen und der Tante Zeugnis, dass sie immer andere Personen, zuerst ihren Mann, für das Rauchen, also für die Erfüllung ihrer männlich aktiven Wünsche verantwortlich gemacht hatte. Gewiss der Vorwurf ist auch eine Rechtfertigung für sie selbst: ‚‚Weil ich den Penis nicht bekommen habe, muss ich rauchen, Schuld daran trägt der, der mir ihn nicht gegeben hat.’ Aber die Hartnäckigkeit spricht auch für einen real mehr berech- tigten Vorwurf, hier gegen den alten K. Wenn es so ist, dann war die Verführung durch den Grossvater und den alten K. für sie doch nur die Bestätigung, dass sie berechtigt war, den Penismangel zu beklagen. Beide Männer haben ihr ja zu
Analyse einer postencephalitischen Geistesstörung 279
verstehen gegeben: „Ich weiss, Du willst ein Mann sein, hier fühle Dich als solcher”’, der alte K. zumindest kannte sogar die Stelle, auf die es ankam. Es handelt sich hier also nicht um eine Ablösung von der Mutter, wir sehen viel- mehr, wie die Beziehung zu den Männern benützt wird, die alte Erwartung und Forderung an die Mutter zu konservieren. Auf diese Weise können wir uns das Fehlen direkter, aggressiver Regungen gegen die Mutter erklären, sie sind nicht nur in den Selbstvorwürfen und der Angst vor der Schwiegermutter, sondern in der phallischen Aktivität selbst untergebracht. Derselbe Mechanismus wird ja in den Analysen von Frauen mit Zwangsmasturbation oft gefunden. Sie enthält die Aufforderung an die Mutter, ihr doch endlich das fehlende Stück zu geben.
Später stellte sie dann einen wichtigen Teil der phallischen Aktivität am Bruder dar, die Tendenz der Schadloshaltung und Rache spielt hier bereits eine Rolle. Dann erfolgt der Tod des Bruders, von dem sie sagt, sie habe ihn geahnt. Wir wissen darüber wenig. Erst die Reaktion auf den T'od des Schwiegervaters erlaubt Rückschlüsse darauf. Auffallend ist, wie sie die Trauerreaktion der Mutter, die sich offenbar ins Pathologische gesteigert hatte, akzeptiert und wie sie sie benützt, um das zärtliche Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter mehr als vorher zu reali- sieren; die Mutter ist jetzt auch eher bereit, es zu erwidern. Es ist erwähnenswert, dass dieses Ereignis die Latenzperiode der Patientin in zwei Phasen teilt, in eine frühere, vor dem Tod des Bruders, in der sie sexuell noch vollkommen aktiv war, und in eine spätere, nach dem Todesfall; in dieser kommt — zum erstenmal nach dem Kindheitserlebnis mit der Pfeife — das Interesse an Zigaretten an den Tag. Aber es lässt sich noch nicht das pathologische Verhältnis und das süchtige Verlangen darnach erkennen.
Kurz nachdem sie in die Pubertät eingetreten und mit einem neuerlichen Ak- tivitätsschub beschäftigt war, erkrankte sie an einer scheinbar harmlosen Grippe, und von nun an müssen wir sie uns als eine somatisch Leidende vorstellen, die aber ihren Zustand unter Kontrolle zu halten vermag. Äusserlich war sie in den ersten Jahren der Pubertät unverändert, allerdings sehr aktiv, dann wurde sie erotisch lebhaft und gesellig. Mit 15 Jahren begann sie heimlich zu rauchen, etwa ein Jahr nach der Grippeerkrankung. Dann tritt uns die pathologische Ver- knüpfung von Triebleben und Rauchen sehr deutlich in dem Erlebnis mit der rauchenden Bäuerin entgegen. Eine längere Analyse hätte diese interessante Begebenheit sicher noch weiter aufgeklärt; aber es ist klar, diese Bäuerin reizte sie, weil sie die Frau bedeutete, die ihre männliche Aktivität zeigen konnte. So verschob die Kranke ihren intensiven Wunsch, so zu sein wie jene, auf „kleine Dinge”, auf die Pfeife, das Rauchen, den Schnurrbart des Sohnes. Hinter dem letzteren können wir eine Phantasie vermuten, die auf der Beobachtung der Genitalbehaarung des Grossvaters und — vermutlich der Mutter — beruht.
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Da in den nächsten Jahren keine psychischen Belastungen eintreten, das Phan- tasieleben noch ungestört von der Wirklichkeit funktionieren darf, verlaufen sie auch scheinbar normal. Sie ist eine gute Arbeiterin in einem Bureau, sehr gesellig, hat erotische Phantasien mit beinahe allen Männern, die aber keinen bedeut- samen Konflikt — weder in ihr selbst noch mit der Mutter — erzeugen. Ihre aktiv homosexuellen Ansprüche befriedigt sie ferner in engen Freundschaften mit Gleichaltrigen, die sich im Rahmen der gewöhnlichen Mädchenfreundschaften abspielen. Wie wir sie uns jetzt vorstellen, würden wir ihr noch eine volle Chance zubilligen, dass sie bald heiraten, Kinder haben und nach dem Vorbild der Mutter ihre Aktivitätsbedürfnisse erschöpfen wird. Ihre sexuellen Schwierig- keiten, die Frigidität, die Rivalität mit dem Mann, die Streitlust und die Bezie- hung zur Mutter, zu Kindern und Freundinnen würde in diesem Milieu in keiner Weise auffallend abnorm wirken.
Sie heiratet auch wirklich im 23. Lebensjahr einen Mann, zu dem sie sich offen- bar mehr aus Neugierde als aus Liebe hingezogen fühlt. Jetzt treten die alten Konflikte deutlich in Erscheinung. Sie fühlt, wie sehr die aktive Schwieger- mutter den Sohn in Abhängigkeit hält, und dass das niedergehaltene Interesse für Zigaretten und Rauchen, so gut sie es auch beherrschen konnte, zu einem Konflikt mit dieser Frau führen muss. Sie muss den Mann während der Reise in der Brautzeit verführt haben, ıhr die Zigarette aufzudrängen, ihre sexuelle Lüstern- heit und Neugierde hatte sie dabei in dem Flirt um die Zigarette untergebracht. Der Mann, von dem ich weiss, dass er sexuell scheu und ein unter Impotenzangst stehender Perverser war, mag zufrieden gewesen sein, dass er mit dem Spiel um die Zigarette sie so sehr in Erregung versetzen konnte. Das Bemerkenswerte an dieser Brautzeit ist aber, dass sie das Rauchen kontrollieren konnte, dass der Penis- wunsch noch nicht zum Zwang, die Reaktion auf die Versagung sich noch nicht zum offenen Hass gegen die Schwiegermutter gesteigert hatte. Sie ist übrigens bereit, diesen Konflikt mit jeder Frau, die nur irgendeine Handhabe dazu bietet, zu wiederholen; das Erlebnis mit dem Mädchen im Eisenbahnzug illustriert das.
Der Tod des Schwiegervaters wurde dann zum auslösenden Anstoss für die Anfälle von Rauchsucht und Verwirrtheit. Wir wissen, sie löschte vor dem Ver- lassen ihrer Wohnung die Zigarette in einem Wasserkübel aus, so als ob sie sich versichern wollte, dass sie ja nichts von ihrem Wunsch nach Männlichkeit der Schwiegermutter, die sie ja im Sanatorium treffen muss, verraten werde. Gewiss, man könnte ohne Vorkenntnis der Entwicklungsgeschichte dieser Patientin das Auslöschen der Zigarette und ihre Sorge, ein Feuer könnte in der Wohnung aus- gebrochen sein, auch anders interpretieren. Es ist richtig, sie empfindet Schuld- gefühle gegenüber der Schwiegermutter und vermeidet es, dass sie von ihrer Lust zu Rauchen erfährt. Für die Patientin ist Rauchen eine männliche Tätigkeit oder
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genauer gesagt, da in ihrem Unbewussten nur Männer und Kastrierte, Ge- schädigte existieren, ein Zeichen der Aktivität. Diese fürchtet sie zu verraten, weil sie die Reaktion der Mutterimago fürchtet, die selbst aktiv ist und es sein will. Die weitere Entwicklung des Anfalls zeigt dann, dass sie die Männlichkeit nicht mehr verbergen kann, sich ihr mehr und mehr hingibt, sie fordert und andere bedroht, die sie ihr verweigern, schimpft und schreit und Männerkleider verlangt. Daneben verfügt sie noch über eine gewisse Kontrolle, die in Selbstkritik und in Klagen über die Folgen ihrer Aktivität zum Vorschein kommt. Sie fürchtet, die Mutter könne sterben, ja in sehr ausgebildeten Anfällen war die Mutter bereits tot, sie verband damit Selbstanklagen, verlangte Trauerkleider, um auf das Be- gräbnis zu gehen. Diese Klagen um die Mutter sind nicht bloss Zeichen des Schuldgefühls, dazu da, den Hass zu verbergen, sie sind auch Ausdruck des Liebesverlangens, der Zugehörigkeitsgefühle, echte Trauer. Vielleicht geht die Vorstellung vom Tod der Mutter, nachdem sie ein Mann geworden ist, auf eine Urszenenphantasie zurück, des Inhalts, dass die sexuelle Aktivität zum "Tod des passiven Partners führt. Mit ihren Gefühlen in der Klitoris, so angenehm sie sie empfand, hätte sie dann zugleich das ursprüngliche Liebesobjekt bedroht, seinen Tod veranlasst, was das Schicksal des Bruders und Schwiegervaters bestätigte. Nochmals wird dann die ‚‚Urphantasie’’ voll durchsichtig, wenn die Anfälle beim Empfang der Alimente von ihrem geschiedenen Mann auftreten. Hier wird — so wie wir es beim Tod des Schwiegervaters gesehen haben —die alte Kindheits- phantasie ‚, etwas zu bekommen” Realität. Das Empfangen des Geldes bedeutet den Triebdurchbruch, gegen den sich der Rest der Persönlichkeit, die zärtliche Einstellung zur Mutter und die Überichforderungen entgegenstellen. Der Anfall selbst enthält eben auch die Zeichen des Misslingens eines Triebdurchbruchs. Die Süchtigkeit, mit der sie raucht, ohne damit wirkliche Befriedigung zu er- langen, zeigt — wiederum in Ähnlichkeit mit der Zwangsmasturbation —, dass das Rauchen ein Ersatz der Männlichkeit ist, dass es aber nicht leistet, was die Phantasie in Aussicht gestellt hat. Der Triebdurchbruch, der die ‚‚Urphantasie” verwirklichen soll, gelingt nur unter gleichzeitiger Bildung eines neurotischen Symptoms, das heisst aber, er ist in Wirklichkeit misslungen.
Zur Diskussion des Falles gehört noch die Rolle der Oralität, die im Rauch- symptom selbst und in einigen weniger aufdringlichen Erscheinungen, wie etwa im passagieren Drang, saure Gurken zu essen oder in einer ihrer infantilen Sexual- theorien (Kinder entstehen durch Anhauchen) zum Ausdruck kommen. Meiner Meinung nach handelt es sich hier aber nicht um orales Material, sondern Mund, Lippen, Atmung u.s.w. werden hier nur dazu benützt, um phallische Impulse zur Darstellung zu bringen. Was die infantile Sexualtheorie ‚Kinder entstehen
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durch Anhauchen” betrifft, so scheint sie das Resultat einer Verschiebung von Eindrücken und Ängsten aus der Urszenenbeobachtung zu sein (und wahr- scheinlich auch von der am alten K. beobachteten sexuellen Erregung). Ein "Traum und seine Vorgeschichte legen das nahe. Ich hatte die Behandlung wegen einer Erkältung unterbrechen müssen. In der folgenden Stunde fand die Patientin, dass ich müde aussehe. In der Nacht darauf träumte sie von einem aufregenden Sexualverkehr mit einem alten Mann, der ihr nachher sagte, er habe nicht ge- dacht, dass ihn der Verkehr mit ihr so anstrengen würde. (In Wirklichkeit ge- brauchte der Mann im Traum nicht das Wort ‚‚Verkehr”’, sondern eine vulgäre Bezeichnung). Anhauchen heisst in diesem Zusammenhang, dass das Gefährliche, ‘das unten geschieht und von Keuchen begleitet ist, nach oben verlegt wird, wobei das Begleitgeräusch zu einem harmlosen Anhauchen ermässigt wird. Warum gerade der Mund zum Ausdrucksmittel für phallische Aktivität gewählt wird, lässt sich bei unserer Patientin neben dem Hinweis auf die biologische und funk- tionelle Vorgeschichte der Mundzone noch durch ein soziales und individuelles Moment erklären. In der Stufenleiter der Libido ist die orale Stufe nicht nur die unterste und für den allerersten Lebensabschnitt bedeutungsvollste, sie geniesst auch in unserem Kulturkreis und speziell in dem sozialen Milieu, dem unsere Patientin angehört, eine gewisse Begünstigung und mehr Tolerierung, verglichen mit den übrigen autoerotischen Bedürfnissen des Kleinkindes. Diese relative Begünstigung der oralen Erogenität disponiert die Mundzone, das Instrument für andere 'Triebansprüche zu werden, die objektlibidinösen miteingeschlossen. Es ist überflüssig zu sagen, dass die biologische Vorgeschichte und Funktion sie dafür besonders geeignet macht, und dass diese Funktion und nicht die Erziehung es ist, die sie, nicht aber die Augen, Ohren oder andere Organe als Schauplatz der Abfuhr auch nicht-oraler Spannungen begünstigt. Die starken oralen Inter- essen, die man aus dem Zigarettenrauchen ableiten möchte, sind meiner Meinung nach orale Kunstprodukte, die aus der von der Erziehung geförderten Ver- schweissung von kindlichen Triebinteressen (libidinösen wie aggressiven) mit der Oralität hervorgehen. Wenn dieses Mädchen im Alter von zwei Jahren ihre Unzufriedenheit mit ihrem Genitale als Penisneid auf ihren Bruder gezeigt (agiert) hätte, wäre sie ausgelacht, dann gescholten und geschlagen worden, die narzisstische Kränkung wäre ins Unerträgliche angewachsen. Wenn sie ihren Neid und ihre Neugierde zähmte und mit Hilfe der oralen Gier ausdrückte (agierte), konnte sie auf Gegenliebe, zärtliche Verwöhnung und Befriedigung (pseudooraler Natur) rechnen. Dabei spricht das entscheidende Wort das Schutz- bedürfnis und die Erziehung und nicht die ursprüngliche Stärke der erogenen Zone; die Erziehung versucht zumindest den Platz zu bestimmen, an dem die Lust erlebt werden darf. Die Abfuhr ist es, die angestrebt wird, und die das kind-
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liche Ich um jeden Preis erreichen muss, um Angstentwicklung zu ersparen. Ich will damit nicht sagen, dass die orale Abfuhr eine ideale Lösung ist und dass sie von der Erziehung nur toleriert und gefördert und nicht auch gestört wird; aber verglichen mit den anderen autoerotischen Bedürfnissen des Kindes geniesst sie relativ viele Freiheiten. Wie sehr sie von den Müttern in den Dienst objektlibidi- nöser Interessen gestellt wird und zur Konfliktbeherrschung der Mutter-Kind- beziehung verwendet wird, ist ja hinlänglich bekannt. Wie es dazu kam, dass der Grossvater die Pfeife in den Mund des Mädchens steckte, wissen wir nicht, das Kind hat hier jedenfalls mit Dazutun eines Partners eine an sich harmlose Befrie- digung erreicht, in der meiner Meinung nach hauptsächlich phallische Interessen mitinvestiert worden waren.
Eine Diskussion der differenten analytischen Ansichten über die Rolle und Bedeutung der Oralität kann an diesem Fall natürlich nicht abgeführt werden. Aberichhabe diese Frage hier nicht nur nebenbei aufgeworfen; sie scheint wichtig, wenn man von der Diskussion der Inhalte und Mechanismen zur Frage nach der Quelle dieser Störung fortschreitet. Man muss sich fragen, hatten Eheschliessung und der T'od des Schwiegervaters nur einen Konflikt aktiviert, dessen sich die Patientin nunmehr durch Formierung eines Symptoms erwehren muss? Kann die Kraft, die hinter dem Symptom steht, nur aus dem Abgewehrten erklärt werden? Hat sich nur die Ichstruktur zu schwach erwiesen, um wie bisher den alten, neurotischen Konflikt, der sich um den weiblichen Kastrationskomplex zentriert, unter Kontrolle zu halten? Oder ist das Ich nicht vielmehr durch die Veränderung im Organischen vor Aufgaben gestellt worden, die es nun nach dem Vorbild der genitalen Erregung zu lösen versucht? Die Frage nach der „gestei- gerten Oralität”’ war gestellt worden, weil es unmöglich erscheint, die hinter den Symptomen wirkende Energie allein aus dem Männlichkeitswunsch zu erklären und manche Analytiker fragen werden, ob nicht andere, ‚tiefere’’ Verdrängungen zum Verständnis heranzuziehen wären.
Mein Lösungsversuch geht in eine andere Richtung. In „Trauer und Melan- cholien” wirft Freud die Frage auf, ob nicht Ichverlust ohne Rücksicht auf das Objekt (rein narzisstische Ichkränkung) hinreicht, das Bild der Melancholie zu erzeugen, und ob nicht direkt toxische Verarmung an Ichlibido gewisse Formen der Affektion ergeben kann. Wir sollten hier überlegen, ob die Begriffe der Ich- verarmung und narzisstischen Ichkränkung uns nicht helfen könnten, die posten- cephalitisch-parkinsonistischen Zustandsbilder psychologisch besser zu ver- stehen. Die Grundstörung, die den Rigor der Muskulatur auslöst, wird als eine zentrale Störung in der Hemmungs-Enthemmungsapparatur angegeben, ihr Resultat ist eine muskuläre Dauerspannung. Das Ich erhält Kenntnis davon, nicht bloss, weil der ihm zur Verfügung stehende und gehorchende Apparat
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sich verändert zeigt, sondern auch durch innere Wahrnehmung der Änderung des Apparates selbst (z.B. der ‚‚Antriebstörung’’). Wenn wir uns vorstellen sollen, was psychologisch geschehen ist und weiterhin geschieht, ist es angezeigt, den inneren Vorgang durch Zuhilfenahme eines Vergleiches zu illustrieren. Nehmen wir an, bei einer Bombenexplosion oder bei einem Erdbeben würde ein Mann, der im allgemeinen stark, selbstbewusst und besonnen ist, verschüttet. Er findet sich unverletzt in Knie-Ellenbogenlage unter den Trümmern des Einsturzes. Auf seinem Nacken und Rücken lastet ein beträchtliches Gewicht von Mauerwerk. Er kann sich nicht bewegen, er weiss, wenn seine Glieder nachgeben, wird er vollends an den Boden gepresst werden. Da er seine Situation richtig erfasst hat, versucht er durch Rufen und Schreien Aufmerksamkeit zu erregen. Er wird sich hart und verbissen in seine Lage fügen, er wird vielleicht Ärger und Zorn gegen die grabenden Männer oben verspüren, die nicht wie er die Dynamik der drük- kenden Massen erfassen können und die Rettungsarbeit nicht rasch und zweck- mässig durchführen. Ein weniger starker, weniger widerstandsfähiger Mann hätte vielleicht dem Druck längst nachgegeben, sich in sein Schicksal gefügt und den Mauermassen unterworfen. Hätte der Verschüttete Gelegenheit gehabt, alle Vorgänge in seinem Ich genau zu registrieren, so hätte er ein Bild der Ichverar- mung entwerfen können, die sich infolge der mit einer immensen Muskelan- spannung einhergehenden Konzentrierung auf eine lang anhaltende Lebens- gefahr entwickelt hatte. Nicht von jedem Ich werden wir eine solche Resistenz erwarten können, zumindest wird es sich, wie es in den bekannten Hunger- halluzinationen (z.B. in Charlie Chaplins „Goldrausch”’) vorkommt, durch eine Halluzination helfen wollen. Dieser Halluzination entspricht die Neurose der Patientin. Die Anwendung des Vergleichs ergibt folgendes Bild vom Zusammen- treffen der Neurose mit der postencephalitischen Erkrankung unserer Patientin: Von der Neurose her waren gegeben l) ein sehr starker Kastrationskomplex, auf den oben geschilderten Erlebnissen aufgebaut; 2) der Tod des Schwiegervaters aktivierte den Männlichkeitswunsch („etwas bekommen und damit zur Mutter gehen’”’) und die damit verbundene Angst „ich kann nicht (Impotenzangst, Kastra- tionsgefühl). Von der organischen Seite war gegeben: das Gefühl der Versteifung und steigender Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit wurde im Sinne des Kastrations- komplexes erlebt. Gegen diese zweifache, vom Psychischen und vom Somatischen kommende Aktualisierung bzw. Intensivierung des Kastrationskonfliktes ent- wickelte nun die Patientin eine Reihe von Reaktionsbildungen resp. Kompen- sationen (man vergleiche die Wut etc. des verschütteten Mannes im herangezo- genen Vergleich): a) die Patientin sexualisierte den Defekt (sie benützte wahr- scheinlich schon vor der Ehe den Rigor, um zu zeigen „mir fehlt nichts” — die Steifheit wird zum Penis—); b) sie ersetzt den fehlenden Penis durch die Zigarette,
Analyse einer postencephalitischen Geistesstörung 285
an Stelle der Penislosigkeit erscheint eine überkompensierende, demonstrative, theatralische Darstellung der Männlichkeit; c) Schuldgefühle, die aus folgenden Quellen stammen: aus dem Neid gegen die, die vollkommen sind, aus den männ- lich-aggressiven Liebesansprüchen gegen die Mutterimagines und aus dem Widerspruch der übrigen ‚‚moralischen Persönlichkeit’’.
Fassen wir allgemein zusammen: die Anfälle sind eine Reaktion des Ich gegen die muskuläre, zentral bedingte Passivität (Dauerspannung), eine Reaktion auf die innere Wahrnehmung der schwindenden oder gefährdeten Kontrolle, oder allgemein gesagt: Reaktion auf die innerlich wahrgenommene Veränderung am Apparat. Diese innere Wahrnehmung löst Ohnmachtsgefühle aus, die vom Ich zuerst im Sinne des Kastrationskomplexes erlebt und in einer der individuellen Vorgeschichte entsprechenden Form? verarbeitet werden. Bei unserer Patientin war der organische Defekt noch wenig ausgebildet und nur langsam fortschreitend.? Das Ich konnte gegen die drohende Verarmung noch auf der gleichen Ebene streiten, auf der es in der Kindheit um die phallische Aktivität gestritten hatte; es hatte sich der organischen Krankheit nicht unterworfen, es leistete vielmehr mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Widerstand. In den Anfällen sexualisierte es die von innen her drohende Gefahr, die in diesem Fall eine orga- nisch bedingte war. In dem Versuch die Ichverarmung zu bewältigen, griff die ‘Kranke auf ihre Neurose zurück und so machte sie sich etwas reicher als sie wirk- lich war (sie verleugnete die Ichverarmung und die Penislosigkeit zugleich).
Erst wenn Versuche dieser Art misslingen, erfolgt die weitere Anpassung an den drohenden Defekt im Sinne der Unterwerfung unter die Krankheit. Auf psychotherapeutische Bemühungen scheinen jene Fälle günstig anzusprechen, die allzuviel Bereitwilligkeit zeigen, sich der Krankheit masochistisch zu unterwerfen. Hierher gehören Fälle wie sie auch von Marshall(6) und Henderson- Gillespie (9) angeführt werden.
Ich bin auf die (vier- bis fünftägigen) Intervalle zwischen den Anfällen nicht weiter eingegangen. Sie führen zum Problem des biologischen Rhythmus und der Periodizität, das ich in diesem Zusammenhang unbehandelt lassen möchte. Aber ich habe bei dieser Patientin immer den Eindruck gehabt, dass die Intervalle das Auf und Ab sexueller Spannungen darstellen.
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2) Man vergleiche auch den von E. Pappenheim und E. Stengl beschriebenen Brandstifter (8). 3) Jelliffe hat einen Fall von oculogyrischen Krisen, die6 Jahre nach der encephalitischen Infektion
aufgetreten waren, beobachtet (10).
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LITERATUR
1) E.PappenheimundE. Stengl: Zur Kenntnis atypischer Wirkungen des Tabakrauchens bei Hirnkranken. Arch. f. Psychiatrie, Bd. 105, 1936.
2) S. E. Jelliffe: Die Parkinsonsche Körperhaltung (Betrachtung über unbewusste Feindselig- keit). Int. Zschft. f. Psa., Bd. XIX, 1933.
3) E. Stengl: Zur Kenntnis der Triebstörungen und der Abwehrreaktionen des Ichs bei Hirnkranken. Int. Zschft. f. Psa., Bd. XXI, 1935.
4) Bürger und Mayer-Gross: Über Zwangssymptome bei Encephalitis lethargica und über die Structur der Zwangserscheinungen überhaupt. Z.f.N.u.P., Bd. 116, 1928.
5) F. Stern: Die epidemische Encephalitis, Berlin, 1936.
6) W. Marshall: The Psychopathology and Treatment of the Parkinsonian Syndrome and other Postencephalitic Sequalae. The Journal of Nervous and Mental Disease, Vol. 84,1936,
7) Sigm. Freud: Trauer und Melancholie, Ges. Schr., Bd. V.
8) E. Pappenheim und E. Stengl: Zur Psychopathologie der Rauchgewohnheiten. II. Mitteilung. Ein Fall von Pyromanie. Wiener Klinische Wochenschr., 1937.
9) Henderson-Gillepsie: Text Book of Psychiatry, Fourth Edition, London, 1937.
10) S. E. Jelliffe: Psychopathology of Forced Movements and the Oculogyric Crises of Lethargic Encephalitis. Nervous and Mental Disease Monograph Series Nr. 55, 1932.
Trıiebschicksal und Triebabwehr
von
Ludwig Eidelberg
Oxford
Es bedeutet zweifellos eine Erschwerung analytischer Arbeit, daß die Triebe, die die Grundlage der neurotischen Erkrankungen bilden, einer direkten Unter- suchung mit unseren Methoden unzugänglich sind. Da die Biologie vorläufig nicht in der Lage ist, uns das notwendige Material zu liefern, sind wir weiter gezwungen, an Hand unserer Beobachtungen das Fehlende durch Hypothese zu ergänzen. Um sich vor gefährlichen Spekulationen zu schützen, wird man bei Bildung dieser Hypothesen die Ratschläge Freuds strikt einhalten müssen, d.h. die Spekulationen nicht zu weit fortführen und ihre Brauchbarkeit immer wieder durch klinische Erfahrungen kontrollieren.
Die neurotischen Erkrankungen, wie alle anderen Erkrankungen überhaupt, lassen sich als Abwehrmechanismen beschreiben. Das Symptom, das uns als ein Fremdkörper erscheint und gegen das sich die Abwehr der Gesamtpersön- lichkeit richtet, ist schon ein Produkt einer Abwehr. Während nun bei den In- fektionskrankheiten die Abwehr gegen den Erreger (das pathogene Virus) gerichtet ist, sind in den Neurosen die 'Triebe, und zwar 'Triebe bestimmter Art und Menge, die Ursache dieser Abwehr.
Die Analyse beschäftigt sich mit dem Studium zweier Urtriebe!, Eros und Thanatos, die sich zu zwei Triebgemischen — dem Aggressionstriebgemisch, in dem der T'hanatos, und dem Sexualtriebgemisch, in dem der Eros prävaliert — vereinigen: Diese beiden Triebgemische, der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung, interessieren uns nicht nur dort, wo sie die Grundlage einer neurotischen Erkrankung bilden; im Gegenteil, wir sind gezwungen, sie auch auf zwei anderen Gebieten des Seelischen zu verfolgen, um auf diese Weise durch eine vergleichende Betrachtung einerseits Neues zu finden, anderseits das Bekannte besser einzuordnen.
Diese zwei andern Gebiete sind: erstens die bei jedem Kinde unter dem Einfluß der Erziehung auftretenden Veränderungen der Triebgemische, die wir als Triebschicksale bezeichnen; zweitens ihre Wandlungen und Wir- kungen bei erwachsenen Gesunden.
Wir unterscheiden drei Arten von Abkömmlingen: die Vorstellungen,
1) Siehe dazu L. Eidelberg: „Das Problem der Quantität in der Neurosenlehre.” 1.Z.f. Psa., 1935, 3.2836,
283 Ludwig Eidelberg
die Affekte und die motorischn Abfuhrreaktionen. Wir meinen damit, daß ein Triebgemisch in einer dieser drei Formen unserer Beobachtung zugänglich ist oder daß ein und dieselbe Qualität des Triebgemisches als Vor- stellung, als Affekt oder als motorische Abfuhrreaktion zum Vorschein kommen kann. In einer räumlich orientierten Ausdrucksweise bezeichnen wir das Gebiet, in dem die Triebgemische vorhanden sind, als das Es, dasjenige dagegen, in dem die Abkömmlinge entstehen, als das Ich. Wir wissen, daß dieses Ich nicht passiv als Ausdrucksorgan dem Es dient, wie etwa eine Geige dem Virtuosen, sondern daß es eine kritische Einstellung bekundet und am besten mit einem ehrgeizigen Redakteur verglichen werden kann, der unter den eingeschickten Arbeiten jene auswählt, die er der Publikation für würdig erachtet und an denen er dann verschiedene Veränderungen, Auslassungen usw. vornimmt. Das, was wir in der Zeitschrift gedruckt lesen, ist; ja nicht eine einfache Wiedergabe der eingesandten Arbeiten, sondern ein Ergebnis von drei 'T'endenzen: a) Autoren, b) Redakteur, c) Herausgeber. (Es, Ich, Über-Ich.)
In der vorliegenden Arbeit werde ich versuchen, die bisher unter dem gemein- samen Namen Triebschicksale oder Abwehrmechanismen beschriebenen Phänomene voneinander getrennt darzustellen. Da mit dieser Zweiteilung der bisher einheitlich geführten Begriffsgruppe eine Veränderung in der Nomenklatur geschaffen wird, empfiehlt es sich zur Rechtfertigung dieses Vorhabens zu erwähnen, daß diese neue Ordnung gewisse Mißverständnisse und Unklarheiten der bisherigen Darstellung zu beseitigen hofft.
Versuchen wir nun die Kriterien dieser neuen Einteilung kurz zu skizzieren. Triebschicksale und neurotische Abwehrmechanismen entstehen als Folge einer Triebstauung und einer narzißtischen Kränkung. Während die Triebschicksale diese Stauung und Kränkung durch entsprechende Ände- rungen zu beseitigen suchen, sind die neurotischen Abwehrmechanismen bemüht, ihr Bewußtwerden zu verhindern.
Die Triebschicksale blicken in die Zukunft und in die Außenwelt. ‚Da ich eine narzißtische Kränkung und Triebstauung erlitten habe, will ich durch entspre- chende Änderungen meines Verhaltens pro futuro versuchen eine Triebbefriedi- gung herbeizuführen und die narzißtische Kränkung zu beheben.”
Neurotische Abwehrmechanismen sind in die Vergangenheit und nach innen gerichtet: „Es ist nicht wahr, daß ich eine narzißtische Kränkung erlitten habe und eine Triebstauung ertragen muß.”
Die Triebschicksale sind bewußt, bezw. bewußtseinsfähig, die neurotischen Abwehrmechanismen sind unbewußt, bezw. bewußseinsunfähig.
Die Triebschicksale sind plastisch und passen sich der Situation an, die neuroti- schen Abwehrmechanismen sind dagegen starr.
Triebschicksal und Triebabwehr 289
Als Triebschicksale bezeichnen wir jene Veränderungen von Trieben, bezie- hungsweise 'Triebgemischen, die sie unter dem Einfluß der Außenwelt bei einer konstitutionell bestehenden Bereitschaft durchmachen.
Als neurotische Abwehrmechanismen bezeichnen wir jene Veränderungen, die unter dem Einfluß und Druck der zwei Instanzen Ich und Über-Ich entstehen.
Da wir bereits festgestellt haben, daß wir nicht die Triebgemische, sondern nur ihre Abkömmlinge untersuchen, müssen wir bei einer exakten Formulierung nicht von 'T'riebschicksalen, sondern von Schicksalen der Abkömmlinge der Triebgemische sprechen. Diese Abkömmlinge streben nach Befriedigung, das heißt, daß sie zeitweise im Zustande der Unbefriedigung vorhanden sind. Die Annahme einer Spannung oder Unbefriedigung scheint ja die Voraussetzung des Triebbegriffes zu sein, da der Trieb eben die Kraft bedeutet, welche diese Span- nung aus der Welt schafft. Um dieses Ziel zu erreichen, werden aus den Trieb- gemischen die drei Gruppen von Abkömmlingen, de Vorstellungen, Affekte und Handlungen, gebildet.
Gegenstand unserer Untersuchung sind demnach: Affekte, Vorstellungen von Objekten, die geeignet sind, die Affekte zu beheben, Vorstellungen von Handlungen, die zu diesem Ziele führen, und schließlich die Handlungen selbst.
Durch unsere Beobachtungen haben wir bestimmte Abkömmlinge mit be- stimmten Triebgemischen in Zusammenhang gebracht und schließen aus dem Vorhandensein der ersten auf die Existenz der zweiten. Dieser Zusammenhang zwischen Abkömmling und Triebgemisch ist nicht einfach und soll an anderer Stelle ausführlich behandelt werden. Hier nur das Allernotwendigste. Beginnen wir mit der dritten Gruppe: Motorische Abfuhrreaktionen, die mit Sexuallust verbunden sind und der Befriedigung von Sexualtriebgemischen dienen, sind durch folgende Merkmale charakterisiert: 1) Sie bedeuten gleichzeitig eine Be- friedigung sowohl für das Subjekt als auch für das Objekt (Saugen, Koitieren); 2) sie können aktive und passive Triebziele anstreben; 3) sie werden fortgesetzt, ergänzt, begünstigt und abgeschlossen durch Handlungen, die das Objekt am Subjekt vornimmt.
Handlungen, die mit Aggressionslust verbunden sind und der Befriedigung von Aggressionstriebgemischen dienen, sind durch folgende Eigenschaften charakterisiert: 1) Sie bedeuten eine Befriedigung nur für das Subjekt; 2) das Objekt versucht sie zu verhindern und leistet Widerstand; 3) sie können aktive und passive Triebziele anstreben.
Obgleich der Gegenstand unserer Untersuchung die Abkömmlinge der Trieb- gemische, nicht aber die der reinen Triebe sind, möchte ich doch ganz kurz auch die Abkömmlinge der reinen Triebe, die ohne Sexual- oder Aggressionslust
ablaufen, streifen. 20
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Betrachtet man das Gebiet der motorischen Abfuhrreaktionen, so lassen sich drei Gruppen leicht abgrenzen. Eine, in der diese motorischen Abfuhrreaktionen Lust anstreben, beziehungsweise Unlust vermeiden — sofortige Lust im Sinne des Lustprinzipes oder eine in späterem Zeitpunkt auftretende im Sinne des Realitätsprinzipes.
Ferner eine zweite Gruppe, in die jene motorischen Abfuhrreaktionen fallen, die zunächst den Eindruck von sinnlosem und unlustvollem Streben machen. Während für die erste Gruppe der Name Handlung geläufig ist und sie uns als Folge eines ‚Ich will’ erscheint, bildet die zweite Gruppe das große Gebiet der neurotischen Reaktionen (der Konversionssymptome, Zwangshandlungen usw.), bei denen an Stelle des ‚Ich will” ein ”Ich muß” auftaucht. Die Analyse konnte nun zeigen, daß diese große Gruppe nur scheinbar Sinnloses und Unlustvolles anstrebt, daß bei einer Betrachtung der unbewußten Anteile der Persönlichkeit auch hier lustvolle "Tendenzen zum Vorschein kommen.
Bei der dritten Gruppe findet auch der Analytiker nach sorgfältiger Analyse nichts, was den Anspruch hätte, eine Luststrebung, wenn auch eine unbewußte und infantile, genannt zu werden.
Man wäre nun — sollte man meinen — berechtigt, diese dritte Gruppe (jen- seits des Lustprinzips) von der analytischen Arbeit auszuschalten und ihre Er- forschung den dazu berufenen Biologen zu überlassen. Leider zeigt es sich, daß diese Stellungnahme auf die Dauer unhaltbar ist, weil die isolierte Existenz, wie wir sie gerade beschrieben haben, nur ein Produkt unserer ordnenden Tätigkeit, also ein Artefakt ist. In der Realität finden wir, daß ihre Grenzen fließend in einan- der übergehen und daß also in einer, der jeweiligen Untersuchung vorliegenden motorischen Abfuhrreaktion Bruchstücke, die den drei Gruppen angehören, enthalten sind. Deshalb können wir nicht mit dem Kreis um Fenichel übereinstimmen, der erklärt, daß die Todestriebhypothese ‚in der psychoanaly- tischen Wissenschaft sich heuristisch nicht bewährt und weit mehr Verwirrung gebracht hat als Fortschritt”.“ Wir meinen im Gegenteil, daß die analytische Forschungsarbeit einen mächtigen Impuls bekam, als es Freud gelang, diese in der dritten Gruppe herrschenden Tendenzen zu erraten und sie als Wieder- holungszwang-—-jenseits der Lust, auch der neurotischen Lust— zu beschreiben. Ich habe nicht die Absicht, an dieser Stelle zu diesem Problem ausführlich Stellung zu nehmen, möchte bloß an den Nasen-Lampe-Versuch3 erinnern, der die Macht des Wiederholungszwanges illustriert. Auch in den Beispielen, die Anna Freudin einer Diskussion gebracht hat, scheint es sich um das Auftreten
2) Imago, Bd.XX, 1935, S.466
3) L.Eidelberg, ‚‚Experimenteller Beitragzum Mechanismusd. Imitationsbewegung”, Jahrbücher f. Psych. u. Neur. Bd. 46/170.
Triebschicksal und Triebabwehr 291
des Wiederholungszwanges zu handeln, der, nachdem die Libido durch die allzulange Dauer des Spieles erschöpft wurde, an die Oberfläche kommt.
Kehren wir zum 'Thema zurück. Die Außenwelt vermag zunächst nur eine Gruppe von Abkömmlingen, die Handlungen, zu unterdrücken, da die Vorstel- lungen und Affekte, soweit sie nicht von besonderen Zeichen (Worte, Gesten) begleitet sind, von ihr unbemerkt bleiben. Diese Zeichen, die das Vorhandensein von Vorstellungen und Affekten der Außenwelt mitteilen, sind ebenfalls Hand- lungen, die allein noch keine Triebbefriedigung herbeiführen, sondern sie vor- bereiten und ankündigen. Sie sind für die Sinnesorgane der Außenwelt bestimmt und werden dort nützlich sein, wo die Außenwelt freundlich eingestellt ist und die gewünschte Hilfe leistet, oder dort, wo sie feindlich ist, aber aus Angst vor der Drohung den Widerstand aufgibt. Störend werden sie, wenn die beabsich- tigten weiteren Handlungen ohne Wissen der Außenwelt, also geheim oder überraschend, stattfinden sollen.
Die Außenwelt unterdrückt zunächst nur die motorischen Abfuhrreaktionen des Kindes und kümmert sich nicht um die Vorstellungen und Affekte. Es ist wahrscheinlich, daß im Laufe der Entwicklung (Onto- und Phylogenese) die Handlung zeitlich vor der Vorstellung und dem Affekt da ist, daß offenbar erst ihre Hemmung die Affekte und Vorstellungen entstehen läßt. Wenn wir aber im Zeitlupentempo die Bewußtwerdung eines Wunsches darstellen, für eine Zeit, in der die drei Abkömmlinge bereits vorhanden sind, so könnten wir sagen: Zunächst verspürt man eine Unlust, ein Gefühl von Spannung, dann wird ihre sexuelle oder aggressive Färbung bewußt, dann taucht die Vorstellung des Objektes auf, das diese Spannung beseitigen kann und die Vorstellung der Handlung, die zu diesem Ziele führt. Nun wird das Unlustgefühl der Spannung durch die auf dem Wege der Antizipation entstehende Vorlust überlagert. Schließlich erfolgt die Handlung; wenn diese zum Ziel führt, schwindet die Spannungsunlust und die Endlust tritt auf. |
Die äußere Versagung, die die Handlungen des Kindes unterdrückt, zwingt das Triebgemisch, eine andere Handlung an Stelle der verbotenen zu setzen, die von der Außenwelt erlaubt wird und gleichfalls zur 'Triebbefriedigung führt. Diese andere Handlung repräsentiert das, was wir als Triebschicksal bezeichnen. Wenn das Kind statt an der Mutterbrust zu saugen, an seinem Daumen saugt, so besteht die Änderung darin, daß das Objekt ausgetauscht und ein Teil des eigenen Körpers an seiner Stelle gewählt wurde.
Die Triebschicksale entstehen als Folge äußerer Versagungen, indem diese beim Kinde Triebstauungen und narzißtische Kränkungen erzeugen und das Kind durch Änderung des Abkömmlings diese doppelte Störung zu beseitigen trachtet.
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Ludwig Eidelberg
Diese Veränderungen, deren Mechanismen ich an anderer Stelle genauer beschreiben werde, lassen sich schematisch wie folgt einordnen:
I. Objektwechsel. Verschiebung oder Wen- dung gegen die eigene Person.
II. Wechsel der Richtung. (Wendung).
IIa. Umkehrung.
III. Wechsel der Qualität. Progression. Regression.
IV. Wechsel des Schau- platzes.
a. Flucht in die Wahr- nehmungen.
b. Flucht in die Phan- tasıe.
V. Wechsel von Objekt- lıbido zu narzißtischer Libido.
Behebung der Triebstauung: Statt: „Ich sauge an der Mutterbrust — ich sauge am Daumen.” Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt: „Keine Macht über die Brust der Mutter —
Macht über den eigenen Daumen.”
Behebung der Triebstauung: Statt: „Ich nehme die - Milch — ich gebe Milch. (Spucke sie aus).” Verarbeitung der narzıßtischen Kränkung: Statt:
„Keine Macht zu nehmen — Macht zu geben.”
Behebung der Triebstauung: Statt: ‚Ich nehme Milch — die Mutter gibt mir Milch.”
Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt: „Keine Macht zu nehmen — Macht zu emp- fangen.
Behebung der Triebstauung: Statt: „Ich spucke die Milch aus — ich uriniere.”
Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt: „Keine Macht über die Milch — Macht über den eigenen Harn.”
Behebung der Triebstauung: Statt: ‚Ich sauge an der Mutterbrust — ich schaue zu, wie das andere Kind es tut.”
Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt: „Keine Macht zu saugen — Macht, das Saugen wahrzunehmen.”
Behebung der Triebstauung: Statt: „Ich sauge — ich stelle mir vor, daß ich sauge.”’
Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt: „Keine Macht, an der Mutterbrust zu saugen — Macht, mir das Saugen vorzustellen.”
Behebung der Triebstauung: Statt: „Ich sauge an der Mutterbrust — ich spreche.”
Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt: „Keine Macht über die Mutterbrust — Macht über den eigenen Mund.”
a RER RL TRIER u ee 4) Diese Tabelle zeigt die Veränderungen der Abkömmlinge unter dem Einfluß der äußeren Versagungen. Der Kampf zwischen Ich und Trieb wird an anderer Stelle erörtert.
Triebschicksal und Triebabwehr 293
VI. Mobilisierung des ent- Behebung der Triebstauung: Statt: ‚Ich sauge an gegengesetzten Trieb- der Mutterbrust — ich schreie.”
gemisches. Verarbeitung der narzißtischen Kränkung: Statt:
„Keine Macht, die Mutter zu lieben — Macht, sie zu hassen.”
Die Abwehr oder die Unterdrückung von Vorstellungen und Affekten er- folgt nicht durch die Außenwelt direkt, die sie nicht kennt (Gedanken sind zollfrei). Die Hemmung von Vorstellungen und Affekten wird erst in einem Zeitpunkte möglich, in dem das Ich eine höhere Organisierung erfahren hat, das heißt, gelernt hat, daß es vorteilhaft ist, auf gewisse Wünsche zu verzichten, um sich die Strafen von der Außenwelt zu ersparen. An Stelle des äußeren Kon- fliktes tritt jetzt der innere Konflikt auf. Dieser innere Konflikt sieht schematisch formuliert etwa wie folgt aus: Das Kind verspürt einen Sexualaffekt und es taucht die Vorstellung der Brust, die diesen Affekt beseitigen kann und die Vor- stellung der entsprechenden Handlung auf. Nun erinnert das Kind, daß die Durchführung dieser Handlung durch das Verbot der Mutter inhibiert wurde. Es denkt: ‚Wenn ich nach der Brust greife, werde ich eine Versagung erleiden, deshalb muß ich auf sie verzichten und am eigenen Daumen saugen.” Nachdem nun dieser Konflikt eine Zeitlang gedauert hat, beginnt er zu verblassen und dann vollkommen zu verschwinden. Die Folge seines Unterganges ist normaler- weise nicht das Auftreten des äußeren Konfliktes, also eine Regression zur früheren Stufe, sondern die Fortsetzung der bisher geübten Verwandlung von Triebab- kömmlingen, aber so, daß sie ohne Wissen des Kindes, also automatisch erfolgt.
In gleicher Art werden auch die infantilen Wünsche, die den späteren Stufen angehören und deren Objekte die Eltern sind, abgewehrt und gegen die Person des Kindes gerichtet. Es taucht dann im Bewußtsein des Kindes nicht mehr der primäre, auf die Eltern gerichtete Wunsch auf, sondern als Produkt einer auto- matischen Abwehr der nach innen gerichtete. Also an Stelle von: ‚ich will an der Mutterbrust saugen — ich will am Daumen saugen.” Bald zeigt es sich aber, daß auch die Befriedigung dieser Ersatzwünsche von der Außenwelt nicht geduldet wird. Es treten wieder Verbote auf, und es werden Strafen angedroht. Um sie zu vermeiden, versucht das Kind, auch diese Ersatzwünsche abzuwehren. Diese Abwehr ist aber von der Abwehr der primären Wünsche grundsätzlich verschieden. Die Außenwelt ist nicht mehr imstande, das Objekt der Wünsche dem Kinde dauernd zu entziehen, da dieses Objekt einen Teil des Körpers des Kindes bildet. Auch bei genauerer Überwachung wird das Kind die Möglichkeit haben, etwa nach seinem Penis zu greifen. Nun begreift das Kind, daß ihm zwei Wege offen stehen: a) absoluter Gehorsam und Abwehr der sekundären Wünsche; b) Abwehr, bezw. Verhütung des Erwischtwerdens. Dieser zweite Weg, der dem Kinde die
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Befriedigung seiner Wünsche erlaubt und es vor Strafen schützt, wenn es ihm gelingt, die Befriedigung im Geheimen zu vollziehen, kann selbstverständlich nicht automatisch erfolgen. Das Kind muß im Gegenteil ständig auf der Hut sein, d.h. die eigenen verbotenen Wünsche fühlen und das Verhalten der Außenwelt beobachten. Diese Möglichkeit, den Verboten zu trotzen, bezw. sie zu umgehen, bleibt den Erziehungspersonen nicht verborgen. Um den Un- gehorsam zu brechen, werden nun nicht bloß Handlungen, sondern auch Vor- stellungen unter Strafe gestellt, denn solange das Kind seine Wünsche kennt, hat es die Möglichkeit, sie im Geheimen zu befriedigen. Gleichzeitig mit dem Verbot der schlimmen Gedanken wird dem Kinde mitgeteilt, daß die Erwachsenen die Fähigkeit haben, sie zu erkennen (etwa sie an der Nasenspitze abzulesen). Nun kann das Kind den Erwachsenen glauben und nicht nur auf die Hand- lungen, sondern auch auf die Vorstellungen verzichten, oder nicht folgen und versuchen, die verbotenen Wünsche im Geheimen zu befriedigen. Es hat den Anschein, als ob die Verbote der primären Wünsche dem Kinde nicht zu er- sparen wären, daß dagegen die zweite Gruppe von Verboten, die auch die gegen das Kind selbst gerichteten Handlungen und Vorstellungen sperren, nicht un- bedingt notwendig wären. Die infantilen Ersatzwünsche werden nämlich auch ohne Verbote der Erwachsenen von selbst zugrunde gehen, da ihre Befriedigung sozusagen aus organischen Gründen auf die Dauer unmöglich wird. Nur um meinen Standpunkt anzudeuten, nicht um ihn auszuführen, möchte ich er- wähnen, daß das Kind durch das Saugen am Daumen auf die Dauer die Hunger- spannung nicht beseitigen kann und so gezwungen wird, sich neuerdings der Außenwelt zuzuwenden. Durch die Verbote werden Phantasien, die sonst nur Vorlust erzeugen können, fähig Endlust herbeizuführen. Wenn die Bewußtwer- dung des Wunsches ohne jede Handlung hinreicht, die Eltern zu kränken, kann sich das Kind die Mühe einer Handlung ersparen. Um den Vater zu ärgern, wird der kleine Knabe seinen Tod vorstellen und dabei das Gefühl haben, daß diese Vorstellung allein seine Aggression befriedigt. Wir wollen an anderer Stelle das Thema der Allmacht der Gedanken behandeln, hier lediglich einen kurzen Hinweis auf die Stellungnahme der Religion und der öffentlichen Meinung anbringen. Bekanntlich ist ein reuiger Sünder mehr wert als 100 Gerechte oder: wirklich moralisch ist nur der zu nennen, der böse Wünsche hat und sie abwehrt. Im Widerspruch damit kennt die Religion die Gedankensünde und die öffent- liche Meinung zieht Menschen vor, denen auch im Traum nichts Böses einfällt. Dieser Widerspruch in den Techniken der Erziehung der Kinder und der Erwachsenen hängt offenbar damit zusammen, daß die Erziehungspersonen zu ihren Zöglingen so wenig Vertrauen haben, daß sie die Hemmung verbotener Wünsche, wenn diese im Geheimen befriedigt werden könnten, bezweifeln.
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Die Ersatzwünsche und -handlungen, die zunächst der Befriedigung von Sexualtrieben dienen sollten, werden jetzt in den Dienst der Aggression gestellt, wobei das Kind die Entdeckung macht, daß es imstande ist, Lust — aggressive Lust — zu empfinden, wenn es Handlungen gegen den Willen des Objektes vornimmt. Allerdings wird die Möglichkeit, diese neue Lust zu genießen, dem Kinde nicht umsonst zuteil. Es gelingt nicht immer, das Verbotene heimlich zu tun, das Kind wird manchmal erwischt und bestraft. Wenn es sich trotzdem entschließt, Aggressionslust aufzusuchen, muß es das Risiko in Kauf nehmen. Manche Kinder werden nun, um sich das Risiko zu ersparen, auf die Aggressions- lust verzichten. Dieser Verzicht wird dadurch erschwert, daß die Erwachsenen nicht nur die Handlungen, sondern auch die Vorstellungen mit Verboten belegt haben, daß also das Kind, um brav zu sein, nicht nur das Verbotene nicht tun, sondern auch nicht daran denken darf.
Die Hemmung der Handlung ist zweifellos leichter, als die des Denkens, ja es erscheint überhaupt fraglich, ob wir den Auftrag, an etwas nicht zu denken, genau so befolgen können wie den Befehl, etwas nicht zu tun. Auch das Sistieren einer Handlung wird auf die Dauer unerträglich, wenn nicht an ihre Stelle eine andere gesetzt wird. Dieser Wechsel nach dem Schema: ‚Ich möchte an der Mutterbrust saugen, da dies aber verboten ist, sauge ich am Daumen” ist ein Zeichen von Folgsamkeit und eine Leistung im Sinne einer Anpassung an die Realität. Wenn aber die bloße Vorstellung schon als Sünde erklärt wird, dann kann ein ähnlicher Tausch den Ansprüchen der Erziehungspersonen nicht mehr gerecht werden. Um wirklich brav zu sein, müßte das Kind imstande sein, nicht bloß die Handlung, sondern schon ihre Vorstellung zu unterdrücken. Die Abwehr muß vor dem Bewußtwerden der Vorstellung erfolgen, also ent- sprechend dem früher mitgeteilten Schema in dem Momente, in dem der Affekt schon, die entsprechende Vorstellung aber noch nicht bewußt wird. Diese Art der Abwehr richtet sich also nicht gegen eine bestimmte Vorstellung, sondern gegen den Affekt.
Wenn wir nun unsere Patienten betrachten, so zeigt es sich, daß es offenbar außer den zwei von uns skizzierten Möglichkeiten: a) das Verbotene im Geheimen zu tun, b) zu folgen und die Vorstellungen zu hemmen, noch eine dritte gibt. Diese dritte Methode, das Verbotene im Geheimen zu tun und sich die Angst des Erwischtwerdens zu ersparen, besteht darin, daß das Kind die Maskie- rung nicht bloß gegenüber der Außenwelt, sondern auch sich selbst gegenüber vornimmt. In diesem Zeitpunkt werden Anteile des Ichs durch eine Schranke abgetrennt und zum unbewußten und bewußtseinsunfähigen Anteil des Ichs erklärt. Jene Abkömmlinge, die das Kind nicht aufgeben, sondern heimlich — auch vor sich selbst — behalten will, werden nicht verurteilt und durch Koppe-
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N
ung mit der Erinnerung an die erlittene narzißtische Kränkung unlustvoll, son- dern bleiben weiter lustvoll und werden dem Bewußtsein (durch Gegenbesetzung) entzogen.
Eine weitere Fortführung dieser Untersuchungen erfordert eine ausführliche Besprechung und genauere Umgrenzung einiger Begriffe, wie Objekt- und narzißtische Libido, Sexual- und Aggressionslust usw. Da diese Arbeiten noch nicht beendet sind, erscheint es ratsam, unsere Ausführungen an dieser Stelle zu unterbrechen,
Psychoanalytısche Beobachtungen an blınden Kindern‘
von
Dorothy Burlingham
London
Die analytische Beobachtung der psychischen Entwicklung Blinder eröffnet den Weg zu Fragestellungen, die unser theoretisches Interesse verdienen. Wir sind uns klar darüber, welche Rolle der Gesichtssinn in der normalen Entwicklung spielt. Die Vorgänge des Sehens haben in der Form von Schau- und Zeigelust ihren Platz unter den Partialtrieben des menschlichen Sexuallebens. Der Mecha- nismus der Identifizierung beruht weitgehend auf dem Sehen; die meisten Identi- fizierungen werden auf Grund von Gesichtseindrücken vorgenommen. Die Realitätsprüfung, eine der wichtigsten Funktionen des Ichs, bedient sich zum grossen Teil des Gesichtssinnes. Wo dieser Sinn fehlt, fehlen also Elemente, die uns in der Entwicklung Vollsinniger als unentbehrlich erscheinen. Es ist der Mühe wert zu verfolgen, welche Konsequenzen sich daraus für die Sexualent- wicklung einerseits, für die Charakterbildung anderseits ergeben. Die Laien- meinung behauptet, dass das Wesen der Blinden im allgemeinen heiter, freund- lich und unaggressiv, dass ihre Wahrheitsliebe unverlässlich ist; den Schwer- hörigen oder T’auben anderseits wird Unfreundlichkeit, Misstrauen und Neigung zu paranoiden Ideen zugeschrieben. Die analytische Durchforschung der Charak- terbildung nicht vollsinniger Individuen sollte uns in den Stand setzen, die Richtigkeit solcher allgemeiner Behauptungen nachzuprüfen.
Unsere zum grossen Teil aus der schönen Literatur bezogenen Laienmeinungen über das Wesen Blinder gehen dahin, dass diese Individuen zwar einen Sinn weniger zur Verfügung haben als die Normalen, dass aber zum Ausgleich ihre anderen Sinne, besonders ihr Tast- und Geruchssinn viel höher entwickelt sind. Wir nehmen danach ohne weiteres an, dass die Erziehung Blinder sich vor allem
! Ich verdanke die Möglichkeit zu dieser Arbeit dem Interesse, der Unterstützung und Mit- arbeit des Herrn Siegfried Altmann, Direktor des Israelitischen Blinden-Institutes, Wien, Hohe Warte, der mir seine grosse Sachkenntnis auf dem Gebiet des Blindenwesens wie auch das Schüler- material seiner Anstalt zur Verfügung gestellt hat.
Weitere Anregungen verdanke ich den Besuchen in Perkins Institution (Dr. Gabriel Farrell) in Watertown, Mass. Die aufopfernde Arbeit und der unermüdliche Enthusiasmus seiner Mit- arbeiter schaffen eine Atmosphäre, die jede Verbesserung und jeden hier angedeuteten Fort- schritt der Blindenerziehung als möglich und durchführbar erscheinen lassen.
Übersetzt von Anna Freud.
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mit der Ausbildung dieser zum Ersatz herangezogenen Sinnesfunktionen be- schäftigt. Erstaunlicher Weise stimmt diese Schlussfolgerung bis heute noch nicht mit den Tatsachen überein. In Wirklichkeit wird das blinde Kind erzogen wie das sehende. Das Lesen der Brailleschrift, das Schreiben auf eigens konstruierten Tafeln, das Rechnen mit Rechenstäben macht eine Ausnahme, die offen- bar nicht zu umgehen ist. Im übrigen nimmt der Unterricht der Blinden auf das Fehlen des Gesichtssinnes wenig Bezug; es wird statt dessen von den Blinden erwartet, dass sie sich den Bedingungen des normalen Unterrichts so weit wie nur möglich anpassen.
Zur Einführung der Probleme, die ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu schildern habe, scheint es mir notwendig, auf das Weltbild des blinden Kindes einzugehen, so weit es das veränderte Benehmen seiner Aussenwelt, seinen Kontakt mit den Menschen seiner Umgebung, seine Begriffsbildung und die Entwicklung seiner Sprache umfasst. Das Unbewusste des blinden Kindes wird uns nur auf dem Umweg über sein Bewusstsein erreichbar sein. Es mag sein, dass dieser Teil meiner Ausführungen darum von geringem analytischen Inter- esse erscheint; er ist aber die notwendige Vorbereitung für analytische Überle- gungen, die sich später daran anschliessen.
Das bewusste psychische Leben des blinden Kindes baut sich, wie ich im Fol- genden an Beispielen ausführen möchte, zum grossen T'eil auf missverstandenen Eindrücken von der Aussenwelt auf.
Ich hatte z.B. Gelegenheit, eine Gruppe blinder Kinder in der erwähnten grossen Blindenanstalt Wiens durch längere Zeit hindurch zu beobachten. Zu meiner Überraschung unterschieden sich ihre Äusserungen über die Stadt, die verschiedenen Gegenden, das Strassenleben usw. in keiner Weise von den Äus- serungen sehender Kinder. Es war klar, dass ihre Erzählungen nicht auf eigene Beobachtungen gegründet waren und es schien mir der Mühe wert, diesen Ge- sprächsthemen weiter nachzugehen. Bei schärferem Zuhören war es leicht fest- zustellen, dass diese blinden Kinder sich miteinander von einem ihnen im Grunde völlig fremden und unzugänglichen Leben unterhielten: sie sprachen von der Farbe ihrer Kleider; nach einem Ausflug aufs Land von der Schönheit der Berge. Sie erwähnten dabei mit keinem Wort, wie die Stoffe, die sie trugen, sich anfühlten oder ob sie Luft und Sonne während des Ausfluges angenehm gespürt hatten.
Eines Tages fuhr ich eine Anzahl dieser Kinder versuchsweise im Auto spazieren. Während der Fahrt hielten sie einen ständigen Strom von Fragen aufrecht: wohin wir fuhren; woran wir vorüberkamen; ob man Bäume sehen konnte; wie der Himmel aussah; ob Tiere in den Feldern zu sehen waren. Die Fahrt schien ihnen umso mehr Freude zu machen, je mehr Auskünfte ich gab.
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 299
Nach einer Weile hielt ich an, liess sie aussteigen und führte sie eine kurze Strecke am Waldrand entlang. Die Kinder waren in der ungewohnten Umgebung natür- lich ungeschickt und unsicher in ihren Bewegungen, stolperten mehrfach über Hindernisse und zeigten durchaus kein Zeichen von Vergnügen. Ich forderte sie auf, die Blumen, die Baumstämme und den Wiesengrund zu betasten, fand es aber schwer, ihre Aufmerksamkeit von meinen Schilderungen auf das selbst Erforschte zu lenken. Im Ganzen machte der Ausflug den grössten Eindruck auf sie und bildete noch "Tage nachher den Gesprächsstoff für das Institut. Sie erzähl- ten den andern Kindern, was sie gesehen hatten, schilderten die Tiere, die Wälder, die Felder und den Himmel, das heisst sie‘ wiederholten wortgetreu, was ich ihnen unterwegs erzählt hatte, ohne ihre eigenen Beobachtungen mit einzu- flechten. Ich konnte nur den Schluss ziehen, dass das Gehörte ihnen offenbar ungleich wichtiger war als diese eigenen Beobachtungen.
Ein anderes Mal berichtete mir eines dieser Kinder von einem Besuch, den sie im zoologischen Garten gemacht hatten. Auf meine Frage, was ihm am besten gefallen hatte, antwortete er prompt: „Die Affen. Ein Affe ist einem andern nach- gelaufen und hat ihn blutig gebissen”. Auf Befragen gab er zu, dass er das natür- lich nicht selbst gesehen hatte, jemand hatte es erzählt. Ich fragte ihn dann nach seinen Gehörseindrücken und bekam die Schilderung von Geräuschen, die ein Kamel und eine Ente gemacht hatten. Einen Elefanten hätte man sonst nicht hören können, nur wie er Zucker suchte, hätte er danach geblasen und das wäre hörbar gewesen. Hier handelt es sich also um einen wirklichen Sinneseindruck, nach dessen Erklärung er offenbar erst nachträglich gefragt hatte. Seine erste Erzählung aber betraf nicht dieses eigene Erlebnis, sondern die von jemand anderem überlieferte Szene zwischen den beiden Affen. Wir dürfen annehmen, dass diese dramatische Szene im Affenhaus die herumstehenden sehenden Kinder interessiert und aufgeregt hatte, und dass das blinde Kind Ausrufe, Lachen und alle möglichen anderen Anzeichen von Erregung gehört und gespürt hatte. Der Ausschluss von dieser Erregung macht einerseits in ihm den Neid auf die Se- henden lebendig, anderseits antwortet er auf die Gefühlsansteckung mit eigener Erregung. Er benimmt sich also wie ein Mensch, der einen Witz anhört, nicht versteht, aber doch mit den Verstehenden mitlacht.
Durch solche und ähnliche Erfahrungen angeregt, bildete sich mir immer deut- licher der Eindruck von einem psychischen Doppelleben der blinden Kinder. Sie führten zu einem Teil ihr eigenes Leben, das in vieler Beziehung lustvoll war. Sie lebten in einer Gemeinschaft, in der der Defekt des Gesichtssinnes zwar graduell verschieden, aber doch das Selbstverständliche war. Sie hatten ein für sie eingerichtetes Tagesleben mit Büchern, Beschäftigungen, Unter- haltung und Freundschaften. Sie wetteiferten miteinander und beneideten sich
1 u)
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untereinander wie normale Kinder. Das Institut bedeutete für ihr Gefühl gleich- zeitig Schule und Elternhaus. Trotz allem aber setzte sich bei jedem einzelnen Kind sehr frühzeitig die Kenntnis durch, dass die Umwelt sehend, es selber aber blind, defekt und darum eine Ausnahme war. Von dem Augenblick einer solchen Einsicht an scheint die ganze Aufmerksamkeit des blinden Kindes auf die sehende Umwelt gerichtet. Die Kinder versuchen, die Sehenden in jeder Weise zu imitieren und sich dadurch der sehenden Welt so weit als möglich anzu- gleichen. Sie vergessen keinen Augenblick, dass sie blind sind, sehen aber ein Hauptziel ihres Lebens darin, die andern daran vergessen zu lassen, d.h. die Blindheit zu verbergen. Etwas an dieser Einstellung lässt sich mit der Beziehung jedes normalen Kindes zum Erwachsenen vergleichen; auch hier wird imitiert, was im Augenblick noch unerreichbar ist. Der Wunsch, ‚gross’’ zu sein entspricht also an Intensitätund Bedeutung dem Wunsch des blinden Kindes, sehen zu können.
Im Kontakt mit der Umwelt ist es unvermeidlich, dass das blinde Kind un- aufhörlich Ungeschicklichkeiten begeht und dadurch seine eigene Unfähigkeit immer wieder zu spüren bekommt. Da es die Fehler, die es macht, nicht immer gleich merkt, kann es sie auch nicht auf dieselbe Art verdecken wie sehende Kinder; es muss eigene Methoden gebrauchen, um seine Minderwertigkeit zu verhüllen. Ein blindes Kind lässt z.B. einen Gegenstand fallen, tastet auf dem Boden danach, kann ıhn aber trotzdem nicht finden. Ein nächstes Mal lässt es das Hinuntergefallene lieber liegen anstatt erfolglos danach zu suchen. Ein sehender Erwachsener, der in der Nähe ist, wird sich instinktiv bücken und dem Blinden das Suchen abnehmen. Das blinde Kind lernt aus einer Reihe solcher Erfahrungen, dass seine Ungeschicklichkeit viel weniger auffällt, wenn es gar nicht anfängt, sich zu bemühen und dass die Abhängigkeit von den Sehenden in dieser Beziehung weit weniger beschämend ist als das Blosstellen der eigenen Unfähigkeit. Die blinden Kinder lernen auf diese Art, sich ungeschickter zu stellen als sie es sind; sie spielen die Rolle eines Hilflosen, ohne in Wirklichkeit hilflos zu sein.
Das Gefühl der eigenen Ausnahmsstellung auf Grund ihres Defekts wird bei den Blinden von der frühesten Kindheit an durch die Gefühlseinstellung der Sehenden bestätigt und gesteigert. Jeder Sehende, der nicht durch tägliche Ge- wöhnung mit dem Umgang mit Blinden vertraut ist, begegnet ihnen mit einer Mischung von Scheu und Verlegenheit, viele Menschen sogar mit Abscheu und Abneigung. Es scheint, dass die sehr sensitiven blinden Kinder schon sehr früh- zeitig auf dieses unnatürliche Benehmen der Erwachsenen reagieren und im Laufe ihrer Entwicklung mit immer steigendem Verständnis davon Kenntnis nehmen. Sıe verstehen, dass man ihnen ausweicht, dass man sie ihrer Blindheit wegen bemitleidet, dass Menschen, die selber sehen können, eine Abneigung gegen
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 301 die Tatsache des Blindseins haben, ja sich wirklich davor fürchten. Wir wissen, dass diese Angst — als Angst vor dem eigenen Defekt — nicht nur dem Blinden, sondern jedem Krüppel gegenüber eine Rolle spielt.
Die Ungeschicklichkeit des Blinden und seine Benachteiligung gegenüber dem Sehenden wird besonders auffällig, wenn das blinde Kind sich in einer neuen Umgebung befindet oder sich mit neuen Dingen vertraut machen soll. Es braucht selbstverständlich ungleich länger als ein sehendes Kind, um seine Umgebung kennen zu lernen, es muss die Möbelstücke betasten, die Entfernungen von einem Punkt zum anderen abgehen, um eine Vorstellung der Dimensionen zu bekommen. Gegenstände müssen in die Hand genommen und befühlt, Vergleiche müssen angestellt werden, ehe sie richtig erkannt werden können; je komplizierter der Gegenstand, desto länger dauert der Erkennungsvorgang. Viele Objekte werden dem Blinden überhaupt nicht in ihrer Gesamtheit deutlich, wie z.B. Bäume, Häuser, grosse Tiere; ohne Hilfe des Gesichtssinnes lassen sich nur Teile und auch diese nur unvollkommen erfassen. Bei solchen Gelegenheiten wird dem blinden Kind die ungeheure Überlegenheit der Sehenden deutlich. Die Sehenden können sich mit einem einzigen Blick in ihrer Umgebung orientieren, sie machen ohne Zögern Aussagen über die Umgebung, die ihre Vertrautheit ohne mühsame Nachforschung beweisen, sie können jeden Gegenstand sofort in der richtigen Weise gebrauchen und sich in jeder neuen Umwelt bewegen, ohne anzustossen und ohne Anstoss zu erregen. Erlebnisse dieser Art befestigen in dem blinden Kind für alle späteren Zeiten die Vorstellung von der Allmacht der Sehenden.
Aus diesem Verhältnis zwischen dem blinden Kind und der sehenden Umwelt entsteht das Doppelleben der Blinden, das einen grossen Teil ihrer psychischen Energie aufzuzehren scheint. Die Anpassung an ein Leben innerhalb ihrer eigenen beschränkten Grenzen und Möglichkeiten wird dadurch gestört, dass sie fast unaufhörlich in Kontakt mit der Welt der Sehenden stehen, die inhaltlich von der ihren verschieden ist. Die sehenden Menschen, die in dieser andern Welt leben, bewegen und benehmen sich anders als sie, können Dinge ausführen, die für die Blinden unmöglich sind, sprechen und lachen über Vorgänge, die ihnen nicht zu Bewusstsein kommen, korrigieren oder verspotten sie, wenn sie sie nachmachen wollen, und scheinen sie für etwas zu verabscheuen, was nur sehr schwer und langsam zu erfassen ist. Es ist nur selbstverständlich, dass die Blinden neugierig auf diese fremde Welt sind, dass sie sie voll Neid beobachten und dass sie drin- gende Wünsche entwickeln, auch diesen Sinn zu haben, der ihnen fehlt, der aber offenbar den Zugang zu unvorstellbar grossartigen Gefühlen und Empfindungen eröffnet. Sie versuchen, sich dieser andern Welt so weit wie möglich anzugleichen und die Objekte ihres Neides wenigstens äusserlich zu imitieren. Sie versuchen das
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Unmögliche mit untauglichen Mitteln: d.h. sie vernachlässigen ihre eigene Sinnes- welt zugunsten eines Scheinanteils an der Welt der Sehenden. Sie sprechen die Sprache der Sehenden, obwohl viele Worte für sie überhaupt keinen Sinn haben und sie benehmen sich, als ob sie vieles erkennen und verstehen würden, was in Wirklichkeit ganz unverständlich und unverstanden für sie bleibt.
Die teilweise Analyse zweier blinder Kinder ist vielleicht geeignet, einzelne Züge der Entwicklung zu diesem doppelten Gefühlsleben der Blinden näher zu beleuchten.
AusderAnalyse eines achtjährigen blinden Knaben.
Der achtjährige Jakob wird vom Direktor seines Blindeninstituts zu mir in Analyse geschickt. Er wird zur Behandlung ausgewählt, weil sein neurotisches Verhalten den Erziehern Sorge macht. Er ist intelligent, seine Aussprüche zeigen gute Beobachtungsgabe, trotzdem ist er lerngehemmt und hat Mühe, mit den Kindern seines Alters im Unterricht mitzukommen. Er ist seit den ersten Lebens- monaten vollkommen blind. Er ist klein gewachsen, dunkelhaarig und von kränk- lichem Aussehen. Er ist oft deprimiert, immer überempfindlich, hat Angst, ausgelacht oder kritisiert zu werden und zieht sich von den gemeinsamen Be- schäftigungen zurück, sobald er spürt, dass er den andern unterlegen ist. Er versteht schnell, dass die Analyse im Stande sein könnte, ihm zu helfen, ist auch, ehe die ersten Widerstände einsetzen, bereit zu kommen und sich mitzuteilen. Der Fortgang seiner Analyse unterscheidet sich nicht wesentlich von den Analy- sen vollsinniger Kinder. Ich nehme aber bei der Auswahl aus seinem Material nicht auf diesen Fortgang Rücksicht, sondern auf die speziellen Fragestellungen, die dieser Mitteilung zu Grunde liegen.
Ich versuche zunächst, die Begriffsbildung bei Jakob näher zu studieren und teile seine Vorstellungen, die mir in vieler Beziehung charakteristisch für das Denken blinder Kinder erscheinen, je nach ihrer Korrektheit in drei Gruppen ein: in korrekte und ehrliche, in missverstandene und unehrliche und in phanta- stische, welche Elemente von beiden enthalten. Sein Phantasieleben entwickelt sich dann auf Grund dieser phantastischen Vorstellungen weiter. Im Folgenden einige Beispiele für korrekte Vorstellungen:
Jakob versucht, mir zu erklären, wasersich unter Schnee vorstellt. ‚‚Schnee ist hart. Wenn ich gehe, weiss ich, ob es geschneit hat, ich kann mit den Füssen danach stossen. Natürlich habe ich Schnee gefühlt. Ich habe ihn auf dem Fensterbrett angefasst. Wenn es einem ins Gesicht schneit, fühlt es sich an wie Regen, nur wär- mer... Diese Definition ist durchaus aufseinen eigenen Beobachtungen aufgebaut.
Ein andermal erhält eines der Kinder einen Malkasten zum Geschenk und Jakob versucht, mir den Gegenstand und die Art des Gebrauchs zu schildern.
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„Im Malkasten sind kleine Tafeln; wenn man malen will, muss man einen Bleistift nass machen und dann damit schreiben.’ Auch diese Beschreibung ist eine korrekte Wiedergabe eigener Erfahrungen.
Jakob berichtet mir, dass er Besuch gehabt hat. Er erzählt zuerst, dass die Dame wunderschön angezogen war, dann dass sie ihm ein Geschenk, einen Eisenbahn- zug, mitgebracht hat. ‚An der Lokomotive war keine Schnur, das weiss ich, weil ich gefühlt habe, dass keine daran ist. An den Waggons waren Haken, damit man sie aneinanderhängen kann; sie waren stärker als die Haken an deinem Zug und die Waggons sind nicht immer auseinandergefallen.’”’ Er erzählt weiter, dass der Eisenbahnzug Lärm gemacht hat und demonstriert das Geräusch dadurch, dass er zwei Waggons zusammenstossen lässt. Später hat er seinen Besuch in den 'Turnsaal geführt, um mit ihr allein zu sein. „Ich habe sie bei der Hand ge- nommen und geführt. Sie hat den Zug aus etwas herausgenommen, ich weiss nicht, was es war, und hat ihn auf den Tisch gestellt. Das weiss ich, denn die Waggons haben gerasselt, wie sie sie niedergestellt hat.’’ In dieser Beschreibung haben wir eine Mischung von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit. Jakob kann natür- lich nicht wissen, ob seine Besucherin schön angezogen war; der Rest seiner Beschreibungen aber entspricht seiner eigenen Beobachtung.
Seine eigenen Beobachtungen anderseits reichen nicht aus, um ihm ein kor- rektes Bild der Vorgänge zu vermitteln. Jakob spielt z.B. in meinem Zimmer mit seiner Lokomotive, die er auf dem Fussboden fahren lässt. So oft sie an etwas anstösst und umstürzt, drehen sich ihre Räder mit starkem Surren in der Luft weiter bis die aufgezogene Spiralfeder abgelaufen ist. Für Jakob ist ein solcher Unfall jedesmal ein grosses Ereignis. Er missversteht das Geräusch, glaubt, dass die Lokomotive besonders rasend schnell fährt, strahlt und klatscht in die Hände. „Schau, wie schnell sie fahren kann!” Jakob benimmt sich hier wie ein sehendes Kind, das auf Grund eines einzelnen Sinneseindrucks eine ganze Wunsch- phantasie aufbaut. Das Geräusch allein genügt ihm, um die erwünschte Vor- stellung der über den Boden rasenden Lokomotive zu erwecken. Die Vorstellung entspricht also nur in einem einzigen Punkt der Wirklichkeit, sonst ganz seinen Wünschen. Diese Art der Wunscherfüllung ist aber für das blinde Kind dadurch erleichtert, dass seine Realitätsprüfung durch den Ausfall des Sehens gestört ist.
Vergleichen wir damit die folgende Äusserung Jakobs: er erwähnt die Auslage eines Spielzeugladens. ‚Das Spielzeug steht hinter durchsichtigen Fenstern, man kann es nicht anfassen, ich mochte es so gerne anschauen.” Man spürt ın dieser Schilderung Jakobs grossen Wunsch zu erfassen, was ein Fenster eigent- lich ist; aber die Worte, die er verwendet, bedeuten ihm gar nichts, sie sind einfach aus dem Gebrauch der sehenden Umwelt entliehen. Seine Äusserung macht also durchaus den Eindruck der Unehrlichkeit.
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Ein anderes Mal erzählt Jakob eine Phantasie: ‚Wir fahren im Auto und be- gegnen ein Pferd. Das Pferd erschrickt vor uns und schlägt in seiner Angst mit den Hufen nach dem Steuerrad.” Hier kann man im Zweifel sein, ob seine Vor- stellung eines Pferdes eine ganz falsche ist, ob er vielleicht das Pferd nur als Sym- bol benützt, um eine sexuelle Phantasie darzustellen: oder ob wir es mit einer Kombination von beidem zu tun haben. Eine zweite Phantasie kommt unserem Verständnis zu Hilfe. Jakob erzählt, dass er bei einer T’ante gewohnt hat, die einen Stall gehabt hat. ‚Einmal habe ich das Pferd in den Stall geführt und es gefüttert. Dann hat das Pferd sich niedergelegt und sich zugedeckt. Es hat sich mit Stroh bis über den Kopf zugedeckt, damit es warm und bequem liegt.’’ Er erzählt diese Geschichte, als ob es eine Erinnerung wäre, die für ihn durchaus nicht unwahrscheinlich oder phantastisch klingt. Wir sehen daraus, dass er ein- fach eine falsche Vorstellung von einem Pferd hat, dass er sich den Körper des Pferdes nach dem Vorbild des eigenen vorstellt.
Jakob begegnet den gleichen Schwierigkeiten, wenn er sich bemüht, kompli- ziertere technische Dinge zu verstehen. Er fängt nach einer Ausfahrt im Auto an, sich nach der Arbeitsweise des Motors zu erkundigen. Ich versuche, ihm zu erklären, dass der Motor von einer Kraft getrieben wird. Ich gebe ihm als Beispiel für den Luftdruck die Kraft des Atems, lasse ihn auf einen Streifen Papier blasen und fühlen, wie sich das Papier vor seinem Mund bewegt. Wir machen zu dem- selben Zweck Papiersäcke, er bläst hinein, ich zeige ihm, wie man sie zerplatzen lässt, und zeige ihm das Loch, aus dem die Luft einen Ausweg gefunden hat. Er wird sehr aufgeregt und ruft wiederholt: ‚Ich sehe es, ich sehe es.” Ich frage, was er damit meint. „Ich sehe das Loch, aus dem die Luft gekommen ist.” Er sagt weiter: „Bei einem Gewehr kann man die Kugel erst sehen, wenn sie aus dem Gewehr hinausgeflogen ist. ”Ein andermal sagt er: „Wenn der Motor im Auto läuft, kann man ihn sehen.” Er lässt noch einen Papiersack zerplatzen und sagt dazu: „Jetzt bin ich der Motor.” Ein andermal nimmt er sich vor, Papiersäcke zerplatzen zu lassen bis das Fenster zerplatzt. ‚Wenn ich nur nahe genug am Fenster stehe, muss es zerplatzen.’” ‚Luft beisst.” Man bekommt hier den Ein- druck, als ob er wirklich eine Vorstellung von komprimierter Luft und den Möglichkeiten des Luftdrucks gebildet hätte. Dagegen spricht allerdings, dass er wenige Tage später versucht, Papiersäcke zerplatzen zu lassen, in die er selber vorher Löcher gemacht hat.
Der Gang seiner Vorstellungen ist also etwa der folgende: „Ich sehe es, ich sehe es’’ heisst einfach: ich verstehe, dass die Luft aus diesem Loch gekommen ist, denn ich kann das Loch selber fühlen. Die Bemerkung über Kugel und Gewehr zeigt, dass es ihm gelingt, die neu erworbene Kenntnis auch richtig auf ein anderes Gebiet anzuwenden. Dass man den Motor sehen kann, wenn er im Auto läuft,
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heisst offenbar nur: wenn ich ihn hören kann, dann kannst du ihn sicher sehen. Er kann nur hören, was ın Aktion ist; er hat also allen Grund, dasselbe für die Gesichtseindrücke anzunehmen. — Sein Ausruf „Ich bin der Motor” entspricht einer Allmachtsphantasie beim Zerplatzen der Papiersäcke. — Die Erwartung, dass das Fenster zerplatzen muss, entspricht einer Fortführung der logischen Gedankenkette über den Luftdruck: die Luft, die stark genug ist, das Papier zu sprengen, sollte auch das Glas des Fensters sprengen können. — Von da aus führt die aggressive Linie seiner Gedanken weiter. „Luft beisst”’, scheint eine Erfahrung, die von der beissenden Kälte stammt, hier aber zu der Vorstellung eines bösen, beissenden Tieres vervollständigt wird. Der spätere Versuch schliess- lich, durchlöcherte Papiersäcke zum Zerplatzen zu bringen, zeigt, dass die neuen Kenntnisse noch ein sehr unsicherer Besitz geblieben sind; sie können jeden Augenblick wieder von dem vorherigen Unverständnis abgelöst werden. Die ganze Vorstellungsketteistein gutes Beispiel für das bei Jakob typische Mischungs- verhältnis von falchen und richtigen Begriffen, von Missverständnissen, Imitationen des Verständnisses der Sehenden und phantastischen Zutaten, die sexuellen Symbolen und bewussten und unbewussten Wunschvorstellungen ent- sprechen.
Noch deutlicher unterscheiden sich Wirklichkeit und Wunscherfüllung ın einer Beschreibung von einander, die Jakob an dem Tag liefert, an dem er von der ihn besuchenden Dame den Eisenbahnzug geschenkt bekommt. Nachdem er, wie oben beschrieben, die Übergabe des Zuges getreu nach seinen Eindrücken wiedergibt, setzt er mit folgender Phantasie fort: „Die Eisenbahn ist ins Ess- zimmer gefahren und wieder zurückgekommen. Die Zimmertüren waren offen, die Eisenbahn ist immer weiter gefahren, durch die offenen Türen und in das nächste Zimmer. Sie ist überall hin gefahren, immer schneller und schneller, sie ist ins Klavier hineingefahren und hat es mitgenommen. Sie ist bis in dein Zim- mer gefahren, du bist im Bett gelegen und hast geschnarcht. Ich bin ins Zimmer gekrochen und habe geschrieen; erst hast du weitergeschnarcht, aber dann bist du aufgewacht.” Jakob macht hier, wie wir es aus den Phantasien von Kindern kennen, einen plötzlichen Übergang von der Wirklichkeit zuerst zur Erfüllung eines ihm bewussten Wunsches: seine Eisenbahn fährt immer schneller und wird immer mächtiger; dahinter steht die Erfüllung eines ihm nicht bewussten Wunsches, nämlich in mein Zimmer zu kommen, während ich schlafe. Die diesem unbewussten Wunsch zugehörige Erregung findet in der Steigerung der
Schnelligkeit der Lokomotive ihren symbolischen Ausdruck. Es ist nur selbstverständlich, dass die Wunschphantasien der blinden Kinder
sich auch ganz direkt immer wieder auf das Sehen selbst beziehen. Jakob liefert
zu diesem Typus Phantasie das folgende Beispiel. Er verlangt eines Tages die 21
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Kopie einer photographischen Aufnahme, die man von ihm gemacht hat, um sie seinen Eltern zu schicken. Er lässt sich von mir zeigen, wo auf dem Bild sein Gesicht zu sehen ist, behauptet, dass er es selbst auch sehen kann und zeigt mit dem Finger darauf. Ich drehe das Bild um, er zeigt mit dem Finger weiter auf die Stelle, wo bei richtiger Lage sein Gesicht zu finden sein müsste. Auf mein Er- staunen über seine Hartnäckigkeit berichtet er, dass er einen Besuch beim Augen- arzt gemacht habe, dass seine Augen geprüft worden seien und dass er einen Licht- schein sehen könne, Der Augenarzt hätte die Hand in die Höhe gehalten und er, Jakob, hätte die Hand sehen und die Finger zählen können. Er gerät in immer grössere Erregung und behauptet steif und fest, sehen zu können. Seine Behaup- tung klingt so überzeugend, dass ich mich bei dem Direktor seines Instituts nach den näheren Umständen erkundige. Tatsächlich war Jakob auch zu ihm mit der Versicherung gekommen, er könne plötzlich sehen. Er hätte ıhm darauf hin erlaubt, zum Augenarzt zu gehen und seine Sehfähigkeit prüfen zu lassen. Jakob hätte das Vorgehaltene einige Male richtig und eben so oft falsch geraten. Der Augenarzt hätte über seine Sehfähigkeit gar nichts geäussert, aber seither sei Jakob überzeugt, dass er sehen könne. Ins Institut zurückgekehrt, hätte er den Direktor gezwungen, die Prüfung noch einmal zu wiederholen. Der Direktor hätte eine Taschenlampe vor Jakobs Augen gehalten und Jakob hätte gesagt, er sehe das Licht. Dann sei der Direktor ans andere Ende des Zimmers gegangen und Jakob hätte wieder gesagt, er sehe das Licht. Jakob hätte selbst verlangt, dass der Direktor sich nicht an die Türe anlehnen solle, sonst könne er aus dem Geräusch erraten, wo das Licht sei. Schliesslich hätte der Direktor die Hand ohne Taschenlampe ausgestreckt und Jakob hätte wieder erklärt, er sehe das Licht. Nach dieser Untersuchung hätte er sich plötzlich sehr stolz aufgerichtet und zum Direktor gesagt: ‚Jetzt kann ich sehen. Sagen Sie allen Kindern, dass ich sehen kann.’ Diese Szene also war es, die sich in der Stunde bei mir noch einmal wiederholt hatte. Statt ihn zu prüfen, erkläre ich ihm aber, wie sehr er sich wünscht, sehen zu können und wie man manchmal glaubt, dass etwas Gewünsch- tes sich wirklich ereignet hat. Ich sage ihm also, warum er glaubt, dass er sehen kann, dass es aber in Wirklichkeit nicht so ist. Er geht nicht näher darauf ein, lässt das T'hema fallen und beginnt statt dessen zu spielen. — Der Ausbau und Zusammenfall einer solchen wunscherfüllenden Phantasie lässt sich am Bei- spiel Jakobs in allen Einzelheiten verfolgen. Die Phantasie sehen zu können, dient der Abwehr der unerträglichen Wirklichkeit, die das Blindsein für ihn bedeutet. Er agiert seine Phantasie so intensiv, dass sie für ihn selbst und sogar für die Umwelt überzeugend wirkt. Es ist unklar, wie weit er selbst noch Phan- tasie und Wirklichkeit unterscheiden kann, jedenfalls wäre es unrecht zu sagen, dass er bewusst den Arzt und Direktor täuscht; er warnt ja selbst vor Hilfsmitteln,
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die es ıhm leichter machen könnten zu erraten, wo der Lichtschein herkommt. Das stärkste Motiv seiner Phantasiebildung wird am Schluss der Szene in der Aufforderung an den Direktor deutlich: er möchte sehen, dass heisst aber für ihn, er möchte vor allen Zöglingen und Lehrern des Blindeninstituts als Sehender dastehen und für das Wunder, das sich an ihm vollzogen hat, beneidet und be- wundert werden.
Das Vorkommen von Wunschphantasien wie der von Jakob agierten ist umso selbstverständlicher, wenn man bedenkt, dass sich in jeder Gemeinschaft Blinder solche Wunder von Zeit zu Zeit tatsächlich ereignen. Auch in Jakobs nächster Umgebung wurde kurze Zeit nach seinem missglückten Versuch ein Mädchen wirklich sehend. Sie machte eine Operation durch, schwebte eine Weile in Un- sicherheit und fand dann, nachdem die Binde von ihren Augen entfernt worden war, dass sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, Licht sehen konnte. Von da an entwickelte sich ihr Sehvermögen durch intensive Übungen langsam weiter. Während der Wochen dieser Entwicklung befand sich das ganze Blindeninstitut in höchster Aufregung. Kinder und Lehrer machten jede Phase der Vorbereitung, der Operation, der Unsicherheit, Ängste und Hoffnungen so intensiv mit, als ob es sich um ihr eigenes Schicksal handelte. Das Mädchen war die Heldin des Hauses, mit der jeder einzelne sich identifizierte; der Neid auf das Wunder, das ihr widerfuhr, wurde aufgewogen durch das Gefühl, das jedem anderen das gleiche widerfahren könnte. Es ist leicht verständlich, dass es für jedes Kind eine Versuchung bedeuten muss, eine solche dramatische Situation mit der eigenen Person als Mittelpunkt auf dem Phantasiewege herzustellen, wenn die Wirklich- keit sie nicht zustandebringen kann. Aber trotzdem wäre es ganz falsch, dem Verdacht nachzugeben, dass auch Jakob nur einen solchen Versuch zur gewalt- samen und bewussten Korrektur der Wirklichkeit unternommen hatte. Die Beo- bachtung in der Analyse erwies ganz deutlich, dass sein bewusster Vorsatz mit der agierten Phantasie wenig oder nichts zu tun hatte. Sein Agieren war von einem vom Unbewussten stammenden Motiv getrieben, das stark genug war, um jede Realitätsprüfung für eine Weile ausser Kraft zu setzen.
Auch Jakobs Ängste lassen sich ähnlich wie seine Phantasien in drei Gruppen einteilen. Er hat Realängste, d.h. vor allem Furcht vor Gefahren, die ihm in seiner besonders hilfslosen Situation drohen und die ihm zum grössten Teil direkt von seinen Eltern übermittelt worden sind. Er hat weiter Ängste, die auf seinen fehlerhaften Vorstellungen von der Wirklichkeit aufgebaut sind, und schliesslich die allen Kindern gemeinsamen Angstvorstellungen, welche die falsche oder richtige Wirklichkeit zum Ausgangspunkt nehmen, sich aber von dort aus ins Phantastische erstrecken.
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Jakob berichtet eines Tages, dass er wütend ist, so wütend, dass er einen Stein nehmen und ein Fenster einschlagen möchte. Daran anschliessend erinnert er sich: ‚Wie ich noch zu Hause war, wollte ich immer Steine fallen hören. Ich habe einen Stein auf das Dach geworfen und zugehört, wie er herunterrollt. Einmal habe ich dabei ein Fenster zerbrochen und bin durchgehaut worden. — Unser Haus war ganz nahe an der Eisenbahn.” Er schildert also das Vergnügen, das er beim Geräusch des herunterrollenden Steines empfunden hat, gleichzeitig den schlechten Ausgang dieses Vergnügens. Es ist sicher kein Wunder, wenn ein von einem Blinden geworfener Stein auch Unglück anrichtet. Er beklagt sich nicht über die Eltern, die ihn geschlagen haben, im Gegenteil, er erklärt, dass sie sehr vorsichtig mit ihm sein mussten, weil die Eisenbahnstrecke so nahe an ihrem Haus vorübergeführt hat. Er versteht, dass er in seiner Blindheit viele Dinge tun kann, die gefährlich sind. Er kann Steine unabsichtlich so werfen, dass sie ein Fenster zerbrechen, und ebenso kann er, ohne es zu wollen, auf die Schienen geraten und vom Zug überfahren werden. Seine Eltern haben also ganz recht, wenn sie für seine Sicherheit fürchten und ihn mit Strenge zur Vorsicht an- halten.
Diese strenge Vorsicht der Eltern lebt in einer ganzen Reihe von Realängsten in Jakob weiter. Er fürchtet sich davor, allein in eine Umgebung zu geraten, mit der er nicht voll vertraut ist, z.B. ohne Begleitung im Garten zu bleiben. Er fürchtet sich vor Gas und Elektrizität. Er vermeidet es, einen elektrischen Kontakt anzufassen und warnt mich davor, das Grammophon anzufassen; man könnte an einen elektrischen Draht ankommen, einen Schlag bekommen und sterben. Er erzählt, dass es in einer Kammer des Instituts einen grossen Gashahn gibt, dass er aber diese Kammer nie betritt. Er könnte vielleicht den Gashahn aufdrehen und könnte ihn dann nicht so schnell abdrehen wie ein sehendes Kind das kann. — So weit sind seine Begriffe ganz korrekt. Er erzählt auch, wie leicht man von Gasbomben getötet werden kann. Nur Polizisten sind davor geschützt, weil sie Gasmasken anhaben. Hier hat er die Vorstellung, dass das Gas durch den offenen Mund in den Körper kommt. Sehende Menschen können das Gas sehen und rechtzeitig davonlaufen. Auch hier ist mit einer kleinen Beimischung von Miss- verständnissen die Vorstellung im Ganzen noch korrekt. Jakob versteht, dass das Sehvermögen den Menschen die Möglichkeit gibt, Gefahren rechtzeitig wahr- zunehmen und sich irgendwie davor zu schützen.
Auf der Basis von Realängsten entwickelt er dann Angstvorstellungen, die deut- lich den Charakter neurotischer Ängste tragen: wenn er die Treppen hinunter- geht, fürchtet er sich, es könnte etwas hinter ihm herkommen und ihn hinunter- stossen; wenn er auf dem Gehsteig geht, fürchtet er sich, es könnte etwas oder jemand von der Strasse heraufkommen und ihn umstossen.
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Seine 'Tierängste beschränken sich auf zwei Tiere, Pferde und Maulwürfe. Er fürchtet Pferde, weil er erfahren hat, dass sie beissen können. Der Maulwurf ist wahrscheinlich auf Grund der Blindheit als Angstsymbol ausgewählt worden.
Jakob schildert eine Angst, die wir bei neurotischen sehenden Kindern kennen, die aber offenbar beim Wegfall des Sehens besondere Entwicklungsmöglichkeiten hat. Er fürchtet sıch, es könnte jemand im Zimmer sein, ohne dass er es weiss, und belauschen, was er spricht. ‚Es könnte sein, dass Marie im Zimmer ist. Ich weiss, dass sie nicht da ist, aber sie könnte da sein, ohne dass ich es merken würde. Es kommt mir eben vor, dass sie da ist.” Er bemüht sich, auf diese Weise auszu- drücken, dass er zwar spüren kann, ob jemand anwesend ist oder nicht, dass er aber keine Beweise hat und es deshalb so schwer ist, dem Gefühl nicht zu glauben, dass er beobachtet wird. Hier ist es tatsächlich deutlich, wie der Wegfall der Realitäts- prüfung durch das Sehen die Angst vor dem Beobachtetwerden steigert und erleichtert.
Zu dieser Angst vor dem Beobachtetwerden gehört auch eine Angst vor dem Klosett, die Jakob besonders bei den Besuchen in meiner Wohnung äussert. Er entwickelt eine Abneigung gegen mein Klosett, das mit einem Schlüssel und nicht wie in seinem Institut mit einem Riegel zu verschliessen ist. Ein Riegel erscheint ihm der bessere Abschluss gegen die Aussenwelt. Er fürchtet sıch, dass man ihm zusieht, wenn er auf dem Klosett ist; Erzählungen von Klosetts, die mit einem Fenster versehen sind, durch das die Lehrer beobachten können, wann die Kinder mit ihren Verrichtungen fertig sind, bilden dabei den Übergang. Er hat gleichzeitig Angst, dass man ihn im Vorzimmer hören könnte, wenn er Stuhl hat oder einen Wind lässt. Hier wird es deutlich, dass seine Vorstellungen von der Allmacht und Allgegenwart der Sehenden auf das Hören und Riechen über- greifen. Seine Angst unterscheidet sich aber in nichts von den Angstvorstellungen sehender Kinder, die fürchten, der liebe Gott könnte sehen, was sie nachts in ihrem Bett unter der Decke machen.
Überraschender ist es, bei einem blinden Kind die uns so gut bekannte Angst vor der Dunkelheit anzutreffen. Jakob schildert ganz überzeugend seine Angst vor der nächtlichen Dunkelheit. Auf meine Vorhaltung, dass er doch offenbar nur etwas wiederholt, was er von sehenden Kindern gehört habe, da er doch Licht und Dunkel gar nicht unterscheiden könne, beschreibt er eingehend das ängst- liche Gefühl, das er bekommt, wenn nachts die Lichter ausgelöscht werden, wenn alle still sind und alle Geräusche aufhören. In der tiefen Nacht gibt es gar keine Geräusche, am frühen Morgen kommen sie wieder. Er fürchtet sich davor, auf das Klosett zu gehen, solange es so still ist. Er wartet, bis die erste Strassenbahn fährt und das Warten ist schrecklich. — Was er seine Angst vor der Dunkelheit nennt, ist also in Wirklichkeit Angst vor der Stille, ist aber sonst in jeder Bezie-
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hung mit der nächtlichen Angst sehender Kinder identisch. Jakob hat Angst, nachts in den grossen Speisesaal zu gehen, weil ein Gespenst auf ihn losspringen und ihn erschrecken könnte. Wenn er nachts im Bett liegt und ein Pferd die steile Strasse heraufkommen hört, hat er Angst, dass es an der Wand des Hauses hinaufklettern, durch das Fenster hereinkommen und ihn überfahren könnte. Ausserdem fürchtet er sich in der Nacht vor Vulkanausbrüchen und Wirbelstürmen. Er hat Angst, dass vor seinem Fenster eine Hexe zaubert und die Vulkane zum Ausbruch bringt, so dass alles zu Grunde geht, usw.
Wenn die symbolischen und neurotischen Ängste dieser Kategorie von den Ängsten der sehenden Kinder kaum zu unterscheiden sind, so gibt es anderseits eine spezielle Angst der Blinden, die in anderer Form als beim sehenden Kind ihr ganzes Leben beherrscht, die Angst vor dem Alleingelassenwerden. Jakob war unaufhörlich in Angst, dass man ihn verlassen würde, dass ihm etwas Schreck- liches zustossen würde, wenn kein Sehender dabei war, um auf ihn achtzugeben. Ich hatte mehrmals Gelegenheit, ihn in einem solchen panikähnlichen Zustand zu beobachten. Sein Begleiter pflegte auf dem Weg zu mir mehrmals Be- sorgungen zu machen. Ehe er in ein Geschäft ging, stellte er Jakob auf der Strasse mit dem Rücken an eine Hausmauer und trug ihm auf, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Jakob blieb auch unbeweglich, an die Mauer geklammert stehen, in der angstvollen Erwartung, dass der Begleiter ihn vergessen und nicht zurückkommen, oder das etwas von der Strasse kommen und ihn um- stossen würde. Situationen dieser Art zeigen, wie sehr die Blinden sich den Sehenden ausgeliefert fühlen, wie sehr sie sich auf ihre Fürsorge angewiesen fühlen und welches Gefühl der völligen Verzweiflung und Hilflosigkeit auftritt, wenn sie von ihrem Schutz verlassen und allen wirklichen und phantastischen Gefahren alleine preisgegeben sind.
Jakob entwickelt eine ganze Reihe von Phantasien und Vorstellungen, die sich ausschliesslich mit der Bewältigung dieser Angst vor dem Alleingelassenwerden beschäftigen. Er wünscht sich einen Hund, der für ihn sehen kann. In seiner Phantasie besitzt er einen solchen Hund, der ihn nie verlässt, der ihn überall hin- führt, wohin er gehen will, so dass er gar keinen Menschen mehr braucht und nie mehr einsam sein kann. Wenn irgend jemand ihm etwas tun will, wird der Hund sich auf den Angreifer stürzen, ihn beissen und verjagen. — So viele reale Elemente diese Phantasie Jakobs auch enthält (wir wissen, dass es tatsächlich Hunde gibt,.die zum Blindenführer erzogen sind), so sehr klingt sie anderseits an die uns bekannten Tierphantasien der sehenden Kinder an: ein grosses und gefürchtetes Tier, ein Vatersymbol, wird aus dem Angstobjekt zum Schutz- tier, das das Kind jetzt gegen alle Angriffe von aussen sichert und verteidigt.
Jakob entwickelt noch andere Schutzmassnahmen gegen die Angst vor dem
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Verlassenwerden, die sein Benehmen gegen die Aussenwelt entscheidend beein- flussen. Er entwickelt sich zu einem eifrigen Sammler von Postkarten, Marken und Bildern aller Art und bettelt täglich um neue Beiträge zu seiner Sammlung. Es schien zuerst unverständlich, welche Lust für ihn damit verbunden war. Die Bilder, die er sich nach Beschreibungen merkte und an kleinen und kleinsten Merkmalen, kleinen Rissen, umgebogenen Ecken usw. voneinander unterscheiden konnte, konnten höchstens im Wettbewerb mit der Sammlung anderer für ihn von Interesse sein; die Marken waren für ihn überhaupt uninteressant und un- unterscheidbar. Die nähere Beobachtung lehrt dann, dass diese Sammelwut Jakobs gar nicht den gewöhnlichen, damit verbundenen Absichten dient. Jakob sammelt nicht für sich, sondern für die Lehrer und für die sehenden Kinder des Instituts. Er verschenkt die gesammelten Objekte einzeln, aber nicht an seine nächsten Freunde und auch nicht immer an die gleichen Personen. Seine Ge- schenke sind nicht Zeichen der Freundschaft, sondern Werbungen und Be- stechungen. Er versteht, dass die sehenden Erwachsenen und sehenden Kinder für ihn notwendig sind und dass sie umso geneigter sind, etwas für ihn zu tun, je mehr er selbst für sie tun kann. Durch seine Geschenke erhöht er sein Gefühl der eigenen Sicherheit, er besticht die Sehenden, damit sie ihn führen, auf ihn achtgeben und ihn vor Gefahren beschützen. Er gebraucht diese Sehenden also nicht anders als seinen Phantasiehund, sie sind seine Augen, er beteiligt sich an ihrem Sehvermögen und ist bereit, alles zu tun, um sie für sich günstig zu stim- men. Seine Nachgiebigkeit in dieser Beziehung geht so weit, dass er einem sehen- den Kind überhaupt nichts verweigern kann. Er trennt sich ohne Widerspruch von seinen grössten Schätzen, wenn ein sehendes Kind sie ihm abverlangt. Die Gefahr, jemanden auf sich böse zu machen und so auf seine Hilfe verzichten zu müssen, erscheint ihm so gross, dass keine andere Überlegung dagegen in Betracht kommt. Jakob zeigt hier einen Charakterzug, den ich bei allen blinden Kindern, die ich zu beobachten Gelegenheit hatte, mehr oder weniger deutlich ausgeprägt finden konnte. Es ist nur natürlich, dass die Blinden, trotz allen Be- mühungen selbständig zu werden, doch immer von der Hilfe anderer abhängig bleiben. Es gibt eine Unzahl von Dingen, die sie niemals alleine zustande bringen können. Sie lernen zwar lesen, aber ihr Lesen beschränkt sich auf die Blinden- schrift: Strassenschilder, Aufschriften, Warnungssignale sind für sie nicht erkenn- bar. Sie hören zwar Geräusche aller Art, aber sie sind für die richtige Deutung ungewohnter Geräusche auf die Erklärung der Sehenden angewiesen. Sie stehen sehr vielen Geschehnissen verständnislos gegenüber; sie merken z.B. einen Unfall, der sich auf der Strasse ereignet, nur an den aufgeregten Reden der anderen Men- schen; ihr eigener Zugang zu dem Geschehnis muss den Umweg über die Er- klärung nehmen, die sie von einem Sehenden bekommen. Auch unter den Zög-
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lingen des Instituts, in dem Jakob lebte, gab es unter den Kindern eine ganze Skala der Bewertung, die sich nach dem Sehvermögen der einzelnen richtete. Jakob z.B. erklärt, dass er im Garten lieber mit den Kindern spielt, die etwas sehen können, wenn es auch nur sehr wenig ist; sie können ihm doch helfen und ihn herumführen. Für Gespräche, meint er, mache es keinen Unterschied, ob das andere Kind sehen könne oder nicht. Nicht nur Jakob, sondern alle völlig blinden Kinder pflegten deshalb um die Gunst und Freundschaft der vom Schick- sal etwas bevorzugten Kinder zu werben. Ihre Aufgabe wurde ihnen dadurch leicht gemacht, dass die Kinder mit geringem Sehvermögen stolz auf ihre Über- legenheit waren, sie bei jeder Gelegenheit hervorkehrten und sehr bereit waren, sich den total Blinden gegenüber hilfreich zu zeigen. Ihre Hilfeleistungen waren ihnen gleichzeitig ein willkommener Gegenbeweis gegen die eigene Minder- wertigkeit.
Diese eben geschilderte Charakterentwicklung zur Abhängigkeit und Unter- würfigkeit unter die Sehenden gibt vielleicht einen ersten Hinweis zur Erklärung des scheinbar so heiteren, zufriedenen und unaggressiven Wesens der Blinden, der Eigenschaften, die zu ihrem Schicksal so wenig zu passen scheinen. Es ist möglich, dass die ständige Werbung um die Gunst der Aussenwelt die Unter- drückung aller jener Wesenszüge zustandebringt, die das Individuum mit der Aussenwelt verfeinden könnten. Diese Angst vor dem Liebesverlust als Motor der Verdrängung der Aggression findet dann noch Ergänzung durch ein zweites Element, eine besondere Angst vor der Wirkung der eigenen Aggression.
Jakob trifft mich z.B. einmal beim Kegelspielen mit der Kugel. Er merkt es nicht, bis ich es erwähne, ist dann sehr erschrocken und beunruhigt. Er benimmt sich wie jemand, der vor dem Durchbruch eines bis dahin unbewussten aggres- siven Impulses erschrickt. Die Unwissenheit über die Folgen seiner Handlungen steht hier offenbar an Stelle der Unkenntnis über das Vorhandensein der aggres- siven Regung. Ein anderes Mal schenkt eine Lehrerin den Kindern Kanarien- vögel. Jakob ist voll Interesse für die Vögel, beschliesst aber, sie lieber nicht zu füttern, wenn die Lehrerin nicht in der Nähe ist. ‚Ich könnte sie zerquetschen. Wenn die Lehrerin fort ist, werden sich alle Kinder um die Vögel drängen und sie sicher umbringen.’ Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier vor allem um unbewusste 'Todeswünsche gegen die Vögel handelt, deren Äusserung er fürch- tet. Anderseits hat er mehr Grund als normale Kinder, vor einer Verwirklichung solcher 'Todeswünsche Angst zu haben. Die Kontrolle seiner eigenen Handlungen ist schlechter als bei Sehenden, es ist durchaus möglich, dass er die Vögel töten könnte ohne es zu merken. Sein Verhältnis zu den Menschen ist von dieser Angst vor der eigenen unkontrollierten Aggression beherrscht. Er — wie alle blinden
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Kinder — ıst ausserordentlich vorsichtig in seinen Handlungen und durch gerade diese Angst in allen seinen spontanen Äusserungen gehemmt.
Ein bestimmtes Kegelspiel veranschaulicht sein Verhältnis zur Aggression in besonders deutlicher Weise. Die kleinen Kegel sind an einem Ende des Tisches aufgebaut, die Kugel rollt in einer von Bauklötzen begrenzten Bahn auf sie zu. Jakob geht zwischen den beiden Tischenden hin und her, befühlt die Kegel, rollt die Kugel und freut sich, wenn die Kegel umfallen. Er erfindet selber Kom- plikationen für das Spiel, ernennt den grössten Kegel zum König, der nächst- grosse ist die Königin, die kleinen sind die Kinder. Es macht ihm besondere Freude, den König zu treffen. Es gelingt ihm, die Kegel selber wieder aufzustellen, er muss aber sehr vorsichtig sein, um nicht andere Kegel umzuwerfen, wenn er einen aufstellt. Manchmal sagt er: „Ich kann nicht sehen und darum brauche ich so lange, bitte stell du sie auf.” Manchmal gibt er mir Aufträge: „Wirf den Ball in die Richtung, wo du die Kegel siehst.” Manchmal bittet er mich, den Ball nicht zurückzurollen, sondern in seine Hand zu legen: „Denn ich kann ihn ja nicht sehen, wenn er niederfällt „‚Plötzlich beginnt er dann, mit mir dasselbe zu machen, er legt den Ball in meine Hand, wenn er ihn mir wiedergibt. Er be- handelt mich also, als ob ich auch blind wäre, merkt es auch und sagt: ‚, Mach die Augen zu und wirf den Ball mit zugemachten Augen.” Es gelingt mir überhaupt nicht, die Kegel zu treffen, was Jakob sehr freut; er fühlt, dass er geschickter ist als ich. Er verlangt jetzt weiter, dass ich sein Spielzeug betaste, nimmt meine Hand, führt sie über mehrere Dinge oder sagt sogar: „Fühl es.’ Es ist ihm offen- bar plötzlich gelungen, seine Aggression gegen mich zu wenden, ich bin blind wie er und er kann sich endlich mir überlegen fühlen.
Aus der Analyseeines vierjährigen blinden Mädchens
Ich sehe Sylvia zum erstenmal vor ihrem vollendeten vierten Lebensjahr. Sie ist körperlich gut entwickelt, von gewinnendem Wesen und ausdrucksvollem, belebtem Gesicht. Ihre Augen sind gross, schön, dunkelbraun und lassen die Blindheit nicht vermuten.
Vorgeschichte. Ihre Eltern sind polnische Juden, der Vater Handwerker, der Lederriemen verfertigt und verkauft, die Mutter geht mehrere Tage wöchentlich in Bedienung.
Sylvia ist seit Geburt blind oder wenige Tage nach der Geburt erblindet. Die ärztliche Diagnose ist Blennorrhoea, eine bei der Geburt erworbene gonorr- hoeische Infektion der Hornhaut der Augen. Der Landarzt ihres Dorfes rät der Mutter das Kind in die Grossstadt zu bringen, wo sich etwas für ihre Augen tun liesse. Die Mutter folgt dem Rat, der Augenarzt rät auch zu einer Operation,
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nach der das Kind vielleicht einen Lichtschein sehen könnte. Sie erkrankt aber im Spital sofort an Scharlach, wird in ein anderes Spital transferiert und nach sechs Wochen schliesslich wieder der Mutter zurückgestellt. Von weiterer Augen- behandlung ist nicht mehr die Rede, obwohl die Mutter darauf dringt. Statt dessen wird Sylvia in das Blindeninstitut aufgenommen, mit dem ich in Ver- bindung stehe. Sie ist weit unter dem Alter der anderen Zöglinge, aber ihr rei- zendes Wesen und ihre ungewöhnliche Intelligenz bestimmen die Leitung des Instituts, ihr die Aufnahme nicht zu verweigern. Die Rückkehr in ihr Heimats- dorf würde gleichzeitig das Aufgeben aller Hoffnung auf weitere Entwicklungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für sie bedeuten.
Als Jüngste des Instituts wird sie von allen Seiten verwöhnt, antwortet aber darauf nicht mit Unart, sondern mit natürlichen guten Manieren und grosser Freundlichkeit. Ihre Intelligenz verrät sich im schnellen Erlernen aller Sprachen, mit denen sie in Berührung kommt. Ihre Muttersprache ist Yiddisch, in den sechs Spitalswochen lernt sie fliessend Deutsch und kurz nach dem Eintritt in das Institut erlernt sie von den polnischen Zöglingen auch polnisch. Nach einer Woche kennt sie alle Kinder des Instituts bei Namen. Sie lernt täglich neue Lieder, hat ausgezeichnetes Gehör und eine klare Singstimme und findet daher überall willige Lehrer. Sie hat einen reichen Wortschatz, unterhält sich über alle möglichen Themen und spricht zum Erstaunen aller, die sie hören, mit voller Vertrautheit von den verschiedensten Städten und Ländern.
Anders als Jakob kommt Sylvia nicht wegen neurotischer Schwierigkeiten in analytische Behandlung. Ihr Verhalten ist besonders normal, sie bedarf scheinbar keiner analytischen Hilfe. Ihre Besuche bei mir dienen nur dem Zweck einer analytischen Beobachtung. "Trotzdem ich mit Deutungen besonders zurückhaltend bleibe und vorhabe, mich vor allem auf Vergleiche mit dem Entwicklungsstand sehender Kleinkinder zu beschränken, entwickelt sich ihr Material in der für die Situation der Kinderanalyse charakteristischen Weise von der Oberfläche des Be- wusstseins bis zu den tieferen Schichten des Unbewaussten.
Realangst und Sicherheit. —Sylvias Mutter liebte das Kind zärtlich und war immer bemüht, es vor Schaden zu bewahren. Sie trug es so viel wie möglich mit sich herum und lehrte es, wenn es alleingelassen war, ruhig auf demselben Fleck zu bleiben, um Gefahren auszuweichen. Wenn die Mutter das Haus verliess, musste Sylvia auf einem Sessel sitzen und warten, bis die Mutter wiederkam, was sie auch ohne Widerspruch tat. Die Mutter gab ihr kein Spielzeug, aus Angst, sie könnte sich damit verletzen; die Mutter fürchtete besonders, sie könnte sich mit irgendeinem Gegenstand in die Augen stechen. Sie erlaubte ihr nicht zu kriechen, aus Angst, dass sie auf dem Fussboden schmutzig werden könnte. Der Erfolg dieser Erziehung ist, dass Sylvia nur gehen kann, wenn jemand sie an der Hand
Psychounalytische Beobachtungen an blinden Kindern 315 führt und angstvoll zu schreien beginnt, wenn man ihre Hand loslässt. Auf einem niedrigen Kindersessel mit Spielzeug auf einem Tischchen vor sich ist sie anfangs nicht einmal imstande, sich vorzubeugen und das Spielzeug anzurühren. Jedem Versuch, sie auf den Boden zu setzen, widersteht sie angstvoll. Sie fühlt sich nur auf einem hohen Sessel, weit vom Fussboden entfernt, in Sicherheit. Sie erklärt mir, dass der Boden schmutzig ist, dass sie niederfallen und sich wehtun könnte, ja dass der Fussboden sie stossen würde. Diese Vorstellungen sind offenbar nur der Niederschlag der mütterlichen Warnungen vor dem Verlassen des Sessels.
Sylvia legt vor allem Wert darauf, nicht frei zu stehen, wenn sie alleingelassen wird. Sie muss auf einem Sessel sitzen oder gegen eine Wand lehnen. Ein solcher, vom Erwachsenen ausgewählter Platz gibt dem Kind eine Vorspiegelung von Sicherheit. Es fühlt sich in der freiwilligen Gefangenschaft weiter geborgen, Sessel oder Wand werden zur Sicherheitszone, das unbekannte Dunkel rings- herum ist voll von drohenden Gefahren. Ein sehendes Kind erwirbt sich das gleiche Gefühl der Beruhigung und Sicherheit aus dem Anblick der vertrauten Objekte ringsherum. Sylvia erfindet ausserdem noch eine weitere Massnahme, um ihr Gefühl von Sicherheit zu stärken: sitzend oder stehend legt sie ihre eigene Hand um ihren eigenen Hals. Wenn niemand anderer sie festhält, so hält sie sich selber fest; d.h. sie übernimmt bereits die Rolle der schützenden Person und beruhigt ihre eigene Angst mit Hilfe einer Identifizierung.
Die gleiche Massnahme ermöglicht ihr im Laufe eines halben Jahres allmählich gehen zu lernen. Eines Tages entdecken die andern Kinder im Garten plötzlich, dass Sylvia alleine geht, stellen sich um sie herum und bewundern sie. Sie ist in grösster Aufregung, hält mit einer Hand das Handgelenk der anderen und führt sich auf diese Weise im Kreis herum. Sie äussert wiederholt, dass ein Foxterrier sie herumführt. Dieser erste Gehversuch ereignet sich am Nachmittag, sie besteht darauf, unaufhörlich weiterzugehen bis ihre Schlafenszeit kommt. In ihrem Schlafzimmer geht sie weiter und befühlt alle Gegenstände, die sie antrifft. Am nächsten Morgen erwacht sie besonders früh, versucht sofort, ob sie noch gehen kann und weint, weil sie glaubt, dass sie es verlernt hat. Sie beruhigt sich, wie sie es wieder zustande bringt, und führt sich in derselben Weise durch mehrere Tage weiter herum. Der Mechanismus ihrer Angstüberwindung ist dabei ganz unzweifelhaft. Sie identifiziert sich mit der Person, von der sie bisher herumge- führt wurde, fühlt sich nicht allein, der Druck am Handgelenkt bestätigt ihr, dass sie wie bisher beschützt ist.
Sylvia benützt dann denselben Mechanismus nicht nur zur Angstbewältigung sondern auch zur selbständigen Wiederholung lustvoller Erlebnisse mit anderen. Sie spielt z.B. ein Spiel mit ihren Händen, wobei eine Hand der Onkel, die andere Hand sie selber ist. Die Sylviahand führt die Onkelhand, sie sagt: „Ich führe
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meinen Onkel herum.” Oder sie legt etwas aus der Onkelhand in die ihre: ‚Mein Onkel hat mir etwas geschenkt.”
Sachbeziehungen.—Mit dem Nachlassen der Warnungen und Ängste entwickelt sich auch ihre Beziehung zu den Gegenständen. Ihr erstes Spielzeug bei mir sind ein Tisch, ein Sessel, Puppenteller, zwei Tiere, ein Hund und eine Kuh, und eine Puppe, die soweit wie möglich dieselben Kleider trägt wie sie selber. Sie erkennt Tisch, Sessel und Teller, sie erkennt die "Tiere als solche, lernt aber nicht, sie von einander zu unterscheiden. Am wichtigsten ist ihr die Puppe, die sie Mama nennt und mit der sie sich viel beschäftigt. Sie erlernt es, die Puppe auszuziehen, orientiert sich aber sonst schlecht an ihr. Sie verwechselt oft die Arme mit den Beinen, kann das Gesicht nicht finden und sucht den Mund der Puppe irgendwo an ihrem Körper. Nur das Haar erkennt sie leicht, vielleicht weil es echtes Haar ist. Sie spielt aber nicht eigentlich mit der Puppe oder dem andern Spielzeug. Am liebsten nimmt sie es in die Hand und schwingt es hin und her oder schlägt es rhythmisch gegen den Tisch. Solche rythmische Bewegungen der Blinden sind allgemein bekannt, sie werden entweder mit dem eigenen Körper oder durch das Hin- und Herschwingen irgendeines Gegenstandes ausgeführt. Gehörswahrnehmungen.—Sylvia ist ausserordentlich aufmerksam auf Geräusche. Sie hört oft mitten in einem Spiel auf, sitzt unbeweglich und horcht. Gewöhnlich ist leicht festzustellen, was sie gehört hat: einen Vogellaut, einen Ruf auf der Strasse, einen Zeitungsverkäufer usw. Es macht bei diesen Gelegenheiten nicht den Eindruck, als ob sie mehr hören könnte als gewöhnlich ist; im Gegenteil, ich mache sie oft auf Geräusche aufmerksam, die sie scheinbar ganz überhört hat. Bei andern Gelegenheiten wieder ist die Feinheit ihres Gehörs überraschend. Sıe fragt z.B. ‚Was hast du von deinem Kleid heruntergestreift?”’, wenn ich mit der Hand über den Stoff gefahren bin oder ‚Bist du müde”, wenn ich mich im Sessel zurücklehne; ‚du hast deinen Mund abgewischt, nicht wahr?” ‚Was schreibst du?’”’ — Kleine unbedeutende Geräusche und Bewegungen sagen ihr sehr viel mehr als sehenden Kindern. Sie hält z.B. einen Blumenstengel in der Hand und sagt, sie mache ‚„sasch’’. Ich verstehe erst nach einer Weile, dass der Saft im zer- quetschten Stengel ein leises Geräusch macht, das sich sehr gut als ‚sasch’” be- zeichnen lässt. Natürlich machen sehende Kinder häufig Beobachtungen der- selben Art, besonders dort, wo es sich um an und für sich lustbetonte Vorgänge handelt. 'Trotzdem kann man sagen, dass Sylvia eine ganze Reihe von Vorgängen, die bei Normalen gesehen werden, mit Hilfe des Gehörs erfasst. Geruchswahrnehmungen. Es ist keine Frage, dass Sylvia den Geruchssinn auf dieselbe Weise zum Ersatz verwenden würde, wenn die Umgebung sie nicht daran hinderte. Blinde Kinder werden, nicht anders als sehende, immer wieder aufgefordert, nicht an Gegenständen zu riechen und keine Bemerkungen über
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 317
Geruch oder gar Gestank zu machen. Sylvias Mutter z.B. weicht der Frage, ob das Kind gerne an Dingen riecht, mit allen Zeichen von Verlegenheit aus; man kann sicher sein, dass sie Sylvia in der Vergangenheit für ihr Interesse an Ge- rüchen häufig getadelt hat. Die Begleitperson, die Sylvia täglich zu mir bringt, pflegt ihre Hand erschrocken und ärgerlich zurückziehen, wenn Sylvia daran riechen wıll und ihren Geruch gut findet. Sylvia teilt spontan die Menschen in gut- und schlechtriechende ein. Wenn sie jemanden gerne hat, fasst sie nach seiner Hand, will daran riechen und sagt zärtlich: „Du riechst gut.” Von jemand be- sonders Bevorzugtem sagt sie einmal: ‚Du riechst ebenso gut wie das letzte Mal, wie ich dich gesehen habe.’ Wenn jemand böse mit ihr ist, behauptet sie, dass er schlecht riecht. In der Zeit der Eingewöhnung im Institut soll Sylvia keine Be- suche von ihrer Mutter bekommen. Die Mutter begleitet aber einmal den Onkel, der Sylvia besucht, und nimmt sich vor, sich ganz still zu verhalten, damit das Kind ihre Anwesenheit nicht merkt. Sylvia betritt das Besuchszimmer, gerät sofort in Aufregung und fragt: „Wo ist meine Mutter? Ich weiss, sie ist da, ich rieche sie!’”’ Sie wendet diese Einteilung nach dem Geruch auch auf Gegenstände an, deren Geruch uns nicht auffällt. Die Wand riecht für sie schlecht, Kissen riechen gar nicht, eine Tuulpe riecht schlecht. Der Geruch von Blumen bedeutet ihr nichts Besonderes. Sie empfindet Ekel vor dem feuchten Stengel der Tulpe und vergisst darüber an den Geruch. Eine Rose erkennt sie am Geruch nicht, weiss aber sofort, was es ist, wie ich sie ihr in die Hand gebe; ebenso erkennt sie eine Lilie an der Form der Blätter. Ich versuche etwas später, sie die Gerüche der Blumen unterscheiden zu lehren, sie findet es aber leichter, sie durch Betasten zu erkennen.
Tastsinn. Ihr Tastsinn ist im übrigen besonders wenig entwickelt. Einer der Gründe dafür liegt in den Mängeln ihrer ersten Erziehung, d.h. in der ängst- lichen Vorsicht der Mutter, die sie von allem Spiel mit Gegenständen abgehalten hatte. Ein anderer wichtiger Grund ist die fast ausschliessliche Verwendung der einen Hand zum Reiben der Augen, das bei ihr einen zwanghaften oder ticartigen Charakter angenommen hat. Für alle übrigen Handlungen, alles Halten und Betasten von Gegenständen ist nur die andere, unbeschäftigte Hand verwendbar. Das Befühlen von Gegenständen scheint für sie nicht besonders lustvoll zu sein, man muss sie ständig dazu auffordern und ermutigen. Immerhin ist sie imstande, Perlen aufzufassen, ihre Puppe auszukleiden und ihr mühsam und mit Hilfe Kappe und Schuhe wieder anzuziehen. Allmählich lernt sie, ihre eigenen Schuhe auszuziehen und macht Versuche, die Schuhbänder durch die Löcher zu ziehen. Nach mehreren Monaten erst beginnt sie, die Gegenstände meines Zimmers zu betasten. Sie erkennt, was sie täglich gebraucht, Möbelstücke, Teller, Bücher, ein Notizbuch. Die übrigen Dinge bleiben ihr fremd. Die Statue eines Mannes
313 Dorothy Burlingharm nennt sie einen Baum, ein Heizkörper ist ein Wagen, ein Schloss an der 'Türe ein Haken. Verfolgt man ihre Assoziationen bei dieser Namengebung im einzelnen, so stellt sich heraus, dass sie korrekt sind; nur die Verschiedenheit der Teast- assoziationen von unseren Assoziationen bei den Gesichtseindrücken machen sie für uns erstaunlich. Für Sylvia ist diese falsche Namengebung ein Übergangs- stadium, in dem sie lernt, dass die meisten Gegenstände nicht das sind, was sie im ersten Augenblick zu sein scheinen. Der Wegfall der hemmenden Ängste macht dann ihren 'Tastsinn immer verwendbarer. Ein Jahr später z.B. spricht sie davon, dass meine Hände rauh sind und rät mir, Coldcream zu gebrauchen; oder sie spricht über die Venen an meinen Händen. Zu dieser Zeit ist sie bereits imstande, mit den Fingerspitzen in kaum merkbarer Berührung zu tasten.
Ausser den uns vertrauten Sinneswahrnehmungen zeigt Sylvia zu dieser Zeit
auch schon ein Gefühl von der Nähe von Gegenständen, das als eine Fähigkeit der Blinden bekannt ist, ohne dass man sicher weiss, auf welchem Wege es zustande kommt. Sie lässt sich z.B. von mir auf einem Sessel im Zimmer herumschieben, was sie „Eisenbahn spielen’ nennt. Sie sitzt mit den Händen im Schoss, streckt aber die Hände aus, wenn wir einem Möbelstück in die Nähe kommen und sagt: „Etwas ist da; was ist es?” Manche Autoren meinen, dass diese und ähnliche Wahrnehmungen vieler Blinder Hautsensationen, besonders der Stirnhaut sind, an der Veränderungen der Luftströmungen gespürt werden; andere meinen, dass es sich um akustische Eindrücke handelt. Orientierung. Alle Schwierigkeiten der Neuorientierung in einer nicht vertrauten Umgebung zeigt Sylvia, wie ich mit Beginn des Sommers aus der Stadtwohnung in ein Landhaus umziehe. Sie ist besonders erregt, lässt sich immer wieder be- stätigen, dass sie an einem fremden Ort ist, wiederholt den Namen, um ihn sich einzuprägen, und sagt sich immer von neuem alle Einzelheiten ihres neuen Weges vor. Sie macht den Eindruck, als ob sie sich an die Worte und Namen anklam- mern wollte, um sich die Orientierung zu erleichtern. Eine Decke, die wir in der Stadtwohnung gebraucht haben, stürzt sie plötzlich wieder in neue Zweifel, ob wir nicht doch am alten Ort sind. Sie muss wie zwanghaft alle Fragen und Er- klärungen von neuem wiederholen, umsich den Ortswechsel begreiflich zu machen. Anderseits macht es ihr gar keine Schwierigkeiten, am Ende des Sommers sich wieder in meiner Stadtwohnung zurechtzufinden. Sie geht beim ersten Besuch dort geradewegs auf den Sessel zu, den sie an derselben Stelle wiederfindet und sagt: „Hier ist unsere Eisenbahn.’
Wir sind gewohnt, den erwachsenen Blinden eine RE gute Orientierung im Raum zuzutrauen; die Entwicklung dieses Orientierungsvermögens lässt sich bei einem blinden Kleinkind durch alle Schwierigkeiten hindurch verfolgen. Ich führe z.B. Sylvia durch mehrere Wochen täglich eine Treppe hinauf in das im
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 319
ersten Stock gelegene Zimmer. Obwohl sie Interesse für die Stufen dieser Treppe zeigt, die sie ihrer Rundung wegen ‚‚die komischen Stufen” nennt, gelingt es ihr doch ın dieser ganzen Zeit nicht sich zu merken, an welcher Stelle die Treppe beginnt und endet. Zur Zeit, in der sie schon allein gehen kann, verirrt sie sich häufig im Zimmer. Sie findet den Weg vom Tisch zum Sofa nicht, obwohl die Entfernung kaum zwei Meter beträgt. Sie merkt sich als Ausgangspunkt einen Teppich, der in der Mitte des Zimmers liegt. Wenn sie vom Teppich abkommt, weiss sie, dass sie sich verirrt hat und sucht mit den Füssen den Teppich, um sich von neuem zurechtzufinden. Es ist natürlich in Sylvias Fall möglich, dass ihre ganze Aufmerksamkeit von dem Problem des Alleinegehens in Anspruch genommen ist, so dass für die Aufgabe der Orientierung wenig übrig bleibt. Es ist auch möglich, dass ihr Wunsch, geführt und beschützt zu werden, dem Er- lernen einer besseren Orientierung im Wege steht. Bei anderen blinden Kindern konnte ich beobachten, dass in jedem Zustand von Angst und Erregung die schon erlernte Orientierungsfähigkeit völlig verloren geht. Offenbar ist die Orien- tierung im Raum ohne Hilfe des Sehens eine Konzentrationsleistung, die nur zustande kommen kann, wenn psychisches Gleichgewicht herrscht und die Affekte sich nicht störend einmengen. Anderseits stört auch die Konzentration des Affekts auf einen Erwachsenen die Orientierung im Raum. Ich spiele z.B. mit Sylvia ein Spiel, bei dem ich Bausteine eine Strecke weit wegwerfe und sie auf- fordere zu horchen, wo sie auffallen, um sie dann wiederzuholen. Ich merke dabei, dass sie das Geräusch des fallenden Steines nur dann wahrnimmt, wenn er in meiner nächsten Nähe niederfällt. Die gespannte Aufmerksamkeit, die sie auf meine Person und alles, was damit zusammenhängt, richtet, ist so ausschliesslich, dass der übrige Raum kaum für sie vorhanden ist und die dort vorfallenden Ge- räusche ihr uninteressant bleiben. Sie zeigt hier eine Aufmerksamkeitseinstellung, die wir in der ersten intimen Beziehung des normalen Kleinkinds zur Mutter an anderer Stelle? verfolgt haben.
Verhalten zur Aussenwelt. Sylvias Beziehung zu den Erwachsenen ihrer Umge- bung gleicht in vielen Punkten der bei Jakob geschilderten. Der auffälligste Charakterzug ihres Wesens ist ihre grosse Freundlichkeit gegen jedermann. Im folgenden ein anschauliches Beispiel dieser Art:
Ich verschaffe eine Lehrerin, die sich mehrmals wöchentlich mit Sylvias Un- terricht beschäftigen und besonderes Gewicht auf ihres Sinnesausbildung legen soll, um auf diese Weise ein Gegengewicht gegen die fast rein intellektuelle An- regung zu schaffen, die sie im Blindeninstitut bekommt. Das erste Zusammen- treffen zwischen Sylvia und dieser Lehrerin soll in meinem Haus stattfinden.
?D. Burlingham: Die Einfühlung des Kleinkindes in die Mutter. Imago, XXII, 1935.
320 Dorothy Burlingham
Sylvia ist böse und erschrocken, wie ich ihr erzähle, dass die Lehrerin zu uns kommen wird. Sie will nichts von ihr wissen und verlangt, dass sie nicht kommen soll. Als die fremde Frau tatsächlich erscheint, packt Sylvia hilfesuchend meine Hand und lässt sie während der ganzen Unterredung überhaupt nicht los. Er- staunlich ist aber, dass sie gleichzeitig auf das Freundlichste mit der Lehrerin spricht, sie fragt, was sie bei ihr lernen wird, und sehr bereit scheint, mit ihr zu gehen. Die Lehrerin kann nur überzeugt sein, dass Sylvia sich auf den Unter- richt bei ihr freut, und ich wäre der gleichen Meinung gewesen, wenn nicht der Druck von Sylvias Hand das Gegenteil ausgesagt hätte. Der gleiche Vorgang wiederholt sich dann vor der ersten Unterrichtsstunde, zu der die Lehrerin sie bei mir abholt. Sylvia ist erregt und ängstlich, sagt aber: ‚‚Bitte, sag ıhr nicht, dass ich nicht zu ihr kommen will, sie würde traurig darüber seın.’’ Beim Eintritt der Lehrerin verändert sie sich vollkommen, umarmt sie, will sie am ganzen Körper betasten und verlangt, mit ihr zu gehen. Dieses Übermass an Freundlich- keit ist offenbar reaktiv und entspricht der Abwehr ihrer ängstlichen und feind- seligen Gefühle. Sie identifiziert sich mit der Person, der ihre unfreundlichen Gedanken gelten, und bedauert sie auf Grund dieser Identifizierung; sie selber wäre sehr traurig, wenn jemand sich weigerte, mit ihr zu gehen. Ebenso wie Jakob hat sie bereits erfasst, wie wichtig es ist, sich die Zuneigung der Umwelt zu erhalten. Gleichzeitig ist dieser plötzliche Übergang zu der bis dahin abgelehnten Person noch in einer anderen Beziehung lehrreich. In dem Augenblick, in dem Sylvia meine Hand loslässt und zu der neuen Lehrerin übergeht, scheine ich nicht mehr für sie zu existieren. Die neue Beziehung nimmt sie vollkommen gefangen, so dass für die vorherige zu mir im Augenblick kein Raum mehr übrig bleibt. Beobachtungen dieser Art lassen sich an blinden Kindern beliebig oft wiederholen. Ähnlich wie Schwerhörige oder Taube verbrauchen sie einen grossen Aufwand an seelischer Konzentration, um den Kontakt mit einer anderen Person herzustellen. Die affektive Verbindung mit dem Objekt kann die Wahrnehmung der psychischen Reaktionen des Anderen nicht entbehren; beim Wegfall einer Gruppe von Sinneswahrnehmungen wird umso grössere Aufmerksamkeit auf alle anderen konzentriert. Ihre Zuwendung erscheint darum in vielen Fällen eine sehr einseitige, in einer gegebenen Situation nur auf eine einzige Person oder eine einzige Beschäftigung gerichtete zu sein. Es ist schwer zu entscheiden, ob dieser Vorgang sich nur auf dem Gebiet der Sinneswahrnehmung abspielt oder ob er auch auf das Affektleben der Blinden übergreift. Ich komme an anderer Stelle noch auf die Entwicklung der affektiven Objektbeziehungen be1 Sylvia zurück.
Begriffsbildung. Sylvias ausgezeichnete intellektuelle Entwicklung wird vor allem an ihrem reichen Begriffsleben und ihrem Wortschatz deutlich. Letzterer ist
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 321
für ıhr Alter so ungewöhnlich, dass in vielen Fällen der Verdacht entsteht, sie gebrauche die Worte nur ohne eigentlich ihren Sinn zu verstehen. Ich frage sie z.B., was Eifersucht ist, da sie das Wort selber gebraucht. Sie meint erst, sie wisse es nicht, spricht aber gleich darauf darüber, dass es ihr nicht recht ist, dass Jakob auch zu mir kommt; sie möchte lieber die einzige sein, die herkommt. Einen Augenblick später behauptet sie, ein Lehrer hätte gesagt, dass Jakob ge- storben sei. Ihre Assoziation lässt also keinen Zweifel darüber, dass ihr der Be- griff der Eifersucht verständlich ist. — Sie spricht von der Dunkelheit. ‚Es ist dunkel, ein Zimmer ist dunkel; hier (sie meint, bei mir) ist es hell. Ich kann sehen.” Hier scheint es, dass der Begriff Dunkelheit für sie ein bestimmtes Gefühl bedeutet. Was ‚‚dunkel”” wirklich bedeutet, ıst ihr offenbar nicht zugänglich. — Ein anderes Mal sagt sie: „Meine Mutter kann sehen, mein Vater kann sehen, Sylvia kann auch sehen.’’ Auf meine Erklärung, dass sie blind ist, antwortet sie nur: „Ich kann sehen.” Hier bedient sie sich derselben Verleugnung wie Jakob, hinter der aber doch die Vorstellung steht, dass ihre Eltern einen Sinn mehr haben als sie. — Sie möchte lesen lernen, ist aber nicht zufrieden, wenn ich sie vertröste, dass sie später ebenso lesen wird wie die andern Kinder im Institut. Sie möchte meine Bücher lesen. Sie fragt: „Bin ich blind? Was ist das, blind?’ Sie hat verstanden, dass sie blind ist, d.h. dass sie gewisse Dinge nicht kann, die andere tun können. Darüber hinaus hört ihr Verständnis auf. — Einmal kommt in einer Unterrichtsstunde bei ihrer Lehrerin ein gleichaltriges sehendes Kind zu Besuch und setzt sich mit ihr an den Tisch. Sylvia hebt einen Gegenstand in dieHöhe und zeigt ihn dem fremden Kind: ‚Schau, wie schön das ist!”” Sie— zeigt sich also bereits imstande, sich in die Fähigkeiten des sehenden Kindes hin- einzuversetzen. — Ein anderes Mal erzählt sie, dass ihr Onkel sie photographiert hat und das Bild ihrem Vater schicken wird. Auf meine Frage, was ein Bild ist, antwortet sie ehrlich: ‚Ein Stück Papier.’ Später bittet sie um das Bild und sagt: „Ist sie nicht schön!”’ Dann setzt sie hinzu: „Es ist aus Papier, nein aus Pappendeckel. Was ist darauf? Ihr Bild?” Sie hebt das Bild auf und reibt es gegen ihre Augen. ‚Jetzt habe ich ein Bild aufgenommen.’’ Sie weiss also, dass ein Bild etwas mit den Augen zu tun hat und glaubt, Augen und Bild müssen sich berühren, damit ein Bild entsteht. Ihre Handlung gibt uns einen Zugang zu ihren wirklichen Begriffen, die Frage ‚Ist sie nicht schön?” entspricht nur dem Versuch einer gewaltsamen Anpassung an das Denken der Sehenden. — Sie spricht von einem Auslagefenster: „Das ist ein Zimmer, in dem viele Sachen sind.’’ — Sie fragt, ob man einen Bleistift zerreissen kann und, wenn das nicht geht, was man sonst zerreissen kann. Sie zerreisst ein Stück Papier, das ich ihr gebe, weiss also, was zerreissen bedeutet. — Einen grünen hölzernen Hasen nennt:
sie silbern und schimmernd; diese Worte haben für sie keine eigene Bedeutung, 22
322 Dorothy Burlingham
nur eine assoziative Bedeutung von den Gegenständen her, bei denen sie sie gebrauchen gehört hat.
Ich habe Gelegenheit, Sylvia während eines Gewitters zu beobachten. Sie tut zuerst, als ob sie es nicht bemerken würde, verlangt ein Buch und spielt, dass sie mir vorliest; sie liest aber eine Geschichte über ein Gewitter. Sie fragt dann, ob das Gewitter ein grosser Vogel ist, ob es einen Mund hat, ob der Regen aus seinem Mund kommt und ob der Wind gehen kann. Vor einem lauten Donner- schlag erschrickt sie und versteckt den Kopf in meinem Schoss. Sie verlangt, dass ich nicht aus dem Fenster schaue, bemerkt sofort, wenn ich trotzdem eine kleine Wendung mit dem Kopf mache, um hinauszusehen und sagt angstvoll: „Du sollst nicht hinausschauen.’’ Ich frage, was sie damit meint. ‚Du sollst nicht mit deinen Augen schauen”, sagt sie, setzt sich dann ihre Puppe auf den Schoss und beugt den Kopf zu ihr hinunter, als ob sie sie anschauen würde. Dann wendet sie sich zu mir, als ob sie mich anschauen würde. ‚Jetzt schaue ıch dich an.” Sie setzt ihre Puppe vor ein kleines Puppenklavier und sagt: ‚Meine Puppe schaut das Klavier an.’ Sie beugt sich über die Puppe, als ob sie auch schauen würde, verlangt dann ein Bilderbuch, liest auswendig ein Gedicht daraus vor. Sie zeigt mit diesen Beispielen, dass sie aus der Stellung der Menschen errät, wenn sie etwas anschauen, und dass sie offenbar das Einnehmen oder Verändern solcher Stellungen aus kleinsten Anzeichen erraten kann. Ebenso versteht sie, dass Sehende die Augen gebrauchen, um zu schreiben; sie demonstriert es, indem sie Papier und Bleistift verlangt und wie normale Kinder zu kritzeln beginnt, dann aber mit Braillezeichen fortsetzt.
Sylvia fürchtet sich eines Tages vor Hundegebell, das man von der Strasse hört. Sie sagt halb weinend: ‚Der Hund wird mich schlagen, er ist böse mit mır, weil mein Haar zerrauft ist.’”’ Sie zeigt mit der Hand, wie der Hund sie schlagen wird. — Sie hört einen Hahn krähen und fragt, ob er an der Kette liegt. — Ein Pferd hat für sie einen Kopf, Schwanz, Augen, Hände und Finger. Ihre Tier- vorstellungen erinnern an die Vorstellung Jakobs von einem Pferd, dessen Körper nach dem Vorbild seines menschlichen Körpers gedacht ist. Der an der Kette liegende Hahn geht auf die Verwechslung mit einem Hund zurück, der Hund ist für sie eine Lebewesen wie sie es selber ist. Sie hat bisher wenig Gelegenheit gehabt, Tieren in die Nähe zu kommen und die Unterschiede zwischen ihnen und den Menschen einerseits und zwischen den verschiedenen Tiergattungen ander- seits kennen zu lernen. Sie baut daher ihre Vorstellungen einfach auf der Basıs des ihr bekannten menschlichen Körpers auf. Es ist auffällig, dass sie auch leblose Gegenstände nicht viel anders behandelt. Sie fragt, ob eine Lampe sprechen kann und ob die Lampe einen Hut (den Lampenschirm) trägt. Sie fährt zwar täglich in der Strassenbahn, fragt aber, ob die Strassenbahn Hände hat. Sie beklagt sich
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 323
einmal, dass der Wind ihren Hut fortgetragen hat, und verlangt eine Schnur, um damit den Wind anzubinden; wahrscheinlich hatte ihr jemand geraten, ihren Hut anzubinden, da sie sich aber den Wind als Person vorstellt, meint sie, man könnte besser ihn anbinden, damit er sie in Ruhe lässt. Auch abstrakte Begriffe wie Win- ter, Sommer, Lärm sind für sie Menschen, die sie zu sich ins Bett nehmen möchte. Einmal findet sie auf einer Entdeckungsreise durch mein Zimmer eine Pinzette auf dem "Tisch. Sie wird sehr aufgeregt, öffnet und schliesst sie wieder- holt und ist ganz sicher, dass sie einen Vogel in der Hand hat. Die offenen Spitzen erinnern sie an den Schnabel eines Vogels und dieses eine Detail genügt, um ihre Phantasie in Bewegung zu setzen und ihr einen ganzen Vogel vorzuzaubern. Sie zeigt dabei ein für alle blinden Kinder charakteristisches Verhalten. Das Erkennen von Gegenständen ist für sie eine so schwierige Leistung, dass sie beginnen, es sich leicht zu machen; wenn sie eine einzige Eigenschaft des Gegenstandes erfasst haben, forschen sie nicht weiter sondern überlassen es ihrer Phantasietätigkeit, die Lücken auszufüllen. Daraus ergibt sich einerseits ein ständiger Anreiz für Phantasietätigkeit, der dem Reichtum des Phantasielebens der Blinden zugrunde liegt, anderseits aber eine Inkorrektheit des Realdenkens, die den Grund für die oft getadelte geringe Wahrheitsliebe der blinden Kinder abgibt.
Das Verwischen der Unterschiede zwischen der Menschenwelt und dem Tier- reich einerseits, den Lebewesen und den unbelebten Dingen anderseits erinnert an die Fabeln, die in der Kinderliteratur eine so grosse Rolle spielen. Das normale Kind verwendet personifizierte Tiere oder Gegenstände, um an ihnen in durch- sichtiger Verkleidung die Probleme abzuspielen, die ihm in unverhüllter Dar- stellung an den wichtigen Objekten seiner Umwelt Angst machen. Die Ver- schiebung, deren es sich dabei bedient, ist aber eine andere als die vom blinden Kind gebrauchte. Das blinde Kind ist durch die Bedingungen seiner Entwick- lung, d.h. durch die Einschränkung seiner Sinneswahrnehmungen und die Er- schwerung des Kontakts mit der Aussenwelt, durch eine längere Periode in seinem Denken egozentrisch als das sehende Kind. Seine Objektvorstellungen sind daher weniger durch seine Wahrnehmungen der Aussenwelt als durch seine eigenen Körpervorstellungen bestimmt. Ich verweise hier auf die interessante Studie: ‚‚Plastische Arbeiten Blinder,’”? in der die Autoren nach Versuchen, die sie in demselben Wiener Blindeninstitut angestellt haben, unter anderem nach- weisen dass ‚für den Blinden die Empfindung der Muskelbewegung bei seiner Gestaltvorstellung von wesentlicherer Bedeutung ist als die äussere 'Tastwahrneh- mung’. (S.44.) Sylvia liefert weitere Beweise für diese Annahme in ihrer Fähig-
® Ludwig Münz u. Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blinder. Verlag Rudolf M. Rohrer, Brünn, 1934.
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keit, Haltung und Gesichtsausdruck anderer Personen mit schauspielerischer Geschicklichkeit darzustellen. Sie verändert ihre Stimmlage, je nachdem, ob sie von ihrem Vater oder ihrer Mutter spricht. Wenn sie von ihrer Grossmutter erzählt, geht sie gebückt und zitternd durch das Zimmer und gibt eine glänzende Darstellung einer sehr alten Frau. Die erstgenannte Leistung beruht natürlich auf Gehörseindrücken, die letztere könnte dadurch erklärt werden, dass sie den Körper der Grossmutter gefühlt, ihr Zittern gespürt hat. Sie beginnt aber auch, meinen Gesichtsausdruck nachzuahmen, lächelt so wie ich und macht andere Veränderungen meiner Züge nach. Hier handelt es sich offenbar um den Zusam- menhang bestimmter Stimmungen mit den dazugehörigen Körpersensationen, die am eigenen Körper erfahren, auf den andern Menschen übertragen und dann wieder am eigenen Körper nachgeahmt werden.
Sylvias Trieb- und Affektleben. Ihre Mutterbeziehung.—In der ersten Zeit ihres Aufenthalts im Blindeninstitut zeigt Sylvia keine direkten Zeichen von Sehnsucht nach ihrer Mutter. Sie wird fast nie allein gelassen, die Lehrer und älteren Kinder bemühen sich ständig, sie zu unterhalten. Trotzdem verlangt sie von Zeit zu Zeit, dass man sie auf ein Fensterbrett setzt, und ist erst zufrieden, wenn sie ihren Wunsch durchgesetzt hat. Die Erklärung für dieses im ersten Augenblick unverständliche Verhalten ist naheliegend. Sie erinnert sich an die Zeit, zu der sie mit Scharlach im Infektionsspital gelegen ist, wo die Mutter sie bei ihren Besuchen nur durch ein Fenster sehen durfte. Sie versucht sich also durch das Sitzen auf dem Fensterbrett wieder das Gefühl zu verschaffen, dass die Mutter in der Nähe ist. Auch wenn sie davon spricht, dass sie später ihre Eltern im Heimatdorf besuchen wird, sagt sie: ‚Sie sitzen bestimmt am Fenster und schauen, ob ich komme.”
In ihren Stunden bei mir nehmen die Gedanken an die Mutter die erste Stelle ein. Sie nennt die Puppe, die ich ihr vorbereite, sofort ‚„‚Mama’’ und benützt sie dazu, um im Spiel entweder sich selbst oder ihre Mutter darzustellen. Sie erklärt mir, dass die Puppe zwar nach ihr ruft, dass sie aber trotzdem nicht zu ihr kommt; offenbar wiederholt sie damit eine Ermahnung, die sie von der Mutter gehört hat. Sie lässt die Puppe gegen den Tisch schlagen und sagt: ‚Schau, was sie treibt!” Sie spielt, dass sie mit ihrer Mama ausgeht, dass sie eine Reise mit ihr macht. Sie fragt die Puppe, ob ihr die Augen wehtun, und legt in die Frage einen Ton von Zärtlichkeit und Fürsorge, wie sie ihn von ihrer Mutter gehört hat. Sie berichtet, dass Mama bald imstande sein wird, allein zu gehen und dass sie sich die grösste Mühe geben wird, allein zu gehen. Wenn ich sie für irgendeine Leistung lobe, sagt sie plötzlich sehr aufgeregt: „Jetzt kann ich zu meiner wirk- lichen Mutter zurückgehen.” In allen diesen Spielen stellt die Puppe ganz un- zweifelhaft sie selbst dar. Zu andern Zeiten aber ist die Mamapuppe ihre Mutter.
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Sie agiert mit ihr Szenen aus der Vergangenheit oder Wünsche, die sich auf die Zukunft beziehen: „Mama bringt mir etwas Schönes mit.”’ Dann nimmt sie die Puppe auf den Schoss, küsst und umarmt sie und nennt sie ihre wunderschöne Mama. }
Ein anderes Mal klagt sie, dass sie nicht gerne im Institut ist. „Ich bin nur hier gerne, weil meine Mutter hier ist.”’ Zu dieser Zeit bedeutet die Mamapuppe etwas sehr Reales für sie. Sie lässt die Puppe im Spiel über den Tisch gehen. „Ich komme zu dir, ıch gehe ganz langsam mit meinen Füssen, ich bin schon bei dir, guten Tag’; darauf legt sie sich mit ihrer Mamapuppe zum Schlafen auf das Sofa. — Viel später einmal erfindet sie ein bestimmtes Spiel mit einem Ball. Sie nennt den Ball ıhr Kind und wirft ihn fort, sucht ihn dann und ist sehr un- glücklich, wenn sie ihn nicht gleich findet. Wie sie ihn schliesslich wiederfindet, küsst und umarmt sie ıhn, kann sich aber nicht entschliessen weiterzuspielen, um ihn, ihr liebes Kind, nicht wieder zu verlieren. Statt dessen legt sie sich mit dem Ball in den Armen auf das Sofa. Es ıst deutlich, dass das Spiel "Trennung und Wiedervereinigung zwischen Sylvia und ihrer Mutter darstellt, sie wirft den Ball fort so wie sie sich von ihrer Mutter weggestossen fühlt.* Auch die Funktion dieses Spieles zu dieser bestimmten Zeit ist zu erraten. Man hat sie im Institut aus der Küche, in der sie sich gerne aufhält, hinausgeschickt, und sie klagt, dass niemand sie gerne hat und jeder sie loswerden will. — Später erfindet sie neue Variationen für das Ballspiel. Wenn sie den Ball selber nicht wieder- finden kann, muss ich ihn ihr geben und sie begrüsst ihn dann als ihr Kind. Dann verlangt sie die Mamapuppe, gibt ihr den Ball und sagt: ‚Die Puppe hat ein Kind.” Sie legt die Puppe auf das Sofa und den Ball neben sie. ‚Sie geht mit ihrem Kind ins Bett.” Sie legt sich selbst neben die Puppe auf das Sofa. „Der Vater soll sie nicht stören; er stört mich. Es ist so schön, wenn ich bei meinem Kind bin.” Sie drückt die Puppe an sich. ‚Sie wird mich nie verlassen.’ Dann ermahnt sie ihr Kind, still zu sein und sie nicht zu stören und sagt mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung: ‚‚Jetzt ist es schön.” Sıe bringt also mit Hilfe ihrer eigenen Person, der Puppe und dem Ball ihre ganze Familiensituation zur Darstellung, vor allem ihren Wunsch, mit der Mutter allein zu sein und die Störung durch den Vater auszuschliessen.
Neben dieser Darstellung im Spiel spricht sie auch ganz direkt über ihre Eltern, fragt, wann sie sie besuchen werden und wann sie wieder nach Hause fahren kann. Sie macht sich Gedanken darüber, warum man sie ins Blindeninstitut gebracht hat. „Meine Mutter hat mich weggeschickt, weil sie mich nicht gern hat, weil sie mich los sein will.’ Ein andermal sagt sie, ‚‚damit ich hier sterbe.”
’, Br
* Vgl. Jenseits des Lustprinzips, das Spiel, ‚‚o-o-0.’’ Gesammelte Schriften, Bd. VI.
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Dieses Material über Sylvias Mutterbeziehung unterscheidet sich in keiner
Weise nach Inhalt oder Darstellung von dem analytischen Material eines sehenden Kindes. Vielleicht würde bei dem Heimweh eines vollsinnigen Kindes das Aus- sehen der Mutter, die Erinnerung an ihre Gesichtszüge, ihre Kleidung usw. irgendwie in den Vordergrund treten. Die Affekte, die dabei eine Rolle spielen, die Liebe zur Mutter, der Wunsch nach ihrem Alleinbesitz, die Eifersucht auf den Vater, das Bösesein usw. sind aber durch diesen Ausfall in keiner Weise beeinflusst. Traumatische Erlebnisse. Sylvia bringt in ähnlicher Darstellung eine Menge Material über ihre Augenbehandlung und ihre Spitalserlebnisse. Sie steckt sich einen Bleistift unter den Arm und erzählt auf diese Weise, dass man im Spital ihre Temperatur gemessen hat. Sie erzählt, dass man sie im Spital gebadet und dann zur Mutter getragen hat. ‚Sie hat mich auf die Wange und den Arm ge- küsst.’’ — Ein Buch, mit dem sie spielt, stellt plötzlich eine Wärmflasche dar, die sie für einen an Magenschmerzen erkrankten Lehrer im Blindeninstitut vor- bereiten will. ‚„‚Er ist krank und ich muss ihn pflegen.” „Ein Doktor ist gekommen, hat ihm etwas in die Augen getropft und etwas an seinen Augen gezwickt.” Sie spielt mit einem 'Taaschentuch und sagt: ‚Du bist in meinem Taschentuch, ich bin in einem Taschentuch.” Sie legt sich das Taschentuch über Nase und Mund. Ich vermute, dass sie eine Narkose darstellt, die sie erlebt hat, und erfahre auch auf meine Nachfrage, dass man tatsächlich eine Augenuntersuchung an ihr in der Narkose vorgenommen hat.
Sie findet unter dem Spielzeug einen Fussball, will aber nicht damit spielen, ihn nur im Arm halten. Sie sagt: „Er hat ein Kleid an.’ Sie nennt den Schlitz, an dem der Überzug zusammengeschnürt ist, sein Auge und steckt einen Finger in die Öffnung. Sie spielt, dass sie etwas in die Öffnung tropft und dann die beiden Seiten zusammenzwickt. Nach diesem Spiel erzählt sie zum erstenmal ganz direkt, dass sie wegen ihrer Augen nach Wien gekommen ist. Ein Doktor hätte sie auf ein Klavier hinaufgesetzt und sie gefragt, ob sie sehen oder hören könne. „Ich habe gesagt, dass ich nicht sehen kann, aber hören kann ich.” Sie reibt sich die Augen, wie sie immer tut, spielt aber gleichzeitig, dass sie etwas vom Tisch nimmt, offenbar ein ärztliches Instrument und sich damit in die Augen sticht. Dann ver- langt sie Marie, eine alte zerbrochene Puppe mit eingefallenen Augen und nur einem Bein. Sie spricht zu Marie und erklärt ihr, dass sie beim Doktor bleiben muss, bis ihr zweites Bein nachgewachsen ist. Gleich darauf fasst sie das eine Bein und einen Arm der Puppe an und versichert, dass sie jetzt schon zwei Beine habe. Sie nimmt noch einmal die Instrumente vom Tisch, spielt, dass sie der Puppe in die Augen sticht, und sagt dazu: ‚Jetzt kannst Du wieder zu deiner Mutter gehen, die Augen tun Dir nicht mehr weh.” Sie sagt, man solle Marie
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 327
zum Doktor führen: „Er zwickt ihre Augen zusammen, dann ist sie gesund und kann sehen.’’ Ich meine, dass ich noch gar keine Veränderung an Marie merke, aber sie besteht darauf, dass sie ganz gesund geworden ist. — Ein anderes Mal reibt sie Maries Augen mit einer Salbe ein, damit sie gesund werden. Sie spielt, dass sie selbst der Doktor ist und wiederholt eine Bemerkung, die ich früher gemacht habe: ‚Man kann nicht alles wieder gesund machen.” Sie setzt aber aus eigenem hinzu: ‚Die Augen werden sich bewegen und dann werden sie gesund sein.’’ Später sagt sie: „Der Doktor kann ihr nicht helfen, sie soll wieder zu ihrer Mutter zurückgehen.’ Sie unterbricht sogar ihr Augenreiben und reibt statt dessen an den Augen der Puppe.
Dieses Stück des Materials zeigt ganz eindeutig, welchen Eindruck die Be- handlung ihrer Augen auf Sylvia gemacht hat. Ihre andere Erkrankung, der Scharlach, tritt dagegen in den Hintergrund; aus dem Material weisen nur zwei Einzelheiten, das Thermometer und die Wärmflasche, auf ihn hin. Ihr drin- gender Wunsch, dass ihre Augen kuriert werden sollen, scheint weniger mit dem Sehen selbst zu tun zu haben als mit der Vorstellung, dass sie der Augen wegen von der Mutter getrennt ist und nach geglückter Behandlung wieder zu ihr zurückfahren kann. Wenn sie anderseits nicht geheilt werden kann, dann kann sie auch zu ihrer Mutter zurückgehen. Sie ist der Mutter böse für die Trennung und nimmt, wie alle Kinder tun, an, dass die Mutter sie nicht fortgeschickt hätte, wenn sie sie lieb genug hätte. Wir werden aus dem jetzt folgenden Material sehen, dass sie die T'rennung auch als Strafe für ihre Unarten empfindet.
Onanie und Kastrationsangst. Sylvia reibt, wie bereits geschildert, zwanghaft ihre Augen, was die Umwelt als eine grobe Unart an ihr tadelt und ihr mit Er- mahnungen und Drohungen abzugewöhnen versucht. Nach einer Strafpredigt, die man ihr im Institut gehalten hat, erzählt sie: ‚‚Wenn ich es wieder tue, dann wird man mich in den Keller stecken. Stella hat mich geschlagen und in den Keller geschickt, wo die Ratten und Mäuse sind.”’ Man droht ihr, dass sie krank und hässlich werden wird, wenn sie weiter an den Augen reibt und dass niemand sie gerne haben wird. Die Tante, die sie sehr gerne hat und die sie manchmal besuchen kommt, droht, nicht mehr zu kommen, wenn das Augenreiben nicht aufhört. Nach dieser letzten Drohung gelingt es Sylvia, sich für eine Weile zu beherrschen, statt dessen entwickelt sie aber sofort einen Augentic. Die Art und Weise, wie Sylvia die Hand, die dem Augenreiben dient, von fast allen andern Verrichtungen ausschliesst, und die Art, wie die Umwelt auf ihr Augenreiben reagiert, lassen vermuten, dass es sich hier, wie bei vielen blinden Kindern, um eine Verlegung nach oben handelt, das heisst, dass das Augenreiben ein Onanie- äquivalent ist. Ich schlage vor, dass sie sich im Institut vom Augenreiben zurück- halten soll, um die andern Leute nicht böse zu machen, dass sie aber statt dessen
ATER
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bei mir ihre Augen reiben kann so viel sie nur will. Sie macht von meiner Er- laubnis Gebrauch, nachdem sie vorher noch einmal zu sich sagt: ‚‚Es schadet mir nichts.’’ Ich beruhige sie weiter und versichere, dass ihre beiden Hände gute Hände sind, auch die Hand, die immer an den Augen reibt. Damit ist sie nicht einverstanden. Sie sagt: ‚Meine Hände sind gut, nur diese Hand ist schlecht.” Sie spielt mit der Puppe Marie, tut als ob sie mit ihr zu Bett geht, schiebt sie aber plötzlich nach rückwärts. „Marie darf nicht zu mir kommen, weil sie immer ihre Augen reibt. Ich werde sie wegschicken, sie kann zu irgendjemand anderem gehen.” Sie könnte nicht deutlicher der Vorstellung Ausdruck geben, dass die Mutter sie von sich fortgeschickt hat, um sie für diese Sünde oder Unart zu be- strafen.
Sylvias Männlichkeitswunsch und Penisneid. Sylvias unbewusstes Material ent- wickelt sich von diesen Anfängen aus ohne Schwierigkeiten weiter. Sie erzählt eine Geschichte von einer Frau, die einen kleinen Jungen hat, der schlimm ist und alle Blumen zertritt. Während sie noch spricht, legt sie eine Blume, die sie in der Hand gehalten hat, auf den Fussboden, tritt darauf und sagt: „Ich bin ein Junge.”
Sie erzählt, dass ein Doktor ein Stück aus ihrem Arm herausgeschnitten hat.
„Es ist aber wieder nachgewachsen. Meinem Vater hat man auch ein Stück wegge- schnitten. Mein Vater hat etwas, was viele Väter haben.” Sie onaniert beim Spre- chen mit der Puppe, die sie zwischen den Beinen hält. Es scheint, dass ihre Blind- heit sie nicht daran gehindert hat, alle möglichen Kenntnisse über den Geschlechts- unterschied zu erwerben. Sie weiss, dass ein Junge ein männliches Glied hat und dass sie als Mädchen keines besitzt; ebenso dass alle Väter einen Penis haben, nicht nur der ihre. Koitusbeobachtungen. Sie erzählt, dass ihre Mutter in einem Wagen fortgefahren ist. „Mein Vater hat ein Stück Fleisch von ihr weggenommen.” Sie onaniert mit dem Bleistift, greift nach der Mamapuppe und sagt: „Ich stecke ihn (den Bleistift) in die Mama.” Sie steckt den Bleistift in die Hand der Puppe, dann in ihren Fuss und meint: „Sie hat es gern. Es tut nicht weh.’’ Sie hat also die Vorstellung, dass der Vater die Mutter kastriert hat, versteht aber bereits, dass der Koitus zwischen den Eltern nicht etwas Gewaltsames, sondern etwas Lustvolles ist, eine Erkenntnis, die Kindern gewöhnlich erst viel später zugänglich wird.
Während sie noch onaniert, erzählt sie einen "Traum: ‚Jemand hat meinen kleinen Zipfel weggenommen.” Ich frage, was für einen kleinen Zipfel man ihr genommen hat. „Den Polsterzipfel. Mein Kopf ist noch da, aber mein Haar ist ganz zerrauft. Haar ist kein Zipfel, nicht wahr?” Ihre Kastrationsangst ist hier ganz deutlich, ist aber auch, wie die Onanie im Augenreiben von unten nach oben verschoben. Das zerraufte Haar verrät offenbar die Onanietätigkeit. Wir
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 329
erinnern uns daran, dass die erste Angst, die sie in der Analyse erzählt, von einem Hund spricht, der sıe schlagen wird, weil sie zerraufte Haare hat.
Sie spielt, dass sie mit einem Lehrerehepaar aus dem Institut, jungen Eheleuten, die sie manchmal während ihres Ausruhens ins Zimmer kommen lassen, im Bett liegt. Sie sagt: ‚Ich will es hineinstecken”, und spielt weiter, dass alles irgendwo stecken bleibt. Offenbar ist sie mit der Phantasie beschäftigt, dass der Penis während des Geschlechtsverkehrs in der Vagina stecken bleiben und nicht mehr zurückgezogen werden kann.
Auf einer ihrer Wanderungen durch mein Zimmer berührt sie plötzlich eine Quaste, die von einem Kastenschlüssel herunterhängt. Sie schreit angstvoll auf und hat in den darauffolgenden Tagen eine ganze Reihe von Angstzuständen. Sie fürchtet sich plötzlich vor Lärm, vor einem Vogellaut, der die Stille unter- bricht, vor einem Gramophon, vor dem lauten Lachen spielender Kinder, die man von der Strasse heraufhört, vor einem Flugzeug. Bei jedem dieser Geräusche unterbricht sie ihre Beschäftigung und ist dann zu ängstlich, um sie wieder aufzunehmen. Oder sie versucht fortzusetzen und unterbricht sich von neuem, weil sie Angst hat, das Geräusch könnte wiederkommen. Auf meine Frage, wovor sie sich fürchtet, antwortet sie, dass man sie fortholen könnte. Ihr einziger Wunsch in einem solchen Angstzustand ist, sich niederzulegen und zu schlafen. Wie sie vor dem Lachen und Schreien der Kinder erschrickt, erklärt sie: „Die Kinder könnten mich wegholen, sie könnten mich in Stücke reissen. Sie könnten meinen Zipfel abreissen.”” „Kannst Du machen, dass mir ein kleiner Zipfel am Kopf wächst?” Die Geräusche erwecken offenbar ihre volle Kastrationsangst. Die letzte Bemerkung zeigt, welche Hoffnungen sie darauf setzt, dass ich sie wieder „ganz’’ machen werde.
Im gleichen Zusammenhang beschäftigt sie sich in der Stunde mit den Ge- danken an einen kleinen Jungen im Institut, namens Raphael, der sehr nett zu ihr ist. Er gehört zu jenen Kindern des Instituts, die etwas sehen können. „Ich schreibe an Raphael. Ich bin Raphael.” In einem Angstzustand sagt sie: „Ich bin Raphael, man kann ihn wegholen und in Stücke reissen.” Ich versichere ıhr, dass sie nicht Raphael, sondern Sylvia und kein Junge ist. „Ich möchte aber gerne ein Junge sein.” Ich frage sie nach dem Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. „Ein Junge heisst Raphael.”’ Sie will nicht weiterreden sondern statt dessen an meiner Uhr horchen. „Raphael kann die Uhr nicht hören, er hört schlecht.” — Ein anderes Mal spielt sie, dass sie vorliest und plappert lauter Unsinn. Ich frage, welche Sprache sie spricht. Sie sagt: „Die Blindensprache”, und freut sich ganz besonders, dass ich sie nicht verstehen kann. Es ist ihr offen- bar gelungen, uns alle plötzlich in die gleiche Kategorie der Defekten einzureihen: Raphael kann schlecht hören, sie kann nicht sehen und ich kann nicht verstehen.
330 Dorothy Burlingham
Damit verleugnet sie einerseits ihre Ausnahmsstellung als Blinde anderseits ihren Penisneid. Man kann weiter vermuten, dass ihr Stolz darauf, dass sie das Ticken der Uhr hören kann, auf Klitorissensationen bei der Masturbation zurückgeht. Soweit sie frei von Schuldgefühl ist, bewertet sie diese Sensationen als lustvoll; ihre Angst vor den Geräuschen, bei denen sie jedes Spiel unterbrechen muss, deutet aber darauf hin, dass im Abwehrkampf gegen die Onanie das Geräusch (Ticken, Zucken) zur grossen Gefahr geworden ist.
Sie hört einen Jungen laut im Vorzimmer sprechen und fürchtet sich: ‚Er
wird hereinkommen und mich in Stücke reissen.’’ Sie spielt ein Spiel, das sie Tag und Nacht nennt: ‚Ich höre in der Nacht schreien. Und manchmal schreie ich in der Nacht.” Ein anderes Mal hört sie wieder die ärgerliche Stimme eines Jungen im Vorzimmer: ‚Er wird hereinkommen und mich in Stücke zerreissen. Er wird mir ein Bein ausreissen oder meine Nase oder meinen Zipfel.’ Sie will dann weiterspielen, dass sie mit dem Jungen im Bett liegt. Das Material ist hier leicht deutbar: sie wünscht sich einen Penis, wenn ihr aber die Identifizierung mit einem Buben gelingt, bekommt sie plötzlich Angst, dass ihr Penis verlorengehen wird, dass er stecken bleibt oder ausgerissen wird. Das Schreien, das sie nachts hört, geht auf ihre Koitusbeobachtungen zurück. Sie identifiziert sich hier mit der Frau, die einen Penis besitzt, und phantasiert, dass er ihr beim Geschlechts- verkehr geraubt wird. Sylvias aggressive Tendenzen. Sylvias Spiel wendet sich jetzt wieder zurück zu dem Lehrerehepaar, zu dem sie manchmal ins Bett geht. Sie phantasiert, dass die Frau sie zu sich ins Bett nimmt und sie zusammendrückt. Sie zeigt an ihrem Bein, was sie mit diesem Drücken meint. ‚Sie könnte meinen Zipfel wegnehmen, er bleibt im Loch stecken.’ Sie setzt im selben Atem fort: ‚Tun Maries Augen ihr weh? Er könnte mir auf die Augen schlagen, er könnte meine Augen heraus- reissen. Meine Mama war böse, wenn ich meine Augen gekratzt habe.” Sie reibt ihre Stirne und sagt, dass sie sich dort gekratzt hat. „Ich habe meine Augen ge- kratzt. Meine Tante sagt, die Augen werden krank, wenn man sie kratzt. Der Doktor hat meine Augen gekratzt. Ich habe die Augen gerieben.” Sie bringt hier in aller Deutlichkeit die Verbindung zwischen ihren Augen und ihrem Genitale, die uns als Verschiebung nach oben schon aus dem früheren Material geläufig ist. Ihre Angst sagt, dass die Augen ausgerissen werden, wenn man sie reibt oder kratzt ebenso wie der Zipfel ausgerissen wird, wenn man an ihm spielt und sich Erregungen verschafft. Ihr Schuldgefühl bezieht sich gleichmässig auf beide Handlungen.
An diese Kastrationsängste Sylvias schliessen sich dann aggressive Rache- gedanken gegen die Mutter. „Meine Mutter hat mich ins Bein gebissen. Ich habe meine Mutter geschlagen, weil ich vom Sessel gefallen bin. Sie hat mich
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 331 ins Ohr gezwickt. Ich will es nicht wieder tun. Ich möchte bei meiner Mutter sein.”” Sie nimmt die Mamapuppe, küsst sie, schlägt sie dann und lässt die Puppe zurückschlagen. Sie erklärt mir: ‚Sie wollte nicht auf dem Sessel sitzen bleiben.” Die Mamapuppe zwickt sie und sie antwortet in gleicher Weise. Dann beisst die Puppe sie in den Fuss und sie zieht sie dafür an den Haaren. ‚Jetzt wird sie es nicht wieder tun.” ‚‚Sie will bei ihrer Mutter bleiben.” Sie macht also ihre Mutter für ihr Unglück verantwortlich und versucht sich dadurch zu rächen, dass sie die Mutter zwickt und schlägt. Gleichzeitig aber hat sie die grösste Angst, dass sie durch ihre eigene Aggression die Mutter verlieren wird; sie verspricht, nie wieder schlimm zu sein, wenn die Mutter nur bei ihr bleiben wird.
Das gleiche Benehmen wiederholt sie dann in der Übertragung. Sie wird sehr ängstlich und sagt, wie ich sie nach dem Grund frage: „Ich fürchte mich vor dir, nein, vor dem Gewitter.” Sie klettert auf meinen Schoss und klammert sich an mich an: „Ich habe dich so lieb. Ich habe Angst vor dir. Ich weiss nicht warum.” Ein anderes Mal sagt sie zur Erklärung ihrer Angst: ‚Du könntest meine Puppe wegnehmen, du könntest mir alles wegnehmen.’ Sie zeigt damit, so deutlich sie nur kann, den ganzen Ablauf der Mutterbeziehung, wie er uns aus der Analyse des weiblichen Kastrationskomplexes vertraut ist: der Mutter wird die Schuld an der Beschädigung des eigenen Körpers zugeschrieben; die Mutter wird anfangs als Penisbesitzerin vorgestellt, dann wird ihre Kastration in irgendeine dunkle Verbindung mit den Beobachtungen des elterlichen Ge- schlechtsverkehrs gebracht. Die Liebe zur Mutter ist jetzt doppelt gestört, einer- seits durch die Aggression, mit der das Mädchen auf die vermeintliche Be- schädigung ihres Körpers reagiert, anderseits etwas später durch die Vorstellung, dass die Mutter selbst nur unvollkommen und nicht ‚„‚ganz” ist. Zur Beseitigung dieser Störung wird reaktiv eine besondere Verstärkung der positiven Kom- ponente der Mutterbeziehung aufgeboten. Das Mädchen wird überzärtlich, wie zwanghaft an die Mutter gebunden, beantwortet jede Trennung von ihr mit Sehnsucht und Heimweh und klammert sich in jeder Weise an das Liebesobjekt, dessen Existenz durch ihre eigenen bösen Wünsche bedroht ist.
Zusammenfassung.
Ich unterbreche an dieser Stelle die Mitteilungen aus den Analysen beider Kinder, um zusammenzustellen, welche Beiträge dieses Material zur Beant- wortung der anfangs gestellten Fragen geliefert haben könnte. Es ist sowohl bei Jakob wie bei Sylvia keine Frage, dass die Ich-und Charakterbildung des Kindes von der Tatsache der Blindheit entscheidend beeinflusst worden sind. Durch den Ausfall einer Gruppe von Sinneswahrnehmungen — der Gesichts-
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eindrücke — ist eine der wichtigsten Ichfunktionen, die Realitätsprüfung, ver- schlechtert und gestört. Statt den Ausfall ausschliesslich durch die Leistungen der andern Sinne zu kompensieren, nehmen die Kinder in vielen Fällen die Phantasie zu Hilfe, um die fehlenden Daten zu ergänzen. Das Resultat ist eine Neigung zur Verleugnung und zum Wunschdenken, die miteinander den Ein- druck der Unwahrhaftigkeit ergeben können. Da der körperliche Defekt des Blinden in seinem Leben die wirkliche Hauptrolle spielt, richtet sich diese Ver- leugnung besonders häufig gegen die Blindheit selbst.
Die Blinden anerkennen sehr frühzeitig die grosse Überlegenheit der Sehenden auf allen Gebieten des realen Lebens. Im Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit entwickeln sie ihnen gegenüber ein Verhältnis, das aus Angst, Neid, Abhängigkeit, Unterwürfigkeit und Bewunderung gemischt ist. Wir kennen die gleiche Ein- stellung aus den Analysen femininer Knaben und junger Männer dem starken, älteren, bewunderten Mann gegenüber. Sie führt zur Passivität, d.h. zur Wer- bung und Hingabe mit Hemmung der Aggression. Dabei entstehen — beim Femininen wie auch beim Blinden — alle möglichen Phantasien von einer Identi- tät mit dem Bewunderten, von Beteiligung an seinen beneideten Fähigkeiten und von der untrennbaren Zusammengehörigkeit mit ihm. Wir sehen aus der Analyse Jakobs, wie er in dieser Passivität stecken bleibt und aus ihr seine Hem- mungen bezieht, während Sylvia durch ihre Fähigkeit zur Identifizierung mit dem Beschützer (der Mutter, dem Onkel, dem Foxterrier) sich einen Ausweg in teilweise Selbständigkeit sucht. — Die Auskünfte über die frühe Sexualent- wicklung beider Kinder bringen anderseits kein neues Material. Es ist über- raschend, wie wenig die Koitusbeobachtungen Sylvias sich von denen sehender Kinder unterscheiden; der Grund dafür ist vielleicht in dem: Umstand zu suchen, dass die Koitusbeobachtungen fast aller Kinder sich nachts im Dunkeln abspielen, und dass dabei den Gesichtseindrücken wahrscheinlich eine geringere Rolle zufällt als wir im allgemeinen annehmen. Das Kind sieht weniger als es hört und vor allem von dem erregenden Vorgang in seiner Nähe spürt. Man darf annehmen, dass Sylvia nachts zwischen den Eltern im Bett gelegen hat und dass diese körper- liche Nähe den Ausfall von Gesichtseindrücken reichlich aufwiegt. — Es er- scheint uns selbstverständlich, dass die Ängste Jakobs und Sylvias sich von denen vollsinniger Kinder überhaupt nicht unterscheiden. Die Triebvorgänge und Verdrängungsversuche, denen diese Ängste zugehören, haben mit dem Sehen nichts zu tun. Das deutlichste Beispiel dafür ist Jakobs Angst vor der Stille, die der normalen Kinderangst vor der Dunkelheit entspricht: Stille und Dunkel stehen gleichmässig für das Alleinsein, die Abwesenheit des verbietenden und schützenden Erwachsenen, die das Kind hilflos seinen eigenen Versuchungen preisgeben.
Es ist weniger leicht zu entscheiden, ob die Verschiebung der Schuldgefühle und Kastrationsängste vom Genitale auf die Augen, wie sie bei Sylvia vorkommt, vor allem durch die Bedeutung der Augen und ihrer Schädigung oder auch durch die Einstellung der Aussenwelt bedingt ist, welche die Unart des Augenreibens so weitgehend der Unart der Masturbation gleichsetzt. Es ist übrigens allen Blinden- erziehern bekannt, wie häufig solche rythmische, ticartige und zwanghafte Be- tätigungen der blinden Kinder an ihrem Körper vorkommen (Augenreiben, Schaukeln, Kopfschütteln usw.) Diese sogenannten „Blindismen’’ werden in der Blindenerziehung gewöhnlich als Unarten betrachtet und mit grosser Hart- näckigkeit zu unterdrücken versucht.
Zur Frage der Schicksale von Schau- und Zeigelust liefern diese beiden Analy- senbruchstücke leider nur wenig Material. Die Sexualneugierde Sylvias findet jedesfalls auch ohne Mithilfe des Sehens reichliche Befriedigung. Der Zusam- menhang zwischen Ehrgeiz und Exhibition bei Jakob wird dort am deutlichsten, wo seine Wunschphantasie verlangt, vor allen andern Kindern des Instituts als Sehender dazustehen.
Die Analysen beider Kinder gehen nicht weit genug, um orales und anales Material an die Oberfläche zu bringen. Blinde Kinder sind als Resultat ihrer Erziehung gewöhnlich ganz besonders rein, d.h. die Verdrängung des Analen muss besonders gründlich vor sich gehen und braucht längere Zeit zu ihrer Aufhebung als mir in beiden Analysen zur Verfügung stand. Sylvias besonders starke Mutterbindung lässt bei diesem Stand der Analyse orales Material nur vermuten, ohne es wirklich zu zeigen. Die deutlichste Annäherung daran sind die Vorstellungen vom Beissen, die bei ihrer Kastrationsangst eine Rolle spielen.
Anwendung.
Ich versuche an anderer Stelle auszuführen, welche praktischen Vorschläge für die Blindenerziehung sich aus diesen theoretischen Überlegungen ableiten lassen. Das Ziel aller Blindenerziehung war immer eindeutig. Der Blinde soll im Laufe seiner Entwicklung in Stand gesetzt werden, das Leben der Vollsinnigen so weit wie möglich zu teilen; er soll — nach gelungener Erziehung — in irgend- einer Weise fähig sein, sich in das Arbeitsleben der sehenden Umwelt einzureihen und an ihren Genussmöglichkeiten teilzunehmen. Es ist bekannt, welchen Schwierigkeiten er dabei im Konkurrenzkampf einerseits, bei der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse anderseits begegnen muss.
5 "Thomas D. Nitsforth: The Blind in School and Society, D. Appleton and Co., New York and London, 1933, p. 6.
Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern 333
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normale Umwelt, von Anfang an nicht aus den Augen. Um seiner Absonderung von den Normalen vorzubeugen, begrüsst sie jeden Versuch zur Angleichung als willkommenen Fortschritt in der Entwicklung des Individuums. Zwei Eigen- schaften des blinden Kindes kommen ihr dabei besonders entgegen: die schnelle Entwicklung seiner Sprachfähigkeit und der Reichtum seines Phantasielebens. Sie bedient sich beider, um den Ausfall an wichtigen Sinneswahrnehmungen damit zu kompensieren. Das Ergebnis sind — wenigstens so weit es die analy- tische Beobachtung an Kindern zeigt — Mängel im Realdenken, welche die soziale Anpassung des Blinden in anderer Richtung stören. Die richtige Ein- schätzung der Bedeutung der Realitätsprüfung für die gesamte Ichentwicklung müsste die Blindenpädagogik dazu veranlassen, den grössten Nachdruck auf die Verwertung und Ausbildung der Sinnesfunktionen zu legen, die dem Blinden zur Verfügung stehen, auf die Gefahr hin, dass die Periode, in der sein psychisches Leben sich von dem des Sehenden unterscheidet, eine längere sein wird als sie es bisher ist.
Diese Sammlung wirklicher Daten über die Aussenwelt ist dann für die Ent- wicklung der Sprache des Blinden von besonderer Bedeutung. Das Kind ent- wickelt seine Sprache durch seinen psychischen Kontakt mit der Aussenwelt, d.h. in Nachahmung der Sprache der Erwachsenen. Das normale, sehende Kind erlernt auf diese Weise die Benennung von konkreten Gegenständen, mit denen es gleichzeitig durch seine Gesichtswahrnehmungen vertraut wird, und den sprachlichen Ausdruck für abstrakte Vorstellungen, die es auf derselben Grund- lage erworben hat wie der Erwachsene, dessen Sprache es nachmacht. Das blinde Kind anderseits erlernt die Sprache einer Welt, zu der ihm der Zugang durch den Mangel an Gesichtswahrnehmungen weitgehend versperrt ist. Es ist kein Zweifel darüber, dass es imstande ist, sie ausgezeichnet zu erlernen, aber es ist auch kein Zweifel, dass sie nicht der Ausdruck seines wirklichen seelischen Lebens ist. Eine Blindenpädagogik, die diesen Fehler vermeiden will, müsste Mittel und Wege finden, um in der Erziehung der ersten Lebensjahre alle jene Wörter und sprachlichen Begriffe auszuschalten, die für das blinde Kleinkind sinnlos sind. Mit der Erweiterung der Realitätsprüfung und des Realdenkens würde das blinde Kind nur allmählich, immer seinen Fortschritten entsprechend, in den gesamten Sprachschatz der sehenden Umwelt eingeführt werden.
Ebenso wie die sehende Umwelt dem blinden Kind eine Sprache bietet, die nicht für seine Bedürfnisse geschaffen ist, sind auch viele der Lustmöglichkeiten, die dem Sehenden als primäre Befriedigungen oder Sublimierungen zur Ver- fügung stehen, für den Blinden ganz und gar nicht zu gebrauchen. Wir unter- schätzen wahrscheinlich, wieviel ständige Befriedigung der Sehende aus den Sublimierungsformen der Schaulust im weitesten Sinne bezieht, gleichgiltig ob
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es sich um die Freude am Schönen in der Natur, in der Kunst, am menschlichen Körper, in der Kleidung usw. handelt. Bisher sind wenig wirkliche Versuche gemacht worden, den Blinden ähnliche Befriedigungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer eigenen Wahrnehmungswelt zu verschaffen. Der oben genannte Versuch, die bildhauerische Begabung Blinder zu entwickeln, ist ein Schritt in dieser Richtung. Wenn er in andere Richtungen verfolgt wird, ist es durchaus möglich, dass sich daraus die Ansätze einer selbständigen, von der sehenden Welt unab- hängigen und von ihr verschiedenen Kunst der Blinden entwickeln.
Es ist nicht schwer, einen Unterrichtsplan auszuarbeiten, der, mit einem speziellen Kindergarten beginnend, einen selbständigen Elementarunterricht und die erste Hälfte des Mittelschulunterrichts nach diesen Gesichtspunkten festlegt und erst in der zweiten Hälfte der Mittelschule in den Normalunterricht ein- mündet. Die Details eines solchen Vorschlags gehen aber über den Rahmen dieser Zeitschrift hinaus.
LITERATUR
Alice Bretz:IBegin Again. Whittlesey House, McGraw-Hill Book Co., New York — London, 1940. |
Thomas D. Cutsforth: The Blind in School and Society. D. Appleton and Co., New York and London, 1933.
Samuel P. Hayes: Twenty Years of Research: Aims and Achievements. Reprint from the Proceedings of the American Association of Instructors of the Blind. Thirty-third Biennial Convention. June 23, 1936.
K. F. Maxfield: A ten Year Review of American Investigations pertaining to Blind Children.
Ludwig Münz, Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blinder. Verlag, Rudolf M. Rohrer, Brünn, 1934.
Pierre Villey: The World of the Blind. Duckworth, London, 1930.
Über die durch den Krieg verursachten
Änderungen ın unserer psychischen Okonomie'
Eine Diskussion, abgehalten am 3.111.1940 in der medizinischen Sektion der British Psychological Society
I Edward Glover
London
Die medizinische Sektion der Britischen Psychologischen Gesellschaft verdient unsere Glückwünsche zu dem Entschluss, Diskussionen über die durch den Krieg verursachten Veränderungen in der seelischen Ökonomie abzuhalten. Umsomehr als sich uns dank der unerschütterlichen Phantasielosigkeit der zuständigen Stellen zum zweiten Male während eines Vierteljahrhunderts das tragikomische Schauspiel darbietet, wie eine einzigartige Gelegenheit zu psychologischer For- schung und Erkenntnis achtlos beiseite gestossen wird. Die Verantwortung hiefür trifft im wesentlichen das Gesundheitsamt, dessen Beamten, wie man es den Bourbonen nachsagt, aus dem vorigen Kriege ‚nichts gelernt und nichts vergessen” haben. Aber auch die Psychologen des Flottendienstes zeigen sich noch nicht der Aufgabe gewachsen, das angesammelte, schon jetzt unschätzbare Material zu verarbeiten, namentlich die Reaktionen auf neuartige psychische Belastungen. Die Handelsmarine — die Fischereiflotte eingeschlossen — sind hinsichtlich psychologischer Beobachtung in einer noch schlechteren Lage. Von den Fliegern und dem Heer kann ich nicht sprechen, obgleich wir uns hier in einer etwas melancholischen Weise mit dem Gedanken trösten können, dass sie noch nicht auf die Probe gestellt worden sind.
Wieder einmal bleibt es der privaten Initiative der Psychiater vorbehalten, in der Förderung wissenschaftlicher Forschung die Führung zu ergreifen.
Offenbar befinden sich alle Teile in der gleichen Gefahr, nämlich in derjenigen, dass das Resultat ihrer Forschung in der Wiederentdeckung jener Fülle psycholo- gischer Halbwahrheiten besteht, wie sie aus den Nebeln des 1918er Jahres auf- tauchten. Zurückschauend lässt sich sagen, dass aus dem Rohmaterial, das der vorige Krieg lieferte, verhältnismässig wenig Wertvolles gewonnen wurde und sicherlich nichts Originelles. Ausser einigen ziemlich vagen Verallgemeinerungen über die Bedeutung neurotischer und psychotischer Veranlagungen gab es meiner
1) Übersetzt von Lucie Freud.
Durch Krieg verursachte Änderungen in unserer psychischen Ökonomie 337
Meinung nach nur eine von praktischem Wert, nämlich, dass die sogenannte un- bewusste Homosexualität bei Kriegserschütterungen von grösster Wichtigkeit ist. Die einfachsten psychobiologischen Überlegungen würden darauf hingewiesen haben, dass die transformierten homosexuellen Triebe einen der Grundfaktoren bei der Verursachung von Kriegen und der durch sie hervorgerufenen Wirkungen abgeben. Aber seit man klinisch festgestellt hat, dass die aus der abnormen Ver- teilung unbewusst homosexueller Libido stammenden Schwierigkeiten mit den Konflikten im Zusammenhang stehen, die durch die Verdrängung des Sadismus und Masochismus entstanden sind, bildet die geschilderte Entdeckung eine deut- liche (augenfällige) Verbindung (Brücke) zwischen den realen Gefahren und Belastungen des Krieges und den unbewussten durch sie verursachten Reaktionen. Seither hat sich unsere Kenntnis des Unbewussten und der psychopathologischen Erscheinungen um vieles vermehrt, besonders um das Verständnis der Bedeutung früherer Verfolgungsängste und der depressiven Prozesse. Wir müssen versuchen, unser Verständnis auf diese Erkenntnis relativ jungen Datums und nicht auf Jahrzehnte alte Formulierungen aufzubauen.
Das wichtigste Problem — um damit zu beginnen — das wir zu gewärtigen haben, ist das der T’echnik. Werden wir z.B. durch das Studium individueller Charakter-Veränderungen zu rascheren Resultaten gelangen als durch das Studium neurotischer Zusammenbrüche oder Rückfälle, die offenbar durch ver- schiedene Kriegssituationen verursacht wurden? Die Geschichte der Psychoana- lyse zeigt deutlich, dass Fortschritte am raschesten erreicht wurden, wenn man von relativ einfachen pathologischen Zuständen ausgehend sich den verhältnis- mässig komplizierten Charakterveränderungen zuwandte. Zur Unterstützung dieser Behauptung möchte ich Sie an die Tatsache erinnern, dass der Ablauf von Neurosen und Psychosen sich eher voraussagen lässt als die Lebensläufe normaler Individuen. Dazu kommt, dass der Durchschnittsmensch nicht so leicht in eine Gruppe einzureihen ist. Er kann Vertreter eines Normaltyps sein, dem ein bestimmter neurotischer T'yp entspricht, z.B. Angstneurotiker oder Zwangs- neurotiker; aber gewöhnlich ist sein Charakter zusammengesetzter Natur, umfasst etwa eine Reihe verschiedener Reaktionsweisen, die allen uns bekannten neuroti- schen 'Typen entsprechen. Um nun brauchbare Vergleiche zwischen psycho- pathologischen Verhaltungsweisen und irgendwelchen Veränderungen normalen Verhaltens aufzustellen, müsste man die für jeden pathologischen Zustand charakteristischen Kriegsreaktionen festsetzen und auf diese Weise einen Test ausarbeiten, der auch auf den Durchschnittsbürger anzuwenden wäre. Dies müsste im Prinzip mit ziemlicher Genauigkeit durchzuführen sein, aber ich zweifle, ob es in der Praxis wirklich so leicht ginge. Zur Unterstützung dieser
Auffassung möchte ich erwähnen, dass ich während der üblichen analytischen 23
338 Edward Glover
Arbeit folgende typischen Reaktionen beobachten konnte: Erbrechen und Kolitis bei Konversionshysterie, Sirenen- und andere Geräuschsphobien, ebenso Angst vor der Dunkelheit bei Angstneurosen, Zwangszeremonielle beim Zeitungslesen bei einem männlichen Zwangsneurotiker; Impotenz seit dem Kriegsausbruch, unzureichend rationalisiertt mit der Begründung, es sei irgendwie unrecht in einer Zeit nationaler Gefahr Geschlechtsverkehr zu haben.
An Psychotikern habe ich beobachtet: bei einem Fall von Depression Reaktionen in allen Schattierungen von verstärkter Depression und überspannter Teilnahme an den öffentlichen Sicherheitsmassnahmen bis zu eindeutiger Hoffnungslosigkeit über den Ausgang des Krieges; bei einem Paranoiden eine Mischung aus Angst vor Spionen und einer Neigung zu plötzlicher religiöser Bekehrung; bei einem schizoiden 'Typus wiederum auffallende Verstärkung der Depersonalisations- symptome, u.s.f. Aber abgesehen von einer allgemeinen Zunahme der Angst- bereitschaft war, soweit ich beobachten konnte, keine Veränderung festzustellen, die für irgendeine Gruppe charakteristisch gewesen wäre mit Ausnahme der Kinder, bei denen eine allgemeine Tendenz zu unruhigerem Schlaf und manchmal zu vereinzelt auftretendem Bettnässen oder mit anderen Worten eine Tendenz zu Manifestationen gesteigerter Angst aufliel. Diese Feststellungen mussten jedoch eine Korrektur erfahren infolge der Tatsache, dass bei einer Reihe von Individuen unter dem Druck des Krieges sich das frühere Symptombild eher besserte als verschlechterte. Das erfolgt, glaube ich, am häufigsten bei bestimmten Formen von Depression sowie bei depressiven Hysterikern und deutet, voraus- gesetzt dass dieses richtig ist, auf eine Veränderung in der unbewussten Abwehr gegen den verdrängten Sadismus hin; diese Veränderung wird bewirkt durch die soziale Billigung der Anwendung von Gewalt, wenn diese gegen einen gemein- samen Feind erfolgt, der von der öffentlichen Meinung als ein sadistischer An- greifer angesehen wird. Übrigens wäre es verfrüht, etwas über die Haltbarkeit der Erfolge dieser spontanen Form sozialer Psychotherapie auszusagen; mein Eindruck geht dahin, dass unter den gegebenen Umständen wenige Wochen, im besten Falle wenige Monate genügen, um einen Rückfall bis zur Wiederher- stellung des status quo herbeizuführen.
Was die durchschnittliche Bevölkerung betrifft, so ist es nicht schwer, eine grosse Anzahl von Veränderungen, vorwiegend psychoneurotischer Natur aufzu- zeigen, vorübergehende Konversionssymptome im Gebiet des Verdauungs- apparates leichte Angstzustände, eine Neigung zu Zwangshandlungen und viel- leicht mehr allgemein ein unterdrückter Depressionszustand. In dieser Hinsicht zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Reaktionen der Gegenwart und denen von 1914 und den nachher beobachteten, da die Bevölkerung den Kriegs- ausbruch erst hysterisch bejubelte, dann zu einer Art langsamer Zwangshaltung
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überging, von Zeit zu Zeit durch Stadien paranoider Reaktionen aufgerüttelt, dann allmählich einer Depression verfiel, um beim Einstellen der Feindseligkeiten einen kurzen manischen Zustand durchzumachen, der schliesslich nach einer Phase von aktiver Wahnbildung von einem Rückfall in sekundäre Depression abgelöst wurde. Ja, es ist vielleicht ein Aufflackern der Endphase jener zweiten Depression, durch die wir uns jetzt hindurcharbeiten. Jedenfalls ist es noch zu früh um zu wissen, ob aktivere Formen der Reaktion auf diesen Krieg nicht vielleicht nur hinausgeschoben sind. Wenn und sobald ausgedehnte Feindseligkeiten und Angriffe zum Zwecke der Blockade grosse Verluste bewirken werden, kann eine plötzliche Steigerung bewussten wie unbewussten Hasses die uns vertrauteren hysterischen und paranoiden Gegenwirkungen auslösen. Inzwischen wäre es der Mühe wert, sobald wie möglich die Reaktionen derjenigen Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, die durch die Verluste an Schiffen und Mannschaften schwer betroffen wurden.
Und hier begegnet uns eines der grössten Hindernisse, die sich der psycho- pathologischen Forschung entgegenstellen. Denn ganz so wie sich das Befinden vieler neurotischer Individuen im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch besserte und sich, wie ich glaube, nach kurzer Zeit wieder verschlechterte, so gibt es viele Normale, die nach einer kurzen Phase, in der sie halbneurotisch reagierten, ihr Gleichgewicht wiedergefunden zu haben scheinen. Praktisch scheinen diese Individuen vom Krieg völlig unberührt geblieben zu sein, voraus- gesetzt natürlich, dass sie keine nahen Verwandten in Gefahrzonen haben und nicht durch Evakuation betroffen wurden. Darüber hinaus gibt es viele Menschen, die den Eindruck machen, als wären sie überhaupt niemals vom Kriege berührt worden. Es wäre aber nicht ratsam anzunehmen, sie seien völlig unbeschädigt geblieben. Vor allem sind zwei unbewusste Mechanismen, die Verdrängung und die Verschiebung, mehr als irgendwelche anderen geeignet, die Fährte wissen- schaftlicher Forschung zu verwischen. Individuen mit einer Neigung zu Ver- schiebung innerhalb eines engen psychischen Bereichs neigen dazu, selbst bei starken ausserhalb dieses Bereichs auftretenden Reizen unberührt zu bleiben, während solche mit einem grösseren Verschiebungsradius aufs lebhafteste in den Bann der Kriegserregung gezogen werden, besonders wenn sie gleichzeitig von einem starken unbewussten Drang zur Identifizierung angetrieben sind.
Eine andere Einschränkung der Möglichkeit zur Erforschung psychopatholo- gischer Symptome besteht in folgendem: ätiologisch betrachtet gibt es keine Parallele in der äusseren Situation beim Ausbruch einer Neurose im Frieden und einer, die im Krieg entsteht.
In erster Linie ist im Krieg die Realität der Aussenweltreize viel grösser, z.B. wirtschaftliche Not, Verdunklung und andere Einschränkungen, die aktuelle
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Gefahr verschiedenen Grades für die eigene Person oder Verwandte und Freunde, sei es innerhalb oder ausserhalb der Flotte oder des Heeres. Und zweitens ist die psychische Reaktion der neurotischen Umgebung vollkommen verändert. Denn in Kriegszeiten neigen auch die unsere Umgebung bildenden Gruppen zu neurotischen Reaktionen. Die Gruppe selbst ist sozusagen krank und wirkt daher auf das Individuum sowohl als neurotischer wie als Realreiz. Aber hier müssen wir vorsichtig vorgehen. Denn während die Individualneurose immer in einem manchmal allerdings ziemlich ungerechten Gegensatz zu der augenscheinlichen Normalität der übrigen Gruppe steht, haben wir nichts, das wir einer für krank angesehenen Gruppe gegenüberstellen könnten, nichts, d.h. mit Ausnahme der Idealisierungen einiger Individuen oder Körper- schaften, die nur sehr kleine Teile der grossen Gruppe darstellen, z.B. aktive religiöse Sekten, pazifistische Gesellschaften usw. Die Gruppe, sogar die er- wiesenermassen kranke Gruppe, ist sich noch immer selbst Gesetz. Ich will versuchen, diesen Punkt klarer zu machen. Dem medizinisch geschulten Psycho- logen macht es wenig Schwierigkeiten, Neurosen, Perversionen oder kriminelle Neigungen zu diagnostizieren. Und ebenso ist die Behörde, gestützt auf die gesetzlichen Bestimmungen, befähigt, eine ad hoc Diagnose auf sozial abnormales Verhalten zu stellen. Für die Beurteilung einer Gruppe aber gibt es keinerlei Richtlinien dieser Art. Wir können z.B. behaupten, dass der von unserem Feind veranlasste Krieg das Ergebnis einer abnormen Gruppenpsychologie sei und mit demselben Atemzug die Meinung vertreten, dass unser eigener Krieg eine normale und legitime Kundgebung einer Gruppenaktivität darstelle, mit anderen Worten nicht nur ein ‚‚guter”’ Krieg sei, sondern auch ein normaler”. Und es hilft nichts, wenn man versucht, diese Verwirrung dadurch zu verringern, dass man hinzu- fügt, dass natürlich immer einige Gruppen hinter den anderen zurückbleiben. Sicherlich steht die Kultur einer Gruppe weit zurück hinter einzelnen, wenn auch gewiss nicht allen Individuen. Aber das gibt uns nicht unbedingt einen Masstab, mit dem wir nur Gruppenverhalten zu messen und als abnorm zu kenn- zeichnen vermögen. Kurz:o bgleich die Gruppen unverkennbar Kundgebungen, welche den neurotischen Reaktionen der Individuen entsprechen, zur Schau stellen, müssen viele andere ihrer ungewöhnlichen Kundgebungen in Kriegszeiten ganz und gar nicht neurotisch sein. Alles, was wir sagen können, ist, dass die Umge- bung sich in aussergewöhnlich erregtem und erregendem Zustand befindet, einerlei ob er rational zu rechtfertigen ist oder nicht. Das muss die neurotischen Reaktionen des Individuums beeinflussen und tut es auch; mit anderen Worten: der Zustand der Gruppe bildet einen besonderen, beschleunigenden Faktor für das Individuum und bringt die gewöhnlichen, im Frieden tauglichen Wertungen der klinischen Psychologie in Unordnung.
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Der Ertrag all dieser Erwägungen ist für unsere gegenwärtige Diskussion fol- gender: Mir scheint, je weniger Schlüsse wir im jetzigen, kritischen Zeitpunkt ziehen, selbst wenn es nur provisorische sind, umso besser. Anderseits ist eine beträchtliche Zahl kühner theoretischer Annahmen dringend erfordert. Nicht nur darum, weil es interessant wäre, diese Annahmen mit den später gewonnenen Tatsachen — wie immer sie beschaffen sein mögen — zu vergleichen, sondern weil theoretische Voraussetzungen zu einer Zeit, da gute Methodik von ent- scheidender Bedeutung ist, unserer Forschungstechnik den Weg weisen könnten. Auf jeden Fall ist es klar, dass sich uns eine grossartige Gelegenheit bietet, die Wirkung gleichsam normierter beschleunigender Faktoren auf verschiedene psychische Typen und bei jedem dieser 'T'ypen auf verschiedene Schichten der psychischen Organisation zu untersuchen. Doch müssen wir gleichzeitig eingestehen, dass die meisten unserer Beobachtungen be- wusster und oberflächlich vorbewusster Natur sein werden, kurz, dass sie in der Domäne beschreibender Psychologie liegen werden.
Es ist eine einmalige Gelegenheit zu Massenbeobachtungen im eigentlichen Sinne des Wortes. Und ganz so wie wir im ersten Ansatz die Individualbeobach- tungen entsprechend dem Charakter und Temperament jedes Individuums gruppieren müssen, so sollten sich unsere Beobachtungen der Gemeinschaft auf die Veränderungen konzentrieren, die an Unterabteilungen dieser Gruppe fest- gestellt werden können. Massenbeobachtung sollte, um damit zu beginnen, nicht etwa nach einem einzigen gemeinsamen Nenner für Hinz und Kunz suchen, sondern sich vor allem mit den Reaktionen jener Teile der Gruppe be- schäftigen, die ungefähr ihre Analogie in den differenzierten Instanzen der In- dividualpsyche haben. Sie sollte sich z.B. auf die Reaktionsveränderungen bei verschiedenen ethischen, religiösen und pazifistischen Gesellschaften konzen- trieren, da diese beim Einzelmenschen etwa der Tätigkeit desÜber-Ichs entsprechen. Ich möchte Sie z.B. daran erinnern, dass während der Septemberkrise 1938 die Besucherzahl bei einem Nachmittagsbittgottesdienst in einer unserer berühmten Kathedralen auf viele Hunderte anstieg, zu einem Rekordbesuch also, während sie beim Dankgottesdienst nach Chamberlains Rückkehr aus München auf etwa ein Dutzend zusammenschmolz. Wir sollten die Tätigkeit öffentlicher Sittlich- keitsämter, Mässigskeitsvereine und die aller Vereinigungen mit ethischen und sozialen Zielen verfolgen, um zu sehen, ob eine Tätigkeitszunahme— wenn über- haupt eine solche auftritt — einer Veränderung in den sozialen Gewohnheiten der Gemeinschaft entspricht oder aus internen Ursachen erfolgt. In ähnlicher Weise sollten wir jene Gruppenkundgebungen kontrollieren, die Ersatzbefriedi- gungen darstellen, wie sie das Individuum zu suchen pflegt, wenn es schwerem Druck ausgesetzt ist. Diese Befriedigung kann illusorisch sein oder nicht und
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unter irgendeinem Titel, von der Erholung angefangen bis zur Ausschweifung, erfolgen. Einige dieser kompensierenden Reaktionen wie z.B. das Trinken, Rauchen, Lesen, Besuch von Vergnügungsstätten liessen sich verhältnismässig leicht ermitteln. Andere wie etwa die Steigerung sexueller Ausschweifung bereiten mehr Schwierigkeiten. Aber Tatbestände sollten, wann immer es möglich ist, eher in ihrer sozialen als in ihrer individuellen Erscheinungsform untersucht werden, und das ist selbst in der sexuellen Sphäre möglich. Man nehme z.B. die Zunahme des Flirtens in der Öffentlichkeit.
Ähnlich verhält es sich mit den eindeutigen Äusserungen von Aggressivität in der Gesellschaft oder Kundgebungen der Abwehr gegen diese. Grundsätzlich würde man erwarten, dass die Sanktionierung der Gewalt in der Armee und ihrer Ablenkung auf den gemeinsamen Feind zugleich mit der Zunahme des Zusammen- halts unter den Mitgliedern der gleichen Gemeinschaft bewirken, dass das Mass der Aggression abnimmt, wenigstens bei der erwachsenen Bevölkerung, wiewohl dies bei den Kinder- und Jugengruppen nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Ich bin übrigens der Meinung, dass Gruppenuntersuchungen, die sich nur auf die Erwachsenen beschränken, keine Aussicht haben, ein vollständiges Bild von Massenemotionen zu geben. Jedenfalls ist es hier nicht schwer, die ‘ersten Aufgaben der Forschung festzustellen. Neben der Tätigkeit der ofhiziellen Dienstgruppen und den Statistiken über deren Gewalttätigkeiten sollte man in absteigender Linie bis hinunter zu den Protokollen des unbedeutendsten länd- lichen Bezirks die Tätigkeit jeder offiziellen oder inoffiziellen Körperschaft studie- ren, deren Aufgabe eine Steigerung ihrer Autorität mit sich brachte. Man sollte sorgfältig alle auftretenden Anzeichen von Perversität untersuchen. Ebenso sollte man die Wirksamkeit hemmender Institutionen einschliesslich der verschiedenen öffentlichen Ministerien beobachten und ihren Zusammenhang mit der Zunahme von Sexualhemmungen, wo immer sich solche feststellen lassen, herausarbeiten. Wieder dürfte man nicht versäumen, das Wesen und die Stärke von Friedens- tendenzen und pazifistischen Bewegungen neuerlich zu messen.
Bei Durchführung dieser Gesichtspunkte wäre die nächste Aufgabe, Ver- änderungen innerhalb jener Teile der Gesellschaft, die den Realitätsfunktionen des Ichs entsprechen, zu schätzen. Diese Aufgabe verlangt eine grosse Urteils- fähigkeit. Wie das Individual-Ich so haben auch gewisse öffentliche Institutionen der Gesellschaft, ob sie nun staatliche oder private sein mögen, für die Befriedi- gung der von den Analytikern sogenannten Aufbaubedürfnisse zu sorgen; sie werden dabei von Gruppentendenzen geleitet, die irgendwie dem individuellen Selbsterhaltungstrieb entsprechen mögen. Sie erstrecken sich von den militäri- schen und zivilen Verteidigungskörpern über die sanitären, philantropischen, erzieherischen, Nahrungs-, Industrie-, und Transportorganisationen bis zu
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solchen Einzelheiten wie etwa die Verteilung von Tageszeitungen. Veränderungen von sichtlich psychologischer Bedeutung müssten natürlich für den Fall einer kritischen Kriegslage ausgenommen werden; aber es dürfte nicht schwierig sein, in diesen Ressorts gewisse Regressionen und eine verstärkte Anpassungsfähigkeit zu gewinnen. Das wäre eventuell leichter zu erreichen bei den pädagogischen und industriellen Gruppen, wo die Erscheinungen der Regression oder vermehrten Fähigkeit am raschesten zum Ausdruck kommen.
An diesem Punkt wird die Frage der Ausstattung des Forschers dringend. Denn wiewohl die Zusammenarbeit von ausgebildeten Ökonomen und Stati- stikern besonders in den mit der Realität befassten Institutionen der Gesellschaft gesichert sein müssten, so müssten doch die letzten Bewertungen von klinischen Psychologen vorgenommen werden, und je weniger dabei beschäftigt würden, desto besser. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass anscheinend „rein” ökonomische Tätigkeiten wie Nahrungszufuhr beim Individuum sowohl vorbewusste wie unbewusste Reaktionen hervorrufen. Ich muss Sie wohl kaum an die verschiedenen Verfolgungs- und sonstigen Ängste erinnern, die die vor- wiegend rationale Einstellung zur Nahrung verändern, wie die Auffassung der Nahrung als Gift, als Liebesbeweis usw. Es ist leicht zu sehen, dass es eine Reihe von Wirklichkeitsveränderungen in den Lebensbedingungen gibt: Rationierung, Verdunklung, Verkehrseinschränkungen, Benzinbeschränkung, Verlegung von Geschäftsunternehmungen, Störungen des Familienlebens infolge von Evakuie- rung der Kinder, Verlust des Einkommens oder der Stellung, Rückstand der Miete, Änderung der Arbeitszeit, die nicht nur einen Untersuchungstest abgeben für das Vermögen des Durchschnittsindividuums, sich an die Realität anzupassen, sondern die infolge ihrer rein innerpsychischen Bedeutung geeignet sind, sein unbewusstes emotionelles Gleichgewicht zu stören und regressive Veränderungen auszulösen. Unvermeidlich ist, dass die letzte Deutung der Gesamtsituation der Gesellschaft vom analytischen Psychologen gegeben werden muss. Ich sage absichtlich Deutung, weil man, wiewohl es nicht möglich ist, Gruppen (Klassen) zu analysieren (pace Dr. Trigant Burrow) dennoch Gruppen- (Klassen-) Phäno- mene deuten muss. Eine beschreibende Psychologie kann kaum mehr machen als T’atsachen zu sammeln. Jedenfalls kann der Versuch auch misslingen. Die Gruppeneinheit kann zu gross sein oder der Kriegsreiz zu ungleich, um Schlüsse zuzulassen. In diesem Fall könnten wir notgedrungen auf die Psychopathologie des Einzelindividuums zurückgreifen oder auf so kleine Gruppeneinheiten, dass sie eine ziemlich detaillierte Forschung möglich machen. Aber was immer das letzte Resultat sein möge, der Versuch ist es wert, unternommen zu werden.
Ich fasse zusammen: ich habe vorgeschlagen, die Wirkung eines die Massen in Bewegung setzenden Faktors zu studieren und auch das Bedürfnis nach einer
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umfassenden Bewertung von Gruppenreaktionen sowie nach einer Rekonstruktion der gesamten seelischen Funktion einer nationalen Gemeinschaft im Kriege, und dies mit Hilfe analytischer Methoden. Ich bin geneigt anzunehmen, dass die Resultate auf den letzteren Forschungsgebieten enttäuschend sein werden. Denn ungleich dem Individuum, dessen seelische Struktur ein ziemlich vollständiges Modell abgibt und dessen Endreaktionen bis zu einem gewissen Grade voraus- zusagen sind, sind die Konturen einer Gruppe in ständiger Bewegung. — Die Gesellschaft ist ohne Ende, sie ist noch in der Entwicklung. Dies ist, glaube ich, dereigentliche Grund, warum wir nicht eindeutig festlegen können, was an einer Gesellschaft normal und was an ihr pathologisch ist. Alles, was wir an seelischen Veränderungen während des Krieges entdecken können, besteht darin, dass die unmittelbare Auswirkung des Krieges wahrscheinlich eher den Charakter einer Regression zu archaischen Formen hin tragen wird als nicht; zu diesem Resultat sollten wir gelangen, wenn wir es zustande bringen, eine Gruppenorganisation abzugrenzen und zu normieren. Um nur ein Minimum darüber auszusagen: die Fassade des Lebens wird in Kriegszeiten in weitem Ausmass einen pubertäts- artigen Charakter aufweisen. Unglücklicherweise ist eine einmal in Gang gesetzte Aggression schwer aufzuhalten und führt daher zur Reaktivierung einer Anzahl von vorwiegend infantilen Organisationen. Wenn diese Reaktivierung einen gewissen Intensitätsgrad erreicht, ist ein Zusammenbruch des Individuums oder der Gesellschaft sehr bald zu erwarten. Denn der Faktor der Realitätstüchtigkeit ist in Kriegsläuften nicht nur ungeeignet, dieser Regression ein Gegengewicht zu bieten, sondern die modernen Formen der Über-Ich-Tätigkeit sind sowohl beim Individuum wie bei der Gruppe zu überspitzt, oder, wenn Sie diesen Ausdruck vorziehen, zu zivilisiert, um dem Massenmord des Krieges Einhalt zu gebieten. In dieser Hinsicht hat die zivilisierte Gesellschaft manche der Vorteile verloren, die ihre wilden Vorfahren dadurch besassen, dass ihre das Töten regulierenden Riten in einem gewissen Sinne als Bremsen ihrer Aggressionsgelüste wirkten. Der dritte und letzte Vorschlag, den ich zu machen habe, ist, dass zu Unter- suchungszwecken die Trennung zwischen individuell und soziologisch zu will- kürlich ist. Sie lässt den Grundstein ausser Betracht, den meiner Meinung nach die Beziehung darstellt, die zwischen der Psychologie des Führers und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Unterwerfung bei den individuellen Gliedern der Gruppe besteht. Ungenaue Vergleiche zu ziehen mag nur zu leicht sein, aber es will mir scheinen, dass es für das sozusagen ‚relativ Demokratische” charakteristisch ist, dass an verschiedenen Punkten solcher Konstitutionen ein tiefes Misstrauen und Ungeduld über zentrales Führertum ausgedrückt wird. Man kann natürlich be- haupten, dass die Mitglieder der totalitären Staaten genau dieselbe Reaktion bekämpft haben und zwar durch Rückschritt zu einer übertriebenen Unterwerfung.
Durch Krieg verursachte Änderungen in unserer psychischen Ökonomie 345 Wie dem auch sei, klar ist, dass das System, welches die Staaten, die ich mit „relativ demokratisch” bezeichnen möchte, gewählt haben, mit grösserer Wahr- scheinlichkeit in Kriegszeiten das Gefühl der Ungewissheitim Individuum steigern. Das scheint tatsächlich im Augenblick auf uns zuzutreffen. Wir schwanken zwischen der Hoffnung, dass wir geführt werden und der Sorge, dass unsere Führer ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind. Bei uns ist die Sehnsucht nach einem starken Mann jetzt fast so intensiv wie sie es nach Kitcheners 'Tod war. Anderseits geniessen wir einige der psychologischen Vorteile, die sich daraus ergeben, dass wir nicht alles auf eine Karte gesetzt haben und können die Enttäuschung leichter ertragen, wenn sich einige von den Männern, die wichtige Regierungsämter innehatten, als Nieten herausstellen. Diese Beobachtungen mögen ganz banal klingen, aber das Problem der Gruppensolidarität, das ihnen zugrunde liegt, ist von ganz grosser psychologischer Bedeutung, wobei ich von seiner Wichtigkeit in Zeiten nationaler Gefahr garnicht sprechen will. Es ist oft gesagt worden, dass der Kampf gegen Nazimethoden dadurch erschwert wird, dass man, um diese erfolgreich zu bekämpfen, erst gezwungen ist, sie nachzumachen, was bedeuten soll, dass der Gegenschlag zu einer offensiven Regression in einer defensiven Regression besteht. Aber das projiziert schon zu viel auf das Nazisystem. Die eigentliche Beweislast trifft jene grosse Anzahl von Individuen, deren geheime passive Sehnsüchte, Wunsch nach Solidarität und nach einem Sündenbock sie zu politischer Untätigkeit führt. Als Folge davon halte ich für einen wesentlichen Teil unserer Aufgabe, die nationalen sowie die kirchlichen Oberhäupter zu er- forschen. Mit einem Vorbehalt, nämlich dem, dass wir nicht der bequemen, um nicht zu sagen arroganten Gewohnheit verfallen, die Führer der Feinde als verrückt zu bezeichnen. Man darf nicht vergessen, dass die Psychologie des Führers in vieler Hinsicht der des Geführten entgegengesetzt ist. Aber man darf es nicht als wahnsinnig bezeichnen, bevor nicht der Führer in seinen Hauptzielen versagt. Wie dem auch sei, möchte ich keinen Hehl aus meiner Überzeugung machen, dass unsere Forschung in dieser Richtung nur zur Wiederentdeckung von Prinzipien führen wird, die schon vor langer Zeit von Freud festgelegt worden sind, im besonderen die Bedeutung des T'otemismus für die zivilisierten Völker des zwanzigsten Jahrhunderts.
II Karl Mannheim
London
Meiner Meinung nach ist im gegenwärtigen Zeitpunkt die Klarstellung der Forschungsmethoden, auf Grund deren Psychologen und Soziologen zusammen- arbeiten könnten, die dringendste Aufgabe. Daher bezieht sich alles, was ich im Folgenden sage, letzten Endes auf die Problematik der Forschungsmethoden.
Ich bin mit den meisten Aufstellungen Dr. Glovers einverstanden, nicht nur mit seiner allgemeinen Einstellung zur Forschung, sondern auch mit der Forderung, dass eine neue Forschung nur dann erfolgreich sein kann, wenn ein theoretisches Schema gegeben ist, das sowohl die zu lösenden Probleme als auch die Forschungsgebiete, die den verschiedenen Beobachtern zugewiesen sind, gegen einander klar abgrenzt. Ein blosses Anhäufen von Tatsachen führt zu keinem Resultat. Ich gebe auch zu, dass es richtig ist, mit den pathologischen Fällen zu beginnen, aber ich beeile mich hinzuzufügen: vorausgesetzt, dass wir nicht ver- gessen, das gleiche Mass von Aufmerksamkeit dem sogenannten normalen Ver- halten zuzuwenden. Meine Bemerkungen beziehen sich jedenfalls hauptsächlich auf das letztere. Ich bin des weiteren ebenfalls der Meinung, dass wir nicht mit solchen umfangreichen Einheiten wie die „Gesellschaft an sich’ oder der ‚Krieg an sich’’ beginnen sollten. Solche Einheiten können nicht mit Erfolg zum Gegen- stande der Forschung gemacht werden, teils, weil z.B. der Krieg auf verschiedene Gruppen eine verschiedene Wirkung übt, und teils, weil die Gesellschaft an sich der unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich ist. Daher mag es wünschens- wert sein, kleinere Gruppen zu finden, an denen die Wirkungen des Krieges genau studiert werden könnten, wiewohl ich, wie Sie später sehen werden, der Ansicht bin, dass Gruppen nicht die einzigen Einheiten sind, die sich der Beo- bachtung zugänglich erweisen. Ich möchte die Aufzählung aller jener Punkte, in denen ich mit Dr. Glover einig bin, nicht abschliessen, ohne darauf hinzuweisen, wie sehr ich seinen Zugriff zu würdigen weiss, in dem er gewisse soziale Institu- tionen mit bestimmten seelischen Instanzen in Zusammenhang bringt, etwa, wenn er Kirche und Ethische Gesellschaften als Organisationen auffasst, dazu bestimmt, _ das Über-Ich zu lenken, und die Institutionen der sozialen Fürsorge der Haupt- sache nach den Tätigkeiten des Ichs zuordnet. Aber eine solche Inbeziehung-
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setzung ist nur dann richtig, wenn sie nicht als eine Analogie gemeint ist, in der die Gesellschaft als ein vergrösserter seelischer Organismus erscheint, der mit Funktionen ausgestattet ist, die denen der Individualseele allzu ähnlich sind.
Die zwischen uns bestehenden Verschiedenheiten in der Auffassung treten erst hervor, wenn Dr. Glover daran geht, die Gruppen — und nichts anderes als die Gruppen — als die eigentlich repräsentativen und der soziologischen For- schung allein zugänglichen sozialen Einheiten zu betrachten.
Ich denke, hier sind zwei Reihen von Gründen für den Unterschied in der Auffassung verantwortlich, Die erste betrifft ausschliesslich die technische Seite der Forschung, die zweite hat ihre Wurzeln in divergierenden methodischen Gesichtspunkten.
Was die technischen Schwierigkeiten betrifft, ist es meiner Erfahrung nach nicht sehr leicht, das Leben einer Gruppe, etwa einer Sekte oder einer Kirche, zu erforschen, ausgenommen, man wäre mit Ergebnissen zufrieden, die rein das äussere Verhalten betreffen, wie etwa die Änderung in der Zahl der Kirchen- besucher. Sogar diese 'Tatsachenfeststellung mag, in den rechten Zusammen- hang gebracht, einen wichtigen Beitrag zu unserem Wissen bedeuten, aber sie repräsentiert gewiss nicht jene Gruppe von "Tatsachen, die wir besonders dann zu sammeln wünschen, wenn wir die Absicht haben, über die Grenzen des rein behaviouristischen Standpunkts hinauszukommen. Ein anderer Nachteil des Prinzips, die Aufmerksamkeit ausschliesslich auf konkrete Gruppen zu konzen- trieren, liegt darin, dass es sich als inadäquat erweisen muss, wenn es unser Hauptproblem bleibt herauszufinden, wie die Leute auf Einflüsse von nationaler Bedeutung, wie es zum Beispiel der Krieg ist, reagieren. Es ist durchaus ange- messen, als Beobachtungseinheiten kleine Gruppen, z.B. einen Bund zu nehmen, wenn etwa das bündische Verhalten Objekt der Forschung ist. Es ist angemessen, die Familie als Experimentaleinheit anzusetzen, wenn das Familienverhalten Objekt meiner Untersuchungen ist, weil die wirkliche Quelle von Familien- gewohnheiten in den Wechselwirkungen zu suchen ist, die sich innerhalb der Familie abspielen. Aber diesmal wünschen wir etwas vollkommen Verschiedenes zu erfahren, wir wollen wissen, welche typischen Wirkungen solche sozialen Einflüsse ausüben, die nicht aus der nächsten Nähe wirken, sondern von einem Zentrum her, das von unserer engeren Welt ziemlich weit entfernt ist. In einem solchen Fall unsere Aufmerksamkeit auf kleinere Einheiten einzuschränken, würde auf unsere Beobachtung eine verzerrende Wirkung üben. Mit der Wahl von zu kleinen Einheiten ist die Versuchung gegeben, die Ursachen eher in der beschränkten Familienumgebung zu suchen als in der Gesellschaft als solcher. Was wir aus Untersuchungen wie der Erforschung des Krieges herausholen wollen, sind jene Wirkungen, deren letzte Ursachen von einem entfernten Zen-
wa,
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trum kommen und von ihm wie magnetische Wellen ausstrahlen. Die Kriegs- forschung gibt so dem Analytiker eine gute Gelegenheit, seine Erfahrungen über die Eigenart der Familie durch jene zu ergänzen, die mit der Umgebung im weiteren Sinne des Wortes verbunden sind. Ich bin dabei weit entfernt, die Bedeutung der Familiensituation und der Erfahrungen der frühesten Kindheit zu verkleinern, aber diese bilden nur e in, wenn auch sehr entscheidendes, Kapitel im Leben des Menschen.
Wenn der Psychoanalytiker bei Verfolgung soziologischer Interessen noch immer bei der Vorstellung kleiner Gruppen oder von Gruppen überhaupt hängen bleibt, so liegt, glaube ich, der Grund hierfür darin, dass er mit einer vielleicht absichtlich vereinfachten Soziologie arbeitet. In diesem künstlich vereinfachten Schema gibt es kleinere oder grössere Gruppen, oder man bezieht sich, wenn man etwas konkreter wird, auf Berufsgruppen oder soziale Klassen, aber die eigentlichen Differenzierungen und Variationen im Bilde der Gesellschaft scheinen dabei noch immer völlig zu fehlen.
Kehren wir den Fall um: was würde man dazu sagen, wenn der Soziologe psychologische Probleme mit nur drei Begriffen angehen wollte, nämlich Denken, Fühlen und Wollen, und dabei solche fundamentalen Unterscheidungen wie Bewusstsein, Unbewusstes, das Ich, das Es und das Über-Ich, und ebenso die Wirkungen der verschiedenen Ichmechanismen ganz ausser acht liesse. Es ist klar, dass er, mit einem so dürftigen theoretischen Rüstzeug versehen, kaum die verschiedenen seelischen Prozesse voneinander unterscheiden könnte, nicht zu sprechen von einer zureichenden Erklärung ihres Wirkens.
Ich möchte ganz besonders an diesem Punkt alle Unklarheiten vermeiden. Nichts steht mir ferner, als den Psychologen deswegen zu kritisieren, weil er mit einem zu begrenzten Begriffsapparat arbeitet, wenn er es mit der Gesellschaft als ganzer zu tun hat. Es ist nicht seine Aufgabe, den Prozessen in diesem Felde im Einzelnen nachzugehen; aber infolge einer ungesunden Arbeitsteilung hat sich ein Zustand herausgebildet, in dem der Psychologe seine eigene Soziologie für den Hausgebrauch hat und vielleicht der Soziologe sich ebenfalls eine eigene Psychologie mit ähnlichen Beschränkungen zurechtgelegt hat. Jede Zusammen- arbeit muss daher mit einer wechselseitigen Aufdeckung dieser Differenzen beginnen und zwar in enger Verbindung mit dem konkreten Problem, das gerade den Gegenstand der gemeinsamen Forschung bildet. Im Geiste solcher gegen- seitiger Gewissensprüfung wage ich es zu behaupten, dass die Wahl von Gruppen als den ausschliesslichen Einheiten für die Zwecke der Beobachtung gleich- bedeutend ist mit einer Vernachlässigung vieler anderer sozialer Faktoren, die gleichfalls mit am Werke sind. Wenn man vom Ordinationszimmer kommt, dann ist es nur natürlich, in Alternativen wie den folgenden zu denken: Auf der einen
Durch Krieg verursachte Änderungen in unserer psychischen Ökonomie 349 Seite haben wir das Individuum mit seinen überaus komplexen Mechanismen, auf der anderen die Gruppen, grosse und kleine, das heisst, das Individuum zehn-, hundert- oder tausendmal genommen. Wer so an das Problem herangeht, dem bleiben nur zwei Wege offen. Der eine besteht darin, diese hypothetischen Einheiten, die Gruppen, als mythische Wesen anzusehen, in welchem Falle man zu Konstruktionen wie der einer Massenseele kommt, oder wenn man zufällig Psychoanalytiker ist, dann wird die Massenseele immer mehr der des Individuums ähneln. Sie wird ein Ich oder Über-Ich besitzen, aggressive Triebe u.dgl.m.ent- halten. Das war der Irrtum, der von jenen Psychoanalytikern begangen wurde, die unter dem Schlagwort einer „Psychoanalyse der Gesellschaft” arbeiteten. Der andere Weg besteht darin, dass man diese Art von Mystizismus und Analogi- sierung vermeidet, indem man die ‚Massenseele” als nichts anderes betrachtet als das Individuum millionenmal multipliziert. Für diese Ansicht können dann gewisse an den einzelnen Individuen beobachtete Vorgänge mehr oder weniger weit verbreitet sein; das führt zur Konstruktion der statistischen Durchschnitts- reaktionen, die zwar alles Mögliche aussagen können, nur nichts über jene kom- plexeren Prozesse, auf Grund deren sich die Veränderungen in der Gesellschaft wirklich ereignen. Geradeso wie eine jede statistische Korrelation für den Psycho- logen von geringer Bedeutung ist, wenn er den dynamischen Prozess der Lebens- geschichte seines Patienten zu rekonstruieren wünscht, wird das bloss summie- rende Zusammenfassen individueller Fälle für den Soziologen unzulänglich sein, sobald sein Hauptinteresse darauf gerichtet ist, den dynamischen Prozess in einer Serie von Vorgängen, die wir diesen Krieg nennen, zu rekonstruieren.
Wenn es — wie in unserem Fall — die Aufgabe ist, Beobachtungen zur psycho- logischen und sozialen Geschichte des Krieges zu sammeln, dann werden unsere Beobachter nicht die starren und beschränkten Gruppeneinheiten zu betrachten haben und das Leben der Individuen im Verhältnis zu ihnen, sondern die sich ändernden Verhaltensweisen der Einzelnen mit Rücksicht auf die umfassenderen Mechanismen, die in der Gesellschaft wirken.
Wenn ich die Einheiten so zu wählen hätte, dass an ihnen die dynamische Natur des Krieges in seinen verschiedenen Phasen und in seinem Effekt auf den Geist am unmittelbarsten beobachtet werden sollte, so würde ich neben anderen Einheiten in erster Reihe die Gruppenkonflikte zum Ausgangspunkt meiner Forschung machen. Genau wie im Fall des Individuums die Analyse der aktuellen Konflikte mehr zu unserem Verständnis beiträgt als isolierte de- skriptive Daten (wie Alter, Beruf, seine Zu- und Abneigungen), so können die sozialen, in der Gesellschaft ablaufenden Dynamismen viel adäquater erforscht werden, wenn man von typischen Gruppenkonflikten ausgeht. Hier teilt ein Verfolgen aller ins Spiel kommenden Faktoren mehr von der sozialen Wechsel-
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wirkung der Kräfte mit als ein Überblick über abstrakte Einheiten, wie es Gruppen oder Institutionen sind.
Die wahre Geschichte des Krieges scheint sich mir am besten widerzuspiegeln in einer Serie von Gruppenkonflikten, deren jeder am deutlichsten zeigt, was Gruppenintegration bedeutet und wie die letztere etwas Neues hinzufügt zu jenen Vorgängen, die in den vielen Individuen — einzeln genommen — sich abspielen.
Auf Gruppenkonflikte ist es zurückzuführen, dass das Friedens-Ich sich allmählich in das Kriegs-Ich verwandelt, um die von Freud ge- prägten Ausdrücke zu verwenden. Ebenso werden im Zusammenhang mit diesen Konflikten die Umwertungen vollzogen, die Neuinterpretationen von Situationen produziert und neue Bahnen des Handelns gewonnen. Die neuen Wertungen, die neuen Ideologien, die neuen Aktionsformen entspringen nicht ausschliesslich der Tiefe der isolierten Psyche (wie man es im Ordinationszimmer annehmen mag), sondern jenen integrierenden Prozessen, die Produkte der sozialen Wechsel- wirkung sind. Wenn man also eine Antwort auf die Rätselfrage wünscht: ‚Wie kommt es zustande, dass, wiewohl jedes Individuum sein eigenes Wertsystem hat, das sich ergebende Wertsystem der Gesellschaft von den individuellen Wert- systemen so gänzlich verschieden ist?”’, dann muss man die Natur dieser Wechsel- wirkungsprozesse sehr sorgfältig beobachten. Gerade diese Wechselwirkungs- prozesse bilden das Hauptinteresse des Soziologen. Er wendet sich ihnen zu, weil er die zur Institution gewordenen öffentlichen Normen weder als Produkt einer mysteriösen Massenseele auffassen kann noch einfach als die Summe oder den Durchschnitt typischer individueller Erfahrungen. In diesen Wechselwirkungs- prozessen findet etwas mehr statt als eine Zusammenlegung individueller Erfah- rungen: es geht eine allmähliche Umformung durch gewisse soziale Mecha- nismen vor sich, welche für den geübten soziologischen Beobachter ebenso erfassbar sind wie die Wirkung der Ichmechanismen für den erfahrenen Analy- tiker.
Es ist Zeit, ein konkretes Beispiel zu geben. Wenn ich unter den vielen Pro- blemen das Werden des Kriegs-Ichs wählte, würde ich natürlich zuerst die Psy- choanalytiker fragen, was sie aus den einzelnen Fällen wie etwa den Kriegs- neurosen oder -psychosen erfahren können — ich würde aber auch, wie Dr. Glover anregte, beobachten, was die grossen „Gruppen’” wie die Kirche und die Ethischen Gesellschaften unternehmen, um das Über-Ich zu beeinflussen. Aber in Ergänzung hierzu würde ich die Aufmerksamkeit der Beobachter auf jene Punkte im sozialen Zusammenhang lenken, wo der spontane Austausch der individuellen Erfahrungen erfolgt, und ich würde erwarten, dass hier radikale Umwertungen vor sich gehen. Gerade jetzt, denke ich, gibt es z.B. zwei Gruppen, bei denen die 'Transformierung des Friedens-Ichs besonders auffällig ist: nämlich
Durch Krieg verursachte Änderungen in unserer psychischen Ökonomie 351 teils bei den Pazifisten, teils bei den Kommunisten. In diesen Gruppen muss ein Konflikt deshalb platzgreifen, weil ihre Ideale sehr stark erschüttert sind; infolgedessen muss irgend eine neue Angleichung an die Situation eintreten. Für den Pazifisten ist allein schon die Existenz des Krieges (und die Unwirksam- keit der passiven Resistenz) eine Herausforderung. Der Kommunist wiederum muss sich mit der aufreizenden Wirkung der Unterstützung der National- Sozialisten durch Stalin auseinandersetzen. Wenn ich von Neuanpassung rede, dann meine ich natürlich nicht, dass sie jetzt verhalten sind, Kompromisse zu schliessen und ihre alten Ideale aufzugeben, sondern nur, dass sie auf die ver- änderte Situation eine neue Äntwort gewinnen müssen. In solchen Fällen, wo Gruppenkonflikte über aktuelle Kriegsprobleme entstehen, könnten wir die Natur der Wechselwirkungsprozesse und der Mechanismen, die aus den indi- viduellen Umwertungen kollektive Umwertungen hervorbringen, genauer stu- dieren.
In diesem Zusammenhang aber bedeuten Gruppenkonflikte für den Soziologen nicht einfach ‚‚Streitigkeiten”’, sondern Auseinandersetzungen und Wettstreit zwischen den verschiedenen Versuchen der Individuen, sich emotional, intel- lektuell und praktisch der neuen Situation anzupassen. Der erste soziale Mechanis- mus, der ins Spiel kommt, scheint also Konkurrenz zu sein, die auf eine Auswahl jener Antworten abzielt, die den grössten Überlebenswert haben. Das heisst, diese Diskussionen und Konflikte repräsentieren in Wirklichkeit eine Ausein- andersetzung zwischen den verschiedenen Meinungen, Haltungen und Gefühls- reaktionen, wie sie von den verschiedenen Individuen aus den besonderen Be- dingungen ihres persönlichen Lebens und Charakters heraus gleichsam angeboten werden. Was die soziologische Feldforschung hier (ebenso wie in jedem anderen Fall) vor allem zu beobachten hat, ist, wie aus den vielen individuellen Versuchen, eine Umstellung zu gewinnen, die neue Wertung, die Neuverteilung in unserer Libidoökonomie, die Entdeckung neuer Wege zur Selbstverwirklichung her- vorgehen; wie die neue Form angenommen wird, wie sie sich verbreitet, wie sie ständig modifiziert wird in einem Prozess weiterer unbewusster Formung, und wie sie in einem späteren Stadium schliesslich kodifiziert und zu Institutionen wird. Gerade im Mittelpunkt dieses Kampfes und Konflikts kann auch die Funk- tion des Führertums am besten studiert werden. Ursprüngliches Führertum hat keine Aussichten, wo gewohnheitsmässige und schablonisierte Lösungen über- wiegen. Hier beherrscht die traditionelle Autorität der gewählten Beamten alle Aktionen. Nur wo plötzliche Veränderungen durchbrechen und völlig neue Ant- worten notwendig werden, wird der neue Menschentypus emportauchen, der infolge seiner persönlichen Eigenschaften mehr geeignet ist, die neue Haltung zu schaffen, die die Stunde zu beherrschen bestimmt ist. (Hinter Herrn Chamber-
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lains kaufmännischer Führung der Geschäfte steht Herrn Churchills grössere Aggressivität und seine Technik des Frontalangriffs gewinnt immer mehr Aner- kennung). Der Psychoanalytiker vermag vielleicht hier auch darüber Aufklärung zu geben, warum in gewissen entscheidenden Situationen bestimmte patho- logische Typen geeigneter sind, die neue Anpassungsform zu finden. Ist das etwa der Fall, weil die neu hervorgehende ‚„Kriegsgesellschaft”” eine kranke” ist, so dass der Kranke besser hineinpasst, oder hat der pathologische Typus gerade, weil er niemals fähig war, die gewohnten Geleise zu gehen, die grössere Aussicht, neue und entsprechende Reaktionen zu finden, während der traditionsgebundene normale Typus versagt? Gerade hier kann das Studium der pathologischen 'T'ypen mit der Erforschung des sogenannten normalen eine organische Verbindung erfahren. Diese und einige andere leicht unterscheidbare soziale Vorgänge und Träger sozialer Funktionen, wie das Vorhandensein von Gruppen, die man als wertschöpferisch bezeichnen könnte (Intellektuelle, Journalisten, Priester usw.), sind für eine Veränderung, wie etwa das Werden eines Kriegs-Ichs mit seinen neuen Normen, verantwortlich. Wenn die neue Wertung als öffentliche Norm erscheint, dann ist dies das Resultat nicht etwa eines einfachen Additionsvorgangs, sondern dıe Wirkung jener sozialen Mechanismen, die ebenso sorgfältig ermittelt werden müssen wie die Mechanismen des Ichs. Und hier, auf dieser Stufe des Schöpfens der die Öffentlichkeit beherrschenden Werte beginnt der neue Kampf zwischen der Institution gewordenen neuen Norm und der lebendigen Erfahrung des Individuums. Die letztere wird sich sehr oft weigern, die Norm als ihren eigenen durch dassoziale Medium hindurchgegangenen Abkömmling anzuerkennen.
Fassen wir zusammen: welche Wirkungen hat dies auf unsere Forschungs- methoden?
Jede Anregung bezüglich der Forschung hängt natürlich von den verfügbaren Mitteln ab. Ich muss hier die wahrscheinlichen Grenzen des neuen Starts, wenn er überhaupt möglich sein sollte, vollständig ausser Acht lassen. Ich werde so sprechen, als wären unbegrenzte Hilfsmittel zu unserer Verfügung. Anderseits wird das, was ich sagen möchte, sehr fragmentarisch sein, da die Zeit es mir nicht erlaubt, alles zu erwähnen, was für eine umfassende Forschung notwendig wäre. Wann immer wir unsere Forschungseinheiten heraus zu arbeiten die Absicht haben, sollten wir die folgenden drei oder vier Grundsätze nicht aus den Augen verlieren.
a) In unserem Fall besteht die Hauptaufgabe darin, die durch die Methoden der 'Tiefenpsychologie gewonnene Kenntnis der Innenvorgänge mit den grösseren Veränderungen in der Aussenwelt zu verbinden. Unser letztes Ziel ist, die Mecha- nismen der Individualichs mit den sozialen Mechanismen, die auf sie einwirken, in Korrelation zu bringen.
Durch Krieg verursachte Änderungen in unserer psychischen Ökonomie 353
b) Wenn wir ein Vorbild für die dynamische Forschung schaffen wollen, können uns die Methoden der rein deskriptiven Feldarbeit oder Beobachtungen unter künstlich geschaffenen Bedingungen nicht befriedigen. Wir müssen uns zum Ziele setzen, das Leben der Gruppen dynamisch zu durchdringen.
c) In Ergänzung hiezu besteht unsere neue Aufgabe darin, Einflüsse zu ermit- teln, die von weit entfernten Brennpunkten der Gesellschaft herrühren und nicht von der Familie, Nachbarschaft oder Gemeinde.
d) Wir haben unaufhörlich die pathologischen Formen der Anpassung mit den normalen in Verbindung zu bringen und zu vergleichen, und die Funktion der ersteren in den verschiedenen Stadien des sozialen Prozesses zu ermitteln.
Einige konkrete Anregungen für die Organisierung der Forschung:
1. Bezüglich der Analyse der pathologischen Fälle möchte ich Dr. Glovers Anregungen eine weitere anfügen. Es wäre, wie mir scheint, gar nicht schwer, die Sammlung und Zusammenfassung aller in der privaten und klinischen Praxis erfassbaren Einsichten über die typischen Reaktionen auf den Krieg, beginnend mit einer Beschreibung der Kriegsphantasien bis zur Darstellung der Kriegsneu- rosen usw. zu organisieren.
2. Noch immer innerhalb des Felds der innerpsychologischen Einsichten ver- weilend, wie sie mit Hilfe der tiefenpsychologischen "Technik erfassbar sind, und immer noch den Blick mehr auf den Einzelfall als auf die Gruppenphänomene richtend, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Methode lenken, die Lass- wellin seinem Buch ‚Psychopathologie und Politik’ entwickelt hat und die er ein „fortgesetztes Interview’’ nennt. Es handelt sich um ein Mittelding zwischen einer vollständigen Psychoanalyse und einer einfachen Anamnese. Es kann natürlich bezüglich Zuverlässigkeit mit einer langen Analyse nicht verglichen werden, aber es ist weniger oberflächlich als die üblichen Befragungen durch Journalisten oder Feldforscher. Es besteht in einer Art kurzer, vielleicht auf einige Wochen ausgedehnter Analyse, mit deren Hilfe ein erfahrener Analytiker imstande ist, die innere Lebensgeschichte eines Individuums vor allem in ihren Hauptphasen, das Grundsystem seiner Ideologie und seiner Wertungen und seine Reaktionen auf die aktuellen Konflikte in seinem Leben zu rekonstruieren. Natür- lich wären für eine solche Untersuchung nur jene Personen zugänglich, die selbst ein tiefes Interesse an der Psychologie nehmen; aber wenn dies der Fall ist, dann wäre es das allerwichtigste, Einblick zu gewinnen in die seelische Verfassung sowohl von Personen, die wir als repräsentative Persönlichkeiten kennen, als auch solcher, die in ihrem öffentlichen Verhalten die Reaktionen von wohl abge- grenzten Gruppen zum mindesten zu repräsentieren scheinen.
3. Gleichfalls noch immer innerhalb des Felds der innerpsychologischen Ein-
sichten verweilend, hielte ich es für sehr schätzenswert, gewisse Personen zu 24
LERDAZ i. I
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veranlassen, ein Kriegstagebuch zu führen, das teils Antworten auf bestimmte Fragen zu enthalten hätte, die im Laufe anderer Studien wichtig zu werden ver- sprechen, und teils Notizen, die spontane Niederschläge freier Assoziationen und ganz dem Belieben des T'agebuchschreibers zu überlassen wären.
4. Wenn ich nun an die Forschungstechniken herangehe, nach denen das soziologische Material auf geeignete Weise gesammelt werden müsste, würde ich natürlich keineswegs die Gruppenbeobachtung, wie sie Glover anregt, beiseite schieben wollen. Mein Standpunkt ist vielmehr nur der, dass ich mich keineswegs auf sie allein beschränken würde. Die glücklichste Konstellation für den Psychiater oder Psychologen, wofern er in der Lage ist, mit klinischem Material zu arbeiten, wäre in diesem Zusammenhang natürlich die, dass es von einer genau bestimmten, begrenzten Institution käme. Das ist der Fall, wenn man es z.B. mit den Angestellten eines Warenhauses zu tun hat, mit den Schülern einer Schule oder mit bestimmten Abteilungen der Armee. In diesen Fällen müss- ten selbstverständlich alle Methoden, die statistische, die Fragebogenmethode und die verschiedenen Formen der Persönlichkeitsforschung miteinander ko- ordiniert werden.
5. Nun komme ich zu jenem Gegenstand, den näher auszuführen ich in diesem Vortrag Gelegenheit hatte, die Wahl der Gruppenkonflikte als Elemente der Forschung und die weitestgehende Verfolgung der psychischen und sozialen Faktoren, die in ihnen wirksam werden. Ich erwähnte als Beispiele die Konflikte, die in der gegenwärtigen Phase unter Pazifisten und Kommunisten ausbrachen, aber ich hätte ebenso die typischen Konflikte hervorheben können, die etwa im Zusammenhang mit der Evakuation ausgelöst wurden. Jeder dieser Konflikte würde die dynamische wechselseitige Verbundenheit psychischer und sozialer Faktoren aufdecken.
6. Um die Bedeutung jener Einflüsse zu ermitteln, die von einem weit ent- fernten Brennpunkt der Gesellschaft herkommen, stehen uns noch einige weitere Methoden zur Verfügung. Das Erste, was zu geschehen hätte, wäre, ein möglicher- weise von einem Psychologen und Soziologen in gemeinsamer Arbeit pro- duziertes Kriegstagebuch zu schreiben. Ihre Hauptaufgabe bestünde darin, die wichtigsten kollektiven Gefühlsströmungen in ihrem Wachstum und ihrer Ent- wicklung, in Ebbe und Flut festzuhalten. Die Nachkommenschaft wird die mehr greifbaren Tatsachen auf Grund verschiedener Quellen leicht rekonstruieren, aber wir werden sehr bald vergessen, wie lange der erste Schock nach der Kriegs- erklärung dauerte, wann die Leute zu ihrer gewohnten Beschäftigung zurück- kehrten, wann sie aufhörten, ihre Gasmasken mit sich zu tragen, wann die Intel- lektuellen anfingen, über die Friedensziele, Föderationspläne und die Menschen- rechte zu diskutieren, was späterhin höchstwahrscheinlich als Resultat kollektiver
Durch Krieg verursachte Änderungen in unserer psychischen Ökonomie 355 Fluchtmechanismen wird gedeutet werden können. In jedem Fall würde ein solches Kriegstagebuch, das die Natur und Länge dieser sozialen Stimmungs- schwankungen nur in groben Umrissen zu erfassen imstande wäre, einen ausge- zeichneten Hintergrund abgeben, im Hinblick auf den die sowohl im Ordinations- zimmer wie bei der Feldforschung an Individuen gemachten Erfahrungen gedeutet und eingeordnet werden könnten.
7. Zusammenfassend möchte ich sagen, dass es ausserordentlich dringend ist — nicht allein für die Zwecke der Forschung, sondern auch um wirksame Hilfe leisten zu können —, eine Art von Clearingstelle für aktuelle Konflikte und Schwierigkeiten zu schaffen. Diese hätte nicht nur die typischen Formen der im Zusammenhang mit der Kriegsumstellung erwachsenen Schwierigkeiten zu sammeln, hätte sie nicht nur zu klassifizieren, zu beschreiben und zu diagnosti- zieren, sondern sie würde auch sehr bald feststellen, dass mit den typischen Schwierigkeiten immer auch Individuen auftreten, die Modelle für eine korrekte äussere und innere Anpassung an die veränderte Situation erfinden. Die Mittei- lung und Verbreitung solcher Modelle wäre jene Art von Hilfe, die die moderne soziale Fürsorge leisten könnte. Wir müssen immer im Auge behalten, dass ın unserer modernen Gesellschaft grossen Masstabs nicht erwartet werden kann, dass das Individuum die geeignete Anpassung an plötzliche Veränderungen von selbst findet. In der alten Kirchturmwelt gab es, auch wenn die Veränderungen sehr langsam vor sich gingen, eine primitive Methode, erfolgreiche seelische Anpassungen dem Nachbarn zu übermitteln. Es ist nur natürlich, dass in unserer modernen Welt auch dies organisiert werden muss. Ich denke, wenn wir imstande wären, unseren wissenschaftlichen Drang nach Erkenntnis um ihrer selbst willen mit einigen solchen praktischen Zwecke zu verbinden, würden wir sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den Behörden viel leichter Unterstützung finden.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt
(Versuch einer libido-ökonomischen Analyse der indischen Gesellschaft)
von Martha Mitnitzky-Vago
Budapest
Meine ursprüngliche Absicht war, die hinter dem Arbeitsethos verschiedener Völker verborgene Hypokrisie einerseits, und die in ihnen doch enthaltene Wahr- heit andererseits auf Grundlage der Freu dschen Libidotheorie zu analysieren, Die Wege der Libido und der aggressiven Impulse in verschiedenen Arten der Arbeit empirisch — auf dem Wege des ‚„field-work’’ — usw. zu untersuchen, war für mich ebenso wenig zugänglich wie die Möglichkeit, Arbeitern in und ausser Arbeit in grösserer Zahl zu begegnen. So habe ich mich entschlossen, dem Rat Professor KarlMannheims folgend, mich auf den hier vorliegenden Arbeits- plan zu beschränken: auf der Grundlage mir zwar auch nur sehr beschränkt zur Verfügung stehender ethnologischer, soziologischer usw. Werke! eine Analyse von gewissen Völkern und Gruppen von diesem Gesichtspunkt aus zu versuchen. Die hinduistischen Kasten erschienen mir als besonders geeignet für einen ersten Versuch. Gruppen-und Klassenunterschiede gibt es ja überall, aber nirgends ist die Teilung einer Bevölkerung in soziale, Berufs- usw. Gruppen so scharf und starr durchgeführt worden wie in Indien. Ich hoffe bei der Analyse der Arbeitskasten einiges von meinem ursprünglichen Plan verwirklichen zu können.
Vorderhand soll hier die indische Gesellschaft, nicht in einer bestimmten, abgegrenzten Periode, sondern im Flusse ihrer Entwicklung, seit ältester Zeit, in ihren auffallendsten Eigentümlichkeiten untersucht werden. Unter diesen Eigen- tümlichkeiten ist an erster Stelle das Kastensystem zu nennen, welches uns teils an sich, teils als Produkt der Brahmanen beschäftigen soll. Zweitens und anschlies- send: das Phänomen des Sippencharisma, und schliesslich in diesem ersten Teil unserer Untersuchung noch: die Kuhverehrung, deren Analyse eine tiefere Ein- sicht in den Libidohaushalt der ersten Gruppe unserer Untersuchungen (der Brahmanenkaste) ermöglicht.
Das Arbeitsethos der Brahmanen ist durchaus negativ und wir wollen eben diesen negativen Charakter ebenso — wenn auch nur indirekt und nur nebenbei — einer Analyse unterwerfen. Das Problem muss sich aber erweitern: das ‚Dharma”
1) Über die Kaste der Brahmanen habe ich ausser bei Max Weber nirgends bedeutsame In- formation gefunden.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 357 ( = Kastenethos) ist nur im Falle der Berufskasten Berufsethos; vom Standpunkt der Sippenkasten (die natürlich oft mit jenen zusammenfallen) ist es das speziali- sierte Ethos des jeweiligen sozialen Ranges. Wenn also das Arbeitsethos, sagen wir z.B. einer Unterkaste positiv ist, darf das keinesfalls dynamisch aufgefasst werden, etwa wie „Arbeit adelt’’. Arbeit kann die soziale Geltung in Indien nicht heben, wohl aber senken, wenn das „Dharma’’ negativ, d.h. dagegen wie bei den Oberkasten ist. Und so wird hier zu unserem Problem das Ethos und die Hypo- krisie in der gesellschaftlichen Hierarchie des Kastensystems. Wie die sozialen Wertungen entstehen, durchgesetzt oder akzeptiert werden, muss auch auf die Libidoökonomie der verschiedenen Schichten etwas Licht werfen.
Wir wollen also erstens erfahren, auf welche Weise ein Prozess wie der der Kastengliederung 1. historisch, 2. psychologisch vor sich gehen mag.
E. Meyer berichtet, wie Ägypten in einem Zustand der Schwäche und des Zerfalles von lybischen Söldnern niedergeworfen wurde, die die friedliche bäuerliche Bevölkerung unterjochten und das Kastensystem errichteten, indem sie sich selbst als die höchste Kaste ein-, d.h. den andern überordneten und sie in ihren Beschäftigungen und zwangsmässig untergeordneten Positionen festlegten.
In Indien waren es die Inooarier, ein barbarisch-nomadischer Stamm, die die hamitischen Dravidenvölker, die dort in ihren Dörfern lebten, unterjochten. Ihnen folgten noch zahlreiche andere Eroberer, die alle mehr oder weniger Erfolg hatten, die aber alle ohne die Domestikationsmittel der Brahmanen, Mönche, Gurus usw. der verschiedenen Sekten ihre Macht in Indien nicht aufrechterhalten konnten.
„Dass nun die Priesterschaft gerade in die Bahnen der Kastenordnung ein- lenkte”, schreibt Max Weber, ‚hatte eine Reihe von Ursachen. Ethnische Gegensätze heften sich an Gegensätze des äusseren Habitus und der äusseren Lebensführung. Der auffallendste Gegensatz der äusseren Erscheinung ist aber nun einmal der Unterschied der Hautfarbe. (Der älteste Ausdruck für „Stand’’ — varna — bedeutet ‚„‚Farbe”.) Die Kasten sind in der Tradition oft nach typischer Hautfarbe geschieden: Brahmanen: weiss; Kschatriya: rot; Vaicya (Gemeinfreie): gelb; Cudra (Knechte): schwarz. ... Der Dasyu war der dunkelfarbige Feind der eindringenden Eroberer, die Ritter, Vornehme waren....Ein Konnubium mit den verachteten Unterworfenen kam niemals auf gleichem Fuss zustande.’
„Diese an sich feste, durch magische Scheu befestigte, Schranke musste das Schwergewicht der Geburtsrechte, das Gentilcharisma, auf allen Gebieten steigern und erhalten. .... Alle Stellungen, welche unter der Herrschaft magischen Geisterglaubens an den Besitz magischen Charismas geknüpft zu sein pflegen: vor allem Autoritätsstellungen geistlicher und weltlicher Art, aber auch die Kunst der Handwerker, hatten in Indien alsbald die Tendenz, gentilcharismatisch,
358 Martha Mitnitzky-V ago
schliesslich einfach: erblich zu werden.... Darin lag der Keim der Kasten- ordnung für diese Stellungen und Berufe.... Die Kastenordnung als ge- schlossenes System ist ein Produkt konsequenten brahmanischen Denkens und hätte ohne den intensiven Einfluss der Brahmanen, als Hauspriester, Respondenten, Beichtväter und Ratgeber in allen Lebenslagen und als ihrer Schreibkunst wegen mit Beginn der bürokratischen Regierung steigend gesuchte fürstliche Beamte wohl niemals die Herrschaft gewonnen.” ?
Die Frage, wie das Kastensystem zustandekommen kann, fällt psychologisch mehr oder weniger mit der anderen Frage zusammen: wie eine Schicht oder Menschengruppe zur Macht gelangen und diese erhalten kann.
„Wenn der indische Fürst dessen ‚Dharma’” (=Kastenethos) schlechthin der Krieg war, der in Indien mit Unterbrechungen durch die Universalmonarchien in Permanenz war, im Krieg unterlag, oder wenn es seinen Untertanen andauernd nicht gut ging, war dies ein Beweis für magische Verfehlungen oder mangelndes Charisma. ... Das lag... aber an der Zauberkraft seines Brahmanen.’”’?
Wer die Verantwortung für Erfolg und Sieg, für Wohl und Wehe der Ge- meinschaft trägt, will auch in der allgemeinen Wertschätzung den höchsten Rang einnehmen, die Rangstufe der anderen postulieren und für die Stabilität dieser Hierarchie sorgen.
„+... dies ist das für den Zusammenhang von Hindukasten und Brahmanen entscheidende: eine Hindukaste mag die Brahmanen als Priester, als Lehr- und Ritual-Autorität und in jeder anderen Hinsicht noch so sehr ablehnen, unentrinn- bar bleibt für die objektive Situation: dass ihre Rangstufe durch die Art der positiven oder negativen Beziehung zum Brahmanen in letzter Instanz bestimmt ist.”
Nach den Brahmanen ‚folgt eine Reihe von Kasten, welche — mit Recht oder mit Unrecht — den Anspruch erheben, zu den beiden andern ‚‚wieder- geborenen” Kasten der klassischen Lehre, d.h. also zu den Kschatriya oder Vaicya zu gehören und als Zeichen dafür den „heiligen Gürtel” anlegen zu dürfen. ... Soweit dies einer Kaste zugestanden wird, gilt diese als rituell unbedingt rein. Brahmanen hoher Kaste nehmen Speise jeder Art von ihr.”
„Es folgt durchweg eine dritte Gruppe von Kasten, welche den „Satcudra’”, den „‚guten” (reinen Cudra= clean Sutra) der klassischen Lehre zugerechnet werden. Sie sind in Nord- und Zentralindien jalacharaniya, d.h. Kasten, die einem Brahmanen Wasser geben dürfen, aus deren lota (Wasserkessel) er Wasser nimmt. Nächst ihnen folgen Kasten, deren Wasser in Nord- und Mittelindien ein Brah-
2) Max Weber: Hinduismus und Buddhismus. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.2., 3. S. 613-664 u.a.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 339
mane nicht immer (nämlich: je nach seinem eigenen Rang eventuell nicht) oder gar nicht nimmt (jalabachariya), die der Barbier hoher Kaste nicht unbedingt bedient (keine Pedicure), und deren Wäsche der Wäscher nicht wäscht, die aber nicht als absolut ‚‚unrein’’ gelten: die gewöhnlichen Cudra der klassischen Lehre. Schliesslich Kasten, die als unrein gelten, daher vom Betreten aller Tempel und jeder Bedienung durch Brahmanen und Barbiere ausgeschlossen sind, ausserhalb des Dorfbezirks wohnen müssen und entweder durch Berührung oder, in Südin- dien, schon auf Distanz (bis zu 54 Fuss bei den Parayana) infizieren: den Kasten entsprechend, welche die klassische Lehre aus rituell verbotenem Geschlechts- verkehr zwischen Angehörigen verschiedener Kasten hervorgehen lässt. Innerhalb dieser nicht überall, und vor allem bei weitem nicht gleichmässig, sondern nur mit auffälligen Durchbrechungen, aber doch in im grossen und ganzen leidlich durchführbaren Gruppenbildungen könnten die weiteren Abstufungen des Ranges der Kasten nur nach einer höchst bunten Vielzahl von Merkmalen vorge- nommen werden: Innerhalb der Oberkasten, je nach Korrektheit ihrer Lebens- praxis in bezug auf Sippenorganisation, Endogamie, Kinderheirat, Witwenzölibat, Totenverbrennung, Ahnenopfer, Speise und Getränke, Verkehr mit unreinen Kasten. Innerhalb der unteren Kasten, je nach dem Rang der Brahmanen, welche sich zu ihrer Bedienung noch bereit oder nicht mehr bereit finden, und je nach- dem andere Kasten als die Brahmanen von der betreffenden Kaste Wasser nehmen oder nicht.”
Neben dem scheinbaren Überwiegen des Narzissmus über die Inzestangst bei diesen Sippenkasten ist die Neidabwehr am auffallendsten bei Vorschriften dieser Art, die durch Freuds Erklärung in Totem und 'Tabu, warum die Manakräfte verschiedener Personen sich voneinander abziehen, klar geworden sind.
„Der blosse Anblick der Mahlzeit eines Brahmanen durch einen Mann niederer Kaste befleckt den ersteren rituell.”’
Die Sicherungstendenzen der Oberschichten gehen inıhren Wirkungen aber noch tiefer und weiter. Die Unterschichten bemerken scheinbar nicht die Angst, die hinter diesen Schutzdämmen wealtet.
„In a static society, which has reached a certain balance, there will always be some classes of leading groups (Elites) the standards of which will become repre- sentative, and will be silently accepted even by those groups which are subjugated and essentially frustrated by these valuations”’, sagt Mannheim? an einer Stelle.
Die Bestimmung der Rangordnung, die Wertungen dahinter üben eine magische, alle Betroffenen lähmende Wirkung aus.
3) Karl Mannheim: The Sociology of Human Valuations, etc. in: Further Papers on the Social Sciences, ed. by Dugdale, London 1937.
Wir finden schon in ganz primitiven Gemeinschaften diese Art von Postu- lierungen. In Ostafrika, bei dem Kitara-Stamm, bei den Bakitara, den Kondhen, Banyankolen sind die Landarbeiter Knechte, die Herren” sind Hirten, übrigens zum grossen Teil Hamiten (reine oder Mischlinge), während die unterjochten Landarbeiter Neger sind. Die ostafrikanischen Bakitara verachten sowohl die Landarbeiter wie die Handwerker, angeblich, weil sie Pflanzen essen. Sie selber essen nur Milchprodukte, kein Fleisch. In Tahiti soll man sogar bei gewissen magischen Zeremonien Landarbeiter rituell opfern, mit der Begründung, dass keine rituellen Opfertiere da sind.* Auf diesen kleinen Koralleninseln gibt es nämlich keine Weiden, die einzigen Tiere, die zur Verfügung stehen, Schweine und Geflügel, werden nur bei chthonischen (mutterrechtlichen) Kulten geopfert. Die Juden sollen das Schweinefleisch auch aus diesem Grunde verwerfen. Bei den Arabern sind aus demselben Grunde die verachtetsten Berufe der Tanz, jede Art des Schauspiels, mit und ohne Maske usw., weil sie auch Bestandteile der alten, von den pastoralen Kulten ‚längst überholten’’ chthonischen Kulte waren.
Der Beruf des Handwerkers wird in primitiven Gemeinschaften als magische Funktion geschätzt, oft gefürchtet oder auch verachtet. In New Guinea z.B. begann ein Clan Holztöpfe zu verfertigen (bis dahin trank man nur aus Kokos- nuss-Schalen) und wurde infolgedessen zum verachtetsten Clan in Bwoyltalo. In Bvoitilu erzählt man, dass der grosse Urzauberer, der zuerst Holztassen ver- fertigen konnte, einst als Krabbe aus dem Meere stieg. Dieser Clan isst auch Tiere, die von den anderen als unrein betrachtet werden, z.B. Igel; sıe müssen sich ferner vor dem Chief öfter verbeugen als die anderen. Das Produkt ihrer Arbeit wird aber nicht als unrein betrachtet, sondern allgemein benützt.
Der Handwerker ist in primitiven Gemeinschaften — und in Indien teilweise auch heute noch — im allgemeinen in solch unsicherer, unentschiedener Position. Es ıst klar, dass sein Tun befremdlich wirkt, viel befremdlicher als alle anderen magischen Übungen, die die Natur zwar beeinflussen wollen, das Handeln aber doch lediglich den Göttern überlassen. Die Chiefs und Magier, die die Wertungen in einer solchen Gemeinschaft wohl postulieren, betrachten solche Fremde, die sich aus ihnen und ihren Verboten scheinbar nichts machen, Dinge zu berühren, ja sogar zu formen wagen, ohne irgendetwas dabei vorzumachen, was in ihrer Linie des Zauberns liegen würde, die sogar ‚unreine’” Tiere zu essen wagen und dabei am Leben bleiben, sicherlich als ihre Feinde. Da aber ihre Produkte von der Gesellschaft angenommen und benutzt wurden, scheint für diese Fremden alles Weitere gleichgültig zu sein. Sie scheinen die ‚‚unreinen” Tiere unverdrossen
4) Ein merkwürdiges Beispiel für die Identität des Tieropfers mit dem Menschenopfer. Wie das. erstere vom letzteren deriviert wurde, so kann es auch wieder umgekehrt geschehen.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 361
zu verzehren und die daraus folgenden sozialen Konsequenzen, die häufigeren Verbeugungen vor dem Chief usw. auch leichten Herzens zu erfüllen. Ihre un- abhängige Art erinnert etwas an gewisse Künstler-T'ypen unseres Zeitalters, d.h. unserer Kultur. Sie leben scheinbar ohne Gott und relativ ohne Angst.
Die grossen, die reichen Hirten sind oft zugleich die Magier und ihre Ver- achtung für die alten chthonischen Riten (in Gegenden, wo ein Teil der Bevöl- kerung sie noch pflegte) die ohne ihre Leitung veranstaltet wurden, ist auch damit zu erklären. Wir finden bei Frazer? folgenden Bericht: ‚„Cleanliness became a custom out of fear of contagious magic. If anyone’s rubbish is made harm to, he will become ill himself. Magicians who threatened with such magic became most powerful and rich in Tana. 'T'he chiefs of Wataturu, another people of East Africa, are said to be nothing but sorcerers destitute of any direct political influence. Among the Wambugwa, a Bantu people of East Africa, the original form of government was a family republic, but the enormous power of the sorcerers transmitted by inheritance, soon raised them to the rank of petty lords and chiefs. Of the three chiefs living in the country in 1894 two were much dreaded as magicians, and the wealth of cattle they possessed came to them almost wholly in the shape of presents bestowed for their services in that capacity. T'heir principal art was rain-making.’’
Die Drohungen der Brahmanen waren von subtilerer Art, aber in ihren Wirkungen dauerhafter und vielleicht noch intensiver. Jedenfalls gibt es in Indien keine derartigen relativ furchtlosen Handwerker wie die "Töpfer in Bvoitilu. Wie weit zum Arbeiten schlechthin schon Mut gehörte, erfahren wir z.B. aus Hans Naumanns Buch ‚„Primitive Gemeinschaftskultur’’,® wie die ersten Landarbeiter auch schwer und zögernd ihre wahnsinnige Angst vor den Toten überwinden mussten, bevor sie „ihre Ruhe zu stören’ wagten, um aus ihrer „Ruhestätte”, der Erde, ihre Nahrung zu gewinnen.?
„...a great step in advance has been taken when a special class of magicians has been instituted. There was then a body of men relieved from the need oi earning their livelihood by hard manual toil and allowed, nay, expected and encouraged, to prosecute researches into the secret ways of nature. It was at once their duty and their interest to know more than their fellows.’’®
Frazer scheint in seinem beneidenswerten Optimismus bei dieser Ausein- andersetzung bereits vergessen zu haben, was er über die Angst der Bevölkerung
5) The Golden Bough.
6) Diederichs Verlag, Jena, 1921. u 7) Hinter dem Schuldbewusstsein den toten Vorfahren gegenüber ist immer auch geheime
Aggression verborgen, und die Angst ist auch Angst vor diesen eigenen aggressiven Impulsen. 8) Frazer: The Golden Bough.
362 Martha Mitnitzky-Vagö
in Tana vom „contagious magic” der Zauberer berichtete, und auch wie die „family republic” der Wambugwa unter dem Druck der Drohungen der mäch- tigen Magier zerfiel, welche riesige Herden, sonstigen Reichtum und völlige Unterwerfung der einstigen „Republikaner”’ erreichen konnten. Die Töpfer von Bvoitilu, die an Stelle von Drohungen und Verheissungen, die Natur zu bändigen, wahrhaftig einfach ‚‚die geheimen Wege der Natur’”’ beobachteten und nachzuah- men versuchten, scheinen geeigneter für die ehrenvolle Rolle, die Frazer den Regenmachern und Zauberern, den skrupellosen Hypokriten der primitiven Gesellschaften, zumutet.
Aber die Herrschenden sind immer und überall diejenigen gewesen, die Furcht erregen konnten und wollten, d.h. jene, die ihre Aggressionen nicht sublimierten; die eher an den strengen Vater gemahnen als die schöpferischen Menschen, die mehr an die gebärende Mutter erinnern. Die kriegerischen Könige, Heroen und Ritter gehören zu dem Typus, der seine Aggressionen berufsmässig gegen die Mitmenschen wenden kann. Die Magier und Asketen erregen eher Bewunderung und Achtung durch gegen sich selbst gewendete Aggression, was aber noch immer eine Exhibition der vorhandenen Aggressionen bedeutet und wenn auch die Achtung, die sie erregen, eher der Grösse, der hervorragenden Leistung im allge- meinen Kampf gegen die Instinkte gelten soll, so ist darin sicherlich auch die vielleicht unbewusste Ahnung enthalten, dass der Destruktionstrieb, der sich in den asketischen Übungen äussert, auch wieder nach aussen gewendet werden könnte,? was ja schon in den Drohungen geschieht, die oft mehr Angst erwecken als die Waffen der Krieger, deren Erfolg in Indien ja auch von den magischen Mitteln der Brahmanen abhängt, die immer mit Askese irgendwie zusammen- hängen: durch gewisse asketische Darstellungen wird und dergl. bewiesen, dass die Natur keine Macht über sie, sie aber wohl welche über die Natur haben. — Der erste Heros, von dem berichtet wird, dass er riesenhafte Arbeiten leistete, Herkules, wurde in sinniger Weise zu dieser Sublimierung seiner gefährlichen Kräfte gezwungen, und die Tatsache, dass in der sozialen Wertung die Arbeiter- schichten so viel tiefer stehen als diejenigen, die nicht sublimieren, bedeutet wohl unter anderm auch, dass Sublimierung und Arbeit als nur unter Zwang entstanden vorgestellt werden können. Die Achtung der Askese als „sublimie- rende” Leistung ist also Hypokrisie, und dahinter steht die drohende Aggression.
„Die sozialen und ökonomischen Privilegien der Brahmanen waren derart, dass sie von keiner Priesterschaft der Welt erreicht wurden. Selbst der Kot eines Brahmanen konnte, als Divinationsmittel, religiös bedeutsam sein. Das Prinzip der „Ajucyata”’: Verbot der Bedrückung eines Brahmanen, schloss unter anderm
TE ELITE NT ER ET I EEE EEE EN PER
9) Siehe Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus. Ges. Schr., Bd. V.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 363
ein: dass ein Schiedsrichter einem Brahmanen nie gegenüber einem andern Un- recht geben durfte und die ‚arca” (Ehrerbietung), die ihm gebührte, war zum mindesten nach den eigenen Ansprüchen ungleich höher als die einem König gebührende. Die ökonomischen Vorteile waren kaum geringer. Der spezifische Kastenanspruch auf ‚„danam’’, Geschenke, betraf neben Geld und geldeswerten Kostbarkeiten Rinder und vor allem Land und auf Land- und Steuereinkünfte gegründete Rentenschenkungen, die klassische Form des Entgelts seitens vor- nehmer Herren. Landschenkungen zu empfangen galt — wenigstens nach der brahmanischen Theorie — als Monopol der Brahmanenkaste und war ihr ökono- misch wichtigstes Privileg. Die ungeheure Zahl inschriftlicher Pfründenstiftungen (die Mehrzahl aller erhaltenen indischen Inschriften) beweisen, dass tatsächlich der typische Brahmane voller Kaste im indischen Mittelalter ein erblicher Pfründner war. Die typische, ursprünglich höchste innerweltliche Stellung des Brahmanen war aber von jeher und blieb: purohita, Hauskaplan eines Fürsten und damit dessen Seelendirektor in allen persönlichen und politischen Angele- genheiten zu sein.’
„Die Brahmanen sind niemals ein „Stamm’’ gewesen, obwohl mehr als die Hälfte von ihnen im oberen Gangestal — der Heimat ihrer Machtstellung — und in Bengalen ansässig sind. Sie waren: Zauberer und wurden: eine hierokratische Bildungskaste. Der Brahmane hat einen Lehrgang durchzumachen, der in der klassischen Zeit schon wesentlich nur aus einer Aneignung der heiligen (magischen) Formeln und Ritualhandlungen und mechanischem Auswendiglernen des münd- lich überlieferten Veda bestand, unter der Leitung eines freigewählten brahmani- schen Lehrers, der die klassischen Werke Wort für Wort vorsprach. Diese Art der Vorbildung, äusserlich eine rein literarische Priesterschulung, enthält einzelne Spuren alter magischer Askese, welche die Herkunft des Brahmanen aus dem urwüchsigen Magiertum erkennen lassen. Ihre kastenmässige Entwicklung ist zwar in ihren allgemeinen Stadien, nicht aber in ihren Gründen klar. Ein ge- schlossener Geburtsstand war die Priesterschaft der vedischen Zeit offenbar nicht, obwohl die gentilcharismatische Qualität gewisser alter Kulturpriestergeschlechter feststand und innerhalb des Volksverbandes neben das rein persönliche Charisma des alten Magiers getreten war.''1
Wir wollen nicht die Unmöglichkeit unternehmen, die etwa 3000 Sippenkasten, die der zehnjährige britische Zensus von Indien (1901-1911) zusammenzählte, einzeln einer Analyse zu unterziehen. Unsere ‚„Gruppen’’-Analyse muss sich mit gröberen Einheiten begnügen: von den anderen genau zu unterscheiden sind nur die beiden oberen Kasten: Brahmanen und Kschatriya (Ritter), ferner die nie-
10) Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.5.672 ff.
364 Martha Mitnitzky-Vago
drigste Kaste der Verworfenen. Die übrigen möchte ich unter dem Sammelnamen „Arbeits-Kasten” zusammenfassen. Wir wollen uns also wenig darum kümmern, ob die Kaste der Brahmanen ein geschlossener Geburtsstand war oder nicht, desto mehr interessiert uns aber ihre sippencharismatische Qualität.
„Das Gentilcharisma in Indien...ist nicht gleich herrschend geworden, sondern lag im Kampf sowohl mit dem alten genuinen Charismatismus (der nur die höchst persönliche Gabe des Einzelnen: die ursprünglich rein magisch gedachte ausseralltägliche oder doch jedenfalls nicht universell zugängliche persönliche Qualifikation gelten liess) als mit dem „bildungs’’-ständischen (kultivationspäda- gogischen) Vorstellungskreis..... Da das Wissen der Brahmanen Geheimlehre war, ergab sich die Monopolisierung der Zulassung der Lehre für die eigene Nach- kommenschaft von selbst.”
„Charisma’” und ‚‚mana’” sind mehr oder weniger identische Begriffe. Die Ver- änderung, die der Begriff im Laufe der Geschichte von der einen Bezeichnung zur andern durchmachte, besteht wohl nur darin, dass in ganz primitiven Gemein- schaften ‚‚mana’” als eine physische Kraft betrachtet wurde, die durch „Ein- verleibung” usw. angeeignet werden kann, während später die ‚magische Kraft’’, welche dem Charismaträger entströmt, doch eher als eine geistige oder seelische Macht vorgestellt wurde. Aber die Bedeutung der Kommensalität ‚als Haupt- mittel der Verbrüderung’’!! einerseits, die Entstehung des Begriffs des „Sippen- charisma’’ als eines vererblichen Besitzes andererseits, zeigen, dass dieser Begriff auch weiterhin als körperliche Eigenschaft zumindest empfunden wurde und dass er direkt von der uralten, in Opfermahlzeiten gemeinsam verzehrten ‚Urkraft’’ oder dem ‚‚mana”’ einesClans herrührt, welche Sitte wiederum vom grossen Erleb- nis der „Erbsünde”, der einstigen gemeinsamen Tötung und Verzehrung des Urvaters herrührend, in den Totemmahlzeiten weiterlebt, wo das Totemtier den Vater, den Zeuger des Clans repräsentiert.
Freud leitet das ‚mana’” des Häuptlings und des Magiers, die Wirkung des Hypnotiseurs und des Massenführers von der des Urvaters ab. Und in der Tat, das Akzeptieren der erniedrigenden sozialen Wertungen, das Sich-Unterwerfen der niedrigen Schichten, kann nur in der ‚„archaischen Erbschaft” seine Erklärung finden.
Das Charisma des Brahmanen geht über den Begriff des ‚‚mana’’ hinaus, welchen Freud (in „Massenpsychologie und Ichanalyse”) Moses als dem Mittler der Primitiven zuschreibt (‚ein Teil des Mana hat sich auf ihn übertragen, als er von der Gegenwart Gottes zurückkehrt, strahlt sein Antlitz”).
11) Es gehörte zu den konstitutiven Prinzipien der Kasten, dass die Kommensalität zwischen verschiedenen Kasten rituell unverbrüchliche Schranken hatte.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 365
“There is a saying everywhere current in India: T'he whole universe is subject to the gods; the gods are subject to the spells (mantras); the spells to the Brahmans; therefore the Brahmans are our gods”, lesen wir bei Frazer.
Man fürchtet sie, weil sie „der Natur nicht untergeordnet” sind, da sie körper- liche Schmerzen und Entbehrungen kaum zu spüren scheinen. Dass sie aber selbst über die Krieger Macht erlangen konnten, das zeigt, dass wer an das Schuld- gefühl pocht und mit Vergeltung droht, die stärkste Waffe in der Hand hat; und der Asket vereinigt diese beiden Elemente gegen den, der keine Askese übt, also schuldhaft ist, und der keine „Macht über die Natur”, also Angst hat.
Weiterhin: ‚Some good authorities hold that the very name of Brahman is derived from brahman .a magical spell‘.” (Frazer).
Der Brahman ist also nicht der Mittler des göttlichen Mana, er ist die Zauber- formel selbst, der verkörperte magische Akt, er wird mit seinem Charisma iden- tisch vorgestellt, das also zumindest sein eigener Besitz ist. Der Hindu weiss also, wen er fürchtet, wer als ‚Gottheit’’ ihm gegenüber steht.!?
Das Sippen-Charisma der Brahmanen verbürgte zwar die führende Rolle in der Gesellschaft, aber da es eben Sippen-Charisma war, können wir uns den _ Brahmanen doch nicht ganz dem Bilde entsprechend vorstellen, das uns Freud vom Führer’ oder „Oberhaupt” (in „Massenpsychologie’’) gibt: ‚er darf von Herrennatur sein, absolut narzisstisch, aber selbständig und selbstsicher”’. Als Mitglied seiner Kaste (oder seiner Sippe”) muss er auch als Massenmitglied gelten, und es gab zahlreiche Momente, die es verhinderten, dass er seiner „Her- rennatur’’ freien Lauf hätte lassen können, obwohl sein Dharma (Kastenethos) das zunächst noch erlaubt hätte.
Das erste Problem war, dass keine ‚‚charismatischen Verfehlungen” vorkommen durften. Die Könige haben die Verantwortung für Erfolg im Kriege und Wohler- gehen des Volkes ihrem Charisma zugeschoben. Sie wurden aber doch noch Herren der Situation, indem sie die Verantwortung auf die Gottheit, ferner auf die nied- rigsten Schichten der Bevölkerung (wie wir noch sehen werden) und auf das Schicksal zurückschleuderten.
12) Die Ahnung der konkreten Hinter- und Beweggründe der Unterordnungsverhältnisse scheint in Asien überhaupt wacher zu sein als in Europa im allgemeinen. In der Abhandlung: „Konfuzianismus und Taoismus” von Max Weber (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Zweite Auflage. Tübingen 1922.8.446) sehen wir, dass im patrimonialen Staate der Chinesen die Kindespietät, „‚da sie auf alle Unterordnungsverhältnisse übertragen wurde, als diejenige "Tugend galt, aus der alle anderen folgen und deren Besitz die Probe und Garantie abgibt für die Erfüllung der wichtigsten Standespflicht der Bürokratie: der unbedingten Disziplin... . Die schrankenlose Kindespietät gegen die Eltern war, wie immer wieder eingeschärft wurde, die absolut primäre aller Tugenden. Sie ging im Konfliktsfalle allen andern vor... . Keines Mannes "Tun galt dem Meister (Konfuzius) als erprobt, ehe man gesehen hat, in welcher Art er um seine Eltern trauert.”
366 Martha Mitnitzky-Vago
Ja, sie wälzten sie ab auf ‚‚Karman’’, das ewige, eherne Rad der Wiedergeburten und des Wiedertodes. Ihr Ausgangspunkt findet seinen Ausdruck in dem speziellen Dualismus der hinduistischen Philosophie: weder gut und böse — noch göttlich und irdisch, sondern: ewig und vergänglich. — Das einzig Üble in der Welt ist die Vergänglichkeit, der T'od (und das Haften an dem Vergänglichen). Darum ist also das einzige Heil: Ergebenheit. Jede Empörung, jeder Versuch zu ändern (z.B. an der gegebenen sozialen Ordnung und überhaupt an der Lage der Dinge) wäre töricht. Das genügte aber noch nicht, denn Torheit ist nicht abschreckend genug. Sie schufen die dogmatische Lehre des Samsara- (Seelenwanderungs-) Glaubens und die mit ihm zusammenhängende Karman- (Vergeltungs-) Lehre.
„Diese Theodizee der bestehenden sozialen, d.h. also: der Kastenordnung ist das einzige Lehrstück des gesamten Hinduismus, welches kein Hındu als Grund- voraussetzung der hinduistischen Religiosität leugnet’’, sagt Max Weber und interpretiert die Entstehung und das Wesen dieser Lehre folgendermassen:3 „Der Glaube an die Seelenwanderung (Samsara), direkt erwachsen aus sehr universell verbreiteten Vorstellungen vom Schicksal der Geister nach dem Tode, ist auch anderwärts entstanden... .. Als sich dann die Spekulation der Brahmanen mit ihrem Schicksal zu befassen begann, entstand allmählich die Lehre vom „Wiedertod’, der den sterbenden Geist oder Gott in ein anderes Dasein führte und es lag nahe, dieses wieder auf der Erde zu suchen und damit an ‚‚Seelentier”’- Vorstellungen, die hier wie sonst bestanden haben werden, anzuknüpfen. Damit waren die Elemente der Lehre gegeben. Die Verknüpfung mit der Lehre von der Vergeltung guter und böser Handlungen durch die mehr oder minder ehrenvolle oder schmachvolle Art der Wiedergeburt ist gleichfalls nicht nur indisch, sondern findet sich ebenfalls z.B. bei den Hellenen.
„Dem Rationalismus der Brahmanen ist aber zweierlei eigentümlich, was erst die höchst penetrante Bedeutung der so gewendeten Lehre bedingt: 1. die Durch- führung des Gedankens, dass jede einzelne ethisch relevante Handlung unab- wendbar ihre Wirkung auf das Schicksal des Täters übt, dass also keine solche Wirkung verloren gehen kann: die Lehre vom ‚„‚Karman”; — 2. die Verknüpfung mit dem sozialen Schicksal des Einzelnen innerhalb der geselischaftlichen Orga- nisation und dadurch mit der Kastenordnung. Alle (rituellen oder ethischen) Verdienste oder Verschuldungen des Einzelnen bilden eine Art von Kontokor- rent, dessen Saldo unweigerlich das weitere Schicksal der Seele bei der Wieder- geburt bestimmt, und zwar ganz genau proportional dem Mass des Überschusses der einen oder der anderen Seite des Kontos. (Schicksalsglaube, Astrologie, Ho- roskopie waren in Indien seit langem sehr verbreitet. Aber bei näherem Zusehen
13) Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.5.728.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 367
scheint sich zu zeigen, dass das Horoskop die Schicksale wohl anzeigt, aber dass die Konstellation selbst in ihrer guten oder üblen Bedeutung für den Einzelnen durch Karman bestimmt wird.” :
„+... Die universell verbreitete Vorstellung: dass Krankheit, Gebrechen, Armut, kurz alles was im Leben gefürchtet wurde, Folgen selbstverschuldeter, bewusster oder unbewusster, magisch relevanter Verfehlungen seien, wurde hier zu der Anschauung gesteigert: dass das gesamte Lebensschicksal des Menschen eigenste Tat sei. Und da der Augenschein allzu sehr dagegen sprach, dass die ethische Vergeltung innerhalb jedes einzelnen Lebens im Diesseits sich vollziehe, so lag nach Durchbildung des Seelenwanderungsgedankens die Konzeption nahe und wurde von den Brahmanen, zuerst offenbar als esoterische Lehre, vollzogen: dass Verdienste und Verschuldungen früherer Leben das jetzige, solche des jetzigen Lebens das Schicksal im künftigen Erdenleben bestimmen. Dass der Mensch in der grenzenlosen Abfolge immer neuer Leben und Tode allein durch eigene Handlungen sein Schicksal bestimme, war die konsequenteste Form der Karman-Lehre.’’
„... Wenn das kommunistische Manifest mit den Sätzen schliesst: ‚Sie (die Proletarier) haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben eine Welt zu gewinnen” — so galt das gleiche für den frommen Hindu niederer Kaste. Auch er konnte die Welt”, sogar die Himmelswelt gewinnen, Kschatriya, Brahmane, sogar selbst ein Gott werden — nur nicht in diesem seinem jetzigen Leben, son- dern in dem künftigen Dasein nach der Wiedergeburt, innerhalb der gleichen Ordnungen der Welt. Die Ordnung und der Rang der Kasten waren ewig (der Idee nach) wie der Gang der Gestirne und der Unterschied zwischen den Tier- gattungen und den Menschenrassen. Sinnlos wäre der Versuch, sie umstürzen zu wollen. Die Wiedergeburt konnte ihn zwar hinab in das Leben eines ‚„Wurms im Darm eines Hundes” führen, aber je nach seinem Verhalten auch hinauf in den Schoss einer Königin und Brahmanentochter. Absolute Vorbedingung aber war in seinem dermaligen Leben die strenge Erfüllung seiner jetzigen Kasten- pflichten, die Vermeidung des rituell schwer sündbaren Versuchs, aus seiner Kaste treten zu wollen.... Ein oft zitierter Grundsatz der klassischen Lehre: die Erfüllung der eigenen Kastenpflicht ist selbst ohne Auszeichnung besser als das Erfüllen der Pflicht eines anderen, sei es in noch so ausgezeichneter Art: denn darin liegt stets Gefahr.’’
Diese Lehre der Brahmanen ist also mehr als Abwälzung der Verantwortung: ein wahrer T'odesstoss, ein giftiger Dolchstoss gegen jeden Auflehnungswillen, gegen jeden fremden Willen. Die erbarmungslose Versperrung des Aufstiegs, die Fixierung der Rangordnung der Kasten, die ewig sein müssen ‚‚wie der Gang der Gestirne”” usw. erscheint geradezu als eine schamlose List, welche in ihrer
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„Subtilität” doch nicht weit hinter den von den Magiern in 'Tana und Wam- bugwa geübten Praktiken und Drohungen zurückbleibt.
Es gelang ihnen also scheinbar, Herren” der Situation, Führer-T'ypen zu bleiben. Aber ein echter, ‚„selbstsicherer, selbständiger Massenführer’’ hätte diesen psychologischen Aufwand vielleicht nicht für notwendig gefunden. zur Beherrschung von schon unterdrückten Bevölkerungsschichten. Das cherne „Rad’” rollt auch das Schicksal des Mitgliedes der stolzen Herrscherkaste, das in der letzten Deutung seiner Lehren sich selbst schmeichelt, seine auserlesenen Privilegien durch ethische Leistungen im Vorleben verdient zu haben, und alle andern mehr oder weniger als Sträflinge in dieser Welt betrachtet. Auch er muss sterben; durch magische, rituelle oder ethische Verfehlungen kann auch er in einer nächsten Existenz ‚ein Wurm im Darm eines Hundes’ werden. Welchen Verfehlungen kann er aber anheimfallen? Die Verfehlungen könnte nur er selbst feststellen, und sein Ethos, sein Kasten-Dharma ist ja wesentlich nicht viel mehr als: ein „Arya’” (gentleman), vornehm zu sein.
„Die praktische Alltagsethik der Brahmanen ähnelt gelegentlich der konfu- zianischen. Man soll sagen, was wahr und angenehm ist, nicht was unwahr und angenehm ist, aber möglichst auch nicht, was wahr und unangenehm ist — wird wiederholt in der klassischen Literatur ebenso wie in den Puranas (Vischnu Pur- ana 11I.12.a.E.) empfohlen.’’!*
Trotzdem: das ‚‚eherne, ewige Rad des Wiedertodes (und der Wiedergeburten)” wird als das Üble schlechthin auch von ihnen empfunden. Und das nächste Pro- blem wird nun: wie erfolgt Erlösung aus diesem Übel. Die Antwort darauf ist: durch Askese und weltflüchtige Kontemplation. Damit wird aber die Rolle des Massenführers, der seine Triebe immer ohne Aufschub befriedigt, mit der des Massenmitgliedes eindeutig vertauscht.
„Die indische Askese war technisch wohl die rational entwickeltste der Welt. Es gibt fast keine asketische Methodik, welche nicht in Indien virtuosenhaft geübt und sehr oft auch zu einer theoretischen Kunstlehre rationalisiert worden wäre, und manche Formen sind nur hier bis in ihre letzten, oft für uns schlechthin grotesken Konsequenzen hineingesteigert worden. Das Kopfabwärtshängen des Urdhamukti-Sadhus und das Lebendig-Begraben (Samadh) sind noch bis ins 19. Jahrhundert geübt worden, die Alchemie bis in die Gegenwart (auch sie in stren- gem Zusammenhang mit asketischem Leben).”
„Der Ursprung der klassischen Askese war hier wie überall die alte Praxis der Magierekstase, in deren verschiedenen Funktionen, und ihr Zweck dement- sprechend ursprünglich durchweg: die Erlangung magischer Kräfte. Der Asket
BE ERBE 22 ee EN REKEN BERSER SHE I RER Sbnileanena > 2000. 14) Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.8.621.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 369 weiss sich im Besitz von Macht über die Götter. Er kann sie zwingen, sie fürchten ihn und müssen seinen Willen tun. Will ein Gott Ausnahmsleistungen voll- bringen, so muss auch er Askese üben. So hat das höchste Wesen der älteren Philosophie, um die Welt zu gebären, mächtige asketische Anstrengungen machen müssen.”
„Sämtliche Methoden der apathischen Ekstase, von der Yoga-Technik bis zur Atman-, Sramana usw. fussten auf dem theoretischen Grundsatz, den noch die Quäker so formulierten: dass „Gott in der Seele spricht, wenn die Kreatur schweigt.’ ... „Zwar gab es eine als orthodox geltende Schule (die von Jaimini gestiftete Mimamsa-Philosophie), welche den zeremoniösen Werkdienst rein als solchen als Heilsweg anerkannte. Allein die klassische brahmanische Lehre ist dies nicht. Für diese kann vielmehr in der klassischen Zeit wohl als grundlegende Anschauung gelten: dass rituelle und andere tugendhafte Werke allein lediglich zur Verbesserung der Wiedergeburtschancen, nicht aber zur ‚‚Erlösung’”’ führen können. Diese ist stets durch ein ausseralltägliches, über die Pflichten in der Welt hinausgehendes Verhalten bedingt: durch die weltflüchtige Askese oder Kon- templation.”
„Ihre Entwicklung bedeutete im wesentlichen eine Rationalisierung und Sublimierung der magischen Heilszuständlichkeiten. In drei Richtungen verlief diese: einmal wurde, statt magischer Geheimkräfte zur Verwendung im Zauber- beruf, zunehmend ein persönlicher Heilszustand: die ‚‚Seligkeit”’ in diesem Sinn des Wortes erstrebt. Zweitens gewann diese Zuständlichkeit einen bestimmten formalen Charakter, und zwar, wie zu erwarten, denjenigen einer Gnosis, eines heiligen Wissens, wesentlich, wenn auch nicht ausschliesslich, auf Grundlage der apathischen Ekstase, welche ja am besten dem Standescharakter der Literaten- schicht adäquat war. Alle religiöse Heilssuche auf solcher Grundlage der apathi- schen Ekstase musste in die Form mystischer Gottsuche, mystischen Gottes- besitzes oder endlich mystischer Gemeinschaft mit dem Göttlichen ausmüden.”
„Alle drei Formen, vornehmlich aber doch die letztgenannten, sind tatsächlich aufgetreten. Die Vereinigung mit dem Göttlichen trat in den Vordergrund, '® weil die Entwicklung der brahmanischen Gnosis zunehmend in die Bahnen einer Verunpersönlichung des höchsten göttlichen Wesens einlenkte. Dies geschah teils entsprechend der in aller kontemplativen Mystik liegenden "Tendenz zu dieser Konzeption, teils weil das brahmanische Denken im Ritual und dessen Unverbrüchlichkeit verankert war und daher in der ewigen, unabänderlichen, unpersönlichen gesetzlichen Ordnung der Welt, nicht aber in den Peripetien ihrer Schicksale das Walten des Göttlichen fand. Es entwickelte sich eine ontolo- gische und kosmologische Spekulation zur rationalen Begründung der Heilsziele
15) Der homosexuelle Charakter dieser Vorstellungen ist nicht zu verkennen. 25
370 Martha Mitnitzky- Vago
und Heilswege. ... Gerade auf diesem spekulativen Gebiete aber standen die Brahmanen vielleicht nie, jedenfalls nicht dauernd konkurrenzlos da. Sondern _ wie neben dem brahmanischen Opfer- und Gebetsformel-Kult die später und bis in die Gegenwart scheinbar neu als Massenerscheinung auftretende volkstüm- liche individuelle ekstatische Magie und die Orgiastik — die spezifisch unklassi- schen emotional-irrationalen Formen heiliger Zuständlichkeiten — sicher nie ganz geschwunden waren, so stand neben der vornehmen brahmanischen Heilssuche diejenige der vornehmen Laien und ihre heterodoxen Erlösungsreligionen, vor allem der Buddhismus.”
Der ‚‚Verzicht”” des Buddha auf die Welt ist wohl zu bekannt, um einer einge- henden Rezension zu bedürfen.
‚Weil für den Buddhismus der ‚„Durst”’ nach einem Jenseits ganz ebenso ein Haften an der Welt ist wie der Durst nach dem Diesseits, so steht auch mit der Hingabe an das diesseitige Glück die asketische werkheilige Selbstabtötung um eines jenseitigen Glückes willen auf gleicher Stufe.”
„... Viererlei Lebensführung gibtes, lehrt ein Wort des Meisters: dieerste bereitet gegenwärtiges Wohl und führt zum künftigen Wehe: sinnliche Lust. Die zweite bereitet gegenwärtiges Wehe und führt zum künftigen Wehe: die sinnlose Ka- steiung. Diese zwei, also auch die irrationale Askese, führen nach dem Tode ‚‚ab- wärts”. Gegenwärtiges Wehe, künftiges Wohl bereitet die dritte dem, der — seiner nun einmal so gearteten natürlichen Anlage nach — ein heiliges Leben nur ‚mit Mühe” führen kann: er gelangt in den Himmel. Gegenwärtiges und künftiges Wohl bietet die vierte dem, der so veranlagt ist, dass er zu heftigem Begehren nicht neigt und die innere „Meeresstille’’ leicht erreicht. Er gewinnt Nirwana.’ (5. Teil. Rede, bei Neumann, Reden des Gautama Buddha.)’’16
Wir sehen also: selbst der Himmel ist nur die vorbeste Stufe, scheinbar weil er auch noch ein ‚‚Ort”’, also wenn auch nicht von dieser, doch von jener, also jeden- falls ‚von der Welt’’ ist.
Die ‚sinnlose Kasteiung’’ bezieht sich wohl auf die brahmanische Askese, denn die Buddhisten bedienten sich auch der Yoga-T'echnik und übten die wahrschein- lich doch nicht als rational geltende Atmungs-Askese, welche zu einer Art Euphorie führte und bei manchen niedrigen Buddha-Sekten als Nirwana-Vorstufe betrachtet wurde. Die gute alte Hinayana-Schule und die vornehmen Sekten überhaupt bedienten sich nur der Kontemplation, der sogenannten vollkommenen „Entleerung”’ von der Welt!? (d.h. unbewegliches Ausschalten jeden Denkens
16) Arch. f. Sozialwissenschaften. 42.2.5.448. 17) Dieser Ausdruck des Wunsches, den Versuchungen der Welt zu entgehen, weist eine be-
stimmte Parallele mit gewissen Neurosen auf, wobei die Kranken über ein Gefühl des ‚‚Entleert- Seins” klagen. (Hinweis von Dr. Hajdu).
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 371
und Fühlens) zur Erlangung dieser letzten Stufe. Übrigens liegt in der Verachtung der Kasteiungs- Askese vielleicht etwas wie eine Ahnung dessen, dassin den masochi- stischen Betätigungen die Libido noch zugegen ist, während die ‚‚Entleerung” eine vollkommene T'riebentmischung zu erzielen scheint. Eine gewisse Aggression der Welt gegenüber, von der man sich entleert, ist dabei noch zugegen, sonst — regressive Entfesselung des 'T'odestriebes, Melancholie.
Mit der heterodoxen Laienreligion des Kschatriya-Sohnes: Buddha ist ein Erlöser gekommen, der die Askese der Brahmanen überbieten wollte (welche bis zu dieser Zeit vergleichsmässig eher eine Prahlerei war) und einerseits die Ele- mente des hinduistischen ‚Erlösungssystems’” zur erwähnten extremen Phase steigerte, andererseits eine an Zahl erstaunlich grosse Gemeinde seiner Massen- religion schuf.
Die Kaste der Brahmanen musste fremden Einfluss erdulden oder wenigstens parieren. Sie wählte die zweite Möglichkeit. Durch die die Rivalität verdeckte Entwicklung ihres Bettelmönchtums (des Propagandaapparates) und der ebenfalls zunehmenden Askese erscheint nun diese Kaste wie ein Spieler, der genötigt wird, sein ganzes Leben nur auf eine Karte zu setzen. Oder aber wie ein älterer Sohn, der seine Stellung draussen in der Welt schon zu entwickeln begann und zuhause vor den Eltern immer weniger den ‚„Braven, sich Bezähmenden’” spielt, und wenn er es tut, dann nur aus Anstandsgründen (die in unserer Analogie den Standes- interessen entsprechen); der plötzlich merkt, dass ein jüngerer Bruder im Be- griffe ist ihn zu überbieten in den Tugenden, die die Liebe der Eltern und die Achtung der Mitmenschen verbürgen. Er beginnt nun seinen rivalisierenden Wettkampf,!8 in welchen er sich so weit hineinsteigert, dass er dabei sein ganzes Leben verspielt. Die Ängste, die ihn in seiner gesicherten sozialen Position schon zum grossen Teil verlassen haben, beginnen sich wieder zu melden. Vielleicht wird ihn der himmlische Vater doch degradieren und nach seinem Tode den jüngeren Bruder über ihn erheben? Diese ins Jenseits übertragene Kastrations- angst wird der immer stärker wirkende Inhalt seiner asketischen Übungen.
Durch die Erhöhung ihrer Zahl — sie mussten auch zur Massenreligion werden, während im Epos noch Schüler eines Brahmanen streiken, weil er mehr als die traditionellen 5 Schüler annehmen will — waren die Brahmanen auch zur Erhöhung der Kastendisziplin, zur immer strengeren Lebensreglementierung genötigt.
„Verboten waren dem Bramacharin (Novizen): Fleischgenuss, Honig, Wohl- gerüche, Spirituosen, Wagenfahren, Untertreten bei Regen, Kämmen, Zähne- putzen; geboten: regelmässiges Baden, das periodische Atemanhalten und die Andacht für die Silbe Om. Der alte Ausdruck für ‚Studieren‘ heisst: ‚Keuschheit
6. 32
üben‘.
18) Siehe die Analogie: Reformation — Gegenreformation.
372 Martha Mitnitzky-Vago
Diese „gute Kinderstube” ist also bis zur zwanghaften Onanie- und Inzestangst, zur Berührungsangst gesteigert.
Als Ideal der Lebensführung des alternden Brahmanen galt die „Rückkehr in den Wald”, „die Einkehr in ein ewiges Schweigen” als Einsiedler.
„Die innerweltliche Lebensführung des klassischen Brahmanen war auch in starkem Masse asketisch reglementiert, selbst als Grihastha (Haushalter). Neben der Fernhaltung von den plebejischen Formen des Erwerbs, vor allem von Handel und Wucher und der persönlichen Ackerarbeit, stehen zahlreiche Vorschriften, welche sich später bei den weltablehnenden hinduistischen Erlösungsreligionen wiederfinden.’
„... Im weiteren Verlauf der Entwicklung trat bei zahlreichen hinduistischen (orthodoxen und heterodoxen) Klöstern ... der typische Verpfründungsprozess ein: die Mönche verheirateten sich und behielten ihre Stellen erblich bei, so dass sich z.B. bei den (vornehmen) Deschatschth-Brahmanen heute vielfach eine Bikkshu- (Mönchs-) und eine Laien-Kaste findet, welche sich vor allem dadurch unterscheiden, dass nur die eigentlichen Mönche die Qualifikation zum Priestertum besitzen.”
„...Man darf natürlich die asketischen Einschläge der Lebensführung der innerweltlich lebenden Brahmanen in historischer Zeit nicht übertreiben. ... Vor allem durfte überhaupt nie die Eleganz und Schicklichkeit des vornehmen Kavaliers verletzt werden... . Die vorgeschriebene Form des Bettelns war dem Würdegefühl und guten Geschmack eines wohlerzogenen Intellektuellen ange- passt. Auch die Jünger Buddhas waren niemals eine Horde kulturloser Bettler. Das Pratimikka der südlichen Buddhisten (Hinayana-Buddhisten) enthält eine Fülle rein konventioneller Anstandsregeln für die Mönche im Verkehr unter- einander und mit der ‚‚Welt’’ bis herunter zum Verbot des Schmatzens beim Essen.”
‚»... Die inhaltlichen Gebote für die Lebensführung der Mönche waren — soweit sie nicht, wie das Verbot zur Regenzeit zu wandern und die Vorschriften über Tonsur und andere Äusserlichkeiten reine Ordnungsvorschriften darstellten — Steigerungen der brahmanischen Alltagsaskese, und zwar teils einfach dem Grade, teils aber auch der Art und dem Sinn nach. Das letztere ist bedingt durch den Zusammenhang mit der brahmanischen Heilslehre, wie sie die Brahmanas und die Upanischaden entwickelten. Das Gebot der Keuschheit, der Enthaltung von süsser Nahrung, der Beschränkung auf Essen schon abgetrennter Früchte, der völligen Eigentumslosigkeit,.... — also Verbot Gütervorräte zu halten (die durch Stiftung gesicherte Schule oder klosterartige Organisation diente dazu, den Brahmanen die Möglichkeit zu sichern, ohne Sorge für den Unterhalt ihr Vedawissen sich zu erhalten) und Leben vom Bettel — später meist unter Be-
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 373
schränkung auf die Überbleibsel des Essens des Angebettelten — , das Gebot des Wanderns (ihr Propagandamittel) — später oft mit der Verschärfung: dass man in einem Dorf nur eine Nacht oder auch gar nicht schlafen durfte —, die Be- schränkung der Kleidung auf das Notwendigste, das Gebot des Ahimsa (Schonung jedes Lebewesens: auch die Tiere standen im Bereich von Samsara und Karman), usw.’’19
Wir müssen uns damit begnügen, aus dem riesenhaften von Max Weber aufgehäuften Material — anstatt alle Schattierungen der Lebensreglementierungen der verschiedenen brahmanischen Kasten und Unterkasten oder ihre Lehren und Sektenbildungen eingehend zu studieren — nur die gröbsten Züge ihres allgemeinen Wesens kennen zu lernen, oder wenigstens danach zu trachten.
Wir müssen aber versuchen zu erfahren, wie weit ihre sexuelle Askese ging. „Sehr ausgeprägt war bei den Brahmanen die maskuline Ablehnung der Frau, in ähnlichem Sinn wie bei den Konfuzianern, jedoch mit einem Einschlag asketi- scher Motive, der dort gänzlich fehlte. Das Weib war Trägerin der als würdelos und irrational abgelehnten alten Sexualorgiastik und seine Existenz eine ernst- liche Störung in der heilbringenden Meditation. Gäbe es noch einen Trieb von solcher Stärke, wie den Sexualtrieb, so wäre Erlösung unmöglich, soll auch der Buddha geäussert haben. Aber die Irrationalität der Frauen wird auch später von brahmanischen Schriftstellern betont.’’?°
Diese Haltung findet sich oft bei einer gewissen Art von Neurotikern (siehe KarlAbraham ‚Über Ejaculatio praecox”, Int. Ztschr. für Psa., Bd. IV, 1916) und zwar bei Fällen von nervöser Impotenz. Für den durch verdrängten Inzest- wunsch an die Mutter gebundenen Mann bedeutet jede Frau die Mutter: In- zestgefahr, was die völlige Meidung der Frau herbeiführen kann. Die Brahmanen verboten sich durch verschiedene Regeln die Annäherung an Frauen, was rationali- siert als bewusste Ablehnung des weiblichen Geschlechts zur Schau getragen wurde. |
Wir lesen aber auch von anderen Brahmanen. Für die vornehmen Töchter musste der Bräutigam von den Eltern ‚„‚durch unerschwingliche Mitgiften erkauft werden und seine Anwerbung (durch Heiratsvermittler) wurde schon in frühester Kindheit ihre wichtigste Sorge, bis es schliesslich geradezu als Sünde’ galt, wenn ein Mädchen die Pubertät erreichte, ohne verehelicht zu sein.’”’?*! Das hat z.B. zu so grotesken Konsequenzen geführt, wie die eine gewisse Berühmtheit geniessende Heiratspraxis der Kulin-Brahmanen. Diese sind als Bräutigame hoch
19) Arch. f. Sozialwissenschaften. 42.2. S. 364, 332, 448 etc.
20) Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.5. 734, 655 u.a. 21) Vielleicht wehrten dabei die Väter ihre eigenen unbewussten inzestuösen Regungen den
Töchtern gegenüber ab.
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begehrt und haben ein Geschäft daraus gemacht, auf Verlangen gegen Entgelt in absentia durch Kontrakt Mädchen zu heiraten, die nun der Schande der Jungfern- schaft entronnen sind, aber bei ihrer Familie bleiben und den Bräutigam nur zu sehen bekommen, falls geschäftliche oder andere Gründe ihn zufällig in einen Ort führen, wo er eine (oder mehrere) solcher „‚Ehefrauen” sitzen hat. Dann zeigt er dem Schwiegervater seinen Kontrakt und hat nun bei ihm sein „‚Absteigquartier” — und den Genuss des Mädchens kostenlos, weil sie als ‚‚legitime’’ Ehefrau gilt, noch dazu.
„Ein Mann solle seine Frau nicht respektlos behandeln und nicht ungeduldig sein, sagt z.B. das Vischnu-Purana. Aber er solle ihr keine wichtigen Geschäfte anvertrauen und ihr nie ganz trauen. Denn — darüber sind alle indischen Autoren einig — aus „ethischen Gründen” sei keine Frau ihrem Mann treu. Im Stillen beneide jede Matrone die geistreiche Hetäre — was man den Matronen bei der im Salon privilegierten Lage der Hetären und bei dem Schimmer von Poesie, den die, im Gegensatz zu China, raffinierte indische Erotik, die Lyrik und auch die Drama- tik um sie legten, kaum verdenken konnte. Die indischen Tänzerinnen, Deva- Dasa...,der mittelalterlichen Zeit sind aus den Hierodulen, der hieratischen — homöopathischen, mimischen oder apotropäischen — Sakti- und 'Tempelprosti- tution durch den Priester (und überall daran anknüpfenden Prostitution durch die Wanderkaufleute) hervorgegangen und noch heute vornehmlich mit dem Civa- Kult verknüpft. Sie hatten T'empeldienst durch Gesang und Tanz zu leisten und mussten, um das zu können, schriftkundig sein — bis in die neueste Zeit als einzige Frauen Indiens. Bei zahlreichen 'Tempelfesten, ebenso aber bei aller vor- nehmen Geselligkeit, sind sie noch jetzt unentbehrlich, bildeten und bilden Sonderkasten mit eigenem Dharma und besonderem Erb- und Adoptionsrecht und sind zur 'Tischgemeinschaft mit Männern aller Kasten zugelassen, im Gegen- satz zu den davon ausgeschlossenen ehrbaren Frauen,?? für welche auch die Schrift- und Literaturkunde, weil sie zum Dharma der Tempeldirnen gehörte, als schändend galt und teilweise noch gilt. Die Dedikation der Mädchen an den Tempel erfolgte kraft eines Gelübdes oder kraft universeller Sektenpflicht (so bei manchen Civa-Sekten), auch als Kastenpflicht kommt sie (bei einer Weber- kaste eines Orts der Provinz Madras) vereinzelt vor, während im ganzen in Süd- indien heute wenigstens diese Praxis als unehrenhaft gilt. Engagement und Mäd- chenraub kommen daneben vor. Die gewöhnlichen Dasi waren im Gegensatz zu den Deva-Dası wandernde Prostituierte niederer Kasten ohne Beziehung zum Tempeldienst. Der Übergang von hier bis zur feingebildeten, dem Typus der Aspasıa entsprächenden Hetäre der klassischen Dramatik (Vasantesana) war
22) Die Prostituierte ist keine Mutter, bei ihrer Annäherung meldet sich die Inzestangst weniger oder gar nicht.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 375
natürlich wie überall durchaus flüssig. Der letztgenannte Typ gehört ebenso wie die ganz innerhalb der Gesellschaft stehenden feingebildeten Schülerinnen und Propagandistinnen der Philosophen und noch Buddhas (nach Art der Pythago- räerinnen) der alten vornehmen Intellektuellenkultur der vorbuddhistischen Zeit an und verschwand mit der Herrschaft der Mönchs-Gurus.’’??
„Bei der Hindukaste ist heute die Ehe nicht nur zwischen Kasten, sondern schon zwischen Unterkasten in der Regel durchaus verpönt. Schon in den Rechts- büchern haben Kastenmischlinge eine niedrigere Kaste als jeder von beiden Eltern und gehören in keinem Fall zu den drei oberen (‚‚wiedergeborenen’’) Kasten.”
„Die Ehe eines Mädchens höherer mit einem Mann niederer Kaste galt als Verletzung der Standesehre seitens der Familie des Mädchens, nicht dagegen der Besitz einer Frau niederer Kaste, deren Kinder auch nicht als degradiert und nur teilweise und nach einem sicher erst späteren Erbrecht zurückstehen mussten. Das Interesse der Männer der zur Polygamie ökonomisch befähigten Ober- schichten an deren Legalität blieb aber bestehen, auch nachdem der akute Weibermangel der erobernd eingedrungenen Krieger, welcher überall Ehen mit Unterkasten erzwingt, nicht mehr bestand. Die Folge aber war, dass die Mädchen der Unterkasten einen grossen, je niedriger die Kaste stand, einen um so grösseren Heiratsmarkt hatten, die Mädchen der obersten Kasten aber einen auf ihre Kaste beschränkten, der ihnen infolge der Konkurrenz der Mädchen der Unterkasten überdies in keiner Art monopolistisch gesichert war. Dies bewirkte, dass die Frau in den Unterkasten infolge der Nachfrage einen hohen Brautpreis einbrachte, und infolge der Teuerung der Frauen teilweise Polyandrie entstand, in den Oberkasten dagegen der Absatz der Mädchen an einen standesgemässen Bräutigam schwierig war und je schwieriger er wurde, desto mehr sein Misslingen als Schande für Mädchen und Eltern galt.... Neben der Kinderheirat war die Mädchentötung, sonst ein Produkt verengten Nahrungsspielraums armer Bevölkerungen, infolgedessen hier ein Institut gerade der Oberkasten.”
„Diese bedingte 1. in Verbindung mit dem Witwenzölibat — einer Institution, die hier wie sonst neben den Witwenselbstmord trat, der seinerseits der Ritter- sitte entstammte, dem toten Herrn seinen persönlichen Besitz, insbesondere seine Weiber mitzugeben: — dass in Indien ein Teil der Mädchen schon in den Alters- klassen von 5-10 Jahren verwitwet sind (und es lebenslänglich bleiben); — 2. bedingte die unreife Verehelichung die hohe Wochenbettsterblichkeit. — Trotz der strengen englischen Gesetze (von 1829) wurden noch im Jahre 1869 in 22 Dörfern von Radschputana auf 284 Knaben rund 23 Mädchen ange- troffen. 1863 hatte sich in manchen Radschputen*t - Gebieten bei einer Zählung
23) Arch. f. Sozialwissenschaften. 42.2.8. 364, 362, 443 etc. 24) Die Nachfahren der Kschatriya.
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kein einziges lebendes Mädchen von mehr als einem Jahr gefunden (auf 10.000 Seelen!).”’
Die Versuchung, geschlechtliche Annäherung mit Frauen niederer Kaste zu suchen, scheint auch für die Brahmanen nicht klein. Was aber für die Ritter er- laubt war, war bei den Vorschriften der Brahmanen nicht möglich. Die Ver- suchung aber war da. Max Weber sagt: „Man darf sich nicht vorstellen: es sei die Kastenordnung ein ‚rassenpsychologisches Produkt, aus geheimnisvollen, im „Blut’”’ liegenden Tendenzen der ‚indischen Seele’’ zu erklären. Oder: die Kaste sei der Ausdruck des Gegensatzes verschiedener Rassentypen oder eın Produkt einer „im Blut” liegenden ‚„Rassenabstossung”’. Solche Vorstellungen treiben auch in der Erörterung der nordamerikanischen Neger-Probleme ihr Wesen. Was die angebliche ‚‚natürliche”’ Antipathie der Rassen gegeneinander anbelangt, so ist — wie mit Recht gesagt wurde — die Existenz mehrerer Mil- lionen von Mischlingen wohl ein ausreichendes Dementi dieser angeblichen „natürlichen”’” Fremdheit. Die Blutsfremdheit gegenüber den Indianern ist mindestens ebenso gross, wenn nicht grösser; jeder Yankee aber sucht Indianerblut in seinem pedigree nachzuweisen und wenn die Häuptlingstochter Pocohontas für die Existenz aller der Amerikaner verantwortlich sein sollte, welche von ihr ab- stammen möchten, so müsste sie eine Kinderzahl wie August der Starke haben. — Noch im 12. Jahrhundert äusserte sich die ethnische Grenze zwischen Ariern und Dravidas am Indravati in der verschiedenen Sprache der Inschriften: die Ver- waltung hielt an der Scheidung fest. Immerhin wird ein Ort mit Volk, ‚welches von überall herkam’”” also ethnisch gemischt, einem "Tempel übergeben. (Ep. I94.:%1:313/7
Wenn aber natürliche Hindernisse dieser Versuchung nicht entgegenstanden, dann muss die Nicht-Überschreitung der Kastenschranken dem Brahmanen genau so schwer fallen wie dem Hindu niedriger Kasten; die ethische Vergel- tungslehre ‚Karman’’ und die seit dem Emporkommen des Buddhismus immer strenger durchgesetzten asketischen Vorschriften (zur Aufrechterhaltung des Sippen-Charisma) mussten eine ausserordentliche seelische Belastung für ıhn bedeuten.
Wir müssen deren Folgen in der Weiterentwicklung ihrer Religiosität suchen und finden auch ein auffallendes Moment. Während die Vaterverehrung sich zu den direkten Formen des Ahnen-, Priester-, Königs- und, nicht zuletzt, des Phallus- oder Lingam-Kultes entwickelte, verblieb die Muttergöttin in der ver- hüllten, archaischen, sozusagen verzauberten Form der Kuh. (Die blutdürstige Göttin Kalı vertritt keinesfalls ein selbständiges weibliches Prinzip, am wenigsten
25) Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.5. 734.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 377
dasjenige der Mütterlichkeit, sie ist die blosse Inkarnation oder Repräsentantin ihres Eheherrn Shiva.)
Wir müssen uns mit dem Phänomen der Kuhverehrung näher beschäftigen. „.. „ein Mensch, von dem feststände, dass er wissentlich eine Kuh getötet hätte, wäre in der Hindugesellschaft absolut unmöglich. Oder genauer gesagt: die Kasten, welche im begründeten Verdacht stehen, sich an der Praxis der Rindervergiftung zu beteililigen (Gerber-Kasten namentlich), sind der Abscheu jedes Hindu, obwohl sie selbst ofhiziell korrekte Hindu sind”... . „Gewisse seit Jahrtausenden in jedem Dorf vertretenen unentbehrlichen Gastarbeiter — beispielsweise nament- lich alle die, welche mit Viehhäuten, also Leder zu tun haben — sind trotz ihrer Unentbehrlichkeit absolut unrein. Ihre blosse Anwesenheit verpestet die Luft z. B. eines Raumes unter Umständen derart, dass die darin befindliche Speise magisch befleckt wird und bei Vermeidung bösen Zaubers weggeschüttet werden muss. Die rituelle Infektion durch einen Mann unreiner Kaste vernichtet beı einem Brahmanen — je nach der Kaste — eventuell die sexuelle Potenz.... Die Verehrung der Kuh (und, abgeschwächt, der Rinder überhaupt) ging sowohl in ihren ökonomischen wie rituellen Folgen bis ins Extreme. Noch heut scheitert die rationale Viehzucht daran, dass die Tiere grundsätzlich nur eines natürlichen Todes sterben dürfen, also noch gefüttert werden, nachdem sie längst keinen Nutzwert mehr haben.?® (Abhilfe schafft das rituell illegale Vergiften durch ver- worfene Kasten.) Kuhdung und Kuhurin reinigt alles. Ein korrekter Hindu, der mit einem Europäer gespeist hat, wird noch heute sich (und eventuell seine Wohnung) mit Kuhdung rituell desinfizieren. Kein korrekter Hindu wird an einer urinierenden Kuh vorbeigehen, ohne seine Hand in den Strahl zu halten und sich, wie der Katholik mit Weihwasser, an Stirn, Kleidern, usw. damit zu befeuchten. Bei Missernte wird auf das heroischeste vor allem Futter für die Kuh herausgespart.’’??
Der Kult eines besonderen Tieres deutet zumeist auf eine T’endenz zur Identi- fizierung mit der Eigenart dieses Tieres hin; unter zahllosen Beispielen möchte ich vielleicht nur eines anführen: Bei den Pangve (ein afrikanischer, sudanischer Stamm) begleitet der Schmied sein Handwerk mit magischen Funktionen: er muss das Fleisch eines Hahnes (Feuervogel) verzehren, bevor er eine Waffe anfertigt, damit sie (die Waffe) “gesund” wird; er muss starke und elastische Schling- pflanzen in seiner Werkstatt haben, ihre Früchte verzehren, wenn er ein Schwert schmiedet, damit das Schwert stark und biegsam wird. Zum Erzgiessen aber muss
26) Nach neueren Berichten hat sich das dahin verändert, dass man die Tiere hungernd in den Strassen herumlaufen lässt, sie oft grausam behandelt, aber nie offen oder direkt tötet.
27) Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.S. 613 etc.
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er das Gehirn eines Ahnen verzehren, weil das seine schwierigste Arbeit ist.?®
Der Wunsch tritt in diesem Beispiel ebenso klar wie bei den Totemmahlzeiten hervor: sich die Kraft einzuverleiben, die grösser, mächtiger als die unsrige ist, sich zu identifizieren mit dem Wesen, dessen Eigenart geeigneter scheint, unsere Ziele zu erreichen, unsere Aspirationen zu erfüllen als die unsrige.
Bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, fragen wir, ob in Indien ausser der Kuh- verehrung kein anderer Tierkult zu finden ist. Und wir finden gleich im Zusam- menhang mit der Lingam-Verehrung, dem Civa-Kult usw. den Stier-Kult. Nebeneinander bestehen in Indien der Civa-Kult und der Vischnu-Kult; den ersteren können wir als den Rahmen der Stierverehrung (unter anderem), den zweiten als den der Kuhverehrung auffassen, wenn auch so eine klare Scheidung vielleicht als übertrieben betrachtet werden könnte.
Die Verehrung des Stieres war nie im Rahmen der chthonischen, bodenstän- digen Kulte zu finden, sondern war der charakteristische Kult der wandernden Hirten-, Nomaden- und Erobererstämme (im Rahmen der sogenannten ‚‚pasto- ralen’’ Religion), die ja wiederholt Indien überfielen und unterjochten und deren Kulte neben den bodenständigen, chthonischen Kulten bestanden haben. Im Gegensatz zu diesen chthonischen (im Rahmen der mutterrechtlichen Organisa- tionen, die die Priester in manchen Gegenden bestehen liessen??) Mond- und Vegetationskulten, die mit Schauspielen mit Masken, 'Tänzen usw. vor sich gingen, pflegten diese Hirten- usw. Stämme den Kult der Sonne und des Stieres (Sonnen- strahl und Stierhorn wurden in vielen Abbildungen fast identisch angedeutet). Sonnen- und Stieranbetung schliessen zahlreiche totemistische Elemente in sich, so dass anzunehmen ist, dass ein Teil der in der Zeit der Eroberung noch totemi- stischen Eingeborenen diese neuen Kulte sich leicht aneignete. Die ungebrochene Kraft der Sonne, des Stieres, des wilden 'TI'otemtieres drückt dieselbe Idee aus, ın der sich, wie Freud nachgewiesensen hat, die beneidete und vergötterte Urkraft des Vaters manifestierte.
Im indischen Civa-Kult finden wir die Elemente der Identifikation wesentlich verändert. In den grossen, orgiastischen Civa-Feiern warfen sich die Gläubigen vor die Stiere, die vor riesige Steinwagen gespannt sie mitrissen und nieder-
28) Information des ungarischen Archäologen und Ethnologen Wilhelm Juhäsz. Kurz erwähnt auch bei T'hurnwald: „Economics of Primitive Societies”.
29) Siehe Max Weber: Arch. f. Sozialwissenschaften. 41.3.S. 621. Anm. 4. — Um Missver- ständnisse zu vermeiden, möchte ich betonen, dass ich die Kuhverehrung weder für ‚‚totemistisch”’ noch für ‚‚chthonisch’’ erkläre und, wenn ich die Motive und Wege ihrer Entwicklung suche, diese Wege nicht mit ihr identifiziere; ebensowenig wie ich die starke anti-matriarchalische Haltung Indiens leugnen will, wenn ich in manchen Perioden der geschichtlichen Entwicklung der Brah-
manen z.B. Züge finde, die man als gefühlsmässige Regression zu einem Zustand des Mutterrechtes auffassen könnte.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 379
trampelten. Die Menschen opferten also sich; die charakteristische Kulthand- lung, wo zum Zwecke der Identifizierung das Tier geopfert und einverleibt wird, blieb oft ganz weg oder spielte nur eine untergeordnete Rolle. Ferner wurden Jungfrauen erzogen, um in den grossen orgiastischen Festen den Stieren vorgeworfen zu werden, und für diesen Tag wie für die Erfüllung ihres Lebens vorbereitet. Die Männer opferten also unberührte Frauen, aber das genügte noch nicht: sie opferten auch sich selbst. Dieses Sich-Hinwerfen vor den Wagen kann auch als Busse für eine tiefe Schuld, als homosexuelle Wendung und als masochi- stische Form der Anbetung aufgefasst werden, nur nicht als Identifikation.
Im Mahabharata freut es den grossen Gott „in charakteristischem Gegensatz zu der alten Sexualorgiastik, wenn das Lingam keusch bleibt.”’?° Es geht also in Indien eine charakteristische Veränderung der alten Kulte vor sich. Wir lesen ferner: „Jeder Brahmane hoher Kaste hat heute einen lingam-Fetisch im Hause. ... Namentlich die aus der Epik allgemein bekannte Kasteiungsaskese hat der Civaismus zu einer Massenerscheinung gemacht, indem seine Sekten sie viel- fach auch für die Laien durchführte. Mitte April jedes Jahres melden sich massenhaft die korrekten civaitischen Laien niederer Kaste bei ihrem Guru und unterziehen sich eine Woche lang den heiligen Übungen der allerverschie- densten Art: die durchweg — im Gegensatz zur Yoga-Kontemplation — völlig irrationaler Art sind, oft rein nervöse Virtuosenleistungen darstellen. Neben den meist schreckhaften Geistern und dem meist furchtbaren Gott selbst, der als gewaltiger Virtuose der Magie sowohl wie als dürstend nach Opferblut vorgestellt wird, spielte kultisch der allmählich vom Ursprung des Symbols sich gänzlich loslösende phallische lingam-Fetisch die Hauptrolle bei den Massen. ... Ein Um- schlag von extremer und pathologischer Kasteiung zu pathologischer Orgie war im populären Civaismus offenbar seit alters her in teilweise furchtbarer Form heimisch und auch das Menschenopfer hat bis in die neueste Zeit nicht ganz gefehlt. Gemeinsam war schliesslich aller eigentlich givaitischen Religiosität im allgemeinen eine gewisse Kälte der T’emperierung in der Gefühlsbeziehung zu Gott”... „Zu den Civaiten gehörten (soweit sie Hindu waren) auch jene Räuber- sekten, welche der Kali, einer der Göttinnen Civas, ausser Anteile an der Beute auch Menschenopfer darbrachten. Darunter gab es solche, welche — wie die Thugs — das Blutvergiessen aus rituellen Gründen verwarfen und daher die Opfer stets erdrosselten..... Die häufige Art der Darstellung Civas und der civaitischen Göttinnen: eine Mischung von Obszönität und wilder Blutgier im Ausdruck, hängt mit dieser Art der Orgiastik zusammen.’ #1
30) Arch. f. Sozialwissenschaften. 42.3.5.763. | 31) Arch. f. Sozialwissenschaften. 42.3.8.763 etc. — Beispiele teils von Hopkins, nach Berichten
britischer Offiziere aus den 30-er Jahren.
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Also selbst Räubersekten, für welche die Identifizierung mit diesem Gott doch das Gegebene gewesen wäre, trachteten danach nicht auf dem Wege der Einver- leibung oder anders, sondern opferten ihm; aber selbst das nur mit Verwerfung des Blutvergiessens, das auch Privileg des Gottes ist und nicht nachgeahmt werden darf.
Ferner: „Die Obödienz gegen den Guru war bei den Lingayat sehr streng, wohl am strengsten von allen indischen Sekten. .... Zu dem auch sonst üblichen Trinken des Fusswaschwassers und ähnlichen hagiolatrischen Praktiken trat hier hinzu, dass selbst die Götterbilder vor dem Guru geneigt wurden, um seine Götter- überlegenheit zu symbolisieren. ... Die Lingayat ist dem allgemeinen Schicksal der Sekten: durch die Gewalt der Umstände in die Kastenordnung wieder hin- eingedrängt zu werden, nicht entgangen.”
Alle diese Momente zeigen Furcht und Unterwerfung, keine Tendenz zur Identifikation.
Hingegen finden wir im Vischnuismus diese Tendenz im höchsten Masse. Die primitivsten Formen der Anbetung von Inkarnationen des Vischnu — wie die „Avatars’: Krischna und Rama namentlich z.B. — ergeben schon Beispiele dafür. ‚In der Massenreligiosität herrscht krasse Sexualorgiastik. Die Zugehörigen der aus den unteren Kasten rekrutierten chaitanitischen Sekten bilden die ziffern- mässig bedeutendste Schicht von Vischnuiten (in Bengalen 10-11 Millionen) und pflegen sämtlich die orgiastische Anrufung Krischnas (Hari, Hari, Krischna) und Ramas, daneben aber — wenigstens die meisten von ihnen — die Sexualorgie als Hauptmittelder Selbstvergottung, als welche sie nament- lich die Bauls verabsolutierten. Den Sanhaya galt, bei der Sexualorgie, jeder Mann als Krischna, jedes Weib als Radha (seine Favoritin). So in einer Anzahl von Kulten, welche noch heute als allgemeine Volksfeste in fast ganz Indien ge- feiert werden, und zwar nicht nur von vischnuitischen Sekten, ..... die mit Gesang, Tanz, Mimus, Konfetti und Rudimenten sexualorgiastischer Freiheiten begangen werden.”
Diese letztgenannten Kennzeichen für chthonische Kulte würde jeder moderne Ethnologe wohl als typisch betrachten. Der Mimus repräsentierte immer die sterbende und wiederauferstehende Natur und die analog gesehenen Wandlungen des Mondes. Wir finden bei Frazer eine schöne Beschreibung von ähnlichen Zeremonien bei primitiven Völkern, bei denen die Vegetationsgötter und Frucht- barkeitsgötter eine hervorragende Rolle gespielt haben, die auch zu den oben genannten Merkmalen gehören. (Der Konfetti ist z.B. sicherlich ein Derivat des Pollens.)
„Within the temperate zones men often combined magic dramatic representa- tions of reviving plants with a real or dramatic union of the sexes for the purpose
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 381
of furthering at the same time and by the same act the multiplication of fruits, of animals and of men. 'T'o them the principle of life and fertility, whether animal or vegetable, was one and indivisible..... Nowhere apparently, have these rites been more widely and solemnly celebrated than in the lands which border the Eastern Mediterranean. Under the names of Osiris, Adonis and Attis, the peoples of Egypt and Western Asıa represented the yearly decay and revival of life, especially of vegetable life, which they personified as a god who annually died and rose again from the dead. In name and detail the rites varied from place to place, in substance they were the same.’’°?
Ich möchte nun die psychologischen Bedingungen der Entstehung dieser chthonischen Kultur der Mutterfolgen näher untersuchen. Versuchen wir einem Wink Freuds zu folgen. Er sagt folgendes: ‚,... Es war kein Überstarker mehr da, der die Rolle des Vaters mit Erfolg hätte aufnehmen können. Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig, als — vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle — das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um deren wegen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten. Sie retteten so die Organisation, welche sie stark gemacht hatte, und die auf homosexuellen Gefühlen und Betätigungen ruhen konnte, welche sich in der Zeit der Vertreibung bei ihnen eingestellt haben mochten. Vielleicht war es auch die Situation, welche den Keim zu der von Bachofen erkannten Institution des Mutterrechtes legte, bis diese von der patriarchalischen Familienordnung abgelöst wurde.” (’Totem und Tabu).
Stellen wir uns nun die Entstehung einer neuen Kultur auf der Basis des Erleb- nisses vor, dass in dieser Welt unüberwindliche, sich immer wieder erneuernde Gesetze walten, die unter anderm zwangsläufig zur Wiederaufrichtung des In- zestverbots führten, andererseits die Unwiderruflichkeit des "Todes, in der spät folgenden Sehnsucht nach dem ermordeten Vater, schmerzhafter als früher fühlen liessen.
Man beginnt unter der Bürde dieser qualvollen Erlebnisse, anstatt auf die Sonne auf ein blasses, schwächlich strahlendes Gestirn zu achten, das ebenso vergäng- lich, aber — welcher Trost — auch zum neuen Wachstum fähig ist wie die Pflanzen und sie selber. Man beginnt ferner, sagen wir kurz, auf die Pflanzen- kultur, die zahme, ruhige, statische und stabile Wirtschaft der Mutter zu achten,
32) Frazer: The Golden Bough. — Übrigens soll die hamitische Bevölkerung von Nord- und Nordostafrika aus Indien eingewandert sein. Sie landeten mit ihren Schiffen auf der Somali-Halb- insel, ihr Zentrum war das abessinische Plateau, von wo sie sich zerstreuten. Die heutigen süd- afrikanischen Kaffer sind Mischlinge von Negern und Hamiten (Juhäsz).
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die während aller Veränderungen, Kämpfe und Enttäuschungen, die die dyna- mische Kraft des Vaters entfachte, die gleiche blieb und zu der man zurückkehren konnte. Man beginnt vielleicht für sie zu arbeiten, die Jagd zu vernachlässigen und so langsam die chthonische Kultur zur Entfaltung zu bringen. Der Trost für den Verlust des Vaters, für die schreckliche Erfahrung, dass er sterben konnte und also auch sie einmal sterben werden,°? lag auch im Schosse der Mutter, wo der Ahne sich erneuern konnte — wenn auch nur durch Exogamie — wie in der Erde das Korn.
Wir wissen von Freud, dass der Wiederholungszwang sich im Menschen oft betätigt, um unlustvolle Erlebnisse zu ‚verarbeiten’”’. Der Mensch in den matri- archalischen Anfängen hatte ein doppeltes, schmerzliches Erlebnis zu verarbeiten: den Tod des Vaters und die Empfindung von dessen Sinnlosigkeit durch den Zwang, welcher zur Wiederaufrichtung des Inzestverbotes führte. Keiner unter ihnen konnte den Vater ersetzen. ‚Man sieht — sagt Freud?* — dass die Kinder alles im Spiele wiederholen, was ihnen im Leben Eindruck gemacht hat, dass sie dabei die Stärke des Eindruckes abreagieren und sich sozusagen zu Herren der Situation machen.’ In derselben Abhandlung gibt er uns auch eine Erklärung für die Verarbeitung des traumatischen Schrecks in der Unfallsneurose usw. Durch Wiederholung des ihm unvorbereitet zugestossenen Unglücks, durch ‚Nach- holen’” des versäumtem vorbereitenden Angstzustandes wird der traumatische Neurotiker usw. etwas Erleichterung finden. Der Trieb, der immer auf Wieder- herstellung eines früheren Zustandes hindrängt, vom Lebenden zum Leblosen hin, der Wiederholungstrieb ist der Todestrieb selbst — das ist sehr knapp gefasst das Wesentlichste, was wir über diesen Trieb von Freud erfahren.
Aus den Mimen und Dramen, die die sterbende und wiederauflebende Natur, die ab- und zunehmenden Wandlungen des Mondes darstellten, entwickelten sich später die Passionsspiele. Der Sohn musste hier einen Sühnetod sterben, um alle Menschen von der Erbsünde zu erlösen, das Schuldbewusstsein mischte sich in diese uralten Darstellungen, der T'od, das traumatische Erlebnis wurde nun verar- beitet, indem man zugleich das Schuldgefühl beschwichtigte.
Diese Betrachtungen wollen wir vorläufig unterbrechen und die Männer unter
33) Die erste Auseinandersetzung mit dem T'ode endete wohl mit der kindlichen Leugnung der unerträglichen Tatsache des Todes. Wir wissen aus Hans Naumanns bereits erwähntem Buch (5.7), wie schwer und langsam sich die Gewohnheiten und Riten entwickelten, die den Tod irgend- wie doch zur Kenntnis nehmen und in den Lebenslauf von Gemeinschaften eingliedern; wie spät die Gewohnheit des Begrabens oder der Unterbringung der Toten in Felsengrüften sich einstellte. Anfänglich liess man den toten Mann einfach liegen, man lief davon, zog weg aus der Höhle, Hütte usw. Seine offenen, starren Augen, sein aufgedunsenes Gesicht waren, nach Naumanns Ansicht, der Ausgangspunkt des Dämonenbildes in der Phantasie der Primitiven.
34) „Jenseits des Lustprinzips’’. Ges. Schr., Bd. VI, S. 202.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 383
Frauenherrschaft ‚‚beobachten”. Die Domestikation der Männer während des Matriarchats brachte die Domestikation der Tiere mit sich. Nachdem sie ihre Triebe selbst bezähmt hatten, schwand wohl die grosse Furcht vor dem T'otem, dem Vater, sie hatten ja das Inzestverbot wieder aufgerichtet, sie haben sich selbst bezähmt, nun wagten sie es, den T'otem auch zu zähmen.°
„Die Zähmung von Haustieren und das Emporkommen der Viehzucht scheint überall dem reinen und strengen 'T'otemismus der Urzeit ein Ende bereitet zu haben. Aber was in der nun ‚„pastoralen’’ Religion den Haustieren an Heiligkeit verblieb, ist deutlich genug, um den ursprünglichen 'T'otemcharakter erkennen zu lassen”, sagt Freud.
Das zahme 'Tier zu opfern war auch nicht leicht. Das Opfertier der ‚‚pastoralen” Religion war vielleicht doch nicht identisch mit dem Haustier’ par excellence, der Inkarnation des Mutterrechtes und der Mutterkraft, die geschaffen ist zu geben, zu nähren, die die verkörperte Sanftmut und Geduld ist. Während der wohl nicht allzu langen Perioden, wo in irgendeinem Gebiete das Mutterrecht in voller Reinheit herrschte, also bevor die Mutter die Unvorsichtigkeit beging, die Söhne mit dem Vieh auf die Weide zu schicken, wo sie Zeit hatten, zu planen, zu träumen und zu konspirieren — wo sie auch wahrscheinlich eine grössere Freiheit ihrer Triebe wiedererlangten, und immer fettere Weiden suchend, ihrer Gewalt und ihrer Versuchung wohl leicht entkamen —, musste sie wohl von der furchtbaren Gewalt des Vaters etwas haben. Oder war es in Abwesenheit des Vaters noch schwieriger das Inzestverbot einzuhalten — in der grösseren 'Triebfreiheit des Hirtenlebens wuchs wohl der Inzestwunsch und die Inzestangst zugleich —, es war besser die Frauen überhaupt zu verlassen und in Männergesellschaft zu leben. — Die Kuh-Opfer gingen mit unendlicher Vorsicht vor sich.
Freud sagt weiter: „Noch in späten klassischen Zeiten schrieb der Ritus an verschiedenen Orten dem Opferer vor, nach vollzogenem Opfer die Flucht zu ergreifen, wie um sich einer Ahndung zu entziehen. In Griechenland muss die Idee, dass die T’ötung eines Ochsen eigentlich ein Verbrechen sei, einst allgemein geherrscht haben. An dem athenischen Fest der Bouphonien wurde nach dem Opfer ein förmlicher Prozess eingeleitet, bei dem alle Beteiligten zum Verhör kamen. Endlich einigte man sich, die Schuld an der Mordtat auf das Messer abzuwälzen, welches dann ins Meer geworfen wurde.”
Andere Berichte von ähnlichen Riten auf primitiverer und auch auf mehr entwickelter Stufe sind uns bekannt. Paläo-sibirische Stämme, die mit ihnen kulturell verwandten Aino, die nördlichen Finnen und Samojeden pflegten den Bärenkult. Sie fingen von Zeit zu Zeit einen Bären, umgaben ihn mit verschiedenen
35) Ein Hinweis von Dr. Hajdu.
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Zeremonien, sangen Naeien,3® dann folgte eine ebenfalls schematische Entschul- digung und Rechtfertigung aller Beteiligten und am Ende erklärten sie: das Messer seischuldig. (Freud erwähntin Totemund Tabu auch die Bärenopfer der Outakas in Amerika und die Bärenfeste der Ainos in Japan). Schliesslich soll Hathor, die ägyptische Kuhgöttin, ‚die grosse Nacht, aus der alles geboren wird’, jahr- hundertelang mit genau denselben Riten geopfert worden sein, mit der Abwälzung der Schuld an das Messer.
Diese infantile, naive Stufe der Hypokrisie — die kaum noch als solche zu betrachten ist, vielmehr die Wurzeln ihrer Entstehung ahnen lässt — wird in der indischen Kastenordnung tragische Formen annehmen. Im Rahmen dieses Kults wird das heilige Tier, die Kuh, nie getötet. Die Träger des Kultes, die Mitglieder der vornehmen Kasten, können die verruchte Tat nicht vollbringen. Das Tier mussaber doch getötet werden, da Lederwaren jedenfalls selbst von den Brahmanen gebraucht werden. Wie wird die Schuld hier abgewälzt? Das Messer wird sozu- sagen aus dem Kreise des offiziellen Kultes der Gemeinschaft hinausgeschleudert und trifft diejenigen, die nun mit ihm (dem Messer) identifiziert werden, seine Rolle spielen müssen: die Verantwortung wird auf die Söhne der Finsternis abge- schoben, auf die niedrigsten, nicht-wiedergeborenen Kasten, die durch ihre „Nicht-Wiedergeburt”’, d.h. ihr in keiner ‚wiedergeborenen” (vornehmen) Kaste zur Welt Gekommen-Sein beweisen, dass sie im vorigen Leben ihrer Seelen- wanderung kein ethisch korrektes Leben geführt haben. Merkwürdigerweise wird aber als Grund der Verachtung meistens nicht das oben Erwähnte angegeben, sondern, dass sie eben ‚‚unrein’ sind, weil sie Fleisch essen oder sonst etwas mit Fleisch, Knochen oder Haut des Tieres zu tun haben. Sie werden also gezwungen, die „sündigen, unreinen” Dinge zu verrichten, die dann quasi im Rahmen der „Gesellschaft”’ nicht geschehen sind. Das einzige Privileg der ‚unreinen” Kasten in Indien ist, dass sie eben ‚„unrein’” sein dürfen, also (vergiftetes) Fleisch essen und überhaupt sich mehr Triebfreiheit erlauben können als die ‚„Reinen”, weil das eben ihre metaphysische Funktion in der Gesellschaft ist, dass sie die Ver- worfenen sind. (Dieser ihr Vorteil ist dem sekundären Krankheitsgewinn der Neurotiker vergleichbar. — Kinder, die viel gescholten werden, „Schmutzfinke” zu sein usw., wälzen sich dann auch wahrhaftig ‚zum Trotz” im Schmutze.)
Kehren wir zu unserem ursprünglichen Gedankengang zurück. Wir sehen jetzt vielleicht etwas klarer, wie die Abwälzungstendenz der Verantwortung’ durch die Abwälzungstendenz der „Schuld” vertieft zu Tage tritt. — Wie sich aus dem chthonischen Drama durch Verknüpfung mit dem Schuldbewusstsein
36) Schematische, monotone Trauerlieder, Lamentationen, nach Experten der Musik-Folklore (Szabolcsi) sehr ähnlich denen, die in dem früher ungarischen, jetzt rumänischen Siebenbürgen auch heute bei der Totenwache gesungen werden.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 385
die Passionsspiele entwickelten, so entstand aus der Samsaralehre durch Ver- knüpfung mit der ethischen Vergeltungslehre ‚‚Karman” die indische Wendung der mit Schuldgefühl beladenen, sich zwangsmässig wiederholenden Äusserung des Wiederholungs zwanges bezw. Todestriebes und ihre mehr oder weniger libidinöse Verarbeitung. Bei den Mimen hat wohl die Verarbeitung mit der Mondanbetung angefangen, indem die Projektion des eigenen Erlebnisses von Vergehen und Wiederentstehen auf die Wandlungen des fernen Gestirns geheimnisvoll über- tragen gefunden und in den Dramen wiederholt, vorgetragen wurde. Nach dem Schauspiel folgte das Opfer und die Entschuldigung mit Abwälzung der Schuld auf das Messer. Eines 'Tages genügte das nicht mehr, und die nächsten Mimen galten dem ‚‚Wiedertod’’, dem Sühnetod der Passionsspiele in manchen Gegenden.
Anfänglich verarbeitete man wahrscheinlich das Trauma des Todes in der immer wieder vorgeführten Darstellung und die ebenfalls vorgeführte Tatsache des Wiederentstehens enthielt sicher eine gewisse Beschwichtigung und Ermuti- gung. Dann folgten verschiedene neue Wendungen: „Als das Christentum seinen Einzug in die antike Welt begann, traf es auf die Konkurrenz der Mithrasreligion, und es war für eine Weile zweifelhaft, welcher Gottheit der Sieg zufallen würde. — Die lichtumflossene Gestalt des persischen Götterjünglings ist doch unserem Verständnis dunkel geblieben. Vielleicht darf man aus den Darstellungen der Stiertötungen durch Mithras schliessen, dass er jenen Sohn vorstellte, der die Opferung des Vaters allein vollzog und somit die Brüder von der sie drückenden Mitschuld an der 'T’at erlöste. Es gab einen anderen Weg zur Beschwichtigung dieses Schuldbewusstseins und diesen beschritt erst Christus. Er ging hin und opferte sein eigenes Leben und dadurch erlöste er die Brüderschar von der Erbsünde.’’??
Die kultischen Mimen sind in den mutterrechtlichen Gemeinschaften entstanden, die ihrerseits ‚nach der Erbsünde’’ entstanden sind, in der Zeit der Enttäuschung und der Reue. Die Weiterentwicklung zu den Passionsspielen deutet darauf hin, dass in der Darstellung des ‚Rades’”, des ewigen Kreislaufes von Vergehen und Wiederentstehen nicht schlechthin der T'od, sondern der Tod des Vaters und die Busse des Sohnes von Anfang an, wenn auch noch etwas verhüllt, ihren Ausdruck fanden (mit der naiven Vorstellung im Hintergrund: hätten wir den Vater nicht getötet, könnten wir alle ewig leben). Und das Schuldbewusstsein, welches sich anfangs in einem anderen Stück der Kulthandlungen naiv eintrug: in der Abwäl- zung der Schuld auf das Messer, zog später in der durchsichtigeren Form des Sühnetodes in das Drama ein.
In diesem Lichte erscheint die Mondanbetung dieser Kulte folgendermassen: die Sonne, die ungebrochene Urkraft, der Vater, ist fort, es ist alles dunkel und
37) Freud: Totem und Tabu. Ges. Schr., Bd. X. 2
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traurig. Aber ein blasses, veränderliches Gestirn mit seinem milden Lichte ist statt seiner am Himmel erschienen: die Muttergöttin. Man betet sie an, man ist glücklich mit ihr. Zuerst opfert man ein Schwein oder Geflügel, ein verächtliches, kleines Tier: der Vater wurde vielleicht in dieser verhüllten Form erniedrigt, getötet, verzerrt und verzehrt. — Später opferte man jedoch die Kuh: Symbol oder Imago des neuen Familienoberhauptes: ein Übergangswesen zwischen Totem- tier und Opfertier der pastoralen Kulte: die Gottheit der Mutterfolgen. Das war aber vielleicht doch zu schmerzlich. Die Beschwichtigungen des Schuldbewusst- seins, die das Christentum und der Mithras-Kult fanden, halfen hier nicht. Das Muttertier, die Muttergöttin konnte durch die Opferung des Sohnes versöhnt nicht vorgestellt werden und keiner konnte allein die Schuld tragen. Bei diesen Opfern, sofern sie geübt wurden, blieb die letzte Kulthandlung die Abwälzung der Schuld auf das Messer. — Aber wie schon erwähnt: die Einverleibung der Sub- stanz dieser unter- und überirdischen Mütterlichkeit, dieses Übermasses an nährender Sanftmut, bedeutete die Einverleibung der herrlichsten und zugleich verpöntesten Substanz. Sie musste starr verboten werden. Die Verachtung für diejenigen, die sie zu ‚berühren’’ wagten, die Verteidigung gegen ihre Versu- chungen drückt sich in der Degradierung der Gerber-Kasten usw. aus.?®
Der blosse Gedanke an das Muttertier mit aggressiven Absichten gemischt konnte schon leicht zu unerträglichen Ängsten führen. Wir wissen aus der schon erwähnten Arbeit von K. Abraham,°’ wie häufig die sadistischen Phantasien von Neurotikern durch Angst und Schuldbewusstsein zur nervösen Impotenz führen.
Die Haltung der Brahmanen Frauen gegenüber war auch nicht weit von dieser Art der Neurose entfernt. Der Weibermangel musste die anfangs vielleicht eher theoretische oder konventionelle Forderung der Askese in hohem Masse zur Realität machen. Die vornehmen Kasten rotteten, wie wir wissen, ihre Frauen sozusagen aus. Die vornehmere Art der 'Tempelprostitution verschwand nach dem Emporkommen des Buddhismus, mit der Herrschaft der Mönch-Gurus. Ohne die selbstgeschaffenen sozialen Schranken zu durchbrechen, durften sich die Brahmanen Frauen niedriger Kasten nicht nähern. Sie richteten also ihre Welt so
38) Bei Max Weber lesen wir: „Die Brahmanen haben bei der Hinduisierung mancher kleinen Gebiete die bestehenden Mutterfolgen ruhig bestehen lassen, und auch Kasten, die viel auf sich halten, haben Reste totemistischer Verfassung. ‚Die Nichtschlachtung der Kuh wurde aber überall strengstens vorgeschrieben. — In Gegenden, wo die Hinduisierung noch nicht vor sich gegangen ist, und selbst wo die Herrenschicht sie vollzog, gab es bäuerliche Schichten, die ihre chthonischen Kulte ruhig untereinander fortsetzten, ohne Brahmanenhilfe in Anspruch zu nehmen. Die Brah- manen übernahmen aber später, wenn auch in vielfach veränderter Form, die wesentlichen Ele- mente dieser Kulte im Vischnuismus.
39) he: 5.23.
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ein, dass ihre sexuelle Askese (mit den bekannten masochistischen Ausschrei- tungen) nur durch Formen der „Erniedrigungen des Liebeslebens’”’ unterbrochen werden konnte. Wie erwähnt, meldet sich die Inzestangst bei der Annäherung von Prostituierten, die nicht die Mutter repräsentieren, weniger oder gar nicht, und die verächtliche Behandlung der ‚Matronen” schliesst diese Reihe ab.
Die Ergebnisse der gesellschaftlichen Haltung der Oberschichten: der Frauen- mangel einerseits und die unerschütterliche soziale Ordnung andererseits, beding- ten jenen Geist, welcher in der Soteriologie der Hinayana-Sekten ins Äusserste gesteigert wurde. Was konnten die Brahmanen von einer Wiedergeburt erwarten? Im besten Fall: wieder als Brahmanen zur Welt zu kommen. Für die anderen Kasten bestand wenigstens die Hoffnung einer günstigen Entwicklung im ‚‚Jen- seits’. Ausserdem hatten sie die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit, ihre Wut, ihre aggressiven Impulse in irgendeiner natürlichen Form zu äussern. Die Brah- manen konnten sich gegen das System, welches ihre Kastenprivilegien verbürgte, nicht auflehnen, sie durften nie laut murren. Sie durften auch nicht arbeiten, die „plebejischen Wege des Erwerbs’ waren ihnen versperrt. (Wir werden später. bei der Analyse der Arbeitskasten, sehen, wie aggressive 'Triebregungen in Arbeit übergeleitet werden können.) Das eherne, ewige Rad und die eherne, ewige soziale Ordnung, von ihren Ahnen (wie ein Netz, in dem sie sich nun ver- strickten) festgelegt, liessen für sie also kaum etwas anderes übrig als die Wen- dung der Aggression nach innen: noch mehr Askese und Selbstkasteiung.
Sie schätzten ihre Kastenprivilegien, Macht war ja das Begehrenswerte und das Ziel; die Askese nur Mittel und Weg dazu. Wie Vicvamithra im Epos durch 3000 Jahre Askese Macht über die Götter erlangte, so wollten sie auch ihre Macht steigern und erhalten. Sie behaupteten, durch Askese die Götter zu bezwingen, und merkten nicht, dass die Sache umgekehrt steht, dass die Tag für "Tag geübte Selbstkasteiung dem Vatergott gegenüber Gehorsam ist: die end- und ergeb- nislose Erdrosselung des Inzestwunsches. Wenn dies nicht der zwingendere Grund und Motor ihrer Askese gewesen wäre als der Wille zur Macht, dann hätten sie doch eine Form der Auflehnung und des direkten Herrschens und dynamischen Leitens gewählt.
Je mehr sie Askese übten, desto mehr entwickelten sie sich zu einer „Masse’ im Freudschen Sinne und zwar zu einer mit teilweise nicht zur Genüge ver- drängten ‚„‚direkten Sexualstrebungen”, die sich durch die verhüllte, ‚‚verzauberte’’ Form, die archaische Art der Mutterverehrung kundtun. Die Verhüllung muss in erster Reihe als das Werk der Inzestangst betrachtet werden. Anstatt die Rolle des Stieres, also des Vaters gegenüber der Mutter oder ihresgleichen zu wählen, wählt der Brahmane die Identifikation mit dem Ideal der Kuhgöttin, deren Milde, Ergebenheit usw. immer unerreicht bleiben muss. Wenn das Ideal des
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Sohnes der Vater ist, kann er hoffen und wünschen, eines Tages wie er eine Frau zu besitzen. Wenn aber sein Ideal die Mutter ist, dann ist jene melancholische, neurotische Art des Seelenlebens verständlich, welche von der Anbetung von heiligen Kreisen (statt des weiblichen Sexualorgans) bei der intellektualistischen, spiritualisierten Form der tantrischen Magie der Sakta-Sekten in Bihar und Bengalen, bis zur „Sammasadi”: die achte Stufe der Vollendung”, ‚das heilige Wissen, die jenseits des normalen Bewusstseins liegende Fähigkeit zur rechten Konzentration”, die ‚‚todentronnenen Gestade des Nirwana’, Zustände des „völligen entleert-Seins von der Welt”, sich bemerkbar machte.
Der Asket täuscht es der Welt und vielleicht auch sich vor, dass die Frau, die Mutter, die Kuh nicht das sei, ‚was er haben, sondern was er sein möchte, die Identifizierung ist an Stelle der Objektwahl getreten, die Objektwahl zur Identifizierung regrediert”’.*0 Die Verschiebungen der Objektbesetzung und der Ichidentifizierung erklären die homosexuellen Elemente der brahmanischen Religiosität. Die an Wahn-Systeme grenzenden metaphysischen Phantasien ihrer philosophisch-mystischen Sekten, die apathische Ekstase, die Selbstkasteiung erscheinen als Manifestationen des Schuldbewusstseins wegen der nicht ganz erfolgreich verdrängten Inzestwünsche, die aber in diesen mystischen, teils magischen Betätigungen selbst oft durchbrechen; ferner der Selbstvorwürfe, die Freudals unterdrückte Aggressionen enthüllen würde, (deren Gründe mannig- fach sein können) einerseits, — andererseits aber nehmen wir an, dass die Ver- zweiflung über die unüberwindbare Spannung zwischen Ich und Ichideal (die Kuh!) sich derart fühlbar macht, wie auch in der ganzen Melancholie ihrer Welt- ablehnung.
Der Brahmane, der sein Schuldbewusstsein in den verschiedensten asketischen Übungen verarbeitet, kann ruhig ‚vor die Augen” seines menschenförmigen Vatergottes treten, er kann ihm sogar homosexuelle Gefühle entgegenbringen, wie das im Phallos-Kult auch deutlich zu Tage tritt. Mit anderen Worten: die Unter- werfung, welche sich z.B. in den orgiastischen Festen des Civa-Kultes dem Stier- Gott gegenüber manifestierte, konnte sich leicht mit demselben Gefühlsinhalt in Ahnenkult, Priester-, Königskult usw. verwandeln, — während die Identifikation mit der Kuhgöttin nicht ebenso glatt zur Menschenmutter-Anbetung sich ent- wickeln konnte. Menschen-Göttinnen wurden nur in sehr wenigen orgiastischen Volksfesten angebetet, welche die Brahmanen als unwürdig verwarfen und be- kämpften. Vischnu selbst erscheint meistens nur in ihren männlichen Inkarna- tionen: als Rama und Krischna in Abbildungen usw.
Wir könnten nun versuchen, so eine ‚dauerhafte”’, entwicklungsfeindliche,
40) Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Schr., Bd. VI.
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„künstliche’”’ Masse, wie die Kaste der Brahmanen und eigentlich das ganze Kastensystem, mit Kindern einer Familie zu vergleichen, die so stark an die Eltern gebunden sind, dass sie ihre direkten Sexualstrebungen auch nach der Latenzzeit nicht frei betätigen können, sondern um sich den Ansprüchen der Eltern anzupassen — also an sie gebunden zu bleiben, ihnen zu dienen, ihr Leben zu ‚verzinsen’’,*! ohne aber die Mutter, bezw. den Vater zu begehren —, ihre sexuellen Impulse verdrängen, umstellen, verschieben, quetschen und drehen, bis ihre Neurose manifest wird. — Wir haben bereits erfahren, dass im Vischnu- Kult bei den Sahaya bei der Sexualorgie jeder Mann als Krischna, jedes Weib als Radha (seine Favoritin) galt. Also um sich sexuell betätigen zu können, müssen sie das „Hauptmittel der Selbstvergottung’’ wählen, sich in die Eltern-Götter umwandeln, denn nur sie dürfen eigentlich sexuellen Verkehr ausüben. Wie der Totem nur bei Anwesenheit des ganzen Clans verzehrt werden kann, so scheint in der Sexualorgie die Angst vor der Sexualbetätigung in einen kompromissartigen Ausweg zu münden, indem in Anwesenheit der ganzen Sekte die sexuelle Vereini- gung sozusagen im Namen der Eltern-Götter vollzogen wird. (Die Sexualorgie wurde übrigens, wie erwähnt, von den Brahmanen verworfen.)
Um ein Beispiel aus der Geschichte zu verwenden, möchte ich meiner Ver- mutung Ausdruck geben, dass es kein Zufall sein kann, dass die beiden Haupt- verbote im Taalmud sich 1. auf den Inzest und 2. auf den Genuss von Schweine- fleisch beziehen. Wir wissen, dass die Schweine typische Opfertiere von mutter- rechtlichen Kulten waren und dass dieses Verbot nur das wichtigste von vielen anderen war, die sich alle auf Bestandteile dieser Kulte bezogen und in der jüdi- schen Religion meistens als Götzendienst zusammenfassend bezeichnet werden. *? Wir können nun nicht sehr irren, wenn wir annehmen, dass diese Hauptverbote eng miteinander zusammenhängen. Die Verbote des damaligen Nomaden-, Hirten- und Erobererstammes der Juden mochten bedeutet haben: Du sollst Dir nicht die Substanz der Muttergöttin einverleiben, oder: Du sollst den Vater nicht in Schweinegestalt verhöhnen, verzerren und verzehren. Du sollst nicht länger unter Frauenherrschaft leben. Du sollst vielmehr die Mutter verlassen und Deinem Herrn (Vater oder Heerführer) dienen: — Diese beiden Verbote auf einander bezogen, enthalten quasi die Enthüllung des Objekts hinter dem Ideal, des Inzestwunsches hinter der Identifizierung.
Wenn aber der junge Mann dem Vater oder Heerführer folgte und ihm diente, durfte er wieder seine Weiber nicht begehren. Was blieb ihm also übrig? Neurose mit Onanieren, Neurose mit „Erniedrigung des Liebeslebens’”’, da er, gefühls-
41) Siehe: der Zins heisst griechisch und chinesisch — ein Hinweis von Max Weber übrigens —
das ‚„‚Kind’ des Kapitals. 42) Information des Archäologen W. Juhäsz.
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mässig „‚zuhause”’ gebunden, eine Form der Exogamie suchen musste; schliesslich Neurose mit homosexueller Liebe oder Sublimierung seiner homosexuellen Libi- doorganisation (die vorteilhafteste Lösung für den Führer).
Er musste also, um gesund zu bleiben, sich gegen die dauerhafte Bindung auflehnen, sich losmachen, die Ansprüche der Eltern, des Heerführers und Oberhauptes usw. nicht erfüllen, zur Revolte schreiten, den Vatermord begehen — wenigstens in der Phantasie. Der Heldenmythos und das Volksmärchen ent- stammen also der nun durch Freud wahrhaftig als gesund, frei, ungebunden erwiesenen Einbildungskraft des Volkes (weil in ihnen der Held oder jüngste Sohn von zuhause fortzieht und das totemistische Ungeheuer usw. tötet, um die Königstochter zu bekommen), im Gegensatz zu den ‚künstlichen’” Produkten des neurotischen Geistes, welcher in einer allzu-künstlichen und allzu dauer- haften Masse waltet.
Das Patrimonialkönigtum unterstützte seit König Acoka immer mehr den Buddhismus gegen die Brahmanen. Aber selbst während seiner Blütezeit nannten die Literatenkreise Chinas Indien nur „Land der Brahmanen’”’. (Und das mit Recht, denn ‚es waren altbrahmanische Begriffe, und zwar auch vedantische, vor allem der für das Vedanta zentrale Begriff ‚‚Maya’’ (kosmische Illusion), die die verbreitetste Form des indischen: den Mahayana-Buddhismus in ihrer inneren Entwicklung am stärksten beeinflussten.’’*3 Die Mohammedaner, die die Restau- ration der Brahmanen dann ‚‚contre ca&ur”’, aber gegen das Grosskönigtum ener- gisch unterstützten, nannten sie doch verächtlich ‚‚die geschorenen Brahmanen’”.
Bevor sie also ihren Konkurrenzkampf (hauptsächlich: Bildung der wandernden Bettelmönchsorganisation als Gegenpropaganda) mit einigem Erfolg aufnahmen, sanken sie für eine Zeitlang zu einer etwas unterdrückten Schicht herab. Wir könnten folglich annehmen, dass sie während dieser Zeit und in der gefühls- mässig ähnlichen Lage wie die von Freud beschriebene der ‚‚Brüder” die Muttergöttin in der Form des heiligen "Tieres immer mehr als die Verkörperung der Gottheit, ‚die sie am meisten brauchen”, empfanden. Wir könnten das auch als eine Regression vom patriarchalen zum matriarchalen Zustand auffassen.
Die Mohammedaner nannten die Brahmanen: die Geschorenen. Sie waren einmal Hirtenpriester, das heisst: Hüter der Muttergottheiten, die in Gestalt der Kühe verehrt wurden. Wir erfuhren von Freud, dass die Priester der Mutter- gottheiten „kastriert wurden zur Sicherung der Mutter, nach dem Beispiel, das der Vater der Urhorde gegeben hatte.’”’** Die Kastrationsangst der Brahmanen scheint also auch von weniger fernen Zeiten und von. weniger entfernten Ge- bräuchen her zu stammen als die allgemeine Kastrationsangst aller Menschen. In
43) Max Weber: Hinduismis und Buddhismus. 44) Freud: Massenpsychologie und Ichanalyse. Ges. Schr., Bd. VI.
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China und auch ım Islam gab es bis zu den neuesten Zeiten Eunuchen. Kastration war in Asien keineswegs ein abstrakter Begriff. — Die hinterlistigen Zauberer in Tana usw. waren auch grosse Hirten. Die Verschiebungen in der Libidoorganisa- tion von Hirten, die ohne Weiber leben, sind bekannt. Die Hinterlistigkeit, die sich in der ganzen Art der Brahmanen auch äussert, ist dem Volksmund nach eher ein Charakterzug von Weibern und Kastrierten als von Männern. — Das Dharma der Kschatriya betonte in älterer Zeit den Grundsatz, dass, ‚wer nicht in den Wehrverband kommt, ‚Weib‘, politisch rechtlos bleibt”; dieser Ausspruch scheint im Rahmen des Konkurrenzkampfes für die führende politische Rolle auch einen geheimen Spott zu enthalten, ähnlich wie die Bezeichnung ‚‚die Ge- schorenen” der Mohammedaner.
Und nun stellen wir uns den Inhalt der asketischen Übungen der Brahmanen des Civa- (oder Shiva-) Kultes vor und aller der 80 Millionen Inder, die täglich sich vor dem Lingam-Fetisch hinwerfen, kasteien. Sie können einerseits bedeuten: Grosser Fetisch, Du brauchst mich nicht zu kastrieren, ich kasteie mich; anderer- seits: Siehe wie stark ich bin, was ich aushalten kann, was ich leiste, — fürchte und achte mich, — tu mir nichts an! (Die Vorstellung der Erhaltung des Charis- mas durch Askese enthält einen ähnlichen Zug, wobei den Lingam die sozialen Gegner vertreten, gegen die sie sich dann so angreifend verteidigen.)
Die Brahmanen steigern sich also durch — sagen wir kurz — Wiederüber- bietung der buddhistischen Askese wieder zu einer vornehmen Schicht von fürstlichen, regierenden Beamten, Standespriestern und entwickeln mit Erfolg ihren Massenpropagandaapparat und ihre Klosterorganisation. — ‚Es gelang den Brahmanen tatsächlich und vor allem die alte Phallos- (Lingam- oder Linga-) Verehrung ihres alkohol- und sexualorgiastischen Charakters zu entkleiden und in einen reinen ritualistischen TT’empelkult zu verwandeln, der zu den verbreitet- sten in Indien gehörte. Es dürften noch jetzt mindestens 80 Millionen Hindi nur Lingam-Verehrer sein. Dieser als orthodox anerkannte Kult empfahl sich nun den Massen durch seine nicht zu unterbietende Billigkeit: Wasser und Blumen genügen für die normalen Zeremonien. Die brahmanische Theorie hat den Geist, welcher das Linga als Fetisch bewohnte oder — nach sublimierter Auffassung — dessen Symbol es war, durchweg mit Civa identifiziert. Schon im Mahabharata wurde diese Rezeption vollzogen.”
„Sankacharya scheint im 8. oder 9. Jahrhundert in die eigentlich damit un- vereinbare Vedanta-Lehre den persönlich höchsten — und im Grunde einzigen — Gott Brahma-Para-Brahma systematisch wieder eingeführt zu haben. Alle anderen göttlichen Wesen sind Erscheinungsformen Brahmas, er selbst freilich, obwohl Regent der Welt, nicht ihr letzter Urgrund, der im hinduistischen System unver- meidlich überpersönlich und unerforschlich bleiben musste. In jeder hindui-
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stischen Hagiolatrie steht Sankara an der Spitze, alle orthodox givaitischen Sekten betrachten ihn als Lehrer, manche als Inkarnationen Civas. Die vornehmste Brahmanenschule Indiens, die Smarta (von Smriti, 'Tradition), besonders im Süden mit der hochberühmten Klosterschule in Shringeri, im Norden vornehm- lich mit der Klosterschule in Sankeshwar als Mittelpunkt sesshaft, hält sich am strengsten an seine Lehre. Seit seinem Wirken hat jede neue brahmanische Re- formbewegung einen persönlichen Gott als Weltregenten anerkennen müssen, und die synkretische Orthodoxie hat dann Brahma mit beiden Volksgöttern Civa und Vishnu zur klassischen Hindu-Trias vereinigt.’’*?
Wer soll nun dieses über die Eltern-Götter gehobene Ideal: Brahma-Para- Brahma sein? Wir müssen wieder an Vigvamithra (im Epos) denken, der nach 3000 Jahren von Askese die Götter besiegte. Der Kastrat oder Asket steht über dem Zeuger und über der Mutter — soll das die Brahmanen-Lehre sein? Und ihr Werk, die Kasten: auch eine Art von Kastration, ein Weitergeben dessen, was man an sich selbst erfahren hatte? Ein Bezwingen, ein Zwingen der Menschen zur Beschränkung, zum Versagen, zum Entsagen. Ausserdem: ein Beschneiden, ein Abschneiden — divide et impera — der Bevölkerung voneinander.
Der Kastrat aber erweckt Angst, vielleicht noch mehr Angst als der unbe- schnittene Stiergott, der König, der Vater — denn ein Kastrat kann ‚‚infizieren’’, wo einer da ist, können noch andere entstehen. Der kleine Junge, der zum ersten- mal merkt, dass seine Schwester oder seine Mutter ‚‚kastriert’’ sind, erschrickt, dass auf ihn auch dieses Schicksal wartet. Wir könnten uns nun folgendes über- legen: die vielfach komplizierte Idealbildung des Hinduismus findet ihre Ver- körperungim heiligen Tiere. Eine Kuh macht nicht den Eindruck eines Kastrierten wie ein menschliches weibliches Wesen. Die Nahrungspendende besitzt Organe, die im höchsten Masse das Interesse des Kindes und des Primitiven erwecken: die Euter. Vielleicht ist die merkwürdige Tatsache, dass die Inder Kuhurin als Weihwasser verwenden, irgendwie mit der Verbindung, wenn nicht Vertauschung der beiden Eltern verbunden: der warme Strahl, welcher aus der nicht- kastrierten jedoch milden Eltern-Imago dringt, hat wohl eine besondere Be- deutung. Die Kuh kann geben, was die Mutter nicht mehr gibt: die Milch, aber alles andere, was aus oder von ıhr kommt, ist ebenso bedeutsam, denn: ihr An- blick enthält nicht die Drohung der möglichen Kastration wie die des Weibes, aber sie ist auch nicht wild und gefährlich wie ein Stier, wie der Vater. Die Kuh ist der milde, Gaben spendende Vater und die nicht-kastrierte Mutter zugleich.
Wer ıhr also gleich sein kann, der ist nicht Urgrund: Zeuger, aber auch kein Kastrat mehr. Brahma-Para-Brahma ist also ein Symbol dieses Ideals. Wer nicht
45) Arch. f. Sozialwissenschaften. 42.2. S.764 usw.
Ethos, Hypokrisie und Libinohaushalt 393
kastriert wird, weil er sich selbst kasteit, der will eines Tages wie die Kuh werden: ergeben, sanft, nur gebend, nichts nehmend, das ist das Ideal. Der Phallos soll nicht abgeschnitten werden, sondern sich in einen Euter verwandeln, der böse Vater soll zum lieben Gott, zum Erlöser werden. Erlösung erfolgt durch Askese. Die 80 Millionen Männer, die sich täglich vor dem grossen Lingam-Fetisch kasteien, erhoffen also vielleicht, dass er eines Tages zum Erlösung und Glück bringenden Füllhorn, zum Euter wird — oder sie bieten diese Lösung als gegen- seitige Erlösung an. Natürlich dringt die Wendung zum Homosexuellen dabei auch durch.
Der Brahmanenkaste gehörten ausser der dauernd steigenden Zahl ihrer Mönche auch zahlreiche praktische, sich dem ‚normalen’” Leben anpassende Männer an wie die Guru oder Gosain, die den Tempeldienst versahen, Gris- schathra (Haushalter), verheiratete Brahmanen, die sich zwar auch einer immer strengeren Lebensreglementierung anpassen, asketische Gebote einhalten (und die Frauem verachten) mussten, von denen wir aber annehmen können, dass sie ebenso, wie wohl ein grosser Teil der Mönche selbst, diese Regeln ohne besondere Überzeugung, vielleicht mit schwerer Selbstüberwindung, aber aus Standes- interesse doch mitmachten. Ihre Hypokrisie ist nicht mehr von der festen, naiven Art ihrer Ahnen: sondern notwendig geschwächt von den vielfachen Massen- bindungen der neueren Zeit. Wir wissen, dass der Glaube unserer Väter und unserer Umgebung in halb- und unbewussten Resten in uns allen fortlebt und in den Formen von Ängsten, Aberglauben, in manchmal zwangsartig auftretenden unbewussten Ansprüchen des Überichs wirksam werden, ja sogar bei bewussten Überzeugungen, „selbständigen’” Stellungnahmen in moralischen Fragen usw. auch eine Rolle spielen. Je freier aber ein Brahmane von ähnlichen Massen- bindungen (der Vorfahren und der Gegenwart) sein oder werden konnte, desto eher blieb für ihn nichts anderes als glatte Hypokrisie oder offene Revolte übrig. Wir kennen aber in der Geschichte der Brahmanen keine Revolte innerhalb ihrer Kaste, und diejenigen gegen ihre Kaste gerichteten Revolten, die wir in den Sektenbildungen der Laienreligionen erblicken können, waren ihrem Wesen, ihrem ganzen Geiste nach nur Steigerungen derselben Lebenshaltung, welche jede Revolte ausschliesst. Wir müssen nun — bevor wir zur Analyse der nächsten Kasten übergehen — die Kriterien der Kastenunterschiede noch einmal ein- zeln prüfen, um die Frage der Hypokrisie weiter zu klären. Sie waren die fol- genden: 1. Verhalten der Kaste gegenüber der Kuh. 2. Ethisches Verhalten im Vorleben. 3. Hautfarbe (varna). 4. Wassernahme anderer Kasten. 5. Bedienung von anderen Kasten oder nicht. 6. Herkunft von erlaubtem oder unerlaubtem Konnubium. 7. Beruf.
Im Lichte der bisherigen Erfahrung stellt sich der erste Punkt folgendermassen
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dar: die strengen Verbote, die Kuh zu ‚nützen’”’, die Verachtung für Kasten, die z.B. ihre Häute verarbeiten, erscheint als extreme Hypokrisie in Anbetracht der Tatsache, dass Gegenstände, die von diesen Gerberkasten usw. aus solchen Häuten verfertigt werden, von den Vornehmen ungeniert benützt werden. Sie scheinen vollkommen zu verdrängen, dass sie bei der Verwendung jener Gegen- stände dieselben Häute auch benützen. Andererseits legen die hohe Einschätzung der Exkremente der Kuh und die Tatsache, dass Milch und Milchprodukte zur vornehmen Nahrung der wiedergeborenen Kasten gehören, die Vermutung nahe, dass die strengen Verbote sich darauf beziehen müssen, nicht mehr von der Kuh zu nehmen als sie von selbst gibt*®, alles, was sie von selbst gibt, jedoch sehr hoch einzuschätzen: ihr Dünger ‚‚reinigt”’ rituelle Infektion usw. Die Notwendigkeit, diese Verbote so streng zu fassen, zeigt, wie schwer unterdrückt der Wunsch war, doch mehr zu nehmen. — Dieses erste Kriterium ist so als ein Ausdruck der letzten Endes doch aufrichtigen, übertragenen Berührungsangst und der In- zestangst zu betrachten. Durch diese Angst ist wohl die Regression zur anal- sadistischen Stufe eingetreten, welche hinter der Hypokrisie und dem ‚‚Ethos” des Kastensystems, teils in der Aggression gegen die andern, teils in der Askese wirksam ist.
2. „Ethisches Verhalten im Vorleben’’. Dieses Kriterium können wir auf die Abwälzungstendenz des archaischen Schuldbewusstseins (wegen der „Erbsünde”) zurückführen. Die Unterscheidung könnte etwa so lauten: Beteiligt oder unbe- teiligt am Vatermord, bezw. am Opfer der betreffenden verbotenen Kulte. Wer sich an der Kuh vergangen hat, der hat sich eigentlich am Erlöser wieder vergangen. Ein Pariah, ein Outcast, ein Mitglied der Gerber-Kaste wird also gehasst wie der Jude, der angeblich Christus ans Kreuz geschlagen hat. Der als ‚„erbsündig” gekennzeichnet in einer „nicht-wiedergeborenen” Kaste, also „ungesühnt’’ zur Welt kommt, ist tabu, zum Verführen geeignet, denn er wiederholt ja durch seine „Berührung’” der Kuhhäute usw. im Diesseits auch dauernd die Erbsünde.
3. Das dritte Kriterium, varna, Hautfarbe oder Rasse, bedeutete wohl in erster Reihe, dass der geschlechtlichen Betätigung eine Schranke gesetzt werden musste. Das Dasyu-Weib, die in ihren verbotenen Kulten die Substanz der Muttergöttin vielleicht noch immer einverleibt, die keine Schranken des Geschlechtstriebes kennt, ist tabu. Wenn man sie berührt, dann gibt es keinen Halt mehr bis zur Kuh — bis zur Mutter. Ein zwangsneurotisches Verhalten, wobei das Verbot bewusst bleibt, während das Objekt, auf das sich das Verbot bezieht, unter das
46) Siehe die Analogie: der Brahmane darf nur bereits abgetrennte Früchte und Überbleibsel des Essens anderer essen: was von der Liebe der Mutter für ihn übrigbleibt, muss genügen, das Mehr gehört dem Vater.
Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt 395
Bewusstsein sinkt und leicht übertragbar wird. Dass später die Kinder von vor- nehmen Männern und farbigen Frauen und nicht nur umgekehrt auch degradiert wurden, lässt auch darauf schliessen. Dem könnte noch hinzugefügt werden, dass die fremde Farbe, d.h. Rasse primär vielleicht einen zusätzlichen Reiz des frem- den, anderen Geschlechts ausmachen konnte. Ausserdem war die allgemeine grössere 'Triebfreiheit der ‚‚wilden’”’ Stämme auch gefährlich, tabu.
4. „Wassernahme anderer Kasten’”’. Wasser von jemandem nehmen bedeutet in der Sprache des 'Iraumes: den sexuellen Durst stillen. Die Frage bedeutet also soviel wie: ist die betreffende Kaste zum sexuellen Verkehr ‚rein’’ genug?
5. „Bedienung von anderen Kasten oder nicht”, ist psychoanalytisch gesehen wesentlich dasselbe, einander bedienen, von einander annehmen, in der Traum- symbolik eindeutig. — Die Rolle der Neid-Abwehr dabei wurde bereits erwähnt. (3.5.)
6. „Herkunft von erlaubtem oder unerlaubtem Konnubium’”’. Mischlinge aus verbotenem Geschlechtsverkehr sind tabu aus bereits ausgiebig erörterten und zitierten Gründen und müssen zumindest degradiert werden.
7, „Beruf”’. Keine freie Berufswahl in Indien, sondern ständischer Zwang herrscht in der Zuteilung der Berufe. Aus dem Gesichtspunkt der Eignung, dem persönlichen Charisma wird das Erb-, das Gentil-Charisma. Alles, fast alles wurde im Vorleben bestimmt.
Es bleibt also für den Brahmanen nichts anderes übrig als Askese zu üben, und dieses ‚‚Privileg’’ wird immer mehr vorherrschen über das Privileg des Herrschens. Sie fürchten sich derart vor dem T'ode, dass sie sozusagen schon in diesem Leben dauernd sterben, sich dem Leben entziehen. Ob diese Furcht vor einer jenseitigen Vergeltung als übertragene Kastrationsangst gelten oder nur einfach als lähmende Todesangst betrachtet werden soll, ist ja im Grunde einerlei. Ihre Verachtung für diejenigen, die etwas an Gegebenheiten ändern, für die Arbeit schlechthin, drückt sich auch in der Degradierung der arbeitenden Schichten bei der Kastenbildung aus. Natürlich mag dabei auch die bessere Ausnützungsmöglichkeit der Produkte und Leistungen von Unterdrückten eine hervorragende Rolle gespielt haben, so dass die anale Haltung: materielle Vorteile zurückzuhalten, mit dem Sadismus der Verachtung, Unterdrückung usw. zusammenwirkt. — Wenn jene für die Erb- sünde die Schuld ewig tragen müssen, dann ist die Prätension, durch Askese alle andern erlösen zu können, falsch. Vielleicht kann ihre Askese als freiwillige Be- teiligung an der Schuld, als ein Versuch, eine endgültige „‚Erlösung”’ aus dem Rade der Wiedergeburten zu finden, also doch als Angst von einer eventuell ungünstigen Wiedergeburt, also wiederum auch als Ausdruck eines Schuldbewusstseins (der ins Jenseits übertragenen Kastrationsangst) betrachtet werden. Und wie der Melancholiker sich in Todesangst quälend vor der Spannung manchmal flüchtet,
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indem er Selbstmord begeht, so kasteit sich der Brahmane, um der Angst vor der jenseitigen möglichen Kastration zu entgehen.
Er verachtet also die Kasten, die die Spannung der 'Todesangst überwinden können, mit aller Kraft arbeiten, verschiedenes erfinden, um ihr Leben zu ver- längern, Häuser bauen, selbst verbotene 'Tiere zu töten und zu essen wagen usw., um die 'Todesstunde möglichst weit hinauszuschieben, und in ihrer Arbeit wohl die Entschädigung für die Verurteilung durch die Gesellschaft finden. Die Brahmanen verachten ihre Tätigkeiten als töricht, wert- und zwecklos, denn im Angesichte des Todes scheint ihnen jede Äusserung der Libido als im voraus zur Niederlage verurteilt; um im Kampfe nicht zu verlieren, nehmen sie also den Kampf bewusst gar nicht auf, sondern identifizieren sich mit dem Gegner, wie sie sich auch mit dem Weibe identifiziert hatten, anstatt es zu überwältigen.
Ein gesunder Libidohaushalt bedeutet das Primat der Libido über jenen Trieb, der zum Leblosen hindrängt. Bei den Brahmanen können wir einen solchen Grad ‚„gesunder”’, überlegener Hypokrisie nicht voraussetzen, der die oben be- schriebene Haltung (die Melancholie der Weltablehnung: die Triebentmischung: Konsequenz der Regression — manifest in der Askese und in der Unterdrückung der andern) nur vorspiegeln, vortäuschen würde (die Verurteilung der andern ist auch „aufrichtig’”’, die Hypokrisie ist unbewusst: auch Folge der Regression).
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Die Aggression ın der Rettungsphantasıe
von
Richard Sterba
Detroit
Die zunehmende Erkenntnis der Bedeutung der aggressiven Regungen im normalen und vor allem im neurotischen Seelengetriebe hat in den letzten Jahren zu einer Revision der Resultate der psychoanalytischen Forschung geführt, meist mit dem Ergebnis, dass an den verschiedenen psychischen Produkten eine neue Bedeutung neben der bereits erkannten gefunden wurde, nämlich dass sie neben ihrem positiv-libidinösen auch einen aggressiven Inhalt zum Ausdruck bringen. Es erscheint berechtigt, auch die Rettungsphantasie auf ihren aggressiven Inhalt zu prüfen.
Freud hat der Rettungsphantasie einige Absätze in seinen ‚Beiträgen zur Psychologie des Liebeslebens’” gewidmet. Er weist darin nach, dass die Rettungs- phantasie zunächst den Wunsch ausspricht, den Eltern das Leben zurück- zuerstatten, das man ihnen verdankt, indem man sie oder einen Elternteil aus Lebensgefahr rettet. Der Mutter gegenüber seien zärtliche gemischt mit gross- mannssüchtigen Regungen der Ursprung der Phantasie. Wenn der Sohn den Vater in der Phantasie rettet, sei darin auch eine trotzige Komponente enthalten, eine Ablehnung der Tatsache, dass man sein Leben dem Vater verdanke. Hier finden wir einen Hinweis auf eine negative Komponente in der Rettungsphantasie, einen Hinweis, der in der analytischen Literatur vereinzelt geblieben ist. Und doch zeigt eine kurze Überlegung, dass der Inhalt „‚Rettung” nur den einen Teil der komplexen Phantasie wiedergibt, denn das Objekt ist doch wohl vorerst in der Phantasie in die Gefahr gebracht worden, aus der der Phantasierende es rettet. Wenn der pubertierende Jüngling phantasiert, den König oder Präsidenten aus der Gefahr eines Attentats, einer Überschwemmung, einer Feuersbrunst zu retten, so macht er damit eigentlich nur das Verbrechen wieder gut, das er begeht, indem er die Vaterpersönlichkeit in der Phantasie in die Gefahr bringt, aus der er sie dann retten kann. Und klinisch-analytische Untersuchungen zeigen uns den unbewussten aggressiven Inhalt,der Rettungsphantasie sehr deutlich. Drei Beispiele aus Analysen mögen dies demonstrieren.
398 . Richard Sterba
Das erste Beispiel stammt aus der Analyse eines 18jährigen homosexuellen Mädchens. Es erwies sich bald als die grosse Schwierigkeit in dieser Analyse, dass die Patientin absolut verweigerte, ihre Hoffnung, doch noch ein Knabe zu werden, aufzugeben. Dies veranlasste mich einmal zu dem Ausspruch, es werde für sie doch einmal notwendig sein, mit ihren anatomischen Gegebenheiten sich abzufinden. Die Reaktion darauf war ein Protest, den man kaum anders als grandios bezeichnen kann. Am Abend nach der Analysenstunde, in der mein Ausspruch fiel, ging sie mit einem jungen Burschen, der um sie warb, ins Freie und liess sich von ihm deflorieren. Sie blutete aus dem Hymenriss ziemlich stark und da die Blutung auch nach vier Tagen immer wieder kam, sandte ich sie zu einem Gynäko- logen, der eine kleine Erosion am Hymenalsaum fand, die als Ursache für die Blutung kaum genügend war. Er erklärte die Blutung für psychogen. Die Blutung stoppte erst nach acht Tagen, aber gleich darauf setzte eine um eine Woche verfrühte Menstruation bei der Patientin ein, die bisher immer einen regelmässigen Zyklus von 28 Tagen gezeigt hatte. Die Menstruationsdauer war von sonst drei auf acht Tage ausgedehnt. Als die Menstruation endlich sistierte, erlitt die Patientin in der Analysenstunde einen Anfall von Nasenbluten, der sich in der nächsten und in der folgenden Analysenstunde wiederholte. Und nach dieser blutigen Anklage gegen mich, die an den mittelalterlichen Aberglauben gemahnte, dass die Wunden des Opfers frisch zu bluten beginnen, wenn der Mörder sich ihm nähert, brachte die Patientin einen Traum: Es ist wie bei Gericht. Der Analytiker ist zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils hängt davon ab, ob die Frauen ‚, ja” oder „nein dazu sagen. Es zieht eine endlose Reihe von Frauen am Richtertisch vorbei, mit merkwürdigem, wallendem, dünnem Gewebe vom Kopf herunter- hängend. Die Situation ist eine solche, dass die Frauen ‚, ja” dazusagenmüssen, dass der Analytiker geköpft werden solle. Als die Reihe an die Patientin kommt, hat sie als einzige den Mut, ‚nein” zu sagen, und sie rettet auf diese Weise den Analytiker vom Tode.
Der Traum ist deutlich eine geträumte Rettungsphantasie; die Analyse aber zeigt, dass die Rettung eine Fassade und das happy end eine Lüge ist. Das Gericht hat mich verurteilt und die Frauen sind für die Vollstreckung. Ihr ‚‚nein” hat eine andere Bedeutung. Die Frauen mit den Schleiern, durch die Situation ge- zwungen „ja’ zu sagen, wenn sie am Tisch vorbeiziehen, sind Frauen am Trau- altar, wo ja die Situation das ‚‚ja’” verlangt. Und die Patientin wird auch dort den Mut haben, „nein’’ zu sagen, wo alle andern Frauen ‚ja” sagen. Der Rettungs- traum erweist sich als eine Kombination von Protest und hasserfüllter Rache. Die Aggression vor und neben der „Rettung”’, man möchte sagen in der Rettung, ist hier sehr deutlich.
Zwei kleinere Beispiele zeigen dasselbe. Eine Patientin produziert während
Die Aggression in der Rettungsphantasie 399 einer Zeit, in der sie sich vom Analytiker verschmäht fühlt, folgende Phantasie vom Rettungscharakter: ‚‚es werde Krieg geben und der Analytiker werde im Feld schwer verletzt werden. Die Patientin als Feldschwester werde ihn auffinden, nur mehr ein armseliges Überbleibsel von einem Menschen, blind, ohne Arme und Beine.” Sie rettet ihn aus letzten Gefahren und er, der ohne ihre Hilfe nicht mehr lebensfähig ist, sieht endlich ein, wie sehr sie ihn liebt und ist ihr dankbar bis an sein Lebensende. Hier erübrigt sich eine Deutung. Die Grausamkeit und Rache ist in der Phantasie unangenehm deutlich.
Das letzte Beispiel ist das Versprechen eines Patienten, der einen Bericht über eine Rettungsphantasie einleitet mit den Worten: „Herr Doktor, ich habe eine Rettungsphantasie gegen Sie gehabt”’, und durch das “gegen Sie’’ anstatt ‚‚mit Ihnen” den aggressiven Inhalt seiner Rettungsphantasie aufdeckt, bevor er sie noch berichtet.
Diese kleinen Beispiele sind aus vielen ausgewählt. Ich glaube nach meiner Erfahrung, dass man berechtigt ist, aggressiven Inhalten in jeder Rettungsphantasie nachzuspüren; dass man sie finden wird, dessen bin ich gewiss.
Einige Analogıen ın der Verhaltungsweise von Vogeln und psychischen Mechanısmen beim Menschen
von
Hans Lampl
Amsterdam
Neurosen bei Tieren sind von verschiedenen Autoren beschrieben worden. Die Gefahr von falschen Analogisierungen wurde dabei nicht immer vermieden. Der Autor mag dabei häufig genug sein eigenes Unbewußtes in das beim Tier zu beschreibende Phänomen hineintragen. Wir müssen annehmen, daß hin- sichtlich der Neurosenbildung zwischen Mensch und Tier ein prinzipieller Unterschied besteht. Einen Anfang, verschiedene Vorgänge beim Tier mit solchen beim Menschen zu vergleichen, hat in durchaus legitimer Weise Freud in
400 Hans Lampl
Totem und Tabu gemacht, wo er gewisse Vorgänge bei Affenhorden mit ähn- lichen beim Menschen vergleicht. Er hat aber damit auch gleichzeitig die Scheide- wand zwischen dem neurosenfähigen Menschen und der angrenzenden Tier- spezies gezeigt. Wenn die Ansicht von Freud stimmt, daß die Herstellung der Ödipussituation das Um und Auf der Menschwerdung darstellt, so muß es im Tierreich in dieser Hinsicht prinzipiell anders bestellt sein.
Aber es gibt auch ausserhalb der neurotischen oder neuroseähnlichen Erschei- nungen für uns interessante und wesentliche Vorgänge beim Tier. Ich kann nur einiges herausgreifen, das weder vom tierpsychologischen noch vom psychoa- nalytischen Standpunkt Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Es handelt sich allein darum, gewisse für den Analytiker interessante Beobachtungen zu referieren, die vielleicht gerade wegen ihres biologischen Charakters Beachtung verdienen.
Diese Tatsachen verdanke ich in der Hauptsache einer umfangreicheren Arbeit von Konrad Lorenz: ,‚Der Kumpan in der Umwelt des Vogels.’’! Lorenz ist ein sehr feiner Tierbeobachter, der wenig Neigung zeigt, die Vorgänge bei den Tieren zu vermenschlichen, und sie ziemlich nüchtern beschreibt. Jedenfalls sind seine Befunde ohne jede Beeinflußung von analytischen "Theorien ent- standen und daher für uns umso belangreicher. Ich werde diese Arbeit nicht als Ganzes referieren, sondern nur jene Punkte herausgreifen, die in einem gewissen Sinn interessant sind. Vor einem Fehlschluß ist jedoch zu warnen: Die meisten von uns haben ihre Erfahrungen mit domestizierten Tieren gemacht und sind daher geneigt, Tierbeobachtungen auf diese Erfahrung hin zu prüfen. Aber domestizierte Tiere sind zur Untersuchung triebhafter Vorgänge relativ ungeeignet. Bei den domestizierten Tieren zeigen die sogenannten Erbtriebe Ausfallsmutationen im Vergleich mit der entsprechenden Wildform. Solche Ausfallsmutationen sieht man bei Domestikation auch auf somatischem Gebiet. Tiere, die z.B. eine durch Generationen hindurch festgehaltene Federzeichnung besitzen, produzieren bei der Domestikation eine wahllose Mutation dieser Federzeichnung. Die Untersuchung an nicht domestizierten Formen ist natürlich viel mühsamer, liefert aber dafür viel beweisendere und auch weniger verwirrende Resultate, weil der Mutationsfaktor sehr stark reduziert ist. Wer domestizierte Tiere untersucht, muss wissen, dass seine Funde hauptsächlich für diese gelten.
Die Untersuchungen von Lorenz beschränken sich natürlich nicht nur auf blosse Beobachtungen, sondern er ersann auch sehr exakte und geschickte Versuchsanordnungen, bei denen er im Dienste genauer Beweisführung ver- schiedene Momente ausschalten konnte, wie es bei der reinen Beobachtung allein
1) Ztschr. f. Ornithologie, Bd.83, 1935, S.137—413.
Einige Analogien in der Verhaltungsweise von Vögeln und Menschen 401
nicht möglich gewesen wäre. Dazu kommt die Heranziehung von Untersuchungen anderer und die kritische Verwendung ihrer Ergebnisse.
Der Titel seiner Arbeit, der, wie ich schon erwähnt habe: ‚Der Kumpan in der Umwelt des Vogels’ lautet, zeigt das Gebiet, das untersucht wird. Ein Beispiel soll das Gemeinte erläutern. Es besteht z.B. eine triebhafte Veranlagung bei den Vogeleltern zur Fütterung der artgleichen Jungen. Der Kuckuck legt sein Ei ın das Nest irgend eines anderen Vogels. Wenn der junge Kuckuck die anderen im Nest befindlichen Vogeljungen aus demselben wirft, wird er, wiewohl artfremd, gefüttert. Der Trieb der Vogeleltern zur Fütterung ihrer eigenen Kinder kommt, da diese weg sind, an einem Ersatzobjekt zur Befriedigung. Ein solches Objekt bezeichnet der Autor als einen Kindkumpan, ein Individuum, mit dem der ältere Vogel nur durch einen bestimmten Funktionskreis verknüpft ist, wie wir auch sonst im allgemeinen von einem Zechkumpan, einem Jagd- kumpan und dergl. sprechen, insoweit uns diese eine Interessengemeinschaft mit dem betreffenden Menschen verbindet. Lorenz untersucht also, vielfach experimentell, das Verhalten des Vogelindividuums zu seinen Artgenossen in speziellen Situationen und Beziehungen. Da aber der Artgenosse, wie wir gleich sehen werden, durch andere, auch art-und gattungsfremde, Lebewesen ersetzt werden kann, meint der Begriff ‚‚Kumpan’’ schlechthin den ‚‚Änderen’’ in einer bestimmten Beziehung. Wir können dieses Verhalten vielleicht am besten im Zusammenhang mit den einzelnen Entwicklungsphasen des Vogels von der Geburt bis zu seinem Erwachsenwerden verfolgen.
Es wundert uns nicht, daß ein neugeborener Vogel, der von seinen Eltern betreut wird, auch an diese Eltern gebunden ist, ihnen nachgeht, von ihnen ge- füttert wird usw. Man glaubt hier etwas Selbstverständliches vor sich zu haben das keiner weiteren Untersuchung und Erklärung bedarf. Und doch fragte sich der Autor, ob das Vogeljunge in dieser Hinsicht wirklich einen auf die arteigenen Eltern gerichteten Instinkt angeboren habe.
Zu diesem Zwecke wurde folgende Versuchsanordnung ausgedacht: Die von der Graugans ausgebrüteten Jungen haben sofort nach dem Ausschlüpfen aus den Eiern die T’endenz, der Gans-Mutter nachzulaufen. Der Autor ließ nun Eier von Graugans im Brutofen künstlich ausbrüten. Wenn der Mensch das erste Lebewesen ist, das die jungen Tiere sofort nach dem Ausschlüpfen zu sehen bekommen, so entwickelt sich bei ihnen ein auf den Menschen eingestellter intensiver Nachfolgetrieb. Die Tiere sind unzertrennlich von dem Menschen, werden traurig, wenn er sich von ihnen entfernt und zeigen überhaupt alle Reak- tionen, die sonst die jungen Tiere ihrer Mutter gegenüber produzieren. Von der Intensität dieser ‚„‚Fixierung” und von der Geschwindigkeit ihrer Entwicklung
erhält man eine richtige Vorstellung, wenn man sieht, welche Vorsicht notwendig 27
402 Hans Lampl
ist, um diese Bindung an den Menschen zu verhindern. Wenn man will, daß aus künstlich ausgebrüteten Eiern ausgeschlüpfte Grauganskücken mit einer Graugansmutter mitlaufen sollen, so muß man genau darauf achten, daß die jungen Tiere zwischen dem Ausschlüpfen und dem Unterschobenwerden unter die Gänsemutter den Menschen nicht zu sehen bekommen, weil sonst ihr Nachfolg- trieb sofort auf den Menschen eingestellt ist.
Wenn man ein solches an den Menschen fixiertes Tier zu einer gleichartigen Familie mit gleichaltrigen Kücken bringt, so erkennt das Tier seine Artgenossen nicht, sondern rennt piepend davon; wenn aber ein Mensch zufällig vorbeikommt, so schließt es sich ihm an, wie wenn es seine Mutter wäre.
Diese Bindung, die schon beim ganz jungen 'Tier entsteht und die wir als eine Tatsache einfach konstatieren müssen, ermöglicht es vielleicht, uns eine allge- meine Vorstellung zu bilden über die Einwirkung ganz frühzeitiger Erlebnisse überhaupt, auch beim Menschen. Wir haben auf Grund unserer analytischen Erfahrung geschlossen, daß beim Menschen Fixierungen in frühster Zeit ent- stehen können; direkte Kinderbeobachtung hat es bestätigt. Aber es wäre viel- leicht nicht richtig, den Begriff Fixierung aus der Psychoanalyse ohne weiteres hier herüberzunehmen. Offenbar ist der hier wirksame Instinkt an allgemeinste Merkmale gebunden, die der Mensch sozusagen mit der Gansmutter gemeinsam hat. Das eben beschriebene Phänomen kommt fast nur bei Nesthockern vor. Es ist jedenfalls an die natürliche und, wenn man vom Experiment absieht, eindeutig gegebene Situation gebunden, daß das ausgeschlüpfte Junge sofort nach dem Ausschlüpfen nur seiner Mutter ansichtig wird. Daher wahrscheinlich die Bindung an nur allgemeinste Merkmale: unter den normalen Bedingungen in der Natur ist das In-Funktion-Setzen dieses passiven Pflegeinstinktes gesichert. Was uns als Fixierung an ein anderes Objekt imponiert, beweist eben nur, daß die Objektsmerkmale sehr allgemeine sein müssen und daß das erste Erblicken dabei eine Rolle spielt. Wir können sagen, die Tendenz zur Bindung ist eindeutig angeboren, die Objektwahl ist „plastisch. Allerdings kommt diese Plastizität erst unter künstlichen Bedingungen zum Vorschein. Das allgemeinste Schema, unter das noch Mensch und Vogelmutter fallen, wird aber dann durch individuelle Erfahrung ergänzt. Darin liegt die eigentliche Fixierung: das Vogeljunge läuft dann nur noch dem Menschen nach, und nicht dem artgleichen Wesen, ja es entwickelt Beziehungen zu bestimmten Menschen.
Charakteristischerweise kommen die Nestflüchter im Gegensatz zu den Nest- hockern mit einem eindeutigen angeborenen Erkennungsschema für den art- gleichen Elternvogel zur Welt. Bei diesen gelingt es daher im allgemeinen nicht, eine Fixierung an einen Elternersatz zu erzielen. Die Nestflüchter sind überhaupt beim Schlüpfen weiter entwickelt als die Nesthocker.
Einige Analogien in der Verhaltungsweise von Vögeln und Menschen 403
Eine solche Umstellung auf den Menschen kann nur eine gewisse, oft sehr kurze Zeit nach dem Schlüpfen der Tiere zustandekommen, ist also auf den Beginn der Pflegephase beschränkt.
Diese Beobachtung scheint geeignet zu sein, dem von uns verwendeten Begriff der Fixierung trotz allen Unterschieden, die ich hervorgehoben habe, eine biolo- gische Unterlage zu geben. Die Neigung zur Fixierung an die ersten Pflegeobjekte ist wohl ein Teil derpassiven Pflegeinstinkte des Menschen. Die libidinöse Bindung scheint die Rolle der Instinkte zu ergänzen, bezw. zu ersetzen.
Während wir also bei gewissen Vögeln, vor allem den Nesthockern, in Bezug auf den Nachfolgtrieb ein plastisches Verhalten sehen, besteht diese Plastizität typischerweise in Bezug auf die Nahrungsaufnahme.nicht. Vögel, für die der Mensch Elternkumpan geworden ist, haben die artgemässe Futterübernahme beibehalten, d.h. der Mensch kann die Kücken nur dann füttern, wenn er die von den Eltern geübte Fütterungsart nachahmt. Wenn die richtigen Eltern den Vogel beispiels- weise so füttern, dass dabei der Schnabel des jungen Vogels von ihrem eigenen Schnabel umklammert wird, so muß der menschliche Futterkumpan bei der Fütterung den Schnabel des jungen Tieres auf ähnliche Weise, z.B. mit seinen Fingern, umklammern. Ebenso ist die Bedingung des von den Vogeleltern geäusserten spezifischen Warntons absolut eindeutig angeboren.
Wir sehen also grössere Allgemeinheit bei der Bildung der Bindung an ein Objekt; die einmal entstandene Bindung bleibt dann allerdings unverrückbar. Unplastisch sind die Bedingungen, an die die Nahrungsaufnahme geknüpft ist und jene, die mit dem Beschütztwerden in einer Gefahrsituation zu tun haben.
Betrachten wir nun die eben beschriebene ‚„Kumpanbeziehung” in der Pflegephase vom Standpunkt der Eltern aus, so finden wir hier ganz andere Ver- hältnisse. Die Eltern besitzen eindeutig die Fähigkeit, die Jungen als artgleich zu erkennen. Die von uns beobachtete Ammenfunktion der Haushenne gegenüber artfremden Kücken ist in der freien Natur unbekannt und nicht durchzuführen. Bringt man aber zu einem Elternpaar, das eine grössere Anzahl von Kindern besitzt, ein gleichaltriges Waisenkind der gleichen Art, so wird dieses Kind sofort wie ein eigenes Kind behandelt.
Der Fütterungstrieb der Elternvögel im speziellen ist ebenfalls eindeutig auf das artgleiche Tier gerichtet; ist aber, wie bei dem früher erwähnten Beispiel vom Kuckuck, kein artgleiches Objekt vorhanden, so wird dieser Trieb auch am artfremden Objekt befriedigt. — Ein noch merkwürdigeres Phänomen in ähnlicher Richtung kann man bei Tieren beobachten, denen man alle Kücken weggenommen hat, ohne ihnen Ersatzobjekte zu bieten; sie benehmen sich weiter so, wie wenn die Kücken noch da wären, lassen weiter den Futterlockton erklingen und nehmen weiter die typische Ver-
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teidigungsstellung ein. Eine wirkliche Erregung des Muttertieres besteht beim Raub der Jungen; ist das aber einmal geschehen, so benimmt sich das Muttertier wieder so, als ob nichts weiter passiert wäre, als ob es sein Kind wieder hätte.
Ähnlich dem Trieb zur Ernährung der jungen Vögel besteht auf Seiten der Eltern auch ein solcher zur Reinhaltung des Nestes. Bei den meisten Arten wird der Kotballen von den jungen Vögeln gleich nach der Fütterung am Nestrand abgesetzt. Das ältere Tier bleibt bei dem Jungen, bis dies geschehen ist. Es gibt aber auch Vögel z.B. die Meisen, wo die Zahl der Kücken oft so groß ist, daß die in der Mitte des Nestes befindlichen nicht zum Nestrand gelangen können. Diese Jungen halten den Kotballen auf einem am After befindlichen Federn- kranz im Gleichgewicht, bis er von dem Elterntier abgenommen und über den Nestrand geworfen wird.
Die beschriebenen Erscheinungen haben in ihren Übereinstimmungen mit menschlichen Vorgängen etwas Verblüffendes an sich, wenn auch diese Überein- stimmung eine sehr allgemeine ist. Es mag nützlich sein, daran erinnert zu werden, daß die Möglichkeit, durch frühe Eindrücke im Pflegealter dauernd beeinflusst zu werden, ferner die besondere Zähigkeit der Instinkte und analog dazu mancher menschlichen Triebe, insbesondere jener Einstellungen, die mit dem Ernäh- rungsprozeß und der oralen Libido im Zusammenhange stehen, und endlich die „Erziehung zur Reinlichkeit”’ biologisch tief begründet sind.
Wenn wir uns jetzt im weiteren dem Sexualleben der Vögel zuwenden, so fällt uns zunächst ganz allgemein die Tatsache auf, daß es bei den Vögeln eine Art Ehe gibt. Es ist auch durch experimentelle Untersuchungen gelungen festzu- stellen, daß die Tiere ihren Gatten aus hunderten von gleichartigen Tieren erkennen. Es wird behauptet, daß die Tiere sich an der Physiognomie, an Unter- schieden der Stimme und der Bewegungen erkennen. Ob das Erkennen auf diese Weise stattfindet, scheint mir nicht bewiesen, wohl aber die Tatsache, daß sie sich ohne Irrtum erkennen können.
Eine grosse Rolle im Sexualleben der Vögel spielt das sogenannte Imponier- gehaben des Männchens. Das Männchen vollführt Bewegungen, die es mit über- triebener Kraftanwendung ausführt, seine Schrittlänge wird grösser, das Schreiten selbst langsamer; "Tiere, die sehr selten von ihren Flügeln Gebrauch machen, zeigen fortwährend ihre Schwingen, der ganze Tonus ist erhöht. Man braucht dieses Phänomen nicht weiter zu beschreiben, man kennt es ja auch mit gewissen Veränderungen beim verliebten Mann. Dieses Imponiergehaben, das natürlich nur in Anwesenheit anderer Tiere ausgeführt wird, hat im allgemeinen eine negative, feindliche Reaktion bei anderen Männchen zur Folge und eine positive beim Weibchen.
Was nun die Art des Sexuallebens selbst betrifft, so werden drei Haupttypen be-
Einige Analogien in der Verhaltungsweise von Vögeln und Menschen 405
schrieben, die ihre Bezeichnungen von drei Tierarten haben, bei denen das jeweilige Verhalten sich in reiner Ausprägung vorfindet und als typisch angesehen wird. Sie sind im Allgemeinen in der Natur nicht rein vertreten, es finden sich häufig Übergänge des einen Typus in den anderen. Diese 3 Typen sind: 1. Der Eidechsentypus, 2. Der Labyrinthfischtypus und 3. Der Chromidentypus.
Das Verhalten des Eidechsentypus besteht darin, daß das Weibchen auf das imponierende Männchen zunächst mit Flucht reagiert; aber auch schwächere Männchen fliehen vor dem stärkeren. Das aktive Männchen ‚‚erobert’”’ schließ- lich das fliehende Weibchen, aber auch die passiven und schwachen Männchen werden gebraucht.
Beim Labyrinthfischtypus produzieren Männchen und Weibchen das Im- poniergehaben, der stärker Imponierende siegt in der aktiven Rolle, gleichgültig welches Geschlecht tatsächlich vorliegt.
Und endlich beim Chromidentypus besteht Imponiergehaben auf beiden Seiten; der Begattungsakt findet unter Beibehaltung dieses Gehabens statt.
Wir sagten, daß bei dem Eidechsentypus eine Eroberung des Weibchens er- folgt. Dieses ist aber beim Liebesspiel nicht durchwegs passiv. Wenn das Männ- chen das Weibchen verfolgt, dann hebt das Weibchen gleichzeitig seinen Schwanz und drängt seine Kloake vor. Ermüdet das männliche Tier bei der Verfolgung, so bleibt das Weibchen schließlich liegen und wartet bis das männliche Tier herankommt, um es zu begatten.
Die Vögel, die dem Eidechsentypus angehören, sind auch die einzigen mit einem funktionsfähigen Zeugungsglied. Es sind das die Tiere, bei denen der Unterschied zwischen ‚‚männlichem’” und ‚‚weiblichem” Verhalten am ausge- sprochensten zu sein scheint.
Bei Vögeln vom Labyrinthfischtypus finden wir das Imponiergehaben bei beiden Geschlechtern oder, insofern wir dieses aktive Verhalten als ein Zeichen der Männlichkeit” auffassen können, ein „männliches’”’ Verhalten auf beiden Seiten; es siegt das stärkere Imponiergehaben des Männchens über das schwächere des Weibchens und so kommt es zum Sexualakt. Wir sehen also, daß beim ein- leitenden Liebesspiel zunächst beide Partner aktiv sind, bis dann allmählich das Männchen die aktive Rolle, das Weibchen die passive übernimmt.
Bei den dem Chromidentypus angehörenden Vögeln wird das Imponiergehaben von beiden Parteien auch beim Sexualakt festgehalten. Man möchte sagen, daß dies die Form darstellt, bei der beide Teile die aktive Rolle festhalten.
Diese drei von dem Autor aufgestellten Typen stellen schematische Ennwicklungs- formen dar, die man sehr geneigt ist, ins menschliche Leben zu übertsetzen: Ein stufenweises Fortschreiten von der annähernd „normalen” Form des Eidech- sentypus bis zu dem ausgesprochen bisexuellen des Chromidentypus.
406 Hans Lampl
Vielleicht kann man eine bisexuelle Triebanlage als Erklärung heran- ziehen für die Tatsache, dass sich unter besonderen Bedingungen bei den Vögeln auch „Ehebildungen” zwischen gleichgeschlechtlichen Tieren finden. Für die Arterhaltung wichtig ist folgende ebenfalls als Äusserung der Bisexualität anzusehende Betrachtung: Der Nestbau ist gewöhnlich eine Aufgabe, bei der bestimmte Funktionen dem männlichen und wieder andere dem weib- lichen Tier zukommen. Fällt nun aus irgendeinem Grunde der männliche Partner aus, so übernimmt das Weibchen auch die Funktionen des Männchens beim Nestbau.
Ein plötzliches Abhandenkommen des Gatten löst heftigste Reaktionen aus. (Man vergleiche, daß dies beim Verschwinden (Raub) der Jungen gar nicht der Fall ist.) Das allein gebliebene "Tier sucht intensiv nach dem anderen an Orten, wo sie zusammen zu sein pflegten. Hat dieses Suchen kein Ergebnis, so kommt es vor, daß das allein gebliebene Tier einfach wegfliegt, ohne daß es je wieder auf- taucht. Findet aber ein Wiedersehen mit dem verloren gegangenen Gatten statt, so kommt es zu einer sehr freudigen Begrüssung. Die Tiere erkennen sich, wie erwähnt, schon auf sehr große Entfernungen und aus einer sehr grossen Anzahl heraus.
Verschwindet aber ein Gatte nicht plötzlich, sondern auf die Weise, daß er erkrankt und so allmählich stirbt, bleibt die oben beschriebene Reaktionsweise aus. Der Autor meint, daß sich dabei der Eindruck des Verlustes allmählich ein- schleicht und deshalb die Wirkung ausbleibt. Wenn diese Erklärung richtig ist, stimmt sie mit gewissen Vorstellungen, die wir von Reizbewältigung bei Menschen haben, überein; doch scheint sie mir nicht zwingend. Leider gibt der Autor keine Beobachtung über die Reaktion auf den plötzlichen Tod des Gatten, etwa wenn ein Vogel vor den Augen des Ehekumpans abgeschossen wird und tot zu Boden fällt. Wenn in diesem Fall die Reaktion auch intensiv wäre, dann wäre seine Erklärung der Reaktion auf ‚allmählichen” Verlust zwingend.
Sehr merkwürdig ist ein Beispiel von ‚„Rassenschande”, das in der Natur beobachtet wurde. Es handelte sich um eine reinblütige weibliche Stockente, die von einem männlichen Entenmischling sehr intensiv und sehr aktiv umworben wurde. Gleichzeitig bewarb sich auch ein reinrassiger Stockenterich um das Weibchen. Dieser Enterich war nicht so aktiv wie der Mischling. Der Mischling aber war der schlechtere Flieger, er konnte beim Auffliegen des weiblichen Tieres nicht gut mitfliegen, wohl aber das reinrassige Männchen. Die Ente flog mit dem reinrassigen Partner, er wurde ihr Flugkumpan, aber nach der Rückkehr wurde der aktive Mischling ihr Sexualkumpan. Für diese Situation war die grös- sere Aktivität mehr entscheidend und überwog offenbar gegenüber der Rassen-
gleichheit und dem besseren Flugvermögen. Ähnliche Vorfälle werden von mehreren Autoren berichtet.
Einige Analogien in der Verhaltungsweise von Vögeln und Menschen 407
Der Begriff Kumpan zielt nicht allein auf die Beziehung zweier Tiere zuein- ander (Pflegekumpan, Ehekumpan, Flugkumpan usw.), sondern auch auf das Verhalten im Verhältnis zu grösseren Gruppen, innerhalb grösserer Tiiergemein- schaften.
Die 'Triebhandlung eines Tieres löst bei dem oder den anderen eine gleich- artige Handlung aus. Es handelt sich hier nicht einfach um Nachahmung, wie folgender Versuch beweist: Es wird etwa in einem abtrennenden Gitter ein Loch gemacht. Wenn nun ein Vogel dieses Loch entdeckt und durchkriecht, dann machen das die anderen Tiere nicht einfach nach. Sie finden die Öffnung im Gitter nur dann, wenn sie dem gerade durchschlüpfenden Vogel direkt ange- schlossen nachfolgen. Sonst aber sind sie nicht imstande, aus der T'atsache, daß ein anderer Vogel gerade an einer bestimmten Stelle durch das Gitter kam, zu entnehmen, daß sie das gleiche machen könnten. Das, was uns wie eine Nachah- mung imponiert, besteht darin, daß sich die Handlung oder Stimmung des einen Artgenossen auf den anderen überträgt. Es ist also mehr eine Art Ansteckung, wie etwa beim Menschen das Lachen oder Gähnen. Es ist das offenbar eine sehr primitive und biologisch sehr wichtige Art der Verständigung. Dieses sich gegen- seitig „‚Verstehen’”’ macht aus den einzelnen Vögeln erst eine soziale Gruppe, wie es bei den Menschen im gewissen Sinne auch der Fall ist. Die Menschen verstehen sich sicherlich nicht allein durch Worte. Man könnte fast sagen, wo sich Menschen nicht verstehen, tun sie es mit Worten. Das Aufeinander- abgestimmt-sein hat mit der Wortsprache wenig zu tun und ist für das Zusam- menleben der Menschen sicherlich von grosser Bedeutung. Vor allem beim Sexualakt, beim Zustandekommen des annähernd gleichzeitigen Auftretens des Orgasmus, dürften ähnliche Prozesse eine Rolle spielen.
Eine grosse Rolle spielt diese Stimmungsübertragung beim Fliegen. Die Vögel sind vor dem Fliegen in einer Erregung, wobei sich die Erregung des einen den anderen mitteilt und von diesen wieder verstärkend zurückwirkt. Man sieht die Erregung wachsen, bis sie so groß ist, daß bei einem Tier die Flughem- mung endlich durchbrochen wird, und damit auch bei allen anderen, ein Vor- gang, der an manche massenpsychologische Beobachtung beim Menschen erinnert.
Es gibt einen Sonderfall, bei dem die Verständigung sogar über die Art hinaus- geht. Ein Vogel, der sich gegen ein grösseres Tier zur Wehr setzt, kann dadurch bei anderen Vögeln, und zwar nicht nur bei seinen Artgenossen, eine Angriffs- stimmung miterzeugen, so daß schließlich alle zusammen so viel Lärm machen, daß sie dadurch das Raubtier bei seiner Jagd einschüchtern. Es kommt auch vor, daß die Vögel dabei direkt zum Angriff übergehen, wobei ihre Zahl eine Rolle spielt. So wiebeim Auflliegen findet auch hier durch die wechselseitige Beeinflussung N grösserer Zahl eine allmähliche Steigerung der Erregung statt.
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408 Hans Lamp!
Aber nicht nur vorübergehende massenpsychologische Situationen dieser Art sind zu beobachten, sondern auch ständigere Erscheinungen. Unter den Vögeln spielt nämlich eine gewisse Rangordnung eine grosse Rolle, die ganz so wie eine in der menschlichen Gesellschaft zu verstehen ist. Sie wird durch Kämpfe be- gründet, die sich unter den Tieren abspielen. Die Sieger gelten als die herr- schende Klasse. Die Schwächeren fürchten die Stärkeren, herrschen aber über die noch Schwächeren. Einmal etabliert, wird diese Ordnung dann als etwas Bestehendes betrachtet, und es kommt nicht mehr zu Kämpfen zwischen den verschiedenen Rangklassen.
Das schließt Veränderungen in der Rangordnung nicht aus, wofür ein Beispiel berichtet sei. In einer Dohlensiedlung residiert ein Männchen mit seinem Weib- chen als Rangerster. Er wird jedoch durch ein dazukommendes kräftiges Dohlen- männchen gestürzt. Das wäre noch nichts besonderes. Aber wenn dieses Männchen sich mit einem Weibchen von ganz niedrigem Rang vereinigt, steigt sofort der Rang dieses Weibchens. Es wurde sogar beobachtet, wie ein so im Rang erhöhtes Weibchen den abgesetzten Führer erfolgreich attackierte. Offenbar spielen psy- chische Auswirkungen eine entscheidende Rolle.
Daß die Analogie zwischen Tier und Mensch nicht zu weit getrieben werden darf, ist selbstverständlich. Aber es ist jedenfalls zu vermuten, daß auch beim Men- schen viel Instinkthaftes erhalten ist. Auf die umfangreiche, vielfach kontroverse Literatur über diese Frage brauche ich wohl nicht einzugehen. Wir sind z.B. gewohnt anzunehmen, daß bei Kindern in einem gewissen Ausmaß ein instink- tives Wissen um die Sexualität besteht, vielleicht sogar ähnlich wie bei Tieren. Dieses Wissen geht aber wieder verloren oder ist nicht eindeutig bestimmend, weil der Mensch im hohen Grade für seine Entwicklung auf das Lernen ange- wiesen ist, d.h. auf die Einflüsse seiner Umgebung. Vielleicht würden sich in einer absolut natürlichen Umgebung die schwachen angeborenen Instinkte besser entwickeln. |
Das Interesse der Analytiker für tierpsychologisch a Beobachtung ist, wie ich glaube, etwas einseitig auf neurosenähnliche Prozesse gerichtet, etwa darauf, Analogien zwischen den Ängsten der Tiere und jenen der Menschen aufzudecken. Eine zweite Einseitigkeit oder Fehlerquelle ist vielleicht darin zu finden, daß domestizierte Tiere, wozu in einem gewissen Sinn auch die in zoo- logischen Gärten aufgewachsenen zu rechnen sind, beobachtet wurden. Aber es scheint, daß Beobachtungen der hier berichteten Art mehr geeignet sind, die von der Analyse aufgeworfenen Probleme, insbesondere der Triebtheorie, aufzuneh- men und in einem gewissen Grad auch fortzuführen.
Die psychoanalytısche Traumtheorie ın einem Distichon aus dem dritten nachchristlichen
Jahrhundert
von
M. Levi Bianchini
Nocera Inferiore (Italien) I
In einer jüngst erschienenen Übersetzung des lateinischen Textes der Dis- tichen des Dionysius Cato berichtet Pierre Constant, dass wir keinerlei Nachrichten über das Leben des Verfassers dieser ‚‚Disticha de moribus ad filium‘“ zur Verfügung haben. Nach der Meinung der heutigen Literatur- historiker war er ein lateinischer Moralist des 3. nachchristlichen Jahrhunderts. „Dionysius Cato“, die Bezeichnung, unter der er allgemein bekannt ist, war jedoch nicht sein wahrer Name.
Die moralischen Distichen gehören einer poetisch-philosophischen Literatur- gattung an, die — wenn sie auch ursprünglich aus den Quellen der Lehrschriften des Alten 'Testamentes (Psalmen, Prediger Salomo, Sprüche Salomos) und aus denen der sokratischen, platonischen und stoischen Philosophie gespeist worden war —in Rom schon in der letzten Zeit der Republik und der ersten des Im- periums grossen Ruhm und grosse Verbreitung genoss. Es genügt hier, um nur die berühmtesten aufzuzählen, die verlorenen Werke des Censors Cato zu erwähnen, von denen Aulus Gellius in seinen Noctes Atticae (XI,2) berichtet, nämlich das ‚‚Carmen de moribus‘“ und die ‚Praecepta ad filium‘“, von denen der unbekannte Autor der Distichen des Dionysius Cato sicherlich inspiriert wurde, ferner das „Handbüchlein‘“ des Epiktet, aus dem ersten Jahrhundert n.Chr., die ‚„Memorabilien“ des Valerius Maximus, ebenfalls aus dem ersten Jahrhundert, und die Erinnerungen des Marc Aurel, aus dem zweiten Jahrhundert. Diese selbe Gattung findet sich aber auch in der moralisierenden Literatur des Mittelalters, in den Schriften des Mönches Eberhard, (9.Jahrh.) und de Gracian (16.Jahrh.), und sie setzt sich bis in die neuere Zeit in dem ‚‚Livre des Proverbes“‘ des Leroux de Lincy fort, den Constant zitiert, und in der berühmten ‚Ode an
seinen Sohn‘ von Kipling (,To my son‘).
Il.
Die Oneiromantik, d.h. das Problem des Charakters des Traumes als einer
410 M. Levi Bianchini
Weissagung, das Problem seines metaphysischen Charakters also, ist so alt wie der Mensch selbst und repräsentiert die prälogische und primitive Phase der physiologischen und psychologischen Deutung des 'Traumes. Sie ist uns in den ältesten mündlichen Überlieferungen erhalten, in den Büchern der Bibel, in den assyrischen Keilschrifttäfelchen, in den Ritualen des ägyptischen Reiches, in den Commentaren des Macrobius zum Traum des ScipioAemilianus, in den Werken des Hippokrates, in der „Oneirokritik“ des Arte- midor von Daldis; d.h. also aus einem geschichtlichen Zeitabschnitt, der mindestens vom 4.Jahrtausend v.Chr. bis zum 6.nachchristlichen Jahrhundert reicht.
Sie hat sich durch die christlichen und die volkstümlichen Glaubensinhalte hindurch bewahrt und im Kulte der Astrologie, während des ganzen Mittelalters, Dante inbegriffen, bis zum Beginn der Aufklärung, d.h. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, erhalten. Damals erleidet sie eine plötzliche, aber bloss vorüber- gehende, Zurücksetzung, die, durch den Comte’schen und Spencer’schen Posi- tivismus hindurch, kaum mehr als ein Jahrhundert dauert.
Tatsächlich haben schon zu Ende des vergangenen Jahrhunderts zuerst die Untersuchungen der eben entstehenden Experimentalpsychologie, unter denen die von De Sanctis über die Träume besonderer Erwähnung wert sind, dann die erstaunlichen Entdeckungen der Freud’schen Psychoanalyse das Problem der Entstehung, der Bedeutung und der Zwecksetzung der Träume in die Ebene der Wissenschaft und der Kritik erhoben; Freud selbst hat es in seinem umwälzenden Werk "Die Traumdeutung‘ gelöst (erschienen 1900 in Wien).
Kehren wir einen Augenblick zu der mantischen und mystischen Periode der Traumdeutung zurück. Das grundlegende Charakteristikum dieser Deutung be- steht, wie bekannt, darin, dass der Traum der Gottheit und ihren gnädigen, strafenden oder rächenden Willensregungen zugeschrieben wird und zwar ihr allein; als Verwirklichung irgend eines nahenden oder doch zukünftigen, frohen, traurigen oder geradezu tötlichen Ereignisses, zum Schaden oder zum Vorteil des Träumenden oder der Hauptfigur des Traumes. Dies ist übrigens auch die biblische Auffassung. Josef, aufgefordert die Träume des Schenken und des Bäckers, die mit ihm eingekerkert sind, zu erklären, antwortet ihnen: „Auslegen gehört Gott zu‘. (Genesis XL 8). Auch Dante teilt diesen Glauben, aber sein Genie macht davon Gebrauch, um einen neuen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu finden.
Der Wille der Gottheit wird im T'rraum auf zweifache Weise entschleiert: ent- weder dem 'Träumenden direkt, der Gegenstand der freundlichen oder zürnenden Aufmerksamkeit der Gottheit ist; oder indirekt, indem die Gottheit einer dritten Person einen Traum eingibt, in dem die Hauptperson Opfer oder Begünstigter
Die psychoanalytische Traumtheorie in einem Distichon 411
ebendieser Gottheit ist. Nach den Alten verriet sich der Wille der Gottheit über- dies im „prodigium‘ oder ‚„miraculum“, d.h. in dem unerwarteten Eintritt eines übernatürlichen, erschreckenden oder ausserordentlichen Ereignisses, in hellem Licht und in voller Öffentlichkeit, jedoch mit der besonderen Bedeutsamkeit einer Vorausverkündigung ausgestattet. Ferner sind die Träume in ihrer Bedeutung oft klar oder nur wenig verschleiert; mitunter aber sind sie dunkler und symbolhafter und erfordern eine besondere Kunst, um entziffert und verstanden zu werden (Oneiromantik im engeren Sinne).
Zur ersten Art gehören, um ein bekanntes und berühmtes Beispiel zu geben, der Traum Jakobs von der Himmelsleiter (Gen. XXXVIII, 12-22) d.h. der 'Iraum vom Aufstiege des jüdischen Volkes; der Alexanders unter den Mauern des be- lagerten Tyrus, der von einem Satyr träumt (das griechische Wort Satyros bedeutet, zerteiltin oa TUpoSs ‚„‚T'yros wird dein sein‘‘)und, von diesem günstigen Vorzeichen ermutigt, am nächsten Tage die Stadt angreift und erobert (nach Artemidor); der nekromantische Traum des Dichters Simonides, der von einem "Toten, dem er ein ehrenvolles Begräbnis hatte zuteil werden lassen, gewarnt wird, nicht am nächsten Tage, wie beabsichtigt, eine Seereise anzutreten, weil er Schiffbruch erleiden würde: das todbringende Ereignis tritt dann tatsächlich zum Schaden derjenigen ein, die mit der Barke abgefahren waren, auf der sich auch Simo- nides hätte einschiffen sollen (Val. Max. I.); endlich jener berühmteste aller "Träume, der des Scipio Aemilianus,der in der „Republik“ des Cicero erwähnt und von Macrobius commentiertist.(Pasedera,Pascal, A.T. Macrobii Comment.)
Zu der zweiten Gattung gehören der bekannte Traum von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen und sein unmittelbares Gegenstück, der von den sieben vollen und den sieben tauben Ähren, die Pharao träumt und Josef deutet (Gen. XLI. 1-32), und jener nicht weniger berühmte von der schwangeren Mutter des heiligen Domincius Guzman, die von einem Hund mit einer brennenden Fackel im Maule träumt, als von einem Vorzeichen der Geburt eines Sohnes, der von der göttlichen Vorsicht dazu bestimmt ist, in seiner Zeit der treueste (Hund) und glühendste (Fackel) Verteidiger des Glaubens an Christus zu werden.
In allen diesen und unzähligen anderen Beispielen bildet der 'Traum, der als ausschliesslich göttlichen Ursprunges aufgefasst wird, ein von aussen kommendes und dem menschlichen Willen und der menschlichen Seele völlig fremdes Ereig- nis. Jedoch sollen auch die im voraus mahnenden Träume nicht fehlen, die ganz klar und deutlich sind, und in denen der Träumende, ohne direktes Eingreifen der Gottheit, im Traume einen anderen Menschen erscheinen sieht, der von Räubern angefallen wird und ihm so die eigene unmittelbar drohende Todes- gefahr verkündet; er beschwört ıhn zu erwachen, zu seiner Hilfe zu eilen und kehrt zurück, um ihm den eigenen Tod durch die Hand seiner Angreifer zu verkündigen,
412 M. Levi Bianchini
wie man es in dem berühmten 'T'’raum der beiden Freunde von Megara lesen kann, den Valerius Maximus überliefert (ibid.I).
III.
Es ist des Hippokrates, und nicht wie man gewöhnlich glaubt des Aristo- teles, Verdienst, den Traum aus der göttlichen und transzendentalen Ebene, ohne diese jedoch ganz zu verleugnen, in die menschliche und seelische Ebene verlegt zu haben.
In den ersten Kapiteln seiner Monographie über die "Träume stellt er fest: „für alle jene Träume, die göttlichen Ursprungs sind . . gibt es Leute, deren be- sondere Aufgabe es ist, sie vermöge ihrer besonderen Kunst (Weissagung; daher Wahrsager, Priester, Haruspices usw.) zu deuten... ‚aber bei jenen Träumen.., bei denen die Seele den Träumenden zu wissen tut, dass es sich um körperliche Vorgänge handelt, können jene Leute nicht mehr tun, als die Träume zu deuten... und die Träumenden aufzufordern, zu den Göttern zu beten... , was gewiss gut ist, aber nicht hindert, dass die Träumenden sich nicht auch noch anderweitige Hilfe suchen sollen . . (indem sie sich neben dem Traumdeuter auch noch an den Arzt wenden ...)‘‘ (Kapferer, 6.1V.47-48; ich habe frei, aber getreu übersetzt).
Der grosse Arzt von Kos stellt folgende physiologische und psychologische Theorie des 'Traumes auf, in der er allerdings (wir sind noch im fünften Jahr- hundert v.Chr.) der Astrologie und insbesondere der Stellung und Bewegung der Gestirne neben dem Prozesse des Träumens eine ungeheure Bedeutung zuweist. Hiebei steht er offenbar unter dem Einfluss der Gedanken des Heraklit, für den die Vernunft, als eine dem Menschen nicht innewohnende, sondern von aussen auf ihn wirkende Kraft, sich während des Schlafes völlig von dem Körper ablöst. „Im wachen Zustande“ schreibt Hippokrates ‚gibt sich der Mensch über den eigenen Leib vermittels der Sinnesorgane Rechenschaft. Im Schlafe aber, wenn diese Organe ruhen, ist es die Seele, der die Aufgabe zufällt, das kinästhetische Bewusstsein des Organismus aufrecht zu halten. Hiervon erhält sie den Menschen vermittels des Traumes in Kenntnis. Der Traum ist demnach das Sprachrohr der Seele und gewissermassen der treue Wachtposten des körper- lichen Grundgefühles. Der Traum ist ferner auch der Benachrichtiger des schlafenden Menschen, indem er ihm krankhafte Störungen zur Kenntnis bringt, ebenso aber auch ein Benachrichtiger des Arztes, der auf Grund der Trauminhalte instand gesetzt wird, eine klinische Diagnose zu stellen und die geeignetste Therapie für die Krankheit oder das Symptom festzusetzen‘. Wie man sieht, handelt es sich hier um eine physiologische und psychologische Theorie und nicht mehr nur um Metaphysik und Metapsychik; ‚da es nämlich‘ fährt Hippokrates fort „drei grundlegende Prozesse des Stoffwechsels gibt, Übermass oder Mangel
Die psychoanalytische Traumtheorie in einem Distichon 413
an nützlichen Stoffen des Kreislaufes und die Erzeugung von Stoffen, die unnütz oder schädlich sind‘, folgt daraus, dass die Formen, die Natur und die Bedeutung der Träume von der Intensität und der Qualität der eben erwähnten physiopatho- logischen Prozesse bestimmt sein müssen.
Wenn wir nun in die praktische Anwendung dieser Prinzipien eintreten, er- fahren wir viele weitere Einzelheiten, von denen wir nur die interessantesten und bedeutsamsten auswählen wollen. So bemerkt Hippokrates mit Bezug auf die Diagnose der Natur der Krankheiten, die sich auf die Interpretation der nicht- göttlichen "Träume stützt, dass die Träume, in denen vergangene Ereignisse mit objektiver "Treue wiederhervorgerufen werden oder in denen die Gestirne in ihrer wirklichen Form, ihrem wirklichen Licht und ihren wirklichen Bewegungen erscheinen, einen Zustand völliger körperlicher und seelischer Gesundheit an- zeigen. Umgekehrt verraten die Träume, die die Gestirne verblasst oder gerötet oder undeutlich zur Anschauung bringen, eine Störung des Stoffwechsels entweder im Sinne einer Über- oder einer Unterproduktion. Die Träume, in denen die Gegenstände ungeheuer deformiert oder vergrössert oder verfärbt erscheinen, sprechen für das Vorhandensein einer wirklichen und eigentlich körperlichen Krankheit. Die Träume, in denen Tote erscheinen, deuten auf ein belastetes Gewissen oder auf Krankheiten oder doch Störungen sexueller Natur, während jene, in denen man Sonne und Sterne am Firmament umhertaumeln sieht, schwere Atmungsbeschwerden oder geradezu Geisteskrankheiten anzeigen.
Merken wir noch an, dass Lucrez von den Träumen in einer Art spricht, die den direkten Einfluss der hippokratischen Lehre verrät, besonders wenn er wörtlich das Vorkommen von Reliefs in den Träumen der Knaben während der Pubertät anführt. (De nat. rerum IV, v.950-1509, pag. 253/263, während unser Cicero, die Schwäche seiner psychologischen Erwägungen, die nie seine starke Seite sind, weise verhüllend, mit der Gewalt einer wirklich ausserordent- lichen und unnachahmlichen Dialektik den Träumen jeden mantischen oder sonst bedeutungsmässigen Wert abspricht, wobei er einen noch grösseren Skep- tizismus an den Tag legt als Dionysius Cato ae De divinatione, cap.XLVIII-LVIII pp. 225/253, Pasedera.)
Auch Aristoteles, geboren mehr als ein halbes Jahrhundert nach Hippokrates, zeigt in seiner Abhandlung über die Träume und ihre Deutung den deutlichen Einfluss des Meisters von Kos, den er vielleicht noch persönlich gekannt hat; denn er nimmt ebenso wie jener einen bloss somatischen und sensori- schen Ursprung der Träume an. (Nach den bedeutendsten Autoritäten der Geschichte der Medizin lebte Hippokrates von 459 bis 355, Aristoteles von 384 bis 322 v.Chr.)
Endlich wollen wir daran erinnern, dass Artemidor von Daldis, bei
414 M. Levi Bianchini
seinen Zeitgenossen und im Mittelalter berühmter als er es verdiente, den 'I'raum dem Einfluss eines guten Genius zuschreibt, der die Übel, die uns von einem bösen Geiste bereitet werden, von uns abhält; er vermischt wahrscheinlich die antiken Ideen über die Weissagung mit den dogmatischen Prinzipien der per- sischen Religion (Ormuzd und Ahriman).
IV.
Dank den ersten Entdeckungen Freuds wurde das Problem der Bedingt- heit des Traumes und seiner psychologischen Bedeutung auf einer neuen und originellen psychodynamischen Grundlage aufgebaut; der Traum selbst wurde zu einem im eigentlichen Sinne seelischen, ideellaffektiven Prozess, der aus dem Unbewussten des Menschen hervorgeht, d.h. also aus einem der ältesten, primi- tivsten und auch instinktivsten Elemente der menschlichen Psyche und der in- dividuellen und kollektiven Geistigkeit (Levi Bianchini). Hiermit fand überdies ein gewisser Teil der antiken "Traumdeutung ebenso wie der hippo- kratischen Lehren eine neue und überraschende Bestätigung.
Eine solche Untersuchung überschreitet jedoch die bescheidenen Grenzen der gegenwärtigen Mitteilung, in der wir uns darauf beschränken werden, in schema- tischer Weise die Grundlagen der Freud’schen 'Traumtheorie darzulegen und zwar nur in jenem Teile, der für uns interessant und nötig ist zu einem Ver- gleich mit jener Theorie, die enthalten ist in einem Distichon des Dionysius Cato, dem eigentlichen Gegenstand unserer gegenwärtigen Arbeit.
„Der Traum‘, sagt Freud, „stellt sich bei aufmerksamer psychologischer Betrachtung als das erste Glied einer Reihe abnormer psychischer Gebilde dar, deren weitere Glieder von den Phobien, Hysterien, Delirien und Zwangs- vorstellungen gebildet werden... . Jeder 'I'raum ist ein Gebilde voller Bedeutung und kann auf bestimmte Momente und bestimmte Situationen des Affektlebens des Wachzustandes bezogen werden. Verschiedenartig sind die Mechanismen, auf denen der Charaktervon Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit gewisser Träume beruht; unbewusst ist die Natur der psychischen Kräfte aus deren Zusammen- und Gegeneinanderwirken in letzter Analyse der T'raum sich ableitet“.
Der 'Traum hat eine ungeheure Bedeutung für die psychologische Analyse und auch für die Psychotherapie der Neurosen: ‚Alle iene, die die psychoanalytische Therapie ausgeübt haben, haben das übereinstimmend bejaht‘, so zwar, dass seine Deutung ‚‚den Königlichen Weg für die Erkenntnis der menschlichen Neurosen und des Unbewussten bildet“.
„Der Traum ist eine Wunscherfüllung“. „Wir haben erfahren“, sagt Freud, „dass der Traum einen Wunsch als erfüllt hinstellt“ (pp.126 /7,II). Noch kürzlich, nach mehr als dreissig Jahren zahlloser, erhitzter und nicht immer erfreulicher
Die psychoanalytiısche Traumtheorie in einem Distichon 415 Polemiken, hat der grosse Meister in seinen letzten Vorlesungen über Psycho- analyse seinen Gedanken wieder formuliert: „Wir sagen, der Traum ist eine Wunscherfüllung; wenn Sie jetzt den letzten Einwänden Rechnung tragen wollen, so sagen Sie immerhin: der Traum ist der Versuch einer Wunscherfüllung. Für keinen, der sich in die psychische Dynamik hineinversetzen kann, haben Sie dann etwas anderes gesagt‘.
Andere psychoanalytische Autoren, unter ihnen Allendy und Levi Bianchini betonen den Konfliktcharakter des Traumes (natürlich nicht jedes Traumes) in dem Sinne, dass der Traum, abgesehen davon, dass er einen Wunsch verwirklicht oder zu verwirklichen versucht, häufig auch die Lösung oder den Versuch zur Lösung eines psychologischen ‚Konfliktes‘“ bedeutet. Levi-Bianchini behauptet auch, dass der Angsttraum der genaueste und klarste Ausdruck des nichtgelungenen Versuches zur Lösung eines affektiven Konfliktes ist, der sich während der 'T'raumarbeit abspielt. Man versteht, dass auch diese Formel in psychoanalytischer Sprache im wesentlichen mit der Freuds übereinstimmt.
V.
Nachdem, was ich bisher dargelegt habe, wird man sich mein Erstaunen vor- stellen können, als ich im Zuge meiner Forschungen über den Traum in der Antike, über die ich seinerzeit ausführlicher berichten werde, das Distichon eines unbekannten lateinischen Autors des dritten nachchristlichen Jahrhunderts las, in dem die Freu dsche Traumlehre mit einer kaum glaublichen Genauigkeit ausgesprochen war. Mein Erstaunen und meine Überraschung waren umso grösser, als ich trotz sorgfältigster Nachforschungen weder in den verschiedenen Auflagen von Freuds Traumdeutung, noch bei allen anderen antiken und modernen Autoren über Traumdeutung, die ich nachgeschlagen habe, jemals eine Erwähnung des besagten Distichons gefunden habe.
Der unbekannte Autor ist jener sogenannte Dionysius Cato und das Distichon, das 31. und letzte des III. Buches, lautet folgendermassen:
Somnia ne cures, nam mens humana quod optat dum vigilat, verum per somnum cernit id ipsum.
„Lege den Träumen keine Bedeutung bei; denn was die menschliche Seele sich im wachen Zustande wünscht, das erblickt sie im Schlafe als eine wahre Tatsache‘.
Nichts sonst findet sich über den Traum in den vier Büchern der moralisierenden Distichen des Dionysius Cato. Man kann jedoch annehmen, dass er dem gött- lichen oder divinatorischen Ursprung der Träume nicht viel Glauben geschenkt hat, ebensowenig wie den Orakeln und den Vorzeichen; denn in einem anderen
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Distichon, dem elften des zweiten Buches, das die Zugehörigkeit des Autors zum christlichen Glauben und seine gute Vertrautheit mit den alttestamentlichen Texten wahrscheinlich macht, sagt er: ‚‚Versuche nicht die Absichten der Gottheit durch Befragung der Orakel zu durchdringen; wenn sie Deinen Fall entscheiden will, dann erwägt sie ihn, ohne Dich um Rat zu fragen‘ — ein Distichon, das wie eine wörtliche Übersetzung der Antwort klingt, die Josef seinen beiden Mit- gefangenen gibt.
Offenbar beschäftigt sich Dionysius Cato nicht mit Psychologie im eigentlichen Sinne des Wortes, noch mit Phantasien, "Träumen oder Orakeln, sondern mit dem wirklichen Leben und mit einer einfachen Weltanschauung von gesundem Menschenverstande und guter menschlicher Aufführung.
Aber das sollte uns nicht verwundern. Offenbarung, Intuition, Wissenschaft, das sind die drei Glieder ein und derselben Kette. Deshalb alternieren und ver- flechten sich diese Formen in der Geschichte des Lebens, der Zeit und der Wissen- schaft. Dionysius Cato spricht, in einer Zeit des Aberglaubens und wissenschaftlicher Unkenntnis, dem Traume seine altüberlieferten mantischen und metapsychischen Eigenschaften ab; Freud hat, auf die Frage, ob der Traum auch die Zukunft enthüllen könne, sich nicht gescheut, seinen Glauben daran zu bejahen. Um alle Anklagen von Materialismus und mechanistischer Denkweise Lügen su strafen, die unwissende und übelwollende Kritiker ihm ent- gegengehalten haben, sei gesagt: er leugnet nicht die Möglichkeit der Intuition und Divination; denn der "Traum, soweit er Verwirklicher eines Wunsches ist, „richtet seinen Flug in die Zukunft“.
Dies aber verringert nicht, sondern vergrössert vielmehr das Interesse, das wir seiner einzigartigen Intuition entgegenbringen müssen, wenn wir uns vor Augen halten, dass er in einem einzigen Distichon eine Definition zu geben ge- wusst hat, die erst sechzehn Jahrhunderte später durch die Arbeit eines Psy- chiaters bewiesen werden sollte.
LITERATUR
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Epiktet: Il Manuale -Istituto Editoriale Italiana, Milano, 1914.
Valerius Maximus: Actions et paroles m&morables; in Constant P.: Valere Maxime etc. 2 vol. Garnier Fr£res, Paris, 1935.
Macrobius: Les Saturnales; in Born&cque, H.: Macrobe etc. Garnier Freres, Paris, 1938, 2 vol.
Hippokrates: in Kapferer und Sticker: Die Werke des Hippokrates; Teil IV. Buch 3. Die Träume, Hippokrates Verlag, Stuttgart, 1934.
Freud: Die Traumdeutung; in Ges. Schr. Bd. II-III, Internat.Psa.Verlag, Wien, 1925.
Die psychoanalytische Traumtheorie in einem Distichon 417
Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In Ges.Schr., Bd. VII, Wien, 1920, und Ges. Werke, Bd. XI, London, 1940.
Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In Ges. Schr., Bd. XII, Wien, 1934, und Ges. Werke, Bd. XV, London, 1940.
Freud: Über Psychoanalyse. In Ges. Schr., Bd. IV, Wien, 1924.
Breuer und Freud: Studien über Hysterie. Deuticke, Wien, 1895.
Artemidoros da Efeso: Trattato della interpretazione dei sogni. Fidi, Milano, 1924.
Levi-Bianchini, M.: La simbolistica sessuale nel sogno mistico profano. Archivio generale di neurologia, psichiatria e psicoanalisi, 1925.
Levi-Bianchini: Gliistinti nel sistema dei psichismi umani. ibid. 1923-24.
De Sanctis: I sogni. Bocca, T'orino, 1899.
Allendy, R.: Reves expliques. Gallimar, Paris, 1938.
Lucrez:in Clouard, H.: Lucr&ce, de la nature. Garnier Freres, Paris, 1931.
Pasedera, A.: Il ,‚Somnium Scipionis“ diM. T. Cicerone-Chiantore, Torino, 1931.
Pascal, C.: Di una fonte greca del Sogno di Scipione di Cicerone. Tessitore, Neapel, 1912.
Macrobius: Viri clarissimi et illustrissimi: Commentario in somnium Scipionis, libri duo: nella edizione di F. Eyssenhardt, Leipzig, Teubner, 1933, zitiert von Pasdera.
Castiglioni: Storia della medicina. Mondadori, Milano, 1936.
Laignel Lavastine: Histoire generale de la medicine. Albin Michel, Paris, 1937.
23
Moses und die monotheıstische Religion |
Bemerkungen zu Freud’s gleichnamigem Buch!
von
Ernest Jones
London
Dieses denkwürdige Buch? ist eines der interessantesten, die Freud ‘je ge- schrieben hat. Es ist auch dadurch bemerkenswert, dass, während selbst seine nächsten Freunde und Anhänger vermutlich manches darin finden werden, womit sie nicht einverstanden sind — das Hauptthema vielleich sogar inbegriffen —, dennoch niemand, der überhaupt Phantasie hat, anders kann, als von den unaufhörlich sprühenden und leuchtenden Gedanken, die es ausstreut, ent- flammt zu werden.
Jemand hat geäussert, die Arbeiten Freuds neigten, ähnlich wie die Sym- phonien Beethovens, dazu, in ihrer Einstellung zum Publikum zu wechseln. In dem einen Fall, für den ‚Jenseits des Lustprinzips’’ ein gutes Beispiel ist, scheint er vornehmlich für sich selbst zu schreiben, sozusagen laut zu denken; sein Leser muss sich damit bescheiden, aus dem eindrucksvollen Prozess, der da im Gange ist, herauszuholen, soviel sie können, und müssen dankbar
sein für den besonderen Vorzug, der ihnen damit gewährt wird. In solchem Falle ist der Gewinn des Lesers proportional der Bemühung, die er selbst aufwendet. -
Er hat nicht das Gefühl, dass da ein mitempfindender Lehrer ihm hilft, er muss selber hart ringen. Im anderen Fall, für den die „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse’ das beste Beispiel sind, erweist sich Freud als glänzender Lehrer, der seines Lesers Schwierigkeiten vorwegnimmt, errät und löst, und all das mit einer Kunst der Hilfe, die in ihrer Genialität an sich bewunderungswür- dig ist.
Man kann kaum zweifeln, dass das vorliegende Werk zur ersten Kategorie gehört. Schon die ungewöhnliche Anordnung des Buches mit seinen Wieder- holungen, dem Mangel geradliniger Entwicklung in der Beweisführung, mit den drei Vorbemerkungen in seiner Mitte, sind Momente, auf die wir nicht im mindesten gefasst sind, wenn wir ein Buch Freuds aufschlagen, dessen Können gerade in diesem Felde ein überragendes ist, und er macht einen glauben, dass er ernstlich gegen seine eigenen künstlerischen Gesetze verstösst. Man hat nicht
1) Übersetzt von Dr. Karl Weiss, London. 2) Allert de Lange, Amsterdam, 1939.
Moses und die monotheistische Religion 419
das Gefühl, dass der Autor selbst mehr als der Leser überzeugt ist, wenn er sich zur Entschuldigung auf die Bedingungen beruft, unter denen das Buch geschrieben wurde. Diese könnten wohl auch nicht die Zeichen von Unruhe erklären, die sich in den Einzelheiten der Beweisführung finden. Da gibt es Sprünge von einem Satz zum anderen, so als sei der Autor zu ungeduldig ge- wesen, seinen Gedanken auszuführen, und darauf bedacht, seine Aufgabe hinter sich zu haben. Vieles in dem Buche, so insbesondere der archäologische Teil, ist mit der alten Liebe für den Gegenstand geschrieben und mit dem gross- zügigen Wunsch, den Leser an Allem voll teilnehmen zu lassen, was der Autor dazu beitragen kann. Andere Teile, an sich mindestens ebenso interessant, scheinen in einer Hast geschrieben zu sein, hinter der ein Stück Unlust zu stecken scheint. Man kann nicht umhin, sich zu fragen, ob der Autor da nicht unter dem Einfluss eines Gedankens stand, der seinen Schatten in der Einleitung voraus- wirft, unter dem der Befürchtung, das eigene Volk, dem er sich so eng verbunden fühlte, könnte in seiner Empfindsamkeit verletzt werden, wenn er ihm seinen grossen Führer Moses nehme, und darüber das viel grössere Kompliment nicht nach Gebühr einschätzen, das er seiner Einsicht und geistigen Höhe machte, die es ihm ermöglichten, die unendlichen Schwierigkeiten auf dem Wege zur Verwirklichung des Mosesideals zu überwinden. Scheint es doch, als sei der jüdische Führer in gewissem Sinne zum zweiten Male beseitigt, und das heisst: getötet worden.
Die Leser dieses Referats sind, wenn schon nicht mit dem ganzen Buch, so doch zweifellos mit seinen beiden ersten Teilen vertraut, die in dieser Zeitschrift erschienen sind. So erübrigt sich eine Inhaltsangabe im Einzelnen; nur die Hauptpunkte seien in Kürze wiedergegeben.
Beginnen wir mit einem schönen Beispiel für Freuds erstaunliche Freiheit des Denkens, die einen seiner vornehmlichsten Charakterzüge darstellt. Andere Forscher, denen es aufgefallen war, dass der Name Moses ein ägyptischer war, sagten einfach ‚‚wie merkwürdig” und gingen darüber hinweg. Zweifellos abge- schreckt durch ihre Ehrfurcht vor der biblischen Überlieferung, liessen sie den Gedanken, der doch auf der Hand lag, nicht einmal aufkommen, dass der Grund, warum Moses einen ägyptischen Namen trug, einfach darin lag, dass er wirk- lich ein Ägypter war. Freud, dessen unabhängiger Geist von solchen Hem- mungen frei war, zog diesen Schluss unmittelbar und bekräftigte ihn durch eine sehr hübsche Analyse des „Aussetzungsmythos”, die für jeden analytisch Ge- schulten schlechthin überzeugend ist.
Im zweiten Teil untersucht Freud die Frage, aus welchem Grund ein ägypti- scher Edelmann sein Schicksal mit dem eines Haufens unkultivierter Einwanderer verknüpft haben sollte, und in welchem Sinne gesagt werden könne, er habe
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ihnen ihre Religion gegeben. Man hatte schon früher vermutet, die jüdische Religion habe sich aus der des Akhenaton entwickelt, mit der beachtenswerten Ausnahme der Sonnenanbetung in dieser letzteren, und es war natürlich be- kannt, dass die Sitte der Beschneidung auch aus Ägypten stammte. (Die biblische Erklärung, sie sei bestimmt gewesen, die Juden vor anderen Völkern auszu- zeichnen, brandmarkt Freud als ‚„plumpe Erfindung.””) Nach der lichtvollen Hypothese Freuds sah sich Moses nach der Revolution, die Akhenatons Tod folgte, vor die schmerzliche Wahl gestellt, entweder ein Renegat oder ein Flüch- tiger zu werden. Ein Mann von ungewöhnlich kraftvollem Charakter und ehrlich überzeugt von der Wahrheit und Erhabenheit der Konzeptionen des Akhenaton, fasste er, von seinen ägyptischen Landsleuten zurückgewiesen, den beherzten Entschluss, ein eigenes Volk zu wählen, es, in gewissem Sinne, zu er- schaffen.
Nebenbei bekommen wir hier eine Antwort auf die Betrachtungen in dem wohl- bekannten Oxforder Reim über die Juden. Einer ihrer vielen, eigenartigen Züge ist der Glaube, dass Gott sie auserwählt habe, während wir sonst nur hören, dass sich Völker einen oder den anderen Gott wählen; und es scheint, als sei es wesent- lich dieser eigentümliche Glaube, der ihr Überleben als Sondergemeinschaft erklärt. Freud führt diesen Glauben auf seinen ursprünglichen Sinn zurück, nämlich auf die seltsame Tatsache, dass Moses, ihr Führer und Schöpfer, sie auserwählte. Sein Ziel war, sie den besten der Ägypter gleich, wenn nicht überlegen zu machen. So lehrte er sie die reinste aller Religionen, sonderte sie durch die Sitte der Beschneidung ab und führte sie kühn aus ihrer Gefangenschaft. Unter den vielen Seitenlichtern, die diese Idee wirft, sei als eines die Lösung des Rätsels über den Ursprung der Leviten erwähnt. Freud nimmt an, dass sie einfach das Gefolge des grossen Edelmannes Moses waren und später eine einflussreiche Minderheit von Moses-anhängern in dem neuen Volke bildeten. Moses selbst muss selbstherrlichen Temperaments gewesen sein, wie die biblischen Berichte über die Rebellionen gegen seine Autorität bezeugen und Freud macht sich den einleuchtenden Schluss zu eigen, den Sellin jüngst aus seinen Studien des alten Testaments zog, dass einer dieser Aufstände mit dem Tode Mosis endete. Diese grosse Tötung erwies sich als schicksalsschwer in der Geschichte. Sie brachte eine starke Reaktion von Schuld und Gewissensqualen, in nachfolgender Verdrängung verleugnet, und die Hoffnung, eines Tages werde der Mord un- geschehen gemacht werden, d.h. er schuf den Glauben an einen Messias (und in der Folge die christliche Religion).
Hier trifft Freud auf die allgemein akzeptierte geschichtliche Schlussfolgerung der Bibelkritiker: dass Moses niemals in Ägypten war, sondern ein midianitischer Priester eines örtlichen Vulkangottes, des Jahve, gewesen sei. Die Lösung dieses
Moses und die monotheistische Religion 421
Widerspruches findet Freud in der Annahme, dass in der legendären Figur des Moses eigentlich zwei historische Gestalten verdichtet seien, die des ägyptischen Führers, der seine Religion und seine Gesetze den Juden aufzwang und in der Wüste erschlagen wurde, und die eines sanftmütigen Priesters, des Schwieger- sohnes des Jethro, der etwa zwei Generationen später lebte. Beide waren, streng genommen, keine Juden, wiewohl die Midianiter als entfernte Verwandte betrach- tet werden; so muss Freud nicht den vollen Vorwurf auf sich nehmen, die Juden ihres grossen Nationalheros zu berauben. Innerhalb etwa eines. Jahrhunderts nach dem tragischen Ende des Moses kam es zu einem Kompromiss zwischen seiner und der Jahve Religion, zwischen den Juden, die in Ägypten gewesen, und den anderen, mit denen sie nach dem Verlassen dieses Landes zusammengetroffen waren. Zuerst war die Jahvereligion vorherrschend, da sie der Eroberungslust, die damals die Juden erfüllte, besser entsprach, als des Aton ‚‚reine’” Religion der Wahrheit und Gerechtigkeit. Aber im Laufe der Zeit erhob sich diese immer mehr, immer von neuem verkündet durch die Stimme der Propheten, bis sie schliesslich Anerkennung fand. Jahve wurde in den Hintergrund gedrängt: „Der Schatten des Gottes, dessen Stelle er eingenommen hatte, wurde stärker als er.’
Freud gibt zusammenfassend diese Formel: „Zu den bekannten Zweiheiten dieser Geschichte — zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammen- treten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellen- schriften der Bibel— fügen wir zwei neue hinzu: zwei Religionsstiftungen, die erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Namen Moses be- “ nannt wurden und deren Persönlichkeiten wir voneinander zu sondern haben. Und alle diese Zweiheiten sind notwendige Folgen der ersten, der Tatsache, dass der eine Bestandteil des Volkes ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt hatte, das dem anderen fern geblieben war.” (S. 93)
Der dritte Teil, der fast zwei Drittel des gesamten Buches umfasst, beginnt mit einem sympathisch berührenden persönlichen Bericht darüber, wie es dazu kam, dass es geschrieben und veröffentlich wurde. Da die Themen dieses Ab- schnittes wiederkehren, mag es einfacher sein, sie in Gruppen zu ordnen als sich genau an die Reihentolge zu halten, in der sie behandelt werden.
1. Die mosaische Religion und der jüdische Cha- rakter. Die drei Merkmale dieser Religion sind nach Freud a) der Glaube an einen universellen Gott, b) Verwerfung von Zeremoniell, Rituale und Aberglaube, c) das Ideal von Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein interessanter historischer Zug an ihr war die Art, wie sie, nach Jahrhunderten, durch den Mund der Propheten sich wieder erhob und die rohe Jahveanbetung ersetzte. Freud
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findet hier einen Zusammenhang mit dem latenten Schuldgefühl, das sich als Reaktion auf die Tötung des Moses einstellte. Das Resultat war eine grössere Tiefe als etwa in der mohammedanischen Religion, die aufä hnliche Weise begann, aber nicht mit der Tötung ihres Gründers einherging. Hier wird die zwingende Ähnlichkeit mit der Entstehung der Neurosen herausgearbeitet, mit ihrer anfäng- lichen Verdrängung, der— nach einem Studium der Latenz — erneuerter Konflikt und die Wiederkehr des Verdrängten nachfolgen.
In dem verwickelten Netzwerk geschichtlicher Kausalität ist nach Freuds Meinung gelegentlich Raum für die Bedeutung einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit, und er widmet ein Kapitel der Psychologie des ‚grossen Mannes”, den er letzten Endes mit dem Vater identifiziert, wie ihn die Augen des Kleinkindes sehen. Der vorliegende Fall zeigt es. „Auf Grund unserer früheren Erörterungen dürfen wir nun behaupten, dass es der Mann Moses war, der dem jüdischen Volk diesen für alle Zukunft bedeutsamen Zug aufgeprägt hat. Er hob ihr Selbstgefühl durch die Versicherung, dass sie Gottes auserwähltes Volk seien... . Nicht etwa, dass es den anderen Völkern an Selbstgefühl geman- gelt hätte.... Aber das Selbstgefühl der Juden erfuhr durch Moses eine religiöse Verankerung, es wurde ein Teil ihres religiösen Glaubens. Durch ihre besonders innige Beziehung zu ihrem Gott erwarben sie einen Anteil an seiner Grossartig- keit. Und da wir wissen, dass hinter dem Gott, der die Juden auserwählt und aus Ägypten befreit hat, die Person Moses’ steht, die grade das, vorgeblich in seinem Auftrag, getan hatte, getrauen wir uns zu sagen: Es war der eine Mann Moses, der die Juden geschaffen hat. Ihm dankt dieses Volk seine Zählebigkeit, aber auch viel von der Feindseligkeit, die es erfahren hat und noch erfährt.” (S. 188/89)
In einer etwas schmeichelhaften Schilderung des jüdischen Charakters hebt Freud als seine Hauptzüge hervor: 1. grosses Selbstgefühl (verbunden mit Lebens- zähigkeit angesichts von Missgeschick), und 2. hohe Wertschätzung der ‚‚Geistig- keit’’, insbesondere intellektueller Interessen. Den letzteren Faktor führt er auf das Verbot der bildlichen Darstellung des göttlichen Wesens zurück, das zu einer Verschiebung der Interessen von der sinnlichen Wahrnehmung zu den intellektuellen Fähigkeiten führte.
Freud erwähnt keine der anderen möglichen Erklärungen für jene Erscheinung, die zuweilen als ‚‚Intelligenzkomplex’” bezeichnet wurde. Beide Charakterzüge werden als wesentliche Folge der mosaischen Religion bezeichnet, ohne die sich die Juden als Volk kaum erhalten hätten. „Wir fanden, der Mann Moses hat diesen Charakter geprägt, dadurch, dass er ihnen eine Religion gab, welche ihr Selbstgefühl so erhöhte, dass sie sich allen anderen Völkern überlegen glaubten. Sie erhielten sich dann dadurch, dass sie sich von den anderen fernhielten. Blut-
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vermischungen störten dabei wenig, denn was sie zusammenhielt, war ein ideelles Moment, der gemeinsame Besitz bestimmter intellektueller und emotioneller Güter. Die Moses-Religion hatte diese Wirkung, weil sie 1. das Volk Anteil nehmen liess an der Grossartigkeit einer neuen Gottesvorstellung, 2. weil sie behauptete, dass dies Volk von diesem grossen Gott auserwählt und für die Be- weise seiner besonderen Gunst bestimmt war, 3. weil sie dem Volk einen Fort- schritt in der Geistigkeit aufnötigte, der an sich bedeutungsvoll genug, überdies den Weg zur Hochschätzung der intellektuellen Arbeit und zu weiteren 'Trieb- verzichten eröffnete.” (S. 217/18.) Lange Zeit erhielt sich eine Hoffnung auf Weltherrschaft. ‚Diese letztere Wunschphantasie, vom jüdischen Volk längst aufgegeben, lebt noch heute bei den Feinden des Volkes im Glauben an die Verschwörung der Weisen von Zion fort.” (S. 154.) Dieses kleine Beispiel kann als eines von den vielen gelten, die man anführen könnte, um zu zeigen, wie Freud, fast wie zufällig und abseits von seinem Hauptthema, Licht verbreitet.
Der Riss in der Moses-Religion bestand darin, dass in ihr nur die eine Hälfte der Ambivalenz zum Ausdruck kam, die im Sohn-Vaterverhältnis enthalten ist. Der feindselige Teil zeigte sich nur in einer machtvollen Schuldreaktion, im Gefühl der Sünde. Das wurde durch das Missgeschick der Juden begünstigt. „Wollte man auf dieses Glück nicht verzichten, so bot das Schuldgefühl ob der eigenen Sündhaftigkeit eine willkommene Entschuldung Gottes. Man verdiente nichts Besseres, als von ihm bestraft zu werden, weil man seine Gebote nicht hielt, und im Bedürfnis, dieses Schuldgefühl, das unersättlich war und aus soviel tieferer Quelle kam, zu befriedigen, musste man diese Gebote immer strenger, peinlicher und auch kleinlicher werden lassen.” (S. 237.) Dieser moralische Maso- chismus führte zum Abfall von den reinen Ideen des Moses, zur Wiedereinfüh- rung von Zeremoniell und Ritual, die er so gescheut hatte, und zur Entartung in endlose Reaktionsbildungen von zwangsneurotischem Charakter. Hier dürfen wir an die Beziehungen zwischen Zwangsneurose und Melancholie erin- nern, die die jüngste analytische Forschungsarbeit so nachdrücklich betont hat; es ist in der Psychiatrie eine bekannte Tatsache, dass die Juden eine besondere Disposition zur letzteren zeigen.
2. Die Geburt des Christentums. Der erwähnte Riss wurde in der Folge wieder gutgemacht, ebenfalls durch einen grossen Juden. Freud vermutet, der Glaube an den Messias, von allen Propheten immer wieder aufge- nommen, habe seine Wurzel in dem Wunsche nach der Wiederkehr des getöteten Vater-Moses. Als der Gründer des Christentums, dessen ethische Gebote sogar höher waren als die früherer Propheten, selbst getötet worden war, da wurde Paulus, der Schöpfer der christlichen T'heologie, von einer genialen Eingebung
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erfasst. Indem er Christus als den Messias annahm, verfolgte er das vorhandene Schuldgefühl korrekt zu seinem Ursprung zurück: er nannte es „Erbsünde”, eine Tod=(d.h. mörderische)sünde gegen Gottvater. An Stelle des 'T'ötungs- wunsches selbst aber trat die Phantasie der Entsühnung, willkommen geheissen in der Form eines Evangeliums der Erlösung. Ihm hatte die Vorstellung gedäm- mert: „Wir sind so unglücklich, weil wir Gottvater getötet haben”. Nun wird es uns völlig klar, warum er diese Wahrheit nicht anders erfassen konnte als in der wahnhaften Einkleidung der frohen Botschaft: „Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem einer von uns sein Leben geopfert hat, um uns zu entsühnen’”” (S. 238). „Ein Sohn Gottes hatte sich als Unschuldiger töten lassen und damit die Schuld aller auf sich genommen. Es musste ein Sohn sein, denn es war ja ein Mord am Vater gewesen.” (S. 155.) „Das Judentum war eine Vaterreligion gewesen, das Christentum wurde eine Sohnesreligion. Der alte Gottvater trat hinter Christus zurück, Christus, der Sohn, kam an seine Stelle, ganz so, wie es in jener Urzeit jeder Sohn ersehnt hatte. Paulus, der Fortsetzer des Judentums, wurde auch sein Zerstörer. Seinen Erfolg dankte er gewiss in erster Linie der 'Tatsache, dass er durch die Erlösungsidee das Schuldbewusstsein der Menschheit beschwor, aber daneben auch dem Umstand, dass er die Auserwähltheit seines Volkes und ihr sichtbares Anzeichen, die Beschneidung, aufgab, so dass die neue Religion eine universelle, alle Menschen umfassende werden konnte” (S. 157/8), indem er so den Charakter der Universalität der alter Atonreligion wiederherstellte, der geschwunden war, sobald sie auf das Volk der Juden allein beschränkt wurde. „Von da ab war die jüdische Religion gewissermassen ein Fossil.” (S. 159).
Freud verweist darauf, wie die christliche Religion später durch ihren politischen Syncretismus in Zeremonien und Riten und beinahe in Polytheismus entartete. Das mutet an wie eine Wiederholung des Ringens zwischen Aton und Amon. Er verfolgt indessen nicht die spätere Geschichte des Christentums, was gerade vom Standpunkt seiner aufklärenden Auffassungen eine interessante Aufgabe wäre. Durch ihre ganze Geschichte hindurch wiederholt sich dieser Kampf und bei den englischen Nonconformisten z.B. sehen wireine Regression zu den ‚‚reinen” monotheistischen Ideen der jüdischen Propheten, die in ihrer Unduldsamkeit und Abschliessungstendenz nicht zu überbieten ist.
3. Antisemitismus. Seltsam genug weigerten sich die meisten Juden zu glauben, ihre Hoffnung auf einen Messias habe sich endlich erfüllt, und schlossen sich so selbst aus von der gebotenen Entsühnung, oder Erlösung, von mensch- licher Schuld. „Warum es den Juden unmöglich gewesen ist, den Fortschritt mitzumachen, den das Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Entstellung enthielt, wäre Gegenstand einer besonderen Untersuchung”. (S. 241). Es wäre im guten Einklang mit der allgemeinen Theorie des Buches, diese Ablehnung mit den
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eigenartigen Erfahrungen des jüdischen Volkes in Zusammenhang zu bringen, mit dem ungeheuren Anteil, den ein Mann an dem Werden dieses Volkes hatte, und der undankbaren T'ötung eben dieses Mannes, aber Freud erwähnt diesen Ge- danken nicht weiter; und ohne Zweifel waren da auch weit verwickeltere geschicht- liche Faktoren am Werke. Jedenfalls finden wir hier eine bedeutsame Quelle des Judenhasses, eine, die psychologisch begründet ist. Der Vorwurf der Christen würde lauten: „Ihr wollt nicht zugeben, dass ihr Gott (das Urbild Gottes, den Urvater, und seine späteren Reinkarnationen) gemordet habt. Ein Zusatz sollte aussagen: Wir haben freilich dasselbe getan, aber wir haben es zugestanden und wir sind seither entsühnt.”’ (S. 162).
Es gibt freilich viele andere Gründe für den Antisemitismus. Freud erwähnt vier „offenkundige” und zwei „tieferliegende”. Von den ersteren bezeichnet er als den ‚„hinfälligsten’”’ den Vorwurf der Landesfremdheit, da an vielen Orten wie z.B. in Köln, die Juden den ältesten Bestandteil der Bevölkerung ausmachten. (Worauf zu erwidern wäre, dass dies nur für einen Bruchteil der Juden zutrifft. Auch ändert es nichts an der Tatsache ihrer Fremdheit gegenüber der Majorität der Bevölkerung. Die Kelten z.B. wären in England und Frankreich unpopulärer als sie es faktisch sind, würden sie auf ihrer Abgeschlossenheit und Fremdheit bestehen, und doch haben sie vor den gegenwärtigen Bewohnern in diesen Län- dern gesiedelt.) Die anderen offenkundigen Gründe sind, dass sie eine Minderheit bilden, dass sie in undefinierbarer Art „anders’’ sind und dass sie Bedrückungen trotzen. Alle diese vier Punkte scheinen eines gemein zu haben, ein Bestehen auf Absonderung.
Die tieferen Motive sind 1.) Eifersucht auf den Anspruch der Juden, das erst- geborene, bevorzugte Kind Gottvaters zu sein, 2.) die Kastrationsdrohung, an die die Sitte der Beschneidung gemahnt. In diesem Zusammenhange erscheint es erwähnenswert, dass der moderne Brauch der chirurgischen Circumcision, in unseren wohlhabenden Schichten so häufig, bisher nicht dazu beigetragen hat, antisemitische Vorurteile bei ihnen zu verringern. Es ist allerdings richtig, dass 40 oder 50 Jahre eine zu kurze Zeitspanne sind, um Änderungen solcher Art hervorzubringen.
4. Die Entwicklung der Religion. Die wohlbekannte in „Totem und Tabu” gegebene Hypothese vom Übergang von der Vaterhorde über den Bruderclan zum Matriarchat und zum Tierkult wird zusammenfassend dargestellt. Freud setzt sich hier mit den ethnologischen Kritikern der Annahmen von Robertson Smith auseinander. Er hält an der historischen Konstruktion, wie er sie vor einem Vierteljahrhundert gab, fest und sagt: „Aber wer unsere Kon- struktion der Urgeschichte nur für phantastisch erklären wollte, der würde den Reichtum und die Beweiskraft des Materials, das in sie eingegangen ist, arg unter-
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schätzen. (S. 151)... Es ist nichts an unserer Konstruktion, was frei erfunden wäre, was sich nicht auf gute Grundlagen stützen könnte” (S. 152). Als das Mutterrecht abermals abgelöst wurde, geschah es mehr in Form eines Versuchs; der Vater erreichte niemals mehr die frühere Allmacht. Die neuen Götter selbst erfuhren zunächst eine Einschränkung ihrer Macht und sogar die henotheistische Anbetung eines einzigen Gottes war lange Zeit vereinbar mit der Nichtanerken- nung seiner Universalität; verschiedene Völker beteten jedes seinen eigenen Gott an.
Freud stellt eine interessante und weitgehende Analogie zwischen der Ge- schichte der Religion und der der Neurose her. Mehr noch, er behauptet geradezu, beide seien, psychologisch betrachtet, im Wesentlichen der gleichen Art und die Religion somit eine Massenneurose. Was seine Aufmerksamkeit hier besonders anzieht, sind die Zeichen einer Latenzperiode und einer Wiederkehr des Ver- drängten, Züge, die im Monotheismus besonders auffallend sind. Der Inhalt der Religionen besteht zum Teil aus Fixierungen an primitive Vorstellungen und was von ihnen erhalten blieb, zum Teil in einer Wiederkehr dieses vergessenen Materials.
5. Der Monotheismus. Ein Zyniker sagte einmal, die einzige Überlegenheit, die er im Monotheismus, gegenüber anderen Religionen, finden könne, beruhe auf einem Rechenexempel: wenn die Anzahl der Götter, die es gebe, gleich Null sei, dann komme ein Gott ihr näher als etwa drei oder zehn. Dies ist indes nicht die allgemeine Ansicht über den Monotheismus. Seine An- hänger reklamieren für ihn eine dogmatische und überwältigende Überlegenheit. Nach zahlreichen Ausdrücken wie ‚stolze Höhe der Geistigkeit’”’, ‚Grossartigkeit’’, ‚„Majestät’’ usw. zu schliessen, könnte es scheinen, Freud teile diese Schätzung; jedenfalls zieht er sie nicht in Frageund berührt auch nicht das Problem der Wert- vergleichung. Auf indirektem Wege gibt er wohl eine Antwort auf die Frage, warum die Anhänger des Monotheismus diese Überlegenheit ihres Glaubens für sich in Anspruch nehmen, indem er nämlich vermutet, dass sie in besonders intensiver Form die Empfindungen der Ehrfurcht wieder aufnehmen, die die Glieder der Urhorde anscheinend für ihren Führer hegten. „Erst damit war die Herrlichkeit des Urhordenvaters wiederhergestellt, und die ihm geltenden Affekte konnten wiederholt werden.” (S. 235.)
„Die Zukunft einer Illusion” hat von der Kritik den Vorwurf erfahren, sie scheine die besondere Tiefe des religiösen Fühlens ausser Acht zu lassen. Im vorliegenden Buche macht Freud dieses Versäumnis weitgehend wieder gut. Er erklärt, die blosse Aufzählung psychologischer Elemente, die eine Religion auf- bauen, bleibe unbefriedigend, solange man diese einzigartige Tiefe nicht auch motivieren könne. Nach Besprechung verschiedener historischer und psycholo- gischer Faktoren sagt er: „Allem, was mit der Entstehung einer Religion, gewiss auch der jüdischen, zu tun hat, hängt etwas Grossartiges an, das durch unsere
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bisherigen Erklärungen nicht gedeckt wird. Es müsste noch ein anderes Moment beteiligt sein, für das es wenig Analoges und nichts Gleichartiges gibt, etwas Einziges und etwas von der gleichen Grössenordnung wie das, was daraus ge- worden ist, wie die Religion selbst.” (S. 226.) Das ist ein Satz, der Aufmerksam- keit der vielen wert, die sich mit Religionspsychologie befassen. Und weiter heisst es: ‚„‚Sie (d.h. die Tradition) muss erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewussten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann, wie wir es an der religiösen Tradition mit Erstaunen und bisher ohne Verständnis gesehen haben.” (S. 182.)
Wie oben angedeutet, ist das spezifische Moment, dem diese ungeheure Trag- weite zukommt, die Wiederkehr jener Affekte aus dem Unbewussten, die im Urbeginn mit der Vatervorstellung verlötet waren. „Die erste Wirkung des Zusammentreffens mit dem so lange Vermissten und Ersehnten war überwältigend und so, wie die Traditon der Gesetzgebung vom Berge Sinai sie beschreibt. Bewun- derung, Ehrfurcht und Dankbarkeit dafür, dass man Gnade gefunden in seinen Augen — die Moses-Religion kennt keine anderen als diese positiven Gefühle gegen den Vatergott. Die Überzeugung von seiner Unwiderstehlichkeit, die Unterwerfung unter seinen Willen können bei dem hilflosen, eingeschüchterten Sohn des Hordenvaters nicht unbedingter gewesen sein, ja, sie werden erst durch die Versetzung in das primitive und infantile Milieu voll begreiflich. Kind- liche Gefühlsregungen sind in ganz andrem Ausmass als die Erwachsener intensiv und unausschöpfbar tief, nur die religiöse Ekstase kann das wiederbringen. So ist ein Rausch der Gottesergebenheit die nächste Reaktion auf die Wiederkehr des grossen Vaters.’ (S. 235/6.)
6. Das Problem der Vererbung. Wir kommen schliesslich zu dem Thema, das Freud wohl selbst für das wichtigste halten mag, zu dem einzigen vermutlich, das geeignet ist, selbst in den Kreisen seiner Anhänger auf weit verbreiteten Skeptizismus zu stossen.
Freud geht von der Beobachtung aus, deren Richtigkeit kein Psychoanalytiker bestreiten kann, dass die Reaktionen eines neurotischen Kindes gegenüber seinen Eltern über das durch das blosse Erlebnis aktueller Situationen Erklärbare weit hinausgehen, und zieht den Schluss, dass solche Reaktionen ererbten Wieder- holungen ähnlicher seien, die in Situationen der Urzeit vorfielen — Vatertötung, Kastration und dergleichen — denen sie tatsächlich angemessen wären. Er möchte ‚‚die Behauptung aufstellen, dass die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfasst, Erinnerungsspuren an
das Erleben früherer Generationen.” (S. 178.) Diese Idee ist in ihrer Einfachheit und, wie man hinzufügen möchte, Gross-
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artigkeit bestrickend. Sie ist indes so weittragend und ihr widerspricht eine so ungeheure Menge anderen Beweismaterials, dass man sie genau prüfen muss. Man sieht dann deutlich, dass sie verschiedene Elemente von ungleichem Wert enthält. 1.) Die Reaktionen neurotischer Kinder, d.h. aller Kinder, stehen fraglos oft in einem Missverhältnis zu ihrem Erleben. Ein Kind mag z.B. die Angst entwickeln, von einem Vater kastriert zu werden, den es nie gesehen hat, der etwa vor des Kindes Geburt gestorben war. 2.) Diese Reaktionen bestehen also, sozusagen, aus zweierlei Elementen, aus solchen, die wie Reflexe auf das Erlebnis ansprechen, und weiters aus Beiträgen, die des Kindes eigene Phantasie liefert. 3.) Diese letzteren sind, soweit sie über die aus dem Erleben ableitbaren Reak- tionen hinausgehen, ererbt in dem Sinne, dass das Kind mit ihnen eine ange- borene Fähigkeit in die Welt gebracht haben muss, in bestimmten Situationen bestimmte Typen von Phantasien zu bilden. 4.) Diese Reaktionen sind charak- teristischerweise durchaus unbewusst; sie waren dem Kinde nie bewusst und werden es niemals werden, es sei denn durch Psychoanalyse.
Ich darf annehmen, dass alle Analytiker den vorstehenden Auffassungen zustimmen. Wir kommen nun zu anderen, die strittiger sind. 5.) Kinder scheinen ein angeborenen Wissen um gewisse Tatsachen zu haben, unabhängig von jenen, die sie durch Erfahrung erworben haben. Ich denke hier an solche Fakten wie Geschlechtsakt, Geschlechtsunterschiede, Kastration usw. Das entscheidende Wort hier ist natürlich der Terminus ‚Wissen”. In welchem Sinne kann man z.B. von einem neugeborenen Lamm sagen, es habe ein ‚‚Wissen” um den Ge- schlechtsakt. Zum Zweck der praktischen Verständigung sagen wir, es habe ein solches Wissen; denn sobald es stehen kann, kann es ihm gemäss handeln, d.h. sich so benehmen, als wüsste es um diese Dinge. Sichtlich aber ist dieser Sınn sehr verschieden von dem, den wir meinen, wenn wir vom Wissen als dem bewussten Wiedererkennen spezifischer Vorstellungen sprechen. Kants Lehre von den ‚angeborenen Ideen’ bedarf zweifellos der Revision im Lichte psy- choanalytischer Erfahrung, aber selbst jetzt ist unsere Kenntnis von dem Un- bewussten des Kindes noch nicht weit genug, um uns exakt definieren zu lassen, was wir meinen, wenn wir schlechthin von den „Vorstellungen’” seiner Phantasie sprechen. Dass solche Gefühlseinstellungen— um das im Augenblick vielleicht treffendste Wort zu brauchen—nicht einmal in sein Vorbewusstes treten, scheidet sie scharf von ‚„‚Vorstellungen’’ im gewohnten Sinne. 6.) Die in Frage stehenden inadequaten Reaktionen scheinen denen zu entsprechen, die wir uns als die be- wussten emotionalen Reaktionen des Urmenschen vorstellen. Dies ist bei dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens natürlich nur eine versuchsweise verwendete Hypothese, aber eine, die den meisten Analytikern sehr wahrscheinlich erscheinen wird. Mit ihrer Annahme sehen wir uns vor das Problem gestellt, in welchen
Moses und die monotheistische Religion 429 Beziehungen die bewussten, seelischen Haltungen des Urmenschen zu den un- bewussten des Kindes von heute stehen. 7.) Freuds Meinung scheint einfach die zu sein, dass die bewussten Reaktionen des primitiven Menschen für ihn so eindrucksvoll waren, dass sie auf seinen Körper und damit auf den spermato- genetischen Apparat zurückwirkten, so dass die von ihm — vielleicht nach Jahren — produzierten Spermatozoen in ihren Chromosomen derart verändert sind, dass sie nach der Vereinigung mit einem Ei geeignet sind, ein Kind zu erzeugen, das in sich die Erinnerungsspuren des väterlichen Erlebens aufbewahrt; oder wenig- stens, dass dieses Erleben, dadurch dass essich oft genug in den Zeiten wieder- holte, stark genug wird, um das gleiche Resultat zu erzielen. Freud setzt im Einzelnen auseinander, dass dieser Prozess nur dann eintritt, wenn die Erlebnisse wichtig genug sind und sich oft genug wiederholt haben, was wir als zutreffend annehmen könnten für den Fall der Vatertötung. Die inherente Unwahrschein- lichkeit eines solchen Sachverhaltes ist indes so offenkundig, dass sie nicht be- sonders betont werden muss, und es wäre ein sehr beträchtliches Beweismaterial nötig, um ihn plausibel zu machen. Kein Gebiet der biologischen Wissenschaft ist in den letzten 60 Jahren eifriger erforscht worden als das der Vererbungslehre, auf keinem mehr experimentelle Arbeit geleistet worden, und das kolossale Gewicht der Beweise, die gegen eine Vererbung erworbener Eigenschaften sprechen (d.h. gegen die Annahme, dass Erlebnisse des Individuums seine Nachkommen- schaft beeinflussen) steht in eindrucksvollem Widerspruch zu dem spärlichen und zweifelhaften Material, das die Ansicht stützen soll, eine solche Möglichkeit sei mehr als bestenfalls ein ausnahmsweises Vorkommnis. Freud aber geht so weit zu sagen, er könne sich nicht vorstellen, dass nicht etwa nur die psychologische, sondern auch die biologische Entwicklung im allgemeinen ohne diese Möglichkeit hätte je stattfinden können. Wenn er es unterlässt, andere Möglichkeiten der Verbindung zwischen unseren Ahnen und uns zu diskutieren — besonders auf dem Gebiete der Triebe — als eben die Art der Vererbung, wie sie Lamarck postuliert, dann ist man versucht, die Geister eines Darwin, Weissmann und Mendel zu beschwören. Die Frage, ob die erwähnten emotionellen Reak- tionen Erhaltungswert besitzen, wird garnicht gestellt, noch wird auf das Prinzip der natürlichen Auslese und andere die Vererbungen beeinflussenden Faktoren Bezug genommen. Alles in allem ist das Problem hier in seinem eigent- lichen Kern nicht unähnlich dem des Erhaltenbleibens von Spuren der „Kiemen- spalte” im Embryo, die vermutlich funktionierenden Organen jener unserer Vorfahren entsprechen, die noch im Wasser lebten. Kurz, man wird wohl andere Möglichkeiten der Erklärung heranziehen müssen, ehe man auf die Lamarcksche zurückgreift, die im Lichte unserer heutigen Wissenschaft so unwahrscheinlich
scheint.
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Freud hat in diesem Buche eine grosse Zahl faszinierender Probleme über- zeugend gelöst und uns, wie gewöhnlich, an die Existenz anderer gemahnt, die erst die Zukunft lösen wird.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen' Von Jules de Leeuwe
Amsterdam
I
Freud erklärt den Monotheismus aus der Nachwirkung eines prähistori- schen 'Traumas: des Mordes am Urvater.? Ausgehend von der T'heorie, dass die Menschen ursprünglich in kleinen Gruppen zusammenlebten, nimmt er an, dass ihre Anführer teils sehr verehrt, teils sehr verhasst waren wegen der Art, wie sie ihre Macht ausübten. Sie sollen die andern Männer in ihrem Geschlechts- verkehr mit den zur Gruppe gehörigen Frauen verhindert und sich dabei der Misshandlung, der Vertreibung, der Kastrierung und des Mordes als Mittel bedient haben. Schliesslich sollen die Unterdrückten in Aufstand ge- kommen sein und ihren Führer getötet haben, wonach ein Streit um die Nach- folge ausbrach.
Der Mord hatte aber auch, wie Freud meint, heftige Schuldgefühle zum Gefolge, was die Täter davon zurückhielt, die neuerworbenen Freiheiten auszu- beuten. Sie eigneten sich die zur Gruppe gehörigen Frauen nicht an, sondern führten im Gegenteil die Exogamie ein und sahen auch in anderer Hinsicht von der Befriedigung ihrer Triebe ab. Statt dessen verbanden sie sich und legten ein- ander und sich selbst strenge Verpflichtungen auf. So soll der T'otemismus entstanden sein. Die Mitglieder des Totems betrachten sich als Nachkommen eines gemeinsamen Stammvaters und sind den Totemgesetzen unterworfen, worunter das Verbot geschlechtlichen Verkehrs mit den zum T'otem gehörigen Frauen fällt.
1) Übersetzt von E. Schönlank. 2) Freud, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion” S. 144 u.f.
Über die Entstehung religiöser Vorstellungen 431
Nach Freud ist die Ermordung des Urvaters als 'Trauma wirkend ge- blieben, das will sagen, dass sich einerseits eine Tendenz zur Wiederholung zeigte, andererseits ein Versuch der Abwehr, gepaart mit dem Bestreben die ursprüng- liche Tat aus der Erinnerung zu bannen. Dabei entstanden auch Kompromiss- bildungen, zu vergleichen mit neurotischen und psychotischen Symptomen bei gewissen Individuen. So betrachtet Freud auch die Totemmahlzeit, wobei das Totemtier, das mit dem Stammvater identifiziert wird und das man sonst nicht töten darf, umgebracht und von den gesammten Stammesgenossen verzehrt wird.
Der T'otemismus, den Freud für die primitivste gesellschaftliche Form nach der Ursippe hält, konnte nach ihm immer da verschwinden, wo die Ermordung des Urvaters in den Hintergrund geraten war. Geschah dies, dann trat nach seiner Meinung eine Latenzperiode ein, zu vergleichen den Latenzperioden bei Neuro- tikern und Psychotikern. 'Traumata haben in diesen Phasen scheinbar ihre Be- deutung verloren. Danach beginnen sie aber die psychische Verfassung aufs neue zu beeinflussen, mit dem Erfolg, dass Neurosen oder Psychosen ausbrechen können. — Dasselbe gilt nun nach Freud für das angenommene Trauma von dem Mord am Urvater. Dieses Ereignis soll unbewusst auf die Menschheit weiter einwirken; durch Vererbung soll die Erinnerung daran bis auf den heutigen Tag bewahrt geblieben sein, ohne dass gleichwohl ein Bewusstwerden stattgehabt hat. Aber das Trauma hat, nach Freud, zu einer erneuten Unterwerfung unter den Urvater geleitet, der schliesslich als Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt, wieder in seine ursprüngliche Stellung eingesetzt wurde.
Die hier von Freud angewandte Sippentheorie hat von anthropologischer und ethnologischer Seite Widerspruch gefunden; aber selbst wenn wir annehmen, dass diese Theorie die Tatsachen richtig darstellt und dass auch der Mord am Urvater stattgefunden und zur Gründung eines Bruderbundes geführt hat, bleibt es noch die Frage, ob diese Ereignisse durch unbewusste, er bliche Erinnerung zu einem Trauma der Menschheit werden konnten.
Das Vorhandensein unbewusster, erblicher Erinnerung nimmt Freud aus zwei Gründen an: erstens aus der Tatsache der Symbolik und zweitens wegen gewisser aus dem Anlass nicht völligerklärbarer Reaktionen bestimmter Individuen auf infantile Traumen.?
Er konstatiert — um uns erst auf die Symbolik zu beschränken — dass gewisse Ideen und Handlungen, unabhängig von der Sprache und dem Kulturstand der Menschen, stets wieder durch andere vertreten werden können: so kann ein Wasserhahn an Stelle eines Phallus gesetzt werden, Wasser an Stelle von Urin,
ERS LE ARE RER NERETNL E
3) Freud, ibid. S. 176 u.f., S.233.
432 Jules de Leeuwe
Aus-dem-Wasser-Steigen für Geburt u.s.w.* Von dieser allgemein-menschlichen Symbolik machen nach Freud bereits Kinder Gebrauch, und zwar nicht unbewusst, wie es Erwachsene oft tun, sondern absichtlich und bewusst. Sie können diese Dinge nicht von Erwachsenen gelernt haben, meint Freud, denn diese scheinen sich gerade vielerlei Symbolik nicht mehr bewusst zu sein; man hat es hier viel eher mit einem ursprünglichen Wissen zu tun, und dieses Wissen muss, nach Freud, auf ererbter Erinnerung beruhen: ein primitives Vorge- schlecht hat die Symbolik ins Leben gerufen, und die Kinder tragen die Erin- nerungsspuren daran mit sich. Hierfür soll auch die Tatsache sprechen, dass die infantile Symbolik bei den primitivsten Erwachsenen, die wir kennen, noch in bewusster Form vorkommt, und dass in den archaischen Sprachen die Symbolik einen wichtigen Platz einnimmt.
Bei dieser Erklärung übersieht Freud allerdings, dass jedes menschliche Individuum anfangs psychisch undifferenziert ist, und dass die Symbolik ihre Ursache darin finden kann.
Wenn ein kleines Kind einen Wasserhahn Phallus oder umgekehrt einen Phal- lus Wasserhahn nennt, dann macht es zwischen diesen zwei Dingen keinen Ver- gleich, sondern sieht sie wirklich als identisch an. Der kleine Hans aus Freuds Analyse® will im Ernst wissen, wo der ‚Wiwimacher” von der Lokomotive sitzt, wenn er auch schliesslich zu dem Ergebnis kommt, dass eine Lokomotive solch ein Organ nicht haben kann. Weniger fortgeschrittene Kinder als er sind davon überzeugt, dass es wohl möglich ist, da sie Unterscheidungen wie lebend und nicht-lebend, menschlich und nicht-menschlich, organisch und anorganisch noch nicht oder nur teilweise machen.* Sie können alle Dinge für ‚lebendig” halten, allen Dingen ‚‚Bewusstsein’” zuerkennen usw.
Von Wasser und Urin gilt dasselbe wie von Wasserhahn und Phallus. Das Kind macht zwischen diesen Dingen anfangs keinen essentiellen Unterschied: bis zu einem gewissen Alter meint es, dass Wasser durch Urinieren entstanden ist; das Wasser ist für das Kind Urin.” Ist es etwas älter, dann sagt es aus Anstand statt urinieren etwa „spucken’’, und den Phallus ersetzt es durch einen Hahn oder eine Pumpe, aber die Art, geheimnisvoll dabei zu tun, lässt nach Piaget keinen Zweifel in betreff der wirklichen Bedeutung. In den letztgenannten Fällen glaubt das Kind vielleicht nicht mehr an die urinale Herkunft des Wassers und an die wirkliche Gleichheit von Hahn und Phallus. Hier erst würde wirkliche
4) Freud, ‚Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Schr., Bd. XI.
5) Freud, ‚Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben”, Ges. Schr., Bd. VIII.
6) Vergl. J. Piaget, „La representation du monde chez l’enfant”, „La causalit€ physique chez l’enfant’”.
7) J. Piaget, „La repres. du monde”, Kap. IX; O. Rank, ‚„Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung”, VII, S. 142.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen 433
Symbolik vorliegen; das Kind identifiziert dann die Dinge, die es für einander anwendet, nicht mehr, aber es ist mit den Gedankengängen, in denen das ge- schieht, noch so vertraut, dass es ohne Mühe Unterscheidungen, die es in Wirk- lichkeit macht, wieder wegdenkt. Dasselbe sehen wir im Kinderspiel: jedes Ding kann darin jedes andere Ding vorstellen,® und bei etwas älteren Kindern müssen wir das tatsächlich einer Symbolik zuschreiben.
Auch ‚„Aus-dem-Wasser-Steigen” für Geburt ist anfangs keine Symbolik. Kinder glauben oft bis zu einem gewissen Alter, dass der Mensch aus Urin ent- steht;? sie suchen dann eine Beziehung zwischen den Ausscheidungsorganen, für die in dieser Zeit ihr Interesse sehr gross ist, und der Geburt. Solange nun das Kind ‚‚Wasser’” und ‚Urin’” als essentiell identisch betrachtet, ist das Entstehen aus Wasser dasselbe wie Entstehen aus Urin. Von Symbolik kann erst die Rede sein, wenn das Kind Urin und Wasser voneinander zu unterscheiden be- gonnen hat.
Wenn die Entwicklung fortschreitet, kann die Symbolisierung auch unbewusst stattfinden. Offenbar machen sich dann Einflüsse geltend aus einer Periode, in der das Subjekt gewisse Unterscheidungen noch nicht machte, aber das wird durch das Subjekt jetzt nicht mehr erkannt, weil — oft infolge von Verdrängung — den Vorstellungen ihre Bedeutung genommen ist, eine durch die Psycho- analyse oft konstatierte Erscheinung. Im Traum geht das Geistesleben soweit zurück, dass allerlei Identifizierungen aus der frühesten Jugend wiederaufleben, aber daneben bleibt das fortgeschrittene Unterscheidungsvermögen bestehen (sei es infolge von Verdrängung oder anderen Ursachen) mit dem Resultat, dass die Traum vorstellung auf Identifizierung oder Symbolik weist, während das Bewusstsein von diesen Vorstellungen auf dem fortgeschrittenen Niveau des Wachlebens bleibt, sodass während des Traumes — und ohne Analyse auch nachher — der identifizierende oder symbolisierende Sinn der Vorstellung dem Subjekt entgeht. Wir haben es hier mit einer Kompromissäusserung zu tun, die teils einer primitiven, teils einer fortgeschrittenen Einsicht entspringt.
Dass auch Dinge, die jemand als Kind nicht gekannt hat, zum Symbol werden können, ist daraus zu erklären, dass das Aufgenommene sowohl bewusst als unbe- wusst verarbeitet wird. Wenn man eine neue Erfahrung macht, trachtet man gewöhnlich, sie in einer bekannten Kategorie unterzubringen, und die diesbe- zügliche Konzeption wird auch für das Unbewusste mit dieser Kategorie ver- schmelzen.
Aus dem Ausgeführten folgt, dass Symbolik ein Überbleibsel ursprünglicher De RE RE ENRHSERRE Er di BERGER BEER BELA Ge WR DRGBLRE BA > SE BEER 2EBES.2 RER ER ee nn neuen
8) Material bei J. Piaget, „Le langage et la pensee chez l’enfant”, u. W. Stern, „Psy- chologie der frühen Kindheit”, 6. Abschn.
9) J. Piaget, „La repres.”, Kap. IX. v
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psychischer Undifferenziertheit des Individuums ist. Diese Undifferenziertheit geht, wie wir gesehen haben, der Symbolik voraus, sodass letztere eine weniger primitive Erscheinung ist als Freud anzunehmen scheint; jedenfalls ist sie nicht ‚angeboren”, wie Freud behauptet. Angeboren ist hier nur die psy- chische Undifferenziertheit, die nach bestimmten ontogenetischen Gesetzen in Differenziertheit übergeht. Dass bei erwachsenen Primitiven und in archaischen Sprachen die Symbolik hin und wieder mehr in den Vordergrund tritt als bei Fortgeschrittenen, kommt von der grösseren psychischen Undifferenziertheit der Primitiven.!° Auch hier ist übrigens nicht alles, was symbolisch scheint, wirklich eine Folge von symbolisierenenden Prozessen.
Ein weiterer Beweis für das Bestehen von unbewusster, erblicher Erinnerung sind, laut Freud, bestimmte Reaktionen auf individuelle Jugendtraumata, die aus der Natur des 'Traumes nicht abgeleitet werden können.!! Ein Patient erzählt zum Beispiel, dass sein Vater versucht hat, ihn zu kastrieren; oder eine Patientin behauptet, dass sie als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. In vielen Fällen ist mit Sicherheit festzustellen, dass die Tatsachen sich nicht so verhalten wie der Patient sie erzählt, während man andrerseits nicht den Eindruck bekommt, dass er bewusst phantasiert. Solche Mitteilungen erklärt Freud nun aus der Wirksamkeit ererbter Erinnerungsspuren; etwa an die vom Urvater vorgenom- mene Kastration seiner Söhne, eine durch Mythen nahegelegte historische Ver- mutung.
Die betreffenden Äusserungen der Patienten können unbewussten Wünschen entspringen, eine Erscheinung, auf die gerade die Tiefenpsychologie Nachdruck gelegt hat. Es unterliegt keinem Zweifel, dass neben dem Abscheu, kastriert zu sein oder zu werden, entgegengesetzte Tendenzen eine Rolle spielen. Überlieferungen erzählen uns z.B. von Personen, die — gleichgültig aus welchen Gründen — die Kastration an sich selbst vollzogen. Die ältesten Kybele-Priester sollen sich entmannt haben. Auch lässt man zuzeiten ohne Widerstand zu bieten jemand anders die Kastration ausführen; so spricht C. G. Jung von einer Ab- bildung, die einen Mann zeigt, der sich den Phallus von einer Schlange abbeissen lässt.1? Geisteskranke, die sich für Personen des anderen Geschlechts ausgeben (vor allem Männer, die als Frauen gelten wollen) oder die behaupten, ihre Geni- talien verloren zu haben, stehen vermutlich stets unter dem Einfluss von passiven Kastrationswünschen. Die Kastrationswünsche sind nun biologisch ableitbar, sie
10) Vergl. dafür L. L&evy-Bruhl, ‚„Les fonctions mentales dans les societes inferieures”’, 1918, S. 108/109, S. L42/148; ‚„„La mythologie primitive”, introduction; J. Wils, „De nominale klassificatie in de Afrikaansche negertalen”, S. 19 u.f., S. 69/70.
11) Freud, „Der Mann Moses”, S.178 u.f.
12) C.G.]Jung, ‚Wandlungen und Symbole der Libido”; vergl.auchO..Rank, Mythenforschung.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen 435
können wohl teils Ausdruck von Autotomietendenzen sein, die sich auf ver- schiedenen Gebieten äussern (z.B. im Drang, das schmerzende Organ „loszu- werden’) und auf dem Gebiete der Sexualität infolge der intensiven Konflikte in der Kindheit einen konzentrierten Niederschlag finden, teils Ausdruck von starken femininen Tendenzen, die sich u.a. auch in dieser Form manifestieren.
Wenn ferner ein Patient meint, in frühester Jugend von einem Elternteil des anderen Geschlechts verführt worden zu sein, dann wird Inzestverlangen deut- lich, was noch klarer bei Psychotikern zum Ausdruck kommt, wenn diese die sexuellen Angriffe ihrer Blutsverwandten nicht in die Kinderzeit verlegen, sondern in die Gegenwart projizieren.
Also auch zur Erklärung der hier beschriebenen Erscheinungen scheint die Hypothese von der unbewussten erblichen Erinnerung nicht unbedingt not- wendig zu sein. Die Frage ist, ob sie, wie Freud meint, für die Erklärung des Monotheismus unvermeidlich ist.
II
In diesem Zusammenhang muss man darauf hinweisen, dass man oft das, was mit der eigenen Persönlichkeit zusammenhängt, so darstellt, als beträfe es die Aussenwelt. So kann die Geschichte der eigenen Psyche wiedergegeben werden als Geschichte des Weltalls.?3? In diese Richtung weist schon die Tatsache, dass in Schöpfungsgeschichten immer wieder der Entwicklungsgang „‚Nichts”- „Chaos’-,‚differenzierte Welt” verläuft. Im Beginn ist die Wirklichkeit infolge der anfangs totalen psychischen Undifferenziertheit für das Subjekt in der Tat „Nichts’’: noch keine einzige Tatsache hat sich aus der ursprünglichen globalen Einheit gelöst. Sowie Einzelheiten entstehen, entsteht ein „Etwas’”’; dieses Etwas ist anfangs wenig geordnet (,‚Chaos’’). Dieses Stadium im Leben des Individuums ist u.a. von J. Piaget untersucht worden, weshalb ich auf seine oben genannten Werke verweise. Endlich bekommen die Objekte jenes Mass von Selbstständig- keit, das fortgeschrittene Erwachsene ihnen zuerkennen. In der Schöpfungs- geschichte wird das so wiedergegeben, dass aus dem Chaos der Kosmos entsteht.
Wenn dies richtig ist, entspringt die Schöpfungsgeschichte einer retrospektiven Betrachtung, ohne dass das Subjekt sich Rechenschaft davon gibt. Dies letztere ist nun nicht absolut nötig: die Retrospektion kann auch bewusst stattfinden. A. Stifter hat— ohne sich übrigens auf Schöpfungsgeschichten zu berufen und ohne mit der heutigen Entwicklungspsychologie bekannt zu sein (er starb
13) J. de Leeuwe, „Enige samenhangen tussen mythische uitingen en psychische processen” (Mensch en Maatschappij); ‚„Mythe-analyse aan willekeurige personen” (Psychiatrische Neurolo- gische Bladen).
436 Jules de Leeuwe
1868) — die betreffenden Entwicklungswege bei sich selbst konstatiert und in seiner Autobiographie beschrieben.!?
Dass in Schöpfungsmythen die Retrospektion unbewusst stattfindet, ist vor allem dem noch teilweisen Ungetrenntsein von „Ich’” und ‚„Nicht-Ich” zuzu- schreiben, an und für sich eine Form der Undifferenziertheit. Das Subjekt unter- scheidet sich anfangs selbst nicht von der Umwelt — A. Stifter beschreibt auch dies — und wenn diese Unterscheidung für das Bewusstsein auch schon eintritt, dann kann sie doch daneben — natürlich unbewusst — noch teilweise fehlen. Darauf weisen u.a. die Projektions- und Introjektionserscheinungen bei Normalen und Geisteskranken.
Ein zweiter Faktor, der dazu führt, dass die eigene psychische Entwicklungs- geschichte als Geschichte des Weltalls wiedergegeben wird, ist das anfängliche Verhaftetsein der Gefühle mit der eigenen Person (Egozentrizität, Narzissmus), wodurch nichts ausserhalb des eigenen Ichs erkannt werden kann.
Ferner kann Verdrängung zum Unbewusstbleiben der Retrospektion beitragen. (Die Komplikationen, die sich dabei ergeben, müssen hier unbehandelt bleiben.!?)
Die Entwicklungsgeschichte des Subjekts kann nun auch als die Ge- schichte einer Reihe von Generationen vorgestellt werden. Wir sehen das besonders, wenn beschrieben wird, wie aus bestimmten Urwesen die gegenwärtigen Geschöpfe entstanden sind. Diese Urwesen werden nämlich stets durch infantile Eigenschaften und durch Eigenarten, welche das Kind in- folge seiner primitiven Anschauung den Dingen zuschreibt, gekennzeichnet. So leben die Urwesen meistens nicht nach der Moral der Erwachsenen, sondern zeigen all die Neigungen, welche auch bei kleinen Kindern manifest sind; sie sind an das Orale, Anale usw. gebunden, treten aggressiv auf, zeigen Egozen- trizität, Inzestverlangen, den Wunsch die Eltern zu töten oder zu vertreiben usw. Nach dem griechischen Mythus hält Uranos — der Sohn der Gaia, die sein Weib geworden ist — seine Kinder in der Unterwelt gefangen. Eines von ihnen, Kronos, entmannt seinen Vater, beschläft seine Schwester und verschlingt seine Nachkommenschaft. Er wird seinerseits vertrieben durch Zeus, der als erster eine Herrschaft führt, die schon mehr einer fortgeschrittenen Moral entspricht, wenn sie davon auch noch ın mancher Hinsicht abweicht. Ein anderer Nach- komme von Uranos, Prometheus, lässt sich selbst viel Übertretungen zu Schulden kommen, aber sein Sohn Deukalion wird als der tugendsamste der Menschen beschrieben. Wenn die letzteren wegen ihrer Sünden vertilgt werden, bleiben allein Deukalion und seine tugendhafte Frau Pyrrha allein erhalten und werden
14) Zitiert bei W. Stern, ‚Psychologie der frühen Kindheit”, S. 80/81. 15) Vergl. J., de Leeuwe, ibid.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen 437
die Stammeltern des späteren Menschengeschlechts. Ihren Sohn Hellen be- trachtet der Mythus als den Stammvater der Griechen.
Eine gleiche Entwicklung findet in der germanischen Kosmogonie statt. Die ältesten Urwesen haben viele infantile Züge; wiederholt führen junge Generationen harte Kämpfe gegen die älteren; in ihren Eigenschaften gleichen die jungen Generationen immer mehr den ziemlich fortgeschrittenen Erwachsenen. Schliess- lich werden die Menschen geschaffen.
Nicht anders ist es in den Mythen der neuguineischen Papuas und der Austra- lier: die „Vorfahren’”’ weichen in ihren Eigenschaften stark ab von den gegen- wärtigen Wesen, die sie erzeugt haben.
Die Urwesen spiegeln, wie gesagt, nicht allein wider, wie das Subjekt früher war, sondern auch wie es die Welt früher sah. Das ist als direkte Folge der mangelhaften Trennung von ‚„Ich”” und „Nicht-Ich” anzusehen und als ein Ausfluss der Egozentrizität. Das eigene psychische Sein ist verschmolzen mit dem Bilde, das das Subjekt sich von der Welt im allgemeinen formt. Dieses Bild, obgleich eigener Anschauung entsprungen, wird als objektiv geltend hingestellt. So sind die Urwesen z.B. auch allmächtig. Begreiflicherweise ist Allmacht keine ehemalige Eigenschaft des Subjekts, aber es schreibt sich diese Eigenschaft anfangs wohl zu. Das ist wieder eine Folge der Egozentrizität (in der Terminologie von Piaget: &gocentrisme, in der der Psychoanalytiker: Narzissmus).!®
Ferner können die Urwesen auch von einer in die andere Gestalt übergehen. Für das Subjekt haben die Dinge diese Eigenschaft in der oben besprochenen Periode geringer psychischer Differenziertheit; das Subjekt sieht dann die Dinge fortwährend anders, sie sind noch wenig umrissen und selbständig. Diese Betrachtungsweise wird im Mythus, wie alles andere, objektiviert.
In Schöpfungsgeschichten dieser Art kommt ferner nicht selten eine Vernich- tung der Menschheit vor, bei der nur einige tugendhafte menschliche Wesen übrig bleiben, die dann die Stammeltern des neuen Menschengeschlechtes werden (vgl. Deukalion und Pyrrha). Wir können hier, scheint es, die psychischen Ver- wirrungen und Kämpfe erkennen, die für die Sublimierungsperiode im Leben des Individuums typisch zu sein pflegen. Bei gelungener Sublimierung wird stets das Infantile — von da ab: das ‚‚Schlechte” — unterdrückt, während das Ent-
wickeltere — das ‚„‚Gute”’ — erhalten wird und die Basis für weitere Entwicklung abgibt.!? a ET pe TE EEE a ti
16) Vergl. S. Ferenczi, „Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes” (Int. Ztschr. f.
ärztl. Psychoanalyse, I, 1913). 17) Vergl. Freud, „Vorlesungen”, XXI]; C. G. Jung, „
Libido”.
Wandlungen und Symbole der
438 Jules de Leeuwe
Dass es bei der Generationskette der Mythe sich um ein und dasselbe Indivi- duum handelt, ist oft unmittelbar aus den Vorgängen zu erkennen; erzählt doch die Mythe nicht selten von viele Male sich wiederholendem Sterben und Wieder- geborenwerden ein und derselben Person. In diesem Zusammenhang ist die Auffassung der Theosophen zu erwähnen, nach denen jedes Individuum eine Anzahl von Existenzen durchläuft bis es vollendet ist. Auch hier beginnt die Ent- wicklung bei dem ‚Niedrigen” und verläuft in der Richtung zu dem ‚Höheren’”. Es ist begreiflich, dass nach diesem System jede subjektive Äusserung im späteren Leben zur Geltung kommt: diese Regel, das Gesetz des Karma, will, wie es scheint, befreit von ihren mythischen Bestandteilen, nur sagen, dass jedes Erlebnis — auch wenn man es verdrängt und es dann naturgemäss nicht mehr zum eigenen Leben rechnet — seinen bleibenden Stempel auf das Dasein des Subjekts drückt. Die entwicklungspsychologische Untersuchung bestätigt dies.
Zur Bestätigung dieser Behauptungen möge noch folgender Fall dienen.!® Der 20- jährige subnormale Marsal erklärt, dass seine Vorfahren (,‚‚ancätres’’) die Welt geschaffen und die Sonne an den Himmel geworfen haben. Diese Vorfahren waren, wie er spontan aussagt, ein Greis und dessen Frau, äusserlich übereinstimmend mit seinen (Marsals) Eltern, nur etwas jünger. Dies letztere braucht uns nicht zu wundern, wenn wir bedenken, dass diese ‚‚ancötres” wohl Marsals eigene Eltern sind, so wie er sie als kleines Kind sah, nämlich allmächtig und gross.
Wir haben noch die Frage zu beantworten, warum das Individuum seine eigene Geschichte in die Form der Geschichte einer Geschlechterreihe giesst? Vor allem müssen wir dafür wieder das Nicht-Getrenntsein von ‚Ich’” und ‚,‚Nicht- ich” wie auch die Egozentrizität verantwortlich machen. Aber besonders die Verdrängung kann hier ein entscheidender Faktor sein. Der einigermassen fort- geschrittene Mensch zeigt meistens Abscheu vor dem Primitiven; dies kann so weit gehen, dass das Vorhandensein infantiler Eigenschaften völlig geleugnet wird. Ist die Haltung weniger abweisend, dann kann es noch vorkommen, dass man, soweit es die eigene Person betrifft, die Infantilität für unwahrscheinlich hält, wenn man auch das allgemeine Vorhandensein zugibt. Aber auch wenn für die eigene Person infantile Eigenschaften zugegeben werden, sind noch Ein- schränkungen möglich, die oft darin bestehen, dass man das Infantile als völlig überwunden betrachtet. Keine dieser Auffassungen jedoch ist in Übereinstim- mung mit der entwicklungspsychologischen Forschung. Diese lehrt, dass im Laufe der individuellen Entwicklung das Infantile nur teilweise verschwindet.
Die Neigung jedoch, die primitive Periode als vollkommen abgeschlossen zu
18) J. Piaget, ‚La representation du monde chez l’enfant”, S. 402.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen 439
betrachten, hat zur Folge, dass man sie in der Mythe nicht mehr zum Leben des einmal fortgeschrittenen Individuums rechnet. Diese Tendenz manifestiert sich in der Sprache als Symbolik; die Ereignisse werden dann nicht mehr als objektiv und tatsächlich hingestellt, sondern als fiktiv („einneues Leben beginnen”, „wie neu geboren sein”, „einandrer Mensch werden”
usw.).
Alles dies kann zu der Vermutung führen, dass auch in Freuds Theorie über den Monotheismus ein Stück individueller Entwicklungsgeschichte steckt. Nach dem Obigen müsste dann der ‚„Urvater”’ das Subjekt selbst sein. Ebenso kann in der Tat ein Vater damit gemeint sein, aber dann der des Subjekts, so wie dieses ihn als Kind sah (vergl. Marsals ‚anc&tres’”’). Freud meint, dass der Urvater getötet wurde, dass dieser Mord Schuldgefühle hervorrief, und dass viele Generationen später der Urvater infolgedessen zum allmächtigen Gott geworden ist.
Fasst man dies als individuelle Entwicklungsgeschichte auf, dann will es besagen, dass das Subjekt seine Persönlichkeit, so wie diese anfangs war, schein- bar vernichtet hat, und dass diese Seite der Persönlichkeit in einem späteren Stadium ihren Einfluss zurückgewinnt. Es will ferner sagen, dass das Subjekt in Aufstand gegen den Vater geraten war, den es als Kind für allmächtig hielt, und dass das Bild des Vaters in einer späteren Periode wieder in den Vordergrund tritt.
Die hier angenommenen Entwicklungswege treffen nach tiefenpsychologischer Untersuchung tatsächlich zu. So wird der ursprünglich starke Narzissmus in der Sublimierungszeit normalerweise überwunden, aber er lässt sich nicht bleibend unterdrücken, weshalb er auf Umwegen die eigene Persönlichkeit zum Schluss wieder als Machtzentrum zur Geltung bringt. Auch Freud konstatiert dies:!? er weist darauf hin, dass z.B. das Christentum in letzter Instanz eine ‚‚Sohnes-” Religion geworden ist, was er einer indirekten Verherrlichung dessen zuschreibt, der den Mord an dem Urvater beging. Dieser Mörder ist nach Freud — durch die Auswirkung des Urtraumas — die Menschheit selbst.
Andrerseits kann die Gottesvorstellung mit dem Bilde zusammenhängen, das das kleine Kind sich von dem Vater formt, und mit der ferneren Haltung gegen- über dem Vater. Der Wunsch ihn tot zu sehen — besonders von seiten des männ- lichen Kindes — kommt wiederholt vor (Ödipuseinstellung), aber diesem kann eine erneute Unterwerfung folgen, wobei als Kompromissausdruck der Glaube
an den allmächtigen Gottvater entstehen kann.
19) Freud, „Der Mann Moses”, S. 240.
440 Jules de Leeuwe
II
Bei dem Zustandekommen der Gottesvorstellung sind allerdings noch andere Faktoren wirksam, was aus der Weise, wie sich beim Individuum die religiösen Vorstellungen zu entwickeln pflegen, hervorgeht.
Infolge der infantilen Egozentrizität hält das Subjekt, nach psychoanalytischen Voraussetzungen, sich ursprünglich für uneingeschränkt allmächtig, was wohl unbewusst vor sich geht, da es sich selbst noch nicht von der Umwelt unter- scheidet.?° In einem folgenden Stadium schreibt es dagegen den Erwachsenen der nächsten Umgebung unbegrenzte Macht zu. Das ist zum Teile aus der Ver- minderung des Narzissmus zu erklären, zum Teil aus dessen Beibehaltung: die Pflegepersonen und Erzieher, mit denen das Kind fortwährend in Kontakt ist und mit welchen es sich am bequemsten identifizieren kann, eignen sich am besten um zuerst in die Gefühlssphäre gezogen und zuerst als Objekt geschätzt zu werden. Dass das Kind seine Gefühle gerade auf sie überträgt, weist deshalb wohl auf eine Verminderung, aber nicht auf ein Verschwinden der Egozentrizität hin.
Der Glaube an die elterliche Allmacht pflegt bereits in sehr jungen Jahren auf- zutreten.?! Es entwickelt sich indessen nachher ein Glaube an die Macht der Erwachsenen im allgemeinen: alle Dinge werden als Ausfluss des menschlichen Könnens betrachtet und sind, wie das Kind meint, dem menschlichen Willen unterworfen.?? Offenbar hat sich die Gefühlssphäre aufs neue ausgebreitet: die Egozentrizität ist nochmals vermindert. Sie ist zwar auch diesmal nicht ver- schwunden, was aus der Tatsache hervorgeht, dass die Ausbreitung sich gerade auf Menschen erstreckt, die als Wichtigstes betrachtet werden.
Die Menschen im allgemeinen verlieren jedoch allmählich ebenfalls ihre überwiegende Bedeutung, und ihr Platz wird durch wenige, besondere Menschen eingenommen, diesmal nicht die Erwachsenen der nächsten Umgebung, sondern gerade Menschen, die ihnen so wenig wie möglich gleichen und auch oft nur in der Phantasie des Kindes bestehen. Sie beginnen ihre menschliche Eigenart zu verlieren. Das Kind gibt ihnen manchmal den Namen von „Göttern. Diese Götter leben allerdings auf der Erde und sind, wie Piaget feststellt,?® in Wirklichkeit menschliche Wesen. Diese Veränderung der kindlichen Einsicht schreibe ich einer erneuten Ausbreitung der Gefühlssphäre zu: das Kind be- kommt eine hohe Wertschätzung für Wesen, die zwar noch anthropomorph, aber
20) Vergl. II. 21) J. Pia get, „La construction du reel chez l’enfant”, S. 298.
22) Material bei J. Piaget, „La repres. du monde chez l’enf.”, S. 222, S. 356. 23) J. Piaget, ibid., Kap. XI.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen 441
nicht mehr gewöhnlich menschlich sind und die stark abweichen von der Ka- tegorie, mit der es sich identifizieren kann. Auf diesem Wege kommt das Kind zur Verehrung übermenschlicher Mächte; der Gottesbegriff dient dann dazu, dasjenige auszudrücken, was zwar noch anthropomorph, aber keineswegs mehr menschlich ist. Dass das Individuum zum Glauben an das Bestehen von Göttern kommt, ist deshalb der Verminderung deranfängli- chen infantilen Egozentrizität zuzuschreiben. Ande- rerseits weist dieser Glaube auf die teilweise Beibehaltung der Egozentrizität hin, schon deshalb, weil etwas, das einer subjektiven Einsicht entspringt, als objektiv vorhanden dargestellt wird; auch sind die Gottesvorstellungen in der Regel mehr oder minder anthropomorph.
Wie entsteht nun Monotheismus? Dass diese Vorstellung nicht ‚„ange- boren” ist, scheint mir aus dem Ausgeführten genügend hervorzugehen.
Wir müssen Schritt halten mit einem andern Merkzeichen der fortschrei- tenden psychischen Entwicklung, nämlich dem zunehmenden Abstraktions- vermögen. Dieses Vermögen ist als ein direkter Ausfluss des Wachsens der psychi- schen Differenziertheit zu betrachten. Es ist wohl klar, dass da, wo Grössen nicht von einander geschieden werden, das Gemeinschaftliche der Grössen nicht durch ein selbstständiges Denkmotiv vorgestellt werden kann. Abstrahieren ist aber gerade: das Gemeinschaftliche in sonst unterschie denen Grössen selb- ständig denken. Das kleine Kind abstrahiert nicht, weil es die Dinge zu wenig voneinander unterscheidet. Gebraucht es dieselben Worte wie die Erwachsenen, dann zeigt sich bei näherer Untersuchung oft, dass es ihnen einen anderen Sinn gibt als diese. Verwendet das Kind z.B. Gattungsnamen, dann drückt es damit anfangs nicht aus, dass es das Gemeinschaftliche in verschiedenen Grössen selb- ständig denken kann, sondern vielmehr, dass es die betreffenden Grössen bis zu einem gewissen Mass voneinander nicht unterscheidet: es sieht sie als zusam- mengehörig, voneinander herrührend, als blosse Teile eines Ganzen an.?* Hiermit in Übereinstimmung ist auch die Beobachtung, dass das Kind zu allererst Worte gebraucht, die bei Erwachsenen abstrakteste Kategorien an- deuten.25 Nur sind es beim Kinde keine Namen von abstrakten Kategorien, son- dern von globalen Einheiten, worin es noch keine Feinheiten unterscheidet. Ab- straktion im eigentlichen Sinne ist dem kleinen Kind auch darum unmöglich, weil es die psychischen Funktionen noch nicht auseinanderhält, was einschliesst, dass es sich auch des Denkens als einer selbstständigen Tätigkeit noch nicht bewusst
24) Vergl. J. Piaget, „La construction du reel chez l’enfant”, S. 381/82; Volkelt bei W.
Stern, „Psychologie der frühen Kindheit”, S. 373. 25) Vergl. A. Willwoll, „Begriffsbildung”, S. 17.
442 Jules de Leeuwe
ist. Es meint z.B., dass das Denken mit der Stimme oder mit dem Munde ge- schieht und dass man die Gedanken anfassen kann:?® es sieht deshalb noch keinen Unterschied zwischen motorisch aktiv sein, benennen, Vorstellungen haben, sinnlich wahrnehmen usw.
Aus dieser Geistesverfassung lässt sich erklären, dass kleine Kinder normaler- weise nicht zu Vorstellungen von einem göttlichen Prinzip kommen können, sondern höchstens zu einer Konzeption einer Reihe zusammengehöriger Gott- heiten, die sie als Menschen oder menschenähnliche Wesen ansehen. Im selben Masse wie die Fähigkeit zum Abstrahieren zunimmt, kann sich nun allerdings die Tendenz geltend machen, das Göttliche nicht mehr aufzufassen als eine Reihe konkreter Mächte, sondern als eine Abstraktion. Der Monotheismus ist ein Ver- such dazu: er will der konkreten Vorstellung des Göttlichen entkommen. Dabei gehen Verminderung der Egozentrizität und Tendenz zur Abstraktion Hand in Hand: beide haben zum Resultat, dass man das Anthropomorphe aus der Gottes- vorstellung zu eliminieren trachtet. Die Tendenz zur Abstraktion führt ausserdem dazu, dass die Begrenztheit des Göttlichen auch in andrer Hinsicht ständig abnimmt.
Doch der Monotheismus an sich kommt nicht zu einer abstrakten Vorstel- lung des Göttlichen, gerade deshalb, weil er an der Idee eines Gottes festhält, wie wenig anthropomorph und wenig bestimmt man sich diesen auch denkt.
Es gelingt dem Monotheismus ebenso wenig, die infantile Egozentrizität ganz zu überwinden, und daraus lässt sich erklären, dass Figuren wie der ‚Sohn’’ und der ‚Vater”’ im Monotheismus einen so bedeutenden Platz einnehmen kön- nen. Damit verrät die Gottesvorstellung, dass sie durch Einschränkung des an- fänglichen Narzissmus entstanden ist.
Die Egozentrizität hat ihren ursprünglichen Charakter noch weiter verloren (und der Sinn für Abstraktion ist offenbar noch mehr zur Entwicklung gelangt), wenn die Vorstellung vom Göttlichen alle anthropomorphe Eigenart und alle Bestimmtheit verliert und das Göttliche zu einem Prinzip geworden ist, d.h. das Gemeinschaftliche in allen Dingen, das undefinierbar und unbestimmbar ist. Die Gefühlssphäre hat sich dann soweit ausgebreitet, dass alle Dinge darin auf- genommen sind. In diese Richtung gehen Pantheismus und Mystik. Aber auch hier sind Egozentrizität und Undifferenziertheit noch manifest, da doch eine Einsicht, die den eigenen Gefühlen entspringt, einer objektiven Eigenschaft des Weltalls zugeschrieben wird.
Aus dem Ausgeführten ergibt sich, dass wir, um das Bestehen des
26) Material bei J. Piaget, „La repres. du monde chez l’enf.”, S. XXIII, Kap. I.
Über die Enstehung religiöser Vorstellungen 443
Monotheismus zu erklären, die Theorie von dem Urtrauma der Menschheit, das durch unbewusste erbliche Erinnerung wirksam geblieben sein soll, nicht nötig haben. Das will indessen nicht sagen, dass das Entstehen des Monotheismus nicht mit der Entwicklung der Gattung zusammenhängt. Die Disposition eine abstrakte, von weniger Egozentrizität zeugende Gottesvorstellung zu bilden, mag wohl angeboren sein und hat sich vielleicht auf phylogenetischem Wege ent-
wickelt.
REFERATE
Psychiatrie-Neurologie
BAK, ROBERT: Über die dynamisch-strukturellen Bedingungen des primären
Beziehungswahns. Zschrft. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. Bd. 166, Heft 3.
Der Verfasser führt das Wahnerlebnis zurück auf einen Versuch, durch den Rückzug verlorengegangener ‚zwischenmenschlicher Beziehung’’ wieder herzustellen. Wenn aber die Regression sehr weit zurück geht, erfolgt überhaupt keine Wahnbildung mehr.
M. Grotjahn (Chicago)
BAK, ROBERT: Verständliche Zusammenhänge in einem Falle von paraki- netischer Manieriertheit. Schweizer Archiv für Neurologie und Psych. Vol. XLIII, Heft 1.
Die kardinalen Symptome der Schizophrenie sind Ich-Störung und ‚‚Dissoziation des Seelenlebens”. Introjektions- und Projektionsmechanismen sowie die Primärvorgänge Freud’s und die pathologische Isolierung der Inhalte resultieren in den anderen Sympto- men des Krankheitsbildes. Eine Krankengeschichte wird als Beispiel angeführt.
M. Grotjahn (Chicago)
BRUN, R.: Die Neurosen nach Schädeltraumen. Schweizer Archiv für Neurologie
und Psychiatrie. Band XLI, Heft 2, S. 269-358.
Die Abhandlung Brun’s stellt ein ausserordentlich gründliches Referat über das neuerlich so wichtige Problem der Neurosen nach Schädeltraumen dar. Der Autor be- handelt vorerst die Differentialdiagnose zwischen organischen und psychoneurotischen Zuständen nach Schädeltraumen. Er unterscheidet pseudoneurotische Zustände, die er als organische und funktionell-organische beschreibt. Organisch-psychische Störungen reversibler Art (Encephalosen) werden unterschieden von funktionell-organische Zu- ständen, die in Kommectionsneurosen und Schreckneurosen unterteilt werden. Als funktionell-organische Zustände nach Schädeltraumen werden jene Syndrome be- zeichnet, die ihre Entstehung einem direkt auf die vegetativen Hirnzentren einwirkendem cerebralem Schock verdanken. Dieser Schock kann Folge einer allgemeinen oder um- schriebenen Commbotio cerebri sein. Auch die Schreckneurose stellt sich der Autor als durch einen vorwiegend auf die Hirnrinde einwirkenden cerebralen Schock entstanden vor. Die funktionell-organische Neurose stellt nach Auffassung von Brun eine voll- kommene Analogie der von Freud als Aktualneurosen bezeichneten Zustandsbilder dar. Als Unfallneurosen sollen nur jene eigentliche Psychoneurosen bezeichnet werden, deren Symptome sich nicht von organischen Schädigungen ableiten lassen. Bezüglich
Referate 445
der Aetiologie dieser Psychoneurosen folgt der Autor psychoanalytischen Gesichts- punkten. — Die Arbeit enthält eine interessante Zusammenstellung statistischer Studien betreffend die Häufigkeit von Neurosen nach Schädeltraumen. — Das Literaturver- zeichnis enthält 530 Referenzen. Jeder, der sich mit dem Problem der Neurosen nach Schädeltraumen zu beschäftigen hat, wird Br un’s Abhandlung genau studieren müssen, die neurologische und psychopathologische Gesichtspunkte in gleicher Weise berück- sichtigt. E. Stengel (Bristol)
STÖRRING, ERNST: Die Störungen des Persönlichkeitsbewusstseins bei manisch-depressiven Erkrankungen. 1938. Basel — Leipzig, S.Karger. 5.60. Nach einer Einleitung, die den Gegenstand des Abhandlung weder definiert noch
abgrenzt, sondern zusammenträgt, was bisher andere Authoren darüber gesagt haben,
werden zwei verschiedende Arten von Störungen des Persönlichkeitsbewusstseins bei manisch-depressiven Erkrankungen unterschieden: die „reflexiv bedingte, abortive
Störung des Persönlichkeitsbewusstseins” (S.9.) und „‚dieintuitiven Störungen” (5. 10), die
wiederum als ‚‚Seinsmodifikation” oder als ‚‚Seinsverlust’’ aufgefasst werden können.
Das letzte Kapitel ‚‚Psychopathologische und klinische Charakteristik der Störungen
des Persönlichkeitsbewusstseins” gipfelt in der Zusammenfassung, dass in diesen
Störungen ‚der Ausdruck eines eigenartigen Zustandes vitalen Gestörtseins” zu er-
blicken sei.
Nach dem Beenden dieses Buches nimmt der Leser es noch einmal zur Hand, um ganz sicher zu sen, dass hier nicht ein Briefmarkensammler über einige kuriose Fehl-
drucke berichtet, sondern ein Greifswalder Professor über melancholische Patienten. M. Grotjahn (Chicago)
Psychoanalyse
DERI, FRANCES: On Sublimation. The Psychoanalytic Quarterly VIII, 3, 1939. Während die „‚prägenitalen” Organe, bezw. Organsysteme eine Leistung im Sinne der Selbsterhaltung zu erfüllen haben, die durch die Wirksamkeit ihrer Lustfunktion be- einträchtigt wird, steht der Genitalapparat als Abfuhrsystem kat exochen mit seiner Orgasmus-Fähigkeit nur im Dienste der Lust. — Neurotiker sind Menschen, deren Leistungs- und Genussfähigkeit herabgesetzt ist; d.h. der Insuffizienz des Genital- apparates, die die Grundlage der beeinträchtigten Genussfähigkeit ist, entspricht auf prägenitalem Gebiet die Leistungsstörung. Für beide Störungen ist das Festhalten (oder Wiedermobilisieren) prägenitaler sexueller Strebungen verantwortlich. Nur wenn das Luststreben im Wesentlichen sich dem Genitalapparat unterstellt hat, ist die Möglichkeit gegeben zu der Sublimierung genannten Ziel- und Objekt-ändernden Desexuali- sierung prägenitaler Strebungen. Genitale Sexualität kann nicht sublimiert werden; sie kann auf keine Weise anders als genital und objektgebunden verwendet werden. Wenn manche Neurotiker ihren Genitalapparat zu benutzen suchen, (verschobene) prägenitale Ziele zu erreichen, so muss solche Benutzung misslingen, und die treibende Energie solcher Benutzung ist nicht genital. „Im allgemeinen können wir sagen, je vollständiger die genitalen Strebungen Befriedigung erlangen, umso erfolgreicher können die prä- genitalen Energien sublimiert werden.” Die Psychoanalytiker haben sich allzu sehr
446 Referate
daran gewöhnt, „‚pragenital”’ und ‚‚infantil” gleichzusetzen. In Wahrheit aber spielt die prägenitale Energie als das Objekt aller Sublimierungen kulturell eine entscheidende Rolle. O. Fenichel (Los Angeles)
DEUTSCH, FELIX: The Associative Anamnesis. The Psychoanalytic Quarterly VII 3, 1939. Psychoanalytiker pflegen sich bei der Erhebung der Anamnese von durchschnitt-
lichen Psychiatern dadurch zu unterscheiden, dass sie von Beginn an die Methode der
freien Assoziation mitbenutzen; sie lassen so lange wie möglich den Patienten spontan reden und setzen mit ergänzenden Fragen erst ein, wenn er stockt. — Die gleiche Methode bewährt sich nun auch bei organischen Krankheiten, insbesondere bei dem soge- nannten „‚psycho-psysischen Grenzgebiet’’, wo es besonders wichtig ist, dass der Arzt die
Tatsache, dass sein Patient eine ‚‚psycho-somatische Einheit’ ist, unausgesetzt im Auge
behält. Es gelingt so, den Patienten dazu zu bringen, nicht nur das vorzubringen, wovon
er sich vorher vorgenommen hatte, es dem Arzt zu erzählen; er kommt dazu, die Ent- wicklungsgeschichte seiner Symptome und ihrer psychischen Zusammenhänge preis- zugeben. — Zwei ausführliche Beispiele erläutern dies. O. Fenichel (Los Angeles)
DEVEREUX, GEORGE: The Social and Cultural Implications of Incest Among
the Mohave Indians. The Psychoanalytic Quarterly VIII/4.
Der Ethnologe Devereux informiert in dieser Arbeit die Psychoanalytiker über inter- essantes Material der Mohave-Indianer, den Inzest betreffend. Es herrschen strenge Inzest-Verbote; und doch kommen sowohl in den Mythen als auch in der Folklore als endlich auch im wirklichen Alltag verschiedentlich Inzest-Handlungen vor. Es scheint aus dem Material hervorzugehen, dass diejenigen Individuen, die dem Inzest-Tabu nicht oder nur teilweise gehorchen, in viel geringerem Grade an der Gesamtheit des Stammes libidinös interessiert sind. Inzest wird am ehesten von Shamanen begangen, und der Shaman ist auch im allgemeinen ‚‚eine Person ausserhalb der Hauptader des sozialen Lebens der Mohave”. Das Inzest-Tabu ‚‚scheint besonders gegen den anti- sozialen Aspekt des Inzestes gerichtet”. O. Fenichel (Los Angeles)
ERICKSON, MILTON H., und KUBIE, LAWRENCE S.: The Permanent Relief of an Obsessional Phobia by Means of Communications with an Unsuspected Dual Personality. The Psychoanalytic Quarterly VIII/4.
Erickson and Kubie haben erst unlängst beschrieben, wie sie automatisches Schreiben in Hypnose zur Deutung und Heilung eines Falles von akuter Depression verwenden konnten.! In ähnlicher Weise gelang Ihnen abermals die Aufklärung eines Falles von Zwangs-Skrupeln und Phobie. Das interessanteste Detail in dieser Deutungs-und Heilungsgeschichte ist, dass die Patientin in der Hypnose spontan das Phänomen der „doppelten Persönlichkeit’’ zeigte, wovon im manifestierten Bilde der Neurose nichts zu bemerken gewesen war. Die Autoren schliessen an diese Beobachtung einige theoreti- sche Bemerkungen über die Erscheinungen der Spaltung der Persönlichkeit an.
O.Fenichel (Los Angeles)
1 Erickson and Kubie: The Use of Automatic Drawing in the Interpretation and Relief of a State of Acute Obsessional Depression. Psa. Qu. VII /p.443 Ref: diese Zeitschrift.
TEN DAN DE ns m Mm, . ..
Referate 447
ERICKSON, MILTON H.: Experimental Demonstrations of the Psychopathology
of Everyday Life. "The Psychoanalytic Quarterly VIII, 3, 1939,
Experimentelle Bestätigungen psychoanalytischer Einsichten sind aus didaktischen Gründen sehr erfreulich (weniger als ‚‚wissenschaftliche Beglaubigungen”; denn solcher bedarf die Psychoanalyse wirklich nicht). — Erickson machte eine Reihe interessanter hypnotischer Experimente, die die „Psychopathologie des Alltagslebens’”’ bestätigten. So suggerierte er Versuchspersonen, sich für gewisse Gebiete unbewusst zu interessieren, was sich dann in Fehlhandlungen und anderen Indizien bemerkbar machte; er sugge- rierte mit gleichem Erfolg geheim zu haltende Gefühlsregungen, die sich dennoch ver- rieten; er suggerierte Absurditäten, die die Versuchspersonen dann durch ‚‚Rationali- sierungen” zu verteidigen suchten; er suggerierte gewisse Amnesien und erhielt negative Halluzinationen, die dem Zwecke dienten, die Amnesien aufrechterhalten zu können; er implantierte künstliche ‚‚Komplexe”’; er schuf Situationen, in denen die Versuchsperson Ärger gegen den Hypnotiseur empfinden musste, und erzielte Verschiebungen dieses Ärgers auf dritte harmlose Personen. Das interessanteste Experiment bestand in einem suggerierten Wechsel der Identität der Versuchsperson, (‚Nach dem Erwachen werden Sie nicht mehr Dr. D., sondern Mr. Black sein’’) und erzielte das Resultat einer „‚künst- lichen Identifizierung”: die Versuchsperson schien tatsächlich all die aftektiven Reak- tionen zu zeigen, die Mr. Black unter den gleichen Umständen gezeigt hätte.
O. Fenichel (Los Angeles)
FROMM-REICHMANN, FRIEDA: Transference Problems in Schizophrenics.
Psa. Quarterly VIII/4.
Frau Fromm-Reichmann gibt eine interessante, mit Beispielen belegte Darstellung der Modifikationen der analytischen Technik, deren sich das Chestnut-Lodge Sani- tarium bei der Behandlung schizophrener Patienten bedient. Sie ist dabei im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den anderen Autoren, die über Psychoanalyse bei Psychosen schrieben. Niemals liegt die Schwierigkeit in einem vollkommenen Mangel an Über- tragung; vielmehr liegt sie einerseits. im stürmischen Charakter der Übertragungs- Aktionen, mit denen die vom Objektverlust bedrohten Patienten sich an den Analytiker anzuschliessen pflegen; andrerseits in der Bereitschaft der Kranken, bei Gelegenheiten, bei denen ein neurotischer Patient eine „‚negative Übertragung” produzieren würde, sich ganz zurückzuziehen. Das letztere ist besonders gefährlich, weil der Analytiker oft nicht wissen kann, welche Kleingkeiten in seinem Benehmen Anlass zu solcher negativer Reaktion der Patienten geben. Frau Fromm-Reichmann möchte das nicht „Unverläss- lichkeit” der Übertragung nennen. Sie schreibt: ‚Wenn die Reaktionen des Schizo- phrenen stürmische sind und offenbar weniger voraussehbar als die von Neurotikern, so meine ich, dass dies mehr unvermeidlichen Irrtümern ın den Annäherungs-Versuchen des Analytikers, die dieser selbst nicht als solche erkennt, zu verdanken ist, als der Un- verlässlichkeit der Affektreaktionen des Patienten”. Aber gerade die „Unvermeidlichkeit dieser „Irrtümer” hatten ja die Autoren, die von der „Unverlässlichkeit der schizo- phrenen Übertragung schrieben, im Auge! Wichtig sei daher besonders die ER periode, in der das Vertrauen des Patienten gewonnen wird. Es ıst überflüssig, en Kr tienten hinlegen zu lassen und ihn zu freien Assoziationen aufzufordern. „Es ist ” er nicht ein intellektuelles Begreifen des Schizophrenen, sondern eın einfühlendes Ver-
448 Referate
ständnis durch eine geschickte Handhabung des Verhältnisses zwischen Patient und Arzt, das den entscheidenen therapeutischen Faktor darstellt.’ O. Fenichel (Los Angeles)
RADO, SANDOR: Developments in the Psychoanalytic Conception and Treat- ment of the Neuroses. Psa. Quarterly VIIL/4.
In „Hemmung Sympton und Angst’”’ hat Freud den Stand des analytischen Wissens um die Ätiologie der Neurosen zusammengefasst und besonders die Bedeutung der Angst in diesem Zusammenhang klargestellt. Angst ist ein Affektzustand, der sich zunächst im ‚„traumatischen Zustand” automatisch einstellt. Später lernt das Ich diese Angst zur ‚‚Furcht” (‚‚Angstsignal”’) zu ‚„‚bändigen”, und für seine Zwecke — als Ein- leitung von Abwehraktionen im Falle der Gefahr — zu verwenden. Unter besonderen Umständen bleiben alte ‚‚„Angst-Bedingungen’” erhalten, Zustände von Triebspannung im eigenen Organismus werden als Gefahr empfunden, und es entstehen Konflikte zwischen den zur Abfuhr drängenden Trieben und dem ängstlichen Ich. Diese Kon- flikte sind die Basis der neurotischen Erscheinungen, die selbst teilweise als Folgen der Abwehraktionen des Ichs verständlich werden, zum grösseren Teil aber als Zeichen des Misslingens dieser Abwehraktionen, als Folgen eines Dennoch - Durchbruches des Triebes.
Rado nun hält den Umstand, dass die Angst in den Mittelpunkt der Neurosenlehre gerückt ist, für heuristisch entscheidend. Insofern die Angst eine Reaktion des Ichs auf eine Gefahr ist, hält er nun eine ‚‚egologische”’, d.h. eine das Ich in den Mittelpunkt stellende Theorie der Neurosen für gerechtfertigt. In Gefahrsituationen entwickelt der Organismus ganz allgemein bestimmte ‚„Notmassnahmen”, um die Gefahr zu meistern, zunächst den lähmenden Angstreflex, dann dessen ‚‚Bändigung’” zur zweckmässigen „Furcht”. Die Neurosen sind dadurch charakterisiert, dass solche ‚‚Bändigung’’ nie ganz gelingt, und dass der grosse Angstanfall bis zu einem gewissen Grade die Antwort auf Gefahr bleibt. Unter dem Druck dieser Angst „‚beginnt das Ich, obwohl es objektiv in keiner Gefahr ist, zu kämpfen, sich zurückzuziehen, sich in den Verteidigungszustand zu setzen und sich neu anzupassen, indem es sich selbst in überflüssigen Notmass- nahmen erschöpft.”
Die Neurose, meint Rado, besteht in einer Veränderung von Ich-Funktionen durch unzweckmässige Notmassnahmen des die Realität falsch beurteilenden Ichs. ‚Das neuro- tische Ich ist durch diese krankhaften Ängste gezwungen, überflüssige Notmassnahmen blindlings durchzuführen, die den Umfang und die Wirksamkeit seiner Funktionen beeinträchtigen.” Die Folge ist, dass das Ich auch die normale Herrschaft über seine Organe verliert, besonders im Bereich der Genitalfunktionen (Warum besonders hier? Ref.) und des sozialen Kontakts. Besonders bemerkenswert sind die neurotischen Selbstbeschädigungen, die der Überrest einer uralten ‚„Notmassnahme’” sind, nämlich des „Entledigungs-Prinzips”, das ein schmerzhaftes Organ und ebenso einen psychischen Schmerz ‚„abwerfen’’ möchte. — Die praktische Konsequenz aus diesen Auffassungen lautet: „Wir können die durch Angst geschädigten Funktionen nur zur Normalität zurückbringen, indem wir das Hindernis der Angst von ihrem Bereich entfernen. Dies bedeutet mehr ein ununterbrochenes Studium der gestörten Funktionen selbst als derjenigen Funktionen, die als Ersatz für sie eingesprungen sind, und ein sorgfältiges Aufdecken der vielfältigen Schädigungen, die die Angst ihrer Struktur zugefügt hat.”
Referate 449
Die Beachtung der Angst einerseits, die Fortschritte der psychoanalytischen Charak- terologie andererseits, haben unseres Erachtens die alte Formel ‚‚Neurose ist die Wieder- kehr des Verdrängten aus der Verdrängung” tatsächlich eingeschränkt. Manche neuroti- schen Erscheinungen sind zweifellos aus der Angst und der Anpassung des Ichs an die neuen Bedingungen zu erklären. Für andere neurotische Erscheinungen, und wahr- scheinlich für ihre Majorität, bleiben aber die alten Ansichten Freuds entscheidend, dass hier etwas Ichfremdes gegen den Willen des Ichs geschieht, — nicht eine fehlerhafte Anpassung, sondern ein Sieg ichfremder Kräfte über alle Anpassungsversuche. Diese Ansicht wird bei Ra do vollkommen vernachlässigt. Ausserdem scheint dem Ref., dass auch eine zweite grundlegende Auffassung der Psychoanalyse hier über Bord geworfen ist: der Umstand, dass es nicht nur äussere Gefahren sind, denen der Organismus zu begegnen hat, sondern dass durch besondere Umstände die Auffassung entstanden ist, dass die eigenen Triebe eine solche Gefahr darstellen. Es scheint, dass wir in der soge- nannten „‚egologischen” Theorie einen Versuch vor uns haben, die Freudsche Lehre von der Bedeutung der T'riebe überhaupt zu leugnen. O. Fenichel (Los Angeles)
STERBA, RICHARD: The Significance of Theatrical Performance. The Psychoan- alytic Quarterly VIII, 3, 1939. Eine allgemeine Funktion jeglichen Theaterspielens überhaupt ist die magische Weltenschöpfung. Die Schauspieler stehen auf der Bühne wahrhaft auf ‚‚Brettern, die die Welt bedeuten”. O. Fenichel (Los Angeles)
ZILBOORG, GREGORY: The Discovery ofthe Oedipus Complex (Episodes from
Marcel Proust). The Psychoanalytic Quarterly VIII, 3, 1939.
In einer ausserordentlich fesselnden Skizze schildert Zilboorg die schizoide, wenn nicht schizophrene, Persönlichkeit Marcel Proust's. Die Darstellung gipfelt in der Be- sprechung einer Novelle, die Proust im Jahre 1907 oder 1908 (einige Jahre nach dem Tode seiner Mutter) unter dem Titel „‚Sohnesgefühle eines Muttermörders’ schrieb. Darin finden die schweren Konflikte, die der „‚vollständige” Ödipus-Komplex Proust während seines ganzen Lebens bereitet hatte, ergreifenden literarischen Ausdruck. Dieser Ausdruck ist so offen, unentstellt und dabei von so unmittelbarer Gefühlsfülle, dass Zilboorg meint, sagen zu müssen, auch Proust habe in seiner Weise — unbeeinflusst von Freud, den er nicht kannte — den Ödipus-Komplex „‚entdeckt”’. Die Tatsache, dass Freud und Proust in nur wenigen Jahren Abstand eine so gewaltige Tatsache, die bis dahin der Menschheit verborgen gewesen war, in Worte fassen konnten, vergleicht Zilboorg anderen „‚Parallelentdeckungen” in der Geschichte der Wissenschaften, z.B. der Entdeckung des Planeten Neptun durch Adams und Sevarier, und anderen Parallel- entwicklungen von Kunst- und allgemeinen Kulturrichtungen. — Aber haben in diesem Sinne nicht auch Sophokles, Shakespeare und andere grosse Dichter, die in ganz anderen
Zeiten lebten als Freud, den Ödipus-Komplex entdeckt”? O. Fenichel (Los Angeles) 30
KORRESPONDENZBLATT
DER
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Redigiert vom Zentralsekretär Edward Glover
mo 1
X VI. Internationaler Psychoanalytıscher Kongress
Der Vorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung muss zu seinem Bedauern mitteilen, dass infolge der politischen Weltlage die Vorberei- tungen für den XVIten Kongress bis auf weiteres verschoben werden mussten.
Edward Glover
Tätigkeitsberichte der psychoanalytischen Ambulatorien (1938-1939)
Infolge von Verzögerungen, die in der Internationalen Weltlage ihre Ursache haben, ist es nicht möglich gewesen, alle ambulatorischen Berichte für das Jahr 1938-1939 zu erhalten. So hat man sich entschlossen, die bereits eingetroffenen Berichte zurückzuhalten und in dem ersten Heft des nächsten Jahrgangs einen vollständigen Bericht zu veröffentlichen.
Inhaltsverzeichnis des XXV. Bandes (1940)
Grete Bibring: Über eine orale Komponente bei männlicher Inversion
J. Breuer und Sigm. Freud: Zur 'T'heorie des hysterischen Anfalles
Dorothy Burlingham: Psychoanalytische RE» Mine an blinden Kindern . ; 17
Ludwig Eidelberg: ‚"Triehechidleeng ii Michabwehe
Paul Federn: Hysterie und Zwang in der Neurosenwahl
Sıgm. Freud: Abriss der Psychoanalyse .
Sıgm. Freud: Bibliographie und Inhaltsangaben der Ehen ER bis zu den Anfängen der Psychoanalyse PR OR EC
Sıgm. Freud: Das Medusenhaupt
Sigm. Freud: Die Ichspaltung im Abwalksogsahb,
Edward Glover: Über die durch den Krieg verursachten Rudtuhben in unserer psychischen Ökonomie I.
Imre Hermann: Zur 'Triebbesetzung von Ich a UBS
Eduard Hitschmann: Beiträge zur Ätiologie und Konstitution der Spermaterrhoe' ',..,2 a Sa ee Fr N
Wilhelm Hoffer: Analyse einer postencephalitischen Geistesstörung
M. Katan: Die Rolle des Wortes in der Schizophrenie und Manie
Rodolphe Loewenstein: Von den vitalen oder somatischen Trieben
Karl Mannheim: Über die durch den Krieg verursachten Änderungen in unserer psychischen Ökonomie II
5. Marjasch: Chronische Schweiger in ds Altsäree: !
Martha Mitnitzky-V ago: Ethos, Hypokrisie und Täbidohaunkält
Oskar Pfister: Lösung und Bindung von Angst und Zwang
Maria Weigl-Pisk: Zur Psychologie der Todfeindschaft .
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Ernest Jones: Moses und die monotheistische Religion
Hans Lamp I: Einige Analogien in der Verhaltungsweise von Vögeln 2 psychischen Mechanismen beim Menschen
Jules de Leeuwe: Über die Entstehung religiöser arkallungen. .
M. Levi Bianchini: Die psychoanalytische Traumtheorie in einem Distichon aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert .
Richard Sterba: Die Aggression in der Rettungsphantasie
NACHRUFE Ai Balearen Si (W. Hoffer)
Eugen Bleuler. (Ernest ones)
102 101
452 Inhaltsverzeichnis
REFERATE Psychiatrie — Neurologie:
Bak: Über die re e des primären Bezie-
hungswahrs . . i (Grotjahn) 444 — Verständliche Zusammenhänge i in einem Falle von parakinetischer Manie- u A WE (Grotjahn) 444 Brun: Die Neurosen "nach Schädelträumen Ana . ... (Stengel) 444 Störring: Die Störungen des Persönlichkeitsbewusstseins bei manisch- GHEeBIVEn JETRIRDAMBECH, 0 0 ee. na, (Grotjahn) 445 Psychoanalyse:
Bak: Regression of Ego-Orientation and Libido in Schizophrenia (Fenichel) 221 Barrett: Penis Envy and Urinary Control; Pregnancy Fantasies and Con-
stipation; Episodes in the Life of a Little Girl . . . . .. (Fenichel) 221 Bergler: Preliminary Phases of the Masculine Beating Fantasy (Fenichel) 222 Bischler: Schopenhauer and Freud: A Comparison . . . . (Fenichel) 223 Deri: On Sublimation . . u us =... (Femichel) #45 Deutsich, F.: The Associhtive Anambesis EN ter. Wenichel) 445 Devereux. The Social and Cultural Implications of Incest Among the
Mohave Indians. . uns ru (WBemichel) 446 Dunbar: Character and Syinptom Formation Wal, „u. (Penichel) 223
Eissler: On Certain Problems of Female Sexual Development (Fenichel) 224 Erickson: en Demonstrations of the Psychopathology of Every- day Kite, ln, . . (Fenichel) 446 Ericksonand Ku bi Le: The Use of Alıtomatic Drawing i in the Interpreta- tion and Relief of a State of Acute Obsessional Depression . . . (Fenichel) 224 — — — The Permanent Relief of an Obsessional Phobia by Means of Com- munications with an Unsuspected Dual Personality . . . . (Fenichel) 446 French: Defence and Synthesis in the Function of the Ego . (Fenichel) 225 Fromm-Reichmann: Transference Problems in Schizophrenics (Fenichel) 447 Grotjahn: Dream Observations in a T'wo-Year-Four-Months-Old Baby (Fenichel) 225 Herold: A Controversy about Techniue . . . . . . (Fenichel) 226 Isaacs: Criteria for Interpretation . . . . (Fenichel) 227 Lorand: Role of the Female Penis Phantasy i in , Male. Character Formation (Fenichel) 227 Oberndorf: On REN the Sense of Reality in States of Deperson- AUZBLION ' . & . . (Fenichel) 227 Payne: Some Observations on the Ego Development of the Fetishist (Fenichel) 228 Peck: Notes on Identification in a Case of Depression Reactive to the Death
of a Love Object . . . . (Fenichel) 228 Rado: Developments in the Psychoanalytic Conception and Treatment of the Neuroses . DR ER 2 1 REN
Saul: Psychoanalytic ‚Case Records a a ee dc ech 29
Inhaltsverzeichnis 453
Schoenberger: A Dream of Descartes: Reflections on the Unconscious
Determinants of the Sciences. . ee... (Fenichel) 229 Spring: Observations on World Destruction Fantasis . . . (Fenichel) 230 Sterba, R.: The Significance of Theatrical Performance . . (Fenichel) 449 Ster® Psychoanalytie a of and Therapy in the Border Line
Group of Neuroses. . . . (Fenichel) 230 Strachey: Preliminary Notes. une the Problem of Akhenaten (Fenichel) 231 Warburg: Suicide, Pregnancy, and Rebirth . . . . . (Fenichel) 231
Zachry: Contributions of Psychoanalysis to the Education of the Adolescent (Fenichel) 232
Zilboorg: The ac of the an RER ir ds from Marcel Proust) 7. 32 . . (Fenichel) 449
| KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG
Tätigkeitsberichte der psychoanalytischen Ambulatorien . . . Re. :- Berichte der Zweigvereinigungen . . N GR leer: Dr Berichte der Internationalen Unterrichstkommission ER ENTER. ©;
XVI. Internationaler Psychoanalytischer Kongress. . . » ee . 450
) N K
PSYCHIATRY
JOURNAL OF THE BIOLOGY AND THE
PATHOLOGY OF INTERPERSONAL RELATIONS
PUBLISHED BY THE
WILLIAM ALANSON WHITE PSYCHIATRIC FOUNDATION
EDITED BY THE PUBLICATIONS COMMITTEE
Harry Stack Sullivan ErnestEE. Hadley Thomas Harvey Gill
1835 Eye Street N.W. Washington D.C.
The journal is addressed not alone to psy- chiatrists and psychiatric research per- sonnel in the narrower sense, but to all serious students of human living in any of its aspects, and to those who must meet pressing social needs with current re- medial attempts. Its editorial policy, administered by the Publications Com- mittee of the Foundation, seeks to encourage mutual understanding through- out this large field. The journal is purposed to present authoritative but re- latively non-technical treatises, reports, surveys, reviews and abstracts pertaining to psychiatry as a basic orienting_dis- cipline having relations to all significant phases and problems of human life and to all human relations; this must include relevant biological and social science con- tributions, and occasional philosophical presentations.
The periodical is issued quarterly, Febru- ary, May, August, and November. New subscriptions and renewals are entered to begin with the first issue of the current volume.
A limited number of the issues of Volume 1, 1938, and Volume 2, 1939, are available at the subscription rate, Six Dollars yearly, with foreign postage Sixty Cents additional. Annual Volumes Bound in Buckram are at Seven Dollars and Seventy-five cents post- paid. Please make cheque payable to PSY- CHIATRY, A PUBLICATION.
BILL
SIGM. FREUD
Soeben im Erscheinen begriffen
SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS
INHALT
Vorwort. —Beiträge zu den ‚Studien über Hysterie‘‘—Aus einem nicht abgesendeten Brief an Josef Breuer—Zur Theorie des hysterischen Anfalles [Gemeinsam mit Josef Breuer]— Notiz „III‘“.—Eine erfüllte Traumahnung. Psychoanalyse und Telepathie Das Medusenhaupt. — | Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai |B’rith (1926).—Die Ichspaltung im Abwehrvorgang— Abriss der Psycho-
analyse—Some elementary lessons in Psycho-Analysis — Ergebnisse, Ideen, Probleme.
Sowohl als Band XVlIl der GESAMMELTEN WERKE
als auch als Einzelausgabe
Engl. sh: ı2s. 6d. Inkl. Porto 135. 2d.
IMAGO PUBLISHING CO., LTD.
EEE
SIGM. FREUD GESAMMELTE WERKE
Chronologisch geordnet in ı7 Bänden Jeder Band ist mit einem Index versehen.
SOEBEN ERSCHIENEN
*BAND VI: Der Witz und seine Beziehung zum Unbe- wussten
*#BAND IX. Totem und Tabu
tBAND Xl. Vorlesungen zur Einführung in die Psycho- analyse
tTBAND Xlll. Jenseits des Lustprinzips und andere Ar- beiten
*BAND XV. Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh- rung in die Psychoanalyse
*LEINEN ENGL.SH.10/6 GEHEFTET ENGL.SH.8/—
[LEINEN ENGL.SH.I3/- GEHEFTET ENGL.SH.IO/-
Die anderen Bande werden in kurzen Intervallen erscheinen
Prospekte und Auskünfte:
IMAGO PUBLISHING C° LT? 6 FITZROY SQUARE, LONDON, W.1
NEW SOUTHGATE, LONDON, N.II
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THE PSYCHOANALYTIC QUARTERLY
Ninth Year of Publication
THE QUARTERLY is devoted to original contributions in the field of theoretical, clinical and applied psychoanalysis, and is published four times a year.
CONTENTS OF VOLUMEIX, NO. 3 (1940)
In Memoriam: Martin W. Peck.—Bern- hard Berliner: Libido and Reality in Masochish.—Robert P. Knight: Intro- jection, Projection and Identification.—]. Kasanin: On Misidentification: A Clinical Note. —Smiley Blanton: Ana- lytical Study of a Cure at Lourdes.— Richard Sterba: The Dynamics of the Dissolution of the Transference Resistance. —Isador H. Coriat: The Structure of | the Ego.— Ludwig Jekelsand Edmund Bergler: Instinct Dualism in Dreams. — Book Reviews. — Abstracts. — Notes.
Editorial Board: Bertram D. LEewın, Gregory Zilboorg, Raymond Gosselin, Henry Alden Bunker, Lawrence S. Kubie, Carl Binger, Flanders Dunbar, A. Kardiner, Sandor Rado, Franz Alexander, Thomas M. French, Leon ]J. Saul, Helene Deutsch, Otto Fenichel, Geza Röheim.
Editorial communications should be sent to the Managing Editor, Room 1404, 57 West 57th Street, New York, N. Y.
Subscription price is $6.00; Foreign
subscriptions, $6.50; back volumes in
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THE PSYCHOANALYTIC QUARTERLY, INC.
372-374 BROADWAY, ALBANY, NEW YORK
TE 3 .. TE
THE INTERNATIONAL JOURNAL OF PSYCHO-ANALYSIS
Founded by ERNEST JONES
Edited by JAMES STRACHEY
With the assistance of MARJORIE BRIERLEY C. P. OBERNDORF SYLVIA PAYNE JOHN RICKMAN
This Journal is issued quarterly.
Besides Original Papers, Abstracts
and Reviews, it contains the Bulle-
tin of the International Psycho-
Analytical Association, of which it is the Official Organ.
Editorial communications should be sent to James Strachey, Lord’s Wood, Marlow, Bucks.
The Annual Subscription is 30s per volume of four parts.
The Journal is obtainable by sub- scription only, the parts not being sold separately.
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ee ai Aa rad A
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago Band XXV, Heft 3/4
(Ausgegeben im Oktober 1940)
INHALTSVERZEICHNIS -. Be SıGM. FREUD: Die Ichspaltung im Abwehrvorgang . | 2 P. FEDERN: Hysterie und Zwang in der Neurosenwahl .. . a W. HorFER: Analyse einer postencephalitischen Geistesstörung L. EIDELBERG: Triebschicksal und Triebabwehr . . . u | D. BURLINGHAM: Psychoanalytische Beobachtungen an blinden Kindern‘ Er | 297 Ä E. GLover: Über die durch den Krieg verursachten Anderen in unserer psychischen \ Ökonomie I 2 8 K. MANNHEIM: Über die durch den seh er Änderungen in unserer peyehißchen) Ökonomie II ie,
M. Mırnttzky-Vaco Ethos, Hypokrisie und Libidohaushalt eh 2 | = 356. E:
MITTEILUNGEN -UND DISKUSSIONEN 2:
R. STERBA: Die Aggression in der Rettungsphantasie . . . el 1397 5
H. LampL: Einige Analogien in der Verhaltungsweise von Vögeln uud poycischen R Mechanismen beim Menschen . . . . en
M. Levı BIancHint: Die psychoanalytische Traumtheorie in einem Distichon aus RE dritten” R Ä pe nachchristlichen Jahrhundert : .. 0.0.2.0... .2. wur a
E. Jones: Moses und die monotheistische Religion . . . . 2. 2... 418 =
J. DE LeEuwe: Über die Entstehung religiöser Vorstellungen . . . . . x a. . =,
REFERATE | A
PSYCHIATRIE — NEUROLOGIE Bak: Über die dynamisch-strukturellen Bedingungen des primären Beziehungswahns (Grotjahn) 444. — Bak: Verständliche Zusammenhänge in einem Falle von parakinetischer Manierierthet (Grotjahn) 444. — Brun: Die Neurosen nach Schädelträumen (Stengel) 444. — Siörring: Die - Störungen des Persönlichkeitsbewusstseins bei manisch-depressiven Er kanEOneE (Gr 445.
PSYCHOANALYSE | , Deri: On Sublimation (Fenichel) 445. — Deutsch, F.: The Associative Anamnesis (F eniehei 446.— 0 = Devereux: The Social and Cultural Implications of Incest Among the Mohave Indianx Beniche) 446. — Erickson und Kubie: The Permanent Relief of an Obsessional Phobia by Means of Com- Bi: x. munications with an Unsuspected Dual Personality (Fenichel) 446. — Erickson: Experimental | Demonstrations of the Psychopathology of Everyday Life (Fenichel) 447. — Fromm-Reic . Transference Problems in Schizophrenics (Fenichel) 447. — Rado: Developments in the Psychoan- | En alytic Conception and Treatment of the Neuroses (Fenichel) 448.—Sterba, R.: T'he Significance of Theatrical Performance (Fenichel) 449. — Zilboorg: The Discovery of the Oedipus Complex (Epi- sodes from Marcel Proust (Fenichel) 449.
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XVl. Internationaler Psychoanalytischer Kongress 450. — Tätigkeitsberichte der psychoanalytischen FE Ambulatorien 450. — Inhaltsverzeichnis 451. |
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