ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG _ DER. PSYCHOANALYSE AUF DE GEISTESWISSENSCHAFTEN |

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ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO- ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHARTEN

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD

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SCHRIFTLEITUNG: I.1. DR. OTTO RANK /DR. HANNS sAcHs 1913

Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Von SIGM. FREUD. IH. Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken. k

s ist ein notwendiger Mangel der Arbeiten, welhe Gesidts-

punkte der Psychoanalyse auf Ihemen der Geisteswissen-

schaften anwenden wollen, daß sie dem Leser von beiden zu wenig bieten müssen. Sie beschränken sih darum auf den Charakter von Änregungen, sie machen dem Fadhmanne Vorscläge, die er bei seiner Arbeit in Erwägung ziehen soll. Dieser Mangel wird sih aufs äußerste fühlbar machen in einem Aufsatz, welcher das ungeheure Gebiet dessen, was man Animismus nennt, behan= deln will‘.

Animismus im engeren Sinne heißt die Lehre von den Seelen- vorstellungen, im weiteren die von geistigen Wesen überhaupt. Man untersheidet noh Animatismus, die Lehre von der Belebtheit der uns unbelebt ersheinenden Natur, und reiht hier den Animalismus und Manismus an. Der Name Animismus, früher für ein bestimmtes philosophishes System verwendet, scheint seine gegenwärtige Be- deutung durh E. B. Tylor erhalten zu haben‘.

Was zur Aufstellung dieser Namen Anlaß gegeben hat, ist die Einsicht in die höchst merkwürdige Natur- und Weltauffassung

i Die geforderte Zusammendrängung des Stoffes bringt auh den Verzicht auf eingehende Literaturnachweise mit sih. An deren Stelle stehe der Hinweis auf die bekannten Werke von Herbert Spencer, J. G. Frazer, A. Lang, E.B. Tylor und W. Wundt, aus denen alle Behauptungen über Animismus und Magie ent- nommen sind. Die Selbständigkeit des Verfassers kann sih nur in der von ihm getroffenen Auswahl der Materien sowie der Meinungen kundgeben.

2 E. B. Tylor, Primitive Culture. I. Bd., p. 425, 4. Aufl., 1903. W. Wundt, Mythus und Religion, II. Bd., p. 173, 1906

Imago IV/1 1

2 Sigm. Freud

der uns bekannten primitiven Völker, der historishen sowohl wie der jetzt noch lebenden. Diese bevölkern die Welt mit einer Unzahl von geistigen Wesen, die ihnen wohlwollend oder übelgesinnt sind, sie schreiben diesen Geistern und Dämonen die Verursahung der Naturvorgänge zu und halten niht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auc die unbelebten Dinge der Welt für durch sie belebt. Ein drittes und vielleicht wichtigstes Stück dieser primitiven »Natur- philosophie« erscheint uns weit weniger auffällig, weil wir selbst noch nicht weit genug von ihm entfernt sind, während wir dodh die Exi- stenz der Bester sehr eingeschränkt haben und die Naturvorgänge heute durch die Annahme unpersönlicher physikalischer Kräfte erklären. Die Primitiven glauben nämlih an eine ähnliche »Beseelung« aud der menschlichen Einzelwesen. Die menshlihen Personen enthalten Seelen, welhe ihren Wohnsitz verlassen und in andere Menschen einwandern können, diese Seelen sind die Träger der geistigen Tätig- keiten und bis zu einem gewissen Grad von den ER ade hängig. Ursprünglih wurden die Seelen als sehr ähnlih den Indi= viduen vorgestellt und erst im Laufe einer langen Entwicklung haben sie die Charaktere des Materiellen bis zu einem hohen Grad von »Vergeistigung«s abgestreift!.

Die Mehzzahl der Autoren neigt zu der Annahme, daß diese Seelenvorstellungen der ursprüngliche a des animistischen Systems sind, daß die Geister nur selbständig gewordenen Seelen entsprechen, und daß auch die Seelen von Tieren, Pflanzen und Dingen in Ana= logie mit den Menscenseelen gebildet wurden.

Wie sind die primitiven Menschen zu den eigentümlih dua-= listischen Grundanshauungen gekommen, auf denen dieses animistische System ruht? Man meint, Fed die Beobahtung der Phänomene des Schlafes (mit dem Traum) und des ihm so ähnlichen Todes, und durh die Bemühung, sih diese jeden Einzelnen so nahe angehenden Zustände zu erklären. Vor allem müßte das Todes- problem der Ausgangspunkt der Theoriebildung geworden sein. Für den Primitiven wäre die Fortdauer des Lebens die Unsterblih- keit das Selbstverständlihe. Die Vorstellung des Todes ist etwas spät und nur zögernd Rezipiertes, sie ist ja auh für uns nod inhaltsleer und unvollziehbar. Über den Anteil, den andere Beobadh- tungen und Erfahrungen an der Gestaltung der animistishen Grund- lehren gehabt haben mögen, die über Traumbilder, Schatten, Spiegel- bilder u. dgl., haben sehr lebhafte, zu keinem Abschluß gelangte Diskussionen stattgefunden ?.

Wenn der Drimitive auf die sein Nachdenken anregenden Phänomene mit der Bildung der Seelenvorstellungen reagierte und diese dann auf die Objekte der Außenwelt übertrug, so wird sein Verhalten dabei als durchaus natürlich und weiter nicht rätselhaft

u .

ı Wundt, I. c., IV. Kapitel »Die Seelenvorstellungen«. 2 Vgl. außer bei Wundt und H. Spencer die orientierenden Artikel der Encyclopedia Britannica 1911 (Animism, Mythology usw.). |

Animismus, Magie und Allmadht der Gedanken 3

beurteilt. Wundt äußert angesichts der Tatsache, daß sih die näm- lihen animistischen Vorstellungen bei den verschiedensten Völkern und zu allen Zeiten übereinstimmend gezeigt haben, dieselben »seien das notwendige psycologishe Erzeugnis des mythenbildenden Be- wußtseins und der primitive Animismus dürfe als der geistige Aus- druk des menshlihen Naturzustandes gelten, insoweit dieser überhaupt für unsere Beobachtung erreichbar ists!. Die Rechtfertigung der Belebung des Unbelebten hat bereits Hume in seiner »Natural History of Religions gegeben, indem er schrieb: »There is an uni- versal tendency among mankind to conceive all beings like themselves and to transfer to every object those qualities with which they are familiarly acquainted and of which they are intimately cönscious«?.

Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt niht nur die Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das Ganze I Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte, zu begreifen. Die Menschheit hat, wenn wir den Autoren folgen wollen, drei solher Denksysteme, drei große Weltanshauungen im Laufe der Zeiten hervorgebracht: Die animistische (mythologisce), die religiöse und die wissenscaftlihe. Unter diesen ist die erst- geschaffene, die des Animismus, vielleiht die folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die das Wesen der Welt restlos erklärt. Diese erste Weltanshauung der Menschheit ist nun eine psycdologische Theorie. Es geht über unsere Absicht hinaus zu zeigen, wie viel von ihr noch im Leben der Gegenwart nachweisbar ist, entweder entwertet in der Form des Äberglaubens, oder lebendig als Grund- lage unseres Sprechens, Glaubens und Philosophierens.

Es greift auf jene Stufenfolge der drei Weltanshauungen zurük, wenn gesagt wird, daß der Änimismus selbst noch keine Religion ist, aber die Vorbedingungen enthält, auf denen sich später die Religionen aufbauen. Es ist auh augenfällig, daß der Mythus auf animistishen Voraussetzungen ruht, die Einzelheiten der Be- ziehung von Mythus und ÄAnimismus ersheinen aber als in wesent- lihen Bl, ungeklärt.

2

Unsere psychoanalytishe Arbeit wird an anderer Stelle ein= setzen. Man darf nicht annehmen, daß die Menshen sih aus reiner spekulativer Wißbegierde zur Schöpfung ihres ersten Welt- systems aufgeschwungen haben. Das praktishe Bedürfnis, sich der Welt zu bemäctigen, muß seinen Anteil an dieser Bemühung haben. Wir sind darum nicht erstaunt zu erfahren, daß mit dem animisti- schen System etwas anderes Hand in Hand geht, eine Anweisung, wie man verfahren müsse, um der Menschen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu werden. Diese Anweisung, welche unter dem Namen »Zauberei und Magie«s bekannt ist, will

fc, 9: 19% ® Bei Tylor, Primitive Culture, I. Bd., p. 477.

1?

4 Sigm. Freud

S. Reinach! die Strategie des Animismus heißen, ih würde es vor- ziehen, sie mit Hubert und Mauß der Technik zu vergleichen ®. Kann man Zauberei und Magie begrifflih voneinander trennen? Es ist möglih, wenn man sich mit einiger Bigenmädtigkeit über die Schwankungen des Sprahgebrauhes hinwegsetzen will. Dann ist Zauberei im wesentlichen die Kunst, die Geister zu beein- flussen, indem man sie behandelt wie unter gleihen Bedingungen die Menschen, also indem man sie beschwictigt, versöhnt, sich geneigt macht, sie einschüdtert, ihrer Macht beraubt, sie seinem Willen unterwirft, durch dieselben Mittel, die man für lebende Menschen wirksam gefunden hat. Magie ist aber etwas anderes, sie sieht im Grunde von den Geistern ab und sie bedient sich besonderer Mittel, niht der banalen psycologishen Methodik. Wir werden leiht erraten, daß die Magie das ursprünglichere und bedeutsamere Stük der animistishen Technik ist, denn unter den Mitteln, mit denen Geister behandelt werden sollen, befinden sih auch magische®, und die Magie findet ihre Anwendung auch in Fällen, wo die Ver- geistigung der Natur, wie uns scheint, nicht durchgeführt worden ist. Die Magie muß den mannigfaltigsten Absichten dienen, die Naturvorgänge dem Willen des Menscieh unterwerfen, das Indivi- duum gegen Feinde und Gefahren shützen und ihm die Madt eben, seine Feinde zu schädigen. Die Prinzipien aber, auf deren oraussetzung das magishe Tun beruht oder vielmehr das Prinzip der Magie -——- ist so augenfällig, daß es von allen Autoren erkannt werden mußte. Man kann es am knappsten, wenn man von dem beigefügten Werturteil absieht, mit den Worten E.B. Tylors ausdrücken: »mistaking an ideal connexion for a real ones. An zwei Gruppen von magishen Handlungen wollen wir diesen Charakter erläutern. | Eine der verbreitetsten magischen Prozeduren, um einem Feind zu schaden, besteht darin, sih ein Ebenbild von ihm aus beliebigem Material zu mahen. Auf die Ähnlichkeit kommt es dabei wenig an. Man kann auch irgendein Objekt zu seinem Bild sernennens. Was man dann diesem Ebenbild antut, das stößt auh dem gehaßten Urbild zu, an welcher Körperstelle man das erstere verletzt, an derselben erkrankt das letztere. Man kann dieselbe magishe Technik anstatt in den Dienst privater Feindseligkeit auch in den der Frömmig= keit stellen und so Göttern gegen böse Dämonen zu Hilfe kommen. Ih zitiere nah Frazert: »Jede Nacht, wenn der Sonnengott Ra (im alten Ägypten) zu seinem Heim im glühenden Westen herabstieg, hatte er einen bitteren Kampf gegen eine Schar von Dämonen zu

1 Cultes, Mythes et Religions, T. II, Introduction, p. XV, 1909,

2 Anne sociologique, VII. Bd., 1904.

s Wenn man einen Geist durh Lärm und Geschrei versheudt, so ist dies eine rein zauberishe Handlung; wenn man ihn zwingt, indem man sich seines Namens bemäkdtigt, so hat man Magie gegen ihn gebraudt.

4 The magic art. Il, p. 67.

Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken 5

bestehen, die ihn unter der Führung des Erzfeindes Apepi über- fielen. Er kämpfte mit ihnen die ganze Nacht und häufig waren die Mäcdte der Finsternis stark genug, noh des Tages dunkle Wolken an den blauen Himmel zu senden, die seine Kraft shwädhten und sein Licht abhielten. Um dem Gotte beizustehen, wurde in seinem Tempel zu Theben täglich folgende Zeremonie aufgeführt: Es wurde aus Wachs ein Bild seines Be Apepi gemadt, in der Gestalt eines sheußlihen Krokodils oder einer langgeringelten Schlange und der Name des Dämons mit grüner Tinte darauf geschrieben. In ein Papyrusgehäuse gehüllt, auf dem eine ähnlihe Zeichnung an- gebraht war, wurde dann diese Figur mit schwarzem Haar um- wickelt, vom Priester angespuct, mit einem Steinmesser bearbeitet und auf den Boden geworfen. Dann trat er mit seinem linken Fuß auf sie und endlich verbrannte er sie in einem von gewissen Pflanzen genährten Feuer. Nachdem ÄApepi in solcher Weise beseitigt worden war, geschah mit allen Dämonen seines Gefolges das nämlice. Dieser Gottesdienst, bei dem gewisse Reden hergesagt werden mußten, wurde nicht nur morgens, mittags und abends wiederholt, sondern auch jederzeit dazwishen, wenn ein Sturm wütete, wenn ein heftiger Regenguß niederging oder shwarze Wolken die Sonnen- scheibe am Himmel verdeckten. Die bösen Feinde verspürten die Züh- tigung, die ihren Bildern widerfahren war, als ob sie sie selbst erlitten hätten, sie flohen und der Sonnengott triumphierte von neuem.!«

Aus der unübersehbaren Fülle ähnlih begründeter magischer Handlungen will ih nur noch zweierlei hervorheben, die bei den primitiven Völkern jederzeit eine große Rolle gespielt haben und zum Teil im Mythus und Kultus höherer Entwiclungsstufen er- halten geblieben sind, nämlih die Arten des Regen- und des Fructbarkeitszaubers. Man erzeugt den Regen auf magischem Wege, indem man ihn imitiert, etwa auh noch die ihn erzeugenden Wolken oder den Sturm nadhahmt. Es sieht aus, als ob man »regnen spielen« wollte. Die japanishen Ainos z. B. machen Regen in der Weise, daß ein Teil von ihnen Wasser aus großen Sieben ausgießt, während ein anderer eine große Schüssel mit Segel und Ruder aus- stattet, als ob sie ein Schiff wäre, und sie so um Dorf und Gärten herumzieht. Die Fruchtbarkeit des Bodens sicherte man sich aber auf magishe Weise, indem man ihm das Schauspiel eines menschlichen Geschlechtsverkehres zeigte. So pflegen ein Beispiel anstatt un- endlih vieler in manden Teilen Javas zur Zeit des Heran- nahens der Reisblüte Bauer und Bäuerin sih nachts auf die Felder zu begeben, um durch das Beispiel, das sie ihm geben, den Reis zur u anzuregen?. Dagegen fürdhtete man von ver=

ı Das biblische Verbot, sih ein Bild von irgend etwas Lebendem zu maden, entstammte wohl keiner prinzipiellen Ablehnung der bildenden Kunst, sondern sollte der von der hebräischen Religion verpönten Magie ein Werkzeug entziehen. Frazer, I. c., p. 87, Note.

2 The magic art. II, p. 98.

6 Sigm. Freud

pönten inzestuösen Gescledtsbeziehungen, daß sie Mißwuhs und Unfruchtbarkeit des Bodens erzeugen würden!.

Audh gewisse negative Vorschriften magische Vorsichten also sind dieser ersten Gruppe einzureihen. Wenn ein Teil der Bewohner eines Dayakdorfes auf Wildschweinjagd ausgezogen ist, so dürfen die Zurücgebliebenen unterdes weder Öl noch Wasser mit ihren Händen berühren, sonst würden die Jäger weiche Finger bekommen und die Beute aus ihren Händen schlüpfen lassen?, Oder, wenn ein Gilyakjäger im Walde dem Wilde nadhstellt, so ist es seinen Kindern zu Hause verboten, Zeichnungen auf Holz oder im Sand zu macden. Die Pfade im dichten Wald könnten sonst so vershlungen werden wie die Linien der Zeichnung, so daß der Jäger den Weg nad Hause nicht findet®.

Wenn in diesen letzten wie in so vielen anderen Beispielen magisher Wirkung die Entfernung keine Rolle spielt, die Telepathie also als selbstverständlih hingenommen wird, so wird auch uns das Verständnis dieser Eigentümlichkeit der Magie keine Schwierigkeit bereiten.

Es unterliegt keinem Zweifel, was an all diesen Beispielen als das Wirksame betrachtet wird. Es ist die Ähnlichkeit zwischen der vollzogenen Handlung und dem erwarteten Geschehen. Frazer nennt darum diese Art der Magie imitative oder homöo- pathische. Wenn ih will, daß es regne, so braudhe ich nur etwas zu tun, was wie Regnen aussieht oder an Regnen erinnert. In einer weiteren Phase der Kulturentwicklung wird man anstatt dieses magi= shen Regenzaubers Bittgänge zu einem Gotteshaus veranstalten und den dort wohnenden Heili en um Regen anflehen. Endlich wird man aud diese religiöse Tednik aufgeben und dafür versuchen, durh welche Einwirkungen auf die Atmosphäre Regen erzeugt werden kann.

In einer anderen Gruppe von magishen Handlungen kommt das Prinzip der Ähnlichkeit nicht mehr in Betracht, dafür ein anderes, welhes sih aus den nachstehenden Beispielen leicht ergeben wird.

Um einem Feinde zu schaden, kann man sich aud eines anderen Verfahrens bedienen. Man bemädtigt sich seiner Haare, Nägel, Abfallstoffe oder selbst eines Teiles seiner Kleidung und stellt mit diesen Dingen etwas Feindseliges an. Es ist dann gerade so, als hätte man sich der Person selbst bemädtigt, und was man den von der Person herrührenden Dingen angetan hat, muß ihr selbst wider- fahren. Zu den Fesäntlidsen Beständieilei einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name, wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Madt über den Träger des Namens erworben. Daher die merk- würdigen Vorsihten und Beschränkungen im Gebrauhe der Namen,

ı Davon ein Nadhklang im König Oedipus des Sophokles. 2 The magic art. I, p. 120. BE CD ZZ, |

Animismus, Magie und Allmadhıt der Gedanken 7

die in dem Aufsatz über das Tabu gestreift worden sindt, Die Ähnlichkeit wird in diesen Beispielen offenbar ersetzt durh Zu- sammengehörigkeit. |

Der Kannibalismus der Primitiven leitet seine sublimere Moti= vierung in ähnlicher Weise ab. Indem man Teile vom Leib einer Person durh den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sih auch die Bigenshaften an, welche dieser Person angehört haben. Daraus erfolgen dann Vorsihten und Beschränkungen der Diät unter besonderen Umständen. Eine Frau wird in der Gravidität vermeiden, das Fleisch gewisser Tiere zu genießen, weil deren unerwünschte Eigenschaften, z. B. die Feigheit, so auf das von ihr genährte Kind übergehen könnten. Es macht für die magishe Wirkung keinen Unterschied, auh wenn der Zusammenhang ein bereits aufgehobener ist, oder wenn er überhaupt nur in einmaliger, bedeutungsvoller Berührung bestand. So ist z. B. der Glaube an ein magisches Band, welches das Schicksal einer Wunde mit dem der Waffe verknüpft, durh weldhe sie hervorgerufen wurde, unverändert durh Jahr- tausende zu verfolgen. Nass ein Melanesier sih des Bogens be- mächtigt hat, durch den er verwundet wurde, so wird er ihn sorg- fältig an einem kühlen Ort verwahren, um so die Entzündung der

unde niederzuhalten. Ist der Bogen aber im Besitz der Feinde geblieben, so wird er gewiß in nächster Nähe eines Feuers auf- gehängt werden, damit die Wunde nur ja recht entzündet werde und brenne, Plinius rät in seiner Nat. Hist. XXVIIL, wenn man bereut, einen anderen verletzt zu haben, solle man auf die Hand spucken, welce die Verletzung verschuldet hat; der Schmerz des Werleizeeh werde dann sofort gelindert. Francis Bacon erwähnt in seiner Natural History den allgemein giltigen Glauben, daß das Salben einer Waffe, welche eine Wunde geschlagen hat, diese Wunde selbst heilt. Die englishen Bauern sollen noh heute nach diesem Rezept handeln, und wenn sie sich mit einer Sichel geschnitten haben, das Instrument von da an sorgfältig rein halten, ni die Wunde niht in Eiterung gerate. Im Juni des Jahres 1902, berichtet eine lokale englishe Wocenscrift, stieß sih eine Frau namens Matilda Henry in Norwid zufällig einen eisernen Nagel in die Sohle. Ohne die Wunde untersuhen zu lassen oder auh nur den Strumpf aus- zuziehen, hieß sie ihre Tochter den Nagel gut einölen, in der Er- Be en daß ihr dann nichts geschehen könne, Sie selbst starb einige lage später an Wundstarrkrampf?, infolge dieser vershobenen Äntisepsis.

Die Beispiele der letzteren Gruppe erläutern, was Frazer als kontagiöse Magie von der imitativen sondert. Was in ihnen als wirksam gedaht wird, ist nicht mehr die Ähnlichkeit, sondern der Zusammenhang im Raum, die Kontiguität, wenigstens die vorgestellte Kontiguität, die Erinnerung an ihr Vorhandensein, Da

i Imago, I, p. 317 und ff. ? Frazer, The magic art. I, p. 201—203.

8 Sigm. Freud

aber Ähnlichkeit und Kontiguität die beiden wesentlihen Prinzipien der ÄAssoziationsvorgänge sind, stellt sih als Erklärung für all die Tollheit der magishen Vorschriften wirklih die Herrschaft der Ideenassoziation heraus. Man sieht, wie zutreffend sih Tylors oben zitierte Charakteristik der Magie erweist: mistaking an ideal connexion for a real one, oder wie es fast gleihlautend Frazer ausgedrückt hat: men mistook the order of their ideas for the order of nature, and hence imagined that the control which they have, or seem to have, over their thoughts, permitted them to exercise a corresponding control over things. !

Es wird dann zunächst befremdend wirken, daß diese ein- leuchtende Erklärung der Magie von manchen Autoren als unbefrie- digend verworfen werden konnte?. Bei näherer Überlegung muß man aber dem Einwand Recht geben, daß die Assoziationstheorie der Magie bloß die Wege aufklärt, welche die Magie geht, aber niht deren eigentlihes Wesen, nämlih nicht das Mifgeiständiis, welhes sie psydhologishe Gesetze an die Stelle natürliher setzen heißt. Es bedarf hier offenbar eines dynamishen Moments, aber während die Suhe nah einem solhen die Kritiker der Frazerschen Lehre in die Irre führt, wird es leicht, eine befriedigende Aufklärung der Magie zu geben, wenn man nur die Ässoziationstheorie der- selben weiterführen und vertiefen will.

Betrahten wir zunächst den einfacheren und bedeutsameren Fall der imitativen Magie. Nach Frazer kann diese allein geübt werden, während die kontagiöse Magie in der Regel die imitative voraussetzt?. Die Motive, welche zur Ausübung der Magie drängen, sind leiht zu erkennen, es sind die Wünsche des Menschen. Wi brauhen nun bloß anzunehmen, daß der primitive Mensch ein groß- artiges Zutrauen zur Madt seiner Wünsche hat. Im Grund muß all das, was er auf magishem Wege herstellt, doh nur darum geschehen, weil er es will. So ist anfänglich bloß sein Wunsch das Betonte.

Für das Kind, welches sih unter analogen psydhishen Be- dingungen befindet, aber motorish noch nicht leistungsfähig ist, haben wir an anderer Stelle die Annahme vertreten, daß es seine Wünshe zunächst wirklich halluzinatorisch befriedigt, indem es die befriedigende Situation durch die zentrifugalen Erregungen seiner Sinnesorgane herstellen läßt?. Für den erwachsenen Primitiven ergibt sih ein anderer Weg. An seinem Wunsh hängt ein motorisher Impuls, der Wille, und dieser der später im Dienst der Wunsc-= ai das Antlitz der Erde verändern wird wird jetzt

! The magic art. I, p. 420 ff.

2 Vgl. den Artikel Magic (N. W.T.) in der 11. Auflage der Encyclo- pedia Britannica.

1.0, D. 98

4 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psyhishen Gescehens. Jahrb. f. psychoanalyt. Forschungen, III. Bd., 1912, p. 2.

Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken 9

dazu verwendet, die Befriedigung darzustellen, so daß man sie gleihsam durch motorishe Halluzination erleben kann. Eine sole Darstellung des befriedigten Wunsces ist dem Spiele der Kinder völlig vergleihbar, welches bei diesen die rein sensorishe Technik der Befriedigung ablöst. Wenn Spiel und imitative Darstellung dem Kinde und dem Primitiven genügen, so ist dies nicht ein Zeichen von Bescheidenheit in unserem Sinne oder von Resignation infolge Erkenntnis ihrer realen Ohnmadt, sondern die wohl verständliche Folge der überwiegenden Wertung ihres Wunscdes, des von ihm abhängigen Willens und der von ihm eingeschlagenen Wege. Mit

der Zeit verschiebt sih der psydhishe Akzent von den Motiven '

der magischen Handlung auf deren Mittel, auf die Handlung selbst. Vielleiht sagen wir richtiger, an diesen Mitteln erst wird ihm die Übershätzung seiner psydhishen Akte evident. Nun hat es den Ansdein, als wäre es nichts anderes als die magishe Handlung, die kraft ihrer Ähnlichkeit mit dem Gewünscten een Geschehen erzwingt. Auf der Stufe des animistishen Denkens gibt es nod keine Gelegenheit, den wahren Sachverhalt objektiv zu erweisen, wohl aber auf späteren, wenn alle solhe Prozeduren noch gepflegt

werden, aber das psycishe Phänomen des Zweifels als Ausdruck | einer Verdrängungsneigung bereits möglih isf. Dann werden die

Menschen zugeben, daß die Beshwörungen von Geistern nichts leisten, wenn niht der Glaube an sie dabei ist, und daß aud die Er des Gebets versagt, wenn keine Frömmigkeit dahinter wirkt!.

Die Möglichkeit einer auf der Kontiguitätsassoziation beruhenden kontagiösen Magie wird uns dann zeigen, daß sih die psychische Wertshätzung vom Wunsh und vom Willen her auf alle psydi- shen Akte, die dem Willen zu Gebote stehen, ausgedehnt hat. Es besteht also jetzt eine allgemeine Übershätzung der seelishen Vor= gänge, d. h. eine Einstellung zur Welt, welhe uns nach unseren Einsihten in die Beziehung von Realität und Denken als soldhe Überschätzung des letzteren erscheinen muß. Die Dinge treten gegen deren Vorstellungen zurük, was mit den letzteren vorgenommen wird, muß sih audh an den ersteren ereignen. Die Relationen, die zwishen den Vorstellungen bestehen, werden auh zwischen den Dingen vorausgesetzt. Da das Denken keine Entfernungen kennt, das räumlich Entlegenste wie das zeitlih Verschiedenste mit Leichtig- keit in einen a, zusammenbringt, wird auch die magische Welt sich telepathish über die räumliche Distanz hinaussetzen und ehemaligen Zusammenhang wie gegenwärtigen behandeln. Das Spiegel- bild der Innenwelt muß im animistishen Zeitalter jenes andere Welt- bild, das wir zu erkennen glauben, unsihtbar maden.

Heben wir übrigens hervor, daß die beiden Prinzipien der Assoziation Ähnlichkeit und Kontiguität in der höheren Ein-

i Der König in »Hamlet« (II, 4): »My words fly up, my thoughts remain below; Words without thoughts never to heaven go«.

10 Sigm. Freud

heit der Berührung zusammentreffen. Kontiguitätsassoziation ist Berührung im direkten, Ähnlichkeitsassoziation solhe im übertragenen Sinne. Eine von uns noch nicht erfaßte Identität im psychischen Vorgang wird wohl durh den Gebrauh des nämlichen Wortes für beide Arten der Verknüpfung verbürgt. Es ist derselbe Ulmfang ehe Berührung, der sih bei der Analyse des Tabu heraus- stellte.

Zusammenfassend können wir nun sagen: das Prinzip, welches , die Magie, die Technik der animistishen Denkweise regiert, ist das

der »Allmaht der Gedanken«.

3,

Die Bezeihnung »Allmadht der Gedanken« habe ih von einem hochintelligenten, an Zwangsvorstellungen leidenden Manne ange-= nommen, dem es nad seiner Herstellung durh psycdoanalytische Behandlung möglih geworden ist, auch seine Tüctigkeit und Ver- ständigkeit zu erweisen? Er hatte sich dieses Wort geprägt zur Begründung aller jener sonderbaren und unheimlihen Geschehnisse, die ihn wie ler mit seinem Leiden Behaftete zu verfolgen schienen. Dachte er eben an eine Person, so kam sie ihm audh schon entgegen, als ob er sie beschworen hätte, erkundigte er sich plötz=- lih nah dem Befinden eines lange vermißten Bekannten, so mußte er hören, daß dieser eben Beer drn sei, so daß er glauben konnte, er habe sih ihm telepathish bemerkbar gemacht, stieß er gegen einen Fremden eine nicht einmal ganz ernst gemeinte Verwünschung aus, so durfte er erwarten, daß dieser bald darauf starb und ihn mit der Verantwortlihkeit für sein Ableben belastete. Von den meisten dieser Fälle konnte er mir im Laufe der Behandlung selbst mitteilen, wie der täushende Anschein entstanden war, und was er selbst an Veranstaltungen hinzugetan hatte, um sich in seinen abergläubischen Erwartungen zu bestärken?. Alle Zwangskranken sind in solher Weise, meist gegen ihre bessere Einsicht, abergläubisc.

Der Fortbestand der Allmaht der Gedanken tritt uns bei der Zwangsneurose am deutlichsten entgegen, die Ergebnisse dieser primitiven Denkweise sind hier dem Bewußtsein am nächsten. Wir müssen uns aber davor hüten, darin einen auszeihnenden Charakter dieser Neurose zu erblicken, denn die analytishe Untersuhung det das nämlihe bei den anderen Neurosen auf. Bei ihnen allen ist nicht die Realität des Erlebens, sondern die des Denkens für die Symptom- bildung maßgebend. Die Neurotiker leben in einer besonderen Welt, “in welcher, wie ih es an anderer Stelle ausgedrückt habe, nur die

i Vgl. die vorige Abhandlung dieser Reihe, Imago, 1.

2 Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Jahrb. f. psychoanalyt. u. psychopath. Forschungen, I. Bd., 1909.

3 Es scheint, daß wir den Charakter des »Unheimlihen« solhen Eindrücken verleihen, welche die Allmaht der Gedanken und die animistishe Denkweise über- haupt bestätigen wollen, während wir uns bereits im Urteil von ihr abgewendet haben.

Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken 11

»neurotishe Währungs gilt, d. h. nur das intensiv Gedacdte, mit Affekt Vorgestellte ist bei ihnen wirksam, dessen Übereinstimmung mit der äußeren Realität aber nebensädhlich. Der Hysteriker wieder- holt in seinen Änfällen und fixiert durh seine Symptome Erlebnisse, die sih nur in seiner Phantasie so zugetragen haben, allerdings in letzter Auflösung auf wirklihe Ereignisse zurückgehen oder aus solhen aufgebaut worden sind. Das Schuldbewußtsein der Neuro- tiker würde man ebenso schlecht verstehen, wenn man es als unbe- rehtigt abweisen, wie wenn man es auf reale Missetaten zurück- führen wollte. Bin Zwangsneurotiker kann von einem Schuldbewußt- sein gedrückt sein, das einem Massenmörder wohl anstünde, er wird sich dabei gegen seine Mitmenschen als der rücksichtsvollste und skru= pulöseste Gienosse benehmen und seit seiner Kindheit so benommen haben. Doc ist sein Shuldgefühl begründet, es fußt auf den inten- siven und häufigen Todeswünschen, die sich in ihm unbewußt gegen seine Mitmenshen regen. Es ist begründet, insoferne unbewußte Gedanken und nicht absictlihe Taten in Betraht kommen. So erweist sih die Allmaht der Gedanken, die Übershätzung der seelishen Vorgänge gegen die Realität, als unbeschränkt wirksam im Affektleben des Neurotikers und in allen von diesem ausgehenden Folgen. Unterzieht man ihn aber der psychoanalytishen Behandlung, welhe das bei ihm Unbewußte bewußt madt, so wird er nidt

lauben können, daß Gedanken frei sind, und wird sich jedesmal Finchden, böse Wünsche zu äußern, als ob sie infolge dieser Äußerun in Erfüllung gehen müßten. Durch dieses Verhalten wie durch seinen im Leben betätigten Aberglauben zeigt er uns aber, wie nahe er dem Wilden steht, der durch seine bloßen Gedanken die Außen=- welt zu verändern meint.

Die primären Zwangshandlungen dieser Neurotiker sind eigentlih durchaus magisher Natur. Sie sind, wenn nicht Zauber, so doh Gegenzauber, zur Abwehr der Unheilserwartungen bestimmt, mit denen die Neurose zu beginnen pflegt. So oft ih das Geheim- nis zu durchdringen vermochte, zeigte es sich, daß diese Unheils- erwartung den Tod zum Inhalt hatte. Das Todesproblem steht nad Schopenhauer am Eingang jeder Philosophie, wir haben gehört, daß auch die Bildung der Seelenvorstellungen und des Dämonen- glaubens, die den Animismus kennzeihnen, auf den Eindruck zurück- geführt wird, den der Tod auf den Menschen macht. Ob diese ersten Zwangs- oder Scutzhandlungen dem Prinzip der Ähnlichkeit, respektive des Kontrastes folgen, ist schwer zu tern denn sie werden unter den Bedingungen der Neurose gewöhnlih durch die Verschiebung auf irgendein Kleinstes, eine an sih höchst gering- fügige Aktion entstellt!. Auc die Schutzformeln der Zwangsneurose finden ihr Gegenstük in den Zauberformeln der Magie. Die Ent=- wiclungsgeshidhte der Zwangshandlungen kann man aber beschreiben,

ı Ein weiteres Motiv für diese Verschiebung auf eine kleinste Aktion wird sih aus den nachstehenden Erörterungen ergeben.

12 Sigm. Freud

indem man hervorhebt, wie sie, vom Sexuellen möglichst weit ent- fernt, als Zauber gegen böse Wünsche beginnen, um als Ersatz für verbotenes sexuelles Tun, das sie möglichst getreu nachahmen, zu enden.

Wenn wir die vorhin erwähnte Entwiklungsgeshichte der mensclihen Weltanshauungen annehmen, in weldher die animi- stishe Phase von der religiösen, diese von der wissenschaft- lichen abgelöst wird, wird es uns niht schwer, die Schicksale der »Allmaht der Gedanken«s durh diese Phasen zu verfolgen. Im animistishen Stadium schreibt der Mensh sich selbst die All- macdt zu, im religiösen hat er sie den Göttern abgetreten, aber nicht ernstlih auf sie verzichtet, denn er behält sich vor, die Götter durch mannigfadhe Beeinflussungen nah seinen Wünschen zu lenken. In der wissenscaftlihen Weltanshauung ist kein Raum mehr für die Allmadhıt des Menschen, er hat sich zu seiner Kleinheit bekannt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendig- keiten unterworfen. Aber in dem Vertrauen auf die Madt des Menscengeistes, welher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, lebt ein Stück des primitiven Allmadhtglaubens weiter.

Bei der Rükverfolgung der Entwicklung libidinöser Strebungen im Einzelmenshen, von ihrer Gestaltung in der Reife bis zu den ersten Anfängen der Kindheit, hat sich zunächst eine wichtige Unterscheidung ergeben, die in den »Drei Abhandlungen zur Sexual- theorie 1905« eiselot ist. Die Äußerungen der sexuellen Triebe sind von Anfang an zu erkennen, aber sie richten sich zuerst noch auf kein äußeres Objekt. Die einzelnen Triebkomponenten der Sexualität arbeiten jede für sih auf Lustgewinn und finden ihre Befriedigung am eigenen Körper. Dies Stadium heißt das des Autoerotismus, es wird von dem der Objektwahl abgelöst.

Es hat sih bei weiterem Studium als zweckmäßig, ja als unabweisbar gezeigt, zwishen diese beiden Stadien ein drittes ein= zushieben, oder, wenn man so will, das erste Stadium des Auto- erotismus in zwei zu zerlegen. In diesem Zwischenstadium, dessen Bedeutsamkeit sih der Forshung immer mehr aufdrängt, haben die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer Einheit zusammen-= gesetzt und auh ein Objekt gefunden, dies Objekt ist aber kein äußeres, dem Individuum fremdes, sondern es ist das eigene, um diese Zeit konstituierte Ih. Mit Rücksiht auf später zu beob- achtende pathologishe Fixierungen dieses Zustandes heißen wir das neue Stadium das des Narzißmus. Die Person verhält sich so, als wäre sie in sich selbst verliebt, die Ichtriebe und die libidi- nösen Wünsche sind für unsere Analyse noch nicht voneinander zu sondern.

Wenngleih uns eine genügend scharfe Charakteristik dieses narzißtishen Stadiums, in welchem die bisher dissoziierten Sexual-

Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken 13

triebe zu einer Einheit zusammentreten und das Ih als Objekt besetzen, noch nicht möglich ist, so ahnen wir doc bereits, daß die narzißtishe Organisation nie mehr völlig aufgegeben wird. Der Mensch bleibt in gewissem Maße narzißtish, auh nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat, die Objektbesetzungen, die er vornimmt, sind gleihsam Emanationen der beim Ih ver- bleibenden Libido und können wieder in dieselbe zurückgezogen werden. Die psychologisch so merkwürdigen Zustände von Veikiebrd heit, die Normalvorbilder der Psychosen, entsprehen dem höchsten Stande dieser Emanationen im Vergleih zum Niveau der Icliebe.

Es liegt nun nahe, die von uns aufgefundene Hochschätzung der psyhishen Aktionen die wir von unserem Standpunkt aus eine Übershätzung heißen bei den Primitiven und Neurotikern in Beziehung zum Narzißmus zu bringen und sie als wesentliches Teilstük desselben aufzufassen. Wir würden sagen, das Denken ist bei den Primitiven noh in hohem Maße sexualisiert, daher rührt der Glaube an die Allmaht der Gedanken, die unerschütterliche Zuversiht auf die Möglichkeit der Weltbeherrshung und die Unzu- . gänglichkeit gegen die leiht zu machenden Erfahrungen, welche den Menschen über seine wirkliche Stellung in der Welt belehren könnten. Bei den Neurotikern ist einerseits ein beträctlihes Stük dieser primitiven Einstellung konstitutionell verblieben, anderseits wird durh die bei ihnen eingetretene Sexualverdrängung eine neuerliche Sexualisierung der Denkvorgänge herbeigeführt. Die psychischen Folgen müssen in beiden Fällen dieselben sein, bei ursprünglicder, wie bei regressiv erzielter libidinöser Überbesetzung des Denkens: intellektueller Narzißmus, Allmaht der Gedanken.

Wenn wir im Nachweis der Allmaht der Gedanken bei den Primitiven ein Zeugnis für deren Narzißmus erbliken dürfen, so können wir den Versuh wagen, die Entwicklungsstufen der mensh= lihen Weltanshauung mit den Stadien der libidinösen Entwicklung des Einzelnen in Vergleih zu ziehen. Es entspriht dann zeitlich wie inhaltlih die animistishe Phase dem Narzißmus, die religiöse | Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durh die Bindung an | die Eltern charakterisiert ist, und die wissenscaftlihe Phase hat ihr | volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht®.

Nur auf einem Gebiete ist auh in unserer Kultur die »Äll- macht der Gedanken« erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In

ı It is almost an axiom with writers on this subject, that a sort of Solipsism or Berkleianism (as Professor Sully terms it as he- finds it in the Child) operates in the savage to make him refuse to recognise death as a fact. Marett, Pre-animistic religion, Folklore, XI. Bd., 1900, p. 178.

® Es soll hier nur angedeutet werden, daß der ursprünglihe Narzißmus des Kindes maßgebend für die Auffassung seiner Charakterentwiklung ist und die Annahme eines primitiven Minderwertigkeitsgefühles bei demselben ausschließt.

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14 Sigm. Freud

der Kunst allein kommt es nodh vor, daß ein von Wünschen ver- zehrter Mensh etwas der Befriedigung ähnlihes macht, und daß dieses Spielen dank der künstlerischen Illusion Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spriht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist vielleicht bedeutsamer, als er zu sein be= ansprudt. Die Kine die gewiß nicht als Part pour l’art begonnen hat, stand ursprünglih im Dienste von Tendenzen, die heute zum großen Teile erloshen sind. Unter diesen lassen sich mandherlei magishe Absichten vermuten!.

4.

Die erste Weltauffassung, welhe den Menschen gelang, die ', des Animismus, war also eine psychologische. Sie wi noch keiner Wissenschaft zu ihrer Begründung, denn Wissenschaft setzt erst ein, wenn man eingesehen hat, daß man die Welt nicht kennt und darum nah Wegen suchen muß, um sie kennen zu lernen. Der Animismus war aber dem primitiven Menschen natürlih und selbstgewiß, er wußte, wie die Dinge der Welt sind, nämlich so wie der Mensch sich selbst verspürte. W

zu finden, daß der primitive Mensch Strukturverhältnisse seiner eigenen Psyche in die Außenwelt verlegte?, und dürfen anderseits den Versuh machen, was der Animismus von der Natur der Ding: lehrt, in die menschlihe Seele zurüczuversetzen.

Die Technik des Animismus, die Magie, zeigt uns am deut- lihsten und unvermengtesten die Absicht, den realen Dingen die Gesetze des Seelenlebens aufzuzwingen, wobei Geister noch keine Rolle spielen müssen, während auch Geister zu Objekten magiscer Behandlung genommen werden können. Die Voraussetzungen der Magie sind also ursprüngliher und älter als die Geisterlehre, die den Kern des Animismus bildet. Unsere psychoanalytishe Betrah- tung trifft hier mit einer Lehre von R. R. Marett zusammen, welhe ein präanimistisches Stadium dem Animismus vorher=, gehen läßt, dessen Charakter am besten durh den Namen Anima= tismus (Lehre von der allgemeinen Belebtheit) angedeutet wird.

ı S, Reinach, L’art et la magie in der Sammlung Cultes, Mythes et Religions, I. Bd., p. 125 bis 136. Reinach meint, die primitiven Künstler, welche uns die eingeritzten oder aufgemalten Tierbilder in den Höhlen Frankreichs hinter- lassen haben, wollten niht »Gefallen erregen«, sondern »beshwören«s. Er erklärt es so, daß sich diese Zeichnungen an den dunkelsten und unzugänglihsten Stellen der Höhlen befinden, und daß die Darstellungen der gefürchteten Raubtiere unter ihnen fehlen. »Les modernes parlent souvent, par hyperbole, de la magie du pinceau ou du ciseau d’un grand artiste et, en general, de la magie de l’art. Entendu au sens propre, qui est celui d’une contrainte mystique exerc&e par la volonte de ’homme sur d’autres volontes ou sur les choses, cette expression n’est plus admissible, mais nous avons vu qu’elle £&tait autrefois rigouresement vraie, du moins dans l’opinion des artistes« (p. 136).

2 Durch sogenannte endopsyhishe Wahrnehmung erkannte.

ir sind also vorbereitet darauf,

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Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken 15

Es ist wenig mehr aus der Erfahrung über den Präanimismus zu sagen, da man noch kein Volk angetroffen hat, welches der Geister- vorstellungen entbehrte!.

Während die Magie noch alle Allmaht den Gedanken vor= °

behält, hat der Animismus einen Teil dieser Allmaht den Geistern

.

abgetreten und damit den Weg zur Bildung einer Religion einge= '

schlagen. Was soll nun den Primitiven zu dieser ersten Verzicht- leistung bewogen haben? Kaum die Einsiht in die Unrichtigkeit seiner Voraussetzungen, denn er behält ja die magishe Technik bei.

Die Geister und Dämonen sind, wie an anderer Stelle ange- deutet wurde?, nichts als die Projektionen seiner Gefühlsregungen?; er madt seine Affektbesetzungen zu Personen, bevölkert mit ihnen die Welt, und findet nun seine inneren seelishen Vorgänge außer seiner wieder, ganz ähnlich wie der geistreihe Paranoiker Schreber, der die Bindungen und Lösungen seiner Libido in den Scicksalen der von ihm kombinierten »Gottesstrahlen« gespiegelt fand‘.

Wir wollen hier wie bei einem früheren Anlasse® dem Pro- blem ausweihen, woher die Neigung überhaupt rührt, seelische Vorgänge nah außen zu projizieren. Der einen Annahme dürfen wir uns aber getrauen, daß diese Neigung dort eine Verstärkung erfährt, wo die Projektion den Vorteil einer psychischen Erleichterung mit sich bringt. Bin solcher Vorteil ist mit Bestimmtheit zu erwarten, wenn die nah Allmadht strebenden Regungen in Konflikt mitein- ander geraten sind, dann können sie offenbar nicht alle allmäctig werden. Der Krankheitsprozeß der Paranoia bedient sich tatsächlich des Mechanismus der Projektion, um solhe im Seelenleben ent- standene Konflikte zu erledigen. Nun ist der vorbildlihe Fall eines solchen Konfliktes der zwischen den beiden Gliedern eines Gegen- satzpaares, der Fall der ambivalenten Einstellung, den wir in der Situation des Trauernden beim Tode eines teuern Angehörigen eingehend zergliedert haben®. Ein solher Fall wird uns besonders geeignet scheinen, die Schöpfung von Projektionsgebilden zu moti=- vieren. Wir treffen hier wiederum mit Meinungen der Autoren zusammen, welche die bösen Geister für die erstgeborenen unter den Geistern erklären und die Entstehung der orale en aus dem Eindruck des Todes auf die Überlebenden ableiten. Wir machen nur den einen Untershied, daß wir niht das intellektuelle

! R. R. Marett, Pre=animistic religion, Folklore, XI. Bd., Nr. 2, London 1900. Vgl. Wundt, Mythus und Religion, II. Bd., p. 171 und ff.

2 Imago, I. Bd., Tabu, p. 324.

® Wir nehmen an, daß in diesem frühen narzißtischen Stadium Besetzungen aus libidinöser und anderen Erregungsquellen vielleicht noch ununterscheidbar mit- einander vereinigt sind.

* Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. 1903. Freud, Psydoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. f. psychoanalyt. Forsch., III. Bd., 1911.

> Vgl. die letztzitierte Abhandlung über Schreber, p. 59.

® Abhandlung über das Tabu, Imago, I. Bd., p. 322 und ff.

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16 Sigm. Freud

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Problem voranstellen, welches der Tod dem Lebenden aufgibt, son- dern die zur Erforshung treibende Kraft in den Gefühlskonflikt verlegen, in welchen diese Situation den Überlebenden stürzt.

Die erste theoretische Leistung des Menshen die Schöpfung der Geister würde also aus derselben Quelle entspringen wie die ersten sittlihen Beschränkungen, denen er sih unterwirft, die Tabu- vorschriften. Doch soll die Gleichheit des Ursprungs nichts für die Gleichzeitigkeit der Entstehung präjudizieren. Wenn es wirklich die Situation des Überlebenden gegen den Toten war, die den primi- tiven Menschen zuerst nachdenklih machte, ihn nötigte, einen Teil seiner Allmacht an die Geister abzugeben und ein Stück der freien Willkür seines Handelns zu opfern, so wären diese Kultur- shöpfungen eine erste Anerkennung der Avayxn, die sich dem mensclihen Narzißmus widersetzt. Der Primitive würde sih vor der Übermaht des Todes beugen mit derselben Geste, durdh die er diesen zu verleugnen sceint.

Wenn wir den Mut zur weiteren Ausbeutung unserer V oraus= setzungen haben, können wir fragen, welches wesentlihe Stück unserer psycdologishen Struktur in der Projektionsshöpfung der Seelen und Geister seine Spiegelung und Wiederkehr findet. bs ist dann schwer zu bestreiten, daß die primitive Seelenvorstellung, soweit sie auh noch von der späteren völlig immateriellen Seele absteht, doh das Wesen derselben teilt, also Person oder Ding als eine Zweiheit auffaßt, auf deren beide Bestandteile die bekannten Eigen- schaften und Veränderungen des Ganzen verteilt sind. Diese ursprüng=- lihe Dualität nach einem ÄAusdruk von H. Spencer! ist bereits identisch mit jenem Dualismus, der sih in der uns geläufigen Trennung von Geist und Körper kundgibt, und dessen unzerstör= bare sprahlihe Äußerungen wir z. B. in der Beschreibung des Ohnmädtigen oder Rasenden: er sei nicht bei sich, erkennen?.

Was wir so, ganz ähnlih wie der Primitive, in die äußere Rea-= lität projizieren, kann kaum etwas anderes sein als die Erkenntnis eines Zustandes, in dem ein Ding den Sinnen und dem Bewußtsein gegeben, präsent ist, neben weldhem ein anderer besteht, in dem dasselbe latent ist, aber wiederersheinen kann, also die Koexistenz von Wahrnehmen und Erinnern, oder, ins Allgemeine ausgedehnt, die Existenz unbewußter Seelenvorgänge neben den bewußten®. Man könnte sagen, der »Geist« einer Bern oder eines Dinges redu= ziere sich in letzter Analyse auf deren Fähigkeit erinnert und vorgestellt zu werden, wenn sie der Wahrnehmung entzogen sind.

Man wird nun freilih weder von der primitiven, noh von der heutigen Vorstellung der »Seeles erwarten dürfen, daß ihre

ı Im I. Band der »Prinzipien der Soziologie«.

2 H. Spencer, |. c., p. 179.

3 Vgl. meine kleine Schrift: A note on the Unconscious in Psyho-Analysis aus tar ee of the Society for Psydical Researh, Part LXVI], vol. XXVI, London 1912.

Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken 17

Abgrenzung vom anderen Teile die Linien einhalte, welche unsere heutige Wissenshaft zwischen der bewußten und der unbewußten Seelentätigkeit zieht. Die animistische Seele vereinigt vielmehr Be- stimmungen von beiden Seiten in sich. Ihre Flüctigkeit und Beweg- lichkeit, ihre Fähigkeit, den Körper zu verlassen, dauernd oder vorübergehend von einem anderen Leib Besitz zu nehmen, dies sind Charaktere, die unverkennbar an das Wesen des Bewußtseins erinnern. Aber die Art, wie sie sih hinter der persönlichen Erscei- nung verborgen hält, mahnt an das Unbewußte, die Unveränder- lihkeit und Ulnzerstörbarkeit schreiben wir heute nicht mehr den bewußten, sondern den unbewußten Vorgängen zu, und diese betrahten wir auch als die eigentlichen Träger der seelischen Tätigkeit.

Wir sagten vorhin, der Änimismus sei ein Denksystem, die erste vollständige Theorie der Welt, und wollen nun aus der psycdoanalytischen Auffassung eines solhen Systems gewisse Fol- gerungen ableiten. Die Erfahrung jedes unserer Tage > uns die Haupteigenshaften des »Systems« immer von neuem vorführen. Wir träumen in der Naht und haben es erlernt, am Tage den Traum zu deuten. Der Traum kann, ohne seine Natur zu ver= leugnen, wirr und zusammenhangslos erscheinen, er kann aber auch im Gegenteil die Ordnung der Eindrüke eines Erlebnisses nadh- ahmen, eine Begebenheit aus der anderen ableiten und ein Stück seines Inhaltes auf ein anderes beziehen. Dies scheint ihm besser oder schlechter gelungen zu sein, fast niemals gelingt es so voll- kommen, daß nicht irgendwo eine Absurdität, ein Riß im Gefüge zum Vorschein käme. Wenn wir den Traum der Deutung unter- ziehen, erfahren wir, daß diese inkonstante und ungleichmäßige An- ordnung der Traumbestandteile auch etwas für das Verständnis des Traumes recht Unwictiges ist. Das Wesentlihe am Traum sind die Traumgedanken, die allerdings sinnreih, zusammenhängend und geordnet sind. Aber deren Ordnung ist eine ganz andere als die von uns am manifesten Trauminhalt erinnerte. I Zusammenhang der Traumgedanken ist aufgegeben worden und kann dann entweder überhaupt verloren bleiben oder durh den neuen Zusammenhang des Trauminhalts ersetzt werden. Fast regelmäßig hat, außer der Verdihtung der Traumelemente, eine Umordnung derselben statt- gefunden, die von der früheren Anordnung mehr oder weniger unab- hängig ist. Wir sagen abscließend, das, was durh die Traumarbeit aus dem Material der Traumgedanken geworden ist, hat eine neue Beeinflussung erfahren, die sogenannte »ssekundäre Bearbeitungs, deren Absicht offenbar dahingeht, die aus der Traumarbeit resul- tierende Zusammenhangslosigkeit und Unverständlihkeit zugunsten eines neuen »Sinnes« zu beseitigen. Dieser neue, durch die sekun- däre Bearbeitung erzielte Sinn ist niht mehr der Sinn der Traum- gedanken.

Die sekundäre Bearbeitung des Produktes der Traumarbeit ist

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18 ee Sigm. Freud

ein vortrefflihes Beispiel für das Wesen und die Ansprüche eines Systems. Eine intellektuelle Funktion in uns fordert Vereinheit- lihung, Zusammenhang und Verständlihkeit von jedem Material der Wahrnehmung oder des Denkens, dessen sie sich bemäcdhtigt, und scheut sich nicht einen unrichtigen Zusammenhang herzustellen, wenn sie infolge besonderer Umstände den richtigen nicht erfassen kann. Wir kennen solhe Systembildungen niht nur vom Traume, sondern audh von den Phobien, dem Zwangsdenken und den Formen des Wahnes. Bei den Wahnerkrankungen (der Paranoia) ist die Systembildung das Sinnfälligste, sie beherrsht das Krankheitsbild, sie darf aber auch bei den anderen Formen von Neuropsydosen nicht übersehen werden. In allen Fällen können wir dann nachweisen, daß eine Umordnung des psydischen Materials zu einem neuen Ziel stattgefunden hat, oft eine im Grunde recht gewaltsame, wenn sie nur unter dem Gesichtspunkt des Systems begreiflih ersceint. Es wird dann zum besten Kennzeihen der Systembildung, daß jedes der Ergebnisse desselben mindestens zwei Motivierungen auf- decken läßt, eine Motivierung aus den Voraussetzungen des Systems also eventuell eine wahnhafte und eine versteckte, die wir aber als die eigentlih wirksame, reale, anerkennen müssen.

Zur Erläuterung ein Beispiel aus der Neurose: In der Ab- handlung über das Tabu erwähnte ih eine Kranke, deren Zwangs- verbote die schönsten Übereinstimmungen mit dem Tabu der Maori zeigen!, Die Neurose dieser Frau ist auf ihren Mann gerichtet; sie gipfelt in der Abwehr des unbewußten Wunsches nach seinem Tod. Ihre manifeste, systematishe Phobie gilt aber der Erwähnung des Todes überhaupt, wobei ihr Mann völlig ausgeschaltet ist und niemals Gegenstand bewußter Sorge wird. Eines Tages hört sie den Mann den Auftrag erteilen, seine stumpf gewordenen Rasiermesser sollen in einen bestimmten Laden zum Schleifen gebracht werden. Von einer eigentümlihen Unruhe getrieben, macht sie sich selbst auf den Weg nad diesem Laden und fordert nach ihrer Rückkehr von dieser a sierun von ihrem Manne, er müsse diese Messer für alle Zeiten aus dem Wege räumen, denn sie habe entdeckt, daß neben dem von ihm genannten Laden sich eine Niederlage von Särgen, Trauerwaren u. dgl. befindet. Die Messer seien durch seine Absiht in eine unlösbare Verbindung mit dem Gedanken an den Tod geraten. Dies ist nun die systematische Motivierung des Ver- bots. Wir dürfen siher sein, daß die Kranke auh ohne die Ent= dekung jener Nachbarshaft das Verbot der Rasiermesser nad Hause gebraht hätte. Denn es hätte dazu hingereiht, daß sie auf dem Wege nach dem Laden einem Leichenwagen, einer Person in Trauerkleidung oder einer Trägerin eines Leihenkranzes begegnete. Das Netz der Bedingungen war weit genug ausgespannt, um die Beute in jedem Falle zu fangen, es lag dann an ihr, ob sie es

ı Imago, Bd. I, p. 221.

Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken 19

zuziehen wollte oder niht. Man konnte mit Sicherheit feststellen, daß sie für andere Fälle die Bedingungen des Verbots nicht aktivierte. Dann hieß es eben, es sei ein »besserer Tag« gewesen. Die wirkliche Ursahe des Verbots der Rasiermesser war natürlih, wie wir mit Leichtigkeit erraten, ihr Sträuben gegen eine Lustbetonung der Vor- stellung, der Mann könne sich mit dem geschärften Rasiermesser den Hals abschneiden.

In ganz ähnlicher Weise vervollständigt und detailliert sich eine Gehhemmung, eine Abasie oder Agoraphobie, wenn es diesem Symptom einmal gelungen ist, sih zur Vertretung eines unbewußten Wunsches oder der Abyehn gegen denselben aufzushwingen. Was sonst noh an unbewußten Phantasien und an wirksamen Reminis- zenzen in dem Kranken vorhanden ist, drängt diesem einmal eröff- neten Ausweg zum symptomatishen Ausdruck zu und bringt sih in zweckmäßiger Neuordnung im Rahmen der Gehstörung unter. Es wäre also ein vergeblihes, eigentlih ein törichtes Beginnen, wenn man das symptomatishe Gefüge und die Einzelheiten, z. B. einer Agoraphobie aus der Grundvoraussetzung derselben verstehen wollte. Alle Konsequenz und Strenge des Zusammenhanges ist doch nur scheinbar. Schärfere Beobahtung kann, wie bei der Fassaden- bildung des Traumes, die ärgsten Inkonsequenzen und Willkürlih- keiten der Symptombildung aufdecken. Die Einzelheiten einer solhen systematishen Phobie entnehmen ihre reale Motivierung versteckten Determinanten, die mit der Gehhemmung nichts zu tun haben müssen, und darum fallen auch die Gestaltungen einer solchen Phobie bei verschiedenen Personen so mannigfaltig und so widersprehend aus.

Suchen wir nun den Rükweg zu dem uns beschäftigenden System des Animismus, so scließen wir aus unseren Einsichten über andere psychologishe Systeme, daß die Motivierung einer ein=- zelnen Sitte oder Vorschrift durh den »Äberglauben« auch bei den Primitiven nicht die einzige und die eigentlihe Motivierung zu sein brauht und uns der Verpflihtung nicht überhebt, nah den ver- steckten Motiven derselben zu suhen. Unter der Herrschaft eines animistishen Systems ist es nicht anders möglich, als daß jede Vor- schrift und jede Tätigkeit eine systematishe Begründung erhalte, welcde wir heute eine »abergläubishe« heißen. »Aberglaube« ist wie »Ängst«, wie »Iraum«, wie »Dämon«, eine der psychologischen Vorläufigkeiten, die vor der psychoanalytishen Forshung zergangen sind. Kommt man hinter diese, die Erkenntnis wie Wandschirme abwehrenden Konstruktionen, so ahnt man, daß dem Seelenleben und der Kulturhöhe der Wilden ein Stück verdienter Würdigung bis- her vorenthalten wurde.

Betrachtet man die Triebverdrängung als ein Maß des erreichten Kulturniveaus, so muß man zugestehen, daß auch unter dem animisti= schen System Fortschritte und Entwicklungen vorgefallen sind, die man mit Unrecht ihrer abergläubishen Motivierung wegen geringe

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20 Sigm. Freud

schätzt. Wenn wir hören, daß Krieger eines wilden Volksstammes sih die größte Keuschheit und Reinlihkeit auferlegen, sobald sie sih auf den Kriegspfad begeben!, so wird uns die Erklärung nahe- elegt, daß sie ihren Unrat beseitigen, damit sich der Feind dieses Teiles ihrer Person nicht bemädtige, um ihnen auf magishe Weise zu shaden, und für ihre Enthaltsamkeit sollen wir analoge aber- läubishe Motivierungen vermuten. Nictsdestoweniger bleibt die Th des Triebverzichtes bestehen, und wir verstehen den Fall wohl besser, wenn wir annehmen, daß der wilde Krieger sich solche Beschränkungen zur Ausgleihung auferlegt, weil er im Begriffe steht, sich die sonst untersagte Befriedigung grausamer und feind- seliger Regungen im vollen Ausmaße zu gestatten. Dasselbe gilt für die zahlreihen Fälle von sexueller Beschränkung, solange man mit schwierigen oder verantwortlihen Arbeiten beschäftigt ist. Mag sih die Begründung dieser Verbote immerhin auf einen magischen Zusammenhang berufen, die fundamentale Vorstellung, durh Verzicht auf Triebbefriedigung größere Kraft zu gewinnen, bleibt doch unver- kennbar, und die hygienishe Wurzel des Verbots ist neben der magischen Rationalisierung derselben nicht zu vernachlässigen. Wenn die Männer eines wilden Volksstammes zur Jagd, zum Fischfang, zum Krieg, zum Einsammeln kostbarer Pflanzenstoffe ausgezogen sind, so bleiben ihre Frauen unterdes im Hause zahlreichen drükenden Beschränkungen unterworfen, denen von den Wilden selbst eine in die Ferne reichende, sympathetishe Wirkung auf das Gelingen der Expedition zugeschrieben wird. Doch gehört wenig Scharfsinn dazu, um zu erraten, daß jenes in die Ferne wirkende Moment kein anderes als das Heimwärtsdenken, die Sehnsucht der Abwesenden, ist, und daß hinter diesen Einkleidungen die gute psychologishe Einsicht steckt, die Männer werden ihr Bestes nur dann tun, wenn sie über den Verbleib der unbeaufsichtigten Frauen vollauf beruhigt sind. Andere Male wird es direkt, ohne magische Motivierung ausgesprohen, daß die ehelihe Untreue der Frau die Bemühungen des in verantwortlicher Tätigkeit abwesenden Mannes zum Scheitern bringt.

Die unzähligen Tabuvorscriften, denen die Frauen der Wilden während ihrer en unterliegen, werden durch die aber- gläubishe Scheu vor dem Blute motiviert und haben in ihr wohl auch eine reale Begründung. Aber es wäre unrecht die Möglichkeit zu übersehen, daß diese Blutscheu hier auch ästhetishen und hygieni- shen Absichten dient, die sih in allen Fällen mit magischen Motivierungen drapieren müßten.

Wir täuschen uns wohl nicht darüber, daß wir uns durh solche Erklärungsversuhe dem Vorwurf aussetzen, daß wir den heutigen Wilden eine Feinheit der seelishen Tätigkeiten zumuten, die weit über die Wahrsceinlichkeit hinausgeht. Allein ih meine, es könnte

ı Frazer, Taboo and the perils of the soul, p. 158. 2 Frazer, I. c., p. 200.

Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken 21

uns mit der Psychologie dieser Völker, die auf der animistischen Stufe stehen geblieben sind, leiht so ergehen wie mit dem Seelen- leben des Kindes, das wir Erwachsene nicht mehr verstehen, und dessen Reichhaltigkeit und Feinfühligkeit wir darum so sehr unter- schätzt haben. |

Ih will noch einer Gruppe von bisher unerklärten Tabu- vorschriften gedenken, weil sie eine dem Psychoanalytiker vertraute Aufklärung zuläßt. Bei vielen wilden Völkern ist es unter ver=- schiedenen Verhältnissen verboten, scharfe Waffen und schneidende Instrumente im Hause zu halten!. Frazer zitiert einen deutschen Aberglauben, daß man ein Messer nicht mit der Schneide nah oben liegen lassen dürfe. Gott und die Engel könnten sih daran ver= letzen. Soll man in diesem Tabu nicht die Ahnung gewisser »Symptomhandlungen« erkennen, zu denen die scharfe Watte durch unbewußte böse Regungen gebrauht werden könnte?

ı. Rrazer, 1. c.;.p. 237,

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22 a Franz Lorenz

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie. Darstellung und Analyse. Von Dr. EMIL FRANZ LORENZ.

er Zielpunkt unseres wissenschaftlihen Bemühens um die genetishe Erklärung der Produkte des geistigen Lebens ist

der Nachweis des Zusammenhangs, in dem sie mit den biolo=

isch bedingten Zu- und Abneigungen eines lebenden menschlichen esens stehen. Schlagen wir auf diese Weise eine Brücke zwischen geistigem und physishem Geschehen, so widersetzt sich anderseits das geistige Leben dennodh einer Betrahtungsweise, die in ihm nur eine Fortsetzung des Naturgeschehens erblicken will. Wir sehen ganz ab von der generishen Unvergleichbarkeit, der Unterschied, der uns hier beschäftigt, liegt darin, daß das Naturgeshehen durh eine Gesetzlichkeit geleitet wird, deren Rationalisierung nur unseren In- tellekt betrifft, während die Wirklichkeit selbst schon immer rational, d. i. gesetzlih, war. Das geistige Leben bietet uns ein völlig anderes Bild, nicht etwa in dem Sinne, als ob es niht aucı gesetzlich wäre, seine Eigentümlihkeit liegt vielmehr darin, daß hier das Natur- geschehen zwar einerseits fortgesetzt wird durch die lebendige Akti- vität geistiger Wesen, die Wirklichkeit aber, die durh deren Tun gestaltet wird, bei weitem nicht in dem Maße von jenem Bewußtsein beleuchtet ist, das zu einer geradlinigen Fortsetzung des bewußtlos- rationalen Geschehens erforderlih wäre. Der Geist wirkt vielmehr auf diese vermöge eines oft lächerlih geringen Vorrates von halben Einsihten und kurzerhand gebildeten Fiktionen, deren Inkongruenz mit der Wirklichkeit, auf die sie Bezug zu haben vorgeben, nad-= zuweisen leihte Mühe ist. Obwohl nun unser geistiges Leben fast zur Gänze aus Komplikationen und Sublimierungen solcher Illusionen besteht, ist unserem Handeln der Erfolg in der überwiegenden Zahl der Fälle dennoh nicht versagt. Wir dürfen daraus schließen, daß das eigentlih Handelnde dabei nicht dieser bewußte Vordergrund der Seele war, sondern ein in dem handelnden Wesen wirksamer Teil eben jener bewußtlos-rationalen Gesetzlihkeit, deren Nachweis die Aufgabe der Naturwissenschaft ist, ein Schluß, den wir um so eher ziehen dürfen, als uns die Erfahrung die Wirkungslosigkeit der bewußten Motive in einwandfreier Weise kundtut. Als solche Ausflüsse oder Besonderungen der unbewußten, in den organischen Wesen wirksamen Gesetzlihkeit sind nun die Triebe anzusehen. Die Erkenntnis, daß sie auh im Menschen das Leitende und letzt- hin Ausschlaggebende sind, bringt unsere Schätzung des bewußten geistigen Lebens in eine Bedrängnis, aus der wir nur durh die nicht mehr wissenschaftlihe Erkenntnis, sondern philosophishe Tat der Wertbetrahtung des geistigen Lebens einen Ausweg finden, indem wir mit der Freiheit, die vom Wesen einer philosophishen Wert- betrahtung unabtrennbar ist, eine Umkehrung des genetischen Her-

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 23

gangs vornehmen und dem Außergeistigen die Rolle des begrifflich ÄAkzessorishen zuweisen. Wenn ferner aus der Tatsahe der funk- tionellen Bedeutung der Vorstellung als Lustquelle für die Trieb- befriedigung in Abwesenheit des realen Objekts ein Argument für die nicht genetische, sondern begrifflihe Superiorität des Triebes gezogen werden sollte, so wird man sich gegenüber dieser ja gewiß zutreffenden Beobahtung nicht der Erkenntnis verschließen dürfen, daß der reine Trieb etwas ganz Leeres und Einförmiges und mit der Mannigfaltigkeit der Welt der Vorstellungen durhaus Inkon- gruentes ist. Eben jene Vielheit der Elemente, die Kompliziertheit der bewußten Gebilde, an deren Gestaltung sich der Geist betätigt, ist es aber, die wir als den Sinn des ganzen Getriebes anzusehen genötigt sind. Nach Vorausshickung dieser aphoristishen Betrah- tungen, die unseren Standpunkt in der Frage über Trieb und Vor- stellung gegenüber der seit Thales bei den Philosophen beliebten, im Grunde sehr unphilosophishen Illusion in der Höhershätzung des Primären, der »UÜrsprünges der Dinge, kennzeichnen sollen, obliegt es uns, die Berechtigung des nur nach dieser einen Richtung eingeschränkten »Voluntarismus« klarzulegen und unsere Grundüberzeugung von der triebhaften Bedingtheit auch der ent- wiceltsten psychischen Gebilde für die Erklärung des Mythus fruchtbar zu maden.

Eine aus der unmittelbaren Beobahtung gezogene und nicht nur für den ersten Gebrauch praktishe Einteilung unterscheidet die beiden Grundtriebe der Selbsterhaltung und der Arterhaltung oder den Gescdledtstrieb. So angezeigt ihre Auseinanderhaltung zum Zwecde der Übersicht erscheint, so sehr empfiehlt sih für eine ein- heitlihe Erkenntnis des Seelenlebens der Versuch einer Reduzierung. Da wird uns denn, ganz abgesehen von den einzelnen Argumenten, die uns die Psychanalyse oder auch nur eine genauere Betrachtung des organishen Lebens für die Superiorität des Sexualtriebs liefert, eine Reduktion der beiden Triebe auh durch die Überlegung ermög- liht, daß das Individuum nicht für sich steht, sondern ein Glied der Generationsreihe ist, die als überragende Einheit seine Existenz mit unentrinnbarer Sicherheit bestimmt, daß demgemäß auch der Trieb, der die einzelnen Glieder der Reihe aneinanderkettet, der superiore sein muß gegenüber dem, der nur auf die Erhaltung eines a gerichtet ist, mit anderen Worten, daß dieser letztere nur der Spezialfall des allgemeinen ist, dessen Allgemeinheit uns eben durch die individuelle Lustbetonung, mit der verbunden er stets auf- tritt, verdunkelt wird. Wir werden sehen, daß im Mythus beide riebe um sie wieder gesondert zu nennen gestaltend gewirkt haben. Erstlih wissen wir und das ist keine neue Erkenntnis daß in ihm ein Element der Naturdeutun g enthalten ist, das bald deutlih zutage liegt, bald durh andere Faktoren verdeckt ist. Wir kennen die Beziehungen einer großen Zahl von Mythen auf die Erscheinungen des gestirnten Himmels, auf Witterungsvorgänge,

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schließlih auf alle Teile der belebten und unbelebten Natur. Hier hat sich das im Dienste der Selbsterhaltung stehende Orientierungs- bestreben naive Antwort auf naive Fragen ersonnen. Zweitens ist neuerdings in vielversprehender Weise die hinter bestimmten Sym- bolen verhängte sexuelle Bedeutung einer Reihe von Mythen auf- gedeckt worden. Es war indes keiner von diesen beiden Trieben, zu dem das menschlihe Nachdenken den Mythus zuerst in Beziehung setzte. Der sehr abgeleitete Trieb nach Ausfüllung des Bewußtseins, die menschliche Phantasie war es, aus der nach AÄbstreifung des Vorurteils, das in ihm den symbolishen Ausdruk uralter Priester- weisheit erbliken wollte, der Mythus hervorgegangen sein sollte. Man gab sih aber keine tiefere Rechenschaft über die primären Triebe, aus denen diese mythenschaffende Phantasie ihre Tätigkeit ausübe, so sehr wir natürlih heute auf Grund einer genaueren Einsicht in das Wesen der Phantasie uns dieser Erklärung anschließen dürften. Das war im wesentlihen der Standpunkt unserer klassishen Zeit und der Kupferstihe des achtzehnten Jahrhunderts. Die ver- gleihende Mythologie eröffnete dann die Einsicht in die auf Natur- beahtung und -erklärung begründeten Bestandteile der Mythen.

Diese naturmythishe Theorie ist nach mandherlei Wandlungen, die sie seit ihrer Begründung durh Adalbert Kuhn und Max Müller erfahren hat, im Wesen die herrschende geblieben. Die english glatten Erklärungen der anthropologishen Methode Andrew Langs vermodten das Wasset nicht zu trüben. Neben der jetzt etwas aus der Mode gekommenen Blitz- und Donnermythologie ist die Zahl derjenigen, die in den Erscheinungen der Sonne und des Mondes den Urquell aller Mythen erblicken, keineswegs gering. Leo Frobenius (Das Zeitalter des Sonnengottes, I. Bd., p. 35) findet, daß es in der Natur kein so großartiges Schauspiel gibt wie Sonnenauf- und -untergang für ein Volk in den Tropen. In ihm müsse auh der Mythus wurzeln. Ebenso findet P. Ehrenreich (Die allgemeine Mythologie etc.), der mythologishen Erzählung müsse ein anschauliches Substrat von allgemeinem Interesse zugrunde= liegen, eine Forderung, der die Himmelskörper in besonderem Maße genügten.

Die große Menge der trotz oder vielmehr wegen zu großen Scarfsinnes bei der Eklariing unaufgehellt gebliebenen Tatsachen, die dieser Theorie zur Last fallen, lassen den ersten eine günstige Zukunft prophezeien, die eben jene Elemente des Mythus, an deren Erklärung die Naturmythologie gescheitert war, in erster Linie auf- zuhellen mit Erfolg bemüht war. Diese Arbeit leistete die Psydh- analyse. Wenn es z. B. ein Naturmythologe wie Frobenius! einen verrückten Schluß nennt, daß es in der Jonasmythe heißt, es sei im Bauhe des Fishes so heiß gewesen, daß dem Helden die Haare ausgingen, und dieses in mannigfahen Variationen in allen

ı Zeitalter des Sonnengottes, I. Bd., p. 36.

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Walfıshmythen vorkommende Motiv dahin zu erklären sucht, daß unter den Haaren die Sonnenstrahlen zu verstehen seien, die angeblich am Äquator, wohin er die Entstehung dieses Mythus verlegt, bei Sonnenaufgang niht wahrgenommen würden, so ist angesichts einer so gekünstelten Erklärung die Lösung der Psychanalyse weit befrie= digender, wenn sie in den Walfishmythen Geburtsphantasien erblickt, die der Erzählung von den Scicsalen des Sonnenhelden unter- eshoben worden sind. Die Haarlosigkeit des aus dem Fishbaudh Beftenen Helden ist nah ihr gleichzusetzen der Kahlheit des Neu-= geborenen. (Weiteres über Walfıshmythen unten p. 38 ff.) Unter dieser Annahme haben wir es nicht nötig, bei der Erklärung einer in allen Zonen verbreiteten Erzählung uns auf eine am Äquator zu beobadhtende Naturersheinung zu Deren die von Frobenius merkwürdigerweise sehr schleht verbürgt wird, und zur weiteren Erklärung der Übereinstimmung eine wunderbare Leistung der Ge- däctniskraft anzunehmen. Dasselbe gilt u. a. von der Ratlosigkeit, mit der das beharrlih wiederkehrende Motiv behandelt wird, daß der Held des Mythus das jüngstgeborene Kind ist, wie der poly= nesishe Maui und Kronos und Zeus in den Mythen, die uns unten beschäftigen werden. Andrew Lang (Mythology in Encycl. Brit., vol. 17) berief sih dafür auf das sogenannte Jüngstenredht, das aber zur Zeit der Mythenbildung sicher nicht bestanden hat. Umge- kehrt ist vielmehr das ursprünglihere Ältestenreht der Boden, auf dem dieses Motiv vom Helden des Mythus als dem jüngsten Sohn entstehen konnte, und es heißt speziell in England, dem klassischen Lande des Privilegs des Erstgeborenen, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, wenn man diesen eklatanten Zug der Wunscerfülfungs- tendenz des Mythus übersieht. Die großen Männer Englands sind, mit Ausnahme der Staatsmänner, selten Erstgeborene gewesen; ebenso waren z. B. die Sänger der homerishen Epen niht durch Geburt bevorredhtete Menschenkinder. Es scheint, daß äußere Privi- legien niht danach angetan sind, ideelle Werte zu schaffen und unerfüllte Wünsche auf die Lippen zu zwingen. Das dürfte in den ältesten Zeiten in noch höherem Maße der Fall gewesen sein, so daß der jüngste Sohn des Mythus in Wahrheit der Mythendicter selbst ist, der sich in einer Wunschphantasie mit dem Helden identi- fiziert. Dieser Zug ist demgemäß den Größenideen, die von Rank in en »Geburt des Heldens nachgewiesen wurden, vollständig parallel.

Bekanntlih war es der Ödipusmythus, an dem zuerst diese psycdologishe Deutung erprobt wurde!. Das Gelingen des Versuches, in diesem Mythus die Erfüllung verdrängter sexueller Wünsche nachzuweisen, war der Ausgangspunkt für die Analyse einer Anzahl anderer Mythen, Märchen und Sagen, Bemühungen, durdh die die Wirkung dieses psychologischen Faktors des Mythus eine eingehende

! Freud, Traumdeutung, 2. Aufl., p. 185 ff.

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Würdigung fand. Die Verknüpfung dieser Probleme mit denen der Traumdeutung, die ihren Grund darin hat, daß die in den Mythen wirksamen Wünsche als solche erst durch die Analyse der typischen Träume, in denen sie ebenfalls zum Ausdruck gelangen, erkannt worden sind, hat indes für das Verständnis dieser psychologischen Mythentheorie nicht vorteilhaft gewirkt. Eine nicht geringe Anzahl ihrer Kritiker hat sih die Sache so zurectgelegt, als würde »dabei an Träume als letzte Quellen der Mythenbildung gedadhts!, eine Fassung der Theorie, deren Brauchbarkeit für die Zwece einer schneidigen Polemik ja gewiß nicht abgeleugnet werden soll. Traum und Mythus sind vielmehr, kurz gesagt, parallele Entwicklungen einer und derselben wunscherfüllenden en jener in der Indivi- dual-, dieser in der Massenpsyche.

Die Versuche zur Aufdeckung dieser psychologischen Bedeutung des Mythus mußten naturgemäß zu der herrschenden naturmytho= logischen Deutungsweise Stellung nehmen. Im Besitze der gewonnenen Einsihten glaubte man dieser zunächst jedes Reht zur Erklärung der Mythenentstehung absprehen zu dürfen. Dabei ging man vor= zugsweise von zwei Be aus, erstens schien sich im allgemeinen eine Deutungsmethode zu empfehlen, die die inneren ah Fak- toren mehr zur Geltung brahte. Man glaubt ja nodh heute zum Teil, daß uns die »Seele« näher liege als die »äußere« Natur. Zweitens waren es die anstößigen, inzestuösen Bestandteile einer auffallend großen Zahl von Mythen, deren Deutung als Natur- vorgänge = älteren Mythologen recht unbefriedigend gelungen war, während die psychologishe Methode gerade in der Erklärung dieser Faktoren ihre Stärke erprobte, ja eigentlich davon ausgegangen war. Die Tatsache, der die Naturmythologen ratlos den den Immoralismus des Mythus, erklärte sie einwandfrei durh den Nachweis der uns unbewußten psydhischen Realität der bezüglichen Vorstellungen und Wünsche. So konnte Rank die Vermutung aus= eprehen, daß die Verbindung dieser Ideen mit Natur=, im besonderen

en Himmelserscheinungen sekundär sei, als reine Wunschphantasien entstanden, seien sie im Zusammenhang mit der Verdrängungsabwehr an den Himmel projiziert und so in sinnfälliger Weise von den menschlihen Dingen abgelöst worden, vgl. »Geburt des Helden«, p- 8: »Wir sind nun ... . überzeugt, daß die Mythen, ursprünglich wenigstens, Gebilde der menschlichen Phantasietätigkeit sind, die ein= mal aus gewissen Gründen an den Himmel projiziert und sekundärer- weise auf die Himmelskörper mit ihren rätselhaften Erscheinungen Vera wurden.« Neuerdings - wird von Rank (Inzestmotiv, p- 278f.) innerhalb gewisser Grenzen die Berechtigung naturmytho- ogisher Deutung zugegeben. Die Mythenforsher, heißt es dort, »bezogen alle diese Mythen, sicherlich mit einer weitgehenden Bered- tigung auf Vorgänge in der Natur oder am Himmel und erreichten

ı Vgl. Vierkandt im Literaturberiht des Ardı. f. d. ges. Psychol., XXIII. Bd.

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dadurh, wie einer ihrer Hauptvertreter naiv eingesteht, die Beseiti- gung einiger der empörendsten Züge der klassishen Mythologie«. Indessen zeigen die näheren Ausführungen daselbst keinen wesent= lihen Fortschritt gegenüber dem im »Mythus von der Geburt des Helden« eingenommenen Standpunkt, wenn es weiterhin heißt: »Nun ist es ja niht zu verkennen, daß eine Reihe mythologischer Über- lieferungen oder wenigstens einzelner Elemente durh Zurükführung auf Natur- oder Himmelsvorgänge neben ihrer menschlichen Bedeu- tung oft noch einen guten naturmythologishen Sinn erkennen lassen, der zweifellos einmal genau so in die fertigen Mythen hineingelegt wurde, wie es heute die Natur- oder Astralmythologen tun, die damit nur eine Entwiclungsphase der Mythenbildung wiederholen, woraus sih eben die Beredhtigung ihrer Deutung ableitet . Zweifellos ist aber doh, daß... der Mythus in dieser mensch- lihen Einkleidung niemals vom Himmel heruntergelesen werden konnte ohne eine entsprehende psydhishe Vorstellung, die gewiß auh wie bei den heutigen Mythologen bereits zur Zeit der Mythenbildung eine unbewußte gewesen sein kann. Psycdologisch wahrsceinlicher ist es jedoch, daß der Mythus ursprünglih, wie die Traumerfahrung, rein mensdlih gedaht war und erst zu einer Zeit, wo der Mensch anfıng, die ihn umgebende Natur und das All zu sexualisieren, durch Unterlegung des Himmelsvorgangs, ganz wie von unseren Mythologen seiner ÄAnstößigkeit beraubt und damit in seiner Existenz gerechtfertigt wurde.« Eben jene Vorstellung von einem ursprünglih rein menshlih gedahten Mythus scheint nun ganz und gar nicht so einleuchtend, wenn man den Versuch madt, sie zu realisieren. Sie stellt an uns das Änsinnen, uns eine Zeit in der Entwicklung der Menschheit zu denken, in der diese nicht genötigt gewesen sei, sih in der Natur zu orientieren und sie in natürlih primitiver Weise zu deuten, also wie die Tierwelt vorwiegend durch Instinkte geleitet wurde, während sie anderseits das dringende Bedürfnis fühlte, in rein menschlichen Inzestfabeln für ihre bereits damals verfemten Neigungen eine vorgestellte Erfüllung zu suchen. Dieser Gedanke enthält starke Unbegreiflichkeiten. Er übersieht, daß auch die primitivste Phantasie und gerade sie am meisten, der äußeren Anregung bedarf, wenn sie auch nicht aus- schließlih durh diese bestimmt wird. Zudem ist das Motiv der Naturdeutung so alt wie der bewußt gewordene Selbsterhaltungs- trieb und das Bewußtsein selbst nur eine Sublimierung dieses Triebes. Das Motiv der Naturdeutung hat genügende Intensität, um als ursprünglich gelten zu können. Das soll keine Beeinträchtigung jenes anderen in Frage stehenden Faktors sein. Dieser erweist seine psydische Realität und Durdhsclagskraft eben dadurh, daß die im Dienste des Selbsterhaltungstriebes vor sich gehende Deutung der Be auf Grund der herrshenden Apperzeptionsmasse von Erfüllung begehrenden inzestuösen Wünschen zustande kommt. Der Mythus, shon in seiner primitiven Form, wird dadurh zu

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einem sehr komplizierten Gebilde, niht komplizierter indessen, als der Mensch selbst, der ihn gebildet hat; von den oben angeführten Grundtrieben finden wir nämlich beide an seiner Entstehung beteiligt, worauf bereits oben hingewiesen wurde: der Trieb der Selbsterhaltung schafft die Naturdeutung, der Sexualtrieb die Erfüllung typischer Sexualwünshe, und in dem bunten Kleid, das diesen Stoff des Mythus phantastish umhüllt, findet das Verlangen nach angemessener Ausfüllung des Bewußtseins immer erneute Nahrung. Diese Aus- drucksweise verzichtet auf den oben angedeuteten Versuch der Redu= zierung der Triebe auf den Sexualtrieb, der hier so weit gefaßt werden müßte, daß die Einzelheiten der Untersuhung vershwimmen würden. Aud glauben wir das für unseren Zusammenhang wesent= lihe Charakteristikum dieses Triebes in seiner relativen Unvergleih- barkeit zu erkennen, die darin besteht, daß er viel triebhafter, teils durh Natur, teils durch die inzestuöse Wahl seiner Objekte und dem Bewußtsein entrückter ist als der Selbsterhaltungstrieb. Aber eben jene Eigenshaft ist es nun im Verlauf der Entwicklung des Mythus, die seine Bedeutung immer mehr anwacsen läßt. Jene Stauung ist die Ursahe, daß er in dem Bestreben, ans Licht des Bewußtseins zu gelangen höchste Lust zugleih und aucd der Anfang seines Abshwellens die viel bewußteren Produkte des Triebes der anderen Instanz, der Selbsterhaltung, mehr und mehr durchdringt und in ihrer Gestaltung beeinflußt. Der Mythus wird so in steigendem Maße zu einer Palästra sexueller Wünsche, die eine seiner Komponenten, die naturmythische, schwindet dahin und aus der sub specie sexualitatis gebildeten Naturdeutung entwickelt sih ein Mythus menschlicher Leiden- schaft. Soviel zur Theorie des Mythus, vielleiht zu abstrakt und gedrängt, aber in wenig Worten ein Programm enthaltend, zu dessen Ausführung die Babkoisende Analyse des Titanen-Motivs einen Bei- trag von paradigmatisher Bedeutung zu liefern beabsichtigt.

Bei der Vorführung des Materials kann es nicht meine Absicht sein, in der Reihenfolge der aufzuzählenden Mythen etwas über ihre historishe Entstehung, Übertragung, Wanderung präjudizieren zu wollen. Die Anordnung wird Aineht vom praktischen Gesichtspunkt eingerichtet sein, in der Weise, daß sie dem Leser soviel Einsicht in das Wesentlihe des Stoffes übermittelt, als es durch die bloße Wiedergabe desselben möglich ist. Wir verzichten also im voraus auf jeden Versud, die äußere Geshichte und die Verwandtschaft der Mythen zu zeichnen. Unsere Absicht geht auf die Klarlegung der inneren gedanklichen Entwicklung. Ih will darum mit einem für unser Genus typischen Beispiel beginnen, das uns die Orientierung für alle folgenden, bald einfacheren, bald verwicelteren Gebilde vermitteln soll.

In der polynesischen Überlieferung findet sich ein nahezu vollkommenes Gleihgewiht zwishen den naturmythishen und psydhologishen Faktoren, die nach unseren vorausgegangenen Äus=

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einandersetzungen, den ursprünglihen Mythus könstituieren. Diesem Mythus werden sih auf end inhaltliher Beziehungen eine Reihe anderer anschließen, in denen bald der eine, bald der andere Faktor überwiegt. Die griechische Überlieferung wird uns die nahezu vollständige Zurückdrängung des Naturmythischen und die breiteste Entfaltung des Psydhologishen erkennen lassen. In ihr erreicht der mythishe Gedanke den Höhepunkt seiner Entwicklung. Es werden dann solhe Mythen folgen, die ihr Liht erst durh die Analyse vorausgehender erhalten. Ich beginne mit der ein wenig gekürzten Wiedergabe der Erzählung von den Kindern des Himmels und der Erde, die sih im Eingang von George Greys Polynesian mytho- logy (London 1855) findet.

Die Menschen hatten nur ein einziges erstes Elternpaar, sie entsprangen von dem weiten Himmel, der sih über unseren Häupten erstreckt und von der Erde, die unter uns liegt. Finsternis lagerte damals auf dem Himmel und auf der Erde und sie waren noch beide eng aneinander geschlossen, denn man hatte sie noch nicht getrennt, und die Kinder, die sie bekommen hatten, dachten immer- fort bei sih nah, was wohl der Untershied sein möhte zwischen Finsternis und Liht .. . Ermüdet durh die andauernde Dunkel- heit, berieten sie sich schließlich untereinander, indem sie sprachen: »Laßt uns nun bestimmen, was wir tun sollen mit Rangi und Papa, ob es besser wäre, sie zu erschlagen oder voneinander zu trennen.« Da sprach Tumatauenga, der stärkste unter den Kindern des Himmels und der Erde: »Gut, wir wollen sie erschlagen.« Hierauf sprach Tanemahuta, der Vater der Wälder und aller Wesen, die sie bewohnen oder aus Bäumen verfertigt werden: »Nein, nicht so, es ist besser, sie zu trennen und den Himmel hoch über uns stehen und die Erde unter unseren Füßen liegen zu lassen. Lassen wir den Himmel uns gleichsam fremd werden, die Erde aber nahe bei uns bleiben, als unsere nährende Mutter.« Die Brüder stimmten alle seinem Vorsclage bei, mit Aus- nahme von Tawhiri-ma-tea, dem Vater der Winde und Stürme, und aus Furdt, sein Reih werde von Vernichtung bedroht, betrübte er sich gewaltig bei dem Gedanken, daß seine Eltern getrennt werden sollten. Fünf von den Brüdern stimmten bereitwilligst der Trennung ihrer Eltern bei, nur einer wollte sih nicht anschließen .... Dodh schließlich einigte man sich und siehe, Rongo-ma-tane, der Gott und Vater der Kulturpflanzen, erhebt sich, auf daß er trennen möge den Himmel und die Erde, er strengt sih an, doch bringt er sie nicht auseinander. Siehe, es erhebt sich hierauf Tanga-roa, der Gott und Vater der Fische und Reptilien, auf daß er trennen möge Himmel und Erde, aud er strengt sih an, aber er bringt sie nicht aus- einander. Siehe, es erhebt sich hierauf Haumia-tikitiki, der Gott und Vater der menschlichen Nahrungsmittel, die ohne Pflege aufwachsen, und strengt sih an, aber ohne Erfolg. Siehe, es erhebt sih dann Tumatauenga, der Gott und Vater der kraftvollen menschlichen

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Wesen, er strengt sih an, doh auch er hat Mißerfolg bei seinen Bemühungen. Langsam erhebt sich schließlih Tanemahuta, der Gott und Vater der Wälder, der Vögel und Insekten, und ringt mit seinen Eltern, umsonst bemüht er sich, sie mit seinen Händen und Armen auseinander zu bringen. Siehe, jetzt hält er inne: sein Haupt ist jetzt fest aufgesetzt auf seiner Mutter, der Erde, seine Füße hebt er empor und stützt sie gegen seinen Vater, den Himmel, seinen Rücken und seine Lenden spannt er an mit gewaltiger Kraftent- faltung. Jetzt sind getrennt Rangi und Papa und mit Schreien und Wehklagen kreishen sie laut: »sWarum schlagt ihr eure Eltern so? Warum begeht ihr ein so schreckliches Verbrechen, uns zu schlagen, eure Eltern zu trennen?« Aber Tanemahuta hört nicht auf, er beachtet nicht ihr Gekreishe und Schreien, weit, weit unter sih drükt er die Erde hinab, weit, weit über sich stößt er den Himmel hinauf. —- Tawhiri-ma-tea stürzte zurecht herbei, um seine Brüder Rongo=-ma-tane und Haumia-tikitiki anzugreifen, die Götter und Erzeuger der kultivierten und wildwachsenden Nahrungspflanzen, doc Papa (die Erde), um diese für ihre anderen Kinder zu erhalten, nahm sie zu sih und verbarg sie an einem siheren Ort und so gut waren diese ihre Kinder von ihrer Mutter, der Erde, versteckt, daß Tawhiri-ma-tea umsonst nach ihnen suchte. Es folgt nun eine von guter Naturbeobahtung zeugende Scil- derung des Kampfes, den der Windgott gegen seine Brüder führt, in dessen Verlauf sih diese entzweien und voneinander getrennt werden, indem die Vögel sih in die Wälder flüchten, die Reptilien sich in die Erde verkriehen, die Amphibien und Fische ins Wasser flüchten. Die Erzählung schließt mit folgenden Worten: Bis zu dieser Zeit ist der weite Himmel noh immer getrennt ge=- blieben von seiner Gattin, der Erde, doc ihre gegenseitige Liebe dauert noch fort, die weichen, warmen Seufzer ihres liebenden Busens steigen noch immer zu ihm empor und erheben si von den bewaldeten Bergen und Tälern und die Menshen nennen sie Nebel; und der weite Himmel, wenn er die langen Nächte hindurh_ die Trennung von seiner Geliebten beweint, läßt zahllose Tränen auf ihren Busen herabfallen und die Menschen sehen sie und heißen sie Tautropfen.

Eine Variante dieses Berihts scheint Taylor, New Zea- land (p. 119 zu bieten: statt des bloßen Zurücdrängens findet sih hier ein Abtrennen der Sehnen, welche Himmel und Erde verbinden, was wohl auf Entmannung zu deuten ist. Die Scamteile des Himmels fallen dabei zur Erde und werden zu Bimsstein. W. W. Gill, Myths and songs of the South- Pacific (p. 59 führt die auf Mangaia heimishe Anschauung an, wonadh der Gott Ru den als blaues Steingewölbe gedachten Himmel emporstößt und ihn nod jetzt als Himmelsträger in dieser Stellung erhält. Auf Samoa sind es Pflanzen, die den Himmel empor- drüken, nah George Turner, Nineteen years in Polynesia

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(p. 245). Auf den Gilbertinseln hat der Gott Rigi den Himmel emporgehoben, um den Menschen und Tieren Existenz- möglichkeit zu verschaffen (Leo Frobenius, Weltanshauung der Naturvölker, p. 360). Nach der Mythe der Wamba war das Firmament einst der Erde viel näher, bis die Sonne einem Baume zu nahe kam (Frobenius, ibid., p. 355). Nadı australischem Mythus ruhte einst der Himmel auf der Erde. Da kam ein Mann mit einem Stocke und schob ihn in die Höhe (ibid., p. 362).

Allen diesen Vorstellungen ist gemeinsam:

1. Erde und Himmel sind die Eltern der Lebewesen.

2. Am Anfang der Dinge liegen sie in geschlechtlicher Vereinigung eng aufeinander.

Feindselige Haltung ihrer Kinder gegen sie, zumin= desten gegen den Vater, der immer der eigentliche Leidtragende ist.

4. Treinens (Entmannung) durch die Kinder »Titanen- Motive).

Diese Motive sind innerlih zusammengehörig und stützen sich gegenseitig in der Weise, daß wir die ihnen zugrundeliegende natur- mythishe und psychosexuelle Grundanshauung auch dann postu=- lieren dürfen, wenn das eine oder das andere verkümmert ist.

Wir gehen nah Afrika über und treffen dort auf einen Mythus, der, seltsam genug, in manchem Betraht auffallende Bezie- hungen mit der Überlieferung des klassishen Altertums aufweist. Es ist der Mythus der Voruba, eines Negerstammes an der Sklaven- küste, unter dem Gesichtspunkt des dem Titanen-Motiv komplemen- tären Inzestmotivs, wie der griehishe und ägyptische Mythus, bereits von Rank in dem gleichnamigen Werke (p. 277 ff.) behandelt.

Obatala (Frobenius, I. c., p. 348 ff.), der Gott des weißen Gewandes, ist der Hauptgott der Voruba. Er ist von Olorun geschaffen, dieser übergab ihm das Firmament und die Welt und zog sich zurück. Er lebt mehr im Sprihwort als in der An- shauung und im Kultus. Er ist zu weit entfernt, zu gleichgiltig, zu groß, um sih um die Menshen zu bekümmern. Obatala führt das et er hat die Menschen geschaffen und schenkt das Kind der Mutter. Frauen, die sih nach der Mutterschaft sehnen, rihten ihr Gebet an ihn. Wir haben hier dasselbe Verhältnis vor uns, wie es im griehishen Mythus zwishen Zeus und dem alten Kronos, oder zwishen Kronos und Uranos besteht. Das soll unten noch klarer werden. Obatala ist vermählt mit Odudua, der Göttin der Liebe, die mit Olorun gleichaltrig ist. Das deutet vielleicht darauf hin, daß sie Oloruns Schwester oder Gattin und darum in Wahrheit Obatalas Mutter ist. Dann würde Oloruns Verzicht nicht als ein freiwilliger anzusehen, sondern das titanishe Motiv der Überwältigung durch seinen Sohn, das wir ja schon kennen, anzu= nehmen sein. Obatala und Odudua sind am Anfang der Welt in der Dunkelheit einer großen Kalebasse eingeschlossen. Odudua begann zu schelten. Im Streit reißt ihr Obatala beide Augen aus.

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Die Kalebasse wird getrennt und der Himmel steigt empor. Dies wird in den Tempeln symbolish durch zwei weiße, untertassenförmige, eng aufeinandergefügte, und so eine abgeflahte Kugel bildende, Kalebassen zur Anschauung gebraht. Die obere repräsentiert das Himmelsgewölbe, die untere, sih diesem am Horizont anschmiegende, die Erde (Frobenius, I. c., p. 350). Ihrer Vereinigung entspringen Aganju (Land) und Vemaja (Wasser); aus deren Geschwister- ehe entsteht Orungan, die Höhe des Himmels. Orungan verliebt sich in seine Mutter und da sie sich weigert, seiner Leidenschaft zu willfahren, verfolgt und vergewaltigt er sie. Vemaja springt gleich darauf wieder auf die Füße und rennt jammernd von dannen. Der Sohn verfolgt sie, um sie zu beshwidtigen und als er sie endlich fast erreiht hat, stürzt sie rittlings zu Bob, Ihr Körper beginnt zu shwellen. Zwei Wasserströme quellen aus ihren Brise und ihr Körper zerberstet. Ihrem zerklüfteten Leibe entspringen 15 Götter... Rekonstruieren wir den Fall, so werden wir ein einziges Götterpaar zu setzen haben, nämlih den Gott des Himmels und die Göttin der Erde. Der Sohn ist der trennende Gott (Frobenius, Zeit- alter des Sonnengotts, I. Bd., p. 268 ff.). Was uns an diesem Mythus auffällt, ist die Stufenfolge der Generationen, der »stammbaumartige Aufbaus der mythischen Personen, die im Gegensatze steht zu der primitiven, »auf einer Ebene sich ausdehnendens Mythologie der sonstigen Naturvölker. Diese Äufeinanderfolge von Göttergeshlechtern kann verschiedene Ursahen haben. Äußerliher Art ist die, wenn einem Volk durh fremde Eroberer deren Götter aufgedrängt werden, wodurch zufolge einer Kompromißbildung Altes und Neues neben= einander zu stehen kommt. Derartiges scheint bei einigen Stämmen Östafrikas unter dem Einfluß des Mohammedanismus stattgefunden zu haben. Die inhaltlih enge Verbindung, in der die I elıen unseres Mythus zueinander stehen, scheint diese Annahme auszu= schließen und eine andere Möglichkeit nahezulegen, daß diesem Mythus eine relativ hohe Stufe ethisch=religiöser Entwicklung zu= grunde liegt, in der Weise, daß die Vielheit der Generationen das Ergebnis eines religionsgeshicdtlichen Prozesses ist, der gewisse Göttergestalten, die dem ethischen Bedürfnis niht mehr genügten, durh andere zu verdrängen suchte. Freilih übersah man es, wie bei diesem Unternehmen die mythenbildende Phantasie wieder im Geheimen von Motiven kommandiert wurde, die mit der Absicht dieser Konstruktion in shroffstem Widerspruh standen. Die Väter und Urväter, die man den ihre Eltern trennenden titanishen Helden entgegensetzte, bekamen unentrinnbar dieselben inzestuösen Züge wie ihre Nachkommen und am Anfang der neugebildeten Generations= reihe steht wieder der Mutter- oder Schwesterinzest, den wir für den »guten« Gott Olorun hier erschlossen haben und bei dem griehishen Uranos wiederfinden werden. Man sieht aber auch hier wieder, wie sehr das »Ethishe«e am Vordergrund verweilt, im Grunde nicht mehr ist als eine schöne Geste.

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In der babylonischen Überlieferung drängt sih zwischen die Welteltern Apsu und Tiamat ihr Sohn Mummu und verbindet sich mit seiner Mutter (nah Winckler, Die babylo- nishe Geisteskultur, p. 92). Ferner findet sih bei dem byzantini- shen Kirchensdriftsteller Synkellos, p. 28B (= FHG. II, p. 491) eine durch Vermittlung des Alexander Polyhistor (1. Jahrhundert v. Chr.) auf den babylonishen Tempelshreiber Berosos zurük- gehende Kosmogonie, die eine von der eben erwähnten abweichende Fassung aufweist, im übrigen aber speziell für das Titanen-Motiv von Bedeutung ist, Es ist dort die Rede von einem Urwesen weib- lihen Geschlechts, Thalatth oder Homoroka, das an Stelle der ursprünglihen Vereinigung von Himmel und Erde zu stehen kommt. »Kap. 5: Als das Ganze so geordnet dastand, sei Bel hervor- gekommen, habe das Weib in der Mitte gespalten, aus ihrer einen Hälfte die Erde, aus der anderen den Himmel gemadht und habe die Lebewesen in ihr vernichtet ..... Kap. 6: Bel, den man mit Zeus identifiziert, zerteilte die Finsternis, trennte Himmel und Erde und ordnete die Welt. Die Lebewesen aber, die der Gewalt des Lichts nicht gewachsen waren, gingen zugrunde, Als Bel sah, wie die Erde verlassen dalag und dabei doh Früchte hervorbradte, befahl er einem der Götter, ihm den Kopf abzuschlagen und mit dem strömenden Blut befruchtete er die Erde und bildete Menschen und Tiere, die die Luft ertragen konnten, auch madte Bel die Sterne, Sonne, Mond und die fünf Planeten.« Das Blut ist hier wie so oft jedenfalls = Sperma, mit der Entmannung des Uranos stellt die Erzählung zusammen O. Gruppe!, der Einztschled bestehe nur darin, »daß bei Berosos die Verstümmelung des Gottes auf einem freiwilligen Entschluß beruht, während nah der griehishen Version sih Uranos vergebens gegen sein Schicksal: sträubt«. Übrigens ist dieses Abschlagen des »Hauptes« unschwer als Verlegung nah oben deutbar, die Frei- willigkeit der Tat als Abshwädung der »titanishen« Handlung zu betrahten (gleih dem Entschluß des ägyptishen Ra, vgl. unten p. 46). Bel wäre demgemäß selbst das Opfer eines titanishen An-= griffs geworden (Vergeltung) oder es wäre das Absclagen des »Hauptes« in Parallele zu stellen mit der Selbstentmannung des Attis als Strafe für den wirklihen oder beabsichtigten Mutterinzest (vgl. die »Blendung« des Ödipus). Natürlih schließen sich diese Möglichkeiten niht aus und wir hätten in der Überdeterminierung eine Folge der Verdichtungsarbeit des Mythus zu erblicken, wie sie uns aus dem Traumleben ganz geläufig ist”. Was den erwähnten Mutterinzest betrifft, so scheint Bel tatsächlich der Sohn des weib- lihen Urwesens zu sein, denn im griechischen Text steht &tavsAd6vra,

! Die griehischen Kulte und Mythen in ihren Beziehungen zum Orient, l. Bd., p. 589.

? Der gescilderte Vorgang des Kopfabschlagens wäre übrigens unseres Eradhtens naturmythologish dahin zu deuten, daß Bel die Sonne ist, die sich während des befruchtenden Regens hinter den Wolken verbirgt.

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von unten heraufgekommen, wobei wohl an eine Art Erdgeburt zu denken ist (Sonnenaufgang?). Er zerschneidet das Weib (nach der zweiten Version in Kap. 6 die Finsternis) in der Mitte, hier kreuzen sich zwei Motive, die infantil-sadistische Geburts- theorie (vgl. Rank, Völkerpsyd. Parallelen zu den infantilen Sexual=- theorien. Zentralbl. f. Psychoan., II. Bd., p. 426) und das schon bekannte titanische Motiv von der Trennung des Himmels und der Erde, hier in der speziellen Ausprägung, daß die uia woopn, die eine ungeteilte Urgestalt ie Meine Frg. 484 N) aus einem einzigen weiblihen Urwesen besteht, ein Umstand, der eben das Zusammenfließen der beiden Motive ermöglicht. Diese babylo- nische Überlieferung scheint mir darum ein ganz besonders hohes Alter aufzuweisen. Sie weiß noch nichts von einem Vater und nähert sih darum vielmehr den primitivsten infantilen Theorien. Durch jenen titanish=sadistishen Akt entsteht die in Himmel und Erde geteilte Welt. Die Erinnerung an den polynesishen Mythus verleitet uns nun, jene Handlung in unserer Bee als segen- bringend für die Lebewesen zu betrahten. Doch das Gegenteil trifft zu, sie gehen zugrunde und erst eine neue Schöpfung ist erfordert, um die Welt zu bevölkern. Der Widerspruh ist nur scheinbar. Man erinnere sih, daß ein hilfreiher Gott immer zwei Seiten hat, daß insbesondere die Gottheit, die man darum bittet, sie möge die Geburten ans Licht befördern (vgl. oben Obatala, p. 31 und unten Kronos, p. 37 ff.), naturgemäß aud als diejenige angesehen werden mußte, die sie, im Falle, daß sie das Gebet unerhört läßt, im Dunkel zurückhält oder dem Tode weiht. Da dieser Januscharakter in der Natur einer Sondergottheit liegt, vermag ich nicht einzusehen, warum Bels zugleih gute und böse Natur in Chantepie de la Saussaye’s Lehrbuch der Religionsgeshicte, I. Bd., p. 76, als echt semitisch bezeichnet wird. Es wird viel Unfug mit derlei Etiketten getrieben. Scließlih mag nicht unerwähnt bleiben, daß die ver- sengende Kraft des Lichts gerade in dem Mythus eines ursprüng= lihen Wüstenvolkes in leiht erklärbarer Weise zum Ausdruck gelangen konnte.

Im hellenischen Pantheon tritt uns das Titanen-Motiv in einer großen Anzahl von Parallelgestalten entgegen, deren Zusammen- gehörigkeit freilih nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist. Denn im griehishen Geiste hat eine übermädtige Phantasie gewaltet, osgebunden von der Lebensnot, die der Ausbildung des Natur- mythus ursprünglih zugrunde lag, desto mehr befähigt, die dem Unbewußten angehörigen affektiven Faktoren des Mythus zu rest- loser Entfaltung zu bringen. Das für uns älteste Kompendium der hieher gehörigen Mythen ist die Theogonie des böotishen Dichters Hesiod, ein Werk von über 1000 Hexametern, etwa 700 v. Chr. entstanden, keineswegs einheitlih dem Stoffe nah, aber, wie man sich immer mehr überzeugt hat, von späteren Beimischungen ziemlich freigeblieben. Das Verhältnis, in dem der Dichter zu seinem Stoffe

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 35

steht, ist wesentlich ethisher Natur. Er will die Macht und Herrlih= keit des Zeus verkünden helfen und führt unter diesem Gesicts- punkt den Schatz theogonisher Weisheit seiner gläubigen Zuhörer- shaft vor Augen. Nicht im Inhalt, dessen wirklihe und scein- bare Widersprüche nachzuweisen zahlreiche Philologengenerationen beschäftigt hat, liegt darum die Einheit des Werks, Hesiod ist kein Fabulierer wie Homer, nicht die Phantasie ist es, die ihn von Bild zu Bild trägt; »die Begründung einer moralishen Weltordnung, das ist der leitende, das Ganze zusammensdließende Gedankes (E. Bethe). Bei dem Umstand, daß unser Dichter eine lebendige Persönlichkeit von Fleish und Blut ist, deren eigenste Nöte wir aus seiner zweiten größeren Dichtung, dem Lehrgediht von den Werken und Tagen, uns vergegenwärtigen können, ist es keine schwierige Sache, den persönlihen Faktor in seiner Darstellung der Mythen nahhzuweisen. Um so besser wird dann das allgemein Religionsgeshichtlihe und Psychologishe zu würdigen sein. Es widerstebt mir, hier Dinge anzu- führen, über die sich der gerade nicht informierte Leser aus jeder Geschichte der griehischen Literatur Rat erholen kann, ich weise darum nur darauf hin, daß die Emporhebung des Zeus zur monardhischen Gewalt in der Götterwelt in den Lebenserfahrungen des Dichters insofern begründet ist, als sie der wirklihen Welt einer ausgearteten Äristokratie, unter deren Bedrückungen er und seine Landsleute zu leiden hatten, das tröstende Wunscgebilde einer moralishen Weltordnung unter der Herrschaft eines obersten Gottes gegenüberstellt.

Das Titanen-Motiv erscheint in der Theogonie verbunden mit den eigentlih so genannten Titanen, unter denen Kronos der hervorragendste ist, mit den Kyklopen, den Hekatoncheiren und den Japetiden Atlas und Prometheus.

Aus dem Chaos, dem gähnenden Schlund (makrokosmisches Symbol der vagina) entsteht die Erde (Gaia),; diese zeugt ohne Liebesumarmung den gestirnten Himmel (Uranos) und bringt aus der Vereinigung mit ihm (Inzestmotiv) zuerst den Ozean, dann die Titanen hervor, deren Namen lauten wie folgt: Koios, Krios, Hyperion, Japetos, 'Theia, Rheia, Themis, Mnemosyne, Phoibe, Tethys; nach ihnen wurde als Jüngster geboren der listenreiche Kronos, das gewaltigste unter den Kindern, er faßte Haß gegen seinen blühenden Vater (Theogonie, v. 137 f). Weiters sind Söhne des Uranos und der Gaia die Kyklopen Brontes, Steropes und Arges (v. 139 bis 146), dem Namen nah Gewvitterriesen, und die hundertarmigen Riesen (v. 147 bis 153); es heißt dann weiter in der Theogonie (nach der Übertragung von Peppmüller):

Alle, welhe von Himmel und Erde entsprossen, der Söhne

Schreclichste, waren verhaßt von Anfang dem eigenen Vater.

jener, sobald nur einer geboren ward, wußt' er sofort auch le zu bergen und keinen hervor zum Lichte der Sonne

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35 . Emil Franz Lorenz

Ließ er im Schhoße der Erde; es hatte am schmählihen Werke Uranos Freude, doch drinnen erseufzte die riesige Erde, Elend bedrängt: und listige Kunst ersann sie voll Klugheit. Denn von shimmerndem Stahl alsbald eine Waffe bereitend, Scuf sie die mächtige Sichel und wies sie den teueren Kindern. Also sprach sie ermunternd, im lieben Gremüte beängstigt: »Kinder von mir und dem frevelen Vater, wenn ihr gehorchen Wolltet, dann rächen wir wohl an dem Vater, der euch gezeugt hat, Kränkung und Shmadh, denn zuvor hat er schreckliche Werke ersonnen.« Sprah’s, doh Furdt hielt alle zurük und keiner von ihnen Sprah ein Wort: da faßte sih Mut der verschlagene Kronos Und er erwiderte drauf mit Worten der ori Mutter: »Mutter, ich will es versuchen, das Werk und will es vollenden. Denn ih kümm’re mich niht um den Vater unsagbaren Namens, Der uns gezeugt, denn zuvor hat er schreKklihe Werke ersonnen.« Sprah’s, hoch freute sich d’rob die riesige Erde im Herzen. Heimlih barg sie im Hinterhalt ihn: Scharfzähnige Sichel Gab sie ihm dann in die Hand und lehrte ihn jeglihe ÄArsglist. Nadt herführend ershien darauf Uranos, voll von Verlangen Hielt er die Erde umfaßt, nach allen Teilen sih dehnend. Aus dem Versteck sprang darauf sein Sohn, mit der Linken ihn fassend, Doch mit der Rechten ergriff er die Sichel, die riesige, lange, Scharf und gezahnt, und mähte die Scham des eigenen Vaters Bilig ihm ab. Dann warf er sie hinter sich, daß sie nach rückwärts

Flog (V. 154 bis 182).

Nah rückwärts wirft Kronos das Glied, um der Zauber- wirkung seines Anblicks zu entgehen (Penis apotropaeus). Es folgt die Schilderung von der Geburt der Aphrodite, die sih im abge- schnittenen, jetzt im Meere shwimmenden Zeugungsglied des Uranos bildet, entsprechend der weiter unten zu würdigenden Anschauung, daß Kinder, die ohne Begattung gezeugt werden, immer das von ihrem Erzeuger verschiedene Geschleäht haben (Zeus Athene, Hera Hephaistos). Dann folgen (V. 207 bis 210) vier abge- rissene Verse, welhe scheinbar die durh die Aphrodite-Episode unterbrochene Darstellung fortsetzen:

Be die anderen, aber benannte Titanen der Vater

ranos, der sie erzeugte, der Mädtige, scheltend die Kinder,

Da sie mit frevelndem Sinne die Ba zu entsetzlihem Werke Damals erhoben, dodh rächen, so sagte er, werd’ es die Zukunft. Wir werden uns mit diesen Versen gleih zu beschäftigen haben. Daß unser Kronosmythus den oben vorgeführten Überliefe-

rungen an die Seite zu stellen ist und besonders mit dem an die

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 37

Spitze gestellten polynesishen Mythus bedeutsame Berührungen zeigt, dürfte selbst solhen Forschern gegenüber, die sih noch bis vor kurzem mit einer Art religiöser Scheu derartigen orientierenden Ausblicken verschlossen haben, nahzuweisen nicht mehr erforderlich sein. Die Vergleihung ist zuerst durchgeführt worden von Andrew Lang in »Custom and myth», später auh in »Myth, ritual and religion«; vgl. auch desselben Autors Artikel »Mythology« in »Encycl. Brit.«, vol. 17, ferner »Roschers Lexikon der Mythologie«, II/1, Artikel Kronos.

Kronos war aud eine Kultgottheit: seiner kosmogonischen Funktion als s. v. v. Ka naturae tritt aufs glück- lihste zur Seite seine kultishe Verbindung mit Eileithyia, die der römischen Lucina entspricht, und mit Aphrodite, wofür die literari- shen Nachweise bei K. Bapp in RLM. II, 1, col. 1475 f., der indes diese eigentlih recht naheliegende Beziehung nicht bemerkt hat, vgl. auh die von ©. Gruppe (Grieh. Kulte und Mythen, I. Bd., p. 516) in einem anderen Zusammenhang angeführte Stelle aus einer gnostishen Schrift, den peratischen Iloodoreioı <= Philo- sophumena 16, p. 199, Cr.): Tov Koovov oBÖdeis av &v yavocı xad'- EOTEOTOV ÖLaPvyEIv Öbvaras‘ TAN Yao yEv&ocsı TOOg TO Öosteoelv tn pÜood almıog Ep£ornzev 6 Koövos xal 00% Av yEvoıro yEvsoız, &v 7 Koövog 00% Zumodiän. »Prinzip des Todes ist er aber augen- scheinlih nur deshalb, weil nah der Mystik der Peraten der Tod unmittelbare Folge des Geborenwerdens, ja mit diesem eigentlich identisch ist.« Aud liegt, wie die Vergleihung mit der Stelle aus Berosos (s. oben p. 33) lehrt, die Hervorkehrung der schlimmen Seite seiner Tätigkeit in seiner Natur als Sondergottheit des Kultus. »Apollodor von Athen (bei Macrob., I, 8,5) bezog die Fußbinden des römischen Saturn und ihre Lösung auf Geburt und Entbindung im zehnten Monat. Die Illyrier bringen ihrem Gott Kronos die Pferdeopfer alle neun Jahre, neunjährig ist das große Jahr der Alten und dem Kronos ist das Jahr geweiht.« (RLM. I. c.). Plutarh Is. et Os. 69, p. 378 E.: &# Koövov xai "Agpoodirms yevvdodar wavra: aus Kronos und Aphrodite werde alles erzeugt. Kronos wurde shon von den Alten mit dem semitishen Molodh identifiziert. Die Anhaltspunkte dazu fanden sich teils im Mythus, teils im Kultus. Was den ersteren anlangt, so ist auf die wiederum durch Hesiod aufbewahrte Überlieferung hinzuweisen, daß Kronos, dem geweissagt wurde, daß seine Kinder ihn der Herrschaft berauben würden, wie er es dem Uranos getan, dieselben, sobald sie aus dem Mutterleib kamen, verschlang: |

Diese vershlang nun Kronos, der starke, sowie nur ein jeder Aus dem gesegnetem Schoß zu den Knien der Mutter gelangte.

t Theog., v. 459 f; Peppmüllers unrihtige Übersetzung von Vers 460 habe ich geändert.

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Rheia bringt dann auf Rat des Uranos und der Gaia ihren jüngsten Sproß nad Kreta und gibt dem Kronos einen Stein zu verschlingen. Zeus wäcst dort auf und bereitet das Werk der Rache.

Das Kinderverschlingen des Kronos betrahte ih als Kultlegende oder ätiologischen Mythus. Rank! sieht darin einen ee (Umkehrung!) und stellt die Erzählung zu den deutshen Märchen vom Rotkäpphen und vom Wolf und den sieben jungen Geißlein, diese beiden Märchen sind nun wieder nad Frobenius’ Nachweis (Zeitalter des Sonnengottes, I. Bd., 1. Kap.: Der Sonnengott im Fishbaudh) Varianten der Walfıshmythen, in denen das Landtier, der Wolf, wie öfter in der germanischen Über- lieferung, für den Fisch steht. Die Walfıshmythen sind aber, wie die Psyhanalyse nachweist, samt und sonders ihrem latenten Inhalt nach Geburtsmythen, manifester Weise jedoh Astralmythen. Der Walfısh ist das Symbol des Mutterleibes, das Herzabschneiden im Innern des Fishes symbolisiert die intrauterinale Ernährung, das Ausspeien die Geburt, die auf die Hitze im Walfıschkörper zurük- geführte Tatsahe des Haarausfalles ist ein deutlicher Hinweis auf die Kahlheit, wie im Märchen vom Rotkäppchen die Atemlosigkeit der Großmutter auf die Asphyxie des Neugeborenen (vgl. Rank, I. c.). Dem Verscdlingen durh den Walfısh wohnt eine doppelte Bedeutung inne. Von geringerer Wichtigkeit ist die kindlihe Annahme, daß das ee dort irgendwie hineingekommen sein muß, wo es herauskommt, vielmehr sceint eine Reihe von Zügen darauf hinzudeuten, daß wir es dabei mit einer Inzestphantasie zu tun haben. Erstens wird der Held keineswegs immer wider Willen von dem Untier verschlungen, er stürzt sih aud freiwillig hinein (vgl. Frobenius, p. 83, 84, 85, 87, 9, 93, auh 67 ff. in der Legende von Maui, der seiner Ahnin in den Leib krieht und dabei den Tod findet); auch wird der Held in der Mehrzahl der Fälle von dem Tier nicht feindlih behandelt, sondern erhält die Erlaubnis, sih von dem Fleish desselben zu nähren (vgl. I. c., p. 81: Ihr könnt von meinem Fleishe essen, aber hütet euch, meinen Magen zu verletzen, denn sonst müßt ihr sterben, ebenso p. 83: Ich habe viel Flesh ... Nehmt nur, soviel ihr wollt, aber schneidet meine Kehle niht durh, denn sonst müßt ihr sterben). In einer Mythe der Eskimo <(p. 85) bittet der Rabe den Walfısh, das Maul zu öffnen, im Innern desselben findet er ein schönes, von einer Lampe erleuchtetes Zimmer, in dem ihn ein schönes junges Mädchen empfängt. Man sieht, die Geschichte ist gar niht so schlimm wie sie aussieht und nah der unbewußten Dede: des Mythus soll sie es auch nicht sein, wenn wir sie an der Hand ihrer sehr eindeutigen Symbolik als Inzestphantasie erklären (vgl. Stekel, Zur Symbolik der Mutterleibsphantasie, Zentralbl. f. Psychoan., I. Bd., p. 102). Interessant ist es, daß in den Verschlingungsmythen, die eine rein menschliche

ı Völkerpsydh. Parallelen etc., Zentralbl. f. Psychoan., II. Bd., p. 427.

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 39

Form angenommen haben, die Zensur in anderer Weise gewaltet hat, indem sie den gutmütigen Walfısh durch die menschenfresserische Mutter ersetzt, die ihren eigenen Kindern nachstellt, wie in der Sage der Zulu (bei Frobenius, p. 110); auch unser gutes altes Märchen von Hänsel und Gretel muß hieher gestellt werden.

Die Verbindung dieses ersten, eine Inzestphantasie enthaltenden Teiles der Walfıschmythen, mit dem zweiten, der die eigentliche Geburtsphantasie enthält, geschieht in den meisten Mythen in der Weise, daß die im Bauhe des Fisches befindlihen Gäste das Verbot ihres Wirtes übertreten und sich solange Fleisch herunterschneiden, bis das Tier zugrundegeht, dann kommen sie wieder ans Licht (Geburt), meistens in der Weise, daß das Tier ans Land treibt und dort aufgeschnitten wird (infantil=sadistishe Vorstellung; vgl. oben p. 39. In der Zulumythe begegnet die Menscenfresserin, nachdem sie ihre Kinder eingeholt a verschlungen hat, auf dem Rückweg einem Vogel, der immer größer wird, scließlih so groß wie ein Haus. Bi nimmt ihr die Axt weg, schlägt ihr Arme und Beine ab und reißt ihren Leib auf. In einem anderen Mythus (l. c., p. 109, wird der Held zu deutsh »Kleinrotleib« genannt. Falls es jemand vorzieht, diesen Ausdruk auf die auf- und untergehende Sonne zu beziehen, die indes erfahrungsgemäß beim Auf- und Untergang größer erscheint als untertags, so weisen wir darauf hin, daß die neugeborenen Kinder aller Rassen von rötliher Haut= farbe sind und daß auch das Prädikat klein auf sie unbestrittene Anwendung finden dürfte.

Audh Kronos, zu dem wir uns jetzt nach diesem längeren Exkurs zurükwenden wollen, vershlingt seine Kinder, bekommt statt des letzten einen Stein, ganz wie dem Wolf des deutschen Märcens Steine in den entleerten Wanst genäht werden, aud er muß sie schließlich wieder ausspeien. Es erhebt sih nun die Frage, ob dieses Motiv hier als ursprünglich anzunehmen ist, was ih glaube verneinen zu müssen. Erstens fehlt hier offenbar die den anderen Verschlingungsmythen eigene inzestuöse Tendenz, da „die Kinder von dem Vater verschlungen werden, einen zweiten Grund gibt uns folgende Überlegung an die Hand, die erweisen wird, daß hier das Verschlingungsmotiv an die Gestalt des Kronos angeheftet wurde, um einen kultlihen Brauh zu erklären. Dem Kronos wurden nämlih in den ältesten Zeiten Kinderopfer gebrakdt, wofür wir die Beweise nicht bloß in der lebendigen Erinnerung der Griehen der historishen Zeit erbliken dürfen, die ihn mit dem phönizishen Moloch identifizierten, wir besitzen vielmehr Zeug- nisse dafür, daß sich Spuren dieser Kinderopfer noh bis in die spätesten Zeiten des Griechentums erhalten haben. Mannhardt (Antike Wald- und Feldkulte, p. 336ff.) berichtet von solchen Kinderopfern in Lykaia in Arkadien, die dem Kronos dargebradt wurden, um Mißwacdhs abzuwenden. Er bezeichnet zusammenfassend

(p. 340) als den wahrsceinlihen Sachverhalt folgendes: Ȁlle neun

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oder zehn Jahre fand an der Sommersonnenwende von Seite eines bestimmten Geschlechts (der Anthier) in dem für gewöhnlih und für jeden anderen unnahbaren Hain des Zeus, allein oder mit anderen Opfern vermischt, das wirklihe oder symbolische Opfer eines Kindes statt. Die Vermutung, daß das Fest zur Zeit der Sonnenwende stattfand, mithin ein Gottesdienst war, welcher wahrsceinlih gleich den anderswo entzündeten Mittsommerfeuern den Zweck hatte, Seuhe und Mißwads fernzuhalten und das Gedeihen der Pflanzen zu fördern, wird verstärkt durh den in denselben Ideenkreis fallenden Regenzauber an der Quelle Hagno.« Folgt die Beschreibung des Regenzaubers, der durh Eintauhen eines Zweiges in das re der Quelle vorgenommen wurde. Das Opfer wurde im Hain des Zeus dargebradt, ist aber, wie Mannhardt (p. 346) ausführt, an Stelle der verdrängten El-Kronos-Kinderopfer getreten. Sein ange- gebener Zwek, Seuhe und Mißwadhs fernzuhalten und das Br deihen der Pflanzen zu fördern, läßt uns mit einem Male einen Blik tun in die naturmythishe Bedeutung des Kronos, die in der griehishen literarishen Überlieferung nahezu unerkennbar geworden ist, im Kult aber, wie so oft, sih mit Zähigkeit erhalten hat. Erinnern wir uns, daß es Vegetationsgötter sind, die sich im polynesishen Mythus zur Zurücdrängung des Himmels vereinigen und daß ihren Parallelgestalten im griehishen Mythus, den Titanen mit Kronos an der Spitze, dieselbe Tat zugeschrieben wurde. Nur lehrte uns der griehishe Mythus nichts darüber, ob wir auch in den Titanen Vegetationsgötter zu erblicken haben, erst das arkadische Opfer gibt uns darüber Aufshluß. Die Titanen müssen demgemäß als schützende Dämonen des vegetativen und animalishen Lebens betrahtet werden. Sie erzwingen sih durch die Beseitigung des Uranos Liht und Leben und werden darum sinngemäß im Kult angerufen, um das Gedeihen der Pflanzen zu befördern. Da ferner der Parallelismus zwishen den Früchten der Erde und den Geburten der Menshen der griehishen Volksanshauung wie auch der anderer Völker (vgl. Deuteron, 6,13) ganz vertraut ist (vgl. Soph. K. Od. 25ff., 268ff. und im allgemeinen Dieterich, Mutter Erde, p. 46ff.), so ist es ganz folgerichtig, wenn Kronos sowohl als Gott des Ackerbaues, wie auch R. Geburtsgott (s. oben, p. 37 ff.) angerufen und durch Opfer verehrt wurde. Wie er die im Schoße der Erde eingeshlossenen Geburten ans Tageslicht schafft, so rufen ihn die Frauen in ihrer shweren Stunde, auch den Früdten ihres Leibes gnädig ans Licht zu helfen. Daß ihm dafür gerade Kinder geopfert wurden, bedarf ebensowenig einer weiteren Erklärung als die neunjährige Periode des illyrishen Roßopfers und des arkadischen Opfers zu Lykaia. Nun besitzen wir aus dem Altertum einige Schilderungen des Molochopfers, die in RLM. II. 1, 1501 in folgender Weise zusammengefaßt werden: »Bine eherne Figur, die man sic als kolossal denken muß, stand oder saß also gänzlich in der Grube, höchstens mit dem Kopf hervorragend, indem die schräg empor und

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 41

vorwärts gestreckten Arme mit den Enden den Erdboden berührten, zwischen und unter ihnen aber das Feuer loderte, sei es daß sich dafür in der Grube eine besondere Vorrichtung befand, oder der unsichtbare und plastisch wohl gar nicht ausgeführte Unterkörper in den feurigen Ofen überging.« Ähnlih wie dieser Moloh hat wohl auh der von den Griehen selbst mit ihm identifizierte Kronos ursprünglih sein Opfer empfangen, was dann zur Veranlassung wurde, auf ihn in ätiologischer Absicht die Verschlingungs- mythe zu übertragen. Einen Anhalt hatte man bei diesem Vor- ang darin, daß der zweite Teil dieses Mythus zur Eigenschaft des ar als Geburtsgott zusammenstimmte, während die, wie oben ausgeführt, inzestuöse Bedeutung seines ersten Teiles ihren Sinn bei dieser späten Übertragung vollständig eingebüßt hat. Also kurz zusammengefaßt: dem Kronos-Molodh werden Kinder geopfert, damit er die een der Menschen und der Felder befördere,; dazu ist er berufen, weil er es war, der am ÄAnbeginn der Dinge den Lebe- wesen durch die titanishe Tat zum Lichte verholfen hat. Als gnädig=ungnädiger Helfer fordert er aber seinen bestimmten Opfer- tribut, den man ihm in Gestalt von Kindern darbringt, die in das Innere seines ehernen Abbildes versenkt werden. Die letztere Sitte ist dann der Grund, daß auf ihn das Verschlingungsmotiv über- tragen wird. Kronos verschlingt unsere Kinder, er hat auch seine eigenen verschlungen.

An Kronos reiht sih Atlas an. Seine Funktion als Himmels- träger stellt ihn in unmittelbare Nähe zu dem Gott, der den Himmel weggerükt hat. Seine Parallele hat er in dem schon er- wähnten Gott Ru des Mangastammes (siehe oben, p. 30). Audh Tantalos gehört hieher (vgl. M. Mayer, Die Giganten und Titanen, p. 88 f), wegen des Steines über seinem Haupte, den man für die Sonne hält. Diese heißt nämlih im Kretishen rdios (vgl. Tavrarog).

Atlas ist neben Menoitios, Prometheus und Epimetheus Sohn ‘des Titanen Japetos, Die Darstellung, dieHesiod von diesen Titanen- sprossen gibt,. wird im zweiten Teil der Arbeit ihre Würdigung finden. Von Menoitios erfahren wir lediglih, daß ihn Zeus in den Tartaros gestürzt hat, »wegen seines Frevelmutes und seiner unbän- digen Krafts. Von Atlas heißt es: » Atlas steht an den Enden der Erde, bei den hellstimmigen Hesperiden, und hält den breiten Himmel unter mäctigem Zwange mit dem Haupt und den unermüdlichen Händen, denn dieses Los hat ihm zugeteilt der Rat ersinnende Zeus« (v. 517 bis 520). Auf dieselbe kategorishe Weise ist Prometheus durh Zeus verurteilt worden. Er band den Überklugen an eine Säule mit schmerzlichen Fesseln und sandte einen Adler, der an der unsterblihen Leber fraß; doch diese wuchs immer wieder des Nadts nad, so viel auch der fittihspannende Vogel tagsüber weg- fraß (v. 521 bis 525). Die Gründe folgen erst v. 535 ff.: 1. Die Opfer-

teilung von Mekone. Bei dieser übervorteilt Prometheus die Götter

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zugunsten der Menschen, indem er durch Trug den Zeus verleitet, sich die schlechteren Stücke zu nehmen. Die Erzählung ist ein ätio- logisher Mythus und soll erklären, wieso es kommt, daß bei den Opfern das Fett und die Knodhen den Göttern dargebraht werden, während das Fleish von den Menschen genossen wird. Diese Über- vorteilung wird von Zeus bezeichnenderweise nicht an Prometheus, sondern an den Menschen geräht, indem er den Eschen die Kraft des Feuers entzieht (v. 563, der folgende Vers ist meines Erachtens zu tilgen). 2. Der Feuerraub. Prometheus entwendet es in einem gehöhlten Narthexrohr. Nochmals ergrimmt Zeus, bestraft aber diese Übeltat wie zuvor wieder an den ea und zwar, wie der. ungalante Böotier behauptet, durch die Ershaffung des Weibes (571 bis 612). Aber auch Prometheus wird diesmal bestraft und zwar in der shon oben geschilderten Weise, worauf jetzt v. 612f. zurücweist. Diese ganze Scilderung des Schicksals der Japetos- söhne ist höchst bemerkenswert. Man beachte, um zu einem richtigen Verständnis dieses Teiles der Hesiodishen Titanenmythologie zu gelangen, daß die Frevelhaftigkeit, in der diese Gestalten vom Dichter gezeihnet werden, nur der Darstellung angehört und in . ihren für die Menschheit segensvollen Taten gar nicht begründet ist. Die Würdigung dieser Ersheinung müssen wir uns für später auf- sparen. | Die Drohungen, die der entmannte Uranos gegen seine Kinder ausgestoßen hatte, gehen durh seinen Enkel Zeus in Erfüllung. Das geschieht im sogenannten Titanenkampf. Der Ver- shlingung durh Kronos entronnen und mit großer Schnelligkeit herangewachsen (TIheog. v. 492f.), bereitet er sih zum Kampf gegen seinen Vater. Zu diesem Ende gewinnt er zu seinen Geschwistern, die Kronos wieder hatte ausspeien müssen, als Bundesgenossen die Hekatoncheiren hinzu, Söhne des Uranos und der Gaia, die dieser gleih nah ihrer Geburt aus Furdht vor ihrer Kraft in die Tiefen T Erde verbannt hatte (v. 146 ff.), ohne daß nach der Tat des Kronos ihre Befreiung erfolgt wäre. Diese schre&lihen Gestalten, Nebenfiguren zu den sen, deren Brüder sie sind, Kottos, Briareos und Gyes genannt, sollten ihrer Natur nach auf Seite der Gegner des Himmelsgottes stehen, mag dieser nun Uranos oder Zeus heißen. Man hat es darum dem Hesiod als Schiefheit vermerkt, daß er sie zu Bundesgenossen des letzteren macht und verweist auf die kyklische Titanomachie, in der sie auf Seite der Aufrührer stehen (vgl. RLM. II, 1, col. 1454f.). Ein glücklicher Zufall hat es nämlich gewollt, daß uns von dem Inhalt dieses verloren gegangenen Epos der einzige Punkt, der uns hier interessiert, durh eine Nachricht der Schol. Laur. ad Apoll. Rhod. 1, 1165 erhalten blieb. Dort lesen wir (= Epic. Graec. Frag. coll.

i Was es mit dem nidog (der Tonne) der Pandora, des ersten Weibes, auf sih hat, dürfte wohl jedem Psycanalytiker klar sein, das Deutsche spridt in ahnendem Verstehen von der Büchse der Pandora.

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 43 Kinkel, p. &%: Eöumkos de &v 7) Tiravouazia Tov Aiyalova Ins xai 1lovrov pnoi scaida, xaromodvra ÖE &v 7 Valdoon rois Tıräcı ovuuazeiv, zu deutsh: »Eumelos madt in seiner Titanomachie den Aigaion (anderer Name für Briareos) zum Sohn der Gaia und des Pontos und läßt ihn im Meere wohnen und auf der Seite der Titanen kämpfen.« Wenn diese Hekatondheiren mit Aigaion-Briareos an der Spitze jetzt bei Hesiod gegen die ihnen nah Geburt und Scicksalen nahestehenden Titanen kämpfen, so ist diese Tatsache jedenfalls der Untersuhung wert, die wissenscaftliihe Methode erfordert es jedoh, zuvor alle Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen, ehe man sie für eine sinnwidrige Verschiebung erklärt. Es zeigt sih nämlih, wie so oft, daß die berannte Einzelheit mit vielen anderen in sehr feiner Weise zusammenhängt. Erstens herrscht zwischen den beiden Geschlechtern der Titanen und Hekatondeiren nah der Hesiodischen Darstellung tatsählih ein viel älterer Zwiespalt, der darin zum Ausdruck kommt, daß die letzteren nad der Entmannung des Uranos nicht aus ihrer Gefangenschaft erlöst werden. Wir dürfen hier wohl das Motiv des Bruderzwistes als wirkend annehmen. Dieser Gegensatz der Hekatondeiren zu den Titanen ermöglicht es dem Zeus, sie zu Bundesgenossen zu gewinnen, da er gegen die Titanen, seine Feinde und ihre, zu Felde zieht. Man achte aber wohl darauf, daß dies nicht die ursprünglihe Fassun der Sage ist, die uns durch die oben zitierte Notiz aus dem we der kyklishen Titanomadie erhalten ist, sondern eine von der späteren Zeit, meinetwegen von Hesiod selbst eingeführte Neuerung, deren Tendenz wir dem allgemeinen Charakter der religiösen Welt- anschauung Hesiods gemäß dahin ausdrücken dürfen, daß durch eine derartige Ülmkehr der Gesinnung im Lager der Feinde des Himmels- gottes die versöhnende Kraft des Zeus ins hellste Licht gestellt wird. Das von uns erschlossene Motiv des Bruderzwistes liefert die äußere Bedingung für dieses Zusammensdließen. Indes wird sich der eigent- lichste, tiefste psychologishe Grund, der die Hesiodische Darstellung endgiltig rechtfertigen soll, erst aus dem Zusammenhang des zweiten Teiles entwickeln lassen.

Die Gewinnung der Hekatondeiren bedeutet die entscheidende Wendung des zehnjährigen Kampfes, den die Olympier mit den Titanen führen. Der Himmelsgott Zeus gewinnt den Sieg und ver- bannt die Titanen in die unterirdishen Tiefen, die ihr Aufenthalts- ort gewesen waren, ehe Kronos die Hand gegen seinen Vater erhob.

Als eine Nebenform der Titanensage ist die Erzählung von dem riesenhaften Brüderpaar der Aloaden anzusehen, die zuerst im Unterweltsbuch der Odyssee erscheint (11, 305 bis 320): Hierauf sah ih Iphimedeia, die Gattin des Aloeus, welche vorgab, sie habe in Poseidons Armen geruht, und sie gebar zwei Kinder, denen kein langes Leben beschieden war, den gottgleihen Otos und den weit= berühmten Ephialtes. Sie waren die größten, die je die nahrung- sprossende Erde hervorgebraht hat, und weitaus die schönsten

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nah dem herrlihen Orion. Schon mit neun Jahren maßen sie neun Fäuste in der Breite und ihre Länge betrug neun Ellen. Und sie drohten sogar den Uhnsterblihen, das Getümmel des stürmishen Kampfes in den Olymp hineinzutragen, den Ossa wollten sie auf den Olymp setzen, auf den Ossa jedoh den blätter- schüttelnden Pelion, damit der Himmel ersteigbar sei. Und sie hätten es auch ausgeführt, wenn sie zur Vollkraft der Jugend gelangt wären, doh es streckte sie nieder der Sohn des Zeus, den die schön- haarige Leto geboren, ehe ihnen die Milchhaare sproßten und mit Flaum die Kinnbaken bedeckten. Außer der bedeutungsvollen Wiederholung der Zahl 9, die wir bereits im Kronosmythus ge- troffen haben, von den neun Monaten des Intrauterinallebens her- genommen und immer in Verbindung mit Geburt und schnellem Aufwadsen,! bemerken wir, daß hier das titanishe Motiv des Himmelstürmens in großer Klarheit ausgeprägt ist. Das war, wie weiter unten gezeigt werden soll, auch die Ursahe, daß an dieser Version zuerst der Versuch der Vergleihung mit außergriehishen, das Titanen-Motiv enthaltenden Überlieferungen vorgenommen wurde

(S. u. p. 49.).2

1 »Das Problem der Zeit ist das tragishe Problem des Kindes« (Stekel, Die Beziehungen des Neurotikers zur Zeit. Zbl. f. Psychoan., II. Bd., p. 248 f.),; es weiß, daß es seine Eltern nie erreichen kann, sein sehnlihster Wunsch ist, groß zu werden wie diese. Dieser Wunsch tritt im Mythus zutage, indem der Held mit wunderbarer Schnelligkeit aufwächst. So Zeus nach Hesiod (Theog. 492) Hermes nach dem gleichnamigen homerischen Hymnus und dem Fragment der ’Igveöraı, in der durchsichtigsten Symbolik aber in unserem ÄAloaden-Mythus. Auf über- rashende Weise löst den schweren Knoten der indische Mythus, wenn er be- richtet, Indra habe sich Vater und Mutter aus seinem eigenen Leibe geschaffen eenplonald Vedic mythology, p. 12). Siehe auch Rank, Geb. d. Helden, p. W,2, 2 Die Etymologie des Wortes Tıraves ist im Dunkeln, die Vermutungen sind zahlreih. Vgl. ©. Gruppe, Grieh. Mythologie und Religionsgesc., p. 411, 8 und 1286. Aus dem Altertum stammen Ableitungen, wie die hesiodishe (Theog. 210), die das Wort erklärt als tioavres Tov smat£oa (Bestrafer ihres Vaters), oder es mit Tıralvew (spannen, anspannen) in Verbindung bringt, was wohl auf ihre kosmogonishe Funktion im Hinwegdrüken des Himmels zurükweist (vgl. den polynesishen Mythus). Mehr Gewähr haben die Angaben bei Nikander, Fre. 4, wo die Titanen als noranwösıs Veol erklärt werden, und bei Lukian de saltu nymph., wo Priapus Tırav genannt wird. Demgemäß leitet auh Kaibel (Gött. gel. Nachr. 1901, p. 492) das Wort von tiror, einem Ausdruck für das membrum virile, ab. Da die Titanen, wie aus unserer Analyse hervorgeht, segenbringende Fructbarkeitsdämonen waren, wäre diese Etymologie auh sachlich gerechtfertigt. Daneben läuft jedoch eine zweite Reihe. Sie geht davon aus, daß Titan aud ein Beiname des Sonnengottes ist. Als solcher fehlt er allerdings nah dem Zeugnis Gruppes (l. c., p. 421,3) im Kult und in der gesamten älteren Literatur und wird erst später, namentlich in der orphischen Literatur, häufig. Es ist ja möglich, daß er innerhalb dieser auf Grund der hesiodischen Ableitung von tiveıw (rächen) zur Be- zeihnung des allrächenden Sonnengottes aufgekommen ist, doh hat das Wort Tırav an sich eine etymologishe Beziehung zum Lidt.

So kommt nad Prellwitz, Etymolog. Wörterbuch d. griech. Spr. 2. Aufl., 463, bei Kallimachos (Frg. 206) tiro als Bezeichnung für Tag, genauer eine Göttin, die den Tag heraufführt, vor, vgl. ai. titha=-s Feuer, Glut,; tithis funarer Tag; lat. titio Feuerbrand; lit. titnagas Feuerstein (). Merkwürdigerweise fügt sih auch

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Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 45

Im Anschiuß an die griehishen Berichte führe ih die Nadı= richten vor, die uns aus der ägyptischen Mythologie in Hinsicht auf das Titanen-Motiv erhalten sind. Ich tue das an dieser Stelle des- halb, weil die Philologen gewöhnlich das anstößige Motiv der Ent- mannung des Uranos auf Ägypten zurückführen in der schlecht ver- hüllten Absicht, es damit von den Griehen wegwälzen zu können (vgl. A. Dieterich, Abraxas, p. 76,4, Preller-Robert, Gried. Mythologie, p. 52f. RLM. II, 1, 1543f.). Sie beziehen sich dabei auf eine Stelle im ägyptishen Totenbud, die bei Brugsch (Religion und Mythologie der Ägypter, p. 225) folgendermaßen lautet: »Ic bin es, ih, nämlich Osiris, ih habe eingeschlossen meinen Vater Queb und meine Mutter Nut an jenem Tage der großen Verstümmelung. Mein Vater ist Queb, meine Mutter Nut, ih bin Horus der Ältere, der Sohn.« Diesen Worten des Osiris liegt gewiß eine primitive Form des Titanen-Motivs zugrunde, aber die Übereinstimmung mit dem Kronosmythus ist doch sicher nicht so groß, daß darum eine Abhängigkeit der griehishen von der ägyptishen Überlieferung konstruiert werden dürfte. Übrigens ist diese Stelle des Totenbuches nicht die einzige Quelle für unsere Kenntnis des Welteltern- und Titanenmythus auf ägyptishem Boden. Queb und Nut, in der Rede des Osiris offenbar die Welteltern, sind nah H. Schneider ein Geschwistergattenpaar, das sih umschlungen hält, bis es schließlich getrennt wird. Doc zeigt die Ausführung des Gedankens im ein- zelnen eine Reihe von Abweihungen gegenüber der Mehrzahl der übrigen Titanenmythen. Eirstlih ist Queb, die irdische Gottheit männlich, Nut, die himmlische, weiblich gedadt, dann geschieht die Trennung nicht durch ihre eingeschlossenen Kinder, sondern durd die Eltern Schu (die Luft) und Tefent (das Wasser der Luft).

Schu und Tefent selbst stammen von Re, dem Sonnengott, der sie

diese Etymologie dem von uns erschlossenen Charakter der Titanen, da diese in enger Verbindung mit ihrer Natur als Vegetations= (phallische) Götter, zugleich Heraufbringer des Lichtes sind, ein Zug, der in allen Titanenmythen, vorzüglich aber im polynesishen Berichte zutage tritt. Wer nicht direkt Linguist ist, wird sich natürlich nicht anmaßen, hier eine Entscheidung treffen zu wollen, zumal die Forscher, wie Fick (vgl. Wörterb. d. indogerm. Spr., I. Bd., 4, 62), keine Bedenken tragen, in modifizierter Weise auf die hesiodische Etymologie zurückzugreifen und die Titanen als die eidrähenden Götter von tiveıw abzuleiten, während F. Solmsen (Indogerm. Forshungen, XXX. Bd., 1912, p. 36f.) sie nah Preller mit tırög »geehrt« verbindet, ein blasses Vokabel, für das eine ähnlihe Ausdruckslosigkeit mehrerer anderer Götternamen aus der mykenischen Periode als Stütze heran- gezogen wird. Doch wage ich die Vermutung, daß die oben erwähnten etymo- logishen Ausgangspunkte: titor = membrum virile und tırö = Tag (Feuer, Glut, Feuerbrand im ai. und fat.) vielleiht gar nichts ursprünglih Verschiedenes be- deuten. Indes muß ich eine tiefere Begründung dieser Vermutung für einen anderen Zusammenhang aufsparen. Es sei nur noch erwähnt, daß die bis jetzt ungelöste Frage, wie Helios zu dem Beinamen Titan gekommen sei, eine Lösung in dem Sinne zuläßt, daß Helios-Apollon mit der Funktion der verdrängten vorolympischen Lichtgötter auch deren Namen an sich gerissen hat, wie Athene (nah Festus 220) den des Pallas, eine Lösung, die ganz unabhängig davon ist, ob in dem Namen Titan audh ein Hinweis auf die Lichtnatur des Gottes enthalten ist.

46 an Emil Franz Lorenz

nach der einen Theorie ungeschlectlich hervorbringt, nacı der anderen in die Hohlhand zeugt und aus dem Munde gebiert. Mit den an- geführten Vorstellungen steht in nächstem Zusammenhang der Mythus von der Himmelskuh, der nah Brugsch! auf der Hinterwand einer Seitenkammer im Grabe des Königs Seti I. zu Biban el Moluk in Wort und Bild dargestellt ist. »Die Inschrift erzählt in ausführlicher Weise, wie das Menschengeshleht sih im Aufruhr gegen seinen alt und shwadh gewordenen Schöpfer, den Lichtgott Ra, erhoben hat, wie er sich, überdrüssig ihrer Bosheit, mit den versammelten Göttern, an ihrer Spitze der Vater Nun, beraten hat, was zu tun sei, und wie man einstimmig die Vernichtung des Menshengeschledhts be- schlossen habe.« Die Göttin Hathor erhält den Befehl zur Aus- führung des Beschlusses. Da faßt Ra den Entschluß, von der Erde zu sheiden. »Mein Leib wird zunehmen an der begonnenen Schwäche, wenn ich nicht hingehe, wo mich kein anderer erreihen kann.« Der Urvater Nun habe hierauf dem Gotte Shu den Auftrag gegeben, als Auge seines Vaters auf der Erde zu dienen, d. h., sie als en strahl zu erhellen, während die Göttin Nut in eine Kuh verwandelt worden sei, um den Lichtgott Ra auf ihrem Rücken zu tragen. Ra befiehlt dem Luftgott Schu, den Leib der Kuh auf seinem Kopf zu tragen. Nadı dieser Überlieferung entsteht somit eine neue Welt- ob nah weldher der Bildung der Erde die Schöpfung des met und der Luftsphäre folgte, ersterer vertreten durch die Ge- stalt der Himmelskuh Nut, letztere durh den Gott Schu. »Er hin die Himmelsdeke auf ihren vier Säulen auf, indem er sie als Luft stützte, er hing das Himmelsgewölbe auf und lieh sich her als seinen Träger in Gestalt einer großen Luftsäule im Angesiht der Stadt Esne. Schu der ZkE et wird darum Seine Majestät ge- nannt und kein anderer übertrifft ihn unter diesem Namen. Er Ei den Himmel versehen mit herrliher Höhe und seine Herrlichkeit ge- webt. Das ist der Gott Chnum, bei dessen Anblik man lebt und a die Erde erleuchtet durch den Glanz seines Auges.« (Brugsch, P- 7

Sehr instruktiv ist die Abbildung auf p. 210: auf dem Boden eine männliche Figur, Queb, der Erdgott, in halb liegender Stellung, auf den rehten Arm gestützt und das Haupt zur Seite geneigt; über ihn eine weitaus größere weiblihe Gestalt, Nut, die Himmels- göttin, halbkreisförmig in der Weise darüber gebeugt, daß ihre Füße den Boden seitlih von der Stelle berühren, wo Queb den Arm auf- stützt, während ihre Hände in der Nähe von Quebs Füßen auf- liegen. Zwischen den beiden Figuren ist ein weiter Raum frei, inner- halb dessen eine dritte Figur sichtbar ist, die in aufrechter Stellung mit beiden Händen Nut emporzudrängen sucht.

Die befremdlihen Abweichungen dieser Mythe verhalten sich einem Reduktionsversuh gegenüber nicht so spröde, als es auf den

! Religion und Mythologie der Ägypter (p. 206 ff.).

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 7

Nad Heinrih Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter. Hinrichs, Leipzig 1888, p. 210.

ersten Anblick scheinen will. Wir bedienen uns des shon lange mit Erfolg in der mythologishen Forshung wie in der Traumdeutung angewendeten Kunstgriffes der Umkehrung der Relationen. Queb rükt nah oben, Nut nad unten, eine der beiden Figuren dreht sih um zwei rechte Winkel, schließlih ist Shu niht mehr der Vater, sondern der Sohn des Weltelternpaares und wir haben Himmel und Erde, deren Liebesvereinigung an ihren Sohn, den titanishen Helden, getrennt wird. Die Tendenz dieser vom Mythus vor- genommenen Verschiebung ist klar, das Bild der durh den Sohn getrennten elterlihen Cohabitatio sollte aus Gründen, die wir später einsehen. werden, beseitigt werden, das wird bewirkt durh die ge- schilderte dreifahe Inversion: die Eltern werden zu Kindern, der Sohn zum Vater, das Oben zum Unten, aus Redhts wird Links. Anstoß nehmen wird an dieser Lösung nur, wer mit den ganz ana- logen Fällen aus der Traumtehnik unbekannt ist und sich nicht aus der Betrahtung des Bildes die Einsiht in die wirklich naive und ungekünstelte An dieser Umkehrung verschafft. Eine weitere Ver- schiebung des Mythus liegt in folgendem Umstand. Aus dem An- fang der obigen Erzählung, der deutlih an den Sintflut- und Turm- baumythus anklingt, läßt sih erkennen, daß es niht Queb und Nut sind, gegen die sich ursprünglih die Empörung richtet, sondern der Jammergreis, der ihr übrigens durh die Selbsterkenntnis einer lichten Stunde die Spitze abbriht. Die Einshiebung von Queb und Nut, zu der Re selbst die Anregung gibt, dient demgemäß zur Ab- shwädhung der gegen den Himmelsgott gerichteten titanischen Hand-= lung. Der feststehende, in der Volksüberlieferung begründete Punkt in diesem Sagengewebe ist Schu, der Himmelsträger und Begründer einer neuen Weltordnung (= Tane-mahuta, Ru, Kronos, Atlas).

48 5 Emil Franz Lorenz

Nah der nordischen Überlieferung entsteht im Abgrund Ginnungagap aus dem Zusammenfließen der Eisströme Niflheims mit den glühenden Funken Muspelheims VYmir (der Brauser), der Stammvater der Jötune, der Reifriesen. Als zweigesclectliches Wesen zeugt er aus sich selbst Söhne und Töchter. In dieser Be- ziehung ist er in Parallele zu stellen zu den beiden gesclechtlich differenzierten Gestalten, die in den anderen Mythologien als Welt- eltern auftreten. Am nächsten verwandt ist er dem ägyptishen Ra (s. 0.) und der babylonishen Thaletth des Berosos (s. o., p. 33). Die Riesentochter Bestla eheliht Borr, den Sohn des Buri, der aus den Eisblöcken entstanden war, an denen sih die Kuh Audumla Nahrung lecte. Borrs Söhne sind Odin, Vili und Ve. Sie erheben sih gegen Ymir (titanische Empörung) und ertränken in seinem Blute das Geschleht der Jötune. VYmir wird getötet (Variation der Entmannung), aus seinem Körper wird die Welt gebildet (Tren- nung von Himmel und Erde). dein Blut gibt Seen und Gewässer, sein Fleish das Land, seine Knodhen die Berge, seine Haare die Wälder, sein Schädel den Himmel, sein Gehirn die Wolken. (Vaf- thrüdnis=mäl 21, Grimnis=mäl 40 £.). Die Annahme scheint gegen- wärtig die herrshende zu sein, daß »diese Darstellung der Welt- shöpfung unter dem Einfluß antiker Berichte entstanden sei, die den Mikrokosmus aus denselben Dingen entstanden sein läßt, die hier dem Riesenleib zur Weltshöpfung entnommen werden«. So Mogk in Pauls Grundriß der german. Philologie, I. Bd., p. 1113. Aud E. H. Meyer ist sehr geneigt, in der eddishen Kosmogonie fremde Einflüsse anzunehmen. Mit Clreslit, wie ih für diesen Fall glaube erweisen zu können. Diese Art der Weltentstehung findet sich nämlich mit vielen übereinstimmenden Zügen noh an zwei anderen Stellen der Erde und es wird wohl nicht angehen, die nordishe Darstellung auf abstrakte Spekulationen des Altertums zurückzuführen, wenn sie in ihrer Primitivität eine deutliche Verwandtshaft mit Mythen aus weitentlegenen Völkerkreisen aufweist. Ich meine hiemit zuerst die sogenannte purusa=sukta des Rigveda (10, 90). A. A. Macdonald! sagt darüber folgendes: »Though several details in this myth point to the most recent period of the RV., the main idea is very primi- tive, as it accounts for the formation of the world from the body of a giant. With him the gods performed a sacrifice when his head become the sky, his navel the air, and his feet the earth. From his mind sprang the moon, from his eye the sun, from his mouth Indra and Agni, from his breath wind. The four castes also arose from him.«

Erst in der Mundaka-UÜp. 2, 12 erhält diese ursprünglich primi- tive Idee eine philosophische este im Sinne der Brahman-= lehre. Eine weitere Parallele treffen wir auf Sumatra. Dort er- zählt man, daß die Welt aus einem Huhn gebildet wurde. »Sein Kopf wurde zu einem Götzenbild, sein Schnabel eine Goldschmied-

! Vedic mythology in Bühlers Grundriß der indo=arischen Philologie. 2 Deussen, 60 Up. !, p. 550 f.

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Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie

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zange, sein Magen Gold und Silber, seine Federn Bäume, Blätter und allerlei Pflanzen, sein Shwanz zu Zucer, seine Bingeweide Gewädse, sein Fleish Erde, sein Blut Wasser. Damit war die Erde fertig.«! Das für unseren Zweck ausschlaggebende Motiv der Weltbildung aus den Bestandteilen eines Lebewesens ist deutlich genug zu erkennen. Überdies haben wir in dieser Mythe von Sumatra eine interessante Verschmelzung vorliegen, zwischen den uns schon bekannten indishen und germanishen Vorstellungen und der weitverbreiteten, aus der Spekulation der Orphiker geläufigen Anschauung von dem kosmogonischen Ei (Parodie in Aristophanes’ Fröschen, v. 693 f.), das von dem über dem Urgewässer shwebenden Vogel bebrütet wird. Zu letzterem vergleihe man den Anfang der Genesis, wo zu übersetzen ist: Der Geist Gottes brütete über den Wassern. Hermann Gunkel im Kommentar zur Genesis, p. 92? bemerkt dazu: »Die Gottheit, die das Chaos zur Welt entwickeln soll, wird ursprünglih als ein brütender Vogel vorgestellt sein.« Vgl. auh Chantepie, II. Bd,, p. 324. In der Encyel. Brit., VI. Bd., p. 447, übersetzt Rev. Prof. Cheyne statt »Geist« »der Wind Elohims« und knüpft daran folgende Bemerkung: The peculiar expression »the wind of Elohim was hoverings suggests different comparisons, thus, on a far lower stage of religious progress, the Polynesians often describe the heaven- and air-god Tangaroa as a bird hovering .over the waters. Waitz (Anthropologie der Naturvölker), VI. Bd., p. 241. In the earliest form of the narrative in Gen. I it may have been »the bird of Elohim«, »wind« seems to be an interpretation.

Die Nadhweisung dieser Parallelen zum Ymir-Mythus dürfte genügen, um der Ansicht derjenigen den Boden zu entziehen, die in ihm Beeinflussung von Seite antiker Philosophie zu erkennen glauben. Wir haben vielmehr eingesehen, daß in ihm gar nichts Abstraktes vorhanden ist, sondern eine zwar etwas monströse, aber keineswegs vereinzelt stehende Form des allbekannten Titanen-Motivs°.

Den oben (p. 43ff.) angeführten Mythus von den Aloaden hat man in alter und neuer Seit mit dem Turmbau von Babel in Parallele gesetzt. Das ist zuerst geschehen durch Philo in der Schrift über die Sprachenverwirrung (Kap. %, ferner bei Origenes contra Celsum (Kap. 4). Dasselbe geschieht immer ohne tiefere Begründung bei M. Mayer, Giganten und Titanen (p. 74 und

ı F.C.M. Pleyte, Zur Kenntnis der religiösen Anschauungen der Bataks, Globus, B. 60, p. 290, Frobenius, Weltanschauung etc., p. 10.

® Handkommentar zum Alten Testament, herausgegeben von W. Nowack, l. Bd., Gött. 1902. e

® Indes hat Mogk, wie hier bemerkt werden muß, in der 2. Auflage des Paulshen Grundrisses seinen Standpunkt geändert, indem er unter Berufung auf eine Arbeit Chantepies seiner von uns kritisierten früheren Ansicht die Worte folgen läßt: »Nichtsdestoweniger kann die nordishe Weltshöpfung recht wohl nationalen Ursprungs sein, wenn auh in dem detaillierten Beriht der Vafthr.

und Grimn. die voneinander abhängig sind, fremder Einfluß mitgewirkt haben mag« (Ill. Bd., p. 377).

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bei Preller-Robert, Grieh. Mythologie (p. 109 von Seite der griechischen Überlieferung aus. Am bedeutsamsten für unseren Zweck sind noch die freilih ebenfalls spärlihen Bemerkungen bei Eduard Reuß, Das Alte Testament, III. Bd., p. 233: »Wir wagen sogar die Vermutung, daß die Geshihte vom Rebellen Nimrod (»marad« heißt »sih empörens) und die vom Turmbau zu Babel, so ver- schieden sie auh hier lauten, doh im Grunde nur zwei Formen der auh den Griehen bekannten Mythe sind von den Riesen, die den Himmel stürmen wollten ..... Die Gottheit ist der Unternehmung feindlih gesinnt, die Ursache dieser Gesinnung wird nicht angegeben, auch dies mag die Annahme bestätigen, daß wir hier nur eine sehr abgeshwädhte Gestalt der weitverbreiteten Mythe haben, von den himmelstürmenden Menschen, auf welche ja die letzten Worte Jahwes anzuspielen scheinen.« Es wird sich indes empfehlen, den Wortlaut der Genesis selbst hieherzusetzen (11, 1-9: Nun spraden alle Menschen dieselbe Sprahe und gebrauchten dieselben Worte. Als sie auf ihren Wanderungen von Osten her im Lande Schinear eine Ebene entdeckten und sich daselbst angesiedelt hatten, sprach einer zum anderen: »Äuf, wir wollen eine Stadt bauen und einen Turm, der bis an den Himmel reiht, und uns einen Namen macden, so daß wir niht auf der Erde zerstreut werden. Aber Jahwe kam herab, um sich die Stadt und den Turm zu besehen, welhen die Menschen= kinder bauten. Und Jahwe sprah: Seht dod, sie sind ein einziges Volk auf Erden und reden alle dieselbe Sprache! Jetzt machen sie sih ans Werk und fortan wird ihnen nichts verwehrt werden können, was sie auch unternehmen mögen. Auf, wir wollen hinabkommen und ihre Sprache verwirren, so daß keiner mehr die Rede des anderen versteht! So zerstreute sie Jahwe von dort über die ganze Erde und sie unterließen den Bau der Stadt. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirret hatte aller Länder Sprache und sie zerstreuet von dannen in alle Länder. Der Vergleih mit den zuvor behandelten Mythen setzt uns nun, wie ih glaube, in den Stand, dieses von verschiedenen Händen mit zaghafter Sheu an- gerührte Problem einer, wenigstens in ihren Grundzügen, abschließenden Lösung zuzuführen und so unsere Kenntnis von dem mythischen Untergrund der biblishen Erzählungen ein Stükchen zu erweitern. Die Handhabe dazu bietet uns ein Motiv des Turmbaumythus, das in dem biblishen Beriht zwar nicht enthalten ist, aber mit aller wünschenswerten Klarheit als der ältesten Überlieferung angehörig erschlossen werden kann. Wir besitzen nämlich eine Darstellung des Turmbaues von Babel im dritten Buch der jüdischen Sibylfe, v. 99ff., die ih gleih in der Übersetzung von Friedrih Blass! zitiere:

Aber wenn die Drohungen des großen Gottes erfüllt werden, die er einstmals den Sterblihen androhte, als sie den Turm bauten im assyrishen Land, die waren aber alle von gleiher Sprache und

! In Emil Kautzsch’ Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, II. Bd., p. 187,

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 51

wollten emporsteigen zum gestirnten Himmel. Alsbald aber legte der Unsterblihe den Winden mäcdtigen Zwang auf und da warfen die Stürme den großen Turm hod hinab und erregten den Sterblichen Streit miteinander. (Im Vers 100 findet sich ein Anklang an den Aloadenmythus der Odyssee, man vergleiche die Worte xal Bovdovr’ dvaßtvar Es oÖoavov doTsodsvra mit

Od. 11,615: iv odoavög dußarög ein.) Die Paraphrase, die der im ersten Jahrhundert v. Chr. in Rom lebende Alexander Polyhistor, der Vielwisser, von den sibyllinishen Versen gegeben hat, ist nah O. Gruppe! in fünf Versionen erhalten, nebeneinandergestellt, ebenda p. 678. Merk- würdigerweise haben so orthodoxe Leute wie Josephus Flavius (Antiqu. Jud., , 8 und Eusebius (Chron., I, 33) statt des Singulars Gott den Plural, so daß jener von den Göttern spricht, die die Winde sandten, dieser von den Winden, die den Göttern zu Hilfe kamen. Indes scheint (vgl. ibid., p. 683) Alexander Poly- histor niht den alten jüdishen Kern unseres 3. Sibyllenbuhes und sehr wahrscheinlich üherhaupt keine jüdishe Sibyliensammlung benützt zu haben, »vielmehr ist anzunehmen, daß seine Sibylle die Turm-= baulegende aus babylonishen Quellen shöpfte und sich daher und zwar mit besserem Recht als unsere Sibylle (II, 808) eine Babylo- nierin nannte«. Sei dem wie immer, so lassen jene außerbiblishen Nadridhten auf eine Volksüberlieferung schließen, nah der der Turm von den Winden im Dienste Gottes oder der Götter umgestürzt wurde. Jahwe ist auch sonst Herr über die Winde, vgl. Gen. 8,1 »ließ Winde über die Erde kommen und die Wasser fielen«,;, Exod. 15,10: »da ließest du deinen Wind wehen und sie sanken unter wie Blei im mädtigen Wasser.« Neben anderen Stellen? besonders mehrere bei Jeremias in der Prophezeiung vom Untergang Babels. Diese sollen nämlich zur Beruhigung derjenigen dienen, die etwa in der Erzählung von dem durch die Winde um= estürzten Turm eine spätere rationalistishe Deutung vermuten. Bien 51,1: Siehe, ih will einen scharfen Wind erwecken wider Babel und wider seine Einwohner, die sich wider mich gesetzt haben. 51,51: Siehe, ih will an dih, du schädliher Berg, der du alle Welt verdirbst, spricht der Herr, ih will meine Hand über did strecken und dih von dem Felsen herabwälzen und will einen verbannten Berg aus dir machen. Anspielungen an den himmel- hohen Turm von Babel 51,9: ... denn ihre Strafe reiht bis an den Himmel und langt hinauf bis an die Wolken. Das Motiv der Winde, die dem Himmelsgott zu Hilfe kommen und durch die Zerstörung des Turmes die Zerstreuung der Menschen bewirken, führt uns mit leihter Hand an den Ausgangspunkt unserer Betrach- tung zurük. Erinnern wir uns, wie im polynesischen Mythus

! Die griehishen Kufte und Mythen. I. Bd., p. 677 ff. e NOEgZAN bei E. Böklen, Die Sintflutsage, Arch. f. Relgwsch. 6, 1903, p.

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der Windgott Tawhirisma-tea die Partei des Himmelsgottes ergreift, wie in der darauf ausbrehenden Windflut die Geschöpfe sih entzweien nach allen Richtungen zerstreut und auf diese Weise für ihr Unterfangen gestraft werden. Alle diese Motive finden wir im Turmbaumythus wieder, ohne der Überlieferung die mindeste Gewalt anzutun. Der Trennung des Himmels von der Erde, durh den Vater der Wälder, durh aufeinandergetürmte Berge im Aloadenmythus entspriht die Erbauung des Turmes, an dem die Menschen zum Himmel emporsteigen wollten, der Wind= ott Tawhirisma=stea ist durh die Winde Jahwes vertreten, die Besen der titanishen Helden besteht hier wie dort in aus- brehender Uneinigkeit und Zerstreuung. Die gefundenen Überein- stimmungen werden uns auch helfen, die Gründe für die verschiedene Gestaltung des äußeren Bildes des Mythus in der Bibel darzulegen. Für den, der den Charakter dieses Buches erkannt hat, das durdh- ehends räumlich und zeitlih unbeschränkte mythishe Erzählungen Ristorienh und geographish festzulegen und seiner cheoföpisdich Tendenz dienstbar zu machen bestrebt war, hat nämlich die Tatsache, daß sich im vorliegenden Falle der mythishe Gedanke an ein ein- zelnes auffallendes Bauwerk geheftet hat, nichts Ungewöhnliches an sih. Nicht ganz Redht kann ih darum Holzinger geben, wenn er sagt: »Wenn je ursprünglih die Vorstellung himmelstürmender Titanen zugrunde lag (Reuß, III, 233), so ist diese jetzt so völlig getilgt, daß sie für die Erklärung ganz außer Betracht bleiben muß; die vorliegende Erzählung redet ‘nur von einer menschlichen Unter- nehmung und von menschlichen Schicksalen.«: Der Leser, der meinen bisherigen Ausführungen über das Titanen-Motiv gefolgt ist, wird mir, glaube ich, beistimmen, wenn ich behaupte, dab die Auf- deckung der mythishen Grundlage der Erzählung nicht nur für die allgemeine Myrhelogie, sondern auh für die Erkenntnis der religionsgeschichtlihen Stellung des alten Testaments von Bedeu- tung ist.

Eine noch weitergehende Verdünnung unseres Motivs glaube ih in der Erzählung vom Falle Jerichos zu erkennen. Deuteron. 1,28 lesen wir: Es ist ein Volk da, größer als wir und hod- Be und Städte, groß und fest, bis an den Himmel; audh

iesen haben wir da gesehen. Ibid. 9,1: Höret, Israeliten, ihr seid im Begriffe, heute den Jordan zu überschreiten und Völker zu be= zwingen, die größer und stärker sind als ihr, große Städte, deren Mauern bis an den Himmel] reichen, ein großes und riesiges Volk, die Enakiter. Die Städte und Mauern des kanaanitischen Landes werden also mit ganz ähnlihen Ausdrücken beschrieben wie der Turm von Babel (Gen. 11,9%. Das würde an sich nicht soviel zu bedeuten haben, vielleiht mocte diese Beschreibung ja in metaphorisher Übertreibung wirklihe Verhältnisse widergespiegelt

' Kommentar zur Genesis im Handkommentar zum alten Test., herausgegeben von Karl Marti; I. Heft, p. 110.

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haben. Immerhin ist die Übertreibung im Munde der Leute auf- fallend zu nennen, die, da sie bekanntlich keine vierzig Jahre in der Wüste umhergezogen sind, sich einige Monate zuvor dem Frondienst beim Baue der ägyptischen Pyramiden entzogen hatten. Doc verfolgen wir das Motiv weiter. Das Buch Josua erzählt die be- kannte Geshihte vom Falle einer dieser kanaanitishen Städte, Jerihos, mit folgenden Worten (6,20): Da machte das Volk ein Feldgeschrei und bliesen die Posaunen. Denn als das Volk den Hall der Posaunen hörte, machte es ein großes Feldgescrei. Und die Mauern fielen um und das Volk erstieg die Stadt, ein jegliher stracks vor sich. So gewannen sie die Stadt.

Holzinger im Kommentar zu Josua! bemerkt dazu: Falls die Erzählung einen Kausalzusammenhang zwishen dem Blasen des Signals und dem Sturz der Mauern im Auge hätte, so könnte an das siebenmalige shweigende Umkreisen als an eine Art voraus= gehender Beshwörung gedacht werden. Indessen, bei Wundern wird nah dem Zusammenhang nicht gefragt. Die Legende könnte ent- standen sein, wie die vom Stillstand der Sonne und Mond in der Schlacht bei Gibeon (10,12) aus wörtlihem Verständnis einer hyper- bolishen Wendung, daß es eine poetische Überlieferung von dem Ereignis gab, legt v. 26 ohnehin nahe. Der letztausgesprochenen Vermutung des Kommentators vermag ich nicht beizupflichten, sie erinnert zu stark an Max Müllers ee Erklärt sich der vorliegende Beriht des Buches Josua nicht einfaher durch die An- nahme, daß es, wie beim Turm von Babel, ursprünglich ein von Jahwe gesandter Sturm war, der die Mauern niedergelegt hat? Erinnern wir uns nur noh an die oben aus dem Deuteron. angeführte Be- shreibung der Städte Kanaans und ihrer Ähnlichkeit mit der des Turms von Babel! In beiden Mythen werden es die Winde Jahwes gewesen sein, die die ihm selbst oder seinen auserwählten Scützlingen feindlihen Bauwerke zerstörten: für den Turm von Babel wissen wir es duch die in der Sibylle erhaltene Tradition, für die Mauern Jerihos dürfen wir es auf Grund eines wohl- fundierten Analogieschlusses vermuten. In Wirklichkeit ist der Zug ja nicht einmal ganz vershwunden, denn das Wehen der Winde ist offenbar ersetzt durch das Blasen der Posaunen, das nach der Dar- stellung der Bibel zweifellos in einem Kausalzusammenhang mit dem Be der Mauern steht.

Wir sind am Ende des historischen Teils unserer Untersuchung angelangt. Es harrt nun unser die Aufgabe, die treibenden Kräfte in der Entstehung und Gestaltung unseres Motivs ans Liht zu stellen. Es ist ein gewaltiger Abstand zwischen der Gestalt, die das Titanen-Motiv in der zuletzt behandelten Jeriho-Legende besitzt, und der runenhaft=rätselhaften, der äußeren Realität mit einer verwegenen Freiheit gegenübertretenden Kosmogonie der Edda, zwischen der un=

! Handkomm. zum Alten Test., herausg. v. Karl Marti, Abt. VI, p. 18.

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lebendigen, sich jeder Weiterbildung versagenden australishen Mythe von dem namenlosen Mann mit dem Stocke, der die Sonne zurüc- stieß, und der fast beängstigenden Mannigfaltigkeit von Parallel- gestalten des griehischen Mythus, an denen sich heilig-ernste ethisch- religiöse Wertung im Bunde mit einer überstarken Phantasie in Haß he: Liebe gestaltend bestätigt hat.

Die Zusammengehörigkeit der im vorausgehenden behandelten Überlieferungen ist durch innerlihe Kriterien verbürgt. Dennoch wollen wir es nicht unterlassen, uns auch über die Gründe für die Verschiedenheit ihrer äußeren Gestalt wenigstens im allgemeinen Rechenschaft zu geben. Mit der Anführung folgender zwei Punkte

lauben wir nichts Neues zu sagen: 1. Mersciederiit der geistigen

Anlagen der mythenbildenden Gemeinschaft. Demgemäß wird ihr Produkt, der Mythus, bald dürftig wie bei den Australiern, bald belebt und bereichert durch eine lebendige Naturanshauung, wie bei den Polynesiern, uns entgegentreten. 2. Versduedeiheit der äußeren Lebensbedingungen und demgemäß der vorherrschenden Interessen des Volkes, Es ist klar, daß diese Untershiede audh auf die Ge- staltung des ersten Punktes ihren Einfluß ausüben werden, eine reiche Natur wird das ingenium viel mehr befruchten als die Einsamkeit der Wüste. Trotzdem wird niemand den Milieustandpunkt so weit treiben, daß er hier eine Reduktion fordern würde. Was hier gesagt wurde, sind sozusagen Selbstverständlichkeiten.

Wir finden nun, wenn wir die Mythen genauer durchmustern und besonders die griehische Überlieferung eingehender ins Auge fassen, die uns bereits oben, vornehmlich in der Geschichte der Jape= tiden, durh eine eigentümlihe Färbung aufgefallen ist, noch ein Drittes als Variationsfaktor wirksam, nämlih die Veränderung, die der Mythus wir wissen noh niht warum durd einen rein psychologischen Faktor erleidet, nämlih durh die Ver- schiebung der Anteilnahme, die der Mythenerzähler an den überlieferten Gestalten nimmt. Die Gründe für diese Ver- schiebung aufzuweisen, deren Hin- und Widerspielen, wie wir wiederum in Hinblik auf den griehishen Mythus erkennen werden, fürderhin einzig ausschfaggetiend für seine Weiterbildung war, heißt aber den Finger legen auf die psychisch=affektiven Wurzeln dieser Gedankengebilde.

Diese Untersuhung kann jedoh nicht vorgenommen werden ohne eine genaue Analyse des mythischen Stoffes selbst, an dem sich diese Affekte betätigt haben. Wenn wir hier von Äffekten reden, wiederholen wir zugleih, daß nach unserer Überzeugung der Mythus wie alle natürlih gewachsenen menschlichen Vorstellungs= gebilde sich nicht in einem unpersönlihen Fürsichsein auf Grund rein logisher Gesetze aus sich selbst herausspinnt, daß vielmehr in dem psycologishen Mechanismus der Triebe und Begehrungen der Grund für die Gestaltung des Vorstellungslebens zu suchen sei. Der lebendig wollende Mensc ist für uns der Mittelpunkt der Unter-

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suchung, der Mythus selbst ein dem Traum vergleihbares gedank- lihes Surrogat, das sih die irgendwie am vollen Erleben gehinderten Wünsche a sekundäre Lustquelle schaffen. Wir haben bereits in der Analyse der Gestalt des Kronos den Zusammenhang der mythischen Erzählung mit der kultlichen Handlung dargelegt. Die kultlihe Handlung gehört nun, wie jeder weiß, restlos der Willenssphäre des Menshen an. Der durch antezipierte Gefahren geängstigte Wille verschafft sih in ihr durch symbolishe Vor- beugungsmaßregeln Hoffnung und Beruhigung, was um so voll= kommener erreiht wird, je menscengestaltiger die rin re der Bedrohung gedacht werden, weshalb wir die Vermenshlihung der dämonischen Wesen als in diesem Bedürfnis begründet ansprechen dürfen. Kronos, der am Anfang der Dinge die Seren aus dem Schoße der Erde befreit, wird vorzüglich geeignet sein, auch den Menschen in dieser Beziehung seine Hilfe angedeihen zu lassen. Nehmen wir noch hinzu, daß ein gewisses theoretisches Interesse, als Entwiclungsform des dem Willen dienstbaren Orientierungsbestrebens, gepaart mit der wiederum affektiv betonten intellektuellen Funktionslust, Auskünfte über den Hergang bei der Entstehung der Dinge verlangt, so haben wir einen weiteren, den naturmythischen Faktor bei der Entstehung unseres Mythus. Dodh bleibt noch immer die Frage übrig, ob diese beiden Momente die uns vorliegende Gestalt desselben ihrem wesentlichen Inhalt nah erschöpfen.

Diese Frage ist ohne Zweifel zu verneinen, gerade das Wesent- lihe bleibt dabei unerledigt: keine Interpretationskunst vermag aus der Betrahtung der Natur Vorstellungen wie die von der Empörung der Kinder des Himmels und der Erde gegen ihren Vater, dessen Entmannung, den Inzest mit der Mutter herauszulesen. Was darüber bislang geschrieben wurde, erbaulihe und rührende Gedanken, wie man zugeben muß, ist doch kaum ernst zu nehmen.

Preller-Robert (Grieh. Mythol. , p. 44) finden als Grund- gedanken der Titanen-Mythologie den »tiefbegründeten Erfahrungs- satz, daß das Vollkommene sich immer nur auf Unkosten des weniger Vollkommenen geltend mahen kann und daß alle höhere Ordnun das Resultat des Streites widerstrebender Kräfte ists. u: Welcker (Theogonie, p. 118) bedeutet die Entmannung des Uranos »die Vollendung der Schöpfung, die in der Zeit abgeschlossene Er- zeugung, ein Symbol, entstanden bei der Betrahtung der unend- lihen Mannigfaltigkeit der Geshöpfes«. Man sollte meinen, wenn jemand »die unendlihe Mannigfaltigkeit der Geshöpfes betrachtet, sollte er wohl auf alles andere eher kommen als auf den Gedanken der »abgeschlossenen Erzeugungs. Die Beispiele ließen sich aus = Schriften mancher empfindsamer Naturmythologen beliebig ver- mehren.

Es ist ganz ausgeschlossen, daß die primitiven Völker, die sich diese Geschichten erzählt haben, sie anders als wörtlich verstanden

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96 hätten. Wer sich heute, um ein Verhältnis zu ihnen zu gewinnen, zur Annahme einer symbolishen Bedeutung entschließt, tut dies aus keinem anderen Grunde, als weil er an dem wörtlich verstandenen Inhalt zu starken Anstoß nimmt, als daß er ihn der »Volksseeles, die einem demokratishen Zeitalter bekanntlih als die Schöpferin alles Shönen und Guten auf dieser Welt gilt, in Ernst zuzuschreiben sich getraute. Gelingt uns nun auf irgendwelhem Wege der Nad- weis, daß diesen Erzählungen eine psychische Realität zu- gsrundeliegt, so entfällt jedes Reht zur Annahme einer symboli= schen Bedeutung.

Unser Mythus ist zunächst ein primitiver Versuch der Natur=- erklärung, er gibt Gründe an für die Entstehung des Lichts, die audh für den Nee ein Problem ist, ie; es in der Er- sheinung von Tag und Nacdt mit der Finsternis abwedhselt, ferner Gründe für das Emporwadsen und Gedeihen der Pflanzen, schließlich auch für die Mannigfaltigkeit der Naturwesen (durch das Motiv der Zerstreuung). Jede Erklärung aber geht auf Grund einer herr- schenden ÄApperzeptionsmasse vor sich, die zufolge ihrer Be- stimmung als vorbereitendes Glied einer Handlung stets mehr oder weniger affektiv betont ist und eine gewisse sydiisdie Energie für ihre Durchführug entfaltet. Zugleih ist sie shon ihrem Ursprung nacı als triebhaft zu charakterisieren: nur was irgendeinem für uns eine letzte Tatsahe bildenden Triebe gemäß ist, ist fähig, sih zu einer apperzeptiven Vorstellungsmasse zusammenzusdließen.

Es würde also daraus folgen, daß den in unserem Mythus zum Ausdruck gelangten Vorstellungen eine gleichgerichtete, affekt- betonte Apperzeptionsmasse entspricht, mit anderen Worten, daß Haßgedanken gegen den Vater, Inzestgedanken gegen die Mutter im Mythenerzähler wie in seinem Publikum in irgendwelher Weise lebendig sind. Daß man diesen Schluß nicht schon lange aus einer Reihe von Mythen gezogen hat, erklärt sich daraus, daß unser Be= wußtsein normalerweise nichts von diesen Dingen weiß und deshalb immer wieder zur symbolishen Deutung seine Zufluht genommen hat. Der Untersuchung eines der menschlichen Erkenntnis bisher ver- schlossen gebliebenen Teils des Seelenlebens ist es nun gelungen, nachzuweisen, daß diese vom wachen Bewußtsein verabscheuten Regungen einerseits auf einer gewissen Entwiclungsstufe des Indi= viduums real vorhanden waren, anderseits noch immer fortwirken im Traume, in der Neurose und in den dichterishen Phantasie- gebilden, denen allen die Bestimmung durch das Unbewußte wesentlich ist. Mit einer Sicherheit, die sich mit derjenigen der Mehrzahl der Ergebnisse historisher und philologisher Untersuchungen getrost messen kann, läßt sich behaupten:

1. Der Kindheit sind die Regungen der Libido nicht fremd; sie gewinnt sie aus einer Reihe von Körverfunktienen an den so«

enannten erogenen Zonen, aus diesen entwickelt sih später der Pin der Genitalzonen.

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2. Die Objektwahl, die ein normales Gesclectsieben kenn- zeichnet, geschieht zuerst in der Kindheit in der Weise, daß sich der Knabe mehr zur Mutter, das Mädchen zum Vater hingezogen fühlt, die Objektwahl des Erwachsenen bleibt durch diese infantile Ein- stellung dauernd beeinflußt.

3. Aus der erwähnten Einstellung zum gegengeschlectlihen Elternteil ergibt sich eine Abneigung gegen den gleihgeschlectlichen, der einerseits in dem Wunsche nad seiner Beseitigung gipfelt, ander- seits den Wunsch zeitigt, nur von dem andersgeschlecdtlihen Teil abzustammen!,

4. Diese Regungen unterliegen während der sogenannten sexu= ellen Latenzperiode, die bis zur Pubertät dauert, einer teils physio- logisch, teils psychologisch begründeten Verdrängung.

ee vershwinden wie alles Verdrängte nicht vollständig aus der Psyche, sie kommen in den Träumen, in der Neurose, im dichterishen Phantasieren, wozu auh der Mythus ge= hört, zum Ausdruk und können an der Hand einer Methode, die den Fe der Psychanalyse führt, in diesen Gebilden nahgewiesen werden.

Wenn wir an der Hand dieser Grundeinsihten an die Analyse des Titanen-Mythus herantreten, so wird sich zeigen, daß alle Elemente sowohl seiner Grundform als auh seiner Entwicklungsformen ein sinnvolles Ganzes bilden, daß auc in diesen »silly, savage and sen- seless elements of mythology«, über die sih einst Max Müller so aufgeregt hat, eine Art Vernunft nachzuweisen ist. Damit hätten wir dann unsere wissenscaftlihe Aufgabe erfüllt, nämlich den Bereich des Rationalen immer weiter auszudehnen und Vernunft audh in dem aufzuzeigen, was bisher als sinnlose Verkettung phantastischer Wahnvorstellungen betrachtet wurde.

Die Erde als Mutter aller Lebendigen ist, wie A. Dieterich (Mutter Erde, Leipzig 1905) nahgewiesen hat, eine Vorstellung von weitester räumlicher und zeitliher Verbreitung, deren Wirkung auf Sitten und kultlihe Bräuhe von ungeheurer Intensität ist. Der Mensch stammt aus der Erde, kehrt im Tode zu ihr zurük, um zu neuer Geburt emporzusteigen, ein ununterbrohener Lebensstrom, ein Kreislauf der Geburten quillt aus ihrem dunklen Shoß ans Licht und vom Licht wieder hinab in die Dunkelheit. Die Erde ist es im eigentlihen Sinne, die die Menschen gebiert, die Frauen haben es der Erde nahgemadt, nicht umgekehrt, wie es in Platons Mene- xenos heißt. Dieser Vorstellung gegenüber ist die des Vaters, der

! Als solhe Paare haben wir bereits oben (p. 36) Uranos-Aphrodite, Zeus-Äthene, Hera-Hephaistos erwähnt. Die Geburt der Athene aus dem Haupt des Zeus (Hes., Theog., 924) ist ein bekannter Zug der griehischen Mytho- logie. Weniger bekannt ist die ebenfalls bei Hesiod (v. 886 ff.) sich findende Ver- sion, daß Zeus die im Schoße der Metis, seiner ersten Gattin, sich bildende Athene heimlich entfernt und in seinem eigenen Schoß verbirgt, begründet wird diese Handlung durh die Prophezeiung, die Zeus erhalten hatte, das Kind der Metis würde stärker sein als er (Titanen-Motiv).

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dieser Mutter entspricht, viel unbestimmter und vielfah gar nicht ausgebildet. Sie ist auf jeden Fall ein späteres Produkt und spiegelt so den Fortschritt wieder, den die allmählihe Erkenntnis des Ka zusammenhangs zwishen Gesclechtsverkehr und Empfängnis ge- bracht hat, eine volkskundliche Tatsache, auf die man, wie es scheint, erst in der letzten Zeit aufmerksam geworden ist!.

Als Zeugnis für jene »primäre Unkenntnis« könnte vielleicht nur die shon erwähnte Tatsache angesehen werden, daß das männ- lihe Gegenstück zur Mutter Erde bei der Mehrzahl der Völker in auffallender Unbestimmtheit gelassen wird. Uns beschäftigt vor- zugsweise dasjenige, was die menschliche Phantasietätigkeit aus den Erscheinungen von Himmel und Erde gemacht hat, nachdem man sie zum Range der Welteltern erhoben hatte, Doc müssen wir uns auch über die Gründe Rehenschaft geben, aus denen man überhaupt dazu kam, sie zu Vater und Mutter der Lebewesen zu madhen. Da wird nun gewiß mit Reht darauf hingewiesen, welche Rolle dabei die Beobahtung des Zusammenhangs zwischen Aussaat des Samens und Emporsprießen der Fruht für ein ackerbautreibendes Volk zu spielen vermag.

Auch kennt man die befruchtende Kraft des vom Himmel herabströmenden Regens. Zur Nacdhtzeit, wo sih die Menschen vor- zugsweise begatten, scheint auch der Himmel an die Brust seiner Braut herabzusinken (vgl. den polynesishen Mythus), so daß es dunkel wird zwischen den beiden, er scheint es den Menschen nadı-= zutun (Platon würde sagen, die Menschen tun es ihm nad). Scließ- lih sind vielleicht alle diese Vorstellungen überhaupt erst ermöglicht durch die sexualisierende Deutung der Lage des Himmels oberhalb der Erde. Ehe man eine solhe Erklärung als mutwillig oder fanatisch beschränkt bezeichnet, lese man außer den Hesiodversen, die oben

! Als Vermutung ausgesprohen von A. Dieterid, p. 32, von W. Foy, Ardı. f. Relgwsc., VII. Bd., durch einen Bericht über die Australier bestätigt, zuletzt behandeltvon Freih. v. Reitzenstein, Zeitschr. f. Ethn., XLI. Bd., wo der Nachweis geführt wird, daß diese mangelnde Erkenntnis des Zusammenhangs ihren Ausdruck in vielen Bräuchen gefunden hat, auh das ius primae noctis gehöre hieher. Die ersten Näcte der Neuvermählten waren danach ursprünglich einem Gotte reser- viert. Freilih sind meines Erachtens viele der angeführten Tatsachen vielleicht sekundären Ursprungs. Wenn z.B. die ersten drei Nähte dem Gott reserviert waren, damit er die befruchtende Cohabitatio vollziehe, während die von Seite des Mannes als emprängnisstörend angesehen wurde, so sieht man wohl ein, daß hier dennoch ein Kausalzusammenhang angenommen wird. Der Gott ist es, der be- fruchtet, und nicht der menschlihe Gatte. Es liegt die Vermutung nahe, daß uns aus der gewiß einmal bestandenen Periode, die den Kausalzusammenhang nicht kannte (reine Parthenogenese annahm), viel geringere Spuren vorhanden sind, während die Zeugnisse, die an Stelle natürlicher Cohabitatio die Befruchtung durd göttlihe Wesen oder durch Speise, Trank, Regen, Wind, Sonnenstrahl lehren (un- reine Parthenogenese) einer sekundären, auf irgendwelher Art der Verdrängung beruhenden Stufe des menschlichen Denkens angehören. Daß in dem letzteren Falle die befruchtenden Substanzen sehr oft den Charakter von Sexualsymbolen tragen, I a Ansicht nur zur Stütze dienen. (Vgl. Rank, Völkerps. Parall. Zbl., II. Bd., pP. )

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auf Seite 36 zitiert sind, das Äschylusfragment 44N ? bei Dieterich,

‚40, die Lucrezstelle, II, 991 ff. und schließlih Vergil Georg. II, 524 ff, samt seiner Nahahmung! durh Simon Dach durd (letztere zitiert bei Dieterich, p. 41)?.

Betrachtete der Mensch sih (wie alle anderen Lebewesen) ein- mal als Kind des Himmels und der Erde und begann er seine Phantasie mit der weiteren Ausmalung dieses Verhältnisses zu be= schäftigen, so mußte er aba Sendig das Verhältnis, in dem er zu seinen wirklichen Eltern stand, auf das neue imaginierte Weltelternpaar übertragen. Welcher Art dieses Verhältnis ist, zeigen uns die Titanen-Mythen mit schöner Deutlichkeit. Wir kommen damit auf unsere obigen Ausführungen zurück. Dort haben wir festgestellt, daß in den Titanen-Mythen gewisse auffällige und anstößige Elemente enthalten sind, daß ferner eine ernsthafte Psycho= logie das Vorhandensein eben dieser Elemente im Unbewußten des Menschen nachgewiesen hat. Jetzt sind wir auf einem anderen Wege, von unten herauf, durch die Betrahtung der Entstehung der dem Mythus zugrundeliegenden Vorstellungen, zu demselben Ergebnis onen Wir wissen nun sehr gut, daß das in Rede stehende

erhältnis nicht das des entwickelten Menschen ist. Es ist, wie wir sagten, eine infantile Periode, die sih darin widerspiegelt.

Dieser Widerspruh, daß der erwachsene Mythenerzähler in- fantile Wünsche in den Mythus hineinlegt, löst sich durch dieselbe Überlegung, mit der Freud in seiner Abhandlung über den Dichter und das Phantasieren die infantilen Wurzeln des dichterischen Schaffens erklärt: »Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Er- innerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis

! Vgl. meinen Hinweis darauf im Ard. f. Relgwsch., XVI. Bd., p. 306 f.

® Einen Einblik in das lebendige Naturgefühl, das der Mythenbildung zur ersten Voraussetzung dient, vermittelt schließlih eine Stelle aus der olympischen Rede des kynisierenden Wanderpredigers Dio v. Prusa (1. Jahrh. n. Chr.). Es heißt dort etwa: Wie sollten die Menschen niht zur Erkenntnis Gottes gelangen, »da sie auf der Erde wohnen und das Liht am Himmel sehen und Nahrung in Fülle besitzen, die ihnen Gott, ihr Ahnherr, reichlich gewährt und vorsorglich zu=- bereitet, zuerst für die ersten aus der Erde geborenen Menschen die erdartige Nahrung, denn da die Erdkrume damals noch weich und fett war, lekten sie an der Erde wie an der Mutterbrust und sogen, wie nod jetzt die Pflanzen, aus ihr den Saft heraus, als sie sich dann bereits weiter entwickelt hatten, gewährte er ihnen die andere Nahrung, die aus wildwachsenden Früchten und weichen Kräutern besteht, zugleich mit süßem Tau und trinkbarem Wasser vom Quell der Nymphen. Und zugleich fühlen sie sich getragen von der umgebenden Luft und am Leben erhalten durch deren ununterbrochenes Zuströmen, die bewegliche Luft einziehend, wie unwissende Kinder, denen es nie an Milch mangelt, da ihnen immer die Mutter brust nahe ist. Denn fast dürften wir auch diese mit größerem Recht als die erste Nahrung bezeichnen, in gleiher Weise für die frühere und spätere Lebenszeit. Wenn nämlih das shwadhe und hilflose Menschenkind aus dem Leibe der Mutter herausgleitet, empfängt es die Erde, seine eigentlihe Mutter, die Luft aber bläst es auf und kühlt es ab, erweckt es sofort mit ihrer Nahrung, die viel flüssiger ist als Milch und preßt ihm den ersten Schrei aus; man dürfte sie darum mit Redt

die erste Mutterbrust nennen, die die Natur dem Neugeborenen darreicht.« (Dio von Prusa, XII, 29 bis 31).

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auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft... Soweit die Stoffe aber gegeben sind, ent=- stammen sie dem Volksshatze an Mythen, Sagen und Märden. Die Untersuhung dieser völkerpsydhologishen Bildungen ist nun keineswegs abgeschlossen, aber es ist z.B. von den Mythen durdı- aus wahrsceinlih, daß sie den entstellten Überresten von Wunsd- phantasien ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Mensch= heit entsprehen«!,

Die stufenmäßigen Übergänge, durh die wir im Laufe unserer individuellen geistigen Entwicklung dazu gelangen, jene Regungen für gewöhnlich gänzlih zu vergessen, ja zum Teil ins Gegenteil zu verwandeln, nn nun ihr genaues Widerspiel in der Fortbildung des Titanen-Motivs.

In der Grundform des Mythus identifiziert sih der Mythen- bildner vollständig mit der Tat und Gesinnung der titanischen Helden! Diese Stufe ist am reinsten erhalten in den Mythen, die eine relativ dürfiige Gestalt haben (Mangaia, Gilbert-Inseln, Samoa). Der poly- nesische und griehishe Mythus zeigt dem schärferen Auge bereits die Beimishung von Abwehrelementen: in jenem bleibt die Tat nicht unwidersprohen, es findet sich einer, der sih auf die Seite des Himmelsgottes schlägt. Trotzdem wird sie unter Hervorhebung ihrer Notwendigkeit ausgeführt. Indessen folgt ihr die Strafe auf dem Fuße. Diejenigen, die sich gegen ihren Vater aufgelehnt haben, sind nicht imstande, unter sich Ordnung zu halten, als der Rächer eben dieses Vaters gegen sie anstürmt (v L oben p. 30). Sie büßen ihre Tat mit völliger ae mn N griehischen Mythus wird die titanishe Tat ursprünglih als ein Akt gerechter Notwehr hingestellt und werden die infantilen Haßgedanken mit Hilfe des bekannten Projektionsmedhanismus auf den Vater über- tragen. »Zuerst übte er schändlihe Werke« (Theog. v. 166), trotz- dem schrecken alle Kinder mit Ausnahme des jüngsten, der Ver=- wegenheit genug besitzt, um die Tat auszuführen, vor dem Rate nach Beseitigung des Vaters zurück, den der Mythus in mehr als einer Rihtung wunscerfüllend der eigenen Mutter in den Mund legt. Nur einer führt die Tat aus (im polynesishen Mythus & nur einer widersprochen).

Gerade hier ist es uns indes möglich, eine ältere griechische Form des Titanen-Mythus zu erschließen, nah der alle Kinder des Uranos an der Tat beteiligt waren. Die Handhabe dazu bieten uns die vier abgerissenen Verse, die nah der Geschichte von der Geburt der Aphrodite den Faden der Erzählung wieder aufnehmen. Bereits oben ist auf die Bedeutung dieser Verse hingewiesen worden (p. 36). Nachstehend seien sie an dieser Stelle erholt:

ar die anderen aber benannte Titanen der Vater ranos, der sie erzeugte, der Mächtige, scheltend die Kinder,

' Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, II. Reihe, p. 205.

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Da sie mit frevelndem Sinn die Hand zum entsetzlihen Werke Damals erhoben, doch rächen, so sagte er, würd’ es die Zukunft.

(Theog. 207 ff.) Schon Gruppe (Griedh. Kulte u. Mythen, I. Bd., p. 584 ff.) hat

daraus erschlossen, daß ursprünglich nicht Kronos allein, sondern eine Mehrheit von Titanen an der Tat beteiligt gewesen sein müssen. Dadurch gewinnt nun der griechishe Mythus eine Gestalt, die ihn der polynesishen Überlieferung um ein Bedeutendes näher rückt. Aud können wir daran eine sehr lehrreihe Beobadhtung maden. Einerseits müssen nämlich die Bedenken gegen die Tat nicht so groß gewesen sein, wenn alle Brüder an ihr beteiligt waren, anderseits ist aber auch dieser älteren Form ethishe Reflexion insofern bei- gemengt, als sich in diesen Versen eine Verurteilung der titanischen Tat ausgesprochen findet, die zwar dem angegriffenen Teil in den Mund gelegt wird, aber dennoch ein mehr oder weniger objektives Gepräge besitzt. Halten wir hier ein wenig inne. Au in der indi- viduellen geistigen Entwicklung tritt im Laufe der Zurückdrängung der den Sdpuckbmple, zugehörigen Neigungen eine solhe »Ver=- urteilungs derselben ein, unter dem suggestiven Einfluß des ethischen Milieus und der physiologishen Umbildungen der Latenzperiode. In derselben Entwicklungsphase stehen die Formen des Mythus, die uns eben beschäftigen. Die ursprünglihen Wunschgedanken, ins Licht geläuterter Einsicht gerückt, werden mit Abwehrgefühlen bedakdt, was selbstverständlich nicht hindert, daß der Mythus auch in dieser neuen Oestalt den verdrängten Wunschphantasien noch weiter dienst- bar ist, im Gegenteil, diese moralishe Verlarvung dient zu ihrer Redtfertigung die Moral ist der Trikot des Mythus. Diese Gestalt ist es im allgemeinen, in der sich uns die Hrlaben».Myihen auf griehishem Boden darbieten. Das gilt vornehmlih von Hesiods Zeichnung der Japetossöhne. Ich verweise auf Seite 41 f., wo ich als besonders Des hervorgehoben habe, daß bei der An- führung ihrer Schicksale die Strafen, welhe Zeus über sie verhängt hat, an erster Stelle stehen, während wir von ihren Übeltaten zum Teil bezeihnenderweise gar nichts wissen wie bei Menoitios und Atlas. Die Gründe, die für Prometheus’ Bestrafung angeführt werden, sind wieder samt und sonders für das Menshengeshleht segens- reihe Taten. Woher also mit einem Male diese Verlsanung die ganz den Charakter einer damnatio indicta causa trägt? Unsere voran- en Ausführungen geben uns die Antwort an die Hand: diese

aten enthalten sämtlich das titanishe Motiv einer Bereicherung des Menschen zu Ungunsten des Gottes in sih und mußten der Äcdhtung verfallen, als die der individual-psychologishen Entwicklung parallele Verdrängung der Sympathie mit dem gegen den Vater (Himmels- ar sih auflehnenden Helden auh im Mysbuk zur Geltung ge= angt war. Atlas trägt als Himmelsträger den titanischen Charakter noch ziemlih offen an sich. Mit ihm geschieht nichts weiter. als

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daß diese seine segensreihe Tätigkeit in eine von dem Himmels- gott Zeus verhängte Strafe umgewandelt wird (Äsch. Prom. 355, Hesiod, Theog., 517 ff.). Eee Tarcen, die schon früher in Bergen vulkanishen Charakters lokalisiert gewesen waren, verbleiben dort, aber ihr Aufenthaltsort gilt jetzt als Ort der Verbannung. Auf Typhon (Hesiod, Theog. 820 ff., Äsch. Prom. 359 ff.) hat Zeus die Insel Sizilien gestürzt, sie erbebt, wenn der Riese, von Schmerzen gepeinigt, seine Lage zu verändern sudht. Typhon war indes seiner Beschtebun: nah jedenfalls ursprünglih ein vulkanisher oder Gewitter- dämon und hat den titanishen Charakter erst erhalten, als die ur- sprünglichen ältesten Titanen der Sympathieverdrängung unterworfen worden waren. Über Prometheus soll weiter unten gehandelt werden.

Die individuelle psychische Entwicklung, die wir oben zu schildern begonnen haben, nimmt nun ihren Fortgang in der Weise, daß die ursprünglihen Affekte des Hasses und der Wunsh nad Beseitigung des Vaters niht nur mit Abwehrgefühlen umsponnen werden, sondern vielmehr noch eine Umkehrung in ihr Gegen- teil erfahren, an Stelle des Hasses tritt Liebe und Pietät, die nor=- malen Gefühle, mit denen wir scließlih _und für die Dauer die Person des Vaters und weiterhin die fürstlihe Autorität bedenken. Aud diese Entwiclungsstufe spiegelt sih im Mythus wieder. In der Geschichte der Japetiden ist Zeus nichts als der strenge Oott der Rahe. Ohne Mitleidsregung werden die Freunde des Menschen- geschlechtes ihrer Strafe überantwortet, @g oöx Eorı Avös Akıpaı voov oVÖE maoeAdeslv (Theog., v. 613). Diese Stufe wird überwunden in der Hesiodishen Darstellung des Titanenkampfes. Wohl tritt in ihr Zeus, der Enkel des er und als solher mit ihm in mythisher Identität verbunden!, als Vollbringer der Race, die dieser den Titanen nach seiner Mutilation angedroht hatte, ihren Reihen entgegen wir sehen diese Darstellung folgt der Version von der Mehrheit der an der Tat beteiligten Uranoskinder jedoch enthält sie die bedeutsame Episode von der Gewinnung der Hekatoncheiren für die Partei des Zeus. Dieser erlöst sie aus ihrer unterirdishen Gefangenshaft, führt sie ans Liht und zum Danke hiefür helfen sie ihm den Sieg gewinnen. Die alten Feinde des Himmelsgottes treten auf seine Seite, des uranfänglichen titanischen Trotzes entkleidet.

Mit dieser Ulmwandlung der feindlihen Gefühle in Liebe und Pietät hat der seelische Prozeß seinen natürlihen Abschluß erreicht. Im Mythus legt diese letzte Konversion den Grund zur Welt- macht des Zeus, wie in seinem realen Urbild, dem aus egoistischer Vereinzelung zum Gesellshaftswesen sich entwickelnden Individuum die Unterordnung des Einzelnen unter die autoritative Gewalt so- zialer Instanzen, die sämtlih Umwandlungen und Überbietungen der

! zu Enkel = Großvater vgl. Dieterid, I. c., p. 25,

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yäterlihen Autorität sind, den Kulturfortschritt wesentlich bedingt. Erst durh die Opfer an persönliher Freiheit und eigenmäcdtigem Lustgewinn, die der Ganze dem Einzelnen abfordert, werden die Kräfte frei, aus deren Zusammenwirken sih eine Welt objektiver Werte aufbaut.

Mit der Erreihung dieses Standpunktes macht die Entwicklung bei der Mehrzahl der Individuen halt. Eine Weiterbildung, die in= soferne nicht notwendig genannt werden kann, weil sie nur in einer beshränkten Anzahl besonders organisierter Einzelner zur Er= schheinung kommt, besteht darin, daß der anfänglihe Zustand der Auflehnung gegen die Autorität zwar überwunden wird, aber nachher wieder zum Durchbruch kommt und mit demjenigen, den die sozialen Medien mit suggestiver Macht dem Einzelnen aufzudrängen bemüht waren, zusammenstößt und einen Willenskonflikt entfaht. Diese neue Phase einer Entwicklung, die wir bereits abgeschlossen wähnten, ist nur möglih durch eine allgemeine Steigerung der seelishen Ver- mögen überhaupt, im besonderen durh eine größere Stärke sowohl der auf die eigene Person gerichteten Erhaltungstendenzen als auch der Wudt, mit der die Forderungen der autoritativen Mäcdte empfunden werden. Dieser Konflikt hat alle Merkmale des Tragischen an sih, wenn die Persönlichkeit, in der er sich abspielt, einen hohen Eigenwert besitzt, so daß sie gerade durch ihr Bestes und Edelstes in Kämpfe hineingezogen wird, die wie aus einer Vershwörung der Weltordnung gegen den hervorzuwadhsen scheinen, der die letzten Konsequenzen seiner Natur zu ziehen gewillt ist. Es ist die Gestalt des Prometheus, an der die Tragik dieses Konfliktes ihren für alle Zeiten giltigen Ausdruck finden sollte, wir haben ihre Behandlung bis hieher vershoben, weil sie bestimmt war, in künstlerischer Sub- limierung die letzten Möglichkeiten in der Gestaltung des titanischen Motivs in sich erstehen zu lassen.

Die Konversion der infantilen Haßgefühle in Liebe und Pietät ist für die prometheishe Natur bloß ein vorläufiger Abschluß, Es kommt der Tag, an dem sie die bange Frage erhebt, was sie selbst durch diese Hingabe gewonnen hat, ob es nicht besser wäre, für sih aus dem Vollen resolut zu leben als sih dem imaginären Ge- bilde einer Weltordnung aufzuopfern, die den Einzelnen zu ihrer Verwirklihung bedürfe;, ob hier niht Gewinn und Verlust in allzu sharfem Mißverhältnis stünden. Dieses Problem wird mit der dem antiken Menschen eigentümlihen Reserve im Prometheus des Äschylus abgehandelt.

Dieser Prometheus hat bereits jenen Schritt getan, den wir als Aufgabe der feindseligen Einstellung gegen die väterliche oder gött- -lihe Autorität gekennzeichnet haben. Im Kampfe des Zeus mit den Titanen hatte er seine Brüder zur Vernunft gemahnt und als seine Bemühungen fructlos geblieben‘ waren, sich mit seiner Mutter der Erde, die ihm die Zukunft geoffenbart, auf die Seite des Olympiers geschlagen (Äsch. Prom., v. 205 ff). Doch mit Undank wurde ihm

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seine Ergebenheit von Zeus gelohnt. Zeus will die Menschen, deren Schöpfer und Repräsentant Prometheus ihm gegenüber ist, von der Erde vertilgen und ein neues Geschlecht pflanzen. Hier verbindet Äscylus, nicht ohne eine Parallele im ägyptishen Mythus (vgl. oben, p. 46) das aus dem Sculdbewußtsein des Empörers gegen die Autorität hervorgewachsene Motiv der Sintflut mit der Titanensage, um die sih darauf einstellende Sinneswandlung des Prometheus zu begründen. Zeus will die Menschen von der Erde vertilgen und ein neues Geschlecht pflanzen. Der Grund für diese Absicht des Zeus, den Äschylus nicht angibt, wird kein anderer sein, als daß dieses Geschleht im Grunde seiner Natur stets titanisch geblieben ist und in der neuen Weltordnung nicht weiter bestehen darf. Doc Prometheus durhkreuzt des Zeus Pläne und bewahrt die Menschen vor dem Untergang. Wider den Willen der Götter leben sie weiter. Darob erzürnt Zeus und bestraft den Prometheus für seine Menschen- liebe. Die durh Zeus repräsentierte Gemeinschaft, der sih aud Prometheus in einer Periode seines Lebens angeschlossen hatte, ist in ihren Ansprüchen an den Einzelnen unersättlih und verlangt seine unbedingte Einterwerhui unter die (auf das Mittelmaß zugeschnittene) Autorität.

Dodh Prometheus weiß, daß er sich nicht völlig hingegeben hat, er ist im Besitze des Geheimnisses, auf dem Zeus’ Macht beruht, und vermag darum den Schergen des Olympiers zu trotzen, die ihn in den Einöden Skythiens an einen Felsen schmieden. Zeus ist es bestimmt, von einem noh ungeborenen Sohn der Herr- schaft entsetzt zu werden!.

Damit kehrt das alte titanische Motiv der Verdrängung des Vaters durch den Sohn wieder, aber in einer Ausweitung, die seinen Sinn um ein Bedeutendes vertieft. Der Bestand der Welt- ordnung beruht immer noch darauf, daß jeder Rückfall in den vor der Konversion der unbewußten infantilen Einstellung bestandenen Zustand vermieden wird. Es ist überaus lehrreih, in diesem von shwerwiegender Reflexion geschwängerten Gedankengewebe, wie es das Äschyleishe Drama ist, die Wiederkehr all der uns wohl- bekannten Züge vermerken zu können, durh die sih die älteste Art von Auflehnung gegen autoritative Mächte kennzeichnet.

Unsere Überzeugung von der infantilen Bestimmtheit der

' Nah Wecklein in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Prometheus, p. 16, die Herbeiziehung eines Mythus, der ursprünglich mit der Prometheussage in keinem Zusammenhang stand. Äschylus benützte die bei Pindar Isthm. VII 60 noch in ihrer älteren Gestalt vorliegende Sage, Themis habe, als Zeus und Po» seidon um Thetis freiten, den Ratschluß des Schicksals verkündet, daß die Meeres- göttin einen Sohn gebären solle, der mächtiger als sein Vater sein, und, wenn Zeus oder Poseidon sih mit ihr verbinden, »eine Waffe schwingen werde, ge= waltiger als Wetterstrahl und Dreizak«. Aschylus ließ die Beziehung der Sage auf Poseidon fallen, legte die Kunde von jener Schicksalsbestimmung, welche der Schicsalsgöttin Themis zukommt, dem Prometheus bei und madht zu dem Zwecke den Sohn der Kiymene zum Sohne der Themis.

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 65

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dichterishen Phantasie erhält durh diese Beobahtung eine neue Stütze. Die Umstände, unter denen die Offenbarung des Geheim= nisses der Macht des Zeus vor einer dem Prometheus ergebenen und darum vershwiegenen Zuhörerschaft vor sich geht, sind wiederum in mehr als einer Beziehung bemerkenswert. Jo, die in eine Kuh ver- wandelte ehemalige Geliebte des Zeus, kommt auf ihrer qualvollen Wanderung zu Prometheus in die skythishe Einöde und wird dort deutlih dem männlichen Opfer der rrahnei des Zeus als weib- lihes Gegenstück gegenübergestellt. Mit Hinblik auf den Charakter des Dritten, dem sie gegenübergestellt werden, ist es uns nicht mehr unklar, was diese drei Figuren zu bedeuten haben. Zwar hat nicht die Sage sie zu nächsten Verwandten gemacht, aber die individuelle Phantasie des Dichters hat sie mit allen Zügen ausgestattet, die der psychosexuellen Familienkonstellation eigen sind. Der Sohn, der sich als Opfer väterliher Tyrannei betrachtet, erblickt auch in der Mutter, zu der er sih am nädsten hingezogen fühlt, ein Opfer, das er aus der Gewalt des Vaters erretten möchte. Dieser drängende Gedanke läßt den Dichter eine weitere Brücke zwischen den beiden Gestalten schlagen, die sih das erstemal im Leben gegenüberstehen: nach der Prophezeiung, die Prometheus der sheidenden Jo auf den Weg mit- gibt, ist ihr bestimmt, in der dreizehnten Generation! die Stamm- mutter des Herakles zu werden, der ihn aus seiner Gefangenschaft befreien würde. Auch hier fand eine Rettungsphantasie statt, aber unter Berücksichtigung der Verhältnisse in einer der gewöhnlichen entgegengesetzten Richtung.

Im Besitze dieser Geheimnisse, die ihrer Natur nah, wie man leicht einsieht, infantile Wunschphantasien sind, vermag der Titanen- sproß dem Schicksal zu trotzen, vergeblih sind demgemäß die An- strengungen des Hermes, der auf Zeus’ Befehl erscheint, um ihm das Geheimnis abzudrängen. Zeus bestraft ihn, soweit er es einem Un= sterblihen gegenüber vermag, und Prometheus unterliegt am Ende dieses Mittelstücks der Trilogie dem typischen Titanenshicksal und versinkt unter Blitz und Donner in die Tiefe, auch in diesem zeit-

Ve Unterliegen noch die Macht seines Besiegers in den Händen altend.

»Und dodh, du stolzer Zeus, bestehst du nit!

Ein Ehebündnis wirst du dir bereiten,

! Obwohl ich befürchten muß, der Spielerei mit den Zahlen bezictigt zu werden, weise ih darauf hin, daß der Dichter die Zahl 13 in 10 und 3 aus= einanderlegt. Prometheus sagt zu Jo, es werde ihn befreien Toltog ye y&vvav moös 68% &)laroıv yovals der dritte Sproß nach zehen anderen (793). Die Zahl 3, die ihren mystishen Zauber, den sie auf das Denkender Völker ausübt (vgl. H. Usener, Dreizahl) nicht minder dem psychosexuelfen Familien-Dreiek als der Beobachtung einer organishen Erscheinung verdankt, ist hier verbunden mit der Zehnzahl, von der wir vermuten dürfen, daß sie auf die Geburt im 10. Monat hinweist. Es brauchte wohl nicht eigens hervorgehoben zu werden, daß diese »unbewußte Zahlen» behandlung« (vgl. E. Jones, Zbl., II. Bd., p. 241ff.) vom Dichter in keiner Weise beabsichtigt war.

Imago II 5

66 : Emil Franz Lorenz

Das dir das Szepter deiner Macht zerknickt! Dann geht der ganze Vaterfluch des Kronos,

Den er, gestürzt vom alten Throne, sprach

Dir in Erfüllung und der Götter keiner

Weist dir den Rettungsweg als ich allein! °

Ih kann’s, ih weiß den Weg! So thron’ er denn Mit seinem Donner durh die Lüfte prahlend Und schüttle keck sein feuriges Geschoß,

Nichts kann ihn vor dem schweren Fall bewahren, Mit Schande sinkt er unaufhörlich hin.

Und einen Gegner wird er sich bewappnen, Ein hehres Wunder unbesiegter Kraft,

Der einen Funken mädt’ger als der Blitzstrahl Und einen Schall, der Donner übertäubt,

Ja, der Poseidons erdershütterndem

Dreizak im Meer Vernihtung wird erfinden.

In seinem Unglük wird er dann erkennen,

Wie anders Herrshen doh und Dienen sei.«

Chor der Okeaniden: Mit deinen Wünschen, dünkt mich, drohst du Zeus,

Prometheus:

Nur was geschehen wird. Freilih wünsh’ ih’s aud. | (Prom., v. 928 ff.)

Über die psydhologishe Entwicklung des »Gelösten Prometheus« sind wir wenig unterrihtet. Wir wissen nur, daß der Chor am Anfang des Stückes aus den Titanen bestand, die Zeus also aus ihrer Fensetehelt unter der Erde, in der sie seit ihrer Besiegung im Titanenkampf schmadteten, noch vor der Befreiung des Prometheus ans Licht gesandt haben muß. Diese Tat der Versöhnung bildet den Hintergrund für die Handlung des Stückes, in dem Herakles mit Willen des Zeus erscheint und den Dulder durh Erlegung des Adlers aus jahrhundertelanger Gefangenschaft erlöst, wogegen Pro- metheus sein Geheimnis offenbart, Zeus möge sich vor einer Ver- bindung mit Thetis hüten, der Sohn aus dieser Ehe würde stärker sein als er. Es läßt sih vermuten, daß bei der Lösung dieses Konfliktes im Sinne der Äschyleishen Weltanshauung ein Kom- promiß geschlossen wurde, auf Grund gegenseitiger Anerkennung der Rehte. Durch die Schlichtung des Gegen auf Grund des Prinzips der Hodhadtung der Persönlichkeit von Seite der Autorität hat die oben behandelte Konversion ihre Probe bestanden und ihre letzte Festigung erhalten. Niht auf dem starren Festhalten des Autoritätsprinzips von Seite der älteren Generation und auf dem Ver- harren bei dem lähmenden (asthenishen) Affekt der Ehrfurcht beruht die Möglichkeit eines gedeihlihen Fortschreitens, sondern auf der willigen Anerkennung des Eigenrehts der werdenden Gesclechter.

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 67

Es liegen, wie uns die angewandte Psychologie in der Analyse des Mythus gelehrt hat, die Wurzeln für die bedeutsamsten späteren Konflikte, die der Einzelne mit einer wie immer gearteten Autorität auszufechten hat, in der Stellung, die der Sohn dem Vater gegen- über einnimmt. Wir beobadhteten im Mythus das Ineinanderschlingen der affektiven Mächte, die gestaltend auf die Entwicklung dieses Verhältnisses gewirkt haben und konnten ihre positiven und nicht minder ihre negativen Seiten als rihtunggebend für die menschliche Kultur erweisen. Die Gegenrede derjenigen, die uns zwar den Widerstreit der alten und jungen Generation als manifeste Tatsache des geistigen Lebens zugeben, seine Verankerung jedoh in seelischen Erlebnissen der Kindheit mit dem Hinweis zu widerlegen vermeinen, daß sich in ihrem Erinnerungsbestand keine Spuren der von uns angesetzten Konflikte voran können wir nicht als zutreffend bezeihnen. Gegenüber den auf Untersuhung des Unbewußten be= ruhenden Ergebnissen beweist die von dieser Seite als Gegeninstanz aufgeführte Tatsache nichts als eben ein gründlihes Vergessen der in Rede stehenden seelishen Inhalte. Freud hat diese, wie er sagt, höchst eigentümlihe Erscheinung als infantile Amnesie bezeichnet (vgl. 3 Abhandlungen, p. 36) und uns aufgefordert, wir sollten es lernen, uns darüber recht ausgiebig zu verwundern. Die Verwunderung ist aber allemal der Anfang der Philosophie. Wir dürfen annehmen, daß eben jene von uns oben gekennzeichnete Verdrängung der infantilen Auflehnung die Ursache dieses Vergessens ist, wie über- haupt die ganze infantile Amnesie, die sih ja auh auf indifferente Gegenstände erstreckt, mögliherweise mit den sexuellen Regungen der Kindheit in Zusammenhang steht. (Freud, ibid) Nur der eigentümlihen Illusion, die uns die eigene Kindheit wie ein ent- shwundenes Paradies erscheinen läßt, wollen wir noch unsere Aufmerk- samkeit zuwenden. Wir wissen, wie gesagt, sehr gut, daß sie von nicht minder heftigen Krisen erfüllt war, als die spätere Lebenszeit und kennen auch die Art dieser Krisen, Nicht nur vergessen haben wir demgemäß, sondern überdies gefälsht, wenn wir von der goldenen Kindheit sprehen. Doch gerade der letzte Ausdruck ist es, der uns wiederum den Weg zum Mythus und weiterhin auch zum Verständnis der Erscheinung bahnt.

Die weitverbreitete Vorstellung von einem goldenen Zeit- alter als Abglanz des Paradieses kann man mit Freud als Massen- phantasie von der Kindheit des Einzelnen bezeichnen. Daß sich das Glückseligkeitsstreben unterdrückter Schichten mittels der Phantasie eine Befriedigung in Vergangenheit und Zukunft sucht, die, mit allen Wunschprädikaten ausgestattet, der Gegenwart Unrecht geben und ein Ende verheißen, ist schließlih ein Gedanke, der sih auch einem minder angestrengten Nachdenken erschließt. Was bedeutet aber die eigentümlihe Tatsahe, daß dieses Wunscgebilde der seligen Zeit im antiken Mythus mit der Dauer von Kronos’ irdischer Herrschaft in eins gesetzt wurde? Desselben Kronos,

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68 Emil Franz Lorenz

der seinen Vater entmannt und der Herrschaft entsetzt hat. Fol- gendes ließe sich zur Erklärung vorbringen: Die Verbindung der beiden Funktionen als waroaAoias und König der goldenen Zeit entstammt der Periode, in der Kronos’ Tat noh nicht der Äcdtung verfallen war. Kronos als König der goldenen Zeit ist der Aus- druk für den Segen, der der Erde und ihren Früchten aus der Entfernung des Uranos, aus der Befreiung ihrer Geburten erwuds (vgl. Kronos als Gott des Acerbaues und der Geburten, p. 37). Während dann die Sympathievershiebung in der Beurteilung der ersteren Funktion eintrat, sei kein Grund gewesen, das Wunsch- gebilde der goldenen Zeit, das ja noh andere wichtigere Aufgaben zu erfüllen hatte (s. o.), in die Verdrängung mit hineinzuziehen. Eben jene anderen Aufgaben hatten die Fixierung bewirkt, so daß jetzt der Kronos waroa)oias und der Kronos der goldenen Zeit als zwei im Grunde inkonsistente Figuren nebeneinander stehen, wie es bei Hesiod tatsählih der Fall ist. Wir leugnen nicht die Mitwirkung dieser äußeren Gründe, unsere psydologishe Grund- überzeugung von der mehrdimensionalen Bestimmtheit des geistigen Geschehens verleitet uns jedoh, auh nah inneren Gründen für diese Erscheinung zu suhen. Da ist nun vor allem darauf hinzu- weisen, daß die zwei Überlieferungen von Kronos dem Titanen- sprossen und Gegner des Uranos auf der einen und Kronos als Fa des goldenen Zeitalters auf der anderen Seite, außer in mythologishen Handbühern immer streng getrennt voneinander stehen. Hesiod erzählt die titanishe Tat in der Theogonie, seine Herrscerstellung im goldenen Zeitalter in den Werken und Tagen, ohne die beiden Tätigkeiten irgendwie zu verknüpfen. Meines Wis. sens geschieht das auch sonst nirgends in der antiken Literatur; nie heißt es: Kronos, der König des goldenen Zeitalters, erhob sich gegen seinen Vater. Sollten diese in einer keineswegs unleben- digen, abstrakt-begrifflihen Gestalt zugewiesenen Motive trotz ihrer manifesten Inkongruenz niht doh auf einen einheitlihen Ursprung zurückdeuten, sollte ihre strenge Getrenntheit in der Überlieferung niht etwa den Grund darin a: daß das eine die negative De«- oder Verdrängungsform des anderen ist, woraus sich leicht ihr Nict- nebeneinanderbestehen erklären würde? Unsere Betrachtungen der Individualpsyche setzen uns in den Stand, diese Fragen mit Bestimmt- heit zu bejahen. Die goldene Kinderzeit ist die Ersatzbildung für die verdrängten Krisen, die aus der psychosexuellen Familien- konstellation hervorgewahsen sind; Kronos ist, wie wir nad- gewiesen haben, das mythishe Spiegelbild eben dieser infantilen Wünsche, der Mythus, dessen Verdrängungsarbeit wir ebenfalls ausgiebig kennen gelernt haben, hat sich als Ersatzbildung für seine erste verdrängte Entwiclungsstufe genau dieselbe Vorstellung einer seligen, goldenen Zeit gewählt. Die Psycdhanalyse in der ihr eigenen Unvershämtheit tut noch ein übriges und weist in den Eigenschaften des goldenen Zeitalters unter der Maske der Inversion die Wünsche

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 69

nach unbedingter licentia nah, was, wie in jeder Ersatzbildung, als Wiederkehr des Verdrängten zu betrachten ist.

Nadı dieser eingehenden Analyse der griehishen Überlieferung nur einige Hinweise auf die mannigfah abgewandelte Art und Weise, wie Zensur und Verdrängung in den anderen Titanenmythen gewaltet haben.

Unübertroffen ist die geniale Naivetät, mit der das Motiv der Zerstreuung der titanishen Helden im polynesishen Mythus angewandt wird, um sowohl die Sympathie des Mythenerzählers zu markieren als auch mit bedeutungsvollem Mahnen die allgemein menschlichen, sozialen Folgen einer derartigen Empörung gegen die väterlihe Autorität zu kennzeichnen, diejenigen, die sih gegen ihren Vater aufgelehnt haben, sind nicht imstande, unter sih Ordnung zu halten, sagten wir bereits oben. Einen Scritt weiter geht der biblische Re indem er von Änfang an jede Sympathie mit dem titanischen Unterfangen ablehnt. Hier sind aller- dings auh theologishe Einflüsse im Spiele, die von der geraden Linie der Wirklichkeit immer etwas abseits führen. Schließlih wird man an den Zügen, die wir im unmittelbaren Anschluß an die Anführung der übrigen einzelnen Mythen im historishen Teil der

Arbeit herausgearbeitet haben, unshwer das Wirken der Zensur - so besonders in der ägyptischen und in der Voruba- mythe.

Nur die germanische Überlieferung erfordert aus mehreren Gründen ein längeres Verweilen. Wie stellt sich dort die Sympathie zu dem riesenhaften Urwesen VYmir, aus dessen Leib die Welt ge- bildet wurde? In der Snorra-Edda stoßen wir am Ende der Be- schreibung Ymirs auf die überrashende Frage: War Vmir ein Gott? und erhalten die Antwort: Wir halten ihn durhaus nicht für einen Gott, denn er war böse wie alle seine Nachkommen. E. H. Meyer (Germanishe Mythologie, p. 446) bemerkt dazu: »Diese ernste, ethishe Frage hatte dem volkstümlichen Riesentum gegenüber keinen Sinn, aber sie versetzt uns plötzlih wiederum mitten in die christ- lihe Gedankenwelt, denn seit Plato bis auf den heutigen Tag war . man geneigt, in der Urmaterie, die doh Vmir vertritt, das Grund- böse zu erkennen.« ÄAud hier scheint wieder wie oben (p. 48f.) ganz überflüssigerweise Christlihes gewittert zu werden, wie jeder zu=- geben wird, der unserer Einreihung der Gestalt des VYmir unter die Welteltern seinen Beifall geschenkt hat. Das Schauspiel ist keineswegs erfreulih, daß unsere Gelehrten den beklagenswerten Umstand, daß die mythologishe Überlieferung unserer eigenen Vor- zeit erst aus nacıdhristliher Zeit stammt, dazu benützen, das Ur- sprünglihe, das sie noch enthält, vor unseren Augen zu verschütten. Ymir und seine Nachkommen, die Jötune, sind durch Bestla, die Gattin des Borr, die Vorfahren der titanishen Helden, der Asen Odin, Vili und V& und darum vermöge des Affektmechanismus, den wir anläßlih des griehishen Mythus kennen gelernt haben,

70 Emil Franz Lorenz

böse, wie Rangi und Uranos ursprünglih böse sind (Projektion der Haßgefühle auf das Objekt des Hasses). Wir erkennen daraus, daß in der nordishen Überlieferung die Entwicklung auf der ersten von uns charakterisierten Stufe stehen geblieben ist: dem ange- griffenen Teil hat sih noch nicht die Sympathie zugewendet, die Angreifer sind noh nicht geächtet worden. Trotzdem würde man fehlgehen, wenn man nicht auh hier Wirkungen der Verdrängung annehmen wollte. Man betrahte nur, auf ee Seitengeleise die Abstammung der titanishen Helden von Ymir geschoben ist. Sie stammen nur mütterliherseits von den Jötunen ab. Das ist dasselbe Verhältnis wie in der Jugendgeshichte des Kyros, wie aus folgender Gleihung hervorgeht: Kyros : Mandane : Astyages - Asen:: Bestla : Jötune. Die Verdrängung äußert sih hier wie dort in der Einshiebung des weiblihen Zwischengliedes und die Übertragung des titanishen Aktes auf die Aszendenz der Mutter. Diesen ein- zigen Zug ausgenommen, zeigt die nordishe Überlieferung eine beneidenswerte Freiheit von moralisierender Übermalung und eine stolze Offenheit im Einbekennen ihrer verwegenen Ängriffslust, die es verschmäht, sih hinter die Draperien der Entrüstung zu ver- bergen und im stillen zu genießen, was sie offen nicht haben kann. In dem völligen Mangel des Selbst-Desaveus der Reue erkennen wir den verwandten Geist der isländishen Sagas wieder. Ähnliches gilt von der indishen purusa-sukta, während in der babylonishen Erzählung des Berosos, die in manchem Betraht Berührung mit der germanischen zeigt, die Ausbildung der spezifisch »titanischen« Affekte dadurh gehemmt war, daß das Urwesen nicht männlich, sondern weiblih war. So blieb als die weitaus stärkere von den Komponenten dieses Mythus die infantil-sadistishe Geburtstheorie über (vgl. oben, p. 34) und diese ist der affektiven Ausgestaltung lange nicht in dem Maße fähig wie die psychosexuelle Einstellung zum Vater, in deren Abwandlungen wir Ethik und Kulturgeshichte sih abspiegeln sehen.

Unserer in der Einleitung aufgestellten Frage, in welchem Verhältnis auf den einzelnen Entwiclungsstufen der Titanen- mythologie der naturmythishe und psycologishe Faktor zuein- ander stehen, dürfen wir jetzt eine zusammenfassende Antwort ent- gegensetzen. Diese hätte zu zeigen, wie weit die Bearbeitung des Materials unseren in der Einleitung entwickelten programmatischen Aufstellungen über Ursprung und Entwicklung des Mythus Redt gibt. Es wurde dort, wie man sich erinnert, dargelegt, wie der Mythus ein affektives Gedankengebilde ist, an dessen Gestaltung das ganze Triebleben des Menschen beteiligt sei. Der Trieb der Selbsterhaltung, sagten wir dort, schafft sich in der mythishen Er- zählung eine primitive Naturerklärung zum Zwecke einer aller- dings über das notwendige Maß hinausgehenden Orientierung in der dinglihen Welt. Diese Erklärung geschieht unter der herr- schenden Apperzeptionsart sub specie sexualitatis und gewährt auf

Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie 71

diese Weise den typishen Sexualwünshen des Individuums durch ihre Hineinlegung in die »große Welt« eine Erfüllung und Redt- fertigung. Was man weiterhin als den Trieb nach angemessener Aus- füllung des Bewußtseins bezeichnet, ist, wie man daraus leicht ent- nehmen kann, nichts anderes als eine sublimierte Form der beiden anderen Triebe; nur fälshlih nimmt man ihn als formal an, denn ohne Inhalte von bestimmter Umgrenzung ist er undenkbar. Die kann er sich aber nicht selbst liefern. Sind unsere Aufstellungen rihtig, so müssen die ursprüngliheren Formen der in Rede stehenden Gebilde das naturmythishe Blement in stärkerem, vielleiht aus- scließlihem Maße erkennen lassen. Das scheint nun tatsächlich der Fall zu sein. In den ansprucslosen kurzen Geschichten, wie sie uns etwa der australishe (p. 31) und der Wamba-Mythus bieten, steht sexuelle Symbolik und Wunscbefriedigung doh gewiß an zweiter Stelle. Darum können sie auch ihrer Sympathiestellung nah nahezu indifferent sein. Natürlich wäre es verfehlt zu behaupten, diese primi=- tiven Mythen seien ohne Mithilfe sexueller Apperzeption entstanden. Das Naturbild der Nacht bietet keinesfalls eine ausreihende Er- klärung für die mythische Vorstellung, daß der Himmel einst auf der Erde gelegen sei. Die Vorstellung von der Mutter Erde und dem befruchtenden, vom Himmel herabströmenden Regen, die Beob- ahtung des Wacdsens der Pflanzen, dieser nächsten Kinder der Mutter Erde, mußte vorausgegangen und sexuell gedeutet worden sein. Der Unterschied dieser primitiven Stufe von Er nachfolgenden liegt vielmehr darin, daß man es noch nicht verstand, die Lustquelle, die in der unbeabsichtigt eingeführten sexuellen Naturdeutung liegt, gehörig auszunützen. War einmal diese Entdeckung gemadt, so hatte

auh der Mythus, um mit Aristoteles zu reden, nv &avrod pbow erreict!.

! Diese Auffassung wird zweifellos Widerspruh erregen, sie erhält aber eine Stütze durch eine Beobachtung, die an der Entwicklung der Ödipusfabel ge- macht werden kann. Bei Homer (Od. 11, 271 ff.) wird der Mutterinzest gleich nach der Hochzeit ruchbar, Epikaste (— Jokaste) nimmt sih das Leben, Ödipus herrscht weiter in Theben und vermählt sich mit Euryganeia, die ihm vier Kinder gebiert. (Das letztere nah der Ödipodie des Kinaithon.) Die folgenden Dichter ge- fielen sih nun in der Steigerung der inzestuösen Züge, indem sie die Erkennung auf viele Jahre hinausshoben und die vier Kinder Eteokles und Polyneikes, Anti- gone und Ismene zu Kindern des Ödipus mit seiner eigenen Mutter machten. Das geschieht zuerst bei Äschylus. Da sih vornehme Geschlechter Thebens von den vier Kindern des Ödipus ableiteten, ist es unwahrsceinlich, daß die Überlieferung bei Homer (und Kinaithon) eine Abshwäcung zu bedeuten hätte. Ähnlich steht es mit der Orestessage, »Bei Homer ist Mörder Agamemnons Aigisthos allein, wenn auch unter Beihilfe der Kiytaimnestra, und von Orestes wird nur gesagt, daß er den Aigisthos ermordet habe, wie Kiytaimnestra umkam (Od. 3, 309 £.), wird niht angegeben. Pindar Pyth. 11, 38 ist der erste, der den Orestes deutlih als Muttermörder bezeichnet.« (Christ-Schmid, Grieh. Literaturgesch., P, p. 2838) Orestes ist aber (wie Hamlet) der Oedipus inversus. Diese Tendenz der Über- bietung der inzestuösen Elemente ist für den Mythus durchaus charakteristisch,

mag ihr auch in der damit Hand in Hand gehenden Verdrängungsabwehr ein schein- bares Paroli geboten werden.

12 Emil Franz Lorenz

Aber eben jene Erfahrung vom Mythus als einer Lustquelle ist shuld an der geänderten Darstellungsweise auf dieser zweiten Stufe der Entwicklung. Wir wissen, daß die Wunschgedanken, die auf die Befriedigung in der Phantasie angewiesen sind, inzestuöser Natur und darum im Traum wie im Mythus einer Zensur unter- worfen sind, Diese vollzieht sih im allgemeinen in Form der Ver- drängungsabwehr. Der Mythenerzähler, der sih im Grunde mit seinem Helden identifiziert, nimmt nun eine Sympathiever- schiebung zugunsten des angegriffenen väterlichen Teiles vor. Damit ist aber auh der erste bedeutsame Scritt zur Loslösung des Mythus von seiner äußeren Naturgrundlage getan, denn jene Sympathievershiebung ist in den zugrundeliegenden Fakten, mit deren Erklärung sih der Mythus zuerst beschäftigte, in gar keiner Weise gegeben. Diejenigen, die im Mythus nur die Naturgrundlage gelten lassen wollen, müßten erwarten, daß jetzt, wo ihm diese Grundlage entzogen ist, sein Verfall eintreten müßte. Daß diese Er- wartung nicht zutrifft, vielmehr gerade jetzt seine eigentlihe Blüte anhebt, indem das Für und Wider der ausgelösten Affekte in sinn- voller Weiterentwicklung zu immer neuen Gestaltungen treibt, mag als ein neuer Beweis dafür gelten, daß eben dieser affektive Faktor von Anfang in ihm geschlummert haben muß. Andernfalls wäre diese Weiterentwicklung_keine organische, sondern die Geschichte des Mythus bestünde gleihsam aus zwei Stücken, die durh irgend- welche äußerlihe Momente aneinandergefügt worden wären. Daß dies niht der Fall ist, dürfte aus der Analyse unseres Mythus mit hinlängliher Deutlihkeit hervorgehen.

Wir haben bis jetzt das Motiv der Naturdeutung als ein selbständiges neben dem des sekundären Lustgewinns sexueller Natur bestehen En jedoch immer deutlicher herausgearbeitet, welch be- deutsame Rolle das letztere auch dort spielt, wo jenes als das primum agens erscheint. Nicht bloß die Rücksiht auf das »Einheitsbedürfnis der menshlihen Natur« ist es, die uns bewegt, hier, wenn schon keine Reduktion, so doh eine Annäherung der beiden Motive an- zustreben, es verleitet uns dazu vielmehr die Einsiht in die Ge= lungenheit des Versuchs, der von Sachs! gemaht wurde, aus der nach ungeschiedenen Einheit primärer narzissistishen Libidoerfülltheit des am Anfang der Entwicklung befindlihen Seelenlebens die Ent- stehung des Animismus als einer, durh Verdrängung der auteroti- schen Libido entstandenen hetererotishen Ersatzbildung zu begreifen. Hat demgemäß nah den Ergebnissen dieses Versuhs die natur- mythishe Komponente eine auterotishe Wurzel und liegt der von uns geschilderten sexuellen Apperzeption die Hetererotik zugrunde, die Entwicklungsform der Auterotik, so hätten wir das gesuchte einigende Band: Libidogewinnung auf vershiedenen Stufen der Sub- limierung.

ı sÜber Naturgefühl«, Imago, I. Bd., 2. Hft.

Carl Spitteler. 73

Carl Spitteler. Von HANNS SACHS (Wien).

In dieser Welt von Übeln krank, von Blute rot,

Tut Geist und Schönheit, tut ein Fle&klein Himmel not,

Ein Glüklicher, der nichts vom Pfuhl des Jammers weiß,

Ein Edler, rein von Schuld, ein Held des Helmbuschh weiß. (»Olympischer Frühlings, II. Teil.)

st die Annahme der Psychoanalyse richtig, daß die schöpferische

Phantasie des Künstlers, wie jede andere, ihre tiefste und mädhtigste

Quelle im Unbewußten habe, so muß in der Brust jener, die sich die Phantasie zum Lebensinhalt gemacht haben, der Kampf zwischen Begierde und Verbot, Wunsch und Angst mit besonderer Heftigkeit entbrannt sein. Was den Künstler von den übrigen Phantasie- menschen, Träumern und Narren, besonders unterscheidet ist seine Fähigkeit, trotz der Gewalt dieser inneren Kämpfe den Weg von sich weg zu finden. Er muß sich vergessen können, während er seine Leiden ausspriht und formt: »Äber sich so verlieren, ist mehr sich findens, dies Wort des Mystikers gilt nicht nur für die religiöse, sondern für jede Form der Inspiration.

Wenn wir Psydhoanalytiker nun auch hoffen dürfen, gründliher als die bisherige Psychologie das seelishe Material nahweisen zu können, aus dem die poetischen Meisterwerke geformt wurden, wenn wir es auh versuchen dürfen, den Wegen dieser Ulmformung, den Medanismen der dichterishen Produktion nachzuforshen, eines wird uns doch voraussicdtlih immer unfaßbar bleiben: das Maß der geistigen Kraft, die dazu nötig war, den Widerstand der Materie völlig zu überwinden und in scheinbar schrankenloser geistiger Frei- heit zu schaffen. Darin wird sich das Genie wohl nie der wissen= schaftlihen Analyse preisgeben, das Geheimnis seiner Größe scheint schicksallos, außerhalb der Reihe von Ursahen und Folgen zu stehen. An keinem aber ist die Verleihung dieses Wundergeschenkes sichtbarer geworden als an Carl Spitteler, dem großen Schweizer Dichter und unwissentlihen Paten dieser Zeitschrift. Ihm gegenüber wäre eine Änalyse ein zu hohes Wagnis;, nur auf einige Stellen, wo seine Intuition mit den Forshungsresultaten Freuds zusammen- trifft, sei bescheidentlih hingewiesen.

»Imago« ist die Geschichte einer aus der Verdrängung wieder- kehrenden Liebe, die zuerst als Abneigung und Veradhtung ver- kleidet auftritt, dann im Traum und durh »Konversion ins Somati= she« nah Ausdruck ringt, bis sie sich wieder im Bewußtsein durh- setzt. Aber nicht die übrigens in allen Einzelheiten wundervolle sScilderung dieses Kampfes mit dem Widerstand ist das Einzig- artige des Buches, sondern die Gestaltung der Idee, daß für den in inneren Konflikten Befangenen nicht mehr die geliebte Person alleiniges Liebesobjekt ist, sondern daneben und darüber aud die Gestalten, die sih seine Phantasie nah ihrem Ebenbilde erschaffen

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hat. Wohl war uns der Medhanismus der »Zerlegung« einer Person in mehrere als harakteristishes Symptom einer Geisteskrankheit (der - Paraphrenie oder Schizophrenie) bekannt und wir wußten audh, daß die Psychosen nur das verzerrte Bild eines normalen Vorganges bieten. Damit war aber nur eine äußerlihe Betrahtungsweise gewonnen, den Einblick ins Innere hat uns erst der Dichter eröffnet und zugleich den treffenden Terminus geliefert. Die Wichtigkeit dieser Erfahrung kann kaum überschätzt werden, denn nur durdh sie gelangt man dazu, das Kernproblem der Psychoanalyse, den Ödipuskomplex, rihtig zu werten. Es schien weder erträglih, noch glaubhaft, daß alle I ein auf ihre nächsten Verwandten gerichtetes ver- botenes Begehren ihr ganzes Leben lang in der Brust verschlossen tragen sollten. Erst wenn wir einsehen, daß es im letzten Grunde niht Vater und Mutter des aktuellen Lebens sind, denen jene Ge= fühle gelten, sondern des Vaters und der Mutter »Imagos, ihr in unbewußter Phantasie bewahrtes Erinnerungsbild aus der »Parusie« die wir zu psychoanalytishem Gebrauh mit »Kindheit« über- setzen dann begreifen wir den Sinn jener durchs ganze Leben fortwirkenden Ödipuseinstellung. Für den Normalen wird die Imago Vorbild seiner Liebeswahl und nur für den ins Infantile zurückgeworfenen Neurotiker fließt sie mit dem Urbild wieder zusammen, woraus dann Seelenpein und Gewissensnöte entstehen müssen. Victor, der Held des Bucdes, bildet aus allen seinen Ge= danken und Wünschen Gestalten, die für ihn selbständiges Leben gewinnen, ein Wahnsinniger also, wenn er nicht ein Dichter wäre. So aber weiß er immer noch die Oberhand über seine Kreaturen zu gewinnen und statt sie fälshlih in die Realität zu versetzen, wie es ihm die Versuhung nahelegt, gründet er für sie eine neue Welt, in der sie frei wirken und walten können, »das Reih, welches reiner ist als das Reih der Wirklichkeit, aber wesenhafter als das Reih der Träumes sein Kunstwerk.

Spittelers Dichtung will nichts weniger sein als ein Kompen- dium für Psydho- und Neurologen. Ihre Bestimmung ist keine andere, als die jedes meisterlihen Kunstwerkes: andädhtigen Genuß zu be=- reiten. Aber ohne sih diesen zu schmälern, kann man daraus die wertvollsten Erkenntnisse erlangen. So läßt sich die Wiederkehr des Verdrängten aus den im Dienste der Verdrängung geschaffenen Maß- regeln nicht schöner anschaulich machen als durh Victors Entschluß, Theudas Nähe niht mehr zu fliehen, sondern aufzusuchen, um dadurch sein Phantasiebild von ihr leichter zu bekämpfen und zu entwerten. Die unbegreiflihe Vorliebe, die manchmal für ganz reizlose Orte oder einen gleichgiltigen Menschen erwacht, wird völlig durdh- sihtig, wenn man die Geschichte von Victors Reise nach Sengen- dorf und seiner Freundschaft mit dem »scheuledernen Andreas« liest. Seine Veranstaltung bei dieser Reise, das scheinbar unsinnige Fragen nah der Frau Direktor Wyss, ist die beste Aufdeckung eines neurotishen Mechanismus, nur daß freilih der Neurotiker

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völlig aus dem Unbewußten heraus so handelt, wie Victor in halb- bewußter Selbstironie.

Ein kleines Beispiel zeigt, wie wohl der Dichter die Bedeut- samkeit der Fehlhandlungen zu würdigen versteht, die Freud als erster wissenschaftlih nachgewiesen hat. Victor kehrt heim, um die Treulose als »Richters zu bestrafen. Vor seinem Gang versichert er sih ihrer Adresse: Münstergasse sehs. »Hausnummer vierzehn, da bin ih in Gedanken vorübergegangen. Rückwärts denn: Nummer zwölf, zehn, jetzt kommt es näher, aht also das nächste Haus. Nicht übel das Häuschen, wie reinlih, wie wohnlich mit den weißen Spitzenvorhängen und dem weit ausladenden Erker;, wer würde ihm von außen die Falschheit ansehen, die es birgt. Einen Kanarien- vogel hört man audh, und Kinderlahen. Ein Kind? Wie kommt das Kind da hinein? Sollte ih mih in der Hausnummer getäuscht haben? Nein, es ist rihtig Nummer sehs. Nun, es können ja mehrere Familien in einem Hause wohnen.« Victor bemüht sich deutlih, auch nachdem er seinen Irrtum gutgemadht und das richtige Haus gefunden hat, das Kinderlahen so spät wie möglih, erst nadhı- dem er von den nebensädhlichsten Einzelheiten Notiz genommen hat, zu hören. Auf die gemahte Wahrnehmung reagiert er dann sofort mit dem Zweifel an der Richtigkeit der Hausnummer und beruhigt sich erst mit dem Gedanken, daß das Kind einer anderen Familie angehören könne. Das gibt uns den Schlüssel zum Ver- ständnis für sein Vorübergehen. Er hat offenbar shon beim ersten- mal die richtige Hausnummer gesehen, dabei aber auch bereits das Kind gehört. Der Gedanke an das Kind war ihm jedoh so peinlih, daß er seine Wahrnehmung unbewußt verfälshte und weiterging, um das Haus zu suhen, wo die ehemals Geliebte aber ohne Kind wohne. Durch diesen kleinen Zug weiß uns der Dichter einzugeben, daß der Gedanke, Theuda habe von einem anderen Manne ein Kind empfangen, für Victor unerträglih ist, daß also hinter seinem Abscheu noch unverändert seine alte Liebe steckt. Daß aber die Leser diesen Zug verstehen, auch wenn sie Freuds »Psychopathologie des Alltagslebens« eben so wenig gelesen haben, wie der Dichter selbst, beweist, daß die empfangenden Organe, die sie der Dichtung entgegenstrecken, nicht dem Bewußtsein angehören, sondern dem Unbewußten.

Die Darstellung »Konrad der Leutnant« entrollt die Konflikte in der Seele eines durchaus wohlgeratenen Menschen, der an der Auflehnung gegen seinen Vater und ‚der Liebe seiner Schwester zugrunde geht. Die eine verbittert ihm jedes freie Wirken und Schaffen, die andere macht ihm die Ablösung von der Familie und die selbständige Liebeswahl unmöglih. Der gegen den Vater gerich- tete Todeswunsh, das aus Widerwillen und Abhängigkeit gemischte Gefühl, das ihm der Sohn entgegenbringt, wird mit vollendeter Klarheit ausgeführt: »Da, während er ziellos hinbrütete, tauchte unversehens der frevelhafte Spruch seiner Schwester in seinem Ge-

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dädhtnis auf: »»Wer weiß denn, wie lange er überhaupt nod lebt?«« Ob er das Wort noh so heftig verbannte, es kam wieder und hüpfte unablässig in seinem Ohr. Gewiß niht als Wunsh und Hoffnung pfui! sondern einfah als Frage. Und scließlich im Grunde, warum sollte er sie nicht beantworten? Eine unbe- zwingbare Neugierde wuhs in ihm heran, so daß er sich eine Scrittlänge seitwärts am Fenster zurückstahl, bis sein Blik durd die Türspalte streifend den Vater erreichte, die rechte Seite des Körpers und je nachdem jener sich bewegte, auh den Kopf. Und nun begann er ihn verhaltenen Atems zu beobachten, wie er ihn nie beobachtet hatte, mit dem lauernden Blike des Spions, welcher nach des Feindes Shwäcen späht. Im einzelnen prüfte er ihn, von oben bis unten, um es scließlih zusammenzurechnen: Das schrek= lihe Antlitz glatt und bartlos, mit braunen Flecken schauerlih ge- tigert, die fürcterlihen, rot unterlaufenen Doggenaugen, den gedun- senen Leib .. . Und heimlich zählend überflog er sein Älter: vier- undsehzig im Herbst. jedesmal, wenn zufällig sein Bliik den des Vaters kreuzte, schnellte er den seinigen zurück, während der Vater geräushvoll schnurfelnd ausspucte.« In einer glücklihen Stunde gelingt ihm denn beides, die Überwindung des Vaters, der sich gutwillig dazu versteht, ihm die Herrschaft abzutreten und die Brautwahl. Aber der Raush des Erfolges geht vorüber und der Arme muß einsehen, daß er seine Konflikte niemals los werden, sein Leben statt in fröhliher Wirksamkeit in Haß und Zank ver- bringen muß. Das wird ihm in vollster Deutlihkeit vor Augen gestell, während er sih aufmadht, um einen Nidhtswürdigen zu züchtigen. Er hört den Vater lamentieren, sein Sohn habe ihm den Todesstoß versetzt, und die Eifersucht zwishen Schwester und Braut flammt wild auf, da die eine ihm von seinem Unternehmen abrät, die andere ihr zum Trotz ihn dazu anstadelt. Im Kampfe mit dem weit shwäceren Gegner erhält er den Toodesstoß, nicht als Opfer eines unglüklihen Zufalls, sondern weil er mit unbewußtem Wunsche selbst den Tod sucht. Die Tatsahe, daß hinter einer Ungeshiclichkeit das unbewußte Streben nah Selbstbeshädigung, ja nach Selbstmord verborgen sein kann, die Freud mit den Mitteln der psydhoanalytishen Technik nachgewiesen hat, ist für den Dichter nichts Paradoxes; sie ergibt sich vielmehr aus seiner Darstellung mit der Notwendigkeit und Selbstverständlihkeit, die jeder Kunstvoll- endung innewohnt.

Der kleine Gerold in »Die Mädchenfeinde«s wiederholt sic selbst stets eine und dieselbe Phantasie. Sie beginnt mit einem großen Schlachtgemälde, wobei er selbst natürlih Anführer der siegenden Partei ist. »Schon war der Sieg entschieden, der Feind floh, sämtlihe Kanonen im Stiche lassend, siehe, da stürzte der Obergeneral der feindlihen Kadetten, ein engelshöner Knabe in weißer Uniform mit goldener Shärpe und goldgestickten Aufsclägen verwundet vom Pferde. Er, rüksichtslos da Freunde und Feinde

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sih Bahn brehend, stürmish zu ihm hin, half ihm sih aufrichten, tröstete ihn liebreih, nahm ihm sein Ehrenwort ab und versprach ihm Pflege und großmütige Behandlung. Und süß war der Dankes- blik aus den blauen Augen des Gefangenen.« Es kann nicht zweifel- haft sein, daß es die ersten Regungen der ihres Objekts noch nicht kundigen Sexualität sind, denen diese Phantasie entsprungen ist. So deutet es auch der Psycholog des Buches, der Narrenstudent: »Neun Jahre und zwei Monate! Und schon Engeleien im Kopf! Gerold, du bist ein Phänomen . . . Um aber auf deinen holden Kadetten- general zurückzukommen, so will ih dir, weil du mir dein Geheimnis anvertraut hast, auch etwas Geheimnisvolles verraten, glaub’s oder glaub’s nicht, aber merk dir’s und behalt es: Der Kadettengeneral verwandelt sich später, mag sein in fünf, mag sein in sieben oder acht Jahren, in ein lebendiges Mädchen, das du sehen kannst, und das »»Gerold«« mit einem langen, langen e zu dir sagen wird, wie wenn ein h dahinterstände.« Es ist kaum möglih, für eine so zarte und treue Darstellung so grobshlähtige Worte zu gebrauchen wie »Deutung der Sexualität im Sinne des eigenen Aggressionstriebes« oder »infantile Inversionsneigung«. Nur darauf sei verwiesen, daß ganz im Sinne der Theorie Freuds hier geschildert wird, wie sich die Sexualität beim Kinde schon regt, längst bevor sie hinreichend gereift ist, um das richtige Sexualziel und Sexualobjekt zu erkennen.

Auffallend ist übrigens die Ähnlichkeit zwishen dem Götti Statthalter und seiner Frau mit dem Elternpaar in »Konrad, der Leutnant«. Der Vater laut, tyrannish und willkürlih, die Frau zart und leidend. Bei der unendlich reichen Gestaltungskraft Spittelers, die sich sonst in keinem, auh nicht dem kleinsten Zuge wiederholt, muß man wohl vermuten, daß hier unauslöshlich eingedrükte Vor- bilder wirksam waren.

Verstreute Bemerkungen, wie die mitgeteilten, können einer Persönlichkeit, wie es Spitteler ist, selbstverständlih nicht genüge tun, um so weniger, als der Versuch gar niht gemacht wurde, ihn als das zu werten, was er rein und aussdließlih ist: als Künstler. Da jedodh gerade in diesem Punkte der größte Mut vonnöten wäre, um ihm ins Einzelne zu folgen, so sei nur das eine als sicherste Überzeugung ausgesprohen: Von allen Lorbeeren, die unsere Zeit austeilt, ist keiner, dem unverwelklihe Frishe so gewiß ist, wie dem, der seine Stirne bekrängzt.

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Vom wahren Wesen der Kinderseele. Redigiert von Dr. H. v. HUG-HELLMUTH. 1.

Über erste Kindheitserinnerungen. Von Dr. H. v. HUG-HELLMUTH.

s ist eine eigentümliche Tatsache, daß der Erwachsene, rückshauend in seine

Jugendzeit, meist shon im siebenten Lebensjahr auf das große »schwarze

Lod in seinen Erinnerungen« stößt, wie Otto Ernst die Gedäctnislücken des kleinen AsmusSemper nennt. Hinter diesem dunklen Nichts leuchten dann noch wenige helle Gebilde mit scharf umrissenen Konturen aus dem nebelhaften Chaos des frühesten Kinderdaseins. Es sind Erinnerungsbroken von seltsamer Klarheit, aber weil dem Erwachsenen jeder Zusammenhang derselben mit dem übrigen Geschehen entschwunden ist, so weiß er mit ihnen nichts anzufangen. Ja, er verlegt sie, in dem dunklen Bewußtsein, daß sie für ihn einst eine große Bedeutung gehabt haben, in spätere Jahre, obwohl sie ihm dort niht am rechten Platze scheinen, aber diese bewußten und unbewußten Erinnerungstäushungen sind nicht imstande, jenen Resten infantilen Geistes- und Gemütslebens etwas von ihrer fast visionären Klarheit zu rauben. Neben diesen »poetishen Naturen, bei denen die Er- innerungen der Kindheit bis ins höchste Alter lebendig bleiben und zuletzt die jüngeren Eindrüke ganz und gar verdrängen« 1, sind andere und es ist vielleiht die Mehrzahl die wenige oder gar keine Erinnerungen an die Frühzeit ihrer Seele bewahrt haben. Und es gibt Forscher, »die es mit Freude begrüßen, in der Zeit, da die Auffrishung frühester Jugenderinnerungen Mode geworden, einmal einem zu begegnen, der gesteht, nichts zu erinnern«. Wenn wir an diese Be- hauptung die psychoanalytishe Sonde legten, so würde sich dartun, daß diese Personen viel von dem, was in ihrer Kindheit eine wichtige Rolle spielte, nicht wirklih vergessen, sondern bloß gut ins Unbewußte verdrängt haben. Wenn Compayr&? sagt: »Es würde natürlih erscheinen, wenn die Erinnerungen an die Anfänge unseres Lebens dunkel wären, in Wahrheit aber sind sie gar nicht vorhanden«, so kann man, auf psydhoanalytishem Boden stehend, dem Gelehrten bloß im ersten Teil seiner Meinung beipflihten. Denn die Psychoanalyse gibt uns das Mittel, die Spuren seelischen Geschehens zu verfolgen bis in die ersten Lebens- jahre. Träume und kritikloses Wach-Erinnern führen uns in die Zeit, da die Seele ihre Tore öffnete zum Einzuge von Freude und Schmerz und unter dem Eindruck der ersten Gefühle sich ihrer selbst bewußt wurde.

Nach Freuds genialer Lehre hat das Nicht-Erinnern der Großen einen seiner Hauptgründe in der Amnesie der Kleinen. Sie ist teils durh die große Beweglichkeit der Elemente des infantilen Geistes bedingt, teils trägt die durd Erziehung und Herkommen geübte absichtliche Unterdrükung gewisser Gedanken= gänge schuld daran, daß uns die Erinnerung an Erlebnisse schwindet, welche ihrem Charakter nach zum dauernden Besitz unserer Seele geeignet wären. Die Wertung der Ereignisse vollzieht sih beim Kinde in weit höherem Maße als beim Er-

ı Bogumil Goltz, Buch der Kindheit, p. 165. ?Compayre. Die Entwicklung der Kindesseele, p. 165.

Über erste Kindheitserinnerungen. 79

wachsenen unter dem Einflusse sexuellen und erotishen Empfindens, denn ihm fehlt jede ethishe und ästhetishe Würdigung. Sowie diese sih zum Worte meldet, wird das Ursprünglichste des infantilen Gedanken- und Gefühlslebens aus dem Bewußtsein gedrängt und ins Unbewußte verwiesen. Solhe gewaltsame Unterdrükung erfährt nicht selten gerade der Teil der Erinnerung, um dessent=- willen ein Vorkommnis dem Gedädtnis sich eingeprägt hat, der verpönte sexuelle Inhalt wird vergessen und harmlose Dinge treten in den Vordergrund. So kommen jene Erinnerungsbroken zustande, die uns unerklärlih oder barer Unsinn dünken, solange wir nicht die psycdhoanalytishe Forshung zu Redt gelten lassen.

In dem autobiographishen Roman »Asmus Sempers Jugendland« berichtet Otto Ernst als früheste Erinnerung des kleinen Helden, daß dieser sich in einem weißen Kleidhen auf dem Treppenabsatz sitzen sieht, während seine Mutter über das Geländer der Treppe hinweg mit einer Nachbarin plauderte. War es befriedigte Eigenliebe, die sih an dem weißen Kleidhen freute, war es ein Teil des Gesprähs, den der kleine Knabe mit besonderem Interesse auffing und in seine junge Seele einschloß als geheimnisvollen Schatz, sicher war es die Gefühls- seite, die ihm dies an sich unscheinbare Erlebnis so wertvoll gestaltete, daß ers dauernd behielt. Und dann folgt eine Erinnerung, in der die erotische Verknüpfung mit der Gestalt des heißgeliebten Vaters klar hervortritt: »Das nächste große Er- eignis, das seine Spuren für immer in sein Gedächtnis grub, war ein Barbierbecken. Es hing über einer Tür an der Straße. Es funkelte herrlih, wenn der Wind es bewegte, und war wohl das Schönste, was es auf der Welt gab. Und eines Sonntags ging Ludwig Semper, der Vater, in das Haus mit dem herrlihen Becken hinein, und seinen Sohn ÄAsmus trug er auf dem Arm. Ein Mann der immerfort redete, legte Asmus die Hand auf den Kopf, und dann wischte er dem Vater einen weißen Schaum ins Gesiht. Wenn der Mann redete, sah ihn der Vater immer ganz ruhig mit seinen großen Augen an und sagte: Hm! Und dann faßte der Mann den Vater bei der Nase und kratzte den Schaum wieder ab. Und als der Vater mit seinem Asmus wieder draußen war, kamen sie gleih auf einen Platz. Da war es sehr shön, weil es so frei war. Und da standen mehrere Männer in sauberen Röcken, mit denen sprah der Vater. Die Männer in ihren sauberen Röcen waren auh shön, überhaupt war an dem Tage die ganze Welt wunderschön, weil überall Sonntag war.« Sonntag war’s aber in der Seele des Kindes, weil es beim Vater war, »der gleih nach dem lieben Gott kam«, und dem die erste heiße Liebe seines jungen Lebens gehörte. Mit ihm allein zu sein, ihn ganz und ungeteilt für sich zu haben, war in der kinderreichen Familie Semper für den kleinen Asmus gewiß eine seltene, und darum rechte Sonntagsfreude. Und weil in ihr die unbewußte Eifersucht des Kinderherzens auf die Geschwister foderte, die in späteren Jahren künstlich eingedämmt und niedergehalten wird als unbrüderliches Gefühl, deshalb ist die Erinnerung von der verpönten Regung verschoben auf das harmlose Barbierbeken, die Prozedur des Stillhaltens des Vaters beim Rasieren u. dgl. Freilich trägt zu diesem Teil der Erinnerung nicht wenig das kindlihe Staunen bei, daß ein fremder Mann es wagt, dem gottähnlichen Vater »Seifenschaum ins Gesicht zu wischen« und ihn gar bei der Nase zu fassen, gewiß lauter Dinge, die Frau Rebekkas, der Mutter rasche Hand, bald zu unterbrechen verstand, wenn die Geschwister sih also traktierten. Und nun ließ der herrliche Vater dies shweigend über sich ergehen!

80 H. v. Hug-Hellmuth.

Finden wir in diesen Erinnerungen das sexuell-erotishe Moment nur leise angedeutet, so spricht es um so klarer aus den frühesten Reminiszenzen Ganghofers!.

Aus seinem zweiten Lebensjahre: »Ein entsetzliches Spektakel mit Geklirr und Gerassel grelles Liht dann finstere Nacht, in der ih schreien mußte vor Angst. Das ist die älteste unter den Erinnerungen an meine Kinderzeit in Kauf- beuren. Als ich vor vielen Jahren meiner Mutter einmal sagte, daß diese Erinnerung in mir wäre, mußte sie sich lange besinnen, bevor sie das Rätsel lösen konnte.« Der kleine Junge war an einem Winterabend, indes die Mutter in die Küche gegangen, auf den Tisch geklettert und hatte dabei die Stehlampe auf den Boden geworfen. In seiner Herzensangst tat er, was jedem Kinde als rechtes Mittel in der Not erscheint: er schrie, >als wär’ er an einen Spieß gebohrt«, nach der Mutter, die ihn aus der plötzlichen Finsternis befreien sollte; denn eine Mutter weiß ja immer zu helfen in den Augen des Kindes.

»Eine zweite Erinnerung: Ic friere schreklih, obwohl die Sonne scheint, viele Menschen sind um mich her; ich laufe schnell und habe Schmerzen an den Sohlen; und die vielen Menshen laufen mir nach und lachen immer. Da hatte meine Mutter mich als dreijährigen Jungen, an einem Märzmorgen, ins Bad gehoben. Sie wurde abgerufen, kam zurück und fand die Badewanne leer. In der Wohnung war der nasse Äusreißer nicht zu finden. Meine Mutter rannte über die Treppe hinunter, gukte durch die Haustür auf den Kirchplatz hinaus und da rief ihr eine Nachbarsfrau mit Lahen zu: ‚Frau Aktewar, uier Ludwigle isch buzelnacet über’n Marktplatz gloffe!’ Die Mutter jagte hinter mir her, vergnügte Leute wiesen ihr den Weg, und scließlih erwischte sie mich draußen vor der Stadt im Forst= amte, in dessen Kanzlei mein Vater als Aktuar unter dem Forstmeister Thoma diente.« Wer erwägt, welch unendlihe Lust ein kleines Kind aus der eigenen Nadtheit und ihrer Schaustellung schöpft, wie es gleichzeitig durch das heimliche Fortlaufen aus dem Hause dem mütterlihen Zwange beim Baden sich entzieht und strebt, dem geliebten Vater zu ungewohnter Stunde sih in Zärtlihkeit anzu- schmiegen, der versteht, warum dieses Heldenstükchen so treu im Gedächtnis haftete,

Neben der Erinnerung an ein Kinderfest, das für den kleinen Dreijährigen mit heller Freude an Musik und Karussel begonnen und mit Schmerz und Bewußt- losigkeit geendet, lebt in der Dichterseele eine andere, deren Bedeutung der Autor mit dem Verständnis einer tiefen Poetennatur erfaßt hat. Er schreibt: »Nod eine andere Erinnerung reicht in mein viertes Lebensjahr zurück. Ich glaube, daß ic sie nicht übergehen darf. Denn sie hilft die Frage beantworten, in welchem Lebensalter die unbewußten Ahnungen des Blutes beginnen und die Kinderseele zum ersten Male berührt werden kann von jenem Ewig- keitsgeheimnis, das zwischen Männchen und Weibchen seine unsicht- baren, aber sicher bindenden Fäden spinnt.

Meine Eltern waren mit einer Familie befreundet, in der zwei Töchter von achtzehn und neunzehn Jahren das Haus mit Frohsinn und Lachen füllten. Diese Mädchen waren meine zwei anderen Mütterhen. Namentlich die jüngere von den beiden, das Theresie, verhätschelte mich über Gebühr. Ih war viel in diesem Hause. Und einmal blieb ih da über Naht ich weiß nicht weshalb viel-_

leiht, weil sih daheim bei den Eltern etwas ereignete, wobei man die zwei-

!L. Ganghofer, Lebenslauf eines Optimisten. Buch der Kindheit, pP. IM

Über erste Kindheitserinnerungen 81

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jährigen Augen meines Schwesterhens noh nicht scheute, aber schon meine vier- jährigen, immer in Neugier spähenden Gucer. Ih vermute das, weil mir aus jener Zeit ein Wort im Gedädtnis blieb, das irgend jemand über mich sprah: »Das Lausbüeble spitzt überall hin, wo’s vorbeischaue sollt!« Und damals wurde ja auch mein Brüderhen geboren, das Fritzele, das nach wenigen Monaten die Augen wieder schließen mußte, mit denen es die Welt noh gar nicht reht gesehen hatte.

Da sprehen nun die beiden Kontraste durcheinander: Der Tod, der das Leben endet und das Geheimnis, aus dem alles Leben quillt. Und zwischen diesen beiden Gegensätzen zittert ein erschrocenes Kinderseelcen.

Das Theresle behielt mich damals über Naht und bescherte mir ein lindes Winkelhen in seinem Bett. Ich wurde wohl schon mit Anbruch des Abends in dieses große Nest gestekt. Und als dann das Theresle schlafen ging, wurde ich wieder munter, tolfte nah meiner Art, trieb allerlei UIngezogenheiten und warf die Kissen so unmanierlich durcheinander, daß meine achtzehnjährige Schlafkameradin unser Lager wieder in Ordnung bringen mußte. Sie legte das Federbett und die Kissen auf den Boden heraus, und während ich mir’s auf dieser linden Unterlage gemütlich machte, strih das Theresie mit flinken Händen das Leintuh glatt. Und wollte beim Tisch, auf dem die Lampe brannte, etwas holen. Und stieg im Hemde über mich weg und wie ein ahnungsloser Schäfer von Alpdrücken befallen wird, nur weil er auf dem Rücken liegt, so wurde ich da plötzlih von einem atem- beklemmenden Shrek überfallen, so tief und wunderlih, daß er sich für Lebens- zeit in meinem Erinnerungsvermögen festnistete.

Als mich das Mädel in das frishgemacte Bett hineinhob, blieb ich still und zitterte. Und niemals wieder ließ ih mich vom Theresle küssen oder hätscheln. Ich fing zu schreien an, wenn sie mich in die Arme nahm. Und seit damals blieb in mir durch ein Dutzend Jahre ein grober Widerwille gegen alles, was Mädcen hieß.

Warum dauerte gerade diese Erinnerung so fest und deutlih? Und vieles andere, das sih meinem Gedäctnis hätte einprägen müssen, ist erloschen in mir.«

Das feinbesaitete Dichtergemüt gibt dem kritishen WVerstande, der das ahnungsvolle Schauern der Kinderseele niht wahrhaben will, selber die rechte Ant- wort. Das vom Kinde ewig belaushte und nie ergründete Geheimnis der Ge- schlehter und ihrer Beziehungen zueinander regt das infantile Gemüt in seinen Tiefen auf und gräbt in die verborgensten Winkel der Seele seine rätselhaften Zeihen in unauslöschlicher Schrift. Und dies Geheimnisvolle umfängt in erster Linie die eigenen Eltern, für den Knaben zumal die Mutter, das Weib xat’ 2&oxiiv. Der brennende Wunsch jedes kleinen Jungen, das Rätsel des Geschlechtes an der Mutter selbst zu lösen, birgt sich bald hinter Mutwillen, bald hinter scheinbarer Ungeschiclichkeit, beides Mittel des Unbewußten, Verpöntes zu erspähen. Und nun bietet sih dem Kinde unerwartet an einem Weibe, das ihm trotz aller Zu- neigung doh um so viel ferner steht als die Mutter, der Anblik, den seine unbe- wußte Libido an ihr allein ersehnte. Weil aber »die reinlihe Erziehung, die das Kind empfing«, solche Begierden bereits verdrängt hatte, so empfindet es in dieser Situation nur zitternde Angst und Ekel, Gefühle der Abwehr gegen das Weib nehmen seine Seele für Jahre in Beshlag. Nur das fünfjährige Elsbethle, das zwei Jahre später seine Spielgefährtin ist, macht eine Ausnahme, denn »an ihr war- nichts von den dunklen Unerklärlichkeiten des Theresle zu entdeken«. Von ihr erzählt: Ganghofer:

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»Ulnter jener hartnäckigen Abneigung, die mir seit dem Abenteuer mit dem Theresie gegen alles geblieben war, was »»Mädele«« hieß, hatte auch das Elsbethle im Anfang unserer Bekanntschaft viel zu leiden. Aber das wurde plötzlich anders. An einem heißen Sommertage spielten wir am Ufer des Baches, und da kam ich auf den Einfall, mich abzukühlen und ein Bad zu nehmen. Das Elsbethle machte das natürlih gleih mit. Und da konnte ih zu meiner Überrashung bemerken, daß an dem Elsbethle nicht die geringste Übereinstimmung mit den dunklen Un- erklärlichkeiten des Theresle zu entdecken war. Lag’s in meiner Natur oder war’s ein Resultat der reinlichen Erziehung, die ih als Kind empfing, ... . ich hatte immer einen heftigen Abscheu vor allem, was mit den unsauberen Notwendigkeiten des menshlihen Körpers zusammenhing. Und nun denkt euh, wie hodh ich das Elsbethle über den durchscnittlihen Bubenwert zu stellen begann, als ich ge- wahren konnte, daß dieses feine Dingelchen nicht nur jeder Ähnlichkeit mit dem schauerlihen Theresle entbehrte, sondern auh vom lieben Gott noch viel appetit= licher gebildet war, als ih und die anderen Buben. Ich fing da wahrhaftig zu glauben an, daß das Elsbethle eine Art Idealgeshöpf wäre, dem jede Veranlassung fehlte, sich mit niederen Lebensfunktionen zu befassen.

Ganz deutlich erinnere ich mich noch, daß damals während jener plätschern- den Badestunde etwas unsagbar Schönes und Freudiges in meinem sechsjährigen Gehirnhen war.«

Wenn wir der Sexualität im Leben des Kindes die Rolle zugestehen, die ihr tatsächlich zukommt, so kann uns die Intensität der Erinnerung an Erlebnisse sexuellen Charakters nicht befremden. Unter allen Trieben der menschlihen Natur ist keiner so stark und erfährt keiner eine so heftige Unterdrückung in der Kind- heit als der, welcher dereinst dem Menschen das höchste Glück spenden soll. Es ist nur natürlich, daß jene zwei Faktoren dem stillen Festhalten an allem, was irgendwie im sexuellen Boden wurzelt, gewaltig Vorschub leisten. Perez erzählt, daß er sich aus seinem zweiten Lebensjahre gut einer rohen und dummen Wärterin erinnert, die ihn zum Fenster hinaushielt und tat, als wenn sie ihn hinauswerfen wollte. Es ist natürlih, daß den kleinen Knaben heftige Angst befiel. Nun löst aber Furdt nicht selten sexuelle Gefühle, bei Knaben direkt Erektionen aus; es ist daher die Annahme beredtigt, daß diese die wahre Ursahe der Erinnerung sind, wenn schon sie später als verpönt betrachtet, unterdrückt und die Roheit der Wärterin allein im Gedächtnis bewahrt wurde.

Von Pierre Loti berihtet Compayre&i, daß er sich genau seiner ersten Spring- und Laufversuhe aus dem Beginn des zweiten Jahres erinnert. Es braudt kaum einer besonderen Erwähnung, daß die Muskelbetätigung bei diesen Kraft- leistungen für das Kind außerordentlih Justvoll betont ist. Ehrgeiz und Sucht, bewundert zu werden, begegnen dem Lustgefühle, das durch die Reizung der beim Springen beteiligten Muskulatur ausgelöst wird, und diese doppelte Befriedigung erotischer Bedürfnisse fixiert das Erlebnis in der Seele des Kindes. Wenn sid, wie derselbe Autor anführt, eine fünfunddreißigjährige Person aus ihrem dritten Lebensjahre einer Kindstaufe und eines geräuschvollen Jahrmarkts in Paris erinnert, so ist die Vermutung naheliegend, daß die nachhaltige Wirkung dieser Erlebnisse auf besonderen Eindrüken sexueller Natur beruhe, wie leicht ist es möglich, daß sich vor den Augen und Ohren des Kindes von den geräuschvollen Jahrmarkt-

I Compayre, I. c. p. 164.

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szenen mehr entrollt hatte, als seinem Älter angemessen war, und auch bei einer Kindstaufe fehlt es für ein Kind nicht an Gelegenheit, derbe Scherze mit halbem Verständnis aufzunehmen.

Eine Reihe loser Erinnerungsstüke aus der frühesten Kindheit erzählt Bogumil Goltz!, die trotz ihrer fast dürftigen Schlichtheit eine beredte Sprache führen und die er, aus der Poesie seines tiefen Gemütes schöpfend, »Seelen von Kinder- erlebnissen« nennt: »Es sind in Traum und Nebel zerfließende Erinnerungen, Nadklänge ... . In solcher ätherishen und überirdishen Weise dämmern vor meiner Seele mehrere Bilder und Lebensempfindungen aus dem frühesten Be= wußtsein.« Eines derselben möge hier Platz finden:

»In einer Sommernacht im mystishen Helldunkel auf einem offenen Wagen unterwegs. Kaum weiß ich, ob allein oder mit anderen. Zum ersten Male hab’ ih da die tiefere sittlihe Empfindung von Ruhe und Schlaf. Die ganze Welt ist in Stille und Schweigen, die Natur liegt in Träumen, es ist mir, als hör’ ih den Erdboden leise atmen und mit den Seufzern heben sih die Sandhügel, zwischen denen der Weg führt, wie der Busen der Nacht selbst. Ihre Schöne und Poesie umwebt mir die Sinne, ihre heiligen Mysterien schauern in mein Da- sein.« Der Dichter spricht selbst die Personifikation der nädtlih ruhenden Erde als schlafendes Weib aus; es ist die uralte Identifikation mit der Allmutter der irdischen Lebewesen, wie sie dem Märcen- und Sagenschatz keines Volkes fehlt. An den Busen der Mutter schmiegt sih in der Nacht das Kind, wenn schreckhafte Träume es quälen, und früher als der Erwachsene es ahnt, keimt in seiner Seele ein leises Begreifen des näcdhtlihen Mysteriums zwishen den Eltern. Solhe Ge- dankengänge, deren verbotener Charakter erkannt und um dessentwillen sie aus dem Bewußtsein verdrängt werden, knüpfen sih dann an ungewohnte Erlebnisse, mit denen sie harmlose Merkmale teilen; und in dieser Maske behaupten sie ihren Platz im Erinnerungsleben.

An dieser Stelle möchte ih auh zwei der frühesten Erinnerungen aus meinem eigenen Leben einschalten: Eine starke Frau mit aufgebundenem Rocke offenbar eine Wäscherin füllt mir beim Hausbrunnen kleine irdene Töpfchen mit Wasser. Zu dieser Frau, der Hausbesorgerin im Hause meiner Eltern, hatte ih von früh an eine besondere Zuneigung, weil sie meinen Gelüsten des Wasserplantschens stets Vorschub leistete, obwohl mir dasselbe streng verboten war. Es ist bekannt, daß das Spiel mit Wasser für Kinder in naher Beziehung zu den Lebensfunktionen steht und eben deshalb zu ihren liebsten Beschäftigungen gehört. Möglicherweise sind auch die stattlichen Formen dieser Frau von besonderem Eindruk für mich gewesen, wenigstens konnte ih mir lange Wäscherinnen und Hausbesorgerinnen nicht ohne dieses Attribut vorstellen.

Ein zweites Bild: Eine düstere mit Efeu umsponnene Laube, in der meine Mutter mit uns Kindern, etwas erwartend, sitzt. Es stammt gleich dem vorigen aus meinem vierten Lebensjahre und knüpft an die Übersiediung aus der Wohnung, in der ich geboren und bis dahin aufgewachsen war. Die Wände des Gartenhäushens waren mit Bildern aus Familienblättern und Modejournalen beklebt und das Interesse, das ih in späteren Jugendjahren

ı B, Goltz, Buch der Kindheit, p. 227 ff.

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stets derart geschmücten Lusthäusern entgegenbracte, läßt vermuten, daß jene Dar- stellungen irgendwie eine sexuell nachhaltige Wirkung auf mich gehabt haben, vielleiht durch die dekolletierten Kleider der Damen, was ja wieder in einem ge- wissen Zusammenhange mit der ersterwähnten Erinnerung stände. Sicher spielt aber bei dieser deutlih bewahrten Reminiszenz noch eine Gefühlsbetonung anderer Art mit, Jedem Kinde erscheint die Zeit der Übersiedlung in eine neue Wohnung zumal wenn es die erste ist, die das Kind mitmacht als eine aufregende; mancherlei kleine Abweihung von der gewohnten Tagesordnung, weniger strenge Überwachung, das Aufstöbern längst vergessener Spiel- und Gebrauhssaden, der Besuch des Bodenraums sind für das Kind so neue eigenartige Eindrücke, daß sie sein Gemütsleben in eine Justvolle Spannung, in die Erwartung von etwas Be- sonderem versetzen. Und in der Tat blieb mir dies erwartungsvolle Harren in der Laube am Tage der Übersiedlung gut im Gedäcdtnisse.

Es entspriht nur dem Intellekt und dem natürlihen Frohsinn des gesunden Kindes, daß es ungewöhnlihe Vorkommnisse, zumal freudiger Art, leihter im Gedäctnisse bewahrt als düstere. Da aber auch diesen häufig nicht das Merkmal fehlt, das vielleiht allein hinreiht, ein Erlebnis dem Erinnerungsshatz einzu= verleiben, nämlih eine Lustbetonung irgendwelcher Ärt, so finden wir bei Kindern und Erwachsenen oft ein überrashend genaues Bild solcher frühesten Eindrüke, ich meine die Gedädtnisbilder von Krankheit und Tod, von denen ja selten eine Jugend ganz verschont bleibt. Übt auch der Tod von Familien- mitgliedern, selbst von Vater oder Mutter, im allgemeinen auf das kleine Kind keine nachhaltige Wirkung aus, so bewahrt dieses doch häufig eine Erinnerung an den Tag des Begräbnisses, weil das Bewußtsein, die Familie oder gar das eigene kleine Ich stehe im Mittelpunkt der allgemeinen Teilnahme, der kindlichen Eigenliebe entgegenkommt. Ein achtjähriges Bauernmäddhen erinnerte sich lebhaft der »vielen Stritzel und Kudhens, die es vor fünfeinhalb Jahren beim Begräbnisse der Großmutter gab, und zwei Offizierssöhne, die ihren Vater im Alter von drei und vier Jahren verloren, bewahrten sich bis tief in die Schulzeit hinein das Bild »der vielen Generäle mit Federbush und Tschako«, die sih zur Leichenfeierlich= keit eingefunden hatten.

Selma Lagerlöf! bezeichnet den Tod der Großmutter, der Märden- erzählerin ihrer ersten Kinderjahre, als eine der frühesten Erinnerungen: »AÄls ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Ich weiß kaum, ob ic seit- dem einen größeren gehabt habe.

Das war, als meine Großmutter starb. Bis dahin hatte sie jeden Tag auf dem Edksofa in ihrer Stube gesessen und Märden erzählt.

Ich weiß es nicht anders, als daß Großmutter da saß und erzählte, vom Morgen bis zum Abend, und wir Kinder saßen still neben ihr und hörten zu. ‘Das war ein herrlihes Leben. Es gab keine Kinder, denen es so gut ging wie UNS u

Von allen den Geschichten, die sie mir erzählte, habe ich nur eine shwade, unklare Erinnerung. Nur an eine einzige von ihnen erinnere ih mich so gut, daß ich sie erzählen könnte. Es ist eine kleine Geshichte von Jesu Geburt.

Seht, das ist beinah alles, was ih noch von meiner Großmutter weiß, außer

I Lagerlöf, Christuslegenden, Gesamm. Werke, X. Bd., p. 1 bis 2.

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dem, woran ih mich am besten erinnere, nämlih den großen Schmerz, als sie dahinging.

Ich erinnere mich an den Morgen, an dem das Ecsofa leer stand und es unmöglih war, zu begreifen, wie die Stunden des Tages zu Ende gehen sollten. Daran erinnere ih mich. Das vergesse ich nie.

Und ich erinnere mich, daß wir Kinder hineingeführt wurden, um der Toten die Hand zu küssen. Und wir hatten Angst, es zu tun, aber da sagte uns jemand, daß wir nun zum letztenmal Großmutter für alle die Freude danken könnten, die sie uns gebracht hatte.

Und ich erinnere mih, wie Märchen und Lieder vom Hause wegfuhren, in einen langen, schwarzen Sarg gepackt, und niemals wiederkamen.

Ich erinnere mich, daß etwas aus dem Leben vershwunden war. Es war, als hätte sich die Tür zu einer ganzen schönen, verzauberten Welt geschlossen, in der wir früher frei aus- und eingehen durften. Und nun gab es niemand mehr, der sih darauf verstand, diese Tür zu öffnen.«

Hier wie dort sind es die lustbetonten Nebenumstände dem Kinde eben um dieser psychischen Note willen die wichtigsten die das Haften der Ereig- nisse im Gedächtnis bewirkten.

Die Sehnsucht nach dem Märchenzauber, der zugleich mit dem Lebenslichte der Großmutter unwiederbringlich erlosch, ist ebenso Bürge für das stete Andenken an sie, wie Zuckerwerk als Liebesgabe, die Wichtigkeit der Familie und die dem toten Vater gezollte Ehrenbezeigung für das Kind bedeutungsvolle Faktoren sind. Ja, diese verscheuhen, da ihm das richtige Verständnis für den Tod in so frühem Alter noch mangelt, bald das düstere Bild, und das Kind bewahrt vom traurigen Ereignis, dessen Eindruk es sih im Augenblicke des Erlebens nicht ganz ent= ziehen konnte, doh nur die lichtvollen Momente, ohne daß wir es deshalb herzlos nennen dürften.

Die Erinnerung Lagerlöfs entbehrt neben der erotishen nicht der rein sexuellen Komponente. Sie entsinnt sih nach vierzig Jahren besonders deutlich der kleinen Geschichte von Jesu Geburt, daß gerade diese Legende für das phantasie- reiche Kinderherz voll des intimsten Reizes ist, bedarf kaum eines Wortes. Birgt sie doh das Geheimnis der Geburt und verrät, weil das Neugeborene Gottes Sohn ist, mehr von dem Mysterium, als sonst vor Kinderohren davon laut wird. Vielleicht ist es hier zum erstenmal, daß das Kind vernimmt, wie dem Weibe die Rolle des Gebärens zufällt, aus den Worten des Mannes: »Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren.« Solhe Worte prägen sih der nah Wahrheit dürstenden jungen Seele fest ein, denn sie lüften ein wenig den Schleier, der ihr das Rätsel des Werdens verhüllt.

Eine besondere Rolle im Erinnerungsschatz des Individuums kommt den in der Kindheit überstandenen Krankheiten zu. Es scheint hier die Behauptung, daß einem Erlebnis eine lustvolle Note anhaften muß, damit es in der Seele sich ein=- nisten könne, nicht zuzutreffen. Nun bedeuten aber Krankheiten gerade für ein Kind nicht allein Leidensstationen, sondern sie bringen ihm gewöhnlih aud ein überreihes Ausmaß an Liebe und zärtlicher Fürsorge von seiten der Eltern wie der übrigen Mitglieder des Hauses. Die volle Befriedigung des kindlichen Liebes- bedürfnisses fixiert das Bild der Krankheit und der Genesung auf dem Grunde der Seele. Charakteristisherweise vergißt der, welcher solche Reminiszenzen aus

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frühen Kindertagen auffrischt, selten hervorzuheben, wie die Fürsorge der ganzen Familie sich auf seine Person konzentrierte, wie nächtelang das mütterlihe Lager unberührt geblieben, wie in der Genesung »alle so gut und lieb« zu ihm gewesen. Die dauernde Bedeutung schwerer Erkrankungen in der Kindheit schildert Goltz! aus seiner eigenen ersten Jugendzeit: »An überstandene Krankheiten knüpfen sich in der Regel die frühesten Erinnerungen. So hab’ ih dunkel aus meinem zweiten oder dritten Lebensjahre behalten, daß ich mit Greinen und Schreien meinem Vater bei Tishe auf dem Shoße saß, während er mir, so oft ich losblökte, einen Bissen in den Hals schob, und es soll Puterbraten gewesen sein. Dann wieder lag ic zum Tode an der Ruhr und schmadtete Tag und Nadht im Wachen und Traum nach einem Labetrunk kalten Wassers, eines Tages aber trat der Vater an mein Bett, indem er mit kläglicher Stimme zu mir sagte: »Na Junge, willst du denn wirklich sterben? In diesen Worten tönte die Liebe herüber zu meinem tot- schwachen Leben, vielleicht erstarkte es magnetish und die Worte behalte ich bis in den Tod.«s

Das Erlebte und Erdadhte in einem Menschenleben wandelt sih in der Flucht der Jahre oft zu einem unentwirrbaren Chaos, in dem der alternde Geist sih schwer mehr zuredtfindet. Erlebnisse späterer Jahre werden zurückdatiert, frühere rücken an spätere Zeitpunkte, aber die Marksteine aus dem Erinnerungs- shatze der ersten Kindheit bleiben unverrückt stehen, ja sie heben sich immer feuhtender und greller ab von dem dunklen Hintergrund der halb vergessenen Lebensbilder. Wir sehen darin einen schönen Beweis dafür, daß die Gefühls- fähigkeit in keinem Alter die gleiche Stärke erreiht wie in den ersten Kinder- jahren, und gleichzeitig, daß eben die Intensität der Gefühle entscheidend für Erinnern und Vergessen ist. Die Kindheitserinnerungen gleihen den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, sie lassen die Vergangenheit noch einmal in verklärtem Lichte aufleuchten, ehe die Todesnaht ihre Schatten über sie breitet.

Die Erinnerungen, die uns in späteren Jahren an die entshwundene Kind- heit mahnen, sind nicht immer identish mit denen, welche die ersten Erinnerungen in der Kindheit selbst ausmachen, sie tauchen oft plötzlih auf, um fortab unsere treuen Begleiter zu bleiben, ja sie tauchen auf und verschwinden gleich einer Stern- schnuppe am Nadthimmel. Die Reminiszenzen, die wir nach Überlieferung unserer Familie in der Frühzeit des Lebens reproduzierten, gehen zum größten Teil ver- loren in dem bunten Gewoge der Lebenseindrüke. Sie bezeichnen in der Ent- wicklungsgeshichte der Kinderseele eine wichtige Stufe: Intellekt und Gemüt be- ginnen ihre gemeinsame Arbeit, Assoziationen reihend und die Erlebnisse wertend nach Lust und Unlust, die sie der Seele bereiten. Und die Phantasie krönt die Leistungen der beiden durch shmückenden Zierat. So kommen die freisteigenden Erinnerungen zustande, die dem Erwachsenen einmal Funken verborgener Genialität, dann wieder Dokumente kindlihsten Unverständnisses zu sein scheinen. Der Zusammenhang soldher infantilen Geistesarbeit bleibt uns in der Regel dunkel, weil ein gutes Stück des Innenlebens der kindlihen Seele dem nüchternen Blik der Großen entzogen ist. Wir haben ja meist verlernt, uns in den Wegen, welhe die Seele am Morgen ihres Daseins wandelt, zuredhtzufinden, und dem Kinde fehlt wieder nicht allein die Fähigkeit, uns in die Geheimnisse seines Herzes einzuweihen, sondern es wahrt sie nicht selten, sobald es durh den Druck

i Goltz, I. c., p. 19.

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der Erziehung unfrei geworden in seinen Äußerungen, sorgsam als Geheimgut auf dem Grunde der Seele. Nur in besonderen Situationen, sei es gesteigerten Wohl- behagens, sei es des Erstaunens oder der Furcht, läßt das Kind die Großen einen Blik tun in sein Innerstes.

C. und W. Stern! berihten von ihrem Söhnchen Günther: »Anläßlich einer Mandeloperation fag Günther (mit fünf Jahren, fünf Monaten) während der folgenden Naht im Schlafzimmer der Eltern. Als er nun gut ausgeschlafen er= wacte und sich durch die ungewöhnliche, ihm sehr behagliche Situation in trefflicher Stimmung befand, kramte er spontan Erinnerungen an die drei letzten Geburtstage der Mutter aus.« Familienfeste sind dem Kinde mit soviel Lust verbunden, daß es nur eines geringen Anlasses bedarf, die Erinnerung an sie wachzurufen. Die erhöhte Freudigkeit im Hause ist und bleibt für das Kind ein integrierendes Merkmal von Festtagen. Aus ihr leitet es nebst der Erwartung materiellen Gewinns an Leckereien, Ausflügen etc. häufig auch das Recht auf Straflosigkeit bei kleinen Ausschreitungen ab. Darin besteht ja ein Hauptreiz der Festtage, daß die Kinderseele die Herzen der Erwachsenen zugäng= fiher für Zärtlichkeit und Nachsicht weiß als in den Stunden des Alltags. Und wegen dieses ungewöhnlichen Ausmaßes an Liebe prägen die Festzeiten ihr Bild dem Kindergemüte dauernd ein, unter ihnen behauptet wieder das Fest der Feste, die Christbescherung, die vornehmste Stelle. Bringt auch der erste Weihnadts- abend bloß ein vorübergehendes Staunen des jungen Erdenbürgers, und werden auh die Eindrüke der folgenden durch die Periodizität des Zeitablaufs häufig vermischt und unklar, so zeugt doh das Gefühl der Vereinsamung, das der Er- wachsene, der fern von Heimat und Sippe lebt, nie stärker empfindet als zur Fest- zeit dafür, wie tief jene Abende voll Liebe und Glanz ihre Spuren in die infantile Seele gegraben haben.

Neben den Erlebnissen, denen erhöhte Liebesbeweise einen besonderen Wert verleihen, spielen für das Zustandekommen erster Erinnerungen in der Kindheit selbst ebenso Ereignisse sexuellen Charakters im weitesten Sinne des Wortes eine hervorragende Rolle, wie wir sie ihnen im Gedädtnisshatze der Erwachsenen nicht absprechen können.

Hiezu findet sih in den Aufzeichnungen Sterns? ein interessantes Bei- spiel: »Mit drei Jahren, einem Monat erinnert sich Hilde an einen fast fünf Monate zurückliegenden Eindruk. Sie sah, wie die Mutter sich den Oberkörper wusch und fragte: »»Kommt da die Mildh raus?«« Das Brüderchen war seit viereinhalb Monaten abgesetzt und Hilde hatte niemals in der Zwischenzeit anderweitig das Stillen be- obadtet.« Daß das Kind in dem Säugen instinktiv einen Liebesakt der Mutter ahnt, zeigt das eifersüchtige Verhalten derer, die selbst noch diesen Liebesdienst genießen, gegen einen vermeintlihen Nebenbuhler. Und über die Säuglingszeit hinaus bewahrt das Kind in seinem Unbewußten offenbar eine treue Erinnerung an die Lust, die ihm die mütterliche Brust nicht nur als Nahrungsquelle, sondern auh in sexueller Hinsiht spendete. Deshalb bleibt dem Kinde der Anblick der Frauenbrust viele Jahre hindurh ein besonders reizvoller, ohne daß es sih der wahren Motive bewußt ist.

ı C. und W, Stern, Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kind= heit, p. 66.

2 Stern, I. c., p. 19.

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Sexuelle Lustgefühle bedingen Gedädtnisleistungen der Kleinsten, die unser Erstaunen erregen. Tiedemann! berichtet von seinem ein Jahr, elf Monate alten Knaben: »Am 20. Juli kam er an einen Ort im Hause, wo er vor vier Wochen etwa gestraft worden war, weil er ihn verunreinigt, sogleih sagte er ohne anderen Anlaß, wer die Stube beschmutze, bekäme Schläge, nicht in vollständigen Worten, aber doch deutlich genug, um diese seine Meinung zu erkennen zu geben. Es waren also schon Vorstellungen von soldher Zeit zurücgeblieben.« Es ist eine irrige Annahme, das Kind wisse seine körperlihen Bedürfnisse nicht rechtzeitig zu melden; es zieht vielmehr aus dem Hinausshieben des Geschäftes einen Lust- gewinn dadurh, daß es sih auf diese Weise angenehme Spannungsgefühle in der erogenen Anal- und Urethralzone erzeugt. Und auch die Bestrafung, die gewöhn- lih in einem nicht allzu heftigen Klaps auf die ihr benachbarten Körperstellen be- steht, bringt bei entsprechender masodistisher Veranlagung neue Lust, so daß diese Verknüpfung hinreihend gefühlsbetont ist, um ein zum Erinnern geeignete Material zu liefern.

Deutlihe Erinnerungsspuren an Erlebtes, wenngleih nicht in Worte gefaßt, sprehen aus mancdherlei Spielen der Kinder, z. B. dem allgemein verbreiteten »Doktorspiel«, das seinen analerotishen Ursprung nicht verleugnen kann, dem »Vater- und Mutter«-Spielen, das die spärlihen oder reichlihen Wahrnehmungen der Kinder über die Beziehungen zwischen den Eltern verwertet.

Es muß auffallen, daß Kinder oftmals Personen und Tiere in ihrer Um= gebung, an denen sie sehr hängen, vergessen, sowie eine Trennung stattfindet, um sih ihrer zu einem späteren Zeitpunkte spontan zu entsinnen. Wir begehen keinen Irrtum, in diesem Falle von einem gewissen Älter an eine absichtlihe un- bewußte Verdrängung anzunehmen, die später wieder aus äußeren und inneren Gründen aufgehoben wird. In den tagebuchartigen Aufzeihnungen über die Ent- wicklung ihres Söhnchens schreiben G. und E. Scupin?: Im zweiten Lebensjahre habe der Kleine mit großer Zuneigung an einem weißen Kaninhen gehangen, dasselbe aber kurz nad seiner Entfernung im achtundzwanzigsten Monat so voll= ständig vergessen, daß er am Ende des dritten Lebensjahres, um diesen Spiel- gefährten befragt, zum Erstaunen seiner Eltern nichts vorzubringen wußte, Erst im zehnten Monate des vierten Jahres erinnerte er sich spontan desselben. Welche sind die Gründe zu diesem auffallenden Verhalten? Zur Zeit, als das Kaninhen Hausgenosse der Familie Scupin war, berichtete der kleine Ernst Wolfgang ge- treulih mit gut gespielter Entrüstung alle Vergehen des Tierchens, besonders jede Unsauberkeit oder sonstige Beschädigung der Möbel und der Tapeten. Da zu dieser Zeit dem kleinen Jungen selbst noch gelegentlih ein solches Malheur passierte, mag mancdmal ein Zweifel an der Urheberschaft laut geworden oder irgendwelche halb ernste, halb scherzhafte Beziehungen gemacht worden sein, für die zarte Seele eines Kindes Grund genug, alles was an die peinlihe Sache erinnern könnte, aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Erst wenn diese selbst in der Praxis überwunden ist, wird die unterdrükte Erinnerung freigegeben. Das scheinbare Vergessen beim Kinde entspricht genau dem des Erwachsenen und

1 Dietr. Tiedemann, Beobahtungen über die Entwicklung der Seelenfähig-

keiten bei Kindern, p. 34 ® E. und G. Scupin, Bubis erste Kindheit und Bubi vom vierten bis zum

sechsten Jahre.

Von der Kinderseele 89

hat seinen Ursprung in einer Abwehrtendenz, das Kind will sich einer Begeben- heit nicht entsinnen, weil ihr eine peinlihe Note anhaftet, die die fustvolle an Intensität übertrifft.

Die Erinnerungsrähigkeit des menschlichen Geistes ist die unbedingt not= wendige Voraussetzung einer Erziehungsmöglichkeit. Das eingehende Studium der Erinnerungsbilder, die aus frühen Kindertagen stammen, gäbe uns ein wertvolles Mittel an die Hand zur Einsiht in das Zustandekommen von Kinderfehlern, von Eigenheiten, die uns beim Kinde, wie beim Erwachsenen abstoßend oder lächerlih und zugleih oft unerklärlich erscheinen. In unbewußter Anlehnung an früheste Jugendeindrücke seitens einer heißgeliebten Person nimmt das Kind Ge-= wohnheiten an, die abzulegen es sich in Trotz oder Unvermögen wehrt, so lange ihm selber die Kenntnis des inneren Zusammenhangs fehlt. Und deshalb ist Forschern, wie Preyer!, nicht beizupflichten, der die Pflege der ersten Erinnerungen ein unnützes Experiment nennt. Durch sie unterstützt, ließe sih mander Abirrung in der Entwicklung des Charakters vorbeugen. Aber auch dem psycoanalyti- shen Arzte wäre die Behandlung psychisch Erkrankter wesentlich erleichtert durch die Bewahrung der frühesten Kindheitseindrüke, denn er fände bereit, wonach er derzeit mit unendlihem Aufwand an Zeit und Mühe suchen muß.

II. »Von der Kinderseele.«

Gertrud Bäumer und Lily Droescher haben gemeinsam dieses Bud verfaßt, das für jeden, der für das Seelenleben des Kindes Interesse hat, eine reihe Fundgrube darstellt. Es ist in erster Linie eine Sammlung von dichterishen und biographischen Beiträgen zur Kinderpsydhologie und dient vornehmlih pädagogi- shen Zwecken. Die angeführten Beispiele wirken auch gewiß für den Lehrer stärker als viele abstrakte Gesetze, welche die wissenschaftlihe Psychologie formu= lierte. Der Wert des Buches wird kaum in dem, was es bringt beruhen, sondern in dem, was es anregt und fordert: in der angewandten Seelenkunde. Es stellt in musterhafter Gruppierung viele Beispiele des kindlichen Seelenlebens zusammen. Man vermißt manches Wertvolle (Geyerstams Romane, Flauberts »Madame Bovary«, George Sands Selbstbiographie und »Le livre de mon ami« von Anatole Frange beispielsweise), doch man staunt über den Reichtum des Werkes.

Es wäre angezeigt gewesen, wenn die Autorinnen statt dürftige und unzu= länglihe Anmerkungen anzubringen, die Mühe nicht gescheut hätten, an diesen Beispielen selbst die Kunst der Seelendeutung anzuwenden, das Typische aus allen diesen individuellen Zügen herauszuholen. Die kurzen Anmerkungen am Schlusse des Bandes geben fast nur das Oberflächlihe der Erklärung: das Triebleben des Kindes wird in seinem ganzen Umfang und seiner Tiefe nicht gewürdigt, zu dem Verhältnis von Kindern und Eltern wird nur das Alltäglihe bemerkt, der Ein- druck des Todes, die Bildung der Begriffe, das Entstehen der Gottesvorstellung

bieten Gelegenheit genug, tiefer zu den verborgenen Gängen der Kinderseele hinabzusteigen.

ı W. Preyer, Die Seele des Kindes, p. 223. ® Gertrud Bäumer und Lily Droescher, Von der Kinderseele. Leipzig 1908.

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Einige Beispiele mögen diese Forderung erläutern: Otto Ernst erzählt! : »Außer diesen Dingen und Forderungen war aus dieser Zeit nur ein Ereignis am Leben geblieben, nämlich das, wie Ludwig Semper, der Vater, auf einem dunklen Vorplatz in eine offenstehende Kellerluke gestürzt war. Der Vater war mit einer unbedenklihen Rippenshrammung davongekommen, aber dem kleinen Asmus shien dies ein großes und schier unbegreiflihes Unglük und es drückte ihm schwer aufs Herz, wenn er den Vater leiden sah. Unbegreiflih war es ihm, daß jemand seinem Vater ein Leid zufügen konnte, sei es nun ein Mensch oder eine Keller- luke. Denn sein Vater war doch genau wie der liebe Gott, den er auf einem Bilde gesehen hatte.«

Warum macdte gerade dieses Ereignis in der Seele des Kleinen einen so tiefen Eindruk? Wir wissen, daß in der Kinderzeit die Person des Vaters mit der größten Madhtfülle ausgestattet wird. Sie steht, wie ja auh Asmus selbst bemerkt, gleih neben Gott. Ja, es ist dem Kinde sogar nur durch Analogie des Vaterbegriffes möglih, zu der so abstrakten Vorstellung Gottes zu gelangen. Gott ist ein potenzierter Vater. Diesem für die Phantasie des Kindes allmädhtigen Vater ge- shieht ein Unglük. Wie ist das nur möglih? Tausend Fragen und tausend Zweifel werden dadurch wacgerufen. Ist der Vater auh nur ein »gewöhnlicher Mensh« mit seinen Shwädhen und Fehlern? Die Psychoanalyse hat aufgedeckt, daß diese Zweifel ins Unbewußte verdrängt werden und verstärkt durch den sexuellen Neid des Kindes gegen den Vater, oft zum religiösen Zweifel, zum Skeptizismus, zum nachträglichen Trotz führen und in allen Neurosen als wichtiger Bestandteil aufzuzeigen sind.

Dieses Verhältnis zum Vater, das zwischen Zärtlichkeit, Achtung und Neid, Haß schwankt, ersieht man am schönsten in Leo Tolstois »Lebensstufen«.

»Das kindlihe Gefühl bedingungsloser Achtung vor allen älteren und be= sonders vor Papa, war so mädtig in mir, daß mein Verstand sih unbewußt da- gegen sträubte, aus dem, was ih sah, Schlüsse zu ziehen. Ich hatte das Gefühl, Papa müsse in einer ganz besonderen, für mich unnahbaren und unerreihbaren Sphäre leben, und daß der Versuh, die Geheimnisse seines Lebens zu durdh- dringen, für mich etwas wie eine Tempelshändung war.« Und trotzdem wird diese Tempelschändung unternommen, was das Vorhandensein der starken, unbewußten Gegenströmung beweist. Derselbe Roman von Tolstoi enthält eine Szene, in welcher fast alle Triebfedern des kindlihen Seelenlebens an die Oberfläche treten. Freilih muß auch zu ihrem Verständnis, zur Aufdekung ihrer Verkleidungen und Symbole die psydhoanalytishe Methode angewendet werden. Ein Knabe schlägt nach dem Lehrer, der ihn durch eine Demütigung zur sinnlosen Wut gereizt hat. Der Lehrer, St. Jerome mit Namen, sperrt ihn darauf in die Bodenkammer.

»,.. Ich weinte nicht, aber es lag mir etwas wie ein Stein auf der Brust. Gedanken und Vorstellungen gingen mit beschleunigter Schnelligkeit in meiner wirren Einbildung hin und her, aber die Erinnerung an das Unglück, das mic betroffen, unterbrah beständig ihre Kette und ich verfiel wieder in das endlose Labyrinth der Unsicherheit über mein Schicksal, in Angst und Verzweiflung . . . Bald kommt mir in den Sinn, es müsse irgendeine unbekannte Ursache meiner all- gemeinen Unbeliebtheit, ja selbst Verhaßtheit geben. (Damals war ich fest über- zeugt, daß alle von der Großmutter bis zu dem Kutscher Philipp mich hassen

1 Asmus Sempers Jugendland. Leipzig.

Von der Kinderseele 91

und an meinen Leiden Genuß finden.) Ich bin wohl nicht der Sohn meines Vaters und meiner Mutter, niht Wolodjas Bruder, sondern eine unglükliche Waise, ein Findling, den man aus Barmherzigkeit aufgenommen hat, sage ih zu mir selber; und dieser törichte Gedanke gewährte mir niht nur einen gewissen wehmütigen Trost, sondern shien mir sogar ganz wahrsceinlih. Es war mir eine Wonne, zu denken, daß ich unglücklich sei, nicht weil ich schuldig war, sondern weil es mein Geschick so war von Geburt an... Warum aber soll dies Ge- heimnis noch länger verborgen bleiben, wenn ich selbst es durchschaut habe, sage ih zu mir selber shon morgen will ih zu Papa gehen und ihm sagen: »Papa, umsonst verbirgst du mir das Geheimnis meiner Geburt, ih kenne es.« Er wird sagen: »Was ist zu tun, liebes Kind, früher oder später hättest du es dod erfahren, du bist nicht mein Sohn, ich habe dich aber an Sohnes statt angenommen und wirst du dich meiner Liebe würdig erweisen, so werde ih dich nie verlassen« und ih werde ihm antworten: »Papa, obgleih ich nicht das Recht habe, dir diesen Namen zu geben, sprehe ich ihn doch jetzt dieses eine Mal aus, ih habe dich immer geliebt und werde dich lieben, ih werde nie vergessen, daß du mein Wohl- täter warst, aber ich kann nicht länger in deinem Hause bleiben. Hier liebt mich niemand und St. Jerome hat sih verschworen, mich zu vernichten. Er oder ih muß dein Haus verlassen, denn ih kann nicht für mich einstehen, ih hasse diesen Menschen so sehr, daß ich zu allem fähig bin. Ich töte ihn. Ja, ih sags: Papa, ich töte ihn.« Papa redet mir zu, aber ih wehre mit der Hand ab und sage zu ihm: »Nein, mein Lieber, mein Wohltäter, wir können nicht unter einem Dace leben, laß mich gehen« und ich umarme ihn und sage zu ihm, ih weiß nicht warum, auf französish: »Oh mon pere, o mon bienfaiteur, donne moi pour la derniere fois fa benediction et que la volonte de Dieu soit faite.«

»Und ich sitze auf meinem Kasten in der dunklen Bodenkammer und weine faut aufschluchzend bei diesem Gedanken ... Bald sehe ih mich schon in Frei- heit, fern von unserem Hause. Ih werde Husar und gehe in den Krieg. Von allen Seiten drängen Feinde auf mich ein, ih führe einen Streih mit dem Säbel und töte einen, ich töte den zweiten, den dritten. Endlih sinke ih von Wunden und Mattigkeit ershöpft zu Boden und rufe: »Sieg!« ... Und der Kaiser be- gegnet mir und fragt: »Wer ist dieser verwundete Jüngling?« Man sagt ihm: der berühmte Held Nikolay. Der Kaiser tritt auf mich zu und spriht: »Ic danke dir. Erbitte dir, was du willst. Ih will alles gewähren.« Ich verneige mic ehrerbietig, stütze mich auf meinen Säbel und sprehe: »Ich bin glüklih, groß- mächtigster Kaiser, daß ich mein Blut für mein Vaterland vergießen durfte, ich wäre bereit, ihm auch mein Leben zu opfern, da du aber so gnädig bist, mir eine Bitte zu gewähren, so bitte ih um eins gestatte mir, meinen Feind, den Ausländer St. Jerome, zu vernichten.« Ic trete drohend vor St. Jerome hin und sage zu ihm: »Du hast mein Unglück verschuldet, A genoux!« ...

»Bald kommt mir der Gedanke an Gott und ic richte herausfordernd an ihn die Frage, wofür er mich straft. Ih habe doch nicht verabsäumt, jeden Morgen und Abend zu beten, wofür also leide ih? Ich kann es bestimmt sagen, daß der erste Schritt zu religiösen Zweifeln, die mih in meinen Kinderjahren beunruhigt haben, in diesem Augenblik geschah, niht etwa, weil das Unglük mih zu Murren und Unglauben antrieb, sondern weil der Gedanke an die Ungerechtigkeit der Vorsehung, der mir in diesen Stunden völliger geistiger Verwirrung und vier-

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®

undzwanzigstündiger Einsamkeit in den Kopf kam, wie ein shlehtes Korn, das nach dem Regen in lockeren Boden gefallen ist, schnell aufshoß und Wurzel faßte. Bald bildete ih mir ein, daß ich sicher sterben würde und stellte mir lebhaft St. Jeromes Erstaunen vor, wenn er statt meiner in der Kammer den leblosen Körper finden würde. Ich erinnerte mich der Erzählungen Natalja Sawischnas, daß die Seele eines Dahingeschiedenen vor vierzig Tagen das Haus nicht verläßt und ih shwebe in Gedanken nah dem Tode ungesehen in allen Zimmern des Hauses und höre Ljubotschkas herzlihes Weinen, die Klagen der Großmutter und wie Papa mit August Äntonowitsh spriht: »Es war ein braver Junge,« wird Papa mit Tränen in den Augen sagen. »Ja,« sagt St. Jerome, »aber ein großer Sclingel.« »Sie sollten Achtung vor dem Toten haben,« sagt Papa, »Sie waren die Ursache seines Todes, Sie haben ihn eingeshüdhtert, er konnte die Demütigung nicht ertragen, die Sie ihm angetan... Aus meinem Hause, Elender!« Und St. Jerome sinkt in die Knie, weint und bittet um Verzeihung.

»Nun sind vierzig Tage vorüber und meine Seele fliegt zum Himmel, ich sehe dort etwas wunderbar Schönes, Weißes, Durdhsichtiges, Langes und fühle, daß es meine Mutter ist. Dieses Weiße umfließt, liebkost mich, aber ich empfinde eine Unruhe und ich weiß nicht, ob sie es wirklih ist! »Wenn du es in Wahrheit bist, dann zeige dich besser, damit ih dich umfassen kann.« Und ihre Stimme antwortet mir: »Hier sind wir alle so, ih kann dich nicht besser umfassen. Ist dir dabei nicht wohl?« »Gewiß, sehr wohl, aber du kannst mich nicht kitzeln und ich kann deine Hände niht küssen .. »Das ist nicht nötig, hier ist es auch so sehr schön,« sagt sie und ih finde, daß es wirklih sehr schön ist und wir schweben zusammen immer höher und höher. Und in diesem Augenblick ist mir’s als erwachte ih, und ich finde mich wieder auf dem Kasten in der dunklen Boden- kammer, die Wangen von Tränen feucht, und ich wiederhole gedankenlos die Worte: »Und wir schweben zusammen immer höher und höher.«.... Ih be= mühe mich, diese wonnigen, glücklihen Phantasiebilder zurückzurufen, die das Be= wußtsein der Wirklihkeit unterbrohen haben, aber sobald ih die Kette von Phantasiebildern von vorhin wieder aufnehme, sehe ih zu meinem Erstaunen, daß es mir unmöglich ist, sie fortzuspinnen, und was noch erstaunlicher ist, daß es mir keinen Genuß mehr bereitet .. .

»Ja, es war das echte Gefühl des Hasses, nicht jenes Hasses, den man nur in Romanen liest und an den ich nicht glaube, eines Hasses, der darin Genuß finden soll, den Menschen Böses zuzufügen, sondern jenes Hasses, der uns einen unüberwindlihen Widerwillen einflößt, der anderseits unsere Achtung verdient, der uns sein Haar, seinen Hals, seinen Gang, den Klang seiner Stimme, alle seine Gliedmaßen, alle seine Bewegungen widerwärtig macht und der uns doch wieder mit einer unbegreiflihen Kraft zu ihm zieht und uns mit rastloser Aufmerksam- keit jede seiner Handlungen zu beobachten zwingt. Dieses Gefühl empfand ih gegen Jerome.«

Dieser Tagtraum des kleinen Nikolay enthüllt uns alles, was er fühlt und ersehnt. Er tröstet sih durch diese Phantasiebilder über die ihm erteilte Strafe, Das Gefühl des Hasses gegen den Lehrer findet darin seine vollste Befriedigung. Dieser Haß ist, worauf er selbst hinweist, seltsam mit Achtung und Anziehung verbunden. Wir wissen, daß dies die typisch »ambivalentes seelishe Einstellung zum Vater ist. Dem Unbewußten des Kindes gehen Vater, Lehrer, Kaiser und

Les N: Tokstoi Kindheit 93

Gott ineinander über. Der eine kann in seiner Phantasie den anderen vertreten. Wir werden annehmen, daß ein guter Teil des Hasses, den Nikolay dem Lehrer zuwendet, eigentlih der anderen Autorität, dem Vater, gilt. Er nimmt audh im Tagtraum Rahe an dem Vater und erfüllt darin seine stärksten Wünsche: er ist gar nicht der wirkliche Sohn, er ist ein angenommenes Kind. Diese Phantasie zeigt sih in fast allen Träumen der Neurotiker,; sie ist aber auh, wie Rank gezeigt hat!, ein Grundzug der Mythen- und Sagenbildung. Es ist der typische »Familienroman« des Kindes, des Neurotikers und des Volkes. Der Todeswunsh gegen Jerome richtet sih auch gleichzeitig gegen den Vater, denn der Lehrer stellt ja eigentlih nur den Ersatz des gehaßten und zugleich geliebten Vaters vor. Der Ehrgeiz des Kleinen wird vom Tagtraum erfüllt: er wird ein berühmter Krieger. Er imponiert dem Kaiser (-Vater),; dieser muß ihm danken, er ist ihm verpflichtet. Bald aber richtet sich Nikolays Auflehnung audh gegen Gott, der ihn so ungerecht be- handelt hat. Wir wissen, daß auch Gott in diesem Tagtraum die ehrwürdige Figur des Vaters vertritt. Wir sehen hier, wie der religiöse Zweifel aus der eigentümlichen Stellung des Kindes zu seiner Familie erwäcdhst. Nikolay sieht sich shon tot, jetzt sieht der Vater erst sein UÜnreht ein. Und jetzt, nach dieser grimmigen Rahe, kommt die stärkste und kühnste Wunscerfüllung des Träumers. Er sieht sih von der Mutter umfaßt und spürt das köstlihe Gefühl, mit’ ihr zu= sammen immer höher zu schweben. Die Psychoanalyse lehrt, daß sich hinter diesem Traumbild der symbolishe Ausdruk innigster Vereinigung verbirgt. Freud rechnet den Flugtraum zu den »typishen Träumen«, d. h. zu denen, welche fast immer dieselbe sexuelle Bedeutung haben?. Die Phantasien des Kleinen haben seine zwei stärksten Wünsche verraten: Rahe an dem Vater zu nehmen und ihn zu besiegen und von der Mutter geliebt zu werden.

Ih denke mir, daß das Buh Bäumers und Droeschers bei solher Be- trachtung eine reihe Materialsammlung angewandter Kinderpsydhologie gäbe. Aber erst durch die tiefere Seelenforshung der Psychoanalyse, welche bei jedem einzelnen Beispiele angewendet werden müßte, könnten alle Dunkelheiten und Tiefen der Kinderseele, welche bisher der Psychologie verschlossen blieben, erfolgreih erforscht werden. Dr. Theodor Reik.

I.

Leo N. Tolstoi. Kindheit. Autobiographishe Novelle. (Reclam, Leipzig 1912.)

Die Schopenhauershen Worte von der intuitiven Antizipation des Künstlers kommen einem oft in den Sinn, wenn man sich in psycdhanalytischer Ab- siht mit Werken der Dichtkunst beschäftigt. Liest man nun diese Tolstoische Novelle, mit der Genugtuung, allenthalben den Spuren der typishen Familien- konstellation zu begegnen, und erfährt erst nachher, daß der Dichter seine Mutter im zartesten Kindesalter verloren hat und daß auch sein Vater früh gestorben ist, so steht man wieder vor dem durh Schopenhauer metaphysisch gedeuteten Faktum, daß sich die dichterische Phantasie an einer bloßen Möglichkeit geschwängert

und typishe, der Wirklichkeit in keinem Punkte nachgebende Gebilde aus sich herausgestellt hat.

! Der Mythus von der Geburt des Helden. 1909.

® Traumdeutung.

94 Emil Franz Lorenz

Die in der Novelle behandelten Ereignisse fallen in Tolstois elftes Lebens- jahr. Die Eltern des Dichters sind noch als lebend gedaht. Eine überschwänglice Neigung zur Mutter tritt an mehr als einer Stelle zutage. »Mama spricht mit je- mandem, ihre Stimme klingt so lieb, so unbescreiblich freundlih. Der bloße Klang sagt meinem Herzen so unendlih viel! Mit schlafbeshwerten Augen blicke ich unverwandt in ihr Gesicht und plötzlih kommt es mir vor, als würde sie ganz, ganz klein, ihr Gesicht nicht größer als ein Knopf, aber dabei sehe ich alles ganz deutlih, wie sie mich ansieht und lächelt. Ich habe es gern, daß sie so klein ist« «S. 89f.). Wir kennen die psychologische Bedeutung, die hier dem physiologischen Ermüdungsphänomen untergelegt wird und wissen, daß sie nur das Komplement ist zu den Größenwünschen des Knaben. In demselben Jahre übersiedelt der junge Tolst oi mit seinem Bruder und Vater zu seiner weiteren Ausbildung nah Moskau. Dort stellt er sich auf einem Familienball durh Ungeschiclichkeit bloß und fühlt sih in seiner peinlihen Lage von den Seinigen im Stich gelassen, und wie in un= seren Träumen schießt seine Erinnerung in sehnsühtigem Verlangen in die engere Kindheit, zur Mutter zurück:

»Warum ist Papa rot geworden ‚und hat mich an der Hand gefaßt? Warum hat Wolodja (sein Bruder) mir Zeihen gemacht, die alle sehen und die mir nicht helfen konnten? Hätte er das nicht getan, würde niemand etwas bemerkt haben. Er hat es absichtlich getan, um mich zu blamieren, niemand, niemand hat mich hier lieb. Mama wäre sicherlih meinetwegen nicht errötet! ... .

Und meine Phantasie folgte diesem Bilde weit, weit in die Ferne; ich dachte an Mama, an die Wiese vor dem Hause, die hohen Linden im Garten, den reinen Teih, über dem Schwalben hin und her shossen,;, an duftende Heudiemen, den blauen Himmel, an dem durchsichtige weiße Wolken standen, an einem stillen, heiteren Abend, und viele andere, ruhigfreudige Erinnerungen hielten Einzug in mein aufgeregtes Gemüt« (S. 143).

Sehr interessant, aber auh nur an der Hand der Erkenntnis von der Ambi- valenz der Neigungen deutbar ist der auf p. 9 erzählte Traum: »Ich sagte Karl Iwanowitsch (sein Lehrer), ich hätte geträumt, Mama stürbe. Und als er mid freundlih zu trösten und zu beruhigen suchte, kam es mir vor, als hätte ih wirk- lich diesen schreklihen Traum gehabt, obgleich ich entschieden nichts mehr wußte und meine Tränen flossen nun schon aus einem anderen Grunde. Karl Iwanowitsc ging ins Klassenzimmer, ih zog schluhzend meine Strümpfe an und dachte über den schrecklichen erfundenen Traum nad.«

Man darf über diesen Traum nicht hinweggehen, ohne den Anlaß zu be- trachten, bei dem ihn der Kleine seinem Lehrer erzählt. Er war nämlih damit beginnt die Novelle durch eine unsanfte Bewegung, die Karl Iwanowitsch mit der Fliegenklappe über seinem Bette ausführte, aus dem Schlafe geweckt worden und hatte allerhand unfreundlihen Gedanken gegen diesen in seinem Innern Raum gegeben, während er sich weiter schlafend stellte. Der Lehrer will ihn durch ein Kitzeln an den Fußsohlen wecken. Da kippt auf einmal die Stimmung des Knaben um. »Wie ist er gut und wie hat er uns lieb. Und ich konnte so schleht von ihm denken! Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten, shob den Kopf neben dem Kissen hervor und rief mit Tränen in den Augen: »Ad, lassen Sie, Karl Iwanowitsc

Teilnahmsvoll fragt er ihn, ob er etwas Schlimmes geträumt habe.

»Ich schämte mich; begriff nicht, wie ich eine Minute vorher solh unschöne

Leo N. Toistoi. Kindheit 95

Gedanken hatte hegen, seinen Schlafrok, die Zipfelmütze und Troddel hatte wider- wärtig finden können. Jetzt erschien mir im Gegenteil alles sehr lieb und sogar die Troddel war mir ein klarer Beweis seiner Güte.« Um seine Tränen zu erklären, erzählt er dem Lehrer den Traum vom Tode der Mutter.

Vielleicht ist in dem ambivalenten Verhältnis zum Lehrer der psychologische Keim oder mindestens ein Anhaltspunkt für die Gestaltung des Verhältnisses zu den imaginären Eltern zu erblicken.

Bewundern wir an dieser und an ähnlichen Stellen die wunderbare Kraft materialer Äntizipation, so dürfen wir in anderen Äußerungen psychologish sehr wertvolle Bekenntnisse wirklicher Erlebnisse vermuten. Das gilt vor allem für die Erzählung von dem ersten Kuß.

»Das Kleid mit dem Halsausschnitt rutschte den Mädchen beim Bücken von der Schulter. Sie brachten es dadurch wieder in die richtige Lage, daß sie die Schulter senkten und schnell hoben. Über die Raupe gebeugt, machte Katja eben diese Bewegung, als ih ihr über die Schulter blickte. Der Wind hob das Busentuch von ihrem weißen Halse. Ich blickte shon nicht mehr auf die Raupe, sondern auf die nur zwei Finger breit von meinen Lippen entfernte nackte Schulter. Ich sah und sah und preßte dann meine Lippen so heftig darauf, daß Katja zurückwid, und empfand dabei solchen Genuß, daß ich am liebsten nie aufgehört hätte. Katja wandte sich nicht einmal um, aber ih bemerkte, daß niht nur die Stelle, die ich geküßt, sondern ihr ganzer Hals rot wurde. Wolodja sagte verächtlih: »» Was sind das für Zärtlichkeiten!«« und beschäftigte sih weiter mit der Raupe. Mir aber traten vor Lust und Scham Tränen in die Augen. Dieses Lustgefühl war für mich ganz neu, nur einmal, als ih meinen bloßen Arm betrachtete, hatte ih etwas Ähnliches

empfunden.«< Eindrucsvoller läßt sich der Übergang von der Auterotik zur Hetererotik gar nicht beschreiben. Das Mädchen Katja wird in Moskau durch den Knaben Serjosha abgelöst.

»Seine ungewöhnliche Schönheit überraschte und fesselte mich. Ich fühlte eine unbezwingliche Neigung zu ihm, vielleicht, weil sein Gesicht einen kühnen, spöttischen Ausdruck zeigte, vielleicht, weil ih, mein Äußeres verahtend, an anderen den Vorzug der Schönheit übermäßig schätzte, vielleiht was ein sicheres Zeichen wahrer Liebe, weil ih mir einbildete, er müsse sehr stolz sein und würde mich niemals lieben. So fürchtete ich ihn ebenso, wie ich ihn liebte, ..... Ihn sehen war für mih schon genügend, um glücklich zu sein und eine Zeitlang waren all meine Seelenkräfte darauf gerichtet. Wenn ich sein hübsches Gesicht drei oder vier Tage nicht gesehen hatte, härmte ih mich und wurde bis zu Tränen traurig.

Alf meine Träume betrafen ihn. Wenn ih schlafen ging, hatte ih den Wunsd, von ihm zu träumen, wenn ich die Augen schloß, sah ich ihn vor mir und liebkoste dieses Phantasiegebilde mit höchstem Genuß. Niemandem madte ich von diesem Gefühl Mitteilung und das vermehrte seine Bedeutung und Stärke« (S. 115f.). »Er hatte eine üble Angewohnheit: wenn er nachdenklih war, richtete er die Augen starr auf einen Punkt und blinzelte unaufhörlih, mit der Nase und den Augenbrauen zuckend. Alle fanden diese Angewohnheit sehr entstellend,; mir aber schien sie so unausspredlich lieb, daß ich unwillkürlich das gleiche tat, einige Tage nach unserer Bekanntschaft fragte Großmutter mich, ob mir die Augen weh täten, da ich mit ihnen klapperte wie eine Eule« (S. 117).

Diese, wie man sieht, sehr intensive gleihgeschlechtliche Neigung findet aber

BEN Emil Eranz Lorenz

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ein jähes Ende durch die Bekanntschaft, die der Knabe auf dem Hausball mit der kleinen Sonja macht.

»Beim Abschied von Iwins sprah ich sehr frei, ungezwungen und sogar etwas kalt mit Serjosha und drückte ihm die Hand. Diese Veränderung in meinem Benehmen überraschte ihn wahrsceinlih unangenehm, denn er sah mic fragend und nicht gerade freundlih an. Wenn er begriff, daß sein Einfluß auf mich mit dem heutigen Abend sein Ende erreicht hatte, tat ihm das sicher leid, obgleih er sih bemühte, ganz gleichgiltig zu erscheinen. Zum erstenmal im Leben war ic treulos in der Liebe und zum erstenmal empfand ih die Süßigkeit dieses Gefühls. Es war mir eine wahre Herzensstärkung, das überlebte Gefühl der Ergebenheit gegen ein frisches Liebesempfinden voll Heimlichkeit und Ungewißheit einzutauschen. Außerdem bedeutet mit einer Liebe aufhören und eine neue beginnen doppelt lieben« (S. 149).

Wie eine wehmütig tiefe Symbolik wirkt es, wenn der Dichter an die Ge- winnung dieses Standpunktes der »normalen« erotishen Neigung den Tod der Mutter sih anschließen läßt, in den dieses Wahrheit und Dichtung vermengende Stük seiner Autobiographie ausklingt.

Durdh die Aufnahme der von der russishen Zensur ursprünglih unter- drücten, aber von der Gräfin Tolstoi in die neueste russishe Gesamtausgabe an der Hand der Manuskripte wieder eingearbeiteten Stellen erweist sih die Über- setzung der Universalbibliothek als die einzige, die derzeit ernstlih in Betracht kommt. Dr. Emil Franz Lorenz.

Bibliographie 97

Übersicht der Leistungen der auf die Geisteswissen=- schaften angewandten Psychoanalyse,

soweit sie im Jahre 1912 außerhalb von »Imago« erschienen:

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KOSTYLEFF: La psycdoanalyse appliquee a l’ötude objective de l’imagination (Rev. philos., Avril 1912).

KOVACS, Dr. $. (Budapest): Introjektion, Projektion und Einfühlung (Zbl. £, Psa. Bd. II, 253 bis 263, 316 bis 327).

MESSMER, Prof. Dr. Oskar (Rorshah): Die Psychoanalyse und ihre pädago- gische Bedeutung (Berner Seminarblätter Bd. V, Hft. 9.

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PAUL W. E., M. D.: Freud’s Psychology as applied to children (Boston Medic. and Surg. Journ. April 1912).

„PSYCHOANALYSE UND PADAGOGIK« mit Beiträgen von Pfarrer Dr. Oskar Pfister (Zürih), Dr. med. Alphonse Maeder (Zürich), Lehrer Dr. Otto Mensendiek (Zürich), Seminardirektor Dr. Ernst Schneider (Zürich), Seminarlehrer Prof. Oskar Messmer (Rorshadh) und einer Diskussion (Berner Seminarblätter, VI. Jahrg. 1912, Hft. 10 bis 12).

RANK, Dr. Otto (Wien): Das Inzestmotiv in Dihtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterishen Schaffens (Leipzig und Wien 1912, F. Deuticke).

Völkerpsydhologishe Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien. Zugleih ein Beitrag zur Sexualsymbolik (Zbi. f. Psa. Bd. II, 372 bis 383, 425 bis 437):

Die Symbolshihtung im Wecktraum und ihre Wiederkehr im mythischen Denken Ib. f. psa. Forshg. Bd. IV, 1912, S. 51 bis 115).

Imago 11/1 7

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Zur Psychologie und Logik der Lüge (Sep.-Ab. aus der wissensch. Beil. z. 24. Jahresberiht 1912 der Philosophishen Gesellshaft an der Universität zu Wien (Leipzig 1912, J. A. Barth).

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STEKEL, Dr. Wilh. (Wien): Die Träume der Dichter. Eine vergleihende Unter- suhung der unbewußten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und Ver- brehern (Wiesbaden 1912, J. F. Bergmann).

STÖCKER Lydia: Mystik und Erotik (Die neue Generation, 8. Jahrg., Hft. 2, Februar 1912).

STORFER A. J. (Frankfurt): Zwei Typen der Märcenerotik (Sexual-Probleme, April 1912).

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Büder 99

Büchereinlauf.

(Besprehung vorbehalten.)

Bohn Georges: Die neue Tierpsydologie. Autor. deutshe Übers. von Dr. R. Thesing. (Leipzig 1912. Veit ®& Co.)

Boldt Ernst: Sexualprobleme im Lichte der Natur- und Geisteswissenschaft- (Leipzig 1912. Max Altmann.)

Bon Gustave fe: Psychologie der Massen. Autor. Übers. von Dr. R. Eisler.

| Zweite, verb. Aufl. (Leipzig 1912. Dr. W. Klinkhardt.) Philos.-soziol. Bücherei Il.

Christiansen Broders: Von der Seele. Bd. I: Vom Selbstbewußtsein. (Berlin 1912. B. Behrs.) |

Dauthendey Max: Der Geist meines Vaters. (München 1912. Albert Langen.)

Ebbinghaus Hermann: Abriß der Psychologie. 4. Aufl. Durchges. von Prof. E. Dürr. (Leipzig 1912. Veit ® Co.)

Flaubert Gustave: Gesammelte Werke. Bd. VII—X: Briefe. Verlag 1.C,.G Bruns, Minden i. W.)

Gerland Georg: Der Mythus von der Sintflut. (A. Marcus ®E. Weber, Bonn 1912.)

Haeberlin P.: Wissenschaft und Philosophie. Bd. II. (Basel 1912. Kober.)

Horand F. M.: Cesare Monti, Feldhauptmann von Savona. Trauerspiel in fünf Aufz. (Verl. D. F. Münter, Halle a. S.)

Horneffer August: Der Priester, seine Vergangenheit und seine Zukunft. 2 Bände. (Jena 1912. Eugen Dieterichs.)

Jennings H.: Die Rosenkreuzer. Ihre Gebräuhe und Mysterien. Mit zirka 300 Illustr. u. 12 Tafeln. 2 Bände, (Berlin 1912. H. Barsdorf.)

Langer Felix: Magelon. Die Geshihte eines nervösen Mädchens und andere Novellen. (Berlin 1911. Bruno Cassirer.)

Leadbeater C. W.: Träume. Eine theosophische Studie. Gr 1912. Max . Altmann.)

Michel Robert: Der steinerne Mann. Roman. (Berlin 1909, S. Fischer.)

Das letzte Weinen. Novellen. (Wien 1912. Deutsh-Österr. Verlag.)

Moreck Curt: Jokaste, die Mutter. (Leipzig 1912. E. Rowohlt.)

Musil Robert: Die Verirrungen des Zöglings Törleß. Roman. 2. Aufl. (Münden. Georg Müller.)

Vereinigungen. Zwei Novellen, (Ebenda.)

Reik Dr. Theodor: Richard Beer-Hofmann. (Leipzig 1912. R. Eichler.)

Reitzenstein, Prof. Dr. Rid.: Zur Sprache der lateinischen Erotik. Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., phil.=hist. Kl. Jhrg. 1912, 12. Abt. (Heidel- berg 1912. C. Winter.)

Rohleder Dr. Herm.: Monographien über die Zeugung beim Menschen. Bd. IIs Die Zeugung unter Blutsverwandten (Konsanguinität, Inzucdt, Inzest). Eine naturwissenscaftlih=kulturhistorishe Sexualstudie. (Leipzig 1912. Georg Thieme.)

Schlesinger Max: Geschichte des Symbols. Bin Versuh. (Berlin 1912. L. Simion. Nfg.)

100 | Bücder

Schnitzler Arthur: Gesammelte Werke. In zwei Abteilungen. I. Die erzählenden Schriften (in 3 Bd.), II. Die Theaterstüke (in 4 Bd.) (Berlin 1912. S. Fiscer.)

Schröder, Prof. L. v. (Wien): Die Vollendung des arishen Mysteriums in

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Staudenmaier Dr. Ludw.: Die Magie als experimentelle Naturwissenscaft. (Leipzig 1912. Akad. Verlagsgesellsc.)

Stöhr, Prof. Dr. Adolf: Psychologie der Aussage. »Das Redt.« Sammlg. v. Ab= handlg. für Juristen u. Laien. Bd. IX—X. (Berlin 1912. Puttkammer &

Mühlbredt.) Wreschner, Prof. Dr. Arthur: Die Sprahe des Kindes. (Zürih 1912. Orel

Füssli.)

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HUGO HELLER & CE:

WIEN UND LEIPZIG.

Seit Januar 1913 erscheint:

Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse,

Hlerauszerehen von -

Prof. Dr. SIGM. FREUD.

Redigiert von

Dr. S. FERENCZI (Budapest) und Dr. OTTO F RANK (Wien).

ie neue Zeitschrift stellt sih zur Aufgabe, dem Anfänger durch didaktische | Aufsätze eine Einführung in das Wesen und die Übung der Psychoanalyse zu geben, den Vorgeshrittenen Gelegenheit zum Austausc ihrer Erfahrungen zu bieten und sie durh Kritiken und Referate fortlaufend von der Entwicklung der jungen Wissenschaft zu unterrichten. Die neue Zeitschrift wird Originalarbeiten zum n Abdruck bringen, von denen eine Erweiterung unserer psycdhoanalytischen Erkenntnisse zu erwarten ist, und Mitteilungen, durch welche die bekannten Lehren erläutert und bestätigt werden sollen. Die Veröffentlihung umfangreiher dokumentarischer Arbeiten und die Dis- kussion der noch strittigen schwierigen Probleme der Psychoanalyse bleibt nach wie vor dem »Jahrbuch für psycoanalytishe und psychopathologishe Forschungen, redigiert von C. G. Jungs, überlassen, während die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenshaften der von Dr. Rank und Dr. Sadıs redigierten »Imago« vorbehalten ist. Es erscheinen jährlih sechs Hefte der neuen Zeitschrift, jeden zweiten Monat abwechselnd mit »Imagos, im Gesamtumfang von zirka 360 ee zum Jahrespreis von M. 18.— = K 21.60. | Aud wird ein gemeinsames Abonnement auf beide psychoanalytische Zeit- schriften zum ermäßigten Gesamtjahrespreise von M. 30.— = K 36.— (statt M. 33.— = K 39.60) eröffnet.

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Inhalt des ersten Heftes.

Prof. 5. FREUD (Wien): Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. II. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken.

Dr. EMIL LORENZ (Wien): Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie.

Dr. HANNS SACHS (Wien): Carl Spitteler.

KINDERSEELE, redigiert von Dr. H. v. Hellmuth (Wien).

I. Dr. H. v. Hellmuth: Über erste Kindheitserinnerungen. I. Dr. Th. Reik: »Von der Kinderseele«. II, Dr. Emil Lorenz: Tolstoy »Kindheit«.

BIBLIOGRAPHIE für das Jahr 1912, BÜCHEREINLAURF «1912).

Nacddruck verboten.

K.U.K. HOF-BUCHDRUCKEREI CARL FROMME IN WIEN.

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