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IN ZÜRICH, IN WIEN. REDIGIERT VON De. 0. 6. JUNG, PRIVATDOZENTEN DER PSYCHIATRIE IN ZÜRICH,

II. BAND.

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LEIPZIG UND WIEN. er FRANZ DEUTICKE. 3 ur N Verlags-Nr. 1707.

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VERLAG VON FRANZ Bee IN LEIPZIG UND WIEN.

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Nachstehende sieben Werke, welche als die Dokumente für den Entwieklungsgang und Inhalt der Freudschen Lehren anzu- sehen sind, werden, wenn auf einmal bezogen, zum Vorzugspreise von M 50-— = K 43'80) abgegeben:

Von Dr. Jos. Breuer und Prof. Dr. $S. Freud. Zweite Auflage. Preis MT— = K 340.

Studien über Hysterie. | x

Die Traumdeutung. Von Prof. Dr. Sigm. Freud. Zweite, vermehrte Auflage. Preis M 9 = K 108.

Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Von Prof. Dr. Sigm. Freund.

Zweite Auflage. Preis M 2&— = K 240.

> Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Von Prof. Dr. Sigm. Freud. I. und II. Reihe. Preis ı M5— = K6—.

Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. (Schriften zur angewandten Seelenkunde. I. Heft.) | | Von Prof. Dr. Sigmund Freud in Wien. | ve den Preis M 250 = K 3—.

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. er Von Prof. Dr. Sigm. Freund. EUR Preis M5— = K6—

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Über Prychoai | Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier | a der Clark University in Worcester Mass. BEER N | Von Prof. Dr. Sigm. Freud. | Preis M te = K 120.

JAHRBUCH

FUR

PSYCHOANALYTISCHE und PSYCHO- PATHOLOGISCHE FORSCHUNGEN.

HERAUSGEGEBEN VON

Pror. Dr. E. BLEULER uno Por. Dr. S. FREUD

IN ZÜRICH, IN WIEN.

REDIGIERT VON

Dr. C. 6. JUNG, PRIVATDOZENTEN DER PSYCHIATRIE IN ZÜRICH,

II. BAND.

I. HÄLFTE.

LEIPZIG uno WIEN. FRANZ DEUTICKE. 1910.

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Inhaltsverzeichnis

der ersten Hälfte des zweiten Bandes.

Seite Abraham: Über hysterische Traumzustände. . 2 2 2 2 m m une. 1 Jung: Über Konflikte der kindlichen Seele... 2. 2:22 2 222 .. 33

Sadger: Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen . 59

Pfister: Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses und der Versöhnung . 5, „Vuris.e um RE Bu Al a 134

Freud: „Über den Gegensinn der Urworte“ Maeder: Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken . 185 Riklin: Aus der Analyse einer Zwangsneurose . » 2 2 2 2 2 2 20. 246 Jung: Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not . 312 Jones: Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur

zur klinischen Psychologie und Psychopathologie. .. . . 22... 316 Neiditsch: Über den gegenwärtigen Stand der Freudschen Psychologie

in Rußland ... a,a #000 ns er a Be EEE 347 Assagioli: Die Freudschen Lehren in Italien, . . .. 22 2 2 2.0. 349 Jung: ‚Referate über psychologische Arbeiten schweizerischer Autoren

(bis Ende 1909)... . » .uc.u ia ee ee Kae a Eee 356

Zusendungen an die Redaktion sind zu richten an Dr. C, 6. Jung, Küsnach-Zürich,

°. INTERNATIONAL PSYCHOANALYTIC

UNIVERSITY BERLIN

Über hysterische Traumzustände. Von Dr. Karl Abraham (Berlin).

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz ‚Über traumartige und verwandte Zustände” hat Löwenfeld!) eigentümliche, bei Neurotikern auftretende Störungen behandelt, die bisher in der Literatur keine ge- nügende Würdigung gefunden haben. Zur Orientierung zitiere ich Löwenfelds allgemeine Beschreibung dieser Zustände.

„Die Außenwelt macht nicht den gewöhnlichen Eindruck, das wohl Bekannte und täglich Gesehene erscheint verändert, wie un- bekannt, neu, fremdartig, oder die ganze Umgebung macht den Eindruck, als sei sie ein Phantasieprodukt, ein Schein, eine Vision. In letzterem Falle besonders ist es den Patienten, als ob’sie sich in einem Traum’ oder Halbschlaf befänden, hypnotisiert oder somnambul seien, und sie sprechen dann auch zumeist von ihren Traumzuständen.“ Der Autor erwähnt ferner, daß diese Zustände dem Grade nach sehr ver- schieden sein können und in der Dauer große Schwankungen auf- weisen, daß sie oft mit dem Affekte der Angst verknüpft sind und daß sich neben ihnen in der Regel noch andere nervöse Symptome nach- weisen lassen.

Löwenfeld gründet seine Beschreibung auf eine beträchtliche Anzahl von Krankengeschichten. Ich selbst bin bei einer ganzen Reihe meiner Patienten, die ich psychoanalytisch behandelte, auf diese Zu- stände gestoßen. Da die bisherigen psychoanalytischen Arbeiten sich mit den Traumzuständen noch nicht beschäftigt haben, so teile ich meine hauptsächlichsten Resultate mit. Sie bilden eine Ergänzung derjenigen Aufschlüsse, die uns die Psychoanalyse über das Wesen der anderen episodischen Erscheinungen im Krankheitsbilde der Hysterie gebracht hat.

!) Zentralblatt für Nervenheilkunde, 1. und 2. Augustheft 1909.

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 1

92 Karl Abraham.

Ein einfaches Beispiel möge zunächst zeigen, bis zu welchem Grade wir das Wesen der Traumzustände zu begreifen vermögen, wenn wir von der Psychoanalyse keinen Gebrauch machen. Die Ex- ploration eines Patienten, den ich nur ein einzelnes Mal in der allgemein geübten Art explorieren konnte, ergab nach der hier interessierenden

Richtung folgendes?):

Beobachtung A.

Der in jugendlichem Alter stehende Patient A neigt zu Tag- träumereien von großer Lebhaftigkeit. Wie er angibt, reizen ihn namentlich aktuelle Ereignisse zum wachen Träumen. Die Nachricht von der Entdeckung des Nordpols z. B. gab ihm Anlaß zu der Phantasie, er wäre an einer großen Expedition beteiligt. Er malte sich diese mit allen Einzelheiten aus, besonders in bezug auf seine eigene Tätigkeit. Derartige Phantasien nahmen ihn schon seit längerer Zeit fast ganz in Anspruch. Er brauchte nur etwa auf der Straße aus der Unterhaltung Vorübergehender ein Wort wie z. B. ‚Zeppelin‘ aufzufangen, und schon geriet seine Einbildungskraft in die lebhafteste Tätigkeit. Haben nun diese Träumereien eine große Intensität erreicht, so fühlt Patient sich mehr und mehr der Wirklichkeit entrückt. Eine traumhaite „Benommenheit kommt über ihn. Dann tritt für kurze Zeit eine „Leere“ im Kopf ein, auf welche rasch ein lebhaftes Schwindelgefühl folgt, das sich mit Angst und Herzklopfen verbindet. Patient bezeichnet den Zustand bis zum Eintreten des Schwindelgefühles als lustvoll.

Neben diesen Erscheinungen bestehen nervöses Erbrechen,

nervöse Diarrhöen, Anfälle von Kopfschmerz, ferner Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit usw.

Der mitgeteilte Fall und, wie sich zeigen wird, auch jeder der folgenden läßt den Zusammenhang der Traumzustände mit den Tagträumereien ohne weiteres erkennen. Ich betone diese Tatsache, weil Löwenfeld ihr keine besondere Beachtung geschenkt hat. Die typische Einleitung des Traumzustandes bildet ein Stadium der

phantastischen Exaltation, dessen Inhalt ein durchaus indi- viduelles Gepräge zeigt.

‘) Die Krankheitsfälle, die ich im folgenden bespreche, sind in alpha- betischer Reihenfolge mit den Buchstaben A bis F versehen. Alle für das Ver- ständnis der Sache entbehrlichen Angaben über Alter, Beruf und sonstige per- sönliche Verhältnisse der Patienten habe ich fortgelassen.

Über hysterische Traumzustände. 3

Es folgt der Zustand traumhafter Entrückung!). In ihm er- scheint den Patienten, wie Löwenfeld treffend schildert, die ihnen wohlbekannte Umgebung unwirklich, fremd, verändert. Sie selbst fühlen sich „wie im Traum“. Die Bezeichnung ‚Traumzustand“, die von vielen Patienten spontan gebraucht wird, gründet sich auf die phantastische Gedankenrichtung im ersten und auf die Alteration des Bewußtseins im zweiten Stadium.

Ich unterscheide weiter ein drittes Stadium der Bewußtseins- leere. Es wird charakterisiert durch das von den Patienten bemerkte „Stillstehen der Gedanken“ (auch: ‚Leere im Kopf“ oder ähnlich benannt).

Den Abschluß bildet ein depressiver Zustand, dessen wichtigstes Kennzeichen der Affekt der Angst mit seinen gewohnten Begleit- erscheinungen (Schwindel, Herzklopfen usw.) bildet. Die meisten Patienten beschreiben überdies Phantasien von depressivem Charakter.

Die Abgrenzung der einzelnen Stadien gegeneinander ist nicht absolut scharf. Im Gegenteil lassen sich Übergänge zwischen ihnen erkennen. Die praktische Brauchbarkeit und Wichtigkeit der Einteilung wird erst bei der Besprechung der genau analysierten Fälle hervor- treten. Alsdann wird die obige, summarisch gehaltene Schilderung der einzelnen Stadien auch eine ausgiebige Vervollständigung erfahren.

Den Höhepunkt des Zustandes bildet ohne Zweifel das dritte Stadium. Auf ihm findet, sozusagen, die Peripetie statt, nicht nur insofern, als die phantastische Produktion beim Eintritt dieses Stadiums eine jähe Unterbrechung erfährt. Von ebenso großer Bedeutung ist es, daß das dritte Stadium die Grenze zwischen zwei entgegengesetzten Affektbesetzungen bildet. Es ist keine spezielle Eigentümlichkeit des skizzierten Falles, daß der Traumzustand bis zum dritten Stadium als lustvoll geschildert wird, während dem letzten Stadium ein starker Unlustaffekt zugeschrieben wird.

Wir vermögen so durch die Exploration des Patienten mancherlei Kenntnisse über Vorstellungen und Gefühle im Traumzustand, über den auslösenden Anlaß, über die Schwankungen des Bewußtseins zu erhalten. Würden wir eine Reihe weiterer Fälle in derselben Weise betrachten, so könnten wir noch dazu gelangen, die individuelle Mannigfaltigkeit in den genannten Beziehungen kennen zu lernen; wir würden auch Löwenfelds Angaben über die Differenzen in bezug auf Intensität

1) Den Ausdruck „Entrückung‘“ entlehne ich von Breuer (cf. Breuer und Freud, Studien über Hysterie, Seite 191 der 2. Auflage).

1*

A Karl Abraham. und zeitliche Ausdehnung der Zustände bestätigen können. Damit sind wir aber an der Grenze der Erkenntnismöglichkeiten angelangt, sofern wir uns auf das dem Patienten Bewußte als einzige Quelle Wissens beschränken. Unerklärt bleibt die Ursache des Auf- tretens der Traumzustände. Im allgemeinen begnügt sich der Neurotiker mit wachen Träumereien. Es bleibt dunkel, warum diese gelegentlich eine Steigerung zu akuten, anfallsähnlichen, mit einer leichten Alteration des Bewußtseins verbundenen Zuständen erfahren. Unklar bleibt in ihrem ganzen Wesen die Entrückung, speziell das Gefühl des Fremd- artigen, Unwirklichen. Vollends in Dunkel gehüllt bleiben die temporäre Bewußtseinsleere und endlich das Auftreten der Angst mit ihren Begleit- erscheinungen. Alle diese Erscheinungen sind überdies der individuellen Variation unterworfen. Jeder einzelne Fall bietet seine Rätsel. Ins- besondere die Phantasien des Anfangsstadiums (und auch die des Schluß- stadiums) sind ohne eingehende Analyse nur in ganz beschränktem Umfange verständlich.

Den Schlüssel zur Lösung dieser Rätsel gibt uns die Kenntnis vom Phantasieleben des Neurotikers, die durch die psycho- analytischen Forschungen gewonnen wurde.

Wir haben durch Freud gelernt, daß unsere Phantasien Ver- lautbarungen unserer Triebe sind. Wünsche, deren Erfüllung verhindert ist, sucht unsere Einbildungskraft als erfüllt oder in Erfüllung begriffen darzustellen. Beim Neurotiker ist nun das gesamte Triebleben, sind alle Partialtriebe von ursprünglich abnormer Stärke. Gleichzeitig ist die Neigung zur Triebverdrängung besonders groß. Aus dem Konflikte zwischen Trieb und. Verdrängung geht die Neurose hervor. Der Viel- gestaltigkeit und der Macht seines Trieblebens, der Fülle verdrängter Wünsche entspricht es, daß der Neurotiker ein Phantast ist. Er neigt darum, wie die Erfahrung lehrt, in hohem Grade zur Tag- träumerel; auch sein Schlaf pflegt reich an lebhaften Träumen zu sein. Die Triebkraft seiner verdrängten Wünsche ist aber so gewaltig, daß der Neurotiker mit diesen auch dem Normalen eigenen Ausdrucks- mitteln nicht sein Auskommen findet. Die Neurose selbst steht ganz und gar im Dienste dieser Tendenzen. Der neurotische Traumzustand ist, wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, nur eines der mannigfachen Phänomene, durch welche das Heer der verdrängten Wünsche sich manifestiert.

Der Krankheitsfall, aus dessen umfangreicher Analyse ich das zum Verständnis der Traumzustände Notwendige nun zunächst mitteile,

unseres

Über hysterische Traumzustände. d

eröffnet klärende Einblicke in das Gewirr. der einander verstärkenden oder unter sich widerstreitenden Triebregungen. Die Analyse läßt die alles beherrschende Bedeutung der Sexualphantasie erkennen; es wird vollkommen durchsichtig, daß die bewußten, dem äußeren Anscheine nach nicht sexuellen Phantasien durch den Prozeß der Sublimierung aus sexuellen Wünschen hervorgegangen sind. Die von der Zensur zum Bewußtsein zugelassenen Phantasien dienen lediglich zur Vertretung verdrängter Wünsche; ihre Triebkraft haben sie von den letzteren entlehnt.

Beobachtung B,

Der Patient B leidet an einer ungewöhnlich schweren Hysterie mit Phobien und Zwangserscheinungen. Seine Angst, allen das Haus zu verlassen, macht ihn seit fünf Jahren zur Ausübung seines Berufes und überhaupt zu fast jeder sozialen Betätigung unfähig. Neben schweren Angstzuständen treten mit großer Häufigkeit Traumzustände bei ıhm auf.

Den ersten derartigen Zustand erlebte Patient, wie er sich erinnert, im Alter von 10 Jahren, als er sich einmal zurückgesetzt fühlte. Es be- mächtigte sich seiner ein „Gefühl des Weltschmerzes“, dem rasch Kontrastvorstellungen folgten: ‚später, wenn ich erst groß bin, werde ich euch schon imponieren‘. Er geriet dabei in eine ekstatische Be- geisterung und empfand eine traumartige Veränderung seines Bewußt- seins. Seither führt jede Situation, in der ihm die Überlegenheit anderer und seine eigene Tatenlosigkeit besonders zu Bewußtsein kommen, einen Traumzustand herbei. Durch seine Lage ist er also zu solchen Zuständen fortwährend disponiert. Es genügt z. B., daß man in seiner Gegenwart die Tüchtigkeit oder die Erfolge eines Altersgenossen erwähnt; sofort reagiert er mit einem Traumzustande. Im Laufe der Zeit hat sich eine größere Variabilität in bezug auf den auslösenden Anlaß herausgebildet. Der Anblick weiblicher Personen, Theater, Musik, Lektüre wirken in diesem Sinne, indem sie bei dem Patienten ehrgeizige oder erotische Phantasien hervorrufen. Weniger leicht verständlich ist schon die auslösende Wirkung, welche von lebhafter Körperbewegung (z. B. Gehen auf der Straße) oder vom Hören starker Geräusche (z. B. Fahrt eines Eisenbahnzuges über eine Brücke) ausgeht. Am häufigsten tritt der Zustand auf der Straße ein.

Alle diese Anlässe rufen zunächst eine lebhafte Tätigkeit der Phantasie hervor und zugleich den Vorsatz, mit aller Energie an der

6 Karl Abraham.

Verwirklichung der phantastischen Wünsche zu arbeiten. Patient rührt, wie er sich ausdrückt, seine ganze Willenskraft auf. Im Mittel- punkte steht immer der Gedanke, dereinst aus der Absonderung hervor- zutreten und aller Welt zu imponieren. Er wird einst durch großes Wissen Aufsehen erregen, wird als Autor eines Dramas vor den Vorhang gerufen werden und aller Blicke auf sich ziehen; oder er wird ein Meister im Schachspiel werden und als Simultanspieler im Cafe von Tisch zu Tisch gehen, die Figuren ziehen und dabei von bewundernden Menschen beobachtet werden. In anderen Fällen erdenkt er sich die Idealgestalt eines großen Feldherrn, hinter der er seine ehrgeizigen Wünsche ver- birgt. Die energischen Vorsätze dokumentieren sich äußerlich darin, daß Patient im Zimmer hastig umhergeht, oder auf der Straße einen Sturmschritt anschlägt.

Patient selbst bezeichnet den geschilderten Vorgang als einen immer höher gehenden „Enthusiasmus“. Dieser geht bald und un- merklich in das zweite Stadium über. Die Schilderung des Patienten ist sehr bezeichnend: es findet eine völlige „‚Nachinnenkehrung‘“ statt, eine Ausschaltung aller äußeren Eindrücke. ‚Man verliert beim Phan- tasieren den Boden unter den Füßen.‘ Das soll heißen, daß er die Herr- schaft über den Flug seiner Gedanken verliert und sich völlig vom realen Boden entfernt. Nun kommt er sich wie im Traume vor, die ganze Umgebung, sogar der eigene Körper erscheint ihm fremd und es treten Zweifel an dessen wirklicher Existenz auf. Alsbald folgt das typische dritte Stadium: der Gedankenstillstand. Rasch tritt dann der Angst- affekt auf und leitet das vierte Stadium ein. Patient wird von Schwindel ergriffen; er hat das Gefühl, daß er nicht mehr vorwärts kommen, die Beine nicht mehr heben kann, als wenn er gleitet, fällt, versinkt. Diese Sensationen sind mit höchster Angst verbunden. Die Menschen erscheinen ihm merkwürdig groß; dies gilt auch von den ihn umgebenden Gegen- ständen. Er selbst kommt sich klein vor, hat auch den Wunsch, es zu sein, um nur nicht gesehen zu werden; er möchte ‚als nichts gelten, ganz in die Erde sinken“. Er beschreibt ferner das Gefühl, als müsse er auf allen Vieren kriechen, um nach Hause zu kommen. gesetzte en ee 5 es nn bemerkbar maeht. Wir EAERER i ne | de u. je Ba a, a I ae er auf Parästhesien und vasomotorische nicht genügend eek RR He ren die bisher

worden sind. Im Stadium der Gedankenleere

Über hysterische Traumzustände. 7

wird das Kältegefühl intensiv. Mit der Angst setzt manchmal eine plötzliche ‚„‚Hitzewelle‘“ ein, eine Kongestion nach dem Kopfe. Macht die Angst schließlich dem Gefühle der Schwäche Platz, so ist das Gefühl der Kälte stets sehr lebhaft; zugleich besteht die Sensation, daß Teile des Körpers abgestorben seien.

Das Eintreten eines Traumzustandes ist dem Patienten wegen der begleitenden Lust erwünscht. Er versucht jedoch manchmal, bevor der Höhepunkt, d. h. die Bewußtseinsleere, erreicht ist, den Vorgang zu unterbrechen. ‚Ich will mich vom Enthusiasmus losreißen, ich ver- suche wie aus einer Wolke herauszukommen.‘ Der Ausdruck „Wolke“ ist zu beachten; er deutet das Gefühl einer Umnebelung des Bewußt- seins, also das Traumhafte an. Bei vorzeitiger Unterbrechung tritt Angst- und Schwächegefühl ein.

Das letzte Stadium ist bei diesem Patienten sehr protrahiert. Um sich von der Angst, die nicht weichen will, zu befreien, bedient er sich eines eigentümlichen Mittels: er zündet sich eine Zigarre an. Übrigens taucht auch schon im Stadium des Enthusiasmus der Wunsch zum Rauchen auf.

Als ıch auf die Analyse seiner Traumzustände einging, gab mir der Patient spontan die Erklärung, er halte diese Zustände schon seit langer Zeit für eine Art von Vergeistigung des Sexualtriebes. Unsere Nach- forschungen sollten diese Auffassung durchaus bestätigen.

Patient gehört zu den Neurotikern, die sich in früher Kindheit der Masturbation ergeben und später mit ihrer masturbatorischen Neigung in einem steten Kampfe leben. Die Abgewöhnung der Onanie, oft mißlungen und immer wieder versucht, hat dem Patienten die be- kannten Enttäuschungen, Selbstvorwürfe und hypochondrischen Sorgen eingetragen. Eine Reihe von Symptomen seiner Neurose steht unter dem determinierenden Einfluß dieses Vorganges; doch soll auf diese hier nicht eingegangen werden. Der Konflikt zwischen Wunsch und Ver- drängung hat, wie so oft in der Neurose, seinen Abschluß in einem Krompromiß gefunden. Der Patient hat oft für längere Zeit auf die ÖOnanie verzichtet. Er meidet dann die körperliche Selbsterregung mitsamt ihrem Endziel, der Ejakulation. Für eine oberflächliche Be- trachtung hat er damit die gewohnte Sexualbetätigung aufgegeben. Aber sein Unbewußtes verlangt eine Ersatzbefriedigung, deren Wesen und Ziel dem Bewußtsein entgeht, die daher ungehindert von hemmenden Einflüssen vor sich gehen kann.

8 Karl Abraham.

Freud!) hat den Nachweis erbracht, daß gewissen ae Erscheinungen der Hysterie die Bedeutung einer Iırsa tzb erein = in > für die aufgegebene Masturbation zukommt; wir müssen Eis Bee Anschauung unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Eine ri Z- befriedigung in dem angegebenen Sinne jet nun auc u Traumzustand. Bevor ich diese Auffassung begründe, muß ich noc erwähnen, daß der Patient besonders neuerdings den Traumzuständen auch zu solchen Zeiten unterworfen ist, in denen er dem Drange nach Masturbation häufig nachgibt. Doch spricht dies nur scheinbar gegen die Auffassung der Traumzustände als Ersatzbefriedigung. Denn gerade zu solchen Zeiten sind lebhafte Gegenvorstellungen vorhanden, die den Patienten hindern, dem Drange ganz ungehemmt nachzugeben. Die Triebstärke ist außerdem so groß, daß eine volle Befriedigung schwer zu erzielen ist. Auch bei häufiger Ausübung der Masturbation werden daher Surrogate nicht entbehrlich. Endlich bilden diese selbst eine Lustquelle und es ist bekannt, wie schwer namentlich der Neurotiker eine solche wieder aufgibt.

Patient hat sich in der frühen Jugend gewöhnt, Tagträumereien nachzuhängen und auf der Höhe lebhafter Phantasietätigkeit der an- gesammelten Erregung durch Masturbation Abfuhr zu verschaffen. Als er sich von der Masturbation zu entwöhnen suchte, bedurften die Tagträumereien eines andern Abschlusses; sie bilden seither die Ein- leitung zum Traumzustand wie früher zum Masturbationsakt. Das zweite und dritte Stadium Entrückung und Bewußtseinsleere entsprechen der steigenden Sexualerregung und ihrer Akme im Moment der Ejakulation. Das Endstadium mit Angst und Schwäche ist un- verändert vom masturbatorischen Vorgang herübergenommen; diese Symptome sind uns ja als jedesmalige Folgen der Masturbation bei Neurotikern geläufig.

Diese Auffassung bedarf bezüglich des zweiten und dritten Sta- diums noch einer weiteren Begründung. Ein der ‚‚Entrückung“ im Traum- zustand analoges Stadium findet sich auch- im masturbatorischen Akt. Die steigende sexuelle Erregung führt zu einer Absperrung gegen alle äußeren Eindrücke. Dieser Vorgang findet sich im Traumzustande mehr ins Psychische übersetzt. Der Patient empfindet eine absolute „Nachinnenkehrung“. Durch diese autoerotische Abschließung von der

') „Allgemeines über den hysterischen Anfall.“ Zeitschrift für Psycho-

therapie und medizinische Psychologie 1909, auch in der zweiten Folge der „Kl. Schriften zur Neurosenlehre‘“, Deuticke, Wien 1909.

Über hysterische Traumzustände. 9

Außenwelt erhält er das Gefühl der Isoliertheit. Er ‚‚tritt aus der Gemeinschaft heraus“ ; seine Vorstellungen versetzen ihn in eine andere, seinen verdrängten Wünschen entsprechende Welt. So groß ist die Macht der verdrängten Wünsche, wenn sie einmal dem Unbewußten ent- steigen, daß ihre phantasierte Erfüllung als Wirklichkeit, die Wirklich- keit aber als ein nichtiges Traumgebilde erscheint. Die gesamte Um- gebung, selbst der eigene Körper, erscheint dem Patienten fremd und unwirklich.

Das Gefühl des Isoliertseins ist vielen Neurotikern eigen, die sich zur einsamen Sexualbetätigung von der Welt zurückziehen. Unser Patient erinnert sich aus der frühen Jugend einer von ihm bevorzugten Phantasie von einem verborgenen Zimmer, das irgendwo im Walde unter der Erde versteckt sei: dahin wünschte er mit seinen Phantasien zu flüchten. Der Wunsch machte später einer Angst Platz: der Angst, allein im geschlossenen Raume zu sein, die ihn noch als Erwachsenen beherrscht.

Das dem dritten Stadium eigentümliche Schwinden der Gedanken, die Bewußtseinsleere, entspricht dem mehr oder weniger erheblichen „Bewußtseinsentgang‘ (Freudt), wie er sich besonders ausgesprochen beim, Neurotiker auf der Höhe jeder sexuellen Erregung einstellt. Gleichzeitig setzt ein heftiges Schwindelgefühl oder eine andere, dem Schwindel ähnliche, aber schwer zu beschreibende Sensation ein. Unser Patient gibt mit Bestimmtheit an, daß das nämliche Gefühl bei der Masturbation im Augenblicke der Ejakulation eintrete. Die kurze, der Entleerung der Sexualprodukte entsprechende Bewußtseinspause findet sich auch im hysterischen Anfall.

Nunmehr ist es nicht länger verwunderlich, daß der Traumzustand bis zum Stadium der Bewußtseinsleere lustvoll ist. Er verleugnet dadurch nicht seine Herkunft von der Masturbation, die bis zu dem entsprechenden Stadium lustvoll, beim Neurotiker oft die lebhaftesten Unlustgefühle nach sich zieht. Sehr interessant ist es, daß der Patient, wie erwähnt, manchmal den Traumzustand vorzeitig, d. h. vor dem Eintritte der Bewußtseinsleere unterbricht. Das ist gleichsam ein Versuch, sich die Traumzustände abzugewöhnen. Ganz das Gleiche tun Neurotiker

sehr häufig, wenn sie sich von der Masturbation entwöhnen wollen?). Sie sind oft der Meinung, der Samenverlust sei das eigentlich Schädliche

1) „Allgemeines über den hysterischen Anfall“, 1. c. 2) Vgl. hierzu Rohleder, Über Masturbatio interrupta. Zeitschrift für Sexualwissenschaft, 1908.

10 Karl Abraham.

an der Masturbation und begnügen sich daher mit einer vor der Eja- kulation abgebrochenen Masturbation. Sie ‚geben sich dann der be- ruhigenden Vorstellung hin, in Wirklichkeit nicht masturbiert zu haben. Diesem Sophismus kann man bei Nervösen häufig begegnen. Den Verzicht auf die Endlust suchen sie durch sehr ausgiebigen Vorlustgenuß wettzumachen. Der abschließenden Angst freilich vermögen sie nicht zu entgehen. Die zu einer gewissen Höhe angewachsene Sexualerregung, der die Abfuhr versagt wird, verwandelt sich in Angst.

Wenn wir nun in dem Traumzustande die Ersatzbefriedigung für eine aufgegebene Form der Sexualbetätigung erkennen, so sind wir doch noch entfernt von einem vollen Verständnis seiner Eigentüm- lichkeiten. Die Phantasien im ersten und vierten Stadium sind so in- dividueller Natur, daß wir sie nur aus einer genauen Kenntnis des Trieb- lebens des Patienten werden begreifen können.

Bei dem Patienten haben sich in der dem Psychoanalytiker ge- läufigen Art die infantilen Neigungen in solchem Grade auf die ihm am nächsten stehenden Personen fixiert, daß ın der Pubertät die normale Ablösung nicht gelingen konnte. Es handelt sich im vorliegenden Falle um eine ausgesprochen bisexuelle Fixierung. Die heterosexuelle Komponente seiner Libido hat zum Objekt die Mutter. Ihr gegenüber identifiziert er sich mit dem (übrigens verstorbenen) Vater. Mit seiner homosexuellen Komponente hängt er dem Vater an und identifiziert sich ihm gegenüber mit der Mutter. So spielt er in der Neurose bald den Vater, bald die Mutter. Im allgemeinen ist das Verhalten des Patienten als ein äußerst passives zu bezeichnen; er ergibt sich in das Elend seiner Neurose. Auch seine Liebe zum Vater, der eine sehr energische Per- sönlichkeit war, trägt den Charakter der Unterwerfung unter eine unbedingt überlegene Person. Patient bietet die typische Eifersucht des Neurotikers, die sich aus seiner Kindheit erhalten hat. Als Knabe betrachtete er den Vater als seinen Rivalen bei der Mutter, während die Mutter seiner Neigung zum Vater im Wege stand. Daraus ergaben sich feindselige Wünsche, die wie so oft bei neurotischen Kindern in der Phantasie, Vater oder Mutter zu töten, gipfelten. Diese Äußerungen des Sadismus fanden eine intensive Verdrängung. Von der Fortdauer dieser Wünsche im Unbewußten legt eine große Zahl von Träumen, in denen er den Tod des Vaters oder der Mutter erlebt, Zeugnis ab. Dazu kommen häufige Tagesphantasien der gleichen Art sowie plötzliche aggressive Impulse. Die Vorstellung, verbrecherisch zu sein, sowie eine Menge psychischer Zwangserscheinungen beruhen auf jenen verdrängten

Über hysterische Traumzustände. 11

Regungen und auf gewissen Fällen aggressiver Betätigung im Kindes- alter und in der Pubertät.

Die Aggressionsneigungen wurden in weitem Umfange sublimiert. Sie könnten nun Verwendung finden als impulsive Energie und als Neigung zu hochfliegenden Plänen auf anderem als erotischem Gebiet. Aber dieser Wall genügt nicht gegen eine solche Impulsivität der Triebe. Zu ihrer wirklichen Unschädlichmachung müssen sie geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Die gewalttätigen Regungen gegen die Mutter werden ersetzt durch völlige Passivität, durch eine absolute Abhängigkeit von der Mutter, die bei dem längst erwachsenen Pa- tienten fortdauert. Er ist nun gänzlich an sie und an das Haus gefesselt wie ein kleines Kind. Dies ist die wichtigste Quelle der Angst, die ihn hindert, allein das Haus zu verlassen. Man vermißt diese Abhängigkeit von einer bestimmten Person (oder auch von mehreren) in keinem Falle von Straßenangst. Der Versuch, sich allein vom Hause zu entfernen, würde eine dem Patienten verbotene Aktivität in sich begreifen, er würde symbolisch eine Ablösung von der Mutter bedeuten und wie die Analyse ergibt zugleich eine Hinwendung nach der väterlichen (homosexuellen) Seite. Will Patient sich von den heterosexuellen Inzest- phantasien losreißen, so verfällt er den homosexuellen, die wiederum vom Bewußtsein energisch abgewiesen werden. Es findet also eine umfassende Triebunterdrückung statt; ihr entspricht die besondere Heftigkeit der nervösen Angst in unserem Falle.

Der Patient korrigiert nun, wie jeder Neurotiker, die unbefriedi- gende Wirklichkeit mit Hilfe seiner Phantasie. Er macht von diesem Mittel besonders dann Gebrauch, wenn ein äußerer Anlaß ihm vor Augen führt, wie sehr er sich durch seine kindliche Abhängigkeit und durch sein passives Verhalten, namentlich aber durch seinen Hang zur Masturbation von gesunden Altersgenossen unterscheidet. Schon als Knabe litt er unter diesem Empfinden; sein heftiger Wunsch war es, sein zu können ‚wie die andern“. Er quälte sich mit Vorwürfen, daß er sich durch seine Neigungen von den ‚andern‘ entferne, daß er dadurch unfähig werde, mit jenen zu konkurrieren. Besonders peinigte ihn die Befürchtung, den anderen lächerlich oder verächtlich zu erscheinen. Aus diesen Gründen erklärt sich die übermäßige Empfindlichkeit für eine Zurücksetzung gegenüber „andern“. In der Zurücksetzung sah er ein Zeichen dafür, daß man ihn nicht achte. Das mußte alle seine unterdrückte Aktivität in Aufruhr bringen. Seine ursprünglichen Aggressionsneigungen hätten ihn auf eine Zurücksetzung mit einem

12 Karl Abraham.

Gewaltakt antworten lassen. Aber sie wurden ja frühzeitig durch „Reaktionsbildung‘“ unschädlich gemacht und wagten sich nur noch

als geheime Phantasien hervor. Auf eine Beeinträchtigung, die ihm

seiner Meinung nach zuteil geworden war, reagierte er mit sublimierten

Aktivitätswünschen, mit Größenphantasien, deren Erfüllung er in die Zukunft verlegte: ‚wenn ich nur erst einmal erwachsen bin... ..“

Je mehr Patient heranwuchs, um so mehr trat das Gefühl bei ihm hervor, er bleibe ein Kind. Es entging ihm, daß es der stärkste Wunsch seines Unbewußten war, diesen kindlichen Zustand zu erhalten. Sein Bewußtsein reagierte darauf mit der entgegen- gesetzten Tendenz. Jeder Traumzustand diente dem Wunsch, er- wachsen zu sein. Das bedeutete für ihn ein Vielfaches: unabhängig, selbständig, energisch zu sein (wie der Vater), frei von der ihn be- herrschenden Gewohnheit und vor allem fähig zu sexueller Aktivität. Denn die Angst vor Impotenz beherrscht ihn wie jeden Neurotiker, der von der infantilen Sexualbetätigung und von den Objekten der infantilen Sexualphantasie nicht lassen kann.

Mit den Größenphantasien, die wir von der Sublimierung ‚‚sadi- stischer“ Regungen ableiteten, verbindet sich bei dem Patienten regel- mäßig die Vorstellung, sich vor Zuschauern hervorzutun, aller Blicke auf sich zu lenken. Sie erklärt sich aus der Sublimierung verdrängter Exhibitionswünsche. Bei Neurotikern, die einen krankhaft gesteigerten Ehrgeiz aufweisen, konnte ich stets den Nachweis erbringen, daß in diesem Charakterzuge die verdrängten sadistischen und exhibitio- nistischen Wünsche sich gewissermaßen einen gemeinsamen Ausweg suchen. In unserem Falle läßt sich nun feststellen, daß es in der Jugend wirklich zu sadistisch-exhibitionistischen Handlungen gekommen ist, aus denen der Patient schwere Selbstanklagen herleitet. Die immer wieder notwendige Verdrängung dieser Triebe ist eine stetige Quelle der Angst. Er vermag z. B. nicht die Straßenbalin zu benutzen, weil oft plötzlich der Impuls auftaucht, vor den anwesenden Personen zu exhibieren oder auf eine weibliche Person einen sexuellen Angriff zu machen. Ahnliche Impulse treten auch sonst, z. B. in der Unterhaltung mit Frauen auf. Der Sublimierungsprozeß führt nun zu einem par- tiellen oder gänzlichen Verzicht auf das ursprüngliche Ziel des Ex- hibitionstriebes, die Entblößung. Die unerlaubte Exhibition wird durch Phantasien ersetzt, die sich mit einem weit harmloseren Ziel begnügen. Der Patient zieht die Blicke der Menschen auf sich, aber nicht die sexuell begehrenden oder neugierigen, sondern die bewundernden Blicke.

Über hysterische Traumzustände. 13

Wir hatten verschiedenartige Eindrücke kennen gelernt, welche bei dem Patienten zum Auftreten der Traumzustände Anlaß geben. Ihre Wirkung beruht, wie wir nunmehr sagen können, darauf, daß sie Wünsche der sexuellen Aggression oder der Exhibition bei ihm wachrufen, die in sublimierter Form zum Ausdruck gebracht werden, Daß der Anblick weiblicher Personen einen Traumzustand auslösen kann, ist nun leicht verständlich. Wird dem Patienten anderen, tat- kräftigen Menschen gegenüber seine Passivität allzu fühlbar, so korrigiert er die Wirklichkeit, indem er sich mit Hilfe seiner Einbildungskraft zu einem sehr aktiven Manne macht, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Starke Körperbewegung kann zur auslösenden Ursache dadurch werden, daß sie dem Patienten das Gefühl der Aktivität gibt. Das Poltern eines Eisenbahnzuges erregt in ihm den Wunsch nach Kraftentfaltung. Auch die sich nun anschließenden Phantasien gehören ganz in das Gebiet der erwähnten Triebe. Als Simultan-Schachspieler im Caf® von Tisch zu Tisch zu schreiten, das ist allerdings eine be- sonders gute Gelegenheit, sich den Blicken anderer zu exponieren. Das Schachspiel selbst bietet überdies dem Patienten, wie die Analyse ergeben hat, vollauf Gelegenheit zur Betätigung sublimierter Triebe. Daß auf dem Brett zwei Parteien kämpfen, daß man angreift, schlägt, die feindliche Stellung zertrümmert usw., das sind Vorstellungen, die den Patienten seiner eigenen Aussage nach geradezu faszinieren. Er schwelgt in diesen technischen Ausdrücken; er befriedigt in einsamen Schachübungen seinen Aggresionstrieb.

Während die phantasierte Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche, d. h. die Befriedigung sublimierter Triebe mit Gefühlen der Lust verbunden ist, weist das Schlußstadium des Traumzustandes den entgegengesetzten Affekt der Angst auf. Es läßt sich nun dartun, daß auch der Inhalt der Phantasien im Schlußstadium in einem gegensätzlichen Verhältnis zum Inhalt der einleitenden Phan- tasien steht.

Im Beginne des Traumzustandes erhebt sich der Patient aus seiner habituellen Passivität zur Aktivität. Das Schlußstadium leitet: wieder zu dem alten Zustande hinüber. An Stelle der großen Pläne finden wir jetzt Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit. Der Patient, der vorhin voller Kraftgefühl war und in Sturmschritt verfiel, fühlt sich jetzt schwach und in seinen Bewegungen gehemmt. Er glaubt, nicht mehr vorwärts kommen zu können eine treffende, symbolische Charakteristik seiner tatsächlichen Situation. Er wird wieder zum

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kleinen Kinde, das ja nicht allein laufen kannt). Die unbewußte Ten- denz, die den infantilen Zustand aufrecht erhalten will, hat den Sieg davongetragen. Darum kommt Patient sich so winzig vor, erscheinen ihm Menschen und Dinge so groß?). Wie ein Kind, das noch nicht laufen gelernt hat, möchte er auf allen Vieren kriechen, nach Hause zur Mutter. Wollte er vor wenigen Augenblicken noch aller Blicke auf sich lenken, so möchte er jetzt verschwinden, in den Boden sinken, um nur nicht gesehen zu werden.

Das sehr intensive Gefühl der Schwäche im vierten Stadium ist mehrfach determiniert. Es bedeutet zunächst die befürchtete sexuelle Schwäche. Nahm Patient im Beginne des Traumzustandes einen Anlauf zur kraftvollen Aktivität, so fällt er nun wieder in die Passivität zurück; es fehlt ihm die männliche Kraft. Das Gefühl, vor Schwäche nicht stehen zu können, enthält einen symbolischen Hinweis auf die Im- potenz. Eine weitere Determinierung für diese Hinfälligkeit geben die Todesphantasien, die ja niemals fehlen, wenn Aggressionspläne gegen Angehörige unterdrückt werden mußten. Diese Todesphantasien des Schlußstadiums stehen in einem beachtenswerten Gegensatze zu der energischen Vitalität im einleitenden Stadium.

Aggressionstrieb und Exhibitionstrieb sind nun wieder der Unter- drückung verfallen. Aus dem zurückbleibenden Zustand der Depression sucht Patient sich, wie erwähnt wurde, durch Rauchen einer Zigarre zu befreien. Es ist aber nicht so sehr die Nikotinwirkung, der die De- pression allmählich weicht. Vielmehr hat auch das Rauchen für den Patienten die Bedeutung einer Ersatzbefriedigung. Es ist ein Zeichen der Männlichkeit, die er entbehrt?). Das Rauchen ist ihm ein Trost in dieser Situation.

Die vasomotorischen und parästhetischen Begleiterscheinungen erfordern ein gesondertes Eingehen. Das von diesem Patienten (und wie sich zeigen wird, auch von anderen) beschriebene Hitzegefühl gehört zu den normalen Begleiterscheinungen der Dexualerregung; es wurde

‘) Auf die anderweitigen Determinierungen des „Gleitens“ und „Fallens‘ will ich hier nicht eingehen.

?) Dies die wichtigste Ursache des als „Makropsie“

Ich habe es in ganz gleicher Weise in d beobachtet.

®) Ich gehe der Kürze halber au (Betätigung der Mundzone;

beschriebenen Symptoms. en Angstanfällen einer Patientin

f die anderen Determinationen des Rauchens Identifikation mit dem Vater) nicht näher ein.

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aus dem masturbatorischen Akt in den Traumzustand übernommen. Es ist bemerkenswert, daß Patient auch sehr leicht errötet; sobald er unter Menschen kommt, tritt seine außerordentlich erregbare Sexual- phantasie in Tätigkeit und äußert sich im Körperlichen durch die Hitze- welle. Es kann uns nicht verwundern, daß diese kongestive Blutwelle auch die Aktivitätsphantasien des Patienten begleitet; denn letztere vertreten ja nur unbewußte Sexualphantasien.

Schon während der phantastischen Exaltation nimmt der Patient neben der aufsteigenden Hitze eine „Unterströmung“ von Kälte und Angst wahr. Im abschließenden Stadium der Angst ist das Kältegefühl vorherrschend. Im allgemeinen also tritt das Hitzegefühl auf, wenn Patient sich zur sexuellen Aktivität aufschwingen möchte, während das Kältegefühl erscheint, wenn mit der Umwandlung der Triebregungen in Angst die Verdrängungstendenz wieder die Oberhand gewinnt. Das Blut wird nun nicht mehr mit der vorherigen Heftigkeit nach der Peri- pherie getrieben. Das nun einsetzende Kältegefühl ist jedoch noch anderweitig determiniert. Patient fühlt, wie ihm Körperteile ab- sterben; er glaubt, im nächsten Augenblick zusammenzubrechen, hinzuschwinden. Es kommt also im vierten Stadium zu einem symbolischen Sterben, welches u. a. in dem Kältegefühl seinen Aus- druck findet. Die weiter fortgesetzte Analyse ergibt dann, daß auch dieses Sterben eine doppelte Bedeutung hat. Es erhält einen besonderen Sinn durch die vom Patienten befürchtete Impotenz; die eigentliche Lebenskraft fehlt ihm.

Dient das erste Stadium des Traumzustandes den Phantasien von der kraftvollen Männlichkeit, so weist das letzte Stadium eine Ver- dichtung zweier Vorstellungsreihen auf, welche den Männlichkeits- phantasien entgegengesetzt sind: 1. ein Kind bleiben und 2. sterben. Der erwachsene Mann mit seiner energischen Vitalität steht in der Mitte zwischen Kindheit und Tod.

Die Traumzustände dieses Patienten gewähren uns Einblicke in den Kampf zwischen Trieb und Verdrängung, wie er sich in jeder Neurose abspielt. Verdrängte Triebe von ursprünglich abnormer Stärke ringen sich vom Unbewußten los, um rasch den verdrängenden Mächten wieder zu liegen. Jeder solche Zustand dieses Patienten stellt eine Revolution gegen die Neurose dar, freilich eine stets vergebliche. Schon der nächste Fall wird aber zeigen, daß die Traumzustände nicht bei allen Patienten die nämliche Tendenz haben. |

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Beobachtung C.

Die Traumzustände entstehen bei der Patientin C ebenfalls, wenn sie sich durch eine aktuelle Situation, der sie nicht entgehen kann, gequält, deprimiert, erniedrigt fühlt. Ein Gespräch mit peinlichem Inhalt gibt den Anlaß, oder ein körperliches Übelbefinden. In dieser Beziehung kommt besonders der Menstruation die Rolle des aus- lösenden Anlasses zu. Die Patientin äußert: „Während der Periode geht mir jede Realität verloren.“ Ganz wie bei dem vorigen Patienten, findet auch hier im Traumzustand eine Isolierung von der Außen- welt statt. Man könnte nun nach Analogie jenes Falles erwarten, der Traumzustand entführe die Patientin der quälenden Wirklichkeit, Das Gegenteil trifft zu. Tatsächlich versetzt Patientin sich durch ihre Phantasien in einen Zustand noch größeren Leidens, in absolute Passivität, und zieht daraus masochistischen Lustgewinn. Aus Ihrer Kindheit ließen sich interessante Details über wirkliche masochistische Betätigung mitteilen. Aber auch jetzt ist diese Triebrichtung deutlich erkennbar. Die Patientin versteht es nämlich, ganz wie ich es auch bei verschiedenen anderen Patienten sah, den Traumzustand auch willkürlich herbeizuführen. „Manchmal verlockt mich etwas, den Traumzustand herbeizuführen“. Sie rezitiert zu diesem Zwecke aus dem Gedächtnis eine Stelle aus Hebbels ‚Maria Magdalena“ (III. Akt, 2. Szene). Es sind folgende Worte der Klara:

„Ich will dir dienen, ich will für dich arbeiten, und zu essen sollst du mir nichts geben, ich will mich selbst ernähren, ich will bei Nachtzeit nähen und spinnen für andere Leute, ich will hungern, wenn ich nichts zu tun habe, ich will lieber in meinen eigenen Arm hineinbeißen, als zu meinem Vater gehen, damit er nichts merkt. Wenn du mich schlägst, weil dein Hund nicht bei der Hand ist oder weil du ihn abgeschafft hast, so will ich eher meine Zunge verschlucken, als ein Geschrei ausstoßen, das den Nachbarn verraten könnte, was vorfällt. Ich kann nicht ver- sprechen, daß meine Haut die Striemen deiner Geißel nicht zeigen soll, denn das hängt nicht von mir ab, aber ich will lügen, ich will sagen, daß ich mit dem Kopf gegen den Schrank gefahren oder daß ich auf dem Estrich, weil er zu glatt war, ausgeglitten bin, ich wills tun, bevor noch einer fragen kann, woher die blauen Flecke rühren. Heirate mich ich lebe nicht lange. Und wenn’s dir doch zu lange dauert und du die Kosten der Scheidung nicht aufwenden magst, um von mir loszu- kommen, so kauf’ Gift aus der Apotheke, und stell’s hin, als ob’s für

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deine Ratten wäre, ich will’s, ohne daß du auch nur zu winken brauchst, nehmen und im Sterben zu den Nachbarn sagen, ich hätt’s für zer- stoßenen Zucker gehalten!“

Die Patientin gerät, wenn sie diese typisch masochistischen Vor- stellungen in sich eingesogen hat, in einen Zustand traumhafter Ent- rückung. Sie empfindet als lustvoll einerseits die masochistische Unter- werfung der Klara, mit welcher sie sich identifiziert, andrerseits ihre eigene Isolierung von der Welt. Sie betont mit großem Nachdruck das Lustvolle dieser Abgeschiedenheit; in ihren Träumen durchlebt sie ähnliche Situationen. Die Welt ist ihr fern, der eigene Körper erscheint ihr verändert, die eigene Stimme fremd. ‚Der Mensch, der da spricht, ist mir ganz fremd.“ Um die Qual noch zu erhöhen, nehmen alle Dinge bizarre, verzerrte Formen an, so daß sie an Zeichnungen von Kubin erinnern. „Alles ist grausamer, schwärzer als in Wirklichkeit.‘“ Diese masochistischen Phantasien gipfeln in Vorstellungen vom Tode, in der Idee, zum Fenster hinausspringen zu müssen usw. Nach Überschreitung des Höhepunktes setzt heftige Angst ein. Dazu gesellen sich angstvolle Vorstellungen, die entsprechend der momentanen Lage variieren. Macht Patientin z. B. auf der Straße den Zustand durch, so hat sie das Gefühl, sie müsse fallen, sie könne nicht allein nach Hause gelangen, müsse irgend einen beliebigen Mann ansprechen. „Fallen“ und ‚einen Mann ansprechen‘ sind doppelsinnige Ausdrücke. Sie charakterisieren nicht nur den Zustand der Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit, sondern sie deuten auf die bei hysterischen Frauen so häufigen, aber streng geheim gehaltenen Prostitutionsphantasien hin!). Patientin empfindet den Trieb, sich dem ersten besten Manne hinzugeben und hat dies zu Zeiten, in denen Zustände wie die geschilderten häufig auftraten, wirklich getan. Die Prostitutionsgelüste erscheinen hier nur als eine spezielle Form des Masochismus; sie begreifen für die Patientin, die im allgemeinen selbst- bewußt, ja herrschsüchtig ist, die tiefste Erniedrigung in sich.

Bei dieser Patientin lernen wir auch das Vorkommen sehr pro- trahierter Traumzustände kennen, wie ihrer Löwenfeld ebenfalls Erwähnung tut. Bei manchen Neurotikern dauert das Gefühl, in einem Traum befangen zu sein, mitsamt den Zweifeln an der Realität der Um- gebung durch Monate und noch darüber. Patientin litt sehr lange unter dem Eindruck, alles um sie sei nur ein Schauspiel, sie selbst sei körperlich tot, sei nur ein geistiges Wesen, das die wirkliche Welt beobachte,

1) Diese kommen bei der Patientin in häufigen Träumen zum deutlichsten Ausdruck, desgleichen in verräterischen Symptomhandlungen. Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 2

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ohne mit ihr irgend etwas gemein zu haben. Sie erklärt, dieser lang- dauernde Zustand sei eigentlich eine Qual gewesen, aber eben dadurch habe er ihr den Zugang zu Dingen verschafft, die ıhr sonst verschlossen geblieben wären. Diese Zustände gestatteten es der Patientin, sich aus der Welt, die ihre Wünsche unbefriedigt ließ, ın eine Traumwelt zu

flüchten. Beobachtung D.

Der noch jugendliche Patient D leidet seit seiner Kindheit an einer schweren Hysterie, die ihn fast völlig unsozial macht. Er spricht z. B. mit anderen Menschen kaum das Nötigste und vermeidet es, in Gegenwart Fremder zu essen, weil er bei jeder solchen Gelegenheit schwere Angst ausstehen muß. Schon durch seine Art zu leben schließt er sich also gegen die Außenwelt ab. Dieser Tendenz dienen auch seine Traumzustände.

Das Sonderlingsleben eines so jungen Mannes ist motiviert durch eine ganz ausnahmsweise starke Fixierung der Libido auf die nächsten Angehörigen. Patient ist außerordentlich fest an den engen Kreis dieser Personen gebunden; jedes Hinaustreten aus diesem erregt Angst. Geht er aus dem Hause, will er Fremden einen Besuch machen, will er mit einem Vorgesetzten sprechen, stets tritt Angst ein. Die ungewöhnlich starke Sexualphantasie des Kranken hängt an seiner Familie, und zwar sind nicht nur seine heterosexuellen Wünsche auf Mutter und Schwester fixiert, sondern in ganz besonderem Grade beschäftigt er sich in homo- sexuell-masochistischem Sinne mit der Person seines Vaters. Nähert sich Patient nun irgend einem fremden Menschen, so beschäftigt sich seine Sexualphantasie sofort mit diesem. Der Versuch einer ‚‚Über- tragung‘ erfährt aber ebenso rasch eine Unterdrückung. Patient wollte einen Augenblick lang aus dem engen Kreise heraustreten, aber die Fixierung seiner Libido auf die Angehörigen ist zu stark, und so folgt jedem Versuche, den er in dieser Richtung unternimmt, die Angst auf dem Fuße.

Die erwähnten sexuellen Phantasien bildeten für den Patienten stets die Einleitung zur Masturbation. Er betreibt nun die Masturbation in einer raffinierten Weise, indem er nie brüske Manipulationen an- wendet, sondern im Gegenteil ganz leichte, dafür aber lange fortgesetzte Reize appliziert (leichtes Zusammenpressen der Schenkel, Mani- pulationen durch die Kleider hindurch). Unter diesen körperlichen Reizen und den sie begleitenden Phantasien tritt nun die traumhafte Entrückung ein. Es kommt beim Patienten nie zur Ejakulation, dagegen

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zu einem sehr ausgeprägten Stadium der Bewußtseinsleere. Wir sehen in diesem Falle die Traumzustände noch in ihrer direkten und ursprüng- lichen Verknüpfung mit der Masturbation. Doch treten sie auch ganz spontan auf, und zwar namentlich in Anwesenheit des Vaters des Patien- ten. Dann regen sich eben jene Phantasien, denen Patient in der Ein- samkeit nachhängt. Sie leiten jetzt den Traumzustand wie sonst die Masturbation ein.

Jahrelang hat Patient diese für ihn in hohem Grade lustvollen Zu- stände während des Schulunterrichtes genossen. Er war, wie seine Lehrer bemerkten, ohne Teilnahme für den Unterricht und meist wie geistes- abwesend. Ihn beherrschten eben Phantasien, die vom Unterrichte weit abseits lagen. Wurde er nun durch eine Frage des Lehrers aus seinem Dämmern aufgescheucht, so trat heftige Angst ein. Im Laufe der Jahre hat sich in dieser Hinsicht bei ihm nichts geändert. Der Traumzustand dient ihm auch jetzt dazu, sich in völliger Einsamkeit abzuschließen. Er ist ganz in sich gekehrt und es fällt ihm schwer, sich auf irgend etwas, das außerhalb des Kreises seiner Phantasien liegt, zu kon- zentrieren. Befindet der Patient sich in einer ihm unerwünschten Situation, so ruft er nicht selten den Traumzustand willkürlich durch ein einfaches Mittel hervor, das den Abschluß gegen äußere Eindrücke in deutlichster Weise symbolisiert: er schließt die Augen. Während der psychoanalytischen Sitzungen schloß er die Augen stets, wenn wir auf ein Gebiet kamen, über das er nicht zu reden wünschte. Dann war es unmöglich, auch nur ein Wort aus dem Patienten herauszubringen, der wie erstarrt und geistesabwesend dasaß. Als ich ihm erklärte, die Traumzustände erforderten ein genaues psychoanalytisches Eingehen, trat sofort ein Traumzustand ein, der natürlich ein solches Eingehen zunächst unmöglich machte. Übrigens ist Patient auch imstande, den Traumzustand selbst zu unterbrechen. Er tut dies durch einen plötz- lichen Ruck des Kopfes. | Eine besondere Verwendung findet der Traumzustand noch, wenn Patient unter einem eigentümlichen, psychisch bedingten Schmerz zu leiden hat. Er ruft dann durch sexuell erregende Manipulationen den Traumzustand hervor. Der Schmerz verwandelt sich dann ganz allmählich in ein Lustgefühl.

Beobachtung E.

Auch bei dem Patienten E begegnen wir einer überaus starken infantilen Sexualübertragung auf beide Eltern und vermissen nicht

IF

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die stets zugehörigen, vom Bewußtsein streng abgelehnten Todeswünsche. Diese letzteren waren besonders auf die Mutter gerichtet, durch den Vorgang der Reaktionsbildung aber in eine übergroße Anhänglichkeit von durchaus kindlichem Charakter verwandelt. Dem längst erwachsenen Manne kommt es noch jetzt sonderbar vor, daß er erwachsen ist; er hat das Gefühl, eigentlich noch ein Kind zu sein. Es ıst sehr bemerkens- wert, daß der Tod der Mutter bei diesem Patienten den ersten Traum- zustand auslöste, welcher einen sehr protrahierten Verlauf nahm. Patient hatte viele Monate hindurch beständig das Gefühl, im Traum umher zu gehen; nur die Intensität dieses Gefühles bot große Schwankungen. Ganz spontan äußert Patient: „Ich kann mir die Realität nicht vorstellen, wenn ich nicht Seite an Seite mit ihr (der Mutter) bin.“ An die Stelle der verdrängten Phantasien, die sich einst gegen das Leben der Mutter gerichtet hatten, ist also im Bewußtsein die Vorstellung getreten, das eigene Leben des Patienten hänge vom Leben der Mutter ab, und höre auf, wenn das ihrige aufhöre. Die Todesphan- tasien haben sich gegen den Patienten selbst gekehrt. Er äußert weiter wörtlich: „Hand in Hand damit geht die Vorstellung vom Un- wert alles Vorhandenen‘“. Mit dem Tode der Mutter hat die Welt auf- gehört, für den Patienten Wert zu haben! Seine Libido zieht sich zeit- weise von den Dingen zurück. Nun erscheint ıhm, ganz wie wir es bei den anderen Kranken sahen, alles fremd, als hätte er es nie gesehen. Die Menschen, mit denen er spricht, scheinen ihm gar nicht wirklich zu existieren. Alle früheren Erlebnisse d. h. diejenigen, welche sich zu Lebzeiten seiner Mutter zugetragen haben sind weit von ihm abgerückt: ‚Rückwärts hat alles etwas Traumhaftes, als wäre es un- endlich lange her.“

Der geschilderte Zustand herrscht auch jetzt öfter, ohne daß sein Kommen und Gehen dem Patienten besonders auffällt. Patient ist auch im allgemeinen imstande, die in seinem Berufe notwendige, sehr intensive geistige Arbeit zu leisten. In den letzten Jahren sind nun Traumzustände von kurzer Dauer und akutem Verlaufe hinzugetreten. Sie haben eine sehr eigenartige Eintstehungsgeschichte.

Patient leidet an periodischen Kopfschmerzen von quälendster Heftigkeit, über deren Ursprung später einiges erwähnt werden soll. Vor ungefähr 3 Jahren entschloß er sich, die Hilfe eines Nervenarztes in Anspruch zu nehmen, der sich speziell mit hypnotischer Therapie beschäftigte. Da eine Reihe von Versuchen nicht zu einer Hypnose führte, gab Patient die Behandlung auf, versuchte nun aber selbst, sich in einen

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von dem gewöhnlichen abweichenden Bewußtseinszustand zu versetzen, in der Hoffnung, dadurch den Kopfschmerz zu verlieren. Es gelang ihm eine Anzahl von Malen, einen solchen höchst lustvollen Zustand hervorzurufen, den er selbst als eine ‚„Autohypnose“ auffaßt. Der Kopf- schmerz wurde freilich dadurch nicht beeinflußt.

Patient hat den Wunsch, hypnotisiert zu werden, auch mir wieder- holt und auffallend eindringlich geäußert. Die Unterordnung unter den Willen eines andern liegt in der Richtung seines Masochismus. Er spricht es selber aus, daß sein höchstes Ideal sei, sich völlig passiv verhalten zu können, daß er es als eine Qual empfinde, im Leben alle seine Energie anstrengen zu müssen. Seine Sexualität bietet unverkennbare maso- chistische Züge in Menge. Lange Zeit masturbierte er unter maso- chistischen Phantasien, bis er sich unter schweren Kämpfen halbwegs von der Masturbation befreite. Ein für das Verständnis der Traum- zustände ausschlaggebendes Symptom der sexuellen Passivität ist aber seine psychische Impotenz. Sie ist bei dem Patienten in der gleichen Zeit entstanden, als er die Traumzustände hervorrief. Patient hat sıch übrigens, wie er spontan erklärt, schon früher gewünscht, sexuell passiv sein zu können. Er möchte sich der sexuellen Lust passiv hin- geben können wie ein Weib.

Der Traumzustand bringt die Erfüllung dieser Ideale unter hoher Lust. Dem Wunsche nach dem Ende aller Aktivität entspricht es, daß Patient sich, um den Zustand herbeizuführen, mit aller Gewalt darauf konzentriert, nichts zu denken. Sein Leben dient im allgemeinen der angestrengten Denkarbeit; er wünscht das Gegenteil dieses Zustandes herbei. Wir sahen bereits bei den anderen Patienten auf der Höhe des Traumzustandes eine ‚@Gedankenleere‘‘ eintreten. Im vorliegenden Falle finden wir ein ganz bewußtes Tendieren nach diesem Stadium, daß ja dem Moment der höchsten Lust entspricht.

Hören wir nun die eigene Beschreibung, die der Patient unter den Zeichen eines starken Affektes spontan gegeben hat; sie ist uns nach dem Gesagten ohne weiteres verständlich. ‚Zuerst ist es eine An- strengung, wie beim sexuellen Verkehr; wenn ich es jetzt machen wollte, ich müßte mich hinlegen und müßte arbeiten. Es ist die strengste Kon- zentration darauf, nichts zu denken. Ich schließe die Augen. Nichts von der Außenwelt darf zu mir dringen. Dann kommt das kurze Stadium der Wonne, der vollständig umgekehrten Lebensgefühle, die größte physische Veränderung, die ich kenne. Ich glaube, ich kann die Worte nicht extrem genug gebrauchen. Das kurze Stadium der Lust ist doch

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wie eine Unendlichkeit.‘ Auf dem Höhepunkte des Erregungsvor-. ganges als einen solchen müssen wir ihn bezeichnen ist das Denken unterbrochen.

Der Patient vervollständigt seine Schilderung wie folgt: „Man hat die Idee im Leben, als wenn alles vorwärts drängt; ich meine z. B. den Blutkreislauf. Mit einem Schlage ist alles anders; nun ebbt alles zurück, als wenn es nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts ginge. Es ist, als wenn ein Zauber in Kraft getreten wäre. Während sonst alles aus dem Körper hinaus will, wird es nun in den Körper zurück- getrieben. Ich strahle nicht aus, sondern ich ziehe ein.‘ Dann, nach einer kleinen Pause fortfahrend: ‚Es liegt darüber eine absolute, har- monische Ruhe, eine wohltuende Passivität, im Gegensatze zu meinem wirklichen Leben. Die Wogen strömen über mich hin. Es wird etwas mit mir gemacht. Wenn der Zustand nicht aufhörte, würde ich mich bis ans Ende der Tage nicht bewegen.“

Diese Traumzustände dienen dem Patienten dazu, in seiner Phan- tasie uneingeschränkte Lust aus sexueller Passivität zu gewinnen. Er möchte ein Weib sein; im Traumzustand erlebt er die Erfüllung dieses Wunsches. Er hat vollkommen recht, wenn er von der ‚denkbar größten, physischen Veränderung“ spricht. Eine eingreifendere Ver- änderung als die Verwandlung in ein Wesen des andern Geschlechtes kann ja nicht erdacht werden. Für den Patienten bedeutet sie nicht nur eine Veränderung seines Geschlechtes, sondern eine Umkehrung seiner gesamten Lebensführung.

Der Wunsch, Weib zu sein, weist uns auf die homosexuelle Trieb- komponente bei dem Patienten hin. Da wir von der intensiven Über- tragung der infantilen Libido auf den Vater bereits erfahren haben, so wird die Annahme nahegelegt, der Patient identifiziere sich, wenn er ein Weib sein will, mit seiner Mutter, um beim Vater ihren Platz einzunehmen. Diese Annahme wird gesichert durch die Ätiologie des schon erwähnten Kopfschmerzes, der in erster Linie der Identifizierung des Patienten mit seiner Mutter dient. Die Mutter litt schon in der Kindheit des Patienten an Anfällen von Kopfschmerz, welchen die seinigen auffallend gleichen. Der Kopfschmerz der Mutter kam stets mit der Periode; sie war gleichzeitig einige Tage lang sehr empfindlich gegen jeden Reiz und mußte sich vollkommen schonen. Auch bei dem Patienten wiederholte sıch der Kopfschmerz jahrelang in vierwöchentlichen Intervallen und dauerte jeweilendrei bis vier Tage. Patient ist während des Kopfschmerzes äußerst empfindlich

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gegen jeden Reiz, muß die Arbeit aussetzen und einen bis zwei Tage im Bette zubringen. Patient identifiziert sich also durch den Kopfschmerz mit seiner Mutter. Daß er eine dunkle Ahnung von diesem Zusammen- hange hatte, geht daraus hervor, daß er in der ersten Zeit der Behandlung einmal scherzend sagte: ‚Ich habe augenblicklich meine Periode.‘

Kopfschmerzanfälle und Traumzustände dienen bei dem Patienten der Metamorphose zum Weibe. Die vierwöchentliche Periode und die sexuelle Passivität sind zwei hervorragend wichtige Züge im Geschlechts- leben des Weibes. Patient handelte aus einem ganz richtigen Instinkt heraus, als er den Kopfschmerz durch den Traumzustand zu vertreiben, oder wie wir jetzt richtiger sagen werden zu ersetzen suchte. Denn beide dienen ja dem gleichen Ziele, der sexuellen Passivität. Wäre ıhm sein Plan gelungen, so hätte er eine unlustvolle Krankheits- erscheinung durch eine gleichsinnige lustbetonte ersetzt gehabt. Daß seine Erwartung enttäuscht wurde, vermögen wir freilich auch zu erklären. Der Kopfschmerz beruht eben nicht nur auf dem einen er- wähnten Motiv, sondern er steht noch im Dienste anderer verdrängter Wünsche, die durch den Traumzustand keinen adäquaten Ausdruck gefunden hätten. Der Traumzustand konnte daher nur neben den Kopfschmerz, nicht aber an seine Stelle treten,

Die beabsichtigte Unlustverhütung ist dem Patienten mißlungen; aber er hat eine neue Lustquelle gewonnen. Vermag der Traumzustand den Patienten auch nicht von seinem Schmerze zu befreien, so ent- schädigt er ihn doch durch eine Lust, die ihn den ausgestandenen Schmerz verwinden läßt.

Beobachtung F. Übergänge zwischen Tagträumereien und eigentlichen Traumzuständen.

Ich schließe hier ein Fragment einer weiteren Psychoanalyse an; dieser Fall weist keine ausgesprochenen Traumzustände im Sinne der bisher beschriebenen auf, macht uns aber mit einer Art Vorstufe zu diesen bekannt. Er demonstriert in besonders einleuchtender Weise die Abkunft der Traumzustände von den Wachträumen und überdies die nahe Verwandtschaft zwischen den neurotischen Traumzuständen und den nächtlichen Träumen.

Der Patient F wird von gewissen, häufig wiederkehrenden Phan- tasien in so hohem Grade beherrscht, daß er sie als seine ‚„Zwangs- vorstellungen““ bezeichnet. Namentlich Lektüre gibt ihm die An- regung zu seinen Träumereien. Er identifiziert sich sofort mit dem Helden der Erzählung. ‚Wenn ich einen Liebesroman lese, glaube ich

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der Held zu sein, den die Frauen umschwärmen.“ In Wirklichkeit ist die geschlechtliche Aktivität des Patienten sehr reduziert. Neben den erotischen Träumereien beschäftigen den Patienten Größen- phantasien. Hat er von gewissen historischen Persönlichkeiten gelesen, so kommt die Vorstellung, er sei der Held. Er durchlebt dann in der Phantasie die Rolle seines Helden. ‚Ich lese z. B. gern von Napoleon. Den Jubel, den er hörte, empfinde ich auch.‘ Ja, Patient braucht nur an Jubel, Ruhm und Beifall zu denken, so überläuft ihn ein Schauern. Auch Musik (z. B. Militärmusik) wirkt begeisternd auf ihn und ruft ein „‚Schauern“ hervor. In dem Wachtraum, der durch solche erregenden Anlässe ausgelöst wird, erlebt der Patient, der von Beruf Kaufmann ist, wie er ein bedeutender oder reicher Mann wird ‚‚etwa ein Fabrikant wie Krupp“. Er malt sich dann aus, wie er gegen seine Än- gestellten rücksichtslos vorgehen, ihnen seinen Willen aufzwingen würde. (Napoleon!) Es wird ihm schwer, sich von diesen Vorstellungen frei zu machen. „Wenn ich die Zwangsvorstellungen {= Tagträume) habe, rezitiere ich ein Gedicht, um mich abzulenken, meist die ‚Lorelei‘, ‚Heil dir im Siegerkranz‘ oder ein anderes Gedicht aus meiner Schulzeit.‘“ Er muß das Aufsagen solcher Gedichte aber oft wiederholen, ehe er die Wirkung erzielt.

Im Mittelpunkte der Phantasiegebilde des Patienten steht ent- weder ein Sexualheld oder ein rücksichtsloser Despot oder Kriegsheld. Man errät unschwer, daß Patient in diesen Wachträumen diejenigen Wünsche zu befriedigen sucht, die aus der „Verschränkung‘“ des Sexual- triebes mit dem Aggressionstrieb hervorgehen, also seine „sadistischen“ Regungen.

Patient hat im allgemeinen das Gefühl, als erwecke er nicht den Eindruck der Männlichkeit, als behandle man ihn wie ein Kind. Dieses Gefühl beruht auf der Unterdrückung seines Sadismus. In seinen Träumereien wird er zum energischen, despotischen Manne, um sich hernach wieder in das abhängige, schwache ‚‚Kind“ zurück zu verwandeln. Die Gedichte aus der Schulzeit sind geeignet, die Phantäsien zu unterbrechen, weil Patient sich durch sie in die Kind- heit zurückversetzt fühlt. Die inhaltliche Ähnlichkeit der Phantasien dieses Patienten mit denjenigen des ausführlich beschriebenen Falles B fällt sofort auf. Die Ähnlichkeit erstreckt sich übrigens noch auf ein besonderes Symptom. Bei dem Patienten B konstatierten wir eine

auffällige Neigung zum Erröten. Patient F leidet an Erröten und aus- gesprochener Erythrophobie.

Über hysterische Traumzustände. 29

Es handelt sich in diesem Falle nicht um Traumzustände von dem früher geschilderten Charakter, denn es fehlt die Entrückung, die Be- wußtseinsleere und die nachfolgende Angst. Auch der Verlauf ist ein anderer. Aber es handelt sich um sehr intensive, über das Gewöhn- liche hinausgehende Tagträumereien, die mit dem Traumzustande (sensu strietiori) einen wichtigen Zug gemeinsam haben. Der Patient verliert während des Phantasierens die Herrschaft über seine Gedanken; er kann sie nicht ohne weiteres nach seinem Belieben unterbrechen. Er mußte, ganz wie wir es bei anderen Patienten sahen, ein Mittel erfinden, um die Träumereien unterbrechen zu können, und muß von diesem einen ausgiebigen Gebrauch machen, bevor es wirkt. Besonders ist noch zu erwähnen die große visuelle Lebhaftigkeit der Tagträumereien in diesem Falle; sie wird noch eine genauere Besprechung finden.

Der gleiche Fall zeigt nun außerdem sehr schön, daß die Tages- phantasien auch die Vorstufe der nächtlichen Träume bilden. Der Patient berichtet über einige Träume, die seit seiner Kindheit öfter wiederkehren. In einem dieser Träume wird er im Bett von einem bärtigen Manne überfallen. Dieser sticht mit einem Dolche auf ihn ein. Er selbst liegt ruhig da, als wären ihm die Hände gelähmt. Er erwacht aus dem Traum mit großer Angst. Noch häufiger wird Patient im Traum von einem Löwen verfolgt. In großer Angst schlüpft er schließlich durch einen Mauerspalt, durch welchen der Löwe ihm nicht folgen kannt). Der Mann mit dem (symbolischen) Dolch ist der Vater, dessen ‚Über- fall“ auf die Mutter der Patient als kleiner Knabe beobachtet hat. Der Traum verrät den verdrängten Wunsch des Patienten, beim Vater die Stelle der Mutter einzunehmen. Auch der Traum vom Löwen gehört diesem Komplexe an.

Forderte ich diesen Patienten, der nur kurze Zeit in meiner Be- handlung stand, auf, in der zur Analyse notwendigen Weise mitzuteilen, was ihm einfiele, so schloß er gewöhnlich die Augen und berichtete über Bilder, die vor seinen Augen erschienen. Zu dem Traume vom Erdolcht- werden ließ er sich folgendermaßen vernehmen?): ‚Ich sehe, wie ein Mann von einem andern gestochen wird. Der eine liegt auf dem Diwan, der andere kniet auf ihm und sticht zu, in die Brust. Der Liegende hält

!) Ähnliche perennierende Träume berichtet auch Patient B, Die Analyse solcher Träume habe ich aber der Darstellung des Falles B nicht eingereiht, um die Übersicht nicht zu erschweren.

2) Die oben gegebene Deutung des Traumes war dem Patienten unbekannt, als er seine Visionen mitteilte.

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mit der linken Hand die rechte des Gegners fest. Der Knieende mag etwa 30 Jahre alt sein, er sieht sehr wild aus, hat einen dunkeln Bart. Der Liegende ist vornehm, wie von altem Adel, er hat ein Seidenwams mit Spitzenkragen.“

Daß diese Bilder den erwähnten perennierenden Träumen inhaltlich gleichen, ist ohne weiteres ersichtlich. Der Liegende ist Patient selber; er liest übrigens während der Vision auf dem Diwan in meinem Sprech- zimmer. Sehr zu beachten ist die Form der Darstellung durch das Passivum: ein Mann wird von einem andern gestochen. Patient selbst ist das Subjekt. Der Vater war zur Zeit, als Patient das Schlafzimmer der Eltern teilte, ungefähr 30 Jahre alt und trug einen Bart. Daß Patient den Liegenden als Adeligen vornehm ausstattet, wird aus den typischen Abkunftsphantasien!) verständlich, die beim neurotischen Kinde mit großer Lebhaftigkeit auftreten. Das Seidenwams mit Spitzenkragen hat er einem über dem Diwan hängenden Bilde entnommen (der „lachende Kavalier‘“ von Frans Hals); er hatte es eifrig betrachtet, bevor er die Augen schloß, weil es den infantilen Vornehmheitskomplex traf. Als er es jetzt nochmals betrachtet, bemerkt er, die Kleidung erinnere an ein vornehmes Frauenkleid. Das Bild hatte also noch einen weiteren Komplex den homosexuellen berührt.

Einen Tag später produzierte Patient, wiederum auf dem Diwan liegend, noch folgende Visionen:

„Ein Zentaur jetzt kommt ein kleines Kind... ein kleiner Zentaur hinzu.‘ (Vater und Patient selbst. Zu beachten die sexuelle Symbolik im Vergleiche mit dem wilden Zentauren oder dem Hengst!)

„Ein Wettrennen... wie die Reiter die Hürde nehmen.“ (Die Rivalität mit dem Vater. Patient hat überhaupt den Charakterzug, den Patient B bei sich selbst als ‚, Wetteifergefühl‘“ bezeichnet.)

„Bin gestürztes Pferd vor einem Wagen.“ (Patient gibt an, auf dem ‚Wege zu mir ein gestürztes Pferd gesehen zu haben. Die tiefere Begründung dieses Bildes liegt in den typischen Phantasien vom Tode des Vaters?.)

um 2 dt yo Schrift „Traum und Mythus‘ (Seite 40) sowie Rank, ‚Der ythus von der Geburt des Helden“, beide in ‚‚Schrifte See kunde“, Wien, F. Deuticke., ei;

An: . . 5 ) Die gleiche Phantasie vom gestürzten Pferde habe ich kürzlich wieder nem andern Falle gefunden. Ihre Analyse bei einem Knaben findet man in

Freuds ‚Analyse der P Fo Bas 7, 22% buches. i er Ehobie eines fünfjährigen Knaben“ in Band I dieses Jahr-

Über hysterische Traumzustände. 27

„Der Mann mit dem Helm, das Bild von Rembrandt.‘“ (Dieses Bild hängt nicht in meinem Zimmer; es ist aber ein Lieblingsbild des Patienten. Der Vater des Patienten war eine große, kraftvolle Er- scheinung; er hatte zwei Kriege als Gardist mitgemacht. Patient hat den Wunsch, ein Krieger zu sein wie der Vater; dieser ist auch das Vor- bild der Napoleon-Phantasien.)

Es folgten dann noch weitere Erscheinungen von ähnlichem Charakter.

Phantasien aus der Kindheit des Patienten geben in gleicher Weise seinen Wachträumereien und seinen nächtlichen Träumen den Inhalt. Sogar die halluzinatorischen Bilder sind beiden gemeinsam. Eine der ‚Traumarbeit‘ analoge psychische Leistung formt auch in den Traumzuständen aus dem verdrängten (latenten) Gedankenmaterial den manifesten Inhalt. Ich verweise hier nur auf die ausgiebige Ver- wendung der Symbolik sowie auf die sehr intensive Verdichtungsarbeit. Wir sind zahlreichen Beispielen begegnet, welche zeigen, daß irgend ein Detail des Traumzustandes (und dieser selbst, als Ganzes betrachtet) sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Phantasien zum Ausdruck dient.

Träume und neurotische Traumzustände sind nicht die einzigen Abkömmlinge der Tagträumereien. Wir können ihnen zwei weitere, durch eine tiefergehende Störung des Bewußtseins aus- gezeichnete Gebilde anreihen. Aus dem Traum geht der somnamb.ule Traum hervor; in ihm setzt der Neurotiker seine Phantasien in mehr oder weniger komplizierte Handlungen um, für welche er später keine Erinnerung hat.

Zu den Traumzuständen stehen in ganz analogem Verhältnis die „hypnoiden Zustände“ und ,„Dämmerzustände“. In diesen letzteren finden wir Erscheinungen wieder, die uns von den Traumzuständen her geläufig sind ; ich nenne mit den Worten Bre uers!) die ‚„Entrückung“, das ‚Verdämmern der umgebenden Realität“ und das ‚affekterfüllte Stillestehen des Denkens“. In den Dämmer- zuständen werden oft komplizierte Handlungen ausgeführt. Dem Grade der Bewußtseinsstörung entspricht die den Dämmerzuständen folgende Amnesie; den von uns betrachteten Traumzuständen ist diese nicht eigentümlich.

!) „Studien über Hysterie‘‘ von Breuer und Freud, Seite 191 der 2. Auflage.

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Diesen episodischen Erscheinungen im Krankheitsbild der Hysterie sind noch andere, nahe verwandte Phänomene anzureihen, deren Be- ziehungen zu den Tagträumereien bereits durch frühere Untersuchungen erwiesen sind. Ich nenne zunächst die hysterischen Anfälle. Freud!) hat kürzlich seine Anschauungen von ihrem Wesen in sehr knapper Form zusammengefaßt. Aus seinen Ausführungen, auf die ich schon früher zu verweisen hatte, zitiere ich einige Stellen wörtlich:

„Die Erforschung der Kindergeschichte Hysterischer lehrt, daß der hysterische Anfall zum Ersatz einer ehemals geübten und seither aufgegebenen autoerotischen Befriedigung bestimmt ist.“ Wir sind durch die Analyse der Traumzustände zu analogen Resul- taten gelangt.

„Die Anamnese der Kranken ergibt folgende Stadien: @) auto- erotische Befriedigung ohne Vorstellungsinhalt, 5) die nämliche im Anschlusse an eine Phantasie, welche in die Befriedigungsaktion aus- läuft, c) Verzicht auf die Aktion mit Beibehaltung der Phantasie, d) Ver- drängung dieser Phantasie, die sich dann entweder unverändert oder modifiziert und neuen Lebenseindrücken angepaßt im hysterischen Anfalle durchsetzt und e) eventuell selbst die ihr zugehörige, angeblich abgewöhnte Befriedigungsaktion wiederbringt. Ein typischer Zyklus von infantiler Sexualbetätigung Verdrängung Mißglücken der Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten.‘ Die ersten drei Entwicklungsstadien sind also dem Traumzustand und dem hysterischen Anfalle gemeinsam.

Der Bewußtseinsverlust, die Absence des hysterischen Anfalles geht aus jenem flüchtigen, aber unverkennbaren Bewußtseinsentgang hervor, der auf der Höhe einer jeden intensiven Sexualbefriedigung (auch der autoerotischen) zu verspüren ist.... „Der Mechanismus dieser Absencen ist ein relativ einfacher. Zunächst wird alle Aufmerk- samkeit auf den Verlauf des Befriedigungsvorganges eingestellt, und mit dem Eintritte der Befriedigung wird diese ganze Aufmerksamkeits- besetzung plötzlich aufgehoben, so daß eine momentane Bewußtseins- Fo entsteht. Diese sozusagen physiologische Bewußtseinslücke wird Dar ara der Verdrängung erweitert, bis sie all das aufnehmen

was die verdrängende Instanz von sich weist.“ en a Be een 2 eren raumzustand und hysterischer Anfall ‚gen Hıttein der Darstellung und meist auch im Verhalten des

‘) Vgl. Zitat auf Seite 8.

Über hysterische Traumzustände. 29

Bewußtseins. Während die Absence im Traumzustand fast stets von kurzer Dauer ist, namentlich ım Vergleiche mit der Ausdehnung der an- deren Verlaufsstadien, erweitert sich beim hysterischen Anfalle die „Bewußtseinslücke‘ je nach Bedarf. Zur Darstellung der verdrängten Phantasien bedient sich der hysterische Anfall des ‚Reflexmechanismus der Koitusaktion‘‘ und bewirkt so die „motorische Abfuhr der ver- drängten Libido“. Im Traumzustande spielt sich der Vorgang auf dem Gebiete der Phantasie ab, wenn wir von gewissen motorischen Äußerungen (wie z. B. Veränderung der Körperhaltung oder des Ganges) absehen, die zur Koitusaktion keine Beziehung haben.

Nächst den motorischen Anfällen der Hysterie stehen die Angst- anfälle im naher genetischer Beziehung zu den Traumzuständen. Auch in dieser Art episodischer hysterischer Erscheinungen haben wir umgewandelte sexuelle Erregungsvorgänge zu erblicken!). Ich möchte hier erwähnen, daß die Patienten, über deren Traumzustände ich aus- führlich berichtet habe, sämtlich mehr oder weniger häufig auch an Angstanfällen, nicht dagegen an motorischen Anfällen leiden. Hier liegen individuelle Differenzierungen im Krankheitsbilde vor, in die wir noch keinen genügenden Einblick gewonnen haben.

Ich will hier erwähnen, daß Traumzustände von ganz analoger Struktur auch bei Geisteskranken (Dementia praecox) vorkommen. Ihre Entstehung aus den Wachträumen konnte ich kürzlich bei einem jungen Hebephrenen mit Sicherheit feststellen. In diesem Falle war der Zustand der Entrückung besonders ausgesprochen; in den Traum- zuständen schien es dem Patienten, ‚‚als wäre alles nur ein Theater‘. Ich erinnere daran, daß ım Verlaufe der Dementia praecox auch Dämmer- zustände vorkommen, die wichtige Züge mit den hysterischen gemeinsam haben. Traumartige Zustände von protrahiertem Verlauf mit besonderem Hervortreten des Fremdheitsgefühles sind von Wernicke, Julius- burger u. a. Autoren beschrieben worden?).

Die analysierten Fälle gehören sämtlich zu den schweren Psycho- neurosen. Es darf daraus aber nicht der Schluß gezogen werden, daß Traumzustände bei leicht Neurotischen nicht vorkämen. Sicherlich

!) Vgl. hierzu Stekel, Nervöse Angstzustände und ihre Behandung, Berlin und Wien, Verlag von Urban & Schwarzenberg, 1908.

2) Ich konnte kürzlich bei einer Patientin eine Serie katatonischer Anfälle beobachten. Sie wurden durch heftige Kußbewegungen des Mundes ein- geleitet und stellten im Weiteren unverkennbar einen sexuellen Akt dar. Also auch hier Analogie zum hysterischen Anfall.

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ist eine große Zahl Leichtkranker wie Schwerkranker mit ihnen be- haftet. Zur Tagträumerei neigen sie alle; es will ihnen nicht gelingen, das Heimweh? nach der autoerotischen Betätigung ihrer Kindheit zu überwinden. Die einfachen Wachträume oder die von diesen ableit- baren komplizierteren Gebilde dienen ihnen dazu, sich zeitweise aus der Wirklichkeit in ihr Kinderland zu flüchten. Ist ein Individuum zur Produktion von Traumzuständen disponiert, so genügt ein sehr geringer Reiz, der die verdrängten Komplexe berührt, zur Hervorrufung des Zustandes.

Besonders bei leicht Neurotischen entziehen sich die Traum- zustände oft der ärztlichen Beobachtung, oder sie werden nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung erkannt. Nicht selten erklärt z. B. eine Pa- tientin dem Arzt und zwar keineswegs nur bei der Psychoanalyse —, daß sie sich von ihm hypnotisiert fühle. Das ist ein durchsichtiges Phänomen der ‚‚Übertragung‘“. Die Patientin ist unbewußt dazu bereit, sich dem Willen des Arztes unterzuordnen, d. h. bereit zum passiven Verhalten gegenüber einem von ihrem Unbewußten gewünschten Angriff des Arztes. Ihre Phantasie bearbeitet intensiv die Erfüllung dieses Wunsches. Es kommt dann zur traumhaften Entrückung und zu den bekannten weiteren Erscheinungen. Die Patientin macht, während sie beim Arzt weilt, einen Traumzustand durch. Andere Hvysterische fühlen sich durch die Gegenwart eines beliebigen Mannes hypnotisiert. Ich behandelte eine Patientin, die in der Straßenbahn stets von Angst befallen wurde. Sie hatte das Gefühl, sie werde von den Blicken eines beliebigen ihr gegenüber sitzenden Mannes „‚durchbohrt‘“, Daraus ging jedesmal ein Zustand hervor, den sie als eine Art von Hypnose bezeich- nete und der mit Angst abschloß.

Andere neurotische Mädchen berichten, daß sie mitten ım Ge- spräche mit einem Manne sich plötzlich entrückt fühlen, ihrer eigenen Stimme zuhören, als spräche eine Fremde. Dann tritt die „Gedanken- leere“ ein, der schließlich Angst und ein Gefühl der Beschämung folgt. Durch die Analyse erfährt man, daß solche Individuen sich in aus- giebiger Weise mit Tagträumereien beschäftigen. Besonders lieben sie es, morgens im Bette liegend sich den Phantasien hinzugeben. Bei geeignetem Anlaß wird der Faden dieser Träumereien wieder auf- genommen und es folgen dann die anderen typischen Stadien des Traum- zustandes. ae arten Abhandlung hat Freud eine gedrängte

nlaß und Zweck des Auftretens hysterischer

Über hysterische Traumzustände. 3l

Anfälle gegeben. Der hysterische Anfall wird assoziativ hervor- gerufen, wenn der Komplex durch eine Anknüpfung des bewußten Lebens angespielt wird; organisch wird er dann hervorgerufen, wenn die Libido, durch äußere oder innere Gründe gesteigert, keine Abfuhr hat. Es liegt auf der Hand, daß in der Regel beide Anlässe gleichzeitig vorliegen. Die nämlichen auslösenden Faktoren wirken auch bei der Entstehung der Traumzustände.

Die hysterischen Anfälle dienen nach Freud zunächst der pri- mären Tendenz der Krankheit (Flucht in die Krankheit), bilden also eine Tröstung für den Patienten; außerdem stehen sie im Dienste der sekundären Krankheitstendenzen, wenn das Kranksein praktisch nützt. Von den Traumzuständen läßt sich durchaus das Nämliche erweisen. Ein ausgezeichnetes Beispiel einer Flucht ın die Krankheit bietet der Patient E, der nach dem Tode der Mutter in einen langdauernden Traumzustand geriet. Daß die Traumzustände auch einem aktuellen, praktischen Zweck dienen, zeigt jeder einzelne der mitgeteilten Fälle. Bei mehreren Patienten stellt sich in peinlicher Situation der Traumzustand ‚wie gerufen‘ ein. Besonders aber muß hier angeführt werden, daß manche Patienten ihn bewußt und ab- sichtlich herbeirufen, um Unlustgefühlen zu entgehen oder Lust zu gewinnen. Man wird hier wieder an die genetischen Beziehungen der Traumzustände zur Onanie erinnert; auch der letzteren bedient sich der Neurotiker häufig zum Trost, um z. B. eine Verstimmung zu be- seitigen.

Gemeinsam mit dem Traume ist den neurotischen Traumzuständen die Funktion der Unlustverhütung!). Aber die letzteren dienen darüber hinaus auch positiv der Lustgewinnung. Der Patient B, welcher durch den Traumzustand aus dem Zustande der Passivität entrückt wird, entgeht dadurch nicht nur der Unlust, sondern er zieht in den ersten Stadien des Vorganges positive Lust aus phantasierter Aktivität.

Ein Wechsel des Sexualziels, wie er in den Traumzuständen des Patienten B stattfindet , ist nicht die Regel. Es gibt einen andern Typus, der z. B. durch die Patientin C vertreten wird. Die Phan- tasien bewegen sich hier in der Richtung der schon herrschenden Passi- vität. Den masochistischen Gefühlen wird hierdurch eine außer- ordentliche Intensität verliehen.

Die Traumzustände bieten dem Neurotiker, ganz wie die übrigen Phänomene der Neurose, Ersatz für eine ihm versagte Sexualbetätigung.

!) Vgl. Freud, Der Witz. Seite 154. Deuticke, Wien 1905.

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Sein Unbewußtes macht von diesem Surrogat Gebrauch, solange die Befriedigung bestimmter Wünsche ausbleibt. Erfährt dagegen die Libido eine ausreichende Befriedigung, so treten die Traumzustände zurück, ja sie verschwinden gänzlich. Letzteres geschah einer leicht neurotischen Dame meiner Beobachtung, sobald sie in der Ehe sexuell befriedigt wurde. Bei einem jungen Manne, der wegen psychischer Impotenz in meiner Behandlung stand, ging die ruhelose Tätigkeit seiner Sexualphantasie auf ein normales Maß zurück, als er wieder potent wurde und eine genügende Befriedigung erzielen konnte.

Die Analyse der Traumzustände beweist aufs Neue die außer- ordentliche Fruchtbarkeit der Freudschen Ideen. Seit es eine psycho- analytische Forschung gibt, sind wir nicht mehr darauf beschränkt, die Symptome der Neurosen lediglich zu beschreiben, ohne zugleich ihr Wesen erfassen und ihr individuelles Gepräge im Einzelfalle er- klären zu können. Wir vermögen die Bedingungen und Motive ihrer Entstehung zu begreifen, die in ihnen wirksamen Triebkräfte und die in ıhnen verborgenen Tendenzen aufzuzeigen. Wir vermögen die individuelle Eigenart eines Krankheitsfalles zu verstehen, indem wir nicht nur das gegenwärtige Triebleben des Neurotikers berücksichtigen, sondern seinen verdrängten Kindheitswünschen nachforschen. Denn sein innerstes Dichten und Trachten strebt nach der Wiederholung infantiler Befriedigungssituationen, deren Erinnerung sein Unbewußtes bewahrt.

Über Konflikte der kindlichen Seele.

Von Dr. med. et jur. 6. &. Jung, Privatdozent der Psychiatrie an der Universität Zürich.

Zu der Zeit, wo ich die Herausgabe der ersten Hälfte des letzt- jährigen Jahrbuches vorbereitete, in der Freud seine denkwürdigen Mitteilungen über den ‚‚kleinen Hans‘ machte, erhielt ich von einem der Psychoanalyse kundigen Vater eine Reihe von Beobachtungen über sein damals 4jähriges Töchterchen.

Diese Beobachtungen haben so viel Verwandtes und Ergänzendes zu den Mitteilungen Freuds über den ‚kleinen Hans“, daß ich es mir nicht versagen konnte, dieses Material auch einem weiteren Publikum zugänglich zu machen. Das vielfache Unverständnis, um nicht zu sagen die Entrüstung, mit der ‚der kleine Hans‘ aufgenommen wurde, war mir mit ein Grund zur Veröffentlichung meines Materials, das an Umfänglichkeit dasjenige des ‚‚kleinen Hans‘ allerdings nicht erreicht. Immerhin sind darin Stücke enthalten, welche bestätigen können, wieviel Typisches der ‚kleine Hans‘ gebracht hat. Die sogenannte wissenschaftliche Kritik, soweit sie überhaupt Notiz von diesen wich- tigen Dingen genommen hat, ist auch diesmal wieder in ein zu schnelles Tempo geraten, indem man immer noch nicht gelernt hat, erst nach- zuprüfen und dann zu urteilen.

Das Mädchen, dessen Spürsinn und intellektueller Lebhaftigkeit wir die folgenden Beobachtungen verdanken, ist ein gesundes, frisches Kind von temperamentvoller Gemütsanlage. Es war nie ernstlich krank gewesen, auch von seiten des Nervensystems hatten sich nie irgendwelche ‚Symptome‘ bemerkbar gemacht.

Lebhaftere systematische Interessen erwachten bei dem Kinde etwa um das dritte Jahr; es begann zu fragen und Phantasiewünsche zu äußern. Die nun folgenden Mitteilungen müssen leider auf eine

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. I, 3

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zusammenhängende Darstellung verzichten, denn es sind Anekdoten, die ein einmaliges Erlebnis aus einem ganzen Zyklus en ähnlichen schildern und die darum nicht wissenschaftlich systematisch, sondern novellistisch beschreiben; eın Darstellungsmodus, dessen wir bei dem gegenwärtigen Standpunkt unserer Psychologie noch nicht entraten können: denn noch sind wir weit entfernt davon, ın allen Fällen das Kuriose vom Typischen mit unfehlbarer Sicherheit sondern zu können.

Einmal, als das Kind, das wir Anna nennen wollen, etwa 3 Jahre alt war, entspann sich zwischen ihr und der Großmutter folgendes Ge- spräch: Anna: „Großmama, warum hast du so verwelkte Augen?” Großmutter: „Weil ich halt schon alt bin.“ Anna: „Aber gelt, du wirst dann wieder jung.“ Großmutter: ‚‚Nein, weißt du, ich werde immer älter und dann werde ich sterben.“

Anna: „Ja und dann?“

Großmutter: „Dann werde ich ein Engel —“

Anna: „Und dann wirst du wieder ein kleines Kindchen?“

Das Kind findet hier willkommenen Anlaß zu einer vorläufigen Lösung eines Problems. Schon seit längerer Zeit pflegt sie die Mutter zu fragen, ob sie denn nicht einmal eine lebendige Puppe bekomme, ein Kindchen, z. B. ein Brüderchen, woran sich natürlich die Fragen nach der Herkunft der kleinen Kinder schlossen. Da solche Fragen nur spontan und unauffällig auftraten, so maßen die Eltern ihnen keine Bedeutung bei, sondern faßten sie so leicht auf, wie das Kind auch zu fragen schien. Do erhielt sie eines Tages die scherzhafte Auskunft, daß die Kinder vom Storche gebracht würden. Eine andere, etwas ernsthaftere Version hatte Anna sonstwie gehört, nämlich, daß die Kinder Enngelchen seien, im Himmel wohnen und dann vom Storche heruntergebracht würden. Diese Theorie scheint der Ausgangspunkt für die Forschertätigkeit der Kleinen geworden zu sein. Es zeigt sich beim Gespräche mit der Großmutter, daß die Theorie einer ausgedehnten Anwendung fähig ist; nämlich es läßt sich damit der peinliche Gedanke des Sterbens nicht nur in erleichternder Weise auflösen, sondern zugleich auch das Rätsel des Ur- sprunges der Kinder. Anna scheint sich zu sagen: Wenn ein Mensch stirbt, so wird er ein Engel und dann wird er ein Kind. Lösungen dieser Art, die mindestens zwei Fliegen auf einen Schlag treffen, pflegen nicht nur in der Wissenschaft hartnäckig festgehalten zu werden, sondern können auch beim Kinde nicht ohne gewisse Erschütterungen rück-

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Über Konflikte der kindlichen Seele. 35

gängig gemacht werden. In dieser einfachen Auffassung liegen die Elemente der Reinkarnationslehre, welche wie bekannt noch in Millionen von Menschen lebendig ist.

Wie in der Geschichte des ‚kleinen Hans“ der Wendepunkt die Geburt eines Schwesterchens war, so ist es in diesem Falle de Ankunft eines Brüderchens, die stattfand, als Anna eben 4 Jahre erreicht hatte. Damit wird das vorher kaum bewegte Problem der Kinder- entstehung aktuell. Die Schwangerschaft der Mutter blieb zunächst anscheinend unbemerkt, d. h. es wurde nie eine Äußerung des Kindes ın dieser Hinsicht beobachtet. Am Abend vor der Geburt, als sich bei der Mutter schon die Wehen zeigten, befand sich das Kind im Zimmer des Vaters. Der Vater nahm sie auf die Knie und fragte: „Höre mal, was würdest du sagen, wenn du heute nacht ein Brüderchen bekämest?“ „Dann würde ich es töten“, war die prompte Antwort. Der Ausdruck „töten“ sieht sehr gefährlich aus, ist aber im Grunde genommen recht harmlos, denn ‚‚töten““ und ‚sterben‘ ım kindlichen Sinne heißt nur aktiv oder passiv entfernen, wie dies übrigens Freud schon mehrfach gezeigt hat. Ich behandelte einmal ein 15jähriges Mädchen, bei der in der Analyse ein mehrfach wiederkehrender Einfall auftrat: Schillers Lied von der Glocke fiel ihr ein; sie hatte es zwar noch nie gelesen, sondern nur einmal durchgeblättert und konnte sich nur entsinnen, etwas von einem „Dome“ gelesen zu haben. An weitere Einzelheiten konnte sie sich nicht entsinnen. Die Stelle lautet:

„Von dem Dome Schwer und bang

Tönt die Glocke Grabgesang usw.

Ach die Gattin ist’s, die Teure,

Ach es ist die treue Mutter,

Die der schwarze Fürst der Schatten Wegführt aus dem Arm des Gatten“ usw.

Die Tochter liebt natürlich ihre Mutter und denkt nicht entfernt an deren Tod, hingegen liegt die Sache gegenwärtig so: Die Tochter muß mit der Mutter auf 5 Wochen zu Verwandten reisen, das Jahr zuvor war die Mutter allein gegangen und die Tochter (einziges und ver- wöhntes Kind) blieb allein mit dem Vater zu Hause. Leider wird heuer „die kleine Gattin“ aus dem Arme des Gatten ‚„weggeführt‘‘, während es doch dem Töchterchen lieber wäre, wenn die „treue Mutter‘‘ vom Kinde schiede.

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„Töten“ im Munde eines Kindes ist darum eine harmlose Sache, besonders noch, wenn man weiß, daß die Kleine das Wort „töten“ ganz promiscue gebraucht für alle möglichen Arten von Zerstörung, Entfernung, Vernichtung usw. Immerhin ist die Tendenz beachtenswert. (Vgl. die Analyse des „kleinen Hans“, pag. 5.)

Am frühen Morgen erfolgte die Geburt. Ein Arzt und eine Heb- amme waren anwesend. Als alle Reste der Geburt sowie sämtliche Blutspuren beseitigt waren, ging der Vater in das Zimmer, wo Anna schlief. Sie erwachte, wie er eintrat. Der Vater teilte ihr die Neuigkeit von der Ankunft eines Brüderchens mit, was Anna mit erstauntem und gespanntem Gesichtsausdruck aufnahm. Der Vater nahm sie hierauf auf den Arm und brachte sie in die Wochenstube. Die Kleine warf zuerst einen raschen Blick auf die etwas blasse Mutter, dann zeigte sie etwas wie ein Gemisch von Verlegenheit und Mißtrauen, wie wenn sie dächte: „Was wird jetzt geschehen?“ (Eindruck des Vaters.) Freude am Neugeborenen bezeugte sie so viel wie keine, so daß die Eltern etwas enttäuscht waren über den kühlen Empfang. Während des Vormittags hielt sich die Kleine auffallenderweise von der Mutter fern, was um so mehr auffiel, als sie sonst sehr an ihr hängt. Als die Mutter aber einmal allein war, lief Anna ins Zimmer, faßte sie um den Hals und flüsterte ihr hastig zu: „Ja, sterbst du jetzt nicht?“

Nun wird uns ein Stück des Konfliktes in der kindlichen Seele klar, die Storchtheorie hat offenbar nie recht verfangen, wohl aber die fruchtbare Wiedergeburtshypothese, nach welcher ein Mensch stirbt und so einem Kinde zum Leben verhilft. Die Mama müßte also demnach sterben wie sollte Anna da Freude am Neugeborenen empfinden, gegen das sich sowieso schon die kindliche Eifersucht erhebt? Darum muß sie sich in einem günstigen Moment versichern, ob die Mama sterben muß oder nicht. Die Mama starb nicht. Mit diesem glücklichen Ausgang erleidet aber die Wiedergeburtstheorie einen schweren Stoß. Wie soll von jetzt an die Geburt des Brüderchens, die Herkunft der Kinder überhaupt erklärt werden? Da war nur noch die Storchtheorie, die zwar nie ausdrücklich, aber durch die Annahme der Wiedergeburt implicite abgelehnt wurdet). Die allernächsten Erklärungsversuche blieben den

‘) Man kann hier die Frage aufwerfen, warum überhaupt die Annahme berechtigt sein soll, daß es den Kindern dieses Alters an solchen Theorien gelegen ur soll. Darauf ist zu antworten, daß Kinder ein intensives Interesse für alles = n, a in ihrer Umgebung sinnlich Wahrnehmbares passiert. Es verrät sich

8 auch durch die bekannten endlosen Fragen nach dem Warum und Wozu aller

Über Konflikte der kindlichen Seele. Sr

Eltern leider verborgen; denn das Kind kam nun auf mehrere Wochen zur Großmutter. Wie aus deren Berichten hervorging, kam mehrfach die Storchtheorie zur Sprache, natürlich unterstützt durch die Zu- stimmung der Umgebung.

Als Anna wieder zu den Eltern zurückkehrte, zeigte sie im Mo- mente des Wiedersehens mit der Mutter wieder jenes verlegen-miß- trauissche Benehmen wie nach der Geburt. Der Eindruck war beiden Eltern deutlich, jedoch nicht deutbar. Das Benehmen gegenüber dem Neugeborenen war sehr nett. Unterdessen war auch eine Pflegerin ge- kommen, die mit ihrer Ordenstracht der Kleinen einen großen Eindruck machte, zuerst allerdings einen höchst negativen, indem sie ihr in allem den größten Widerstand entgegensetzte. So wollte sie sich um keinen Preis abends von der Pflegerin entkleiden und zu Bett bringen lassen. Woher dieser Widerstand stammte, zeigte sich bald bei einer zornigen Szene am Bettchen des Brüderchens, wo Anna die Pflegerin anschrie: „Das ıst nicht dein Brüderchen, das ist meins.‘ Allmählich versöhnte sie sich aber mit der Pflegerin und begann selber Pflegerin zu spielen, mußte eine weiße Haube und Schürze haben und ‚pflegte‘ bald das Brüderchen, bald ihre Puppen. Eine etwas elegische, träumerische Stimmung im Gegensatze zu früher war unverkennbar. Oft saß Anna lange unterm Tisch und fing an, lange Geschichten zu singen und zu reimen, die zum Teil unverständlich waren, zum Teile aber Phantasie- wünsche über das Thema ‚‚Pflegerin‘ enthielten (,‚Ich bin eine Pflegerin vom grünen Kreuz“) und zum Teil waren es deutlich schmerzliche Gefühle, die um Ausdruck rangen.

Hier begegnen wir einer wichtigen Neuigkeit im Leben der Kleinen: es kommen Träumereien, sogar Ansätze zur Dichtung, elegische An- wandlungen. Alles Dinge, denen wir sonst erst in einer späteren Lebens- phase zu begegnen gewohnt sind, und zwar zu jener Zeit, wo der jugend- liche Mensch sich anschickt, die Bande der Familie zu zerschneiden, ins Leben selbständig hinauszutreten, aber innerlich noch zurück- gehalten ist durch schmerzliche Heimwehgefühle nach der Wärme

möglichen Dinge. Sodann muß man die Kulturbrille auf einen Moment weglegen, wenn man die Psychologie des Kindes verstehen will: die Geburt eines Kindes ist das für jeden Menschen schlechthin wichtigste Ereignis. Für das zivilisierte Denken aber hat die Geburt viel von ihrer biologischen Einzigartigkeit eingebüßt, so gut wie die Sexualität überhaupt. Irgendwo muß aber doch der Geist die ihm durch die Jahr- zehntausende eingeprägten richtigen biologischen Schätzungen aufbewahrt haben. Was ist wahrscheinlicher, als daß dasKind sie noch hat und zeigt, bevor der Schleier der Zivilisation sich über das primitive Denken legt?

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des elterlichen Herdes. Zu jener Zeit fängt man an, das Mangelnde mit diehtender Phantasie zu erschaffen, um den Ausfall zu kompen- sieren. Auf den ersten Blick dürfte es paradox erscheinen, die Psycho- logie des 4jährigen Kindes der des Pubertätsalters anzunähern: die Verwandtschaft liegt aber nicht im Alter, sondern im Mechanismus. Die elegischen Träumereien sprechen es aus, daß ein Stück Liebe, das vorher einem realen Objekte gehörte und einem solchen gehören sollte, introvertiert, d.h. nach innen, ins Subjekt gewendet ist und dort eine vermehrte Phantasietätigkeit erzeugt!). Woher stammt nun aber diese Introversion? Ist sie eine diesem Alter eigentümliche psycho- logische Erscheinung oder verdankt sie ihre Entstehung einem Kon- flikt?

Darüber klären uns die folgenden Ereignisse auf. Öfter kommt es vor, daß Anna der Mutter nicht gehorcht. Sie ist trotzig und sagt: „Ich gehe wieder zur Großmama !“

Mutter: „Dann bin ich aber traurig, wenn du wieder fortgehst.“

Anna: ‚Ach, du hast ja das Brüderchen !”

Die Wirkung auf die Mutter zeigt, wohin die Kleine mit ihrer Drohung, wieder fortzugehen, eigentlich zielte: sie wollte offenbar hören, was die Mutter zu ihrem Projekte meint, d. h. wie sie sich überhaupt zu ihr stellt, ob nicht vielleicht das Brüderchen sie doch gänzlich aus der mütterlichen Gunst verdrängt hat. Man darf aber nicht ohne weiteres dieser kleinen Schikane Glauben schenken. Das Kind hat ja eigentlich sehen und fühlen können, daß ihr nichts Wesentliches an der Mutter- liebe abgeht, trotz der Existenz des Brüderchens. Der Vorwurf, den sie der Mutter quasi deshalb macht, ist darum ungerechtfertigt und verrät dies dem kundigen Ohre auch durch seinen etwas affektierten Ton. Man hört ähnliche Töne häufig auch bei Erwachsenen. Ein solch un- verkennbarer Ton erwartet, nicht ernst genommen zu werden, darum

‘) Dieser Vorgang ist überhaupt typisch. Stößt das Leben auf ein Hindernis, kann eine Anpassung nicht geleistet werden, und stockt deshalb die Überführung der Libido ins Reale, so findet eine Introversion statt, d. h. an Stelle des Wirkens auf die Realität entsteht eine vermehrte Phantasietätigkeit, deren Tendenz es ist, das Hindernis zu beseitigen, wenigstens zunächst phantastisch eine Beseitigung herbeizuführen, woraus nach einiger Zeit auch eine praktische Lösung hervor- gehen kann; daher die übertriebenen Sexualphantasien der Neurotiker, welche

die spezifische Verdrängung zu überwältigen ver

suchen, daher die typischen Phantasien der Stotterer, daß sie eigentlich großes Rednertalent besäßen. (Daß

sie eine gewisse Anwartschaft darauf haben, legen uns Adlers gedankenreiche Studien über Örganminderwertigkeit nahe.)

Über Konflikte der kindlichen Seele. 89

drängt er sich verstärkt auf. Auch den Vorwurf als solehen darf die Mutter nicht ernst nehmen, denn er ist bloß der Vorläufer anderer und diesmal stärkerer Widerstände. Nicht lange nach dem vorhin mitgeteilten Gespräche trug sich folgende Szene zu:

Mutter: „Komm, wir gehen jetzt in den Garten!“

Anna: „Du lügst; paß auf, wenn du die Wahrheit nicht sagst!"

Mutter: „Was fällt dir ein? Ich sage doch die Wahrheit.“

Anna: „Nein, du sagst die Wahrheit nicht.“

Mutter: „Du wirst schon sehen, daß ich die Wahrheit sage, wir gehen jetzt in den Garten.“

Anna: „Ja ist das wahr? Ist das gewiß wahr? Lügst du nicht?“

Szenen dieser Art wiederholten sich einige Male. Diesmal war der Ton ein heftiger und eindringlicher und zudem verriet der Akzent, der auf dem „Lügen“ lag, etwas ganz Besonderes, das aber die Eltern nicht verstanden, indem sie überhaupt den spontanen Äußerungen des Kindes anfangs zu wenig Bedeutung beimaßen. Sie taten damit nichts anderes, als was die Erziehung im allgemeinen ex officio tut. Man hört die Kinder im allgemeinen zu wenig an und behandelt sie auf jeder Altersstufe in allen Wesentlichkeiten als Unzurechnungsfähige und in allem Unwesentlichen werden sie zu automatenhafter Voll- kommenheit dressiert. Hinter Widerständen liegt immer eine Frage, ein Konflikt und zu anderer Zeit und anderer Gelegenheit hören wir auch davon. Gewöhnlich vergißt man aber, das Gehörte mit den Wider- ständen in Zusammenhang zu bringen. So stellte Anna zu anderer Zeit ihrer Mutter schwierige Fragen:

Anna: „Ich möchte eine Pflegerin werden, wenn ich groß bin.“

Mutter: „Das wollte ich auch, als ich noch ein Kind war.“

Anna: „Ja, warum bist du denn keine geworden?“

Mutter: „Nun weil ich halt eine Mama geworden bin und so habe ich ja auch Kinder zum Pflegen.“

Anna: (nachdenklich) ‚Ja, werde ich denn eine andere Frau als du? Werde ich dann an einem andern Ort wohnen? Werde ich dann auch noch mit dir reden?“

Die Antwort der Mutter zeigt wieder, wohin eigentlich die Frage des Kindes zielt!): Anna möchte offenbar auch ein Kindehen zum

!) Die vielleicht paradox anmutende Auffassung, das Ziel der kindlichen Frage in der Antwort der Mutter zu erkennen, bedarf der Erörterung. Es ist eines der größten psychologischen Verdienste Freuds, die ganze Fragwürdigkeit der bewußten Willensmotive wieder aufgedeckt zu haben. Es ist eine Folge

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„Pflegen“ haben, so wie es die Schwester Pflegerin hat. Woher die Schwester das Kindchen hat, ist ja ganz klar, so könnte Anna, wann sie einmal groß ist, auch ein Kindehen bekommen. Warum ist denn die Mama keine solche durchsichtige Pflegerin geworden? D. h. woher hat sie denn das Kind, wenn sie doch nicht so dazugekommen ist wie die Schwester Pflegerin? So wie die Schwester ein Kind hat, so könnte Anna auch eins haben, aber wie das in Zukunft anders werden soll, respektive wie sie der Mutter im Kinderbekommen ähnlich werden könnte, ist nicht abzusehen. Daraus ergibt sich die nachdenkliche Frage: „Ja, werde ich denn eine andere Frau als du?“ Werde ich in allen Be- ziehungen anders sein? Mit der Storchtheorie ist es offenbar nichts, mit dem Sterben ebensowenig, also bekommt man das Kind z. B. wie's die Schwester Pflegerin bekommen hat. Auf diesem natürlichen Wege könnte sie es auch bekommen, aber nun die Mutter, die keine Pilegerin ist und doch Kinder hat? So fragt Anna von ihrem Standpunkte aus: ‚, Warum bist du denn keine Pflegerin geworden? “scilicet hast auf einem klaren Wege ein Kind bekommen? Diese sonderbar indirekte Art des Fragens ist typisch und dürfte mit der Unklarheit der Problemerfassung zusammenhängen, wenn man nicht etwa eine gewisse „diplomatische Unbestimmtheit‘‘ annehmen will, die durch ein Ausweichen vor der direkten Fragestellung bedingt wäre. Wir werden später einen Beleg für diese Möglichkeit antreffen.

Wir stehen also offenbar vor der Frage: ‚Woher kommt das Kind Der Storch hat’s nicht gebracht, die Mama ist nicht gestorben, so wie die Schwester hat es die Mama auch nicht bekommen. Sie hat aber doch früher gefragt und vom Vater vernommen, der Storch bringe die Kinder; das ist aber entschieden nicht so, darüber hat sie sich nie täuschen lassen. Also lügen Papa und Mama und alle anderen auch. Daher erklären sich ungezwungen ihr Mißtrauen bei der Geburt und ihre Vorwürfe gegen die Mutter. Es klärt sich aber noch ein weiterer Punkt auf, nämlich die elegische Träumerei, die wir auf eine partielle Intro- version zurückgeführt haben. Nun wissen wir, von welchem realen

der Triebverdrängung, daß die Bedeutung des bewußten Denkens für das Handeln maßlos überschätzt wird. Fre ud setzt als Kriterium der Psychologie des Handelns nicht das bewußte Motiv, sondern das Resulta t (letzteres aber nicht in seiner physikalischen, sondern in seiner psychologischen Wertung). Diese Auffassung se das ‚Handeln in einem neuen und biologisch bedeutsamen Lichte erscheinen. ch verzichte auf Beispiele und begnüge mich mit dem Hinweis, daß diese Auf- fassung für die Psychoanalyse wesentlich und heuristisch äußerst wertvoll ist.

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Objekt Liebe weggenommen und als gegenstandslos introvertiert werden mußte, nämlich von den Eltern, welche sie belügen und ihr die Wahrheit nicht sagen wollen. (Was muß es dann sein, wenn man’s nicht sagen kann? Was geht da vor? So lauten etwas später die pa- renthetischen Fragen des Kindes. Die Antwort ist: „Das muß demnach etwas zu Verheimlichendes, vielleicht gar etwas Gefährliches sein.) Auch die Versuche, die Mutter zum Sprechen zu bringen und mit (verfäng- lichen?) Fragen die Wahrheit herauszulocken, mißlingt, also wird Widerstand gegen Widerstand gesetzt und die Introversion der Liebe beginnt. Begreiflicherweise ist die Sublimationsfähigkeit eines 4 jährigen Kindes noch zu spärlich entwickelt, als daß sie mehr als einige symptomatische Dienste leisten könnte, das Gemüt ist also auf eine andere Kompensation angewiesen, nämlich auf eine der schon auf- gegebenen infantilen Formen der Liebe-Erzwingung, von denen die beliebteste nächtliches Geschrei und Herrufen der Mutter ist. Dies war schon im ersten Lebensjahr eifrig praktiziert und ausgenutzt worden. Jetzt kam es wieder, und zwar entsprechend der Altersstufe wohl motiviert und mit rezenten Eindrücken ausstaffiert.

Eben war nämlich das Erdbeben von Messina geschehen und man sprach bei Tische von den Ereignissen. Anna interessierte sich außer- ordentlich dafür und ließ sich namentlich von der Großmutter immer wieder erzählen, wie der Boden gebebt habe und die Häuser einstürzten, und wieviel Menschen dabei umgekommen seien. Von da an datierte allabendliche Angst, sie könne nicht allein sein, die Mama müsse zu ihr kommen, bei ihr bleiben, sie habe sonst Angst, das Erdbeben komme, das Haus falle ein und erschlage sie. Tagsüber ist sie auch lebhaft mit solchen Gedanken beschäftigt; wenn sie spazieren geht mit der Mutter, so plagt sie sie mit Fragen: ‚Wird das Haus noch stehen, wenn wir wieder heimkommen? Wird Papa noch am Leben sein? Ist gewiß kein Erdbeben zu Hause? Oder bei jedem Stein, der im Wege lag, wurde gefragt: ‚‚Ist der vom Erdbeben?‘ Ein Neubau war ein durch Erdbeben zerstörtes Haus usw. Schließlich schrie sie oft nachts auf, das Erdbeben komme, sie höre es schon donnern. Man mußte ihr abends feierlich versprechen, daß gewiß kein Erdbeben komme. Man versuchte verschiedene Be- ruhigungsmittel, z. B. sagte man ihr, es gebe nur da Erdbeben, wo es Vulkane gebe. Nun mußte ihr aber wieder bewiesen werden, daß die Berge in der Umgebung der Stadt gewiß keine Vulkane seien. Dieses Räsonieren führte das Kind allmählich auf einen ebenso starken wie für sein Alter unnatürlichen Wissensdrang, der sich darin äußerte,

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daß man der Kleinen alle geologischen Bilder und Atlanten aus der Bibliothek des Vaters holen mußte. Sie durchstöberte dann die Werke stundenlang nach Abbildungen von Vulkanen und Erdbeben und te endlos.

Ha Wir stehen hier vor einem ganz energischen Anlauf zur Subli- mation der Angst in Wissenschaftstrieb, der aber zu dieser Lebenszeit als entschieden verfrüht anmutet. Wie manches begabte Kind aber, das genau am gleichen Probleme leidet, wird an dieser unzeitigen Sublimation aufgepäppelt, gewiß nicht zu seinem Vorteile. Denn wenn man Sublimation in diesem Alter begünstigt, so unterstützt man nur ein Stück Neurose. Die Wurzel des Wissenschaftstriebes ist die Angst, und die Angst ist der Ausdruck einer konvertierten Libido, d.h. einer nunmehr neurotisch gewordenen Introversion, die in diesem Alter weder nötig, noch für die Entwicklung des Kindes günstig ist. Wohin dieser Wissenschaftstrieb in letzter Linie zielte, wird ver- ständlich aus einer Reihe von Fragen, die sich fast täglich erhoben: „Warum ist 8. (ein jüngeres Schwesterchen) jünger als ich? Wo ist denn Fritzchen (das Brüderchen) vorher gewesen? War er im Himmel, was hat er denn dort gemacht? Warum ist er erst jetzt und nicht schon früher heruntergekommen?“

Diese Sachlage gab dem Vater den Gedanken ein, die Mutter solle dem Kinde die Wahrheitüberdie Herkunftdes Brüderchens bei erster bester Gelegenheit sagen.

Dies geschah, als Anna sich bald darauf wieder einmal nach dem Storch erkundigte. Die Mutter sagte ihr, die Geschichte mit dem Storche sei nicht wahr, sondern Fritzchen sei in der Mama gewachsen wie die Blumen aus der Erde. Zuerst war er ganz klein und dann ist er immer größer geworden wie die Pflanzen. Das Kind hörte ohne das geringste Erstaunen aufmerksam zu und fragte dann:

„Ja, ist er denn ganz von selbst herausgekommen?“

Mutter: „Ja.“

Anna: „Er kann ja noch gar nicht gehen.“

Das jüngere Schwesterchen: ‚Dann ist er halt herausgekriecht.“

Anna (die Antwort. des Schwesterchens überhörend): ‚Ja, gibt es denn da (auf die Brust zeigend) ein Loch? Oder kam er aus dem Munde? Wer ist denn aus der Pflegerin herausgekommen?“

Sie unterbrach sich aber selber wieder durch Zwischenrufe: ‚Nein, ich BD» der Storch hat das Brüderchen vom Himmel herunter- gebracht!“ Dann, bevor die Mutter die Fragen beantworten konnte,

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verließ sie das Thema und verlangte wieder Abbildungen von Vulkanen zu sehen. Der auf diese Unterredung folgende Abend war ruhig. Die plötzliche Aufklärung nötigte dem Kinde offenbar eine ganze Reihe von Einfällen auf, was sich in einer gewissen Hast der Fragen kundgab. Es eröffneten sich neue, unerwartete Perspektiven, sie nähert sich rasch einem Hauptproblem, nämlich der Frage: „Wo ist das Kind heraus- gekommen? Aus einem Loche in der Brust oder aus dem Munde? Beide Vermutungen sind geeignet zu fest angenommenen Theorien. Es gibt sogar jung verheiratete Frauen, die noch der Theorie des Loches in der Leibeswand und des Kaiserschnittes huldigen, was eine ganz besonders große Unschuld ausdrücken soll. Natürlich handelt es sich in solchen Fällen wohl immer um infantile Sexualbetätigungen, welche die vias naturales später in Verruf gebracht haben, und beileibe nicht etwa um Unschuld. Man sollte sich eigentlich wundern, woher bei dem Kinde die ungereimte Idee stammt, es gebe ein Loch in der Brust, oder die Geburt finde durch den Mund statt; warum denn nicht durch eine der natürlichen, schon vorhandenen Öffnungen des Unterleibes, aus denen doch täglich Dinge herauswandern? Die Erklärung ist einfach: Die Zeit, wo unsere Kleine durch ein erhöhtes und nicht immer den Anforderungen der Reinlichkeit und des Anstandes entsprechendes Interesse für die beiden Unterleibsöffnungen und deren bemerkens- werte Produkte die Erziehungskünste der Mutter herausforderte, liegt noch nicht allzu fern. Damals hatte sie zum ersten Male die Ausnahme- gesetze für diese Körperregion kennen gelernt und als empfindsames Kind bald herausgemerkt, daß da irgend etwas ‚tabu‘ ist. Dieses Gebiet hat daher aus jeglicher Rechnung auszufallen; ein kleiner Denk- fehler, der dem 4jährigen Kinde wohl zu verzeihen ist, wenn man an alle die Leute denkt, die trotz schärfster Brillen nirgends etwas Sexuelles entdecken können. Insofern reagiert unsere Kleine viel doziler als ihr jüngeres Schwesterchen, das auf dem Gebiete der Kot- und Urin- interessen allerdings Hervorragendes leistete und dann auch beim Essen ähnliche Manieren an den Tag legte. Ihre Exzesse bezeichnete sie Immer mit „lustig“; die Mutter aber meinte: ‚nein, das ist nicht lustig und verbot ihr den Spaß. Das Kind ging anscheinend auf diese unbegreiflichen Erziehungslaunen ein, bald aber zeigte sich seine Rache. Wie nun einmal ein neues Gericht auf den Tisch kam, weigerte es sich kategorisch mitzutun, mit dem Bemerken, „das ist nicht lustig‘. Von ‘da an wurden alle Fremdartigkeiten in Speisen abgelehnt als „nicht lustig“.

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Die Psychologie dieses Negativismus ist typisch und unschwer zu verstehen. Die Gefühlslogik lautet einfach: ‚„‚Wenn ihr meine Künste nicht lustig findet und mich zwingt sie aufzugeben, dann finde ich auch eure Künste, die ihr als gut anpreist, nicht lustig und werde nicht mitmachen.“ Wie alle kindlichen (so häufigen Kompensationen dieser Art), geht auch diese nach dem wichtigen infantilen Grundsatz: „Es geschieht euch schon recht, wenn’s mir weh tut.“

Kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserem Falle zurück. Anna hat sich einfach dozil erwiesen und sich soweit an die Kultur- forderungen angepaßt, daß sie an das Einfachste zuletzt denkt (wenig- stens so spricht). Die an die Stelle der richtigen gesetzten unrichtigen Theorien halten jahrelang an, bis einmal von auswärts brüske Auf- klärung erfolgt. Es ist daher kein Wunder, daß solche Theorien, deren Entstehung und Festhaltung sogar von Eltern und Erziehern begünstigt wird, später in einer Neurose zu wichtigen Symptomdeterminanten werden oder in der Psychose zu Wahnideen, wie ich in meiner Psycho- logie der Dementia praecox nachgewiesen habe. Was jahrelang in der Seele einmal existiert hat, das ist auch immer irgendwie da, wenn schon unter anscheinend anders gearteten Kompensationen versteckt.

Noch bevor aber die Frage, wo eigentlich das Kind herauskommt, erledigt ist, drängt sich ein neues Problem auf: also aus der Mama kommen Kinder, wie aber ist es bei der Pflegerin? Ist da auch jemand herausgekommen? Und nach dieser Frage erfolgt der Abbruch: ‚‚Nein, nein, der Storch hat das Brüderchen vom Himmel heruntergebracht.“ Was ist denn Besonderes daran, daß aus der Schwester niemand heraus- gekommen ist? Wir erinnern uns, daß Anna sich mit der Schwester iden- tifiziert hat und plant, ebenfalls später Pflegerin zu werden, denn sie möchte auch ein Kindchen haben und so wie die Schwester könnte sie's auch bekommen. Aber jetzt, wo man weiß, daß das Brüderchen in der Mama gewachsen ist, wie ist das jetzt? | Diese bange Frage wird rasch abgewendet durch Rückkehr auf die eigentlich noch nie geglaubte Storch-Engeltheorie, die aber nach einigen Anläufen doch endgültig aufgegeben wird. Es schweben aber zwei Fragen in der Luft; die eine lautet: „Wo kommt das Kind heraus?‘ Die zweite ist bedeutend schwieriger und lautet: „Wie kommt es, daß die Mama Kinder hat, nicht aber die Pflegerin und die Mägde?‘ All diese Fragen meldeten sich zunächst nicht mehr.

Am folgenden Tag beim Mitta ä gessen erklärte An hei ganz unvermittelt: >

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„Mein Bruder ist in Italien und hat ein Haus aus Stoff (Tuch) und Glas und es fällt nicht um.“

Wie immer, konnte auch diesmal um eine Erklärung nicht gefragt werden, denn die Widerstände sind zu groß, so daß sich Anna nicht fixieren läßt. Diese einmalige, wie offiziös anmutende Erklärung ist sehr bedeutsam. Schon seit zirka einem Vierteljahr spannen die Kinder eine stereotype Phantasie von einem „großen Bruder“, der alles weiß, kann und hat, an allen Orten war und ist, wo die Kinder nicht waren und alles tun darf, was sie nicht dürfen. Jede hat einen solchen großen Bruder, der große Kühe, Schafe, Pferde, Hunde usw. besitzt!). Die Quelle dieser Phantasie ist nicht weit zu suchen; das Modell dazu ist der Vater, der so etwas zu sein scheint wie ein Bruder der Mutter. Auch die Kinder müssen dann einen ähnlich mächtigen „Bruder“ haben. Dieser Bruder ist sehr mutig, ist gegenwärtig im gefährlichen Italien und bewohnt ein unmöglich gebrechliches Haus, und das fällt nicht um. Damit ist ein für das Kind wichtiger Wunsch realisiert: das Erdbeben ist nicht mehr gefährlich. Darum hat die Angst und die Phobie wegzufallen und sie blieb auch weg. Von da an war die ganze Erdbebenfurcht verschwunden. Anstatt daß nun abends der Vater ans Bettchen ge- rufen wird, um die Angst zu beschwören, zeigt die Kleine größere Zärt- lichkeit und bittet den Vater, abends sie zu küssen. Um die neue Lage der Dinge zu erproben, zeigte der Vater der Kleinen neue Abbildungen von Vulkanen und Erdbebenwirkungen. Anna blieb aber kalt und betrachtete die Bilder gleichgültig: „Das sind Tote! Ich habe das schon oft gesehen.“ Auch die Photographie eines Vulkanausbruches hatte für sie gar nichts Anziehendes mehr. So fiel das ganze wissenschaftliche Interesse wieder in sich zusammen und verschwand so plötzlich wie es gekommen war. In den nächsten Tagen nach der Aufklärung hatte Anna aber auch Wichtigeres zu tun; sie breitete die neugewonnenen Erkenntnisse auf ihre Umgebung aus, und zwar folgendermaßen: es wurde zunächst nochmals ausführlich konstatiert, daß Fritzchen in der Mama gewachsen sei, ferner sie und das jüngere Schwesterchen; der Papa aber in seiner Mama, die Mama in ihrer Mama und die Mägde ebenfalls in ihren respektiven Müttern. Durch Ööfteres Fragen wurde die Erkenntnis auch auf die Dauerhaftigkeit ihrer Wahrheit geprüft, denn das Mißtrauen der Kleinen war in nicht geringem Maße geweckt worden, so daß es mehrfacher Bekräftigungen bedurfte, um alle Bedenken

!) Eine primitive Definition der Gottheit.

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zu zerstreuen. Zwischenhinein kam es öfter vor, daß beide Kinder wieder die Storch- und Engeltheorie aufbrachten, aber in wenig glaub- würdigem Tone, mit etwas singendem Ton auch den Puppen vor-

getragen. Im übrigen bewährte sich offenbar das neue Wissen, denn die

Phobie blieb weg.

Nur einmal drohte die Sicherheit in Stücke zu gehen. Etwa 3 Tage nach dem Momente der Aufklärung blieb der Vater einmal wegen einer Influenza vormittags zu Bette. Die Kinder wußten nichts davon, und Anna kam ins Schlafzimmer der Eltern und sah den Vater ungewohnter- weise im Bette liegen. Sie machte wieder ein sonderbar erstauntes Gesicht, blieb in weiter Entfernung vom Bette stehen und wollte sich nicht nähern, offenbar wieder scheu und mißtrauisch. Plötzlich platzte sie mit der Frage heraus: „Warum bist du im Bett, hast du etwa auch eine Pflanze im Bauch?“

Natürlich mußte der Vater lachen und beruhigte sie, daß nämlich im Papa keine Kinder wachsen könnten, daß überhaupt die Männer keine Kinder hätten, nur die Frauen, worauf das Kind sofort wieder zu- traulich wurde. Während aber die Oberfläche ruhig blieb, arbeiteten die Probleme im Dunkeln weiter. Einige Tage später erzählte Anna wieder beim Mittagessen: ‚Ich habe heute Nacht die Arche Noah ge- träumt.“ Der Vater fragte sie, was sie denn davon geträumt habe, worauf Anna lauter Unsinn antwortete: In solchen Fällen muß man einfach warten und aufpassen. Richtig, nach einigen Minuten sagte sie zur Großmutter: „Ich habe heute Nacht die Arche Noah geträumt und da waren viele Tierchen drin.‘ Darauf trat wieder eine Pause ein, dann begann sie die Erzählung zum dritten Male: „Ich habe heute Nacht die Arche Noah geträumt und da waren viele Tierchen darin und da waruntenein Deckeldaran, der ging auf und die Tier- chen fielen alle heraus.“ Der Kundige versteht die Phantasie. Die Kinder besitzen tatsächlich eine Arche, jedoch ist die Öffnung ein Deckel am Dache und nicht unten. Es wird somit zart angedeutet: Die Ge- schichte mit der Geburt aus Mund oder Brust stimmt nicht; man ahnt den richtigen Sachverhalt: es geht nämlich unten heraus.

Es vergingen nun mehrere Wochen ohne bemerkenswerte Ereig- nisse. Einmal kam ein Traum vor: ‚Ich habe Papa und Mama

BOSAINN, . seien noch lange im Studierzimmer und die Kinder seien auch dabei.

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An der Oberfläche findet sich ein bekannter Wunsch der Kinder, auch so lange aufbleiben zu dürfen wie die Eltern. Dieser Wunsch wird hierrealisiert oder vielmehr benutzt zur Maskierung eines viel wichtigeren Wunsches, nämlich abends dabei zu sein, wenn dieElternallein sind, natürlich unschuldigerweise im Studierzimmer, wo die Kleine ja alle die interessanten Bücher gesehen hat, wo sie den Wissensdurst stillte, d. h. eigentlich die brennende Frage zu beantworten suchte, woher das Brüderchen kam. Wenn die Kinder dabei wären, so wüßten sie est).

Wenige Tage darauf ereignete sich ein Angsttraum, aus dem Anna mit Geschrei erwachte: ‚Das Erdbeben kommt, das Haus zittert schon.“ Die Mutter geht zu ihr, beruhigt und tröstet sie, es komme kein Erd- beben, es sei alles ruhig und alle Leute schlafen. Worauf Anna in drin- gendem Tone sagte: „Ich möcht’ halt den Frühling sehen, wie alle Blümlein herauskommen und wie die ganze Wiese voll Blumen ist ich möcht’ jetzt halt Fritzchen sehen, er hat ein so liebes Gesichtchen was macht der Papa? was sagt er? (Die Mutter sagt: ‚Er schläft und sagt nichts.““) Nun bemerkt die Kleine mit spöttischem Lächeln: „Er wird wohl morgen wieder krank sein!“

Dieser Text will rückwärts gelesen sein. Der letzte Satz ist nicht ernst gemeint, denn er wurde in spöttischem Tone vorgebracht: als der Vater das letzte Mal krank war, da hatte ihn Anna im Verdacht, er habe „eine Pflanze im Bauche.“ Der Spott will also wohl sagen: Morgen wird der Papa wohl ein Kind haben? Doch es ist nicht ernst gemeint, der Papa wird kein Kind haben, sondern die Mama hat bloß Kinder, sie wird morgen vielleicht wieder eins haben und woher? ‚Was macht der Papa?“ Hier taucht unverkennbar eine Formulierung des schwierigen Problems auf: Was tut eigentlich der Vater, wenn er keine Kinder gebärt? Die Kleine möchte gar zu gerne Aufschluß über alle ihre Probleme haben, sie möchte wissen, wie Fritzchen zur Welt gekommen ist, sie möchte die Blümlein sehen, wie sie im Frühling aus der Erde hervor- kommen und diese Wünsche stecken hinter der Erdbebenangst.

Nach diesem Intermezzo schlief Anna ruhig bis am Morgen. Am Morgen befragte sie die Mutter: ‚Was hast du denn heute Nacht gehabt?“

!) Dieser Wunsch, sitzen zu bleiben bis in die tiefe Nacht bei Vater oder Mutter spielt später in der Neurose nicht selten eine Rolle. Der gewöhnliche Zweck ist: den elterlichen Koitus zu verhindern.

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Die Kleine hat alles vergessen und meint, bloß einen Traum gehabt zu haben: „Ich habe geträumt, ich könne den 80 mmer machen und dann hat jemand einenKasperlin den Abtritt hinunter- geworfen.“

Dieser sonderbare Traum hat offenbar zwei verschiedene Sze- nerien, die durch „dann“ getrennt sind. Der zweite Teil bezieht sein Material aus einem rezenten Wunsche, einen Kasperl zu besitzen, d.h. eine männliche Puppe, so wie dieMama ein Bübchen hat. Jemand wirft den Kasperl in den Abtritt, man läßt sonst andere Dinge in den Abtritt fallen. So wie die Sache auf dem Abtritt, so kommt auch das Kindchen heraus. Wir haben hier also die Analogie zur „Lumpf”- theorie des ‚‚kleinen Hans“. Wenn in einem Traume mehrere Szenen vorhanden sind, pflegt jede Szene eine besondere Variante der Kom- plexbearbeitung zu sein. So ist hier der erste Teil nur eine Variante eines mit dem zweiten Teil gemeinsamen Themas. Was es heißt, ‚den Frühling sehen‘, oder ‚die Blümlein herauskommen sehen“, das haben wir oben gesehen. Jetzt träumt Anna, sie könne den Sommer machen, d. h. bewirken, daß die Blümchen herauskommen, sie kann selber ein Kindchen machen, und der zweite Teil des Traumes sagt, so wie man den Stuhlgang macht. Hier haben wir den egoistischen Wunsch, der hinter den anscheinend objektiven Interessen des nächt- lichen Gespräches liegt.

Ein paar Tage später erhielt die Mutter Besuch von einer Dame, die ihrer Niederkunft entgegensah. Die Kinder achteten scheinbar nicht im Geringsten darauf. Folgenden Tags aber vergnügten sie sich unter Anführung der Älteren mit einem besonderen Spiel: Sie hatten sich alle alten Zeitungen des väterlichen Papierkorbes vorn unter die Röcke gestopft, so daß die Absicht der Nachahmung unverkennbar war. Nachts hatte die Kleine wieder einen Traum: ‚Ich habe eine Frau in der Stadtgeträumt,unddiehateinenganzdicken Bauch gehabt.“ Der Hauptakteur im Traume ist immer der Träumende selbst unter irgend einem bestimmten Aspekt; so findet das kindliche Spiel des Vortages seine völlige Deutung.

Nicht lange darauf überraschte Anna ihre Mutter mit folgendem Schauspiele: Sie hatte sich ihre Puppe unter die Röcke gesteckt, zog sie langsam, mit dem Kopfe nach unten, hervor und sagte: „Schau, da ko mmt JetztdasKindchenheraus, esist schonganz draußen.“ Damit sagte Anna der Mutter: „Siehst du, so fasse ich die Geburt auf, was meinst du dazu? Ist das richtig? Das Spiel-will nämlich als Bas

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aufgefaßt sein, denn wie wir später sehen werden, mußte sie sich noch eine offizielle Bestätigung dieser Auffassung geben lassen.

Daß die Rumination des Problems damit nicht etwa beendet war, zeigen gelegentliche Einfälle während der folgenden Wochen. So wiederholte sie das Spiel ein paar Tage später mit ihrem Bären, der die Funktion einer besonders geliebten Puppe hat. Eines Tages sagte sie zur Großmutter, indem sie auf eine Rose zeigte: „Siehst du, die Rose bekommt ein Kindehen.“ Der Groß- mutter wollte diese Meinung nicht recht einleuchten; Anna deutete aber auf den etwas geschwellten Kelch: ‚‚Siehst du, hier ist sie schon ganz dick.“ Ä

Einmal zankte sich Anna mit dem Schwesterchen und letzteres rief zornig: „Ich töte dich!“ worauf Anna entgegnete: „Wenn ich tot bin, so bist du ganz allein, dann mußt du zum lieben Gott beten um ein lebendiges Kindehen.“ Und schon hatte sich die Szene verwandelt; Anna war der Engel, und das Schwesterchen mußte vor ihr knieen und sie bitten, ihr ein lebendiges Kindchen zu schenken. So wird Anna zur kinderspendenden Mutter.

Es gab einmal Orangen zum Nachtisch, Anna verlangte ungeduldig danach und sagte: „Ich nehme eine Orange und schlucke sie ganz hinunter, ganz in den Bauch hinunter und dann bekomme ich ein Kindchen”

Wer denkt hier nieht an die Märchen, wo kinderlose Frauen durch Verschlucken von Früchten, Fischen oder dergleichen endlich schwanger werden?!) So versuchte Anna sich das Problem zu lösen, wieso die Kinder eigentlich in die Mutter hineinkommen. Damit nimmt sie eine Fragestellung auf, die bis jetzt noch nie mit solcher Schärfe formuliert wurde. Die Lösung erfolgt in Form eines Gleichnisses, wie solches dem archaischen Denken des Kindes eigen- tümlich ist. (Das Denken in Gleichnissen besitzt auch noch der Er- wachsene in der unmittelbar unter dem Bewußtsein liegenden Schicht. Die Träume bringen die Gleichnisse an die Oberfläche, ebenso tut es die Dementia praecox.) Bezeichnenderweise sind sowohl in den deutschen wie in zahlreichen fremdländischen Märchen derartige kindliche Ver- gleiche recht häufig. Die Märchen sind, wie es scheint, die Mythen der Kinder und enthalten darum unter anderm auch die Mythologie, die

!) Vgl. Riklin: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. F. Deuticke, Wien. Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 4

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sich das Kind über die sexuellen Vorgänge spinnt!). Der auch auf den Erwachsenen wirkende Zauber der Märchenpoesie beruht vielleicht nicht zum geringsten Teil darauf, daß in unserem Unbewußten noch einige der alten Theorien lebendig sind. Man hat nämlich eben gerade dann ein besonders eigenartiges und heimliches Gefühl, wenn ein Stück unserer fernsten Jugendzeit wieder angeregt wird, ohne dabei Be- wußtheit zu erlangen, sondern bloß einen Abglanz seiner Gefühlsstärke ins Bewußtsein sendet.

Das Problem, wieso das Kind in die Mutter hineinkommt, ist schwer zu lösen. In den Leib kommt doch nur das, was durch den Mund hineingeht; es ist daher zu vermuten, daß die Mutter irgend etwas wie eine Frucht gegessen hat, die dann im Leibe gewachsen ist. Doch nun kommt eine weitere Schwierigkeit, nämlich: man weiß zwar, was die Mutter hervorbringt, nicht aber, wozu der Vater gut ist. Es ist eine alte Sparregel des Geistes, daß man zwei Unbekannte gerne zusammen- hängt und bei der Lösung der einen auch die andere mitnimmt.

So befestigt sich beim Kinde sehr rasch die Überzeugung, daß der Vater bei der ganzen Sache irgendwie beteiligt ist, und zwar be- sonders darum, weil am Problem der Kinderentstehung immer noch die Frage offen ist, wieso das Kind in die Mutter hineinkommt.

Was tut der Vater? Diese Frage beschäftigte jetzt Anna aus- schließlich. Eines Morgens lief die Kleine in das Schlafzimmer der Eltern, wo die Eltern gerade bei der Toilette waren, sprang ins Bett des Vaters, legte sich auf den Bauch und strampelte mit den Beinen. Dazu rief sie: „Gelt, so macht der Pa pa?‘ Die Eltern lachten und beantworteten die Frage nicht, da ihnen erst nachher ein Licht aufging über die mögliche Bedeutung dieser Darstellung. Die Analogie zu dem Pferde des „kleinen Hans“, das mit den Füßen „Krawall macht“, ist überraschend.

) Das Märchen: ein Mythus des Kindes ist eine zu sehr abgekürzte De- monstration. Zunächst ist ja die Trägerin des Märchens die Mutter, welche die wirklichen Sexualverhältnisse kennt und jedenfalls nicht bewußt Symbolik übersetzt. Auch unbewußt wird es jetzt kaum mehr geschehen, indem die Sym- bolik seit Jahrhunderten festliegt und überdies schon in den ältesten Be in fast identischer Form nachgewiesen werden kann. Viele Symbole komme ifell auf dem Wege abergläubischer respektive vergessener kultische ah & * ins Märchen. Obschon sich die Deutung im einzelnen Falle irren k Be db h der Sexualcharakter eines wesentlichen Teiles der Märchensymb lik un ir N at Die Entstehungszeit der Symbole ist ziemlich früh ie jr .

infantil, d. h. analogisch gedacht wurde. Seit ; j . t jener Z ; . ; viel mehr als 100 Kulturgenerationen linker. eit sind allerdings wohl nicht

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Mit dieser letzten Leistung schien das Problem gänzlich zu ruhen, wenigstens waren die Eltern nicht in der Lage, entsprechende Beobachtungen zu machen. Daß das Problem gerade hier zum Stillstand kam, ıst nicht zu verwundern, denn man ist hier wirklich an der schwierigsten Stelle. Zudem weiß man aus Erfahrung, daß nicht all- zuviele Kinder schon im Kindesalter diese Grenze überschreiten. Das Problem ist fast zu schwer für den kindlichen Verstand, denn ihm fehlen noch viele unerläßliche Kenntnisse, ohne die das Problem nicht gelöst werden kann. Das Kind weiß nichts vom Sperma und nichts vom Koitus. Die eine Möglichkeit ist: Die Mutter ißt etwas, denn nur so kann etwas in den Leib kommen. Doch was tut der Vater dabei? Die häufigen Vergleiche mit der Pflegerin und mit anderen ledigen Personen waren offenbar nicht umsonst. Anna mußte daraus schließen, daß die Existenz des Vaters von Bedeutung ist. Aber was tut er? Der kleine Hans und Anna sind der Meinung, es müsse etwas mit den Beinen sein.

Der Stillstand dauerte etwa 5 Monate, während welcher Zeit keine phobischen Symptome und keine sonstigen Anzeichen von Kom- plexbearbeitung vorhanden waren. Nach Ablauf dieser Frist kamen Vorzeichen von Ereignissen. Annas Familie wohnte damals in einem Landhause an einem Gewässer, wo die Kinder mit der Mutter baden durften. Da Anna sich fürchtete, weiter als knietief ins Wasser vorzu- dringen, setzte sie der Vater einmal ins Wasser, was aber zu einem großen Geschrei führte. Abends beim Zubettgehen fragte Anna die Mutter: ‚„‚Gelt, der Papa hat mich ertränken wollen?“

Wenige Tage darauf wieder großes Geschrei. Sie hatte dem Gärtner solange vor den Füßen gestanden, bis er sie schließlich im Scherze in eine eben gegrabene kleine Grube stellte. Anna fing an, jämmerlich zu schreien und behauptete nachher, der Mann habe sie begraben wollen.

Zuguterletzt erwachte Anna noch einmal nachts mit ängstlichem Schreien. Die Mutter ging zu ihr ins Nebenzimmer und beruhigte sie. Anna hatte geträumt: „Eine Eisenbahn fahre da oben vorbei und falle um“.

Wir haben also auch noch die Stellwagengeschichte des ‚kleinen Hans‘. Diese Vorfälle zeigten zur Genüge, daß wieder Angst in der Luft war, d. h. daß wieder ein Hindernis gegen die Übertragung auf die Eltern sich erhob und daher ein größerer Teil Liebe in Angst konvertiert wurde. Diesmal richtet sich das Mißtrauen nicht gegen die Mutter,

sondern gegen den Vater, der doch die Sache wissen mußte, aber nie 4*r

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etwas davon verlauten ließ. Was der Vater wohl im Schilde führt oder tut? Dem Kinde erscheint das Geheimnis als etwas sehr Gefährliches, so daß man sich offenbar des Schlimmsten von seiten des Vaters ver- sehen muß. (Diese kindliche Angststimmung gegen den Vater sehen wir im erwachsenen Alter namentlich bei Dementia praecox wieder in deutlichster Weise. wie überhaupt diese Geisteskrankheit, als ob sie nach psycho-analytischen Prinzipien handelte, die Decke von vielen unbewußten Prozessen wegzieht.) Daher kommt Anna auf die an- scheinend sehr ungereimte Vermutung, der Vater wolle sie ertränken.

Anna ist unterdessen etwas mehr herangewachsen und ihr Interesse für den Vater hat eine besondere Tönung angenommen, die schwer zu beschreiben ist. Die Sprache ermangelt der Worte, um die ganz be- sondere Art zärtlicher Neugier zu beschreiben, die aus den Augen des Kindes leuchtet.

Es dürfte wohl kein Zufall sein, daß die Kinder zu dieser Zeit auch ein hübsches Spiel trieben. Sie ernannten die beiden größten Puppen zu ihren Großmüttern und spielten mit ihnen „Krankenhaus“, wobei ein Gartenhäuschen als Spital angenommen wurde. Dorthin wurden die Großmütter gebracht, interniert und über Nacht sitzen gelassen. Die ‚Großmutter‘ in diesem Falle erinnert verzweifelt an den ‚großen Bruder“ der Vorzeit. Es scheint sehr wahrscheinlich, daß die ‚‚Groß- mutter“ einfach die Mutter vertritt. So fängt also die Kleine schon an, die Mutter wegzuschaffen!). Diese Absicht wird ihr erleichtert dadurch, daß ihr die Mutter wieder Gelegenheit zur Mißachtung gegeben hat.

Das kam folgendermaßen: Der Gärtner hatte eine große Fläche angelegt, die er mit Gras besäte. Anna half ihm bei dieser Arbeit mit viel Vergnügen, anscheinend nicht die tiefe Bedeutung des „‚kindischen Spieles“ ahnend. Etwa 14 Tage später betrachtete sie oft mit Freuden das hervorkeimende junge Gras. Und einmal ging sie zur Mutter und fragte sie: „Sag mir, wie sind denn die Augen in den Kopf hinein- gewachsen?“

‘) Die Tendenz, die Mutter zu beseitigen, zeigte sich auch bei folgender Gelegenheit: Die Kinder hatten das Gartenhaus mit ihren Puppen als Wohnung bezogen. Ein wichtiger Raum des Hauses ist bekanntlich das Klosett, das selbst- verständlich nicht fehlen durfte. Dementsprechend verrichteten die Kinder ihr Bedürfnis in einer Ecke des Gartenhauses. Die Mutter konnte natürlich nicht umhin, diese Illusion zu stören, indem sie dergleichen Spiele verbot. Bald darauf bekam sie die Erklärung zu hören: „Wenn die Mama gestorben ist 435 machen wir alle Tage ins Gartenhäuschen und ziehen alle Tage die Bönntkgikleider an.“

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Die Mutter meinte, das wisse sie nicht. Anna erkundigte sich aber weiter, ob denn der liebe Gott das wisse und der Papa, warum der liebe Gott und der Papa alles wissen? Die Mutter wies sie an den Vater, sie solle ihn fragen, wieso die Augen in den Kopf hineinwüchsen. Einige Tage darauf war die ganze Familie beim Tee vereinigt, man hatte die Mahlzeit beendet und ging nach verschiedenen Seiten auseinander. Der Vater blieb noch etwas bei der Zeitung sitzen und Anna war auch geblieben. Plötzlich trat sie zum Vater und fragte: ‚Sag mir, wie sind die Augen in den Kopf hineingewachsen ?“

Vater: „Die sind nicht in den Kopf hineingewachsen, sondern sind schon von Anfang an drin und mit dem Kopfe gewachsen.“

Anna: „Hat man die Augen nicht gesetzt (gepflanzt)?

Vater: „Nein, sie sind halt gewachsen im Kopfe wie die Nase.“

Anna: „Aber sind der Mund und die Ohren auch so gewachsen? Und auch die Haare?“

Vater: „Ja, sie sind alle so gewachsen.“

Anna: ‚Aber auch die Haare? Die kleinen Mäuschen kommen doch ganz nackt auf die Welt. Wo sind denn die Haare vorher? Werden nicht Sämlein dazu gegeben?“

Vater: „Nein, weißt du, die Haare kommen schon aus so kleinen Körnchen, die wie Sämchen sind, aber die sind schon vorher in der Haut und es hat sie niemand gesät.“

Hier gerät nun der Vater etwas in die Klemme. Er ahnte, wo die Kleine hinauswollte; er wollte deshalb die so diplomatisch eingeführte Samentheorie, die sie in glücklichster Weise der Natur abgelauscht hatte, nicht umstoßen um einer einmaligen falschen Anwendung willen, denn das Kind sprach mit ungewohnter Ernsthaftigkeit, die sich Berück- sichtigung erzwang.

Anna (sichtlich enttäuscht, mit Betrübnis im Ton): ‚Aber wie ıst denn der Fritzchen in die Mama hineingekommen? Wer hat ihn denn hineingeklebt? Und wer hat dich in deine Mama hineingeklebt? Wo ist er denn herausgekommen?

Aus diesem Sturm plötzlich entfesselter Fragen wählte der Vater zur Beantwortung zuerst die letzte: „Denke mal nach, du siehst doch, daß der Fritzchen ein Bub ist; aus Buben gibts Männer, aus den Mädchen gibts Frauen und nur die Frauen können Kinder haben, die Männer nicht. Jetzt denke mal, wo wird der Fritzchen herausgekommen sein?“

Anna (lacht, freudig erregt, zeigt auf ihr Genitale): ‚Ist er da herausgekommen

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Vater: „Ja natürlich, das hast du doch gewiß auch schon ge-

dacht?”

Anna (die Frage überhörend, eilig): ‚Aber wie ist denn Fritzchen in die Mama hineingekommen? Hat man ihn gesetzt (gepflanzt)? Hat man denn Sämlein gesetzt?“

Dieser höchst präzisen Frage konnte der Vater nicht mehr aus- weichen. Er erklärte dem Kinde, das mit größter Aufmerksamkeit zuhörte, daß die Mutter sei wie der Boden und der Vater wie der Gärtner, der Vater gebe die Sämlein und bei der Mutter wüchsen sie und so entstehe ein Kindlein. Diese Antwort befriedigte sie außerordentlich, sie sprang sofort zur Mutter und rief: „Der Papa hat mir alles erzählt, jetzt weiß ich alles.” Was sie aber alles wußte, erzählte sie niemandem.

Folgenden Tags aber wurde die neue Erkenntnis ausgespielt. Anna ging zur Mutter und erzählte ihr: „Denk Mama, der Papa hat mir erzählt, wie Fritzchen ein Engelchen war und vom Storche aus denı Himmel gebracht wurde.‘ Die Mutter war natürlich erstaunt und sagte: „Das hat dir der Papa ganz gewiß nicht gesagt.‘‘ Worauf die Kleine lachend wieder davonsprang.

Das war offenbar die Rache. Die Mutter wollte oder konnte nicht wissen, wie die Augen in den Kopf hineingewachsen sind, sie weiß am Ende auch nicht einmal wie Fritzchen in sie hineingekommen ist. Darum kann man sie ruhig mit der alten Geschichte noch einmal aufs Eis führen. Sie glaubt es vielleicht doch noch.

Das Kind war jetzt beruhigt, denn seine Erkenntnis war bereichert und ein schwieriges Problem gelöst. Ein noch größerer Vorteil aber war der Umstand, daß sie ein intimeres Verhältnis zum Vater, das ıhre intellektuelle Unabhängigkeit nicht im geringsten beeinträchtigte, gewonnen hatte. Dem Vater freilich blieb die Unruhe, es war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, daß er dem 4!/,jährigen Kinde ein Ge- heimnis ausgeliefert hatte, welches andere Eltern sorgfältig hüten. Begreiflicherweise beunruhigte ihn der Gedanke, was Anna wohl mit ihrem Wissen anstelle. War sie indiskret und beutete sie es aus? Sie könnte ja unschwer ihre Gespielinnen belehren oder Erwachsenen gegenüber mit Wonne enfant terrible spielen. Die Befürchtungen erwiesen sich aber als gänzlich grundlos. Anna ließ nie und bei keiner Gelegenheit ein Wort darüber verlauten. Auch war mit dieser Aufklärung eine völlige Beruhigung des Problems erzielt, so daß keine Fragen mehr vor- kamen. Das Unbewußte allerdings verlor die Rätsel der Menschen-

Über Konflikte der kindlichen Seele. 59

schöpfung nicht aus dem Blick. Einige Wochen nach der Aufklärung erzählte Anna folgenden Traum:

„Sie träumte, sie sei im Garten und mehrere Gärtner stehen an den Bäumen und urinieren, dabei ist auch der Vater.“

Man erkennt das von früher ungelöste Problem: wie macht es der Vater?

Zur selben Zeit kam ein Schreiner ins Haus, um eine wider- spänstige Schublade zu reparieren; Anna stand dabei und sah zu, wie er sie abhobelte. In der Nacht hatte sie folgenden Traum:

„Der Schreiner hobelt ihr das Genitale ab.“

Der Traum läßt sich unschwer dahin deuten, daß Anna sich die Frage vorlegt: Geht es bei mir? Muß man nicht etwas Ähnliches machen wie der Schreiner, damit es geht? Die Annahme deutet darauf hin, daß dieses Problem der unbewußten Bearbeitung augenblicklich in besonderem Maße unterliegt, weil etwas daran unklar ist. Daß dem so ist, zeigte sich bei nächster Gelegenheit, die jedoch erst einige Monate später eintrat, als sich Anna dem fünften Geburtstage näherte. Unter- dessen war auch das jüngere Schwesterchen, Sophie, in diese Fragen hineingewachsen. Sie war zwar zugegen gewesen, als Anna zur Zeit der Erdbebenphobie aufgeklärt wurde. Sie hatte damals sogar eine an- scheinend verständnisvolle Zwischenbemerkung gemacht (vgl. oben). Die Aufklärung war aber in Tat und Wahrheit von ihr damals nicht verstanden worden. Das zeigte sich bald darauf. Sie bekam Zeiten, wo sie in vermehrtem Maße zärtlich war mit der Mutter, ihr nicht von der Schürze ging und zugleich auch recht unartig und gereizt war. An einem dieser bösen Tage wollte sie die Wiege des kleinen Brüderchens umstoßen. Die Mutter verwies ihr es, worauf sie in ein großes Geschrei ausbrach. Plötzlich mitten im lauten Weinen sagte sie: „Ich weiß ja gar nicht, woher die kleinen Kinder kommen.‘ Natürlich wurde ihr darauf die gleiche Erklärung zuteil, wie früher ihrer älteren Schwester. Damit beruhigte sich bei ihr das Problem anscheinend, und zwar für mehrere Monate. Dann kamen wieder Tage, wo sie weinerlich und schlechter Laune war. Einmal wandte sie sich ganz unvermittelt an die Mutter mit der Frage: „War denn Fritzchen in deinem Bauche?“

Mutter: ‚‚Ja.“

Sophie: „Hast du ihn herausgedrückt?“

Mutter: „Ja.“

Anna: (einfallend), ‚Aber unten hinaus?“

56 ©. G. Jung.

Sie wendete dabei einen kindlichen Terminus an, der ebensowohl für Genitale wie für Anus gebraucht wird.

Sophie: „Und dann hat man ihn heruntergelassen®?”

Der Ausdruck ‚‚heruntergelassen“ stammt von dem die Kinder sehr interessierenden Mechanismus des Waterklosetts, wo man die Exkremente ‚‚herunterläßt“.

Anna: „Ja war denn Fritzchen Erbrochenes?”

Anna hatte abends infolge einer leichten Verdauungsstörung Erbrechen gehabt.

Sophie hat nach mehrmonatiger Pause einen plötzlichen Anlauf genommen und sich noch einmal der früheren Aufklärung versichert. Diese nachträgliche Wiederversicherung scheint auf Zweifel hinzudeuten, die sich gegen die mütterliche Erklärung erhoben haben. Nach dem Inhalte der Fragen zu schließen, gingen die Zweifel aus von der un- senügenden Erklärung der Geburt. Der Ausdruck „herausdrücken“ wird von den Kindern für den Akt der Defäkation verwendet. Er zeigt, welchen Weg die Theorie auch bei Sophie nehmen wird. Ihre weitere Bemerkung, ob man Fritzchen dann ‚„heruntergelassen habe, zeigt eine völlige Identifikation des Brüderchens mit dem Exkrementum, die so weit geht, daß sie das Scherzhafte streift. Anna macht darauf die sonderbare Bemerkung, ob denn Fritzchen „Erbrochenes” ge- wesen sei? Ihr Erbrechen am Vorabende war ihr sehr eindrucksvoll gewesen. Sie hatte seit frühester Kindheit zum ersten Male wieder Erbrechen gehabt. Das war ein Weg, auf dem Dinge das Körperinnere verlassen können, an den sie bis jetzt offenbar nie ernstlich gedacht hatte. (Eigentlich bloß damals, als es sich um die Körperöffnung handelte und sie an den Mund dachte.) Sie lenkt mit ihrer Bemerkung von der Exkrementtheorie entschieden weg. Warum rät sie nicht gleich auf das Genitale? Der letzte von ihr berichtete Traum gibt uns eine Einsicht in die wahrscheinlichen Gründe: Am Genitale ist etwas, was Anna nicht versteht; da muß noch irgend etwas gemacht werden, damit es „‚geht“. Vielleicht ist es das Genitale gar nicht? Der Samen für die Kinder kommt vielleicht durch den Mund in den Leib so wie die Speisen und das Kind kommt dann heraus wie ‚‚Erbrochenes“.

Der detaillierte Mechanismus der Geburt ist also noch rätselhaft. Anna wurde von der Mutter wiederum belehrt, daß das Kind tat- sächlich unten herauskomme. Nach etwa 1 Monat erzählte Anna plötzlich folgenden Traum:

„Ich träumte, ich sei im Schlafzimmer von Onkel und Tante.

Über Konflikte der kindlichen Seele. 97

Beide lagen im Bette. Ich zog dem Onkel die Decke herunter, setzte mich auf seinen Magen und ritt!) darauf herum.“

Dieser Traum kam anscheinend sehr unvermittelt heraus. Die Kinder waren damals für mehrere Wochen in den Ferien und der Vater, der durch Geschäfte in der Stadt festgehalten war, war gerade an diesem Tage zu Besuch gekommen. Anna war besonders zärtlich mit ihm. Der Vater fragte sie scherzend: „Willst du heute abend mit mir in die Stadt reisen?“ Anna: „Ja und dann darf ich bei dir schlafen?‘ Zugleich hängte sie sich zärtlich an den Arm des Vaters, genau in derselben Weise, wie es die Mutter gelegentlich tut. Wenige Augenblicke darauf erzählte sie den Traum. Sie war einige Tage vorher bei der im Traum?) erwähnten Tante zu Gaste gewesen. Sie hatte sich auf jenen Besuch- gang besonders gefreut, weil sie mit Sicherheit voraussetzte, dort zwei kleinen Vettern zu begegnen, für welche sie ein ungeheucheltes Interesse an den Tag legt. Leider waren die Vettern nicht dort, worüber Anna sehr enttäuscht war. Irgend etwas in der gegenwärtigen Situation muß dem Inhalte des Traumes verwandt sein, damit er plötzlich wieder erinnert wird. Ganz klar ist die Verwandtschaft zwischen dem manifesten Trauminhalt und dem Gespräch, das sie mit dem Vater geführt hatte. Der Onkel ist ein schon recht alter Herr und dem Kinde nur aus einigen seltenen Begegnungen bekannt. Er ist im Traume eine lege artis aus- geführte Ersetzung des Vaters. Der Traum selber schafft einen Ersatz für die Enttäuschung des Vortages: sie ist im Bette des Vaters. Hier ist das tertium comparationis mit der Gegenwart. Daher wird der Traum plötzlich wieder erinnert. Im Traume wird ein Spiel wiederholt, das Anna oft im (leeren) Bette des Vaters ausgeführt hatte: nämlich dieses Reiten und Strampeln, im Spiel aber auf der Matraze. Aus diesem Spiele stammt die Frage: Macht der Papa so? (Vgl. oben.) Die aktuelle Ent- täuschung ist, daß der Vater auf ihre Frage antwortete: „Du darist dann allein im Nebenzimmer schlafen.“ Darauf folgt die Erinnerung desjenigen Traumes, der sie schon einmal bei einer erotischen Ent- täuschung getröstet hatte. Zugleich bringt der Traum eine wesentliche Verdeutlichung der Theorie: Es geschieht im Bette und durch die oben geschilderte rhythmische Bewegung. Ob die Bemerkung, daß sie sich dem Onkel auf den Magen setzt, mit dem Erbrechen etwas zu tun hat, ist noch nicht evident.

!) Der hierfür gebrauchte Dialektausdruck („uf und abgjuckt‘) ist un- übersetzbar, er heißt: eine in senkrechtem Sinne schnellende Bewegung ausführen. 2) Der Traum war ebenfalls einige Tage alt.

98 C. G. Jung.

Soweit reichen die bisherigen Beobachtungen. Anna ist jetzt etwas über 5 Jahre alt und weiß schon, wie wir gesehen haben, um eine Reihe der wesentlichsten sexuellen Tatsachen. Irgend eine schlimme Wirkung dieser Wissenschaft auf Moral und Charakter war nicht zu bemerken. Von der günstigen therapeutischen Wirkung sprachen wir schon. Es ergibt sich aus dem Mitgeteilten auch, daß die Jüngere Schwester offenbar einer für sie selbst bestimmten Aufklärung bedarf, und zwar dann, wenn sich bei ihr das Problem meldet. Ist es noch nicht reif, so nutzt auch, wie es scheint, die Aufklärung nichts.

Ich bin kein Anhänger der sexuellen Aufklärung der Kinder in der Schule oder überhaupt irgend einer mechanischen Generalaufklärung. Ich bin daher nicht in der Lage, einen positiven und allgemein gültigen Ratschlag zu erteilen. Ichkann nur einen Schluß aus dem mitgeteilten Materiale ziehen, nämlich: Man sehe einmal die Kinder an, so wie sie wirklich sind, und nicht wie wir sie zu haben wünschen, und man folge bei der Erziehung den Entwicklungslinien der Natur, nicht toten Prä- skriptionen. Wenn diese Forderung nicht Phrase sein soll, so gibt es nur einen Weg der Vollziehung, und das ist die Psychoanalyse. Was sie leistet, sieht man an diesem Stück kindlicher Geistesentwicklung.

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen.

Von Dr. J. Sadger, Nervenarzt in Wien.

Einleitung.

Am 15. Dezember 1908 wurde mir von Prof. Freud ein dänischer Graf von 32 Jahren zugewiesen, den sein Berater, Privatdozent der Psychiatrie und Direktor einer Irrenanstalt, dem Professor geschickt „in der Hoffnung‘, wie es im Begleitschreiben hieß, „daß Sie ihm helfen könnten“. Ich zitiere den mitgegebenen Brief: ‚Der Beruf des Patienten ist die Archäologie, worin er Bedeutendes geleistet haben soll. Seine Geschichte: Er stammt aus einer stark degenerierten Familie. Vater Gutsbesitzer. Eltern sollen zu einer trüben, melancholischen Stimmung neigen, unmotivierte ökonomische Befürchtungen hegen usw. Patient selbst immer schon reizbar, schüchtern, zurückgezogen, mitunter während der Kindheit zornmütige Accös, wo er ganz von Sinnen war, angeblich bewußtlos wurde, ganz blau im Gesicht. Später ausgesprochene Alkoholintoleranz mit atypischen Rauschzuständen, Automatismen, Dämmerzuständen, Amnesie. Als Offiziersaspirant einmal ein Anfall von Bewußtlosigkeit (epileptischer Natur?). Jetzt häufig kurzdauernde endogene Zustände trüber und reizbarer Stimmung, die ich als epi- leptischer Natur aufgefaßt habe. Immer un certain goüt pour la canaille, pour la crapule; verkehrt mit allerlei suspekten Figuren, Zirkusleuten, konnte in der unkritischesten Weise gewissen inferioren Typen seine Bewunderung schenken, sonst in seiner Wissenschaft sehr kritisch und originell. Hat immer eine starke Abneigung gegen- Homosexuelle ge- fühlt und konnte es niemals aushalten, in einer Gesellschaft mit solchen Personen zusammen zu sein. Gleichzeitig hat er indessen eine gewisse Anziehung an Männer konstatiert. Der weibliche Körper ist ihm nie

60 J. Sadger.

eigentlich schön vorgekommen. Immer stark sexuell, seit zwei Jahren verheiratet mit einer ehemaligen Prostituierten. Seine homosexuellen Regungen immer dunkel und halb unbewußt bis vor einigen Wochen, wo er sich in einen ganz unbedeutenden jungen Mann (Kellner) ver- liebte, mit dem er schon verabredet hatte, nach ÖOstende zu reisen, um nimmer zurückzukehren. Als er mich konsultierte, gab er falsche Auskünfte und wollte den Namen des Geliebten nicht nennen, der mir dann durch seine Frau bekannt wurde. Trotz ihrer Antezedentien soll diese letztere einen günstigen Einfluß auf den Patienten gehabt haben und ein willensstarkes und gutgesinntes Weib sein. So steht die Sache jetzt. Um eine unmittelbare Katastrophe zu vermeiden, habe ich ihn stante pede zu Ihnen geschickt. Ob was damit anzufangen ist, mag fraglich sein.“

Soweit die Anamnese des Arztes. Ich will ergänzen, daß Patient mit seiner Frau in einem unlegalisierten Verhältnisse lebte, die Eltern als Bedingung einer Versöhnung legitime Eheschließung verlangten, der er bislang noch immer Widerstand entgegengesetzt, daß endlich diese Frau nicht bloß eine ehemalige Dirne war als solche hatte sie auch schon ein Kind mit einem andern gehabt, das freilich bald darauf starb sondern obendrein vorher von einer Syphilis „geheilt“ worden war. Dann weiters, was die jüngere Schwester des Patienten über meine Anfrage betreffs der Mutter und deren Verhältnis zu ihrem Sohne etwas später schrieb. Ihr verhältnismäßig günstiges Urteil über die Mutter erhält dadurch noch besonderen Wert, daß dieses hoch- intelligente Mädchen am Bruder sehr hing und obendrein aus Verliebt- heit in den Vater zur Mutter in einem direkt feindseligen Verhältnisse stand. Ihre Mitteilung lautet:

„Mutter stammt aus einer sehr angesehenen und wohlhabenden Gutsbesitzersfamilie. Eltern und Geschwister sehr gesund. Kummerlose, angenehme Kindheit und Jugend. Mutter war 6 Jahre hindurch Hof- dame und heiratete mit 30 Jahren. Bis auf eine kurze Unterbrechung hat sie immer auf unserem Landgut gelebt. Sie war immer von vorzüglicher Gesundheit, guten Körperkräften und jugendlichem Aussehen. Doch hat sie mehr weniger an Schlaflosigkeit gelitten und ist immer etwas unruhig gewesen. Sehr gute Haushälterin und peinlich ordentlich, hat sie sich oft über Kleinigkeiten geärgert und etwas irritierend und de- primierend auf Mann und Kinder gewirkt. Sie ist immer die Steuernde ın der Familie gewesen, nicht aber auf kräftige, herrische Weise, sondern mehr durch Eigensinn und wegen der nachgebenden Natur ihres Mannes.

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 61

Ihre Kinder, die alle empfindlich, voll Phantasie und Gefühl waren, hat sie nie recht verstanden, nicht mit ihnen spielen oder sich herzlich benehmen können. Sie ist gut gebildet und begabt, aber ohne spezielle Interessen und kommt Fremden etwas kalt, trocken und konventionell vor. Im Grunde fühlt sie doch sehr tief, was man freilich äußerst selten bemerken kann. Namentlich ist ihre Natur außerordentlich zugeknöptt. Der Patient, ihr einziger Sohn, ist immer ihr Favorit gewesen. Er war stets ein weichliches, kränkliches Kind. Sie hat seiner gewartet, alle seine Wünsche erfüllt, den Vater manchmal gehindert, eine ebenso nötige wie ungewöhnliche Bestrafung auszuüben. Die Eltern haben dem Patienten nur die größte Freundlichkeit und Güte bewiesen, für ihn pekuniäre Opfer gebracht, aber er hatniediemoralische Stütze, Verstehen und Strenge, die ihm am nötigsten waren, be- kommen (von der Schwester unterstrichen). Gegen die Mutter hat er sich immer gefühllos und mehr und mehr nonchalant bewiesen, während sie sich immer nach Freundlichkeit von ihm gesehnt und über die kleinste Zärtlichkeit sehr gefreut hat, wie auch der Vater. Die Heimat ist ihm stets offen geblieben, auch nach der Verbindung mit einer Person, von einem Vorleben, das die Eltern und besonders die Mutter natürlich auf das höchste schmerzen und aufregen mußte. Der Patient hat sich in dieser Beziehung sonderbar gefühl- und rücksichtslos be- nommen, hat nicht verstanden oder verstehen wollen, den Wider- stand der Eltern, respektive Mutter, welche er für altmodisch, für die neuen radikalen und ‚freien‘ Ideen absolut unverständig und nur für den Schein lebend hält, zu brechen. Einige verzweifelte Briefe der Mutter haben ihn sehr empört und ihn ihr noch mehr entfremdet.“

Wie aus dem Berichte des Psychiaters hervorgeht, legte dieser das Hauptgewicht auf die Degeneration und die Epilepsie, während er die Homosexualität nur nebenbei streifte, weil sie just damals zum argen Skandal sich auszuwachsen drohte. Sein Urteil lautete ziemlich trostlos und noch nach sechs Wochen durchgeführter Psychoanalyse, als ich schon erkleckliche Besserung vermelden konnte, bekam ich zur Antwort: „Wenn Sie ein bißchen Ordnung in diese ungeordnete und detraquierte Psyche hineinbringen können, dann dürfen Sie mit Recht auf Ihr therapeutisches Können stolz sein.‘ Die Psychoanalyse von bloß fünf Monaten länger war sie aus äußeren Gründen nicht durchführbar, obwohl ich zwei Jahre veranschlagt hatte ergab bereits deutlich, daß nicht so sehr die zweifellose Degeneration im Vorder- srunde des Krankheitsbildes stand oder mindestens dem Kranken

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weit weniger Beschwerden machte, als die Auswüchse seiner Vita sexualis. Neben der schreienden Homosexualität erwies sich gar bald, daß die für das Kind normalen geschlechtlichen Perversionen auch beim Jüngling und Mann noch persistierten, was wohl auf die schwere Belastung zurückgeht. Als Krankheit jedoch empfand er nicht sie und die anderen Stigmen der Degeneration, sondern lediglich deren öftere Verschärfung durch akute sexuelle Schädlichkeiten, sowie die angebliche Epilepsie. Auch die letztere empfing durch die Psychoanalyse verborgen geblieben sexuelle Deutung und völlige Heilung. Ehe ich das alles im einzelnen ausführe, will ich von dem Kranken einen kurzen

Lebensabriß

entwerfen. Bis zu seinem 10. Lebensjahre wurde er auf dem Landgute seiner Eltern erzogen, zuerst von diesen, dann fortlaufend von einem Kindermädchen, zwei Gouvernanten und einem Hofmeister. Mit 10 Jahren kommt er zum Besuche des Gymnasiums in die Hauptstadt, wo er bei einem Onkel untergebracht wird. Nach Absolvierung der Mittel- schule tritt er mit 18 Jahren auf Wunsch seines Vaters, der selber Offizier gewesen, in dessen früheres Regiment ein, bleibt aber daselbst nur 3?/, Monate, worauf er wegen einer angeblichen Gehirnentzündung quittieren mußte. Da sein Interesse schon vorher durch den Bruder des Vaters auf Kostümkunde und Rüstungen gelenkt worden war, begann er, um in der Rekonvaleszenz eine leichtere Beschäftigung zu haben, an der Waffensammlung des Museums zu arbeiten, und bezog dann später die Universität, wo er Kunst- und Kulturgeschichte stu- dierte. Im ersten Jahre der Universitätszeit hat er viel gesoffen und Hasard gespielt und auch seine Intoleranz gegen Alkohol gezeigt, die zu Dämmerzuständen, ja ausgesprochenem Bewußtseinsverlust führte. Dies zügellose Leben währte ein Jahr, dann begann er sich wieder am Museum zu betätigen, ernsthaft zu studieren und auch am politischen Leben teilzunehmen, wo er natürlich Radikaler wurde. Das brachte auch den scheinbar ersten Konflikt mit seinem Vater. Als Graf aus altadeligem Hause nämlich hatte er eine Einladung zu Hof bekommen, auch der Vater wünschte sehnlichst, er möge dorthin gehen, doch er lehnte ab, angeblich wegen seiner differierenden politischen An- schauung, und trieb es absichtlich zum Bruche mit dem Vater. Da er ein J ahr beim Militär verloren, obendrein seinen Chef (einen Ver- wandten) öfter am Museum vertreten mußte und das Studium der Kulturgeschichte sehr mühsam und langwierig, ward er 27 J ahre,

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 63

als er die Universität verließ und eine Stelle an der Waffensammlung des Museums annahm. Hatte er von den Eltern sich schon vorher derart zurückgezogen, daß er sie nur noch zweimal im Jahre besuchte, so kam es mit 30 Jahren zu völligem Bruche, als er mit einer Pro- stituierten einen gemeinschaftlichen Haushalt begann und seinen Eltern, die sich schließlich mit allem zufrieden geben wollten, nicht einmal die Konzession einer kirchlichen Trauung gewähren mochte. Schon früher, von der Militärzeit ab, hatte er seinen homosexuellen Neigungen reichlich, wenn auch nur platonisch gefrönt. Kurz vor seiner Herreise nach Wien jedoch bestand die Gefahr, daß er sich mit einem Kellner arg verplempere, den er seit 14 Tagen kannte und da nur sieben Mal gesprochen hatte. ‚Je öfter ich ihn sah,‘ erklärte Patient gleich in der ersten Analysenstunde, ‚desto stärker wirkte er auf mich. Das erste Mal gefiel mir sein Aussehen und Wesen, ich habe ihn immer ansehen müssen und mich gleich zu ihm hingezogen gefühlt.‘ Er begann ihn auszufragen nach seinen Verhältnissen, Stellung, ob er mit seinem Berufe zufrieden sei, und rückte endlich mit dem Vorschlage heraus, gemeinsam mit ihm nach Ostende zu reisen, worauf der andere bereit- willig einging. Doch da kam die Ernüchterung. Teils hatte die Frau schon Lunte gerochen und sich ins Mittel gelegt, teils drängte sich ıhm selber die Erkenntnis auf, das müsse ein schlechtes Ende nehmen, kurz er suchte einen Psychiater auf, der, wie wir schon wissen, ıhn samt der Frau nach Wien expedierte. Im Verlaufe der hier eingeleiteten Analyse ergab sich nun, daß der Kranke nicht bloß die vom Psychiater vermeldeten Symptome der Degeneration, Alkoholintoleranz, epilepsie- artigen Anfälle und Homosexualität aufwies, sondern daneben noch ein reichbesetztes Sexualprogramm, von dem etwa anzuführen wären: eine Reihe von Äußerungen des Autoerotismus, wie Onanie, Narzismus, eine Art von Selbstkoitus, will sagen: Versuche und Phantasien, sich selbst mit dem Membrum in den After zu dringen, einen mächtigen Schautrieb und Exhibitionismus und eine ganz ungeheuerliche Anal- erotik; dann weiter Statuenliebhaberei, masochistische und sadistische Züge, Selbstgeißelung, pyromanische Antriebe und eine Dysuria psy- chica. Wie man sieht, eine ansehnliche Musterkarte. Von dieser will ich die Homosexualität

zuerst vornehmen. Als ich ıhn fragte, was er denn vom Kellner eigentlich ersehnte und wie sein Typus beschaffen sei, kam folgende Antwort: „Auch wenn ich mit ihm gereist wäre, hätte ich eigentlich nicht ge-

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wußt, was ich mit ihm beginnen solle. Ich wollte nur seine Nähe, eventuell mit meiner Hand seine Schultern und Oberarme fassen. Ich glaube, das allein gewährte mir schon sexuellen Genuß. Vielleicht hätte ich ihm auch die Hoden gestreichelt, aber nicht den Penis. Es wäre mir genug gewesen, wenn er Erektionen bekommen hätte. Bei mir kommt nämlich alles durch die Augen, meine meisten und stärksten Gefühle, wenn ich etwas sehe. Eshätte miralso genügt, seinen Penis steifzu sehen, ohne ihn anzurühren. Doch hätte ich gewünscht, daß der Hodensack sich unter meiner Hand kontrahiere, die Hoden dürfen auch nicht hängen und schlaff sein, hingegen ist eine Erektion nicht unbedingt nötig.“Als ich nach weiteren sexuellen Strebungen forsche, meinte er, zu küssen liebe er überhaupt nicht, wohl aber hätte er gern den Arm um des Kellners Hüfte geschlungen, neben ihm zu liegen gewünscht, vor allem aber hätte ihn verlangt, von hinten und unten jenem an die Hoden zu greifen, während dieser selber ruhig liege, so daß er alles sehen könne. ‚Das aber wäre das äußerste, das übrige ist ganz asexuell, ich wollte ihn nur vergnügt sehen. Hätten wir zusammen gereist, so wären wir miteinander spazieren gegangen, ich hätte ihm Geologie und Kultur- geschichte vorgetragen (was vermutlich dem Kellner besonderes Ver- snügen bereitet hätte), ihm von den Wundern der Natur erzählt, wir hätten zusammen gespeist und wären stets bei einander gewesen, so daß ich ihn immer hätte ansehen können.‘ Fassen wir einmal kurz zusammen: das Auge ist ihm der wichtigste Sinn, die Quelle aller, auch sexueller Genüsse. Den Geliebten wünscht er stets anzusehen und zu bewundern, ihn zu belehren, ihm an die Hoden zu greifen, die stramm sein sollen und sich unter seiner Berührung kontrahieren. Endlich besteht auch noch der Wunsch, seine Schultern mit den Händen zu umfassen.

Die Frage nach dem Typus beantwortet er so: ‚‚Mich ziehen zwei Sorten von Menschen an: 1. Jünglinge von 17, 18 Jahren, das ist der wichtigste und beliebteste Typus, und 2., aber schon erheblich weniger, Männer von 25 bis 30 Jahren. Die Jünglinge sollen ein wenig weiblich sein, mit lebhaften, fesselnden Augen, sonst aber still, nur die Augen müssen immer lebhaft sein, doch bloß wenn sie auf mich gerichtet sind, fesselnd wie Rehaugen, ein bißchen wehmütig dreinschauen und an meinem Gesichte hangen. Homosexuell darf der J üngling nicht sein, weil mich alles Unnatürliche abstößt. Ferner muß er eine kräftige Muskulatur besitzen, dasWeibliche darf nur in der Haltung zum Ausdruck kommen, d.h. er darf nicht stramm militärisch auftreten, eher weiche

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 65

Formen. Auch ein wenig Intelligenz muß da sein und etwas Aristo- kratisches in den feinen Zügen und dem Oval des Gresichtes.‘“ Diesem Typus gehört auch der Kellner an, den er folgendermaßen schildert: „Blond, ein wenig bleich, ovales Gesicht, sehr schlank, aber nicht zu groß. Feine Hände, wenn auch nicht so lange Finger, als ich sonst wünsche und für aristokratisch halte. Lichtgraue Augen, sehr niedrige Schultern, Hals und Rücken ein wenig gebogen, durchaus nicht mili- tärische Haltung. Besonders zogen mich Gesicht und Haltung an, die Schultern sind nicht mein Typus, schadeten aber in diesem Falle nichts. Der 2., der Männertypus, zeigt ein gesundes Aussehen, muß blut- und kraftvoll sein, auch sexuell kraftvoll. Ich muß annehmen können, daß ein solcher Mann sehr oft mit Weibern sexuell verkehrt. Intellektuell braucht er nicht hervorragend zu sein, er darf sogar den unteren Schichten angehören, wenn er nur gut gepflegt ist. Dieser Typus reicht vom Offizier bis zum Straßenbahnkondukteur.‘‘ Während er für den 1. Typus wirklich Liebe fühlt und z. B. in Wien nur für diesen empfindet, hat er für den 2. nach seiner Behauptung ‚eigentlich keine Neigung, sondern nur ein lebhaftes Interesse mit einem Bei- geschmack von Sexualität. Es interessiert mich, was man von ihrem Ge- sichte in sexueller Beziehung ablesen kann. Nur solche Männer in diesem Alter interessieren mich, die einen Drang zum weiblichen Geschlechte haben, was ich am Gesichte erkenne. Solche Männer sehen sehr gesund aus, haben frohe Augen mit kleinen Furchen in den Augenwinkeln, scheinen glücklich zu sein, sind niemals düster und traurig und haben auch Arbeitsenergie. Sie dünken mich den idealen Typus von Männern darzustellen, sie können etwas durchsetzen und dabei habe ich noch ein Nebengefühl sexueller Reizung. Ich wüßte nichts mitihnen zu machen, aber ich stelle mir immer vor, wie dieser Mann ein Weib koitiert, und das reizt mich, ich bekomme selbst Neigung zu koitieren‘“,

Zwischen diesen beiden erstgenannten Typen scheint keineÄhnlich- keit zu bestehen. In zwei späteren Sitzungen jedoch kam eine Reihe von Ergänzungen zutage, die jene beiden sehr nahe brachte. Da gab Patient nämlich folgendes an: „Die einzelnen Personen des 1. Typus sind einander gar nicht ähnlich. Das Gemeinsame ist, glaube ich, das Jugend- liche, und zwar weniger die frische Farbe als die jugendlich-weiche Haut. Die entscheidende Rolle aber spielen die Augen. Ich liebe sowohl die großen offenen als die langen, nicht zu viel geöffneten. Alle müssen sie leuchtend sein, Sehnsucht muß aus ihnen sprechen und Sinnlichkeit. Gerade das stark leuchtende, ein wenig feuchte Augen zieht mich an.”

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. U. 5)

66 J. Sadger.

Wie sich später herausstellte, hatte er gerade solche Augen an sich selber beobachtet als er sich mit 15, 16 Jahren im Spiegel studiertet). Ein andermal wieder erzählte er, daß es in den Straßen Wiens von Jünglingen des 1. Typus, besonders Kadetten, nur so wimmle im Gegen- satze zu seiner Heimat. ‚Es beschäftigt mich bei diesen Leuten stets der Gedanke: Wie stellt sich die sexuelle Frage für diesen Mann, quält ihn geschlechtliches Verlangen, ist es schon erwacht oder noch nicht? Es wäre für mich von großem Interesse, den Roman eines solchen ver- folgen zu können, wie seine geschlechtliche Entwicklung verläuft, seine Liebe zum Weibe. Denn in den meisten Fällen glaube ich, dab es alle anderen recht machen, nur ich selber nicht, und ich möchte auf diese Art erfahren, wie ich es selber anstellen sollte. Vielleicht trachte ich auch zu erfahren, wie ein frecher Mensch geht, sich bewegt und trägt, um selber einen so frechen Menschen spielen zu können. Denn ich wünsche nicht, den Menschen zu zeigen, daß ich unglücklich bin. Endlich tragen die Kadetten auch Säbel oder Bajonett zur Schau, also ihren Penis.“

Am 15. Tag der Analyse machte er mir noch einen 3. Typus namhaft, den sogenannten ‚‚wissenschaftlichen‘‘, von dem er vier Exem- plare liebte, durchwegs hochbegabte, wissenschaftlich hervorragende Männer, sämtlich blond und viel (10 bis 30 Jahre) älter als er, von politischer Gesinnung liberal bis radikal. ‚All diese Leute haben ferner gesehen, daß ich etwas leisten kann und mir Mut zugesprochen, so daß ich wieder Glauben an mich gewann.‘ Mit diesen drei Typen sind aber dıe von ihm geliebten Jünglinge und Männer, deren Zahl Legion ist, keineswegs erschöpft. Es gibt eine Menge von Übergängen sowie endlich zwei Männer, die in keinen der genannten Typen passen: Vater und Onkel Archäologen.

Seiner Homosexualität bewußt geworden sei Patient erst mit 18 Jahren. Früher war er zwar schon homosexuell, doch ganz unbewußt. Er habe nie ein Mädchen begehrt und schon mit 15 Jahren den männlichen Körper für schöner angesehen als den weiblichen. Auch beim späteren Studium der Kunstgeschichte fand er immer, daß die männlichen Statuen schöner seien als die weiblichen. Ebenso interessierte ihn

| !) Ich will hier gleich einfügen, was für die ganze Analyse gilt, daß ich um nicht allzu weitwendig zu werden, nur die Resultate der Analyse RR ek aber den Widerstand, der stellen- und zeitweise äußerst stark war. Ein en ware eu zu meinen, daß die Behandlung so glatt verlaufen, |

Kürze halber dargestellt wird. als sie im Texte der

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in der Kulturgeschichte und in der Tracht der Mann mehr als das Weib, männliche Kostüme mehr als weibliche. „Ich habe nie wie die meisten Schulknaben ein Mädchen verehrt und bin nie mit einer gegangen.“ Hingegen verliebte er sich als 18jähriger Kadett in einen 17jährigen Kameraden vom 1. Typus. „Er hatte so wunderschöne Augen und Gesicht, daß ich ihn lieben und immer anschauen mußte. Die Augen waren sehr strahlend, das Gesicht sehr fein, die Haut desselben zart und gut gefärbt. Diese Liebe, bei der ich meiner Homosexualität mir zuerst bewußt ward, währte nur zwei Monate. Dann wurde er versetzt.“ Übrigens hat er sich ihm gar nie zu nähern versucht, so daß sich nicht einmal ein derart intimer Verkehr entspann wie mit anderen Kameraden. Dann habe er noch vor dem Kellner sich mit 25 Jahren in einen 23]Jährigen Museumskameraden verliebt, der mehr dem 1. Typus als dem 2. angehörte. „Eigentlich war er nicht schön und hatte auch keine harmonischen Züge, wohl aber sehr große, starr dreinblickende Augen, starke, affenartige Augenbrauenbogen und ein sehr intelligentes Gesicht. Mich hat eigentlich sein Wesen angezogen. Wir waren Kame- raden, hatten dieselben Interessen, ganz die nämlichen Ideen und beide gute Augen. Wir studierten alles mit den Augen, nicht aus Büchern. Ich glaube, wir liebten uns gegenseitig. Wir lebten zusammen, waren alle Tage zusammen, gingen gemeinsam überallhin, kurz wir waren unzertrennliche Freunde. Ich liebte ihn, saß bei ihm, schlang meinen Arm um seine Schultern und Taille, zu mehr aber kam es nicht. Denn als ich merkte, daß ich sexuelle Neigung zu ihm bekam, sagte ich ihm es und daß wir uns trennen müßten, was dann auch geschah. Das Ganze dauerte nur einen Herbst.‘“ Die Entstehung dieser sexuellen Neigung beschrieb er so: „Ich hatte das Verlangen, ihn zu lieben, nackt mit ihm zusammenzuliegen in einem Bette. Wir badeten auch zu- sammen, wobei ich fortwährend seinen Körper mit den Augen ver- schlang. Ich erinnere mich noch an seine Brustwarzen, die sehr groß waren, größer und dunkler als sonst bei Männern; ferner an seine Mus- kulatur, besonders seine gut ausgebildeten Schultermuskeln, die wie Kugeln an den Schultergelenken lagen. Hingegen haben mich die Hoden zu jener Zeit noch nicht interessiert. Eines Abends, als wir im Variete zusammen saßen, kam es mir zum Bewußt- sein, daß ich ihn mehr als wie einen Freund liebe, daß mit meiner Liebe etwas Sexuelles verbunden sei. Ich glaubte, wenn wir zusammenlebten, würden wir homosexuell miteinander verkehren, wenn ich mir auch nicht klar machte wie. Vielleicht war es mir mehr darum zu tun, daß er

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mich liebe, mich umarme und küsse, ‘mir die Hände streichle und den Körper, mir über Schultern, Brust und Rücken streichle und mich stark in seine Arme presse. Ich weiß nicht, ob ich mir das Ganze klar machte, aber es lag wohl hinter meinen Gefühlen für ihn. Es erschien mir so abscheulich, daß ich ihn sexuell liebte. Wenn es zu etwas Geschlecht- lichem gekommen wäre, wäre mir die Sache so abscheulich erschienen, daß es sicher zum Bruche geführt hätte. Deshalb brach ich lieber vorher, damit ich die Erinnerung rein behielte. Wir sind noch jetzt gute Freunde. Dieser Freund hat mich auch ganz verstanden. Wir fürchteten beide, daß wir uns trennen müßten, wenn es zu mehr käme.“

In all diesen drei großen Liebschaften spielt also die Hauptrolle das Ansehen und Bewundern des Freundes und das eigene Bewundert- und Gestreicheltwerden durch diesen Freund. Daneben tritt das Interesse für die kugelförmigen Schultermuskeln, die Brustwarzen und später für die Hoden hervor, sowie das Verlangen, nackt neben dem Geliebten zu liegen. Des weiteren ein ausgesprochener Abscheu vor sexuellem Verkehr, der ihn zu vorzeitigem Abbrechen zwingt, selbst bei dem Kellner.

Bei diesen Harmlosigkeiten sollte es nicht bleiben. Am 25. Tag der Analyse, nachdem er sich tagsvorher an Männern verschiedentlich gereizt, bekam er dann nachts sehr starke homosexuelle Anfechtungen. Zuerst Verlangen nach anderen Männern, zum Schluß nach dem Kellner. Was er zu Hause wegen seiner Flucht nach Wien nicht hatte ausführen können, begann er jetzt in der Phantasie auszuspinnen. Wie sie ge- meinsam ihr Reiseziel wählten, dort telephonisch Zimmer bestellten, gemeinsam soupierten, er ihn ausfrage usw. Da diese Gedanken ihn quälten, weckte er die Frau, die nun auf ihn einsprach und ihn zärtlich am ganzen Körper streichelte, wie er es so liebte, vom Kopf bis zu den Füßen. Diesmal jedoch wollte nichts verfangen, ja es war ihm bei ihren Liebkosungen sogar, als empfinge er sie vom Kellner. Seine Phantasie begann nun höher zu fliegen. Er malte sich aus, wie ihn der Kellner im After koitiere und ihn dabei gleichzeitig mit der Hand onaniere. Die ganze Zeit über fühlte er sich nicht wohl, die Phantasien waren ihm widerwärtig, aber sie ließen sich doch nicht verscheuchen. Endlich kam er zur Ruhe, nachdem er seine Frau halb widerwillig normal koitiert hatte.

| Ich möchte zum Schlusse noch anführen, daß er sehr häufig zu dreien liebt und auch wissenschaftlich arbeitet, im Triumvirat oder „Dreibund“, wie er sagt. Das war schon in der letzten Gymnasialklasse

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 69

so und beim Militär, noch mehr dann in der Studenten- und Museums- zeit. Er schafft und wirkt am besten in einem Triumvirat und stets, wenn er etwas durchführen will, geschieht es zu dreien. Ihm fällt dabei die Rolle des heftig Vorstürmenden zu, seine Rede führt die Sache im allgemeinen theoretisch durch, den Kameraden obliegt es dann, seine Ideen festzuhalten und auszuführen, weil er als echter Schwer- belasteter nach dem ersten Anstoß sehr schnell ermüdet. Auch im Gespräche und in Gesellschaft liebt er die Dreizahl und haßt jede größere Zusammenkunft, angeblich weil bei Dreien die Unterhaltung gemeinsam sein muß, während schon bei Vieren sich zwei und zwei zusammenfinden. Die Vorliebe für den Dreibund geht soweit, daß er selbst seine Frau ursprünglich nur zusammen mit einem andern je- weils Geliebten besitzen wollte, ja sogar auch jetzt noch den Kitzel ver- spürt, einen Dritten heranzuziehen. Diese Dreibundssucht entstand, wie er meint, durch sein Zusammenleben mit den Schwestern. In der ganzen Kindheit bis zum 10. Jahre waren sie seine einzigen Kameraden, der ursprüngliche Dreibund, der unter anderm auch geschlossen wurde zu gemeinsamem Auftreten gegen eine verhaßte Gouvernante. Als treibendes Motiv für einen späteren Dreibund nennt er in der Analyse: „Bigentlich gefiel es mir ganz gut, so einen kleinen Herrscher zu spielen. Wäre ich allein gewesen, so wäre mir vieles nicht gelungen.‘ Eine tiefere Begründung jenes Dreibundes werden wir späterhin kennen lernen. Nun wollen wir uns einmal

die Familie

des Patienten besehen. Nur flüchtig will ich hier des Onkel Archäo- logen gedenken, in welchen er unzweifelhaft verliebt war, wie später in einen anderen Mann, der diesem in einer Reihe von Zügen glich. Dieser Onkel war auch der einzige gewesen, der schon in der Schulzeit seine Kostümestudien lobte und ihn dabei stets unterstützte. Seinem Einflusse ist es vornehmlich zu danken, daß Patient sich dem jetzigen Berufe zuwandte. Seine weitere Bedeutung werde ich später noch wiederholt zu besprechen haben.

Nun zu dem Vater. Schon im Berichte des Psychiaters stand die Degeneration der Eltern erwähnt, zumal ihre Neigung zu trüben Stimmungen. Nach Angabe des Sohnes leide der Vater auch an Absenzen, die er mit einem Sturz vom Pferde in ursächlichen Zusammenhang bringt. Vor diesen Anfällen drei davon habe er selber beobachtet bekomme der Vater oft eine Aura, ein Brummen im Ohre, infolgedessen

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er auch schlechter höre, dann stellten sich gewöhnlich die Absenzen ein, doch niemals noch ein größerer Anfall. Diese Absenzen, dann des Vaters Gicht und sein zeitweiliges schlechtes Sehen und Hören hat der Sohn, wie wir späterhin hören werden, hysterisch imitiert. Lange Zeit war der Vater für ihn ein höheres Wesen, erst in den letzten Jahren, streng genommen erst seit seiner Heirat vor zwei Jahren, begann ihn Patient mit anderen Menschen zu vergleichen. Über sein Verhältnis zum Erzeuger bemerkt er folgendes: ‚Im Grunde bewundere ich ihn, denn er ist ein sehr arbeitsamer und tüchtiger Mensch. Früher Offizier, hat er außerdem noch einige Eisenwerke geleitet. Er war sehr beschäftigt und hatte sehr wenig Zeit für uns Kinder, zumal er im Dienste der Eisenwerke oft für lange Zeit verreisen mußte. Wir liebten den Vater alle sehr und waren überaus glücklich und froh, wenn er von der Reise zurückkehrte. Während der Schulzeit lebte ich fern von ıhm, so daß ich ihn eigentlich gar nicht kannte und nie so ganz Intim mit ihm wurde.“ In späteren Jahren kam dann der Zwist wegen der Einladung zu Hofe. Im Verlaufe des Streites erklärte der Sohn, fortab für sich selber sorgen zu wollen, während der Vater nur sehr niedergeschlagen wurde, ohne ıhm ein böses Wort zu geben. Tatsächlich kam jetzt unser Patient bloß zweimal jährlich in die Heimat und nur mit dem Onkel Archäologen unterhielt er noch familiäre Beziehungen. Der letzte und schwerste Konflikt mit dem Vater datiert von der Ehe mit der Prostituierten, die, legitim zu freien, er sich beharrlich aus im Grunde nichtigen Mo- tiven weigerte. Der Vater wünscht sehnlichst, daß alles wieder gut würde, und verlangt nur, von der Mutter angestiftet, die offizielle Trauung. Allein, obgleich es ihm selber weh tut, mit dem Vater nicht zusammenkommen zu können, der, wie er mit Schrecken wahrnehmen muß, immer mächtiger altert, obschon er ihn ferner trotz aller Streitig- keiten immer mehr bewundern muß als echt aristokratisch-vornehme Natur, endlich auch sein gutes Herz preist und rühmt, das ihn treibe, den Sohn ganz unaufgefordert und fast überreichlich mit Geld zu versehen, verlangt er doch, der Vater solle den ersten Schritt zur Versöhnung tun. Dabei ist es ihm vollständig durchsichtig, daß der Streit sich nur um eine Formalität drehe, und gıbt er selbst zu, seit seiner Heirat alle Liebe zum Vater geflissentlich unterdrückt zu haben. „Ich war herzlos gegen ihn, suchte ihn niemals auf, er mußte immer mich rufen. Ich habe niemals um Geld gebeten, sondern er mußte es mir stets anbieten. Ich bat dann ferner auch nicht um Versöhnung, weil ich ganz sicher weiß, er will es tun, und so habe ich der Sache den An-

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strich gegeben, als sei der Bruch stärker, als er in Wirklichkeit war. Der Vater wolle mich gar nicht sehen.‘“ Natürlich liegen die Gründe des Konfliktes weitaus tiefer, denn in divergierender politischer oder sozialer Anschauung und es ist sicher kein Zufall, daß er gerade infolge seiner Ehe so gewaltig ausbrach. All dies wird später ausführliche Besprechung finden müssen.

Im Leben des Patienten spielt wie bei jeder Homosexualität die entscheidende Rolle aber nicht der Vater, sondern die Mutter. Sie bezeichnet der Sohn als furchtbar adelsstolz und bigott, wenig intelligent und ohne eigene Meinung. Dabei lese sie fast nichts, so daß sie keine neuen Anschauungen aufnehme. Er sei von jeher ihr Liebling gewesen und habe sich unter den Geschwistern noch am besten mit ihr verstanden. Allmählich jedoch, so mit 15, 16 Jahren kam die Ent- fremdung, weil er sich von ihr gar nicht mehr verstanden fühlte und sie kaum mehr ertrug. Seit dem 16. Jahre, da er eigene Interessen bekam, erinnert er sich nicht, je intimer mit ihr gesprochen zu haben. Noch später begann er sie direkt zu hassen, nachdem er an- geblich einsehen gelernt, daß sie alle drei Kinder verkehrt erzogen, d. h. nur für eine christliche Welt, und daß alle Schwierigkeiten der Geschwister nur von jener religiösen Erziehung herrührten. Diese suche nur das Böse im Menschen zu unterdrücken, nie sein Gutes zu fördern. Wie sich bald herausstellte, steckt ein anderer begründeterer Vorwurf hinter diesen Worten: die Mutter habe ihn nämlich sexuell ganz schlecht erzogen. Nie konnte man mit ihr wie mit anderen Müttern offen über Erotisches reden, vom Sexuellen habe sie stets ein ganz falsches Bild gegeben, jeder außereheliche Verkehr erschien ihr als sündig, ja, schon wenn ein Junger Mann sich einem Mädchen näherte und mit ihm scherzte, fand sie es unrecht. Nie habe sie ihn oder die Schwestern gefördert, nie er bei ihr Verständnis gefunden wie später bei zwei fremden Frauen, die ıhm Zimmer vermieteten, mit 20 und mit 23 Jahren. Die hätten nicht bloß ihre Kinder vernünftig sexuell erzogen, sondern auch ıhn selber weit besser verstanden, ihm Mut zugesprochen, seinen Wert erkannt, während die eigene Mutter immer erst von Fremden auf solche Dinge aufmerksam gemacht werden mußte. Mit ihr könne man über gar nichts reden, ganz im Gegensatze zu jenen genannten Frauen. Und während er noch mit 14 Jahren derart an seiner Mutter hing, daß ihr Lob, welches sie einem Vetter spendete, ihn zu furchtbarer Eifersucht entflammte und er diesen nicht einmal mehr grüßen wollte, so sah er sie jetzt nur mit haßerfüllten Augen an. Nachträglich erwachten

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nun schwere Vorwürfe gegen sie, die er bislang gut unterdrückt hatte. Sie sei geistlos und beschränkt, allzeit an Kleinigkeiten und Äußer- lichkeiten klebend. Als er noch nicht einmal 5 Jahre alt war, habe sie ihn schon zu Unrecht bestraft, später wieder ihre Kinder gequält und ihnen kein Vergnügen gegönnt. Stets wolle sie alles selbst diri- gieren. Auch sei sie geizig und dabei trotz alles Sparens doch unökonomisch.

Dieser letztere Vorwurf gehört schon in ein sehr wichtiges Kapitel, den bei ihr geradezu klassisch ausgebildeten Analcharakter, der sich auf Kosten einer gut unterdrückten Analerotik bildet!). Die Mutter habe sich niemals etwas Ordentliches vergönnt, berichtet der Sohn. Wenn sie vom Lande in die Hauptstadt kam, ging sie nie ins Restaurant, sondern lieber etwas Kaltes am Bufett, weil dies weniger koste. Bei Einkäufen nehme sie immer die weitaus schlechteren Sachen, wenn sie nur eine Kleinigkeit billiger kämen. Am unerträglichsten aber sei ihre Ordnungssucht und Pedanterie. Jedes Ding müsse seinen bestimmten Platz haben. Wenn z. B. drei Bücher auf einem Tische liegen, müsse immer dasselbe Buch oben oder unten liegen, auch wenn sie gleich groß seien. Abends, wenn alles schlafen gegangen, gehe sie noch ein paar Stunden herum, um alles auf den richtigen Platz zu stellen. Wenn es naß war oder regnete, war ihr alles Vergnügen an einer Reise ver- dorben, weil sie immer daran dachte, wie die Kleider leiden würden. Nun noch ein paar weniger bekannte Symptome. „Mutter hatte wenig Vertrauen zu anderen. Keiner kann es ordentlich machen. Drum wünschte sie immer, alles selber zu tun, und wenn sie schon andere heranziehen mußte, so durften sie ihr höchstens Handreichung leisten. Die eigent- liche Arbeit machte sie stets selbst, was alle im Hause ohne Ausnahme verdroß. Man wird sehr leicht ungeduldig, ja zornig gegen die Mutter, denn alles muß nach ihrem Kopfe gehen. Zu einer Reise entwirft sie immer ein großes Programm, das sie buchstäblich befolgt, wenn auch andere viel wichtigere Dinge dazwischen kommen‘). Endlich noch ein paar Reste der schon aufgezehrten und zur Charakterbildung ver- wendeten Analerotik, wie sie besonders durch die pflichtgemäße Kinder- pflege wieder geweckt wurden. ‚‚Sie fürchtet auch immer Darmkrebs zu bekommen, an dem ihre Mutter gestorben war, und wendete alle mög-

| ‘) Vgl. S. Freud, „Charakter und Analerotik‘ in der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“, 2, Folge, 1909, Seite 132.

= 5 ! ) Zu diesen Symptomen sowie den nachfolgenden vergleiche meinen Auf- satz „Analerotik und Analcharakter‘‘, ‚Die Heilkunde‘, Februar 1910

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 73

lichen Mittel gegen Verstopfung an. Sie wartete stets ängstlich auf Leibesöffnung und, wenn sie einen Drang zu verspüren glaubte, ließ sie sofort alles liegen und stehen. Sie hat sich aber nicht bloß selbst fortwährend Irrigationen gemacht, sondern diese auch in größerer Zahl ihren Kindern versetzt, zumal mir, als sie entdeckte, daß ich Würmer habe.‘ Daß dies nicht bloß therapeutische Sorgfalt, beweist, daß sie ihre Kinder möglichst lange noch selbst auf den Topf setzte, auch zu großen Geschäften, und daß unser Patient noch immer von der Mutter abhängig blieb, als alle Kameraden sich längst zur analen Selbständigkeit schon durchgerungen hatten.

Ich will hier eine Episode einflechten, auf welche Patient den Haß gegen seine Mutter zurückführt. „Als ich mit 13 Jahren sehr schwächlich war und sehr schlecht aussah, äußerte der Hausarzt zur Mutter die Vermutung, ich onanierte, sie möge mir doch einmal ins Ge- wissen reden. Mutter war davon so überwältigt, daß sie eines Abends weinend zu mir kam: ‚Du sollst dich nicht berühren, das ist eine große Sünde!‘ Meinen Protest, ich verstünde nicht, was sie meine, ließ sie nicht gelten. ‚Du verstehst mich sehr wohl, aber du willst es nicht ver- stehen!‘ Verschärft wurde mein Verdruß über diese Ungerechtigkeit, als mir ein Vetter später mitteilte, er habe wieder durch seine Mutter, die ihn mit Recht wegen Masturbation zur Rede stellte, von meiner angeblichen Onanie vernommen, d. h. meine Mutter hatte der seinigen, die ihre Schwester war, davon gesprochen. Das ärgerte mich nun außer- ordentlich, denn das hatte mir die Mutter verheimlicht.‘‘ Vielleicht nahm er sich beides auch deshalb so zu Herzen, weil der Hausarzt tat- sächlich Recht gehabt hatte. Der Junge hatte wirklich schon Onanie- gefühle gekannt, d. h. beim Seilklettern in der Turnstunde mehrmals Ejakulationen bekommen, gefolgt von einem eigentümlich-angenehmen Gefühl, ohne die Bedeutung dieser Vorgänge zu verstehen. Als er dann später mit 15, 16 Jahren tatsächlich zu onanieren begann, da merkte er wohl, daß die Mutter ihm nachspionierte, namentlich die Leintücher morgens untersuchte, was ihn natürlich nur zu vermehrter Vorsicht spornte und, wie er vermeint, auch seinen Haß gegen die Mutter weckte. „Das Vertrauen hatte ich schon früher verloren, damals begann vielleicht der Haß gegen sie.‘ Ohne die Bedeutung all der genannten Faktoren zu bestreiten, ist doch zu bemerken, daß dieser Haß durch die un- gerechte Beschuldigung und das Nachspionieren wohl eine neue Nahrung erhielt und sie zum willkommenen Anlaß des Bruches genommen wurden, daß aber jene feindselige Regung weit tiefer wurzelt, gleichwie der

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Verdruß, die Mutter habe ıhm etwas verheimlicht. Doch davon später. Es blieben noch die beiden Schwestern zu besprechen. Sie sind unvermählt geblieben, haben ihre rote Gesichtsfarbe verloren und sind frühzeitig gealtert, trotzdem dies keineswegs in der Familie lag. Die ältere wurde später Krankenpflegerin und ist wahrschemlich homosexuell. Sonst ist von ihr nichts Besonderes zu sagen.

Viel wichtiger ist für unseren Patienten die jüngere Schwester, die eine Reihe pathologischer Züge aufweist. Als schwersten Anfälle von Bewußtlosigkeit gleich Vater und Bruder, die sich seit ihrem 14. Jahre ganz regelmäßig wiederholen, bei angestrengter Tätigkeit jede Woche, wenn sie weniger arbeitet, jegliches Halbjahr. Sie dauern länger als bei ihrem Bruder, oft !/, Stunde, bisweilen geht eine Aura 5 bis 10 Minuten vorher. ‚Im geologischen Institut fand man sie nicht selten am Boden liegen und, wenn sie mit jemand geht, fühlt sie es oft kommen und verlangt eine Droschke, rasch nach Hause zu fahren.” Krämpfe und Verziehen des Gesichtes hat unser Patient an ihr nie ge- sehen. Seit etwa zwei Jahren wird sie zeitweise „durch Nervosität“ fast blind, was sich dann wieder gibt und wohl eine Imitation und Identifikation mit dem heißgeliebten Vater darstellt, der auch stets über schlechtes Sehen klagt. Sie war als Kind recht lange arge Ex- hibitionistin, die bis zu 10 Jahren ganz nackt oder nur im Hemdchen vor allen herumlief. Als unser Patient 4 Jahre zählte, sah er sie einmal mit weit gespreizten Beinen auf dem Topfe urinieren. Damals erblickte er zum ersten Male das weibliche Genitale an der Schwester, das ihm fortab als Muster diente für alle seine diesbezüglichen Vorstellungen und Zeichnungen. Die Schwester hatte weiter eine lebhafte Analerotik, saß immer sehr lange auf dem Kloset und drückte als Kind ihre kotbe- schmutzten Finger an den Aborttapeten ab. Späterhin nach der Subli- mierung ward sie peinlich sauber und verwendete im Übermaß den Irrigator. Früh zeigte sie schon den Trotz und Eigensinn des Anal- charakters. „Was sie nicht recht fand, tat sie nie, auch wenn es der Wunsch der Eltern war. Eine Gouvernante hatte sie einmal wegen einer Sache bestraft, die sie nicht begangen. Darauf beleidigte sie die Gouver- nante und die Eltern verlangten, sie solle sie um Verzeihung bitten, wozu sie ‚aber nicht zu bringen war. Trotzdem sie einen ganzen Tag lang in ein finsteres Zimmer eingesperrt wurde, erklärte sie doch, sie tue es nicht, und setzte ihren Willen durch. Seit meiner frühesten Kindheit steht es mir vor Augen, was für einen starken und guten Charakter

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen, 15

sie hat, Auch von anderen verlangte sie immer ein starres Festhalten am Rechte. Sie hat mir auch allezeit nicht bloß gepredigt: ‚ein Mann, den ich schätzen soll, muß ein Charakter sein!‘, sondern hatte obendrein die Theorie vom reinen Mann, d. h. der Mann müsse völlig rein in die Ehe treten, genau wie das Weib!).

In ihrem ganzen Leben hatte sie nur eine Puppe, die fünf Jahre aushielt und zu der sie eine ganz besondere Liebe hegte. Sie nahm sie zu sich ins Bett, schlief mit ihr und spielte mit ihr lieber wie mit den Geschwistern. Als diese Puppe in der Schwester 10. Lebensjahre von einem andern zerschlagen wurde, trauerte sie ihr tief und lange nach und wollte keine andere mehr haben. Schon als Kind war sie ein kleines Original. Sie konnte niemals im Wagen fahren, sonst wurde sie krank. Ferner spielte sie nicht wie andere kleine Kinder, sondern bloß mit Naturgegenständen, Steinen, kleinen Bäumen u. dgl., nicht mit Puppen. In späteren Jahren setzte sie es trotz großen Widerstandes der Mutter durch, daß sie die Gärtnerei lernen durfte (aus durchsichtigen sexuellen Gründen?). Ursprünglich Lehrerin, studiert sie jetzt Geologie. Ich glaube, sie lebt überhaupt nur, weil sie Geologie studiert, sonst wäre sie schon längst zusammengebrochen. Das Leben wäre ihr wertlos und da hat man keinen Widerstand. Daß sie Lehrerin geworden, ist, glaube ich, nur unterdrückte Liebe zum Mann (sc. Vater). Auf dem Lehrerinnen- seminar fand sie übrigens außerordentlich viel Liebe von seiten ihrer Kolleginnen. Sie hat jetzt auch etwas Männliches im Gesicht, mindestens ist es ganz und gar nicht weiblich, auch abgesehen von der sehr hohen Stirne und der sehr kräftigen Nase. Es ist geradezu verdorben zu heißen und besteht fast nur aus den ungeheuer großen Augen. Jetzt bringt ihr dieselbe homosexuelle Neigung und Bewunderung meine Frau entgegen, die ihr in allem nachzuahmen trachtet, was gar nicht selten

!) Über den analen Ursprung dieses Verlangens vergleiche meine Studie „Analerotik und Analcharakter‘“,

?) Man denke an das tägliche Begießen, an die Düngerhaufen, an die aus Träumen und Hysteriesymptomen gar wohl bekannten Genitalsymbole der ver- schiedenen Blumen und Gemüsearten. Zu beachten ist natürlich, daß nicht jeder Gärtnerei eine sexuelle Bedeutung zukommt. Wer mit 14 Jahren zu einem Gärtner in die Lehre eintritt, macht dies nicht anders wie ein Schuster- oder Schneider- lehrling. Ganz anders ist es selbstredend zu werten, wie ich dies schon dreimal beobachten konnte, wenn ein candidatus juris, ein Professursaspirant oder eine Lehrerin von unwiderstehlichem Verlangen gepackt wird, sich plötzlich auf die Gärtnerei zu werfen; da ließen sich immer verborgene sexuelle Motive aufdecken, die jene sonst unbegreifliche Leidenschaft genügend erklärten.

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meine Eifersucht weckt. Früher habe ich sehr gut mit ihr harmoniert, sie hatte großen Einfluß auf mich und mir über vieles die Augen geöffnet. Unter anderm auch schon mit 10 Jahren über die Fehler der Mutter, die sie scheinheilig hieß, während sie den Vater leidenschaftlich liebte, was sich periodenweise steigerte.“

Interessant ist endlich, daß unser Patient mit 24 oder 25 Jahren direkt Inzestgedanken auf sie hatte. „Es regte sich nämlich in mir der Gedanke, ich würde ihr einen großen Dienst erweisen, wenn ich sie koitierte, weil sie eine alte Jungfer zu werden begann und sichtbar verblühte durch den Mangel an sexuellem Verkehr. Ich wußte, sie würde nie einen Mann finden, der ihr rein genug wäre, und dachte, mir würde es leichter gelingen als einem andern, sie zum Koitus zu bewegen, weil wir einander sehr innig liebten. Ich zeigte ihr einmal ein Buch, welches von der Geschwisterehe in Alexandria handelte, und daß der Autor meinte, die Rasse werde durch sie keineswegs degeneriert, sondern nur die Eigenschaften fixiert.‘ Trotzdem er der Ansicht ist, seine Schwester habe ihn ganz gut verstanden, sagte sie nichts weiter, sondern machte ihm Vorwürfe über seinen Verkehr mit Prostituierten und Zirkusdamen. Sie hatte nämlich damals bei einem Besuche die Photo- graphie seiner erstgeliebten Prostituierten gefunden. Da er verzweifelte, ihre ethischen und religiösen Skrupel beseitigen zu können, gab er die Inzestgedanken bald wieder auf.

Beim Studium der Urninge ist es üblich, nach

homosexuellen Zügen in der Verwandtschaft

zu suchen. Außerdem lenkte ich beim Salzburger Psychoanalitischen Kongreß die Aufmerksamkeit auf die häufige Mischung männ- licher und weiblicher Züge bei den Allernächststehenden. In unserem Falle ließ sich außer dem schon bei den Schwestern Er- wähnten noch Folgendes feststellen: Der Kranke selber, ein Mann ' von 32 Jahren und 182 cm Höhe, hat noch ausgesprochen kindliche Züge, dabei ein breites Becken!) und ein fettes Gesäß. Vater und Schwester sagten immer, erzählt Patient, ‚‚es wäre eine Verwechslung gewesen, ich hätte ein Mädchen werden sollen“. Wenn ich mich z. B. als Nonne kleidete, war ich eigentlich schöner als meine Schwester, hatte eine feinere Haut und einen kleineren Mund und im allgemeinen gehörten die weiblichen Züge mir zu. Der Vater ist ausgesprochen

1) Deshalb i Ei vermutlich bewundert er an Kadetten besonders das schmale

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 17

männlich, hat aber als Jüngling und Offizier sehr gerne gestickt und besorgt noch heute bei den Jagden das Frühstück. Von der Mutter ist nichts Besonderes anzuführen. Der Onkel Archäologe wurde schon in der Jugend von den Brüdern geneckt, daß er lieber bei der Mutter hocke, statt zu jagen oder zu reiten wie sie. Auch heute noch hat er für diese Künste keinen Sinn, desto mehr für das Hauswesen, so daß er dem Großvater bis ans Lebensende die Wirtschaft wie eine Hausfrau führte. Von höchst sanfter Gemütsart, benahm er sich auch den be- suchenden Kindern der Verwandten gegenüber wie eine Mutter. Ein jüngerer Bruder des Vaters ist kokett im Äußern, schnürte sich als Leutnant wie eine Frau und kräuselt sich die Haare. Ein Onkel mütter- licherseits ist Haarfetischist, die älteste Schwester der Mutter hat ausgesprochen männliche Züge und trägt nur männlich geschnittene Kleider. Mehrere Vettern und Cousinen ersten bis dritten Grades sind homosexuell, eine Kousine des Vaters ausgesprochene Virago. ‚Sie ist wie ein alter Junggeselle, hat auch nicht geheiratet, spielt mit Vor- liebe männliche Rollen im Schauspiele, natürlich auch in männlicher Kleidung, und liebt es, in Gesellschaft von sexuellen Dingen zu reden und ältere Leute zu skandalısieren“. ,

Heterosexuelles.

Wenn ich bislang fast nur die Homosexualität besprach, so ist doch zu beachten, daß auch das Weib als Sexualobjekt unserem Kranken nicht fremd war und beispielsweise, während er mit dem Kellner durch- zugehen abredete, er gleichzeitig mit einer gewesenen Prostituierten in stetem, genußvollen Sexualverkehre lebte. Wir hörten ferner von seinen bedeutsamen heterosexuellen Regungen selbst zu streng ver- pönten Geschlechtsobjekten, z. B. von der Liebe zur Mutter, die beim l4jährigen heftige Eifersucht entflammte, und von Inzestgedanken auf die Schwester noch mit 24 Jahren. Und ich werde gar bald noch eine Reihe von Fällen anführen können, da er nach einem Weibe ver- langte, so daß man trotz aller gleichgeschlechtlichen Velleitäten den Patienten doch nur als bisexuell bezeichnen darf, wenn auch, wie ın allen gleichartigen Fällen, mit vorwaltender Triebrichtung aufs eigene Geschlecht.

Ehe ich auf seinen Frauentyp eingehe, muß ich hier eine Persön- lichkeit nachtragen, die für sein Leben von tief einschneidender Be- deutung wurde: das Kindermädchen nämlich. ‚Sie kam in unser Haus,“ berichtet Patient, ‚‚als ich etwa 3 Jahre zählte, und blieb bis zu meinem

78 J. Sadger.

17. Jahre. Allerdings sah ich sie zwischen 10 und 17 nur im Sommer. Sie war es, die mich in meiner Kindheit erzog, und nicht die Mutter. Von meinem 3. bis 6. Jahre schlief sie mit mir und meinen Ge- schwistern in einem Raume, vom 7. ab kam ich dann gern aufihr Zimmer, ging auch gerne mit ihr spazieren und darf sagen, daß ich sie wirklich liebte. Zu meinen frühesten Erinnerungen, vielleicht schon mit 3 Jahren, gehört, daß ich sie öfter mit Armen und Beinen umschlang (die Arme um ihre Knie), damit sie nicht fortgehe. Wahrscheinlich hatte ich Angst, allein zu bleiben.“ Bei dieser Umarmung hatte er schon damals ein Spannungsgefühl im Kreuz, das uns später noch als sexuell begegnen wird. „‚Gleichfalls aus der nämlichen frühen Zeit erinnere ich, daß ich sie ebenso mit Armen und Beinen zu umschlingen pflegte, wenn ich von ihr auf den Topf gesetzt wurde.‘ Beide Reminiszenzen sprechen für seine Liebe zu ihr. In ganz früher Kindheit sah er sie auch einmal ohnmächtig werden, als sie sich in den Finger geschnitten hatte und das herausfließende Blut erschaute. Endlich noch eine bedeutsame Erinnerung aus dem 7. oder 8. Jahre. ‚Morgens gleich nach dem Auf- stehen pflegten wir Geschwister so gebadet zu werden, daß sie aus einem großen Schwamme Wasser über Kopf und Körper ausdrückte und uns dann trocken rieb. Einmal nun, da ich aufrecht stand, schwenkte sie meinen Penis hin und her, was mich sehr zornig machte. Ich riß mich los und verbot es ihr streng, behielt jedoch im übrigen die Sache für mich. Was sie dazu trieb, weiß ich nicht. Sie war vielleicht die einzige sinnliche Person in meiner Umgebung. Als Landmädchen hatte sie gesunde, rote Backen und große, blaugraue, sinnliche Augen.“

Ich stellte auf dem Salzburger Tag die Behauptung auf, alle Invertierten ohne Ausnahme zeigten einen sehr früh und stark auf- tretenden Sexualtrieb, der sich vorerst regelmäßig nicht dem eigenen, sondern dem andern Geschlechte zuwende; die homosexuellen Re- gungen seien überhaupt erst ein späteres Stadium und fänden die Er- lebnisse mit dem andern Geschlechte für die homosexuellen Ideale Verwertung; hinter den männlichsten Sexualidealen jegliches Urnings ließen sich ausnahmslos weibliche Urgeliebte nachweisen. | Wie liegt die Sache in unserem Falle? Da tritt sehr früh und vor gen BEER Regung die Liebe zum Kindermädchen auf, das

eren später zu nennenden Mädchenidealen sehr wichtige

Züge zum geliebten J ünglingstypus hergibt und allerlei homosexuellen

Wünschen. Mit 5 bis 7 Jahren taten es ihm zwei Schwestern an, Cousinen

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 79

3. Grades, deren ältere zwei Jahre mehr zählte als er!). Sie hatte gleich- falls die frische Gesichtsfarbe, daneben, was später im Jünglingstypus wiederkehrt, ein langes, schmales, ovales, ariıstokratisches Gesicht. Diese Mädchen gehörten zu den wenigen Gefährten, mit denen er als Kind zu spielen in die Lage kam. Mit 8 Jahren machten wieder zwei andere Schwestern sehr starken Eindruck auf sein Herz, wunderschöne und allgemein gefeierte Cousinen 2. Grades, die ihn auch sichtlich bevorzugten. Auch hier zählt die ältere zwei Jahre mehr als er. „Ich habe sie mindestens stark bewundert, wahrscheinlich aber auch direkt geliebt. Ich mußte fortwährend ihr Aussehen bewundern. Ihr Gesicht war reizend, blaugraue bis schwarze, sinnliche Augen, schön geformte rote Lippen, sehr schmale, schön geformte Augenbrauen. Sie hatte auch eine gewisse männliche Art, genau wie ihre Brüder, ja noch mehr als diese. Die sinnlichen Augen und die rote Gesichtsfarbe des Jünglingstypus gehen zweifellos auf sie und das Kindermädchen zurück‘'?). In der ersten Gymnasialzeit verliebt er sich im Hause des Onkels in eine Freundin von dessen Tochter mit großer, gerader, grie- chischer Nase, welche, wenn auch nicht regelmäßig, im Männertypus wiederkehrt. Desgleichen mit 13, 14 Jahren in ein ebenso altes Mädchen mit schwarzem, wolligem Haar, was die Ursache war, daß er später in einen Jüngling mit ebensolchen Locken eine Zeitlang vergafft war. Bei all diesen Mädchen handelte es sich stets nur um ganz Platonisches, um bloßes Ansehen und Bewundern. Doch gestand er den Kameraden und seinen Schwestern, daß er jene Mädchen heiß bewundere. Dann folgt eine Pause bis zum 18. Jahre, wo er in ein hochadeliges, doch ultra- demokratisch tuendes Mädchen sich zweifellos verliebte, wie er mit voller Bestimmtheit angibt. Er träumte auch von ihr und findet sie noch heute wunderschön. Sie hat zuerst soziales Interesse bei ihm geweckt und aus dem kurz vorher, noch als Kadetten, höchst Adelsstolzen einen Erzdemokraten und -radıkalen gemacht. Am bezeichnendsten aber ist ein anderer Punkt. Als er sie kennen lernte, war sie mit einem Kameraden von ihm, einem Mediziner, verlobt, der sie später auch freite. In diesen verliebte er sich nun homosexuell und er ist jetzt sein Hausarzt. Da

!) Dieser Umstand, der noch einmal wiederkehrt, weist wohl auf seine um zwei Jahre ältere Schwester hin, an der er in der Kindheit und Jugend mehr hing wie an der jüngeren. Er zwischen den beiden eigenen Schwestern ist zweifellos Vorbild für diese und die nächste Verliebtheit.

?) Freilich werden wir für die sinnlichen Augen noch ein anderes Vorbild kennen lernen, nämlich ihn selbst.

80 J. Sadger.

fand also wieder direkt Übertragung der Neigung statt vom geliebten Weib auf den geliebten Mann. Allerdings war damals schon die völlige und definitive Abkehr von der Mutter erfolgt. Es kamen dann noch zwei Liebesaffären ohne tiefere Bedeutung.

Wie man sieht, ist die Liste der Mädchenliebschaften für einen angeblich Homosexuellen wirklich nicht klein. Und was ich in Salzburg als Regel aufstellte: das frühzeitige intensive Auftreten des Sexualtriebes, und zwar zunächst immer zum andern Geschlecht, daß ferner hinter der Liebe zum Mann konstant die zu Frauen der Kindheit stecke, deren Eigenschaften im homosexuellen Ideale dann wiederkehren, dies alles findet sich auch in diesem Falle vollständig bestätigt.

Dies Transskribieren vom Weibe auf den Mann tritt selbst in seiner letzten Zeit in einem Zuge deutlich hervor. Seit etwa 8 Jahren hat er einen Frauentyp, der ihn fesselt. Es sind 16- bis 18jährige Mädchen, sehr lebhaft, nicht zu groß und dick, doch ‚‚von blutvollem Aussehen“ und häufig auch mit kleiner Nase. Verliebt hat er sich nun freilich nie in ein solches Mädchen, allein er spürte ein Verlangen nach dem Koitus mit ihr, was wohl hinter seinem Interesse steckte. Häufiger nun als Mädchen sieht er Jünglinge dieses Typus. Bald fesseltihn der männ- liche Typus mehr, bald wieder der weibliche. Auch an älteren Frauen findet er mitunter Gefallen, doch müssen sie dann weit jünger aussehen. Seine Frau z. B. hatte, als er sie kennen lernte, direkt ein kindliches Aussehen (also genau wie er selbst). Übrigens studiere er auch gern seine eigenen Bilder von 15 bis 25 Jahren!).

Ich muß hier noch ein Kapitel einflechten über

sein Verhältnis zu den Prostituierten.

Als ich ihn das erste Mal danach fragte, erzählte er mir, er habe wie soviele Schwerbelastete an häufigen Depressionen gelitten und in solcher Zeit sei er ohne sexuelles Verlangen zu einer Dirne gegangen, nicht um mit ihr zu verkehren, sondern bloß um mit ihr zu schlafen. „Ich hatte einen Menschen, mit dem ich sprechen konnte. Zu Kameraden kann man so spät in der Nacht nicht gehen. Auch findet man unter den Prostituierten oft recht intelligente. Ich war übrigens auch bei ihnen immer monogam und suchte stets ein und dieselbe auf. Eigentlich wollte ich nur mein Herz ausschütten und die Zeit tot- schlagen; zudem konnte ich auch nicht schlafen, denn ich litt viel an

+) Hier schlägt die Sache ebenso wie bei der Frau direkt in den Narzismus um, wovon ich später handeln werde.

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. sl

Schlaflosigkeit. Meist verkehrte ich ja sexuell mit ihnen, aber einige Male ging ich direkt nur hin, mit ihnen in einem Bette zu schlafen. Die erste, zu der ich kam, war eigentlich zu dick und alt für meinen Geschmack (sie 28, ich 24), aber sie war sehr intelligent und sehr liebens- würdig zu mir, nicht bloß auf das Geld erpicht wie andere Dirnen, und bedauerte mich auch. Später ging sie mit einem Varietekünstler davon und war seitdem verschollen.‘ So erzählte er, wie gesagt, das erste Mal auf meine Frage. In der nächsten Stunde aber stellte sich heraus, daß er mir nicht die volle Wahrheit gebeichtet hatte. Jene Dirne war nämlich nicht seine erste, sondern die fünfte. Bis zum 25. Jahre onanierte er regelmäßig. Doch war er bis dahin schon dreimal bei einer Dirne gewesen, immer in Begleitung eines Kameraden, was, wie wir später hören werden, seinen bestimmten Sinn hat. Das erste Mal, noch beim Militär, ging er hin, ohne verkehren zu wollen, das zweite Mal mit 19 Jahren an der Universität, schon in der Absicht zu koitieren, schützte sodann aber Krankheit vor, teils aus Furcht, sich aus Unkenntnis zu blamieren, teils daß man seine Masturbation nicht entdecke. Das dritte Mal mit 24 bis 25 Jahren ging er wieder mit einem Kameraden zu einer Dirne, eigentlich um so spät noch Bier zu trinken. Die Dirne war aber sehr intelligent und gefiel ihm. Er legte sich zu ihr, bekam aber aus Furcht keine Erektion. Als er sie einige Wochen später wieder auf- suchte, war sie verreist. Er meint, das zweite Mal hätte er sicherlich reüssiert. Endlich gelang ihm der Koitus wirklich mit 25 Jahren bei der vierten Dirne, einem jungen, hübschen, lächelnden Mädchen, das er in die Höhe hob, ins Bett trug und sofort koitierte. Bei der ging es auf einmal ganz von selbst, angeblich weil er gar keinen Ekel vor ihr empfand. Sie entsprach bis auf die Augen seinem Weibtypus. Mit dieser verkehrte er in den nächsten 14 Tagen jede oder jede zweite Nacht, war also mit einem Schlage sehr potent. ‚Das Leben begann mir sehr gut zu gefallen, die Arbeit ging mir flott von der Hand, alles schien mir hell und licht.“ Da”entdeckte der Arzt plötzlich einen tuberkulösen Spitzenka- tarrh an ihm und schickte ihn aufs Land. Als er zurückkehrte, war die Dirne weg, was ihn sehr unglücklich machte. Er bot alles auf, sie auszu- kundschaften, ja übernahm sogar eine wissenschaftliche Expedition nach N., wo er sie wiederzufinden hoffte, doch ganz vergebens. Er tröstete sich dann mit Zirkus, Variete und Masturbation, allein es währte ein volles Jahr, bis er wieder zu Prostituierten ging. Damals begann auch seine Schlaflosigkeit. Endlich suchte er doch eine Dirne auf, um mit ihr zu sprechen und bei ihr zu schlafen. Es war die Gebildete, von der er Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 6

83 J. Sadger.

mir gleich zu Anfang als der ersten sprach, während sie in Wahrheit die fünfte gewesen. „Obwohl sie eigentlich nicht meinem Typus entsprach, so verstand sie doch, daß ich nicht glücklich sei, und war gut gegen mich. Der Koitus mit ihr ging ganz gut, freilich nur, weil sie, meinem Verlangen entsprechend, mich koitierte, während ich selber passiv blieb. Sie mußte das Glied einführen und die nötigen Bewegungen machen, wenigstens das erste Mal. Weil sie mich aber ‚blasiert‘ nannte, tat ich es die folgenden Male selber. Diese Dirne benutzte ich einen Monat, bis sie mit einem Varietekünstler verreiste, worauf in ihre Wohnung eine andere Dirne zog, die mir wegen ihrer phänomenalen Reinheit gefiel und mit der ich einmal im Monate verkehrte. Das Jahr darauf endlich lernte ich meine jetzige Frau kennen.“

Ein bezeichnend Detail. Nach der Rückkehr von N., wo er die geliebte Dirne vergeblich gesucht, trachtete er die Inzestgedanken auf die Schwester zu realisieren, von denen ich oben gesprochen habe. Und dieses Verlangen schwand wieder völlig, als er Nr. 5, die intelligente, ältere Prostituierte kennen lernte (Mutter für die Schwester). ‚Damals hatte ich sicher ein starkes Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft, der ich gänzlich ermangelte. Diese Prostituierte beruhigte mich sehr. Wenn ich nur mit ihr sprach, ging meine Nervosität und Unruhe ganz weg. Es war eigentlich sehr schön, einer sagen zu können, daß mir alles so traurig schien. Mir war damals immer so traurig zu Mute.“

Fassen wir das Vorstehende zusammen, so wünscht er zunächst immer, von einem Kameraden zur Dirne geführt zu werden, was später als auf den Vater zurückgehend erwiesen werden wird. Anfangs ist sein Verlangen nur, neben der Dirne zu schlafen, einen Menschen zu haben, dem er sein Herz ausschütten könne und der ihn versteht, ihm liebevoll entgegen kommt, bedauert und tröstet und der ihn endlich selber in die Geheimnisse der Liebe einführt, all das, wie ich später ausführen werde, von der Mutter auf die Dirne übertragen. Nur ein einzig Mal findet er völlig Genügen, da er eine Dirne in die Höhe hebt, genau wie er es früher schon mit anderen geliebten Frauen tat, der Mutter, Tante und dem Kindermädchen. Diese eine Dirne trägt er dann auch sofort ins Bett und bei der gelingt der Koitus nicht nur zum ersten Male spielend, sondern obendrein rasch und häufig nacheinander. Als er sie verloren, beut er alles auf, sie wiederzufinden, versucht, sich bei der Schwester zu entschädigen und hilft sich endlich mit Onanie. Wenn = sein großes Liebesbedürfnis kein entsprechendes weibliches Objekt

exommt, ıst er tief deprimiert, während er auf der andern Seite, da

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 83

sein Ideal sich vorübergehend nahezu erfüllt, mit einem Male alles rosig und licht schaut. Auch warum ihn immer just eine Dirne trösten muß und warum bloß diese sein sexuelles Ideal zu erfüllen vermag, wird uns später klar werden.

Was nun endlich seine Frau betrifft, so gefiel sie ihm gleich das erste Mal sehr gut. Sie war jung, von frischer Gesichtsfarbe und hatte sehr gutmütige Augen. „Sie liebte mich schon als Dirne“, erzählte er später. „Trotzdem sie um ihres Wesens und Auftretens willen sehr gefeiert war und ich ihr eigentlich gar nichts bieten konnte, bevorzugte sie mich doch, was ihr schon damals meine Dankbarkeit erwarb. Ich fühlte mich immer wohl bei ihr, mich fesselte gleich beim ersten Zu- sammentreffen ihr gutes Wesen, ihr starkes Rechtsgefühl, ihre Liebens- würdigkeit, dann ihre stille Natur und endlich, daß sie sich immer geschmackvoll kleidete. Nachdem er ein halbes Jahr mit ihr verkehrt hatte, wurde er wegen rezidivierenden Spitzenkatarrhs auf ein halbes Jahr in ein Sanatorium gesteckt, wo er sich in eine Gymnasiastin ver- liebte, was freilich zu keinen Weiterungen führte. Nach seiner Rückkehr verkehrte er etwa alle zwei bis drei Wochen mit seiner jetzigen Frau. !/, Jahr später kam es fast zum Bruche, als er, einer momentanen Laune folgend und weil ihm das lebhafte Wesen der Dirne gefiel, eine der Kameradinnen seiner Frau koitierte. Es bedurfte der Intervention und der ganzen Überredungskunst eines Kameraden, seine Frau wieder zu versöhnen, doch stellte sie die Bedingung, er müsse sie von der Polizei herausnehmen und für sie bürgen, was dann auch geschah, worauf er ıhr auch eine eigene Wohnung nahm. Doch war er damals nicht ihr einziger Freund dazu langten auch seine Mittel nicht —, sie hatte vielmehr jetzt drei solcher Freunde statt der vielen, denen sie sich früher hingeben mußte. Auch hier also wieder der alte Dreibund. Bald aber wurde ihm das doch zuwider und er wünschte, sie solle selber wählen. Wenn sie einen der anderen mehr liebe als ihn, wolle er zurück- treten. Damals dünkte ihn nämlich, ihr gefalle der zweite, ein Kadett und späterer Offizier, am besten von den Dreien. Die beiden spielten wie Kinder zusammen und er vermeinte, sie liebten einander, was er nicht stören wollte. Der wahre Grund lag natürlich viel tiefer: er war in den Kadetten selber verliebt, der in seinen späteren Phan- tasien noch lange eine große Rolle spielte. Sooft er glaubte, seine Frau fühle sich bei ihm nicht glücklich, meinte er, sie hätte besser getan, den andern zu heiraten. Damals jedoch reiste dieser Kadett bald gänzlich weg, so daß er seine Frau allein gehabt hätte. Da

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kommt nun ein anderer merkwürdiger Zug. Unter dem Vorwande, er habe nicht Zeit genug für sie, da seine Arbeiten ihn allzusehr in Anspruch nähmen, veranlaßte er sie selbst, den Dreibund zu erneuern und sich noch einen Freund zu nehmen, einen Artillerieleutnant, der sie auf ihren Spaziergängen begleiten sollte worauf er natürlich wieder eifersüchtig ward. Der Leutnant jedoch begnügte sich mit der Rolle des Ritters und Beschützers. Endlich entschloß sıch unser Patient, gemeinsamen Haushalt mit ihr zu führen, ohne sie aber legitim zu freien, was dann die Konflikte mit den Eltern setzte, die noch während

der Analyse nicht zu Ende kamen.

Belastung und Sexualität.

Wir haben in der Einleitung von Zornanfällen des Kindes gehört, des weiteren, daß die Eltern Neigung zu Depressionen haben. Der Patient erzählte mir nun gleich in der ersten Analysenstunde: „Ich leide an periodischen Schwermutsanfällen in Zwischenräumen von 1 bis 1?/, Mo- naten. Sie können schwerer oder leichter sein, währen längstens eine Woche, bisweilen aber auch nur ein paar Tage. Mitunter sind sie so schwach, daß die anderen sie gar nicht bemerken, dann aber auch wieder so stark, daß ich überhaupt nicht arbeiten kann. In den schwächeren Anfällen bin ich etwas behindert, in den schwereren fürchte ich, meinen Verstand zu verlieren. Fällt finsteres, nebeliges Wetter mit meiner Ver- stimmung zusammen, so macht es das Ganze noch viel schlimmer. Meine Gedanken stehen dann ganz still, ich kann gar nichts tun. Es scheint mir ganz ohne Grund zu kommen. (Auf meine direkte Frage:) Ein Zusammenhang mit meinen homosexuellen Neigungen besteht nicht.‘“ Dann in einer späteren Sitzung: „Ich kann aus ganz gering- fügigen Anlässen außerordentlich zornig werden, was vielleicht mit meiner Homosexualität zusammenhängt. So kurz, ehe ich nach Wien kam und in den Kellner noch ganz verliebt war, da konnte ich meine Frau in der Früh absolut nicht vertragen. Sie schien mir immer auf dem Platze zu stehen, wo ich gerade stehen wollte, z. B. am Waschtische, wenn ich mich waschen, oder im Badezimmer, wenn ich mich baden wollte.“

Wir haben nun in der steten Neigung zur Schwermut, in der Maßlosigkeit der Affekte, z. B. des Zornes ‚zwei gut gekannte‘ typische Symptome der schweren Belastung. Bedeutsam aber ist, daß auch das Angeborene, die pathologische Gehirnanlage, die ich als „Belastung“, andere als ‚„Degeneration“ bezeichnen, in ihren Symptomen wesentlich

Ein Fall von multipler Perversion. mit hysterischen Absenzen. 85

verschlimmert wird durch sexuelle Faktoren. Diese erst sind es, die oft Form und Farbe der Symptome bestimmen, sie auslösend sich ent- falten lassen. Unser Kranker z. B. bringt seine Anfälle von Zorn- mütigkeit jetzt mit der Homosexualität in Verbindung, die in der Kindheit stellten sich als Wutausbrüche heraus, weil er bei der Mutter keine Gegenliebe gefunden hatte. Und später begann er spontan zu er- zählen, wenn er länger als vier Tage (sein gewöhnliches Intervall zwischen zwei Sexualakten) mit der Frau nicht verkehre, bekomme er regel- mäßig Depressionen, die nach einem Koitus stets besser würden. Auch aus homosexuellen Gründen kamen solche Verstimmungszustände häufig. Sobald er z. B. in den letzten zwei Jahren (seiner Ehezeit) mit dem geliebten Vater gesprochen hatte, wurde es ihm stets sehr schwer, seine Frau zu ertragen. Ferner ‚‚wenn sie mir wehrte, zu ihr zu kommen, weil sie z. B. ihre Menstruation erwartete, dann wurden wir beide Immer nervös und es kam regelmäßig zu Streitigkeiten.“ Diese Ner- vosität wurde immer leichter, wenn er ein Weib koitierte. ‚Ich weiß schon seit Jahren, daß ich gegen meine Depressionszustände zu einer Prostituierten gehen muß, dann wird es besser, und dies selbst dann, wenn Ich mit ihr gar nicht verkehrte, sondern bloß mit ihr sprach und mich von ihr trösten ließ‘‘, was offenbar Erinnerung an die Mutter ist und eine aufgelegte Wunscherfüllung.

Weitere Wurzeln für die Depressionszustände werden wir noch in den pseudoepileptischen Anfällen (gleichfalls aus sexuellen Be- dingungen) und in der Onanie entdecken, endlich noch darin, daß, wenn er von einem Jüngling erregt ist, er mit einem Weibe nicht verkehren mag. Nachdem ich ihm schon in der ersten Analysenstunde den Zu- sammenhang zwischen Homosexualität und Depression aufgedeckt hatte, erzählte er mir schon am 15. Tage, er sei jetzt nicht mehr so oft verstimmt und die einzelnen Depressionen auch nicht mehr so arg. Er könne leichter arbeiten und die Anfälle gingen auch rascher vorüber. Unzweifelhait also eine Heilwirkung, die sich späterhin immer noch mehr vertiefte und nach den Regeln der Psychonalyse den supponierten Zusammenhang untrüglich erweist.

Um meine Anschauung noch einmal scharf zu präzisieren: es herrscht kein Zweifel, im Gehirne muß etwas Krankhaftes angeboren sein, was wir Belastung oder Entartung heißen, wenn es zu so schweren Symptomen kommt, wie konstante Neigung zu Depressionen und stete Maßlosigkeit der Affekte. Das ist conditio sine qua non. Wird doch ein nur halbwegs normaler Mensch nicht gleich schwermütig, weil er

SB- J. Sadger.

vier Tage bei keinem Weibe war. Allein neben dieser unerläßlichen Disposition, der angeborenen Konstitution, braucht es dann immer noch einer Ursache, die jene erst in Wirksamkeit treten läßt. Diese scheint mir recht häufig gerade die sexuelle zu sein. Um ein Beispiel aus der internen Medizin zu geben: ein phthisischer Habitus oder min- destens eine Disposition ist unbedingt nötig, damit ein Mensch von Tuberkulose befallen wird und sich der eingedrungenen Keime nicht mehr zu erwehren imstande ist. Allein es kann auch der schönste Habitus zeitlebens von der Phthise verschont bleiben, wenn der Kochsche Ba- zillus durch Abhärtung des Körpers oder günstige Umstände nicht zur Festsetzung gelangen kann. Worauf ich besonders hinweisen möchte und was der Nachprüfung an einem recht großen Materiale harrt, das ist der Zusammenhang zwischen angeborener Anlage, der Belastung also, und dem begünstigend-auslösenden Faktor der Sexualität. Bisher ward einseitig stets nur das erstere Moment betont. Mich will nach meinen Erfahrungen bedünken, daß dem Sexuellen zumindest in einer Reihe von Symptomen die spezifisch auslösende Bedeutung zukommt, zumal bei der Neigung zu Depressionen, vermutlich aber auch bei maß- losen Atfekten.

Nach dieser Abschweifung wollen wir wieder zu unserem Kranken zurückkehren und uns um die

Erziehungseinflüsse

umsehen, die erfahrungsgemäß bei jeglichem Urning von ganz be- sonderer Wichtigkeit sind. „Als Kind hatte ich gar keinen Kameraden“, erzählt Patient. „Einen solchen bekam ich erst in einem Vetter, als ich mit 10 Jahren zu meinem Onkel zog.“ Doch auch mit diesem ent- spann sich kein dauerndes Bündnis, nur einige Betätigungen der Analerotik, so daß er eigentlich auch von 10 bis 15 Jahren noch ohne Kameraden blieb. „Ich war der Sohn eines Grafen und die Spiel- kameraden meiner Kindheit Söhne von Arbeitern und kleinen Beamten, die mir deshalb Respekt entgegenbrachten. Später im Gymnasium erwartete ich dasselbe von meinen nunmehrigen Kameraden, wurde aber nicht mehr so respektiert. Es ist eigentümlich, daß ich um diese Zeit so wenig Freunde hatte. Ich verkehrte nur mit Cousins und Cousinen, eventuell auch deren Freundinnen und hatte auch kein Bedürfnis nach Kameraden, wohl aber nach Beschützern, d. h. Kameraden aus älteren Jahrgängen, wohinter sich ein gewisses Begehren nach Macht barg. Man fühlt sich auch so sicher, wenn man einen solchen

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 87

Beschützer hat.‘“ Dieser Mangel an Kameraden just in den wichtigsten Kinderjahren war gewiß von einschneidender Bedeutung für ihn und hat dann sicher die spätere Reaktion gefördert, d. h. seine förmliche Kameradschaftssucht. Ein stetes Verlangen, zusammen mit Kameraden zu leben, durchzieht von den höheren Gymnasialklassen ab sein ganzes Leben und bestimmt sein Handeln, ja selbst seine wissenschaftliche Tätigkeit in ausnehmender Weise. Seine ganze Kindheit verlebte er vornehmlich in Gesellschaft von Weibern, die fast ausschließlich seine Erziehung leiteten bis in die höchsten Gymnasialklassen hinauf. Daserwies sich nach mehrfacher Richtung verhängnisvoll, zumal für die bei unserem Patienten so früh auftauchende sexuelle Neugier, die natürlich von den Frauen vollständig mißkannt ward. Teils strebte ihre Erziehung nämlich, das Geschlechtliche bei ihm ganz zu unterdrücken, teils gab sie ihm selber unwissentlich die stärkste Nahrung aus dem weit verbreiteten Vorurteile heraus, es gäbe für das Kind keine Sexualität. Niemand sprach ihm vor dem 15. Jahre von Sexuellem, ja, es wurden etwaige Anbohrungen des Knaben absichtlich überhört und abgelehnt. Erst als er zwischen 15 und 17 sich selber ältere Kameraden suchte, erhielt er von diesen geschlechtliche Aufklärung, freilich auch dannnochso ungenau, daß er zumal über das Exekutive ganz im Dunkeln tappte. Dies lernte er nicht eher als beim Militär, wo die Sitte bestand, daß die Älteren die Jüngeren zu Dirnen mitnahmen. Im Gegensatze zu dieser absicht- lichen Fernhaltung vom Baume der Erkenntnis stand die Erziehung im Familienkreise. Da hatte der Vater den Wunsch ausgesprochen, daß man gar keinen Unterschied zwischen den Kindern mache. ‚Wir Geschwister schliefen die längste Zeit im selben Zimmer, ja bis zu meinem 16. Jahre badete ich sogar zusammen mit den Schwestern und nach dem Bade legten wir uns alle drei in die Sonne. Vater hielt uns Sommer und Winter zum Baden an. Als wir später Ponies erhielten, Titten wir auch zusammen und meine Schwestern saßen ebenso zu Pferde wie ich.‘ Der Vater nahm auch jeden Morgen eine Art Bad, und zwar in völlig nacktem Zustande, wobei der Sohn bis zum 7. Jahre sich regelmäßig als Zuschauer einfand. Mit der gleichen Unbekümmertheit wurden auch vor ihm die verschiedenen körperlichen Funktionen verrichtet. Nicht nur, daß die jüngere Schwester ihren exhibitionistischen (Gelüsten ganz unbehindert fröhnte, bis zum 10. Jahre ganz nackt oder nur im Hemdchen vor den Geschwistern herumsprang, ein andermal wieder in unseres Patienten 4. Jahre so gespreizt auf dem Topfe saß, daß dieser ihre Genitalien ganz offen sah, sondern auch die Mutter

88 J. Sadger.

setzte sich ganz ungeniert jeglichen Morgen im bloßen Hemd vor dem Sohne auf den Topf. Auch bei ihrer Toilette war er gewöhnlich anwesend und hatte Gelegenheit, stets ihre Brustansätze zu schauen, was uns später einläßlich beschäftigen wird. Vom Vater wäre nur noch zu ver- melden, daß er eine Zeitlang, so um des Patienten 5. Jahr herum, sich viel mit seinen Kindern befaßte, sie überallhin mitnahm, ihnen Sehens- würdigkeiten zeigte und einmal, was sehr bedeutsam wurde, die Ge- schwister in den Zirkus führte.

Ehe ich dies Thema weiter spinne, muß ich auf eine besondere Veranlagung unseres Patienten genauer eingehen, die für seine ganze Entwicklung, zumal nach nach der pathologischen Seite entscheidend

geworden: seine enorme . | Schaulust.

„Mein ganzes geistiges Leben geht durch das Auge“, erzählt er einmal. ‚„‚Schon als Kind las ich sehr ungern, übrigens auch jetzt noch. Ich las auch nicht so schnell wie andere Menschen, kann aber dafür um so mehr von Bildern und Gegenständen sehen. Obwohl ich fast alle Weihnachten Bücher bekam, las ich solche nicht eher, als bis ich 15 Jahre alt war. Alles, was ich gesehen habe, erinnere ich sehr gut, sonst aber habe ich gar kein gutes Gedächtnis. Ziffern z. B. merke ich nur mit größter Mühe, selbst meine eigene Telephonnummer behielt ich erst nach Monaten.‘‘ Auch seine Erinnerungen sind fast ausschließlich visueller Art. Er gibt noch selber an, daß er eine besondere Geschick- lichkeit habe, alles zu sehen, was er nicht sehen soll, offenbar zurück- gehend auf Sexuelles, das er frühzeitig verbotenerweise erblickte. Niemand dürfe den mindesten Toilettenfehler haben, ohne daß er dies augenblicklich wahrnehme und durch seine Miene aller Welt verkünde, er habe es bemerkt. Ich habe noch keinen Menschen gefunden, bei dem das Auge eine so ausgesprochen erogene Zone war wie just bei ihm, es ist direkt ein Sexualorgan. ‚Wenn ich etwas geschlechtlich Reizendes sehe, so spüre ich in den Augen geradezu ein sexuelles Gefühl. Ein ge- spanntes Gefühl und den lebhaften Wunsch, es mit den Augen einzu- saugen, meine Augen treten dabei hervor,“ Das bemerkte er bereits mit 18 Jahren. Auf dieser enormen Augenhaftigkeit fußt mindestens großenteils auch seine

frühzeitige sexuelle Neugier,

die zweifellos auf beide Geschlechter sich richtet, sowie noch andere sexuelle Regungen. Ich erwähnte bereits, daß er mit 4, 5 Jahren die

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 89

Genitalien seiner Schwesterklaffenderblickte, alsdiese breit auf dem Topfe saß, und daß ıhm jene fortab als Muster für entsprechende Zeichnungen und Phantasien dienten. Doch der Knabe begann gleichzeitig über die Verschiedenheit der Geschlechter zu reflektieren und machte dem Kinder- mädchen darüber Bemerkungen. Wir vernahmen dann weiter, er habe die Mutter öfter auf dem Topfe urinieren sehen. Das geschah sogar noch mit 14 Jahren, wenn er wegen Fiebers im Schlafzimmer seiner Eltern lag. Sie hieß ihn dann höchstens sich abwenden, was ihn aber nicht hinderte, doch verstohlen hinzuschauen. Auch hier begann er zu re- flektieren. Zumal fiel ihm auf, daß man beim Urinieren der Weiber viel mehr höre als bei dem der Männer. Der Mutter Niedersetzen auf den Topf im bloßen Hemde ahmte er, wie wir noch hören werden, in späteren hysterischen Absenzen nach. Wenn sie ferner als echter Analcharakter sich bei Kotwetter die Röcke furchtbar hob, so schien ihm das immer besonders lächerlich, weil es ihn, wie er ausdrücklich bemerkt, an die Mutter auf dem Topfe erinnert. „Es ist ganz dasselbe, als wenn sie sich auf den Topf setzte.

Aber auch an direkt geschlechtlichen Regungen fehlte es unserem Patienten nicht. Ich sprach schon davon, daß er das Kindermädchen, später auch die Mutter, kräftigst mit Armen und Beinen umschlang, angeblich um sie so am Fortgehen zu hindern. Nur hatte er dabei gleich- zeitig eine Muskelspannung im Kreuz, die sich später als ausgesprochen sexuell erwies. Noch zwei andere Zeichen für die geschlechtliche Natur des Umklammerns. Als er in späteren Jahren erfuhr, daß man beim Koitieren die Weiber nicht mit den Beinen umschlinge, da fühlte er sich mächtig enttäuscht. Auch hatte er eine ganz merkwürdige ‚Liebe‘ für zylindrische Gegenstände. Z. B. für einen großen zylindrischen Ofen, den er häufig inbrünstig mit Armen und Beinen umschlang (genau wie mit Kindermädchen und Mutter vorher), und dann mit 12 Jahren sogar loszubrechen und aufzuheben versuchte (gleichfalls die nämliche Ana- logie). Bei diesem Umschlingen wirkt die Kraftleistung und Spannung im Rücken nach den Worten des Kranken ausgesprochen sexuell. Ebenso spielte er schon mit 3, 4 Jahren mit einem großen, zylindrischen Kissen, das über die Betten der Eltern ging und das er häufig und innig um- armte, so innig, daß er mit dem für sein Alter viel zu großen und schweren Kissen einfach umfiel. Endlich gab es noch eine zylindrische Kleiderpuppe der Mutter, auf welcher gewöhnlich ein Unterrock hing. „Auch diese habe ich sehr geliebt, sie auch oft umarmt und dasselbe Gefühl gehabt wie beim Umschlingen des Kindermädchens.‘‘ Ich will hier ergänzen,

90 J. Sadger.

daß wir aus der Traumsymbolik sowie aus der Deutung hysterischer Symptome längst bereits wissen, daß jeder zylindrische Gegenstand den Frauenleib bedeutet. Endlich noch einen ausgesprochen hetero- sexuellen Zug: „Ich war auch sehr gern bei der Mutter, wenn sie sich anzog, und folgte ihr wie ein Hund“, erzählte Patient, „ebenso wenn sie morgens in ihr Kleiderzimmer ging. Dabei waren ihre Arme bloß und auch der obere Teil der Brust frei‘, die, wie ich hier gleich einfügen will, sein Interesse derart erregte, daß er sie auf verschiedene Weise nachahmte. ‚Wenn wir strafweise in das Kleiderzimmer der Mutter gesperrt wurden, so liebten wir es, um die Zeit totzuschlagen, uns durch die ganze Kleidermasse durchzudrängen. Diese hing so niedrig, daß wir förmlich durch sie hindurchschwimmen mußten. Ich bohrte mich auf diese Art förmlich in die Kleider der Mutter hinein. Vielleicht rührt daher zum Teil auch meine Liebe zum Schwimmen und daß es für mich als kleines Kind ein Lieblingsspiel war, in dichtes Gebüsch hinein- zuspringen. Es handelt sich immer darum, sich durch dichte Dinge hindurchzudrängen. Wasser weckte dann das nämliche Gefühl wie Gebüsch und Kleider“.

Neben diesen normalgeschlechtlichen Regungen fesselten ihn auch die Genitalien des Mannes sehr früh, vor allem des Vaters, die häufig zu sehen ihm äußerst leicht war. Jeden Morgen nämlich nahm der Vater in einer niedrigen, größeren, runden Wanne, die mit kaltem Wasser gefüllt war, ganz nackt ein Bad in solcher Weise, daß er ‚in Affenstellung‘‘ auch dies wird bedeutsam wiederkehren sich nieder- kauerte und dann aus einem großen Schwamme Wasser über Brust und Rücken ausdrückte. Bis zum 7. Jahre wohnte unser Patient jeden Morgen diesen Bädern bei und freute sich, dem Vater zu zeigen, daß er so früh aufstehe, und dessen Lob dafür zu ernten. Als es später zum Bruch mit dem Vater kam, ward es ihm bezeichnenderweise- schwer, am Morgen aufzustehen, ‚weil dies doch jetzt gar keinen Sinn mehr hatte‘. „Ich hatte ganz sicher ein Interesse, die Genitalien des Vaters zu sehen, später auch die des Onkel Archäologen, dem ich beim Baden gleichfalls zuschaute.‘“ Ein andermal wieder berichtet er, wie es ihn verdroß, wenn der Vater in Dänemark badet man völlig nackt beim Hineingehen in das Schwimmbassin die Hände vor seine Geni- talien hielt. „‚Ich fand dies sehr dumm, denn ich wünschte sie zu schauen, und wenn er die Hand vorhielt, sah ich zu wenig. Ich konnte auch absolut; nicht verstehen, warum die Tat der Söhne Noahs so schlecht sein sollte, worin da eigentlich die Sünde liege.“

Ein Fall von multipler Perversion: mit hysterischen Absenzen. 91

Die verbotene Neugier auf die Genitalien des Vaters ist auch

mit eine Ursache der

Dysuria psychica,

an welcher Patient noch zu Beginn der Analyse litt. Sie trat schon im 10. Jahre auf, dann später beim Militär, wo ihn einmal die Ka- meraden fragten, ob er vielleicht Gonorrhoe akquiriert habe. Das erste Mal mit 10 Jahren hatte der Vater beobachtet, daß er lange brauche, sein Wasser zu lassen, als sie beide im Walde sich zum Urinieren an- stellten, und ihn auch gefragt. Die Ursache war, daß er damals bereits den Penis des Vaters immerzu ansah und darüber ans eigene Urinieren vergaß. Er verglich ihn mit seinem eigenen und fahndete besonders auf Unterschiede im Aussehen der Vorhaut, der Form und Größe der beiden Membra. Das hat er auch später immer bei anderen vergleichen müssen, zumal das Verhältnis zwischen Eichel und Schaft. Sowie er sich beobachtet sieht, wird er immer ‚‚nervös‘“ und kann nicht urinieren, in der Erinnerung an jenes Ertapptwerden durch den Vater, als er vor lauter eifrigem Hinschauen ans Urinieren vergaß, nebenbei bemerkt eine typische Wurzel für die Dysuria psychicat).

Wenn der Knabe dem Vater beim Baden zusah, fiel ihm sehr früh auf, daß dessen Hoden so herabhingen, viel mehr als bei Tieren, und er gab sich dann selber die Erklärung, bei den letzteren wären jene näher am Körper befestigt, damit sie die Tiere im Laufen nicht hin- derten, |

Das Interesse für die Hoden ist bei unserm Patienten ausnehmend entwickelt. Daß sie ihn um so viel mehr anziehen, als etwa das Membrum, erklärt sich zu einem Teil wohl daraus, daß das letztere in nicht erigiertem Zustand bei Nationen, welche die Beschneidung nicht üben, hinter dem Präputium fast völlig versteckt ist, während anderseits die Hoden deutlich hervortreten; dann ferner, daß der Kranke als richtiger Voyeur die Kontraktion der väterlichen Testes im kalten Bade sehr rasch bemerkte. Unter den Wünschen auf den geliebten Kellner lernten wir auch den befremdenden kennen, ihm von hinten und unten an die Hoden zu greifen. Als er einmal der Säuberung eines Knäbleins zusah, kam ihm ein plötzlich erleuch- tender Einfall aus der eigenen Kindheit mit dem Griffe von hinten und unten an die Testikel werden ihn selber das Kindermädchen, noch. früher die Mutter gereinigt haben, wenn er sich daran auch nicht positiv

1) Die letzten Wurzeln für dieses Symptom liegen freilich viel tiefer. Darüber jedoch ein andermal.

92 J. Sadger. erinnert. „Es ist mir auch gar nıcht unangenehm, wenn man mich fortwährend an den Hoden streichelt. Als ich mit 25 Jahren wegen Blinddarmentzündung im Spitale lag, wurde ich auch auf jene Weise mit feuchter Watte gereinigt, und diese Methode erschien mir außer- ordentlich rein, viel reinlicher als mit Papier.‘ Man sieht also deutlich, wie hinter seinem homosexuellen Verlangen die Identifizierung mit Mutter und Kindermädchen steckt sowie der Wunsch, als Weib dem Geliebten die infantile Befriedigung zu gewähren. Doch fehlt es auch nicht an einer auf den Mann bezüglichen Wurzel. Wenn der Vater nämlich in hockender Stellung sein kaltes Bad nahm und die Hoden ihm herunter- hingen, verspürte unser Kranker das Gelüste, sie ihm abzuschneiden, also einen ausgesprochenen Kastrationswunsch, hier wie in allen ähn- lichen Fällen durch die Eifersucht auf die Mutter bedingt.

Das Interesse für Penis und Testikel wäre angeblich erst seit 1905 bei ihm aufgetreten, doch stellte sich gar bald heraus, daß es sich seit damals bloß stärker kund tat. In Wirklichkeit war es viel früher schon da, vor allem bei dem seit dem 11. Jahre betriebenen Turnen und später beim Onanieren vor dem Spiegel. Hatte er doch bereits als kleiner Knabe die Wahrnehmung gemacht, wieviel kleiner seine Hoden und sein Penis waren als die des Vaters, worauf natürlich der Wunsch entbrannte, dem Vater auch hierin gleich zu werden. Als er mit 15 bis 16 Jahren zu masturbieren begann, las er in einem Buche, der Onanist sei daran kennt- lich, daß die Hoden hängend und das Membrum im Verhältnis zu ihnen allzu groß sei, was er dann sowohl am eigenen Körper wie bei jenen Leuten im Bade bestätigt fand, die er für Masturbanten hielt. Er hatte auch gelesen, die Kinder von Onanisten würden schwach später beschuldigte er darum den Vater, der Masturbation gefröhnt zu haben woraus er in den letzten Jahren die Phantasie entwickelte, wenn er einmal einen Knaben bekäme, so würden bei diesem Penis und Hoden zusammengewachsen sein. Förderung erhielten diese Gedanken noch durch den Umstand, daß er von Haus aus ein sehr schwächliches Kind war, bei dem die Testes natürlich noch stärker herunterhingen. Und seine verschiedenen gymnastischen Übungen verfolgten, wie er sich selber vorsagte, hauptsächlich den Zweck, seine Muskulatur, zumal der Schultern, zu heben und zu stärken, in Wahrheit, wie aus einer zweiten Determinierung hervorgehen wird, um die Hoden durch Kräftigung der Aufhängemuskeln minder hängend zu machen. In den letzten Jahren konnte er nach dem Baden befriedigt feststellen, daß sein Penis und seine Hoden ganz natürlich aussähen und keine Verschiedenheit mehr bestünde

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 95

zwischen ıhm und den anderen, wie er bei seinen vergleichenden Studien früher vermeinte. Selbstredend hatte er bei diesen Beobachtungen sein Augenmerk auch daraufgewandt, unter welchenUmständensich dieHoden kontrahierten. Und da glaubte er gefunden zu haben, daß die spontane Kontraktion der Testikel einen Beweis der höchsten Potenz darstelle. Sie trete ein, wenn man Lust zum Verkehr mit dem Weibe habe, nach dem kalten Bade oder wenn man sich sehr stark und wohl fühle. Er habe auch darum das Verlangen, einem Manne an die Hoden zu greifen und dessen Kontraktionen dabei zu verspüren, weil dies ein Beweis sei, daß der Mann für ıhn etwas empfinde. Auch an sich selber habe er es versucht und da gefunden, daß seine Testes sich nur nach dem Bade kontrahierten oder wenn er mit einem Weibe verkehren wolle. : Wenn er sich selbst an die Hoden greife, so wirke dies sehr beruhigend bei starker sexueller Erregung, zumal wenn seine Hände recht kalt seien. Auch beim Zähnebürsten lege er ganz automatisch die Hand an die Testes, angeblich damit sie stille hielten, weil beim Bürsten der ganze Körper in Bewegung gerate. Desgleichen stütze er die Hoden bei Nacht, indem er sie in eine Falte seines Hemdes lege. ‚Dies alles rührt daher,“ gibt er einmal zur Erklärung an, „daß meine Hoden mehr hängen als bei Tieren und antiken Statuen und ich den Wunsch hatte, sie sollten nicht so hängen. Als ich ferner zum Militär kam, hat mir ein älterer Verwandte geraten, ein Suspensorium zu tragen, was ich aber nicht aushielt. Wohl aber erwachte dadurch der Wunsch, meine Hoden zu stützen.‘

Dies seit der Kindheit brennende Interesse für seine und der andern Testikel verstand sich nicht selten sehr gut zu verbergen. So verliebte er sich z. B. während der Analyse in einen Photographen- gehilfen, an dem ihn der lange und rückwärts ganz schmale Schädel anzog. Diese Schädelform erinnerte ihn wieder an einen geliebten Museumskameraden, der die meisten aristokratischen Züge zum Typus lieferte. „Bei der Frau ist der Übergang vom Genick zum Hinterkopf fast immer häßlıich. Nur bei der Cousine, die ich mit 19 Jahren liebte, war er auch so. Der Photograph gemahnte mich weiter an den Kellner und diese schmale Hinterseite, das Genick mit seinen Sehnen durch ihre Form an die Hoden.‘ Er liebte also einen Menschen, der seine Testes offen zur Schau trug. Schon mit 15, 16 Jahren war er in das Genick eines Knaben verliebt, der auch blond war und dieselbe ari- stokratische Form des Nackens hatte, doch gelang es ıhm nicht, jenem näher zu treten. Noch wahrscheinlicher dünkt ihn, daß er vergrößerte Hoden zu sehen wünschte. Solche aber stellen die kräftige Schulter-

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muskulatur und die Wölbung des Deltoides dar, daher sein unablässiges Streben, sie durch Gymnastik kräftiger zu machen.

Doch auch in anderen Körperpartien findet er vergrößerte Testes wieder. Er zeigte z. B. schon mit 4, 5 Jahren ein außerordentliches Interesse für die Zulus, deren Abbildungen er in einer englischen illu- strierten Zeitung beim Großvater sah. Nächst dem glänzend schwarzen Körper fesselten ihn ihre kräftigen Bewegungen ‚die mächtige Muskulatur des Deltoides, dann ferner sie tragen ja alle den Lendenschurz jenes frei sichtbare Stück Gesäß, das in die OÖberschenkelmuskulatur übergeht, endlich ihr glattrasierter Schädel. Sie lassen das Haar nämlich nur dort stehen, wo katholische Priester die Tonsur besitzen. Solche glatt- rasierte Schädel, die er ähnlich auch im Zirkus bei Clowns und Pierrots entdeckte, endlich noch die Schädel von Totenköpfen, die er immer wieder mit Vorliebe zeichnete, zogen ihn ebenso wie jenes Stück der Gesäßmuskulatur deshalb so an, weil er darin immer stark vergrößerte Hoden sah. Ein ähnliches Interesse für kräftige Testes, auf das ıch später noch zurückkommen werde, liegt auch zum großen Teil seiner Liebe für Statuen zugrunde. Ebenso hat er frühzeitig die Hoden von Tieren, besonders Pferden und Hunden mit den seinen verglichen und zumal für die mächtigen Organe der ersteren eine überaus große Bewunderung genährt. Als er im Heeresmuseum ein berühmtes Schlacht- roß sah, konnte er das Verlangen nicht unterdrücken, dessen Hoden mit den Fingern zu untersuchen, was er denn auch tat.

Die Kehrseite der Schaulust, mit dieser im Gegensatzpaar un- löslich verbunden, ist

der Exhibitionstrieb, d. h. das Verlangen, sich nackt zu zeigen, welches unser Patient in aus- gezeichneter Weise aufwies. Als er mit 4, 5 Jahren die Zulus abgebildet sah, drapierte er sich mit seinem Nachthemd als ein solcher und stolzierte in der Nachahmung eines Lendenschurzes, also fast nackt, vor Kindermädchen und Schwestern herum. Dann spielte er auch Negerweib, wie er es gleichfalls auf Abbildungen gesehen, indem er nach dem Baden das Leintuch so umschlug, daß es oben nur bis zu den Brustwarzen reichte, unten wieder bis zu den Knien. Aus der frühesten Kindeszeit bis zum 6. Jahre erinnert er deutlich, daß, wenn er nach dem Baden in der Sonne lag und ein Dampfer sich näherte, er im Adams- kostüm am Ufer herumtanzte. Im 11. Jahre beim Onkel begann er mit einem gleichaltrigen Vetter nackt am Trapez Turnübungen zu machen. Zuhause hatte es kein solches gegeben, jetzt aber beim Onkel tat er

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es nicht anders als unbekleidet, angeblich weil er mit seinen schwäch- lichen Armen sich leichter nackt aufziehen könnte. Die Hüllenlosigkeit aber nützte er des weiteren auch dazu, dem Vetter seinen Anus zu zeigen, womit er natürlich die Absicht verband, dieser solle zur Revanche ihm auch den seinen demonstrieren. Mit 12, 13 Jahren hatte er immer den Wunsch, bloß Trikot zu tragen, also so gut wie gar nichts, was zum Teil auf den Zirkusbesuch in der Kindheit, teils darauf zurückgeht, daß er schon als Knäblein nackt herumzustolzieren pflegte wie seine Schwester. Mit 15 Jahren begann er sich selber nackt zu zeichnen, in allen möglichen Stellungen, wie er sich im Spiegel bei seinen Turn- übungen beobachtet hatte, in der Regel mit erigiertem Penis. Als Er- klärung meint er, natürlich beschönigend: ‚Es interessierte mich immer, meinen eigenen Körper nackt zu zeichnen, wahrscheinlich damit ich die Fehler wegbringe, daß z. B. die Hüften breiter waren als meine Schultern und meine Arme kraftlos, während die Beine durch ver- schiedenen Sport sehr entwickelt waren. Das Zeichnen war mir ein Mittel, mich selbst zu idealisieren.‘‘ Mit etwa 24 Jahren begann er, gymnastische Übungen vor dem Spiegel zu treiben, das ganze System Lingg, natürlich nackt, um, wie er sich weismachte, „zu sehen, dab er die Übungen korrekt ausführe“. Neben dem Zwecke, die Schulter- und Oberarmmuskeln zu kräftigen und seine Körperfehler wegzubringen, betrieb er die Gymnastik noch mit dem Gedanken: ‚Jemand, der mich nackt sähe, sollte meinen Körper schön finden. Den unmittelbaren Anlaß dazu bot ein homosexueller Malerkamerad, mit dem ich häufig zusammen badete und in den ich verliebt war. Dieser bemerkte einmal, mein Körper wäre gut gebaut, nur sollten die Schultern ein wenig mehr entwickelt sein. Diese Freiübungen, die ich noch jetzt jeden Morgen nackt vor dem Spiegel mache, gehen auf den Besuch des Zirkus zurück. Damals war es das erste Mal, daß ich trikotgekleidete Menschen sah, also beinahe ganz nackte erwachsene Menschen. Einer, ein älterer Mann, lag unten, einige jüngere standen auf seinen Füßen. Das erinnerte mich an den Vater.‘ „In den allerletzten Jahren pflegte ich mich zu Hause im Sommer ganz nackt auszuziehen, unter dem Vorwande, es wäre so gesund für die Haut. In der Universitätszeit wieder wusch ich mir zu Mittag immer Gesicht und Hände, zog mich aber dazu stets völlig aus.‘ Der Grund hierfür war, daß gewöhnlich seine Kameraden mit ihm kamen, vor denen er so mit Lust exhibitionierte, worauf sie gemeinsam zum Essen gingen.

Am sonderbarsten aber mutet sein akrobatisches Trapezturnen

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an, das er mit 15 und 16 Jahren trieb, wenn er sich abends vor dem Schlafengehen splitterfasernackt ausgezogen hatte. ‚Das war ganz sicher nur eine Art sexuellen Turnens, eine geschlechtliche Befriedigung, Kraftleistung zu sexueller Erregung. Ich geriet auch wirklich in solche und bekam Erektionen, später wurde ich dann ruhiger. Wenn ich morgens darauf halb erwachte, so kamen mir Träume und Phantasien merkwürdiger Art. Ich hing z. B. am Reck, den Kopf unten und mit erigiertem Penis und so drang ich in das Weib ein, ohne es sonst mit dem Körper zu berühren, was außerordentlich schwer sein sollte.“ Außerdem gab es da noch eine Reihe weiterer stark sadistisch und exhibitionistisch gefärbter Phantasien, die zum Teil auf den Zirkusbesuch, zum Teil auf die Beschreibung des Schicksals eroberter Städte im 30jährıgen Kriege zurückgingen und sich tiefer auf Vater und Mutter und sein Ver- hältnis zu ihnen zurückverfolgen ließen. Auf diese Punkte, dann ferner auf andere sadistisch-masochistische Akte, sowie endlich die Selbst- geißelung gehe ich nicht näher ein, weil sie im Sexualbilde des Kranken von geringem Belang sind und auch ihre Auflösung in den fünf Mo- naten Analyse nicht weit gedieh. Mehr ist über seine

Verliebtheit in Statuen

auszusagen, über welche er folgende Angaben macht: „Mit 13, 14 Jahren konnte ich Statuen nie ansehen, ohne eine wollüstige Neugier auf die Hoden zu empfinden, die bei ihnen auch nicht hängen.‘“ Mit 24 Jahren folgte die Verliebtheit in ein hölzernes Bild im Museum. Damit man nämlich die verschiedenen Uniformen studieren könne, wurden dort Holzfiguren aufgestellt, die mit ihnen bekleidet sind. In eine dieser Figuren, einen etwa l8jährigen Kadetten darstellend, verliebte er sich nun. Ihn fesselten besonders das rosige Gesicht und die eng- anliegenden Kleider zumal an Achseln und Oberarmen. Noch früher, schon mit 21 Jahren, verliebte er sich in die Photographie des David von Michel Angelo, an welcher ihn wieder die Muskulatur der Arme, Brust, der Innenseite der Oberschenkel und des Knies reizten. Die Musku- latur wirke angeblich deshalb so erogen, weil er die Männer den Weibern vorziehe. Endlich bekam er noch in der Analysenzeit ein starkes se- xuelles Verlangen, als er in einem Buche die Abbildung einer antiken Statue sah, die einen etwa 20jährigen Sieger in den Olympischen Spielen zeigte. „Die Statue ist schwarz und blank. Wahrscheinlich erinnerte mich"das an die Zulus, denn die Bronzefarbe der Statue er-

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scheint auf der Abbildung schwarz wie die Zulus. Der starke Wechsel von Licht und Schatten in der Bronze läßt die Muskulatur stärker hervor- treten, besonders Schultern und Taille. Einer der Gründe, weshalb ich den männlichen Körper dem weiblichen vorziehe, ist, daß er härtere Muskeln besitzt.‘ Hier sei noch eine weitere Erinnerung des Kranken eingeflochten: ‚Als Kind spielte ich sehr viel mit schwarzen, hölzernen Kugeln, die an den vier Ecken des Sophas befestigt waren. Sie staken in kleinen hölzernen Zapfen, die ihrerseits wieder in Löcher des Sofas stachen. Ich habe nun sehr früh die Ähnlichkeit dieser Kugeln mit der weiblichen Brust entdeckt, insbesondere erinnerten sie mich an die schwarzen Brüste der Kaffernweiber. Ich habe diese schwarzen Sofa- kugeln an meine eigene Brust gesetzt und mich so vor den Schwestern und dem Kindermädchen produziert und es eine Brust genanntt!).‘“ Es sei hier eingefügt, daß nach meinen psychoanalytischen Erfahrungen sein Interesse für Hoden, das ich oben berichtete, zwar primär sein könnte, gemeinhin jedoch nur eine Verschiebung von den Mammae her darstellt oder, noch spezieller, von den Brüsten der Mutter. Darum auch das Interesse für Muskelwölbungen an den verschiedensten Körper- teilen. Dies verdeckt sehr gut, daß hier nur Verschiebung vom Weibe auf den Mann nach der Abkehr von ersterem stattgefunden hat.

Die Analerotik.

Wir haben gehört, daß unser Patient von Haus aus ein schwäch- liches Kind gewesen. Dies geht wahrscheinlich auf einen langwierigen Darmkatarrh zurück, der bis in sein zweites und drittes Jahr währte und ıhn fast an den Rand des Todes brachte. Ein Umstand, der seine konstitutionelle Veranlagung nach zwei Richtungen hin zu verstärken geeignet ist. Er spornte zunächst die ohnehin hypertrophische Analerotik durch fortwährende Reizung der Mastdarmschleimhaut und förderte zweitens, wenn wir Czerny glauben?), das Belastungssymptom der De-

!) Von den Zulus rührt auch die „Affenstellung‘‘ her, die uns später noch beschäftigen wird.

2) Nachdem dieser Autor davon gesprochen, daß der gesunde Säugling stets heiter und froh ist, fährt er fort: „Tatsächlich ernst sind und bleiben aber Säuglinge, welche im ersten Jahre krank sind. Ernährungsstörungen selbst leichterer Art sind schon imstande, ein vorher frohes Kind ernst zu machen... Ist ein Kind während des ganzen "ersten Lebensjahres oder auch noch während \des zweiten fast ununterbrochen durch Ernährungsstörungen und Infektionen in seinem Wohl- befinden gestört, was nicht so selten der Fall ist, so erlangt das Kind auch später,

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. HU. 7

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pressionsneigung. Eine der frühesten Erinnerungen des Grafen ist, daß er ins Bett machte, als er bei Großvater zu Besuch war. Vielleicht bekam er infolge des anhaltenden Darmkatarrhs auch seinen Prolapsus recti, den ihm zuerst die Mutter reponierte, was er jedoch selber bald ausführen lernte!). „Nachher habe ich es eigentlich die ganze Zeit über so gemacht, d.h. mit dem Finger im Rektum hantiert, auch wenn es nicht gerade notwendig war. Ja, die Rudimente sind noch heute da, indem ich nämlich, wenn im Bette Winde abgehen sollen, den Finger in den Anus stecke, damit es unhörbar werde. Schon als kleines Kind hatte ich Lustgefühle, wenn ich den Prolaps wieder hineingab. Hingegen genierte es mich später, mit 5, 6 Jahren sehr, wenn es einmal wieder die Mutter tat, ja ich hatte geradezu Abscheu davor. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß wir als Kinder solchen Abscheu vor den Lavements hatten, die uns Mutter sehr häufig wegen der Spulwürmer versetzte?). Verstärkt wurde die Vorliebe für meine Manipulationen im After, als ich mit 15 Jahren von Päderastie las. Eigentlich war sie sehr sym- pathisch geschildert, wie man da mit einem Jüngling zusammen jage, Ausflüge mache, gemeinsam lebe und daß es für den Jüngling in vielen Fällen nützlich sei. Bald darauf sah ich dann auf Kameen die Einführung des Gliedes in den After. Ich fühlte dabei eine sexuelle Erregung im Gehirn. Das Ganze erschien mir ausnehmend interessant. Ich habe es an mir mit dem Finger nachzuahmen versucht, wobei ich ein Wollust- gefühl und Erektionen bekam. Ich weiß nicht, ob es gleich zu Beginn war oder erst später, daß ich nach Einführung des Fingers onanierte.

selbst wenn es körperlich alles einholt, was es durch die Krankheit versäumt hat, doch nicht die gleichen Charaktereigenschaften wie ein Kind, welches dasselbe Lebensalter hindurch stets gesund war. Es bleibt ernst und behält eine Über- empfindlichkeit gegen viele kleine Reize, durch welche sich gesunde Kinder nicht ihre humoristische Stimmung verderben lassen“, Adolf Czerny ‚Der Arzt als Erzieher des Kindes“, Wien 1908, Deuticke.

!) Der Wiener Kinderarzt Dr. Josef Friedjung teilt mir mit, daß nach seinen Erfahrungen der Prolapsus ani keine rein organische oder zufällige Erkrankung sei, sondern wahrscheinlich auf analerotischen Bewegungen beruhe und ein gut Teil aktiven Mittuns des Kindes zur Voraussetzung habe. Auch Thie- mich machte aufmerksam, daß Analprolapsus häufig eine monosymptomatische Form der Kinderhysterie sei.

?) Der wahre Hauptgrund ist natürlich die Reaktion, die Sexualverdrängung. Der „Abscheu“ ist die Sühne für die ehemals empfundene besondere Lust, als die Mutter den Prolaps reponierte. Unterstützt wurde dieser Abscheu noch durch die Ungeschicklichkeit der Mutter bei der Reposition, die ihrerseits wieder eine Reak- tion auf eigene unterdrückte Analerotik war.

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Onanie und Päderastie waren nicht immer verbunden. Ich übte auch bloße Masturbation, doch wenn ich Päderastie getrieben hatte, onanierte ich danach immer. Das erstere tat ich etwa zweimal wöchentlich, die Verbindung beider, welche mir den größten Reiz gewährte, etwa zweimal in drei Wochen. Mit 20 Jahren oder noch später dünkte es mich, daß sich infolge der Päderastie meine Nerven beruhigten. Wenn ich bloß masturbiert hatte, währte der Trieb zum Weibe fort, nach der Päderastie konnte ich eine Woche oder länger auf das Weib verzichten.“

Es ist völlig unmöglich, seine wenig anmutende Analerotik in solcher Vollständigkeit wiederzugeben wie die anderen Äußerungen seiner Sexualität. Ist sie doch sein stärkst entwickelter Teiltrieb, der weitaus den größten Platz beanspruchte. Wollte ich alles erschöpfend erzählen, was in der Analyse vorgebracht wurde, so brauchte ich mindestens ebensoviel Raum, als ich schon beschrieb, und der Leser würde zweifel- los in die Flucht gejagt. So will ich denn nur die Hauptpunkte anführen und gleich vorausschieken, daß es keine Beschäftigung mit dem Anus, Stuhl und den Darmgasen gibt, die der Graf nicht auch schon aus- probiert hätte. Ich vermute, daß diese Analerotik in einzelnen Sym- ptomen bis auf die Säuglingszeit zurückgeht, wenn sie auch Patient zusammenhängend erst vom 5. Lebensjahre ab“entsinnt. In diesem Alter, wahrscheinlich aber noch aus früherer Zeit, erinnert er aus- gesprochene Koprophagie.. Wenn er nämlich beim Abwischen Kot- reste auf den Finger bekam, pflegte er sie nachher abzuschlecken. Später, um 14 Jahre herum, folgte eine Periode, da er alles und jedes in kleinsten Teilchen zu kosten unternahm, wobei er auch Exkremente nicht ver- schonte. Dann spielte er mindestens als 5jähriger Knabe schon im Garten mit Lehm, dem er mit den Händen die Form von menschlichen Kot- klumpen gab. Als der Gärtner den Lehmboden mit Sand bestreute, war er lange unglücklich. Zwischen 5 und 7 Jahren interessierten ihn die verschiedenen Arten von Tierkot, worauf ihn übrigens sein Vater, ein passionierter Jäger, stets aufmerksam machte. Auch schmeckten ihm kotähnliche Bäckereien besser als andere und pflegte er lange Zeit Speisen, die besonders gemundet hatten, hinterdrein nochmals heraufzuwürgen, was er bezeichnend ‚Koterbrechen“ hieß.

Ich habe schon früher davon erzählt, wie lang seine Mutter ihn von der analen Selbständigkeit abhielt, so daß, alsz. B. mit 4,5 Jahren seine gleichaltrigen Vettern zu Besuche kamen, diese längst schon gewöhnt waren, allein hinauszugehen, während er noch immer auf den Topf gesetzt wurde. Weitere Verzögerung setzte eine äußerst unzweck-

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mäßige Art seiner Oberhosen, die es ihm schwer machte, sie allein zu öffnen. Drum brauchte er lange sowohl beim Stuhlgang wie Urinieren noch von anderen Hilfe, Mutter oder Kindermädchen, was um so be- deutsamer war, als er beide Verrichtungen ‚‚direkt intressant“ fand und beide ihm besondere Lust gewährten. Auch als Erwachsener leistete er, als große Stuhlmassen abgegangen waren, sich einst den Ausspruch: ‚‚Das ist so schön, als wenn man von einem Kinde befreit worden wäre!“ Ich will noch anfügen, daß ihm in verhältnismäßig später Kinderzeit noch einzelne Male Menschliches passierte.

Frühzeitig begann er, auf den Austritt der Fäzes genau zu achten und nach den verschiedenen Gefühlen im Anus Konsistenz und Farbe. der kommenden Massen zu diagnostizieren. Seit dem 15. Jahre pflegte er im Klosett den Abgang im Spiegel zu kontrollieren, wobei ihm das Herauspressen der Rektumschleimhaut bei starkem Drücken sowie das nachfolgende Zurückgehen derselben besonders interessierte und ihn auch ganz an Pferde gemahnte. Noch früher, bereits mit 12 Jahren, liebte er Glaskugeln in den After zu stecken und wieder auszudrücken. Vorbild hierzu waren wohl die nicht seltenen Temperaturmessungen, welche die Mutter bei ihm als Kind stets in ano vornahm, noch früher sodann das Auspressen seiner Rektumschleimhaut in den ersten Jahren, das zum Prolapse führte.

Eın großes Interesse besaßen für ihn schon als kleines Kind lange Gummirohre, besonders weil man aus ihrer Verwendung ein Geheimnis machte. Ein solches hatte die Mutter z. B. als Spülapparat für ihre Vagina, ein zweites der Vater für seine Lavements. Als nun dem l5jährigen Grafen ein langes Gummirohr mit Ballon geschenkt ward, das früher als Läuteapparat gedient hatte, hub er nun an, sich selber zum Vergnügen Lavements zu machen. ‚‚Sie erinnerten mich an meine Lavements in frühester Kindheit, waren aber viel angenehmer, weil ich sie jetzt selber dirigierte. Eine Zeitlang machte ich sie jeden Abend, dann etwas seltener, alsich zu masturbieren begann. Auch in den letzten Jahren war es mir noch angenehm, mir Lavements zu machen, wenn dies auch nur mehr sporadisch vorkam. Auch bevor ich Selbstpäderastie ausführte, reinigte ich mir zunächst den Mastdarm durch Wasserspülung, dann erst steckte ich den Finger hinein. Das trieb ich immerhin jeden zweiten oder jeden Monat einmal. Ich glaube, ich versuchte auch einmal, den Mastdarm wieder herauszubekommen wie in der Kindheit. Ich habe ren geprebt und dabei den Finger gegen den After gedrückt,

s@ang es mir nicht. Ob ich da nicht zu reproduzieren versuchte,

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wie Pferde defäzieren und dabei der Mastdarm herauskommt, was ich bei unseren Ausfahrten häufig sah, wenn ich beim Kutscher oben am Bock saß?“

Zum Schlusse noch eine merkwürdige Beziehung. Wenn er jetzt verstopft ist oder nur mit Schwierigkeit Stuhl bekommt, ist er verstimmt. Andererseits hat er noch gegenwärtig einen gewissen Genuß beim Stuhlabsetzen, doch bloß wenn eine große Masse leicht abgegangen. Früh wartet er schon ängstlich auf die Entleerung ganz wie die Mutter. Bleibt jene aus, so fühlt er sich den ganzen Tag irritiert und muß dann nachmittags oder abends gehen, soll er am nächsten Morgen nicht Erektionen bekommen. Diese Reizbarkeit hat infantile Wurzeln. Zunächst identifiziert sich Patient mit der Mutter, die er früher so heiß und innig geliebt. Ferner hatte der Vater ihn schon von seinem 7. Lebens- jahre ab stets angehalten, zu einer bestimmten Stunde hinauszugehen, „dann’ komme’es von selber‘. Als er aber mit 14 Jahren dies Geschäft auf den Abend verlegen wollte, riet ihm der Vater davon ab, viel besser sel es am Morgen zu gehen. Nun war er dazumal in den Vater verliebt und dessen Worte darum autoritär. Und wenn er noch jetzt tagsüber irritiert ist, da er frühmorgens nicht zu Stuhle ging, so deshalb, weil er damit das Gebot des Vaters übertrat.

3 Es ıst uns bisher schon zweimal die

Masturbation

begegnet, bei der Selbstpäderastie wie bei den Vorwürfen gegen seine Mutter. Die letztere hatte ihn mit 12,13 Jahren, wie ich oben erzählte, fälschlich jenes Lasters bezichtigt. Doch hatte er tatsächlich beim Seilklettern ‚ein eigentümliches Gefühl‘ verspürt, „eine Art von Spasmus“, wie später bei der Ejakulation, doch ohne jedweden Samen- erguß. „Es war ein kleines, krampfhaftes Gefühl, ich glaube in der Prostata zwischen Mastdarm und Glied.‘ Dies Gefühl nun stellte sich alle fünf Wochen regelmäßig ein, wenn im Turnen das Klettern an die Reihe kam. Dann aber folgten andere Turnübungen und damit eine Pause von 1 bis 2 Jahren ohne jede Reizung. Mit 15 Jahren sagte ihm ein Kamerad, wenn man so alt wäre, sollte man Erektionen haben. Weil nun diese nicht von selber auftraten, zog er das Präputium auf und ab und war sehr erstaunt, als plötzlich ein Samenerguß sich ein- stellte. Auf diese Methode kam er dadurch, daß ihm ein Kamerad schon früher gesagt hatte, da vom Koitus die Rede, das könne man auch mit der Hand besorgen, doch sei es ungesund. Jene einmalige Ma-

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sturbation steht ganz isoliert. Erst mit 16 Jahren begann er regelmäßig zu onanieren, und zwar jede Woche nach dem warmen Bade. Im 16. und 17. Jahre überhaupt nur nach diesem, also bloß einmal wöchentlich, weil er immer Erektionen bekam, sobald er das Glied im warmen Bade mit Seife wusch. Erst gegen Ende des 17. Jahres begann er das Laster häufiger zu treiben, dazu bald außer der Hand noch einen Schwamm benutzend. ‚Mir scheint,“ gibt er zur Erklärung an, „der Schwamm gleicht mehr dem Genitale eines Weibes.‘“ Doch auch wenn er abends bei einer Dirne gewesen, pflegte er am Morgen des folgenden Tages mit dem Schwamme zu masturbieren. ‚Vielleicht war mir auch der Schwamm ein reines Weib. Am Tage nach dem Koitus erscheint mır das Weib ganz unausstehlich, das ist auch jetzt noch bei meiner Frau nicht selten der Fall. Da scheint sie mir alle Schwächen eines Weibes zu haben, nicht konsequent zu sein, nur an Kleider zu denken usw.“ Außer mit dem Schwamme begann er auch mit einem Gummiring zu masturbieren, beide wie ein weibliches Genitale brauchend. Später jedoch, um das 20. Jahr, kehrte er wieder zur Handonanie zurück (neben dem Schwammkoitus), und zwar so, daß er mit beiden Händen eine Röhre bildete, in welche hinein er masturbierte.

Um diese Zeit hub er auch vor dem Spiegel zu onanieren an oder eigentlich vor zweien, um alle Körperbewegungen beobachten zu können. Ihm genügte nicht, die Vorderseite anzusehen, er wollte sämtliche Körperbewegungen von allen Seiten schauen, besonders auch von rückwärts. Interessierte ihn neben dem Membrum ja doch am meisten das Muskelspiel des Gesäßes. Er machte nämlich bei dieser Onanie die gleichen Bewegungen wie beim Geschlechtsakt,' indem er das Mem- brum zwischen den beiden Händen fixierte, während sein Körper alle Zuckungen eines Koitus ausführte. Das bloße Auf- und Abziehen übte er nur, um rasch fertig zu werden, oder wenn ihm die Onanie gar zu abscheulich schien infolge von allzugroßem Reiz. Ebenso im Anfange der Masturbation, als er vom Geschlechtsakte noch nichts wußte. Doch begann er mit der Koitusonanie schon in der letzten Gymnasial- klasse, als er vernahm, wie der Beischlaf geübt werde. Er hatte auch gehört, daß die weiblichen Geschlechtsteile wie ein Rohr aussähen dies wußte er von der Anatomie worauf er mit dem Gummirohr zu koitieren begann.

Wie alle Masturbanten, hatte auch der Graf auf der einen Seite Furcht, seine Onanie zu verraten, auf der andern Scheu vor ihren Folgen. „Es steckt da vielleicht ein wenig von der kindlichen Ver-

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achtung der Gymnasialkollegen in mir, mit der sie auf den Masturbanten herabsahen. Zwei meiner besten Freunde erzählten mir, man erkenne den Onanisten an der blassen Gesichtsfarbe. Sie nahmen einen solchen auch nicht als vollwertig, was man in diesen Jahren am schmerzlichsten empfindet. Die ganze Zeit her, von jenen Schuljahren bis zum heutigen Tage, habe ich gefürchtet, man könne mir die Masturbation absehen, zumal ich sie neben den Manipulationen am After bis in die jüngste Zeit hinauf trieb, und war auch bestrebt, von Gesprächen über Onanie stets abzulenken, um mich nicht zu verraten.‘‘ Von den Folgen lang- jähriger Masturbation hatte er teils richtige, teils absurde Vorstellungen. Die Onanisten besäßen hängende Hoden und ein im Verhältnis zu großes Glied; sie schwitzten sehr leicht, ıhre Kinder seien schwach und durch ein verbildetes Genitale gebrandmarkt, d. h. Testes und Membrum zusammengewachsen. Endlich studierte er von 16. Jahre ab sich immer im Spiegel, ob er Masturbationsveränderungen zeige, um diese dann besser verbergen zu können.

„Je älter ich wurde, desto mehr erschien mir die Onanie als Priapuskult. Wahrscheinlich wurde ich da beeinflußt von den Kameen und dem belgischen Maler

Felicien Rops.

Mich interessierte bei diesem, daß er das Glied wie ein selbständiges Wesen, genauer: wie ein lebendes Tier darstellte. Er zeichnet ihn sehr häufig als Schlange, die sich um den Körper schlingt, was ich nicht nur nachzeichnete, sondern auch in Wachs und Lehm modellierte. Ehe ich Rops kennen lernte, hatte ich einmal einen Penis gezeichnet, von dem meine Kameraden sagten, ich müsse ihn schöner machen. ‚Vielleicht hast du ihn nach deinem eigenen Modell gezeichnet.‘ Drum glaubte ich, er sei nicht normal, nicht so lang und groß wie der von anderen.‘ Ich darf hier einfügen, daß ihn wohl just dieser schwer empfundene Mangel zu Rops hinführte, der ja das übergroße Membrum verherrlicht. „Rops zeichnet ja auch Menschen mit einem schlangenartigen Penis, der sich um den Körper dreht, in der Luft wie eine Schlange bewegt, erhebt und emporrichtet, er hat dem Penis ganz die angriffsmäßige Stellung gegeben. Vielleicht hatte ich auch den Wunsch, mit so einem schlangenartigen Penis mich selbst zu päderastieren. Wenigstens zeichnete ich mit 25 Jahren einen Mann, mit so schlangenartig erigiertem Glied. Zuerst ging er über den Arm, dann längs des Rückens, aber noch in der Luft, bis er schließlich in den After eindrang. Rops hat mich

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deshalb so gefesselt, weil mir vorkam, er drückt das Erotische, was die Menschen und mich im Speziellen plagte, so gut aus, daß das Erotische nämlich ein Leiden sei. All seine Menschen und Figuren tragen einen Leidenszug im Gesicht. Das stete Geschlechtsverlangen plagte mich riesig, besonders in der letzten Zeit, ehe ich mit dem Weibe zu ver- kehren begann, so daß ich sogar schon daran dachte, mich kastrieren zu lassen, bis ich hörte, daß auch dies nichts helfe. Ich litt besonders unter erotischen Phantasien. Sowohl Kameen als Ropsbilder drehten sich weniger um den Koitus, als um Bilder vom Penis. Ich hatte immer Phantasien von riesenhaften, schlangenartigen Membris, die mir gar keine Ruhe gaben, mich in der Arbeit und im Schlafe störten. Wenn ich in diesen Phantasien so einen Penis sah, habe ich an meinen eigenen gedacht, ihn angeschaut und dabei kam es am häufigsten zur Mastur- bation. Ich hatte natürlich dabei auch den Wunsch, mein Membrum solle so groß werden. Seitdem ich regelmäßig mit Weibern zu verkehren begann, wurde es viel besser. Aber wenn ich jetzt meine Morgenerektionen bekomme, kehrt auch die alte Plage wieder und damit die alten Phan- tasıen.“‘ Ich weiß von anderen Psychoanalysen, daß jenes ungeheure Membrum, welches unser Graf sich so sehr ersehnte und Rops bildlich darstellte, nichts anderes ist als das Glied des Vaters, welches dem Kinde stets so groß erscheint im Verhältnisse zum eigenen, noch unent- wickelten. Heißt doch der stete Wunsch jedes Knaben, groß zu sein, in erster Linie: so große Genitalien zu bekommen, wie er sie immer am Vater bewunderte. Unser Graf ergänzt noch: „Der Läuteapparat, das Gummirohr, welches ich geschenkt bekam und zu überflüssigen Lavements benutzte, erinnerte mich gleichfalls an die Ropsphantasien. Auch Kondome erregten mich sexuell, weil sie, mit Wasser gefüllt oder aufgeblasen, das Glied so vergrößerten.“

Sekundärer Autoerotismus.

Vorstehend sind wir einem neuen Phänomen begegnet, für das ich nach einem mündlichen Vorschlage Freuds die Bezeichnung „sekundärer Autoerotismus“ einführen möchte. Den primären zeigt ja ein jegliches Kind!), am deutlichsten in der Erscheinung des Ludelns oder Wonne- saugens. Aber selbst ein Säugling, welcher nicht ludelt, führt doch alles,

\) Ich folge in der Beschreibung des primären Autoerotismus sowie seiner Umwandlung in der Pubertät Freuds ‚Drei Abhandlungen zur Sexualthorie“, während die Ausführungen über sekundären Autoerotismus mein geistiges Eigen- tum sind.

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was er in die Hand bekommt, Spielzeug, Finger oder irgendeinen Gegen- stand, sofort zum Munde, in Erinnerung an die primäre Lust, die beim Trinken an der Brust oder ihren Surrogaten ihm während seines Erden- wallens begegnete. Also ist die allererste, in der Kindheit wichtigste erogene Zone die Lippenschleimhaut. Eine zweite von ebensolcher Bedeutung und angestammt häufig noch mehr verstärkt scheint die Schleimhaut des Anus, welche sowohl bei den täglichen Ent- leerungen als den häufigen Darmkatarrhen der Kinder ihre ganz be- sondere Reizung erfährt. In der Pubertät nun ordnen sich alle erogenen Zonen, die genannten wie die anderen, dem Primat der Genitalien unter und wird der Sexualtrieb, der bisher vorwiegend autoerotisch, auf ein fremdes Sexualobjekt gerichtet. Die Genitalien werden jetzt die eigent- lichen Lusterreger, während die anderen erogenen Zonen, mindestens normalerweise, nur gewisse Vorlustbeiträge liefern. In diesen physio- logischen Entwieklungsgang schiebt sich nun nicht selten beim Knaben eine Zwischenepisode ein, die zeitlich frühestens in die Vorpubertät fällt in unseren Breiten also etwa zwischen 10 und 13 Jahren nicht selten aber später, in den Anfang der Reife. Bezeichnend für diese Zwischenepisode sind folgende Umstände. Der Trieb ist noch immer autoerotisch und eines fremden Objektes entbehrend. Er knüpft des weitern immer an erogene Zonen an, genau wie beim Kinde und bevor- zugt ebendieselben Schleimhäute: Lippen und After. Insoweit läuft der sekundäre Autoerotismus dem primären parallel. Hingegen steht bei ersterem die Vorherrschaft der Geschlechtsorgane schon endgültig fest, so daß nur die einzige Aufgabe bleibt, das Membrum zur Schleimhaut der haupterogenen Zonen zu führen, d. h. in den Mund oder Anus zu stecken. Dies Kunststück, das eines Schlangenmenschen würdig wäre, ist natürlich für den Knaben nie wirklich ausführbar. Er kann nur versuchen, annähernd oder mit Zuhilfenahme fremder Zwischenstücke seinen Plan zu realisieren. So kannte ich einen Burschen, der nach Monate währendem vergeblichen Mühen, seinen Penis nach rückwärts bis zur erforderlichen Länge zu dehnen, endlich eine Eprouvette an der Glans befestigte, um auf diesem Wege sein Ziel zu erreichen. Ein anderer quälte sich tagelang, durch allerlei Verrenkungen und künstliche Stellungen sein Membrum bis in den Mund zu bringen. Auch unseren Grafen stach durch Jahre hindurch das Verlangen, sich selbst zu pädera- stieren, und da dies schlechterdings unmöglich war, so schwelgte er mindest in solchen Phantasien. Ich vermute, daß auch die Ropsschen Zeichnungen gleichem Streben ihren Ursprung danken. Doch die

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Wünsche unseres Grafen sind noch komplizierter und heischen eine genauere Darstellung. Zunächst ersehnte er in seiner akrobatischen Zeit, also etwa um 15 oder 16 Jahre, seinen Körper so stark nach vorn zu biegen, daß er sich in den Penis zu beißen vermöchte, wasaber natürlich niemals gelang. Noch früher schon las er von Hermaphroditen und dachte sofort, ein solcher könne dann ‚von sich selber ein Kind bekommen durch Selbstbefruchtung“. Aber erst mit 17 erwachte sein Wunsch, sich selbst zu päderastieren. Er stellte sich das nicht unmöglich vor, wenn man nur den Rücken stark krümme und so den After nach vor- wärts biege. Doch steckt hinter diesem bereits in Spätjahre fallenden Verlangen schon der Übergang zum fremden Sexualobjekt, d. h. der Wunsch, von einem geliebten Manne päderastiert zu werden in der Lage eines begatteten Weibes. Bei weiterer Nachprüfung ergab sich sodann, daß dies nur Wiederholung von Kindheitseindrücken, von rektalen Temperaturmessungen und Klystieren durch seine Mutter war. Also neuerliche Bestätigung meines früheren Fundes, daß hinter dem scheinbar geliebten Mann bei jeglichem Urning die eigene Mutter und hinter dem päderastischen Verlangen die Klystierspritze oder das Afterthermometer nachweisbar ist.

Ehe ich meine neuen Anschauungen über Homosexualitätin extenso darlege, sei noch ein Moment ausführlicher besprochen: des Patienten

Sehnsucht nach sexueller Aufklärung.

In dem Leben eines jeglichen Menschen taucht früher oder später, gewöhnlich in der Kindheit, längstens jedoch in der Pubertät die Sphinx- frage auf: Woher kommen eigentlich die kleinen Kinder? Die ersten, an welche man sich in seiner Unwissenheit zu wenden pflegt, sind Mutter und Vater. Nur sind freilich die wenigsten unter diesen willens oder fähig, mit zarter, kundiger, vorsichtig und weise leitender Hand in das verpönte Land zu führen. Meist werden drum die Kinder teils grob, teils ausweichend abgefertigt, so daß sie schließlich bei Alters- genossen, dienstbaren Geistern oder dem allwissenden Konversations- lexikon Aufklärung suchen und endlich auch finden. Dies elterliche Versteckensspiel ist, von welcher Seite immer betrachtet, verhängnisvoll zu heißen. Da in der letzten Zeit über diesen Gegenstand soviel publi- ziert ward, will ich mich hier auf einzelnes beschränken, das noch wenig oder gar nicht ins Treffen geführt wurde, zumal die Bedeutung der mangelnden sexuellen Aufklärung für die Entstehung der Neurosen und Perversionen.

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Zunächst betrachtet das von den Eltern nicht aufgeklärte Kind jene Vorenthaltung der stets wieder erfragten Geschlechtsbeziehungen als Mangel an Vertrauen, ja sie wird zur häufigsten, allerbedeutsamsten Wurzel der Entfremdung zwischen Eltern und Sprößling, ganz besonders dort, wo sexuelle Anziehung nicht entgegenwirkt, wie zwischen Mutter und Tochter, Vater und Sohn. Es ist sehr ominös, wenn ein Kind seinen Eltern „dahinter kommt“, daß sie eheliche Beziehungen pflegten: Es fühlt sich betrogen, sein Vertrauen getäuscht und glaubt ihnen fortab überhaupt nichts mehr ungeprüft, weil sie es in diesem wich- tigsten Punkte belogen haben. Nicht selten rührt auch die Aufklärung durch Fremde eine arge Lüsternheit in ihm auf, wenn es das Geschlecht- liche nicht schlankweg ablehnt. Hingegen hängt das von der Mutter unterwiesene Kind an dieser stets doppelt. Im ersteren Falle drängt sich nicht selten der häßliche Gedanke ans Licht: meine Eltern müssen sich gut amüsiert haben, wie ich gezeugt ward. Im zweiten läßt es sich leicht zu dem Empfinden lenken: was hat die Mutter um mich gelitten bei meiner Geburt! ein Gedanke, der Liebe und Pietät ausnehmend erhöht.

Noch einen zweiten Punkt muß ich berühren. Das ewige Ablehnen, ja schroffe Verpönen alles Geschlechtlichen kann bei Mädchen, besonders wenn strenge Verfolgung der Onanie hinzutritt, eine dauernde, lebens- lange sexuelle Anästhesie herbeiführen. Ich habe gar nicht so selten vernommen,daß solcheMädchen sich in späteren Jahren bitter beklagten, zu Hause hätten sie niemals ein Wort in den Mund nehmen dürfen, das auch nur entfernt an Geschlechtliches streifte, wie Geburt, Ent- bindung, Verhältnis u. dgl. Wird dann noch obendrein die Mastur- bation aufs heftigste verfolgt, ohne daß man doch offen über alles Sexuelle spräche, so können stete und schwere hysterische Angstzustände, dauernde Unfähigkeit, beim Koitus irgend Lust zu empfinden, sowie ein vergeblicher, lebenslanger Kampf mit der Onanie trotz späterer Ehe die Konsequenz sein. Bei Knaben hinwieder führt oft solches Vorgehen entweder zu psychischer Impotenz mit der Milderung bis- weilen, daß sie bei der käuflichen Liebe potent bleiben, in anderen Fällen aber, bei konstitutioneller Disposition, wenn dann noch die Abkehr von der Mutter dazukommt, zur Homosexualität. Wo aber wie bei den späteren Neurotikern ein ungeheures und nicht zu ersättigendes Liebes- bedürfnis vorhanden ist, das natürlich zuerst auf die Eltern sich richtet, geschieht es nicht selten, daß schon in der Kindheit oder spätestens in Pubertätsphantasien von diesen verlangt wird, sie mögen ihr Kind

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aktiv in die Liebesgeheimnisse einführen, d. h. sie an ihrem eigenen Leibe über alles belehren. Darauf beruht unter anderem auch das be- kannte Erlösermotiv in der Kunst. Die Mutter soll ihren Knaben von der Masturbation befreien, indem sie ihm sich selber hingibt (Freud). Und da naturgemäß solche Inzestphantasien und -wünsche Verwirk- liehung nie finden können, so fühlen sich regelmäßig solche Kinder zu wenig oder gar nicht geliebt, obwohl sie sehr häufig Lieblingskinder und vor allen Geschwistern bevorzugt werden.

Ein glänzendes Beispiel für die Folgen verkehrter Sexualerziehung ist auch unser Graf. Von der Pubertät bis zum heutigen Tage heißt der schwerste Vorwurf, welchen er gegen seine Mutter erhebt, sie habe ıhm die geschlechtliche Aufklärung versagt, ja selbst dort, wo sie sprach, ein durchaus falsches Bild gegeben. Und wenn er ihr den heimlichen Brief an die Tante, worin sie von seiner Onanie erzählte, besonders krumm nimmt, so steckt die Wut über ein anderes Heimlichtun dahinter, ihr Verhehlen nämlich der sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Weib. ‚Was sie eigentlich hätte tun sollen, weiß ich nicht zu sagen“, erzählte Patient in der Analyse, ‚allein das Negative empfand ich als Unrecht. Drum hab ich mich von ihr nie verstanden gefühlt. Nachher habe ich es auch von Vater als unkameradschaftlich angesehen, daß er mit mir so gar nicht davon sprach. Erst hätte die Mutter aufklären sollen, da sie es nicht tat, dann später der Vater. Ihr machte ich schon mit 16 Jahren schwere Vorwürfe, dem Vater erst mit 19, 20, als ich vernahm, wie andere Väter ihre Söhne aufklären, ja direkt selber zu Dirnen führen. Der Mutter wohl wegen der Masturbation, daß sie mir nicht davon geholfen habe, ja mich anfangs sogar noch fälschlich be- schuldigte und mir auch obendrein die Vorstellung einpflanzte, der Verkehr mit dem Weibe sei etwas Unrechtes‘‘!).

So wenig Patient in der ganzen Analyse mit der Sprache heraus- rückte, was er eigentlich für sexuelle Phantasien auf die Mutter hatte, gelegentlich brach doch einiges durch. So erzählte er einmal: ‚Mir ist die Geschichte, daß die Mutter sich vom Sohne begatten läßt, nie un- geheuerlich erschienen. Bei Hunden z. B. ist das ganz gewöhnlich. Als ich mit 13 Jahren im Cornelius Nepos von einem solchen Inzest las und daß dies eine ungeheuerliche Schande sei, erschien mir die Sache sehr wohl begreiflich. Doch erinnere ich mich nicht, direkte Koitus- gedanken auf die Mutter gehabt zu haben.“ —_ „Aber, als sie das nicht

= Auf die Lehren der Mutter geht auch sein anfänglicher Abscheu vor sexueller Betätigung bei den männlichen Geliebten zurück.

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erriet, wurden Sie böse?“ ‚Ja, das ist richtig. Es kommt bei mir sehr häufig vor, daß, wenn man meine heimlichen Gedanken nicht errät, ich zornig werde. Das könnte auch bei Mutter gewesen sein. Nur war der Gedanke so geheim, daß er mir selbst nicht bewußt wurde.“ Daß dies keine bloße Hypothese ist, beweist ein Brief, den ich von ihm drei Wochen nach beendeter Analyse erhielt. Da schrieb er nämlich: „Ich habe mich in den letzten Tagen in meiner Phantasie auf sexuellen Situationen mit meiner Mutter überrascht.‘ Ein Näheres freilich wollte er trotz wiederholter Anfragen mir nicht angeben, einfach weil er mit dem Mutterkomplex, der erst in die letzten Tiefen hineinführt, in den fünf Monaten der Analyse und auch jetzt noch zurückhält.

Wie wenig die Eltern in der Seele ihrer Kinder zu lesen verstehen, sobald Geschlechtliches mit im Spiele ist, beweist nachfolgende Episode aus des Grafen 16. Lebensjahre schon nach dem völligen Bruch mit der Mutter. Eines Abends ist er tief deprimiert und bricht in heftige Tränen aus. Alles sieht er düster, er tauge zu nichts, die Vorwürfe wegen der ÖOnanie erwachen. Dabei jedoch läßt er geflissentlich die Türe seines Zimmers offen. Wenn der Vater vorbeigehe, solle er ihn weinen hören, hereinkommen und ihn liebreich trösten.” Das alles gelingt nun auch ganz programmäßig. Allein, da der Vater nach dem Grunde seiner Tränen fragt, weiß er nur zu sagen, die Welt erscheine ihm so schwarz, er wisse nicht, ob er zu etwas tauge. Kein Wort jedoch von der Mastur- bation und seinen anderen sexuellen Nöten. ‚Der Vater sprach mir be- ruhigend zu, doch ich hatte das Gefühl, er durchschaut, daß ich Komödie spiele. Ich war ja wirklich traurig, aber ich spielte noch viel mehr, als ich es wirklich war, nur um Trost zu bekommen. Vielleicht habe ich zuerst auch von meiner Onanie zu zprechen gewünscht, doch da mit den ersten Worten des Vaters schon die Sorge wegging, unterließ ich es dann.“ Trotzdem sich der Vater hier eigentlich ganz korrekt benommen, trugihm der Sohn seinen Mangel an intimerer Seelenkenntnis, daß er seine sexuellen Nöte nicht durchschaute und sich drum auch keine Mühe gab, ihm herauszuhelfen, zeitlebens nach. Er hätte ihn damals zu einer vollen Beichte zwingen müssen und ihn dann von der Masturbation befreien, indem er ihn selber zum Weibe führte!). Das

!) Ursprünglich ist da natürlich die eigene Mutter gemeint, bei der er zu- sammen mit seinem Vater den primären Dreibund erreichen wollte. Charakteristisch ist auch, wie er seine Frau selbst in der Ehe immer dazu verleiten möchte, sich noch einen zweiten Verehrer zu nehmen, auf den er dann freilich ganz regelmäßig eifer- süchtig würde.

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ist der tiefste Grund seines Hasses gegen den Vater, warum er es nicht zu einer Versöhnung kommen lassen will. Und bezeichnenderweise bricht sein Konflikt mit dem Vater aus und unterdrückt er geflissent- lich jede Liebe zu diesem, nachdem er endlich eine Frau gefunden, die seiner Geschlechtsnot wenigstens in heterosexueller Beziehung für die Dauer abhalf.

Was er vergeblich vom Vater erhofft, besorgten dann schließlich beim Militär seine Kameraden, die ihn zu einer Dirne führten. Recht früh, bereits in der Pubertät, quälte ihn der Gedanke, es müsse doch eine Norm existieren, wie der Koitus auszuführen sei, ja, er sammelte direkt der Kameraden Aussprüche über den Geschlechtsakt. Endlich suchte er bis in die jüngste Zeit immer wieder Männern seines 2. Typus ihr sexuelles Geheimnis abzulauschen, wie man beim Weibe zum Erfolge gelange, wie ein frecher Mensch sich betragen müsse. Bei denen des 1. Typus jedoch, die, wie wir später vernehmen werden, nach dem eigenen Eibenbilde gewählt sind, plagte ihn die Neugier: wie stellt sich für diesen die sexuelle Frage, ist sein Geschlechtsleben schon erwacht? Daß er endlich bei Prostituierten landete und von ihnen wirkliche Hilfe bekam, ist durchaus begreiflich. Wenn er stets sexuelle Aufklärung wünschte und direkte Anleitung zum Verkehr, wer hätte ihn besser unterrichten können? Mit Dirnen konnte er jederzeit über Erotisches sprechen, ihnen alle sexuellen Nöte klagen, und es ist bezeichnend, daß er in seinen Depressionszeiten immer wieder hinging, auch wenn er gar nicht verkehren mochte. Ihm genügte, mit der Dirne zu reden und sich von ihr Trost zusprechen zu lassen beides vermutlich ursprüngliche Wunschphantasien auf die Mutter damit ‚seine Unruhe und Ner- vosität weggehe‘. Natürlich bekommt er da auch gar nie eine Erektion, so wenig wie bei der eigenen Mutter. Immer wußte er auch Prostituierte zu finden, die mindestens taten, als liebten sie ihn um seiner selber willen. In jeder der vielen, die er aufsuchte, besonders jedoch in seiner Frau, kehren deutlich die Züge der Mutter wieder, ansonsten waren sie für ihn unbrauchbar. Von einer der Dirnen verlangt er geradezu, sie möge aktiv sein Membrum einführen und die noch nötigen Bewegungen machen, während er selber ganz ruhig bleibe, ein Vorgehen, das er vermutlich ursprünglich in seinen Phantasien von der Mutter begehrt hatte. Am besten jedoch verkörpert die Frau sein Mutterideal, teils wie sie wirklich und in seiner Phantasie gewesen, teils wie er sie ver- klärend geschaut. Schon als Dirne hatte ihn jene bevorzugt, obwohl er ihr gar nichts zu bieten vermochte, ihn also um seiner selbst willen

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geliebt, und alles getan, was er sich ersehnte. Obendrein war sie in er- wünschtem Gegensatze zu seiner Mutter stets geschmackvoll gekleidet und liebenswürdig, von starkem Rechtsgefühl und stillem Wesen. Nur eine Dirne endlich vermochte es über ihn davon zu tragen. Eine solche wäre ja auch seine Mutter selber gewesen, hätte sie nebst dem Vater auch ihn zu ihrem Geliebten erklärt, und sowie die Mutter vermag er die Frau nur mit einem zu teilen, in welchen er verliebt ist, wie schon als Kind und primo loco in seinen Vater.

Neue Beiträge zur Theorie der Homosexualität.

Die dauernde Neigung zum eigenen Geschlecht tritt in der Regel und jedenfalls am stärksten in der Pubertät zutage, frühestens in der Vorpubertät, für unsere Breiten also mit 10 oder 11 Jahren. Ein mitunter vermeldeter früherer Beginn steht jedenfalls vereinzelt und hat seine ganz besonderen Gründe. Ausgelöst wird das ständige homosexuelle Empfinden gewöhnlich durch ein bedeutsames Ereignis, das die Mutter von Ihrer bisherigen Rolle der idealen Helferin, Lehrerin und Erzieherin für immer oder mindestens lange verdrängte. Solche Zufälle sind z. B. ihr Tod oder schwere, vielleicht auch entstellende Krankheit, ein Vermögenskrach mit folgender schwerer Neurose, die zum Aufenthalt im Sanatorium zwingt, eine unzweckmäßige Ver- folgung des Sohnes wegen Onanie und dergleichen Dinge. Wem dann der werdende Homosexuelle sich in Liebe zuwendet, hängt wieder von äußeren Umständen ab. In selteneren Fällen dem Vater oder älteren Männern, am häufigsten gleichaltrigen oder etwas älteren Kameraden, die ıhn jetzt in die Liebe tatsächlich einführen, wie er es früher von der Mutter erhofft. Bezeichnend ist auch, daß in den homosexuellen Idealen neben den Zügen der bisher hetero- wie homosexuell Geliebten!) auch die eigene Person ganz deutlich in den Vordergrund tritt und In einer Reihe von Eigentümlichkeiten unzweifelhaft Verwendung findet. Es liegt recht nahe, hier an die liebende Bewunderung zu denken, die die Mutter einst ihrem Knaben schenkte?). Er flüchtet dann einfach von der jetzt so wenig liebreichen Mutter zu der, die ihn einst so heiß geliebt.

Wir sind hier bei einem ganz neuen Punkte, der für die Genese der Inversion mir entscheidend dünkt: der Weg zur Homosexuali-

1) Vgl. hiezu meine frühere Arbeit ‚Zur Ätiologie der konträren Sexual- empfindung“ 1. c.

2) Ich spreche hier nur vom männlichen Urning, weilAnalysen von Urninden

noch nicht vorliegen. Ich selber weiß von letzteren nur einzelne leicht auflösbare Züge.

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tät führt nämlich stets über den Narzismus, d. h. die Liebe zum eigenen Ich. Das konnte ich in all’ meinen Fällen nachweisen und auch Freud hat mir dies über meine Frage von seinen Urningen bestätigen können. Der Narzismus ist nun nicht etwa ein vereinzeltes Phänomen, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe beim Über- gang vom Autoerotismus zur späteren Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person, hinter welcher sich die in die eigenen Genitalien birgt, ist ein nie fehlendes Entwicklungsstadium. Von da erst geht man später zu ähnlichen Objekten über. Der Mensch hat allgemein zwei primäre, ursprüngliche Sexualobjekte und sein weiteres Leben hängt davon ab, ob und bei welchem er schließlich fixiert bleibt. Für den Mann sind diese beiden Objekte die Mutter (beziehungsweise erste Pflegerin) und die eigene Person. Um gesund zu bleiben, muß er beide los werden, bei ihnen nicht allzu lange verweilen. Nur kurze Zeit wird die eigene Person durch den Vater ersetzt, weil dieser als primärer Rivale bei der Mutter bald wieder in feindliche Stellung einrückt. Hier zweigt die Inversion dann ab und man wählt sich die neuen Sexual- objekte nach dem eigenen Vorbilde, dem wirklichen, wie dem idealı- sierten. Der Urning kommt von sich selber nicht los, das ist sein Ver- hängnis. Viel besser gelingt ihm die Lösung von der Mutter. Diese kann er verdrängen, indem er mit ihr sich identifiziert, wie wir von den Psycho- neurosen her wissen. Mit der Liebe zur Mutter verdrängt er auch die Liebe zum weiblichen Geschlechte überhaupt aus einem durchsichtigen Gedankengange: wenn schon die beste unter allen Frauen so wenig taugt, meine eigene Mutter, wie sollte eine andere bestehen können?!).

Daß aber der Urning sich mit seiner Mutter identifiziert, ist an zahl- reichen Zügen gut nachzuweisen. Am deutlichsten daran, daß er so gern den Geliebten zu belehren trachtet, nicht selten über Dinge, die diesen überhaupt nicht interessieren. So wollte z. B. unser Graf seinem Kellner Geologie vortragen und ihn in Kunstgeschichte unterweisen. Auch was jeder Urning von seiner Mutter einst brennend ersehnte, Belehrung in sexuellen Dingen, verlangt er, dem Geliebten später zu geben. Wenn die Invertierten die Reinheit ihres Tuns betonen, daß sie meist den Freund nur ansehen und bewundern wollen oder höchstens ihn streicheln, liebend umfassen und herzlich abküssen, Grobsinnliches aber ihnen

!) Nicht selten kommt es kurz vor der definitiven Ablösung zu einer per- turbatio procritica, einem besonders starken Auflodern derLiebe, d.h. es gehen der Abwendung von der Mutter und Hinneigung zu Freunden sehr lebhafte Eifersuchts- regungen voraus, da die Mutter einen anderen Jungen lobte.

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ferne liege, so ist dies zuÄAnfang gemeinhin auch wahr. Sind das ja nichts anderes als die Liebesäußerungen seiner Mutter in des Urnings frühesten, glücklichsten Tagen. Allerdings kommt es später doch immer zu grellerer Betätigung der Sinnlichkeit, wie es nun einmal unvermeidlich ist. Der Urning spielt da gewöhnlich das Weib, so den Mann verführt, mit andern Worten, die phantasierte Mutter, auch nach der Ablösung sich noch immer mit ihr identifizierend. Ist’s doch ein unsterblicher Wunsch jedes Knaben, die Mutter möge ihn ins sexuelle Leben ein- führen, am liebsten natürlich an ihrem eigenen Leibet).

Ganz kurz noch einige ergänzende Bemerkungen. Die meisten Urninge sind einzige Kinder oder einzige Söhne und erfahren darum besondere Zärtlichkeit von ihren Müttern und gewöhnlich auch den anderen Hausgenossen. Das ist nun keineswegs ein Glück zu heißen, schon weil es die Kinder in ihrem Liebesverlangen ganz unersättlich macht und nach der spätern Ablösung von der Mutter derenGeschlecht in toto verwerfen läßt. Auch kann man rein erfahrungsgemäß die Regel aufstellen, daß Aufwachsen in einer bloß weiblichen Umgebung (der Vater kommt hier nicht in Betracht) für beide Geschlechter, Knaben und Mädchen, die Inversion befördert. Der Mann wird dadurch zum Manne hingedrängt, das Weib zum Weibe. Woran dies liegt, vermag ich nicht zu sagen, nur die Tatsache selbst ist sicher zu belegen. Beim Knaben könnte man sich schließlich denken, der Mangel an Kameraden

1) Hier seien ganz kurz die verschiedenen Wünsche des Grafen resumiert mit den entsprechenden infantilen Wurzeln. Er will dem Kellner die Hoden streicheln, indem er von hinten und unten greift, sowie es Mutter und Kinder- mädchen ihm selber einst taten. Die Hoden dürfen nicht hängen oder schlaff sein, wie er es so lange mit Leid an sich selber beobachtet hatte. Das Umfassen der Schultern und kräftiger, gewölbter Muskelbäuche ist von den Brüsten der Mutter verschoben. Die beim Geliebten erwünschten Augen sind direkt seine eigenen, teilweise auch, wie er einmal ergänzte, die der jüngeren Schwester. Das Streichen über Schultern, Brust und Rücken geht auch darauf zurück, daß das Kindermädchen ihn so nach dem täglichen Morgenbade abtrocknete. Dies Streicheln verlangte er später auch von andern Frauen. Die Bedeutung der Brustwarzen bei einem seiner Erstgeliebten erklärt sich aus der Erinnerung an seine Mutter, das Verlangen, päderastiert zu werden, aus den Lavements und den rectalen Tem- peraturmessungen. Wenn er sich mit 23 Jahren in einen Museumskameraden verliebt, der die gleichen Ideen, die gleichen Interessen besitzt wie er und ebenso vornehmlich die Augen benutzt, so ist dies einfach Verliebtheit in sich selbst. Desgleichen liebt er in den Kameraden beim Militär und auch späterhin immer wesentlich sich selber mit einigen Zügen, die von weiblichen Sexualobjekten übernommen.

Jahrbuch für psychoanalyt, u. psychopathol. Forschungen. I. 8

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lasse ihn solche dann doppelt ersehnen, beim Weibe jedoch weiß ich Erklärung überhaupt nicht zu geben.

Um zusammenzufassen, was meine psycho-analytischen Unter- suchungen über die Inversion zutage gefördert, so fand ich zunächst all’ jenes bestätigt, das ich schon in einer früheren Arbeit („Zur Ätiologie der konträren Sexualempfindung“ 1. c.) angeführt habe. Als neue Er- kenntnis, allerdings bloß an männlichen Homosexuellen gewonnen, kann ich nachfolgende Thesen aufstellen:

1. Der Urning leidet an der Abkehr von der Mutter (beziehungs- weise ersten Pflegerin), ${in deren Liebe er sich schwer getäuscht fühlt. Er verdrängt die Mutter, indem er sich mit ihr identifiziert. Eine Reihe typischer Inversionszüge geht auf diese Identifikation zurück, vor allem die harmlosen Liebesäußerungen, sowie das Bestreben, den Geliebten zu belehren und zu unterweisen.

2. Der Weg zur Homosexualität führt über den Narzismus, d.h. die Liebe zu sich selbst, wie man tatsächlich war, oder, idealisiert, gern gewesen wäre. |

3. Im Sexualideal des Invertierten finden sich nicht nur Züge früherer weiblicher und männlicher Sexualobjekte, sondern noch vielmehr des eigenen geliebten Ichs.

4. Aufwachsen. ausschließlich in weiblicher Umgebung der Vater kommt hier nicht in Betracht befördert die Homosexualität beim Manne wie beim Weibe aus Gründen, die noch nicht genügend bekannt sind. Zudem sind Urninge meist einzige Kinder oder einzige Söhne, mit aller Verzärtelung, welche diesen zukommt.

5. Unterstützt wird endlich die Inversion durch den ‚‚nach- träglichen Gehorsam‘ gegen die Worte der Mutter, was wieder an die mangelnde sexuelle Aufklärung, ja Abhaltung von allem Geschlecht- lichen anknüpft. Ich fand nicht selten, daß die Mutter frühzeitig ihren Kindern dies scheint für Knaben wie für Mädchen zu gelten einen selbst ganz harmlosen, doch freundschaftlicheren Verkehr mit dem andern Geschlechte als etwas Unrechtes und Anstößiges hinstellte, was in leider nur zu buchstäblichem, spätern Gehorsam die Neigung zum eigenen Geschlechte verstärkt.

Theoretisches über den ganzen Fall.

Ich habe bisher die Perversionen des Grafen verfolgt, die man zusammenfassend als Fall von Infantilismus bezeichnen könnte. Schon äußerlich wies der 32jährige Mann ganz deutlich die Gesichtszüge eines

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Kindes auf. Die verschiedenen Äußerungen seines Geschlechtstriebes zeigen eminent infantilen Charakter. Das Kind ist ja nach dem treffenden Ausspruch Professor Freuds ‚„polymorph pervers‘. Das ist nun genau das Bild unseres Grafen, der eigentlich äußerst wenig sublimierte und im Grunde dasselbe Schwein geblieben, welches er als Kind physiologisch war. Ausdrücklich anzumerken ist, daß er seine Perversionen durchaus nicht etwa als abnorm empfand und sie auch keineswegs aufgeben mochte, Selbst die Homosexualität, welche ihn in Konflikt mit dem Strafgesetz zu bringen drohte, hat ihn subjektiv nicht sehr gestört, Solcher Infantilismus der Perversionen ist in regierenden Häusern, dem höheren Adel und in alten durch Unzucht stark degenerierten Patrizierfamilien keine große Seltenheit. Doch gelangen sie nur wenig zur Kenntnis des Arztes, weil solche Menschen, wenn sie nicht just im puncto Inversion das Zuchthaus streifen, keinen rechten Impuls haben, anders zu werden.

Wir sind gewohnt, daß die Perversionen irgendwo in die Neurose umschlagen. Das ist auch bei unserm Patienten der Fall, der außer an Dysuria psychica, die ihn nur wenig belästigt, noch an

Pseudoepileptischen Zuständen

leidet. Epileptoide Anfälle, worunter Ohnmachten und kleine Ab- senzen zu begreifen sind, bekam er ich folge da seinen frühesten Angaben zum ersten Male mit 16 Jahren, dann wiederholt bis zum 18., das Militärjahr war frei bis auf einen eigenartigen hysterischen Anfall, von dem ich später noch reden werde; weiterhin traten sie be- sonders häufig im ersten Universitätsjahre auf nach übermäßigem Alkoholgenuß, doch auch in der späteren Universitätszeit, als er zu saufen schon aufgehört hatte; endlich, wiewohl viel seltener, in den letzten 6 bis 7 Jahren, seitdem er am Museum arbeitet, das jüngste Mal vor 5 bis 6 Monaten. Von den ersten Anfällen, die angeblich nach Überanstrengung im Gymnasium sowie bei mathematischen Klausur- arbeiten kamen, berichtete er zu Anfang Folgendes: „Es wurde mir finster vor den Augen und ich fiel zu Boden, war aber nur kurze Zeit bewußtlos. Nach dem Erwachen sah ich zuerst das Licht, dann die Kameraden, aber alles drehte sich vor mir. Es war eigentlich ein sehr angenehmes Gefühl, wenn man bewußtlos wurde, man fühlte sich so beruhigt, wie wenn man schön einschläft. Ich konnte es auch bei starken gymnastischen Übungen bekommen, wenn ich Hantel hochstemmte, daß ich zusammenstürzte und das Bewußsein 8*

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verlor“. Bald kamen spezialisiertere Angaben. Die erste Attaque kam bei einer mathematischen Klausurarbeit, die von 8 bis 1 Uhr währte, und zwar gegen Ende dieser Zeit, als er merkte, die Sache gehe schief. „Plötzlich begann ich zu taumeln, ein Kamerad und der Lehrer sprangen herzu, hielten mich, damit ich nicht falle, und reichten mir Wasser, worauf ich rasch wieder zu Bewußtsein kam. Vorher merkte ich gar nicht, daß ich das Bewußtsein verlieren werde. In der nachträglichen Erinnerung erscheint es mir wie ein ruhiges Einschlafen. Mehr weiß ich von diesem ersten Mal nicht zu sagen, wohl aber von den Ohn- machten bei den gymnastischen Übungen. Damals war auch ein Ka- merad bei mir, in den ich ein wenig verliebt war. Ich machte diese Übungen und fiel dabei zusammen. Er stürzte auf mich zu und legte mich auf das Sofa. Alles drehte sich vor meinen Augen, aber ich war ganz klar dabei und hatte volles Bewußtsein. Das Ganze währte nur wenige Sekunden, nachher fühlte ich mich auch ganz gesund und ging mit ihm fort.“

Hier tritt uns bereits ein ganz merkwürdiger Zug entgegen. Konnte man bei der Klausurabsenze noch daran denken, sein Unbewußtes habe sie darum produziert, um einem Nichtgenügend zu entgehen, so fiel dieser Grund hier vollständig weg. Dafür aber zeigte sich ein homosexuelles Leitmotiv, von einem geliebten Kameraden aufgefangen und in die Arme genommen zu werden. Es stellte sich gar bald heraus, daß solche homosexuelle Motive bewußt oder unbewußt auch seinen früheren Anfällen nicht fehlten. Zunächst bemerkte er in einer späteren Sitzung, daß nur die beiden ersten Ohnmachten aus Anlaß mathe- matischer Klausurarbeiten, die er auch rasch nacheinander produzierte, von selber kamen; später rief er sie mindestens zweimal absichtlich hervor, weil die Sache schief ging. Man hatte ihm gesagt, die früheren echten Absenzen seien gekommen, als er vornüber gebeugt schrieb und sich dann aufrichtete. Also probierte er jetzt in der Verlegenheit, ob sie nicht künstlich zu erzeugen wären, stemmte die Schultern zurück und die Brust heraus, weil er derart das Blut in den Kopf heraufzupressen vermeinte, und richtig gelang es ihm, eine Absenze so künstlich zu er- zeugen. Neben diesem eingestandenen Grunde war sicher noch ein zweites Motiv vorherrschend, wie er selber angibt: er war in den Mathe- matikprofessor verliebt. Von diesem hatte er bei der ersten Ohnmacht viel Liebe erfahren. „Er trug mich aus der Klasse, nahm seinen eigenen Dessel für mich heraus und flößte mir Wasser ein. Deshalb vermutlich produzierte ich gerade bei ihm die Absenze, um das wieder zu

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erleben!).‘“ Das Ganze währte nicht einmal eine Minute und er hatte den Eindruck, daß seine Kameraden gar nicht an die Echtheit dieser Ohnmachten glaubten, schon deshalb, weil sie einzig und immer bloß bei der mathematischen Klausurarbeit kamen.

Das Militärjahr

war, wie wir oben hörten, von Ohnmachten frei. Hingegen erlebte unser Patient dazumal einen als ‚„Gehirnentzündung‘ diagnostizierten Zustand, der seinen Abschied vom Militär nach sich zog. Voraus- zuschicken wäre, daß er schon früher, zwischen 13 und 15, wenn er sich schuldbewußt fühlte, z. B. wegen Onanie oder schlechter Schulnoten und darum deprimiert war, am Abend einen griechischen Wahnsinnigen mimte. Hiezu drapierte er sich mit dem Bettlaken, wobei er Schultern und Arme freiließ also ähnlich wie damals, da er Negerweib spielte, und aus analogen sexuellen Motiven und machte sich aus Papier zwei Flöten, auf welchen er blies. „Einen Toren habe ich deshalb ge- mimt, weil ich wußte, daß Geisteskranke meinen, sie wären Könige oder große Männer, außerdem sind sie noch unverantwortlich, mich konnte also keine Schuld mehr treffen. Doch spielte ich das nur für mich selbst, in einer erträumten Welt. Beim Militär führte ich nun einmal eine andere Komödie auf. Eines Sonntags hatte ich Kasern- arrest und während die andern in die Stadt zu Weibern gingen, mußte ich mit einem Kameraden, den ich nicht leiden mochte, allein in der Kaserne bleiben. Obendrein masturbierte ich zu jener Zeit viel weniger, was mein sexuelles Verlangen natürlich noch steigerte. Wenn man mit vielen Kameraden zusammen ist, die man gut leiden mag, spürt man das nicht so. Wir saßen also beide zusammen und er wollte sich mit mir unterhalten. Ich aber spürte eine gewisse Gereiztheit gegen ıhn und ein Gefühl von Spannung vorn an der Stirne. Alles erschien mir so unerträglich und, da der Mond hereinschien, erinnerte ich mich, daß er eine gewisse Rolle beim Ausbruche von Seelenkrankheiten spielen soll, und mir kam der Einfall, Wahnsinn zu mimen. Ich wußte ganz klar, daß ich nur Komödie spielte, konnte es aber nicht hindern. Mein Gehirn war gespannt, ich war sehr nervös, empfindlicher für alles und so deutete ich mit der Hand auf den Mond und sagte etwas ganz

1) Man begreift auch sehr gut das angenehme und beruhigte Gefühl, wenn er so bewußtlos wurde. Dahinter steckt vermutlich das nämliche Gefühl, wenn er ganz klein von der Mutter, Amme oder Kindermädchen auf den Armen getragen und in Schlaf gewiegt wurde.

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Unverständliches. Dann nahm mich das Spiel gefangen und ich wußte nicht mehr, was ich tat. Zuerst sah ich noch ganz gut, wasich machte, konnte mich aber selbst nicht beherrschen. Ich habe dem Kameraden Angst eingeflößt, indem ich sinnlose Worte ausstieß. Er lief um den Unteroffizier, ich ihm nach in den Korridor, wo ich meinen Säbel ergriff, und als dann beide zurückkamen, hieb ich zuerst auf ihn los, hierauf, als sie zusperrten, mit dem Säbel auf die Türe. Dann kam noch mehreres dazu, was ich nicht mehr erinnere, endlich floh ich in mein Zimmer unter das Bett und man wagte nicht, sich mir zu nähern. Ich lag ganz still unten, allmählich aber verließen mich meine Kräfte, ich ließ meinen Säbel fallen und so zog man mich hervor und brachte mich zu Bette. Ich lag wie ein Toter, mein Körper war ganz steif. Ich hatte zwar das Bewußtsein, lag aber da wie bewußtlos. Ich hörte gut, was man sagte, konnte aber oder wollte nicht antworten, ich weiß nicht recht was, und man versuchte, mich auf alle mögliche Weise zu beruhigen. Ein kleiner Trompeter saß neben mir und hielt meine Hand, die die seinige so kräftig umklammerte, daß er sie nicht losbringen konnte, was vielleicht eine ganze Stunde währte. Darnach war ich so müde, daß ich wirklich das Bewußtsein verlor. Man brachte mich ins Lazarett, wo ich erst am folgenden Nachmittag um 2 Uhr erwachte, ungeheuer müde und kraft- los, so daß ich nicht einmal dem besuchenden Vater antworten konnte. Ich blieb drei Tage im Bette, machte eine Bromkalikur und so endete meine militärische Laufbahn.“

Aus dieser Schilderung erhellt ganz deutlich, wie er zu Anfang mit vollem Bewußtsein Komödie spielt, allmählich aber dann das Un- bewußte die Herrschaft an sich reißt und das Bewußte willenlos folgt. Bezeichnend ist der Satz: ‚Ich wußte ganz klar, daß ich nur Komödie spiele, ich konnte es aber nicht hindern.“ Ebenso spielte er zuerst den Bewußtlosen, bis er es schließlich tatsächlich wurde. Auslösendes Motiv für den ganzen Anfall war mangelnde homosexuelle Befriedigung, ja, mehr noch geradezu Widerwillen gegen den einzigen, der sich ihm bot. In einem späteren Nachtrag bemerkte er hiezu: ‚Ich war in der Militärzeit furchtbar adelsstolz, zumal wenn ich getrunken hatte. Jener Kamerad war nun der einzige Nichtadelige und es war mir furcht- bar, gerade mit ihm allein sein zu müssen. Außerdem war er der einzige Kamerad, der mich noch vom Gymnasium her kannte“. In der Schule war der Graf in diesen auch verliebt gewesen, beziehungsweise in seine Kraft, doch ohne Gegenneigung zu finden. Ja, als er einmal Anschluß zu einem Dreibund suchte, wurde er direkt zurückgewiesen. Beim

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Militär nun mochte er ihn gar nicht mehr leiden, um so minder, als jener, ein ungewöhnlich intelligenter Offizier, dabei bürgerlich war und oben- drein damals mit einer Gonorrhoe behaftet, was wieder bewies, daß er

schon mit Weibern verkehrt haben mußte, ein Grund des Neides für die Kameraden. “r.

Alkoholintoleranz und alkoholische Dämmerzustände.

Im ersten Jahre der Universität verkehrte Patient nur mit reichen Kameraden, mit denen er sich einem wüsten Studentenleben hingab, das ıhn zum Säufer zu machen drohte. Obendrein zeigte er als echter Schwerbelasteter eine ausgesprochene Alkoholintoleranz mit Neigung zum Bewußtseinsverlust. Zumal wenn er den ersten Becher schnell ex getrunken, verlor er es rasch. Er konnte da freilich mit den Kameraden noch weiter Hazard spielen, wozu es ja keines Nachdenkens bedurfte, oder auch von einem zum andern gehn, um Punsch zu trinken, so daß diese nicht das Geringste merkten. Nur trieb er dies, wie er selber angibt, ganz automatisch, ohne sich dessen bewußt zu werden, und hatte auch nachher nicht die geringste Erinnerung daran, so daß er es nur aus den Erzählungen der Kameraden weiß. Er vermochte sogar eine Rede zu halten, ohne davon nachträglich überhaupt zu wissen. Doch bekam er diese Dämmerzustände bloß, sobald er das erste Glas rasch in einem Zuge leerte, auch verlor er das Bewußtsein nicht auf der Stelle, erst ein Weilchen später. Hatte er zu Anfang nur wenig getrunken, und erst nach und nach mehr, so wurde er überhaupt nicht benebelt. Merkwürdig war, daß die andern gar nicht merkten, er sei nicht mehr bei sich. Sie liebten es auch, ihm im Übermaß zu trinken zu geben, weil er dann sehr lustig wurde, viele Dummheiten machte, tanzte, sang, über den Tisch setzte, ja, sogar auf das Dach des Hauses kletterte und von dort auf ein Nachbardach sprang!). Solcher Dämmerzustände dürfte es in jenem Jahre etwa 5 bis 7 gegeben haben. Gewöhnlich wurde er zum

1) Schon als Knabe von 5 Jahren liebte er es, sich von Erwachsenen auf die Schultern heben zu lassen und so höher zu stehen als alle andern, zumal den Schwestern überlegen zu sein. So tat er selbst mit 10 Jahren noch gern. Noch später liebte er auf Dächer, hohe Berge oder Bäume zu steigen. In der Universitäts- zeit trieb er seine Studien am liebsten am Dach, angeblich weil er da ganz allein sei und mehr Freiheit als im Zimmer hätte. Als weitere Erklärung führt er noch an, daß er gern an Erwachsenen, namentlich an Kindermädchen hinaufkletterte, von anderen wieder, die ihm zu groß waren, wie der Vater, ließ er sich heben. Ähn- liche unbewußt-sexuelle Motive homo- wie heterosexueller Art dürften auch dem Hinaufsteigen auf die Dächer bei der Mondsucht zugrunde liegen.

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Schlusse von Kameraden nach Hause gebracht, was ihm als Liebes- beweis besonders wohl tat, entkleidete sich aber immer selbst. Am nächsten Morgen war er wieder ganz klar, erinnerte jedoch von den Vorfällen des vergangenen Abends stets nur den Anfang, etwa die erste halbe oder Dreiviertelstunde, dann kam ein Moment, wo es plötzlich abschnitt. ‚Ich habe große Anstrengungen gemacht, mir das Spätere zurückzurufen, doch gelang es mir nie. Ebensowenig half es, wenn man mich durch Erzählen darauf führen wollte, ich konnte mich absolut nicht erinnern.“

Nicht lange, so stellte sich heraus, daß diese alkoholischen Dämmer- zustände im ersten Universitätsjahre ıhre Vorläufer in der Militärzeit hatten. Da liebten es die älteren Kameraden nämlich, ihn mit Wein besoffen zu machen, weil er nicht trinken mochte und Widerstand leistete. Sie zwangen ihn, mit jedem von ihnen ein Glas zu leeren, worauf er bezecht war und erbrach, ohne doch das Bewußtsein ein- zubüßen. „Einmal nur gab man mir ein volles Glas Whisky ohne Wasser- zusatz, worauf ich die Besinnung verlor und alles austrank, was ich erblickte, die ganze Flasche Whisky. Trotzdem begab ich mich noch allein zu Bett, wie man mir nachträglich erzählte. Eın Kamerad folgte mir und sagte: ‚Dort kommt ein Offizier!! worauf ich automatisch salutierte, ohne etwas von mir zu wissen.‘ Als ich einwendete, es sel doch sonderbar, daß er sich im Zustande der Bewußtlosigkeit ins Bett gelegt habe, statt wie sonst ein Besoffener unter den Tisch zu fallen, das scheine einen sexuellen Sinn zu haben, entgegnete er, für den Ka- detten sei das Bett das einzige Territorium, welches er beherrsche, ıhm dünke, er sei in sein eigenes Territorium geflohn.

Die verschiedenen Sorten von Alkohol wirkten auch direkt auf seine Sexualität, was ein wichtiges Motiv für sein Trinken abgab. Kognak z. B. dämpfte sein Verlangen, zumal mit 23, 24 Jahren, da er sehr darunter litt. Das einzige Gedicht in seinem Leben schrieb er auf den Kognak, weil dieser ihn vom Weibe befreite. Hingegen verstärkte etwas später mäßiger Punsch- und Whiskygenuß sein Verlangen nach diesem, während große Quantitäten oder wenn er vom Punsch das erste Glas rasch hinuntergegossen, fünf Jahre zuvor die Dämmer- zustände herbeigeführt hatten.

Zum Schlusse noch eine wichtige Beziehung des Alkohols zu sexuellen Perversionen. In der Gymnasialzeit pflegte Patient im Sommer eine Unmenge schwarzer Kirschen und Beeren zu vertilgen, oft mehrere Liter täglich. „Ich nahm die Hand da immer ganz voll und schluckte alles

Ein Fall von multipler Peryersion mit hysterischen Absenzen. 121

auf einmal herunter. Mich dünkte das etwas Symbolisches zu sein, denn es schmeckte ja nicht mehr. Es könnte dasselbe sein, wie daß ich später soviel trank, und das auch immer mit vollem Munde, besonders lichten Punsch und eine Unmenge leichten schwarzen Bieres. Eigen- tümlich war, daß mir das Verlangen nach dem schwarzen Biere immer um die nämliche Stunde kam (11 Uhr vormittags) und daß ich selber in den Keller ging, es mir zu holen. Das Bier war eigentlich für die Dienerschaft bestimmt, das Kindermädcehen und die anderen. Und es muß eine symbolische Bedeutung gehabt haben, denn ich hatte sonst gar keinen Durst. In den letzten Jahren trank ich keinen Alkohol mehr, sondern um 7 Uhr große Gläser Limonade. Ich wünschte eigentlich einen Mundvoll Flüssigkeit hinunterzuschlucken. Die schwarzen Früchte bedeuteten wahrscheinlich Kot, die Flüssigkeitsmengen Jauche aus dem Kuhstalle, die aufgepumpt wurde und die wir mit demselben Namen belegten wie das Bier.‘ Also eine förmliche Uro- und Koprophilie. Aber auch die Stunden seiner Dipsomanie sind nicht belanglos. „11 Uhr ist die Klosettstunde von Vater und Mutter nach dem zweiten Frühstück. Ich selber liebte ferner in Gläser zu urinieren, wodurch es noch wahr- scheinlicher wird, daß der lichte Punsch Urin bedeutet. Ich habe also eigentlich Urin getrunken!). Ein solcher ist auch die Limonade, deren täglichen Genuß ich mir von meinem jetzigen Chef angewöhnte, in den ich verliebt war. 7 Uhr war die Zeit, wo auch mein Vater Punsch trank. Ich bemerke noch, daß ich um 14 Jahre herum, als ich alles auf seinen Geschmack hin prüfte, auch Urin und Kot schmeckte.“

Fassen wir alles über den Alkohol Gesagte nochmals zusammen, so liegt zunächst der Intoleranz gegen geistige Getränke sicher eine Disposition zugrunde auf dem Fundament einer schweren Belastung. Daneben jedoch spielt, wie ich bereits bei des Kranken Schwermut und Zornmütigkeit nachwies, das Sexuelle eine wesentlich mit- bestimmende, ja geradezu meist die auslösende Rolle. Er trinkt, um den Drang nach dem Weibe zu dämpfen, und gibt sich Exzessen aus homosexuellen Gründen hin. Boten doch letztere die erwünschte Ge- legenheit, sich vor geliebten Kameraden zu produzieren, dann von ihnen nach Hause geleiten zu lassen, was sicher ein starker Liebesbeweis, und endlich sogar sich vor ihnen vollständig ausziehen zu können. Er trank dann obendrein nicht selten ohne Durst und Genuß, nur um

1) Eine Nachtragserinnerung vom 142. Analysentage: „Wenn ich in der Museumszeit deutsches Bier trank, schien es mir wie Urin zu schmecken und ich schickte es unter dem Vorwande zurück, es sei ein schlechtes Bier.‘

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große Quantitäten einer Flüssigkeit zu schlucken, die ihm den Urin geliebter Personen symbolisierte.

Wir haben die epileptoiden Zustände bis zum ersten Universitäts- jahre verfolgt. Ich hätte nun jene anzuschließen, die in

den letzten Jahren der Hochschule und in der Museumszeit

sich abspielten. Die ersteren bekam er beim Studieren zu Hause ge- wöhnlich jeden 2. oder 3. Tag zwischen 1 und 2 Uhr nachmittags. Es währte stets nur ein paar Sekunden, daß er ganz geistesabwesend war, was er darum mit Sicherheit feststellen konnte, weil er mit der Uhr vor sich studierte. Wenn er ein langes Wort las, konnte der Anfall mitten im Worte einsetzen und, wieder zu sich gekommen, fuhr Patient in der zweiten Worthälfte fort, als ob nichts geschehen. Die andern merkten nie etwas davon. Als Ursache könnte er höchstens etwa den Hunger angeben, weil er gewohnt war, um 2 Uhr Tee mit Butterbrot zu nehmen. Kamen diese Absenzen, dann fühlte er sich gar nicht wohl, nach dem Essen aber, das ihm eine alte Zimmerfrau brachte, um vieles besser. Auf diese Anfälle, die zu analysieren sich mir die Gelegenheit nicht mehr bot, will ich aus diesem Grunde nicht eingehen.

Durchsichtiger sind die Attaquen der Museumszeit, die weniger regelmäßig kamen und auch viel seltener, dafür aber bis in die Gegen- wart reichen. Ich will dieselben nicht mehr der zeitlichen Folge nach ordnen, sondern nach der Klarheit und Verständlichkeit. Ich beginne zunächst mit den kurzen Absenzen, die seit den zwei Jahren seiner Ehe beim Lesen nach dem Mittagessen, etwa ein Halbstündchen nach beendeter Mahlzeit, aufzutreten pflegten, und die ich am besten jenen der späteren Universitätszeit anreihe. Er fühlte da plötzlich, wie es ihm unmöglich sei, die Augen offen zu halten, ohne daß er aber schläfrig. wurde, die Lider schlossen sich ganz von selbst und das Bewußtsein schwand für 1 bis 2 Sekunden. In einzelnen Fällen ging dies allmählich über in normalen Schlaf, weit häufiger jedoch blieb es bei jenen kurzen Absenzen. Die Anfälle schildert der Kranke so: „Wenn jene Zustände kommen wollen, so lese ich zuerst ganz gut und mit vollem Verständnis, dann auch noch gut, doch schon ohne Erinnerung, was ich las, so daß ich es mir hernach noch einmal vornehmen muß, endlich folgt die Ab- senze, bei welcher sich die Augen schließen. Nach dem Erwachen setze ich beim nämlichen Worte fort, wo ich stehen geblieben.‘ Die Sache sieht typisch epileptisch aus, ohne es in Wahrheit aber zu sein. Als ıch nämlich nachforschte, bei welcher Stelle seiner Lektüre einmal die

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 123

Absenze gekommen war, die er mir als Tagesereignis angegeben hatte, trat Folgendes ans Licht: Er liest nach dem Essen immer Wissenschaft- liches. Darin ist nun sehr oft versteckt Sexuelles für ihn zu finden. Er las z. B. von mittelalterlichen Trachten, die seine besöndere Spe- zialität darstellen, und die Illustrationen wiesen enganliegende Hosen auf mit riesigen Schamkapseln. Gelangte er nun weiter zu asexuellen Stellen, z. B. den Geschützen!), dann begann die Absenze. Solange er noch vom Sexuellen las, wie etwa jenen Trachten, verließ ihn das Bewußtsein nie, immer erst bei dem für ihn Nichterotischen. Dies läßt wohl kaum eine andere Deutung zu, als daß er sich in die Bewußtlosigkeit flüchtet, weil die ihm ermöglicht, noch länger im Ge- schlechtlichen zu schwelgen, eventuell beim Übergang in den Schlaf davon zu träumen. Bezeichnend ist noch ein weiterer Umstand. Zu anderen Malen nämlich bekommt er auch wieder 1/,Stunde nach dem Mittagessen und statt der Absenze fast möchte ich sagen: vicarlirend ein starkes Verlangen, mit der Frau zu verkehren?). Auch dies be- stätigt die erotische Natur jener Abwesenheiten, das Flüchten in den sexuellen Genuß, wie ich es bereits vor Jahr und Tag an dem ersten analysierten Fall von Pseudoepilepsia hysterica aufzuzeigen vermochte?). Aber jene Absenze ist noch determinierter. Als der Graf von den riesigen Schamkapseln liest, wird mit eins die Erinnerung an die eigenen ersten, so unzweckmäßigen Hosen lebendig, die bei jeder Notdurft die Mit- hilfe anderer notwendig machten. Und er verliert sich in die Absenze, weil sie ein erinnerndes Schwelgen bedeutet, in dem die Manipulationen geliebter Personen an seinen Genitalien nochmals zur Gänze ausgekostet werden. Die Möglichkeit solcher Phantasieschwelgereien in in- fantilen Perversionen ist wohl auch der Grund, weshalb die geschlecht- lichen Verirrungen des Grafen just in puncto Absenze in die Neurose umschlagen. Sonst hatte er nicht den mindesten Grund, „nervös“ zu werden, und zeigt auch, abgesehen von der Dysuria psychica und dem hysterischen Anfall beim Militär, kein einziges Symptom, das über die „Belastung‘“ hinausgeht.

1) Für andere sind gerade Geschütze ganz ausgesprochene Sexualsymbole.

2) Auffallend ist die Häufigkeit gewisser Anfälle und neurotischer Zustände nach dem Essen, auch abgesehen von unserem Grafen. Dafür scheinen doch or- ganische Bedingungen maßgebend zu sein, die natürlich dann symbolisch um- kleidet werden. Heranziehen muß man auch die Tatsache, daß viele Menschen nach Tisch das Bedürfnis sexueller Betätigung haben.

3) „Ein Fall von Pseudoepilepsis hysterics psychoanalytisch erklärt‘“, Wiener klinische Rundschau, Nr. 14—17, 1909.

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Komplizierter und neuartiger sind andere Ursachen der Absenzen. So empfand z. B. unser Patient, wie er ausdrücklich angibt, beim Dehnen und Recken seiner Arme ‚ein direktes Wollustgefühl“, nicht selten jedoch kam es dazu, daß er beim Strecken einen Moment wie geistes- abwesend ward, also wieder ein Zusammenhang zwischen Wollust und Absenze. Von einem ähnlichen Konnex erzählte ich schon oben. Er verlor für Augenblicke das Bewußtsein, sowohl beim Hantelstemmen mit 16 Jahren, als wenn er beim Lösen mathematischer Aufgaben sich nach längerem angestrengten Schreiben aufrichtete und streckte, dabei die Rückenmuskeln stärker kontrahierte und den Brustkorb weitete, immer natürlich vor geliebten Personen. Er konnte die Ab- senzen auch künstlich erzeugen, indem er Schultern und Arme nach rückwärts einzog und die Brust vorwölbte. Noch deutlicher trat die Bewußtseinstrübung bei plötzlichem Aufrichten aus gebückter oder hockender Stellung auf, wie z. B. dreimal im Museum, da er Objekte auf dem Boden untersuchte und sich jäh erhob. Dann ähnlich auch am 54. Tage der Analyse, als er morgens ‚‚in Affenstellung“ am Boden seine Zeitung las und sich plötzlich aufrichtete. Er verlor da zwar das Bewußtsein nicht ganz, wohl aber wurde ihm schwarz vor den Augen und er wäre zweifellos umgefallen, hätte er sich nicht gegen den Tisch gestemmt.

Dieser Anfall hatte eine ganz interessante Vorgeschichte. Zunächst erzählte unser Patient, er habe am vorhergehenden Abend mit der Frau verkehrt, am Morgen aber alles vergessen, um den Akt nochmals aus- üben zu können, da er rasche Wiederholung aus Gesundheitsgründen perhorresziere. Bezeichnenderweise erinnerte er gut die Müdigkeit der Frau, weshalb er die Sache verschieben wollte. Daß er es dann aber trotzdem getan, war ihm beim Erwachen einfach entfallen. Allmählich erst kam ıhm alles ins Gedächtnis, womit das bewußte Verlangen schwand. Jetzt aber ergab sich die Schwierigkeit, aufzustehen, ja, die Augen zu öffnen, weil kein sexueller Genuß ihm mehr winkte. Als er schließlich das Bett doch verlassen mußte, ließ er sich sofort in Affenstellung zusammenfallen, wie er es beim Vater und den Zulus gesehen, und las so die Zeitung, statt sich zu waschen. Sein Lesen betraf charakteristischer Weise die Parteienbildung in der Heimat, die aus homosexuellen Gründen ihn fesselte, weil er in den Führer der einen Partei, die jetzt zur Regierung gelangen sollte, recht lange verliebt war. Da reißt ihn ein Wort seiner Frau heraus, es sei schon spät, und als er sich stracks aufrichten will, kommt die Absenze. ‚Ich meine, weil ich gezwungen wurde, von der

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 125

bequemen Stellung und der interessanten Lektüre wegzugehen, und dann obendrein noch die sexuelle Unbefriedigtheit.‘“

Der Mechanismus dieser Absenze ist völlig durchsichtig. Zunächst das Zurückdrängen eines starken heterosexuellen Verlangens, dann Flüchten ın die Gleichgeschlechtigkeit, indem er sich durch die Affen- stellung mit dem Vater identifiziert und obendrein von einem andern geliebten Manne liest. Als ihn die Frau nun auch da verscheucht, folgt eine Absenze, damit er wenigstens noch einen Augenblick bei den Ge- liebten und vielleicht auch bei Phantasien mit ihnen verweilen könne. Zur Abwesenheit just beim Aufrichten kommt ihm spontan ein treffender Einfall: er selber sei ein symbolisierter Penis, der sich plötzlich erigiere. Tatsächlich hat er schon mit 15 Jahren das membrum mit dem Ober- körper eines Mannes verglichen. Auch bei anderen Patienten fand ich bestätigt, daß die Anfälle bei plötzlichem Aufrichten neben dem or- ganischen Teile, der ihnen zweifellos zukommt, die Phantasie der Erektion darstellen. Diese Kranken schwitzen dabei, werden rot, kurz benehmen sich wie ein Penis.

Eine neue Absenze 14 Tage später mit anderer Erklärung. Wieder das Hocken auf der Erde und Benutzung der jetzt gewonnenen Erkennt- nis: er identifiziere sich mit dem Vater und strecke sich wie ein erigierter Penis. Ob wohl die Absenze heute kommen wird beim plötzlichen Auf- stehen? Und wirklich, sie bleibt auch jetzt nicht aus, nur ist sie doch ein wenig verändert. Zwar wird ihm auch diesmal schwarz vor den Augen, nur ist es kein Taumeln, er fühlt bloß deutlich, daß er sich bald stützen, bald halten müsse. Auch kann er sich in der gegenseitigen Lage der Dinge nicht gleich zurechtfinden, ein Fenster scheint ihm höher zu stehen als das entsprechende zweite. Doch glaubt er nicht, daß ein anderer die Bewußtseinstrübung erkenne. Schwester und Kameraden, die ihn in solehen Anfällen beobachteten, erzählten ihm hinterdrein, seine Augen seien offen gestanden und hätten gerollt. „Es gibt überhaupt nichts, woran man die kleinen Absenzen erkennen könnte, wenn nicht an den Augen. Das Ganze ist sehr ähnlich dem Schaukeln in der Kindheit, bei dem die Objekte gleichfalls bald höher, bald tiefer stehen. Auch muß man bei dieser Lustbarkeit sich bald anhalten, bald wieder stützen, je nachdem man kauert oder sich auf- richtet. Und das Gefühl beim Zurückgehen der Schaukel, da der Rücken nach vorne steht, ist ganz identisch mit dem Einschlafen in der Absenze, welches mir immer als die höchste Wonne erschien. Wenn man nur so in die Ewigkeit einschlafen könnte! dachte ich öfters.“ Wir sehen

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also deutlich, wie das Lustgefühl des kindlichen Schaukelns, das dem Sexuellen mindestens äußerst nahe steht, bei unserem Kranken aus- nehmend stark ist, ihm geradezu höchste Wonne gewährt, die er in den jetzigen Bewußtseinstrübungen einfach wieder aufsucht. Bedenkt man weiters, daß er beim Geschaukeltwerden das Gefühl des Zurück- fallens für identisch erklärt mit dem des Einschlafens in der Absenze, so liegt es sehr nahe, an das Wiegen des kleinen Kindes durch die Mutter zu denken, wobei jenes tatsächlich selig einschläft. In einer späteren Analysenstunde behauptete der Kranke geradezu: ‚Das Einschlafen in der Absenze ist für mich die Befreiung von allem Unangenehmen“, sowie ja bekanntlich kleine Kinder auch jedes Unbehagen vergessen, sobald es gelingt, sie in Schlaf zu lullen.

Doch auch eine gewisse konstitutionelle Verstärkung des Lust- gefühls beim Geschaukelt- und Gewiegtwerden dünkt mich wahrschein- lich. Nicht bloß, daß das erstere für ihn ein besonderes Vergnügen dar- stellte, von dem er fast nicht genug kriegen konnte, so berichtet er noch von Schwindel mit begleitender starker und lebhafter Lust- empfindung, wenn er sich mit ausgestreckten Armen um sich selber drehte oder beim Blindekuhspiel um seine eigene Achse gedreht ward. Es scheint, daß Schwindel, ja vielleicht sogar kurze Bewußtseins- trübungen und andere traten ja niemals auf für ihn direkt wollust- betont sind, was durch die Alkoholintoleranz!) noch körperlich unter- stützt wird, andererseits wieder die Neigung zu hysterischen Absenzen wesentlich fördert.

Es ıst uns schon mehrfach ein noch nicht erklärter Umstand begegnet, daß der Kranke zuweilen die allergrößten Schwierigkeiten hatte, am Morgen aufzustehen, ja nur die Augen zu öffnen. „Genoß ich längere Zeit keine sexuelle Befriedigung, so nehmen die Schwierig- keiten des Erwachens außerordentlich zu. Ich stehe zwar auf, bin aber doch nicht recht wach, es scheint mir, als ob ich fortwährend schliefe, ich bin stets wie abwesend. Dabei kann ich noch auf Fragen antworten, doch nicht selbständig denken, ja, ich sehe nicht einmal gut, auch wenn ich die Augen offen habe. Das begann, glaube ich, mit 18, 19 Jahren. Denn beim Militär, wo man sehr früh aufsteht, hatte ich gar keine Schwierigkeiten, weil ich auch genügend homosexuelle Befriedigung

!) Das war schon mit 9 Jahren der Fall, als er beim Diner zum ersten Mal ein wenig Wein genoß. Beim Aufstehen fühlte er sich nicht recht sicher, mußte sich auf die Stuhllehne stützen und einen Augenblick warten, bis er das Gleich- gewicht wieder erlangte.

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hatte. Es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß ich in diesen Abwesen- heiten sexuelle Phantasien habe, obwohl ich gar nichts davon weiß, mir davon nicht das Mindeste bewußt ist.‘“ ,„D.h. Sie wollen nicht ganz bewußt werden, um nicht aufstehen oder arbeiten zu müssen, und auf diese Phantasien verzichten?‘ ‚Ja, ich glaube, ich könnte erwachen. Da kehre ich doch lieber zu den unbewußten Phantasien zurück. Auch habe ich bemerkt, die Absenzen kommen nie, wenn ich leicht erwache mit dem Gefühle, gut geschlafen zu haben, sondern nur nach einer unruhigen Nacht, wenn es mir schwer fällt, mich morgens zu erheben.‘‘t)

Eine neue Schwierigkeit, aufzustehen, ergab sich, als heißere Tage kamen. Er konnte Arme und Beine kaum rühren und hatte die Em- pfindung, als würde er etwas in den Beinen haben, das durch Massage wegzubringen wäre, Die Sommerhitze führte seine Erinnerung auf die türkischen (Heißluft-) Bäder, in welchen ihn Diener ganz nackt durch- massierten (also Exhibition vor diesen) und ihm obendrein schmei- chelten, sein Körper sei so besonders geschmeidig. Wenn er sich aus der Ruhelage dann aufrichtete, bekam er regelmäßig kleine Absenzen, angeblich wegen der Hitze, so daß er taumelte und gegen die Wand sich stützen mußte. Die weitere Nachforschung ergab nun Folgendes: Solche Heißluftbäder besuchte er schon vor der ersten Ohnmacht in der Schule. Wenn ihn die Diener massierten, bekam er Erektionen, die erst auf kalte Douchen weggingen. Auch sah er dort viele nackte Männer, was seine Gelüste wesentlich erhöhte. ‚Ich glaube, die türkischen Bäder waren eine Art homosexueller Befriedigung für mich, namentlich die Massage. Und nach dem Bade wird man dann nackt in den Kotzen gepackt und schläft eine Weile.“

Es blieben noch seine künstlichen Absenzen zu erklären, die er erzeugte, indem er die Schultern nach rückwärts zog und den Brust- korb vorwölbte. Gedenken wir seines mächtigen Interesses für die Hoden,

1) Hierzu noch folgende Ergänzung aus einem der letzten Analysentage: „Vor zwei Jahren habe ich im Pariser Louvre die Abbildung eines Mönches ge- sehen, dem man an den Augen absah, wie schwer ihm die Abstinenz fiel. Ich fühlte dies um so besser, als ich gerade zu jener Zeit mit derselben Schwierigkeit zu kämpfen hatte, weil ich meiner Frau versprochen, ihr auf der Pariser Reise treu zu bleiben. Die Augen des Mönches waren förmlich brennend und hatteneinenAus- druck von Abwesenheit, so weltentrückt, von seiner Phantasie beschäftigt.“ Auf der einen Seite also Anknüpfung an seine eigenen Absenzen, andererseits wieder an die Vorstellung, jungen Männern an den Augen ihr sexuelles Leben absehen zu können.

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dahinter jenes für die weiblichen Brüste, erinnern wir uns ferner an sein Negerweib-Spielen schon in zartester Kindheit, so wird uns die Deu- tung nicht allzuschwer werden. Bei jener künstlichen Erzeugung von Ab- senzen spielt er ganz einfach die eigene Mutter, wie durch das Herunter- sinken in die Knie beim Aufstehen am Morgen. Ich will hier ergänzen, daß er in der hockenden, der ‚Affen‘“stellung, nicht bloß den Vater und die Zulus imitiert, wie ich früher schon ausführte, sondern auch die Mutter, die ganz ungeniert vor dem Sohne auf den Nachttopf ging. Dieser hat ja dann auch viel länger als üblich in weiblicher Weise auf dem Topf gesessen und empfindet deutlich bei Schwäche in den Beinen nach schwerem Aufstehen den Wunsch, in die hockende Stellung zu verfallen, sowie er sie früher bei der Mutter gesehen. Wieso er jedoch durch bloßes Zurückziehen seiner Schultern und Vorwölben der Brust Absenzen willkürlich zu erzeugen vermochte, bedarf der Erklärung, die ich dann später versuchen will. Hier will ich noch anfügen, daß er in die Geistesabwesenheit flüchtet, nicht bloß, um ungestört und länger im Sexualgenusse verharren zu können und sich verschiedenen erotischen Phantasien hinzugeben, sondern auch, um alles bergen zu können vor der Neugier der anderen. Darum dann mit seine spätere Furcht, dab man ihm die Absenzen anmerken könnte.

Als er nach diesen verschiedenen Aufklärungen wieder einmal in hockende Stellung verfällt und sich vornimmt, beim Aufrichten keine Absenze zu bekommen, gelingt dies tatsächlich, nur hat er dann hinterdrein das Gefühl, als wäre jene Absenze jetzt weggegangen, als hätte eine Spannung im Kopfe sich gelöst. Natürlich ist dies Ver- schiebung nach oben und die Lösung einer Spannung im Kopfe nichts anderes als die Lösung einer Erektion. Bezeichnend ist auch, daß, wenn es ihm schwer fällt, aufzustehen und er’s dennoch tut, er alsbald in hockende Stellung zusammenfällt, weil es nach seiner spontanen Er- klärung ihm unmöglich ist, die Beine durch längere Zeit „steif“ zu halten.

Eine gewisse Bestätigung erhielt diese Deutung durch eine spätere Absenze, die abermals nach dem Aufrichten kam, wieder mit dem Gefühl, als ob eine Spannung im Kopf wegginge, die sich jedoch da- durch von den früheren unterscheiden ließ, daß er seine Augen die ganze Zeit über offen halten konnte. „Auslösendes Moment für die Spannung im Kopfe war gestern ein Brief des Vaters, der sich um die Versöhnung drehte und mich sehr verdroß. Hätte ich meinen Zorn auf irgendeine Weise auslassen können, so wäre die Spannung nach meinem

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Empfinden sofort verschwunden. Ich hatte auch tatsächlich den leb- haften Wunsch, den Brief des Vaters zu zerreißen und zu verbrennen, Ich vergleiche die Spannung mit einer Energie, die nicht abgeführt werden kann (also wieder eine Erektion, die zu nichts führt. Anm. des Autors). Es scheint mir auch, daß die jetzige Spannung nichts anderes als Zorn ist, weil ich mich beherrschen muß. Ich bin vom Vater her schon sehr jähzornig und habe im Gymnasium meine Zornes- äußerungen oft absichtlich übertrieben. Ob nicht die Absenze über- haupt eine Zornesäußerung ist, weil ich nicht ruhig sitzen oder liegen bleiben darf, obwohl ich doch Frieden und Ruhe so liebe?“ Das spricht, wie ich ihm vorhalte, wieder dafür, daß er vor der Absenze just etwas Lustvolles empfinde oder tue, worin er dann durchaus verharren wolle. Dies könne natürlich nichts anderes sein als Sexuelles. Nur zu be- greiflich werde er bei jeder Störung böse und antworte prompt mit einer Absenze, die dann einen Zornausbruch markiere. ‚Dies muß ich als durchaus richtig zugeben. Daß ich es bekomme, wenn ich mich aus hockender Stellung aufrichte, hat noch einen Grund. Die hockende Stellung ist selber ein Sexualgenuß, weil da der Bauch zusammen- gepreßt wird, wie wenn Stuhl herauskäme (was bei seiner starken Anal- erotik schon seit der Kindheit mit großen Lustgefühlen verbunden). Und der Zusammenhang mit dem Zorn erhellt auch daraus, weil ich im Gymnasium, wenn ich den Zorn übertrieb, den Atem einhielt, um das Blut so in den Kopf zu pressen, wodurch ich daselbst eine Spannung bekam, wie in den jetzigen Anfällen. Noch früher habe ich beim Ma- sturbieren und später beim Orgasmus des Koitus den Atem eingehalten, wodurch mein Gesicht oft dunkelrot wurde. Ich erinnere mich sogar aus der Gymnasialzeit noch an direkte Übungen, die ich anstellte, um meinen Atem und die Bewegung des Herzens beherrschen zu lernen, damit man mir die Masturbation nicht anmerken könne“.

Das nämliche Motiv führt dann zu einer andern Beobachtung des Kranken, die ihm bei den Anfällen Furcht einjagte und zu einer falschen Erklärung trieb. Er bemerkte nämlich, daß nach jeder kurzen Bewußtseinstrübung sein Herz viel stärker und dabei erheblich langsamer schlage, wie etwa „nach einer großen Angst, wenn ich erschrekt wurde und Furcht hatte, überrascht zu werden“. Natürlich ist dies ursprünglich Angst vor Entdeckung seiner Masturbation und später hinwieder, daß man den Sexualgenuß in seinen Absenzen ihm anmerken könne. Auch ist man ja oft bei der Onanie auf der Höhe des Orgasmus einen kurzen Moment wie geistesabwesend. Und ich glaube ferner, es hängt

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. I. 9

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die Möglichkeit, künstlich Absenzen zu erzeugen durch Zurückziehen der Schultern und Vorwölbung der Brust, mit seinen Atemübungen zusammen, in welchen er ‚‚das Blut in den Kopf hinaufpreßte‘, richtiger den venösen Abfluß hemmte, was bei Disponierten momentane Ab- senzen herbeiführen kann. Er wähnte auch durch längere Zeit, die Ursache seiner Bewußtseinstrübungen liege in einer Gefäßverkalkung (er leidet nämlich als väterliches Erbteil an sehr erweiterten Haut- venen) und Berstung eines Blutgefäßes im Gehirn, weil ıhm bei jedem plötzlichen Aufrichten aus gebückter Stellung das Blut in den Kopf schoß. Unterstützt wurden solche Vorstellungen dadurch, daß er in seinem 4. Lebensjahre Zuschauer war, wie sowohl die Mutter als das Kindermädchen ohnmächtig wurden, da sie nach einer kleinen Ver- letzung ihr Blut fließen sahen, und er sich mit beiden geliebten Per- sonen in den Symptomen identifizierte. Endlich, was noch mehr zur sexuellen Ätiologie zurückführt, daß ein Verwandter, der in späteren Jahren ein sehr liebebedürftiges Mädchen freite, sich durch allzugroße geschlechtliche Anstrengungen einen Schlaganfall zuzog, mit langem Bewußtseinsverlust, halbseitiger Lähmung, Aphasie und Verblödung.

Immer und überall das erweist ein jedes der angezogenen ätiologischen Momente ist für die Absenzen und Bewußtseins- trübungen neben dem konstitutionellen Faktor der sexuelle wahrhaft entscheidend und jeglichen Anfall erst auslösend. Ja, ich möchte sogar noch präzisieren: bestimmend ist immer das Bedürfnis nach Geschlechts- genuß und dessen Verlängerung in der Abszenze sowie das Schwelgen in angeregten Sexualgenüssen. In einzelnen Fällen liegt dies dermaßen auf der Hand, daß es Patient aus freien Stücken selber ergänzt. So, als er z. B. einmal abends mit der Frau verkehrt hatte, trotzdem dann aber am folgenden Morgen die Absenze bekam. ‚Mir fehlte der homo- sexuelle Genuß, den ich in der Bewußtseinstrübung nunmehr nach- holte.“ Ein andermal wieder schlägt er seiner Frau den Koitus ab, weil er schon morgens genug getan. „Ich hatte selber starkes Verlangen, allein mich störte die Theorie. Ich hatte ja früher meine Absenzen stets mit dem Geschlechtsverkehr in Verbindung gebracht und fürchtete auch das Beispiel des Verwandten mit dem Schlaganfall. Drum holte ich die ersehnte Befriedigung jetzt in der Bewußtseinstrübung nach.“

Theoretisches über Pseudoepilepsia hysterica.

In einer früheren Studie (vgl. Anmerkung 3 auf Seite 123) führte ich aus, daß sowohl die kurzen Sinnesverwirrungen, als die großen

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epileptoiden Ohnmachten nichts anderes darstellten als ein Flüchten des Kranken in die Sexualität und Unabhängigmachen von jeder störenden Außenwelt, mit anderen Worten ein Koitusäquivalent wie vielleicht die hysterischen Anfälle überhaupt. Das trifft auch im jetzigen Falle durchaus zu und ist für jede Einzelattaque im Speziellen nach- weisbar. Ich habe weiters im vorjährigen Kasus, bei welchem dann freilich mehr die länger währenden, tiefen Ohnmachten mit Zungenbiß im Vordergrunde standen, eine gewisse Gewaltsamkeit des motorischen Apparates supponiert, die sich sonst im Beischlafe auszutoben pflege, hier aber den einzelnen Anfall bestreite. Diese letztere ergänzende Ätiologie ist nun bei unserem dänischen Grafen, der eigentlich bloß an ganz kurz währenden Absenzen leidet und obendrein eine starke familiäre Disposition besitzt, nicht aufrecht zu halten. Fest steht nun freilich auch bei diesem Patienten die ausschließlich sexuelle Natur all seiner Attaquen, daß sie Sinn und Zweck und Entstehung lediglich dem Bedürfnis nach Geschlechtsgenuß danken: Nur scheint mir dies- mal weit mehr als früher das Konstitutionelle im Vordergrund zu stehen, wofür ja einerseits die Alkoholintoleranz anzuführen, auf der andern Seite die bei Vater und Schwester unseres Patienten ja noch viel stärker auftretenden Dämmerzustände.

Zu diesem konstitutionellen Faktor kann ich nur sagen, daß mir drei Hauptpunkte aus den Symptomen hervorzustechen scheinen, Punkte, die einander stützen und ergänzen. Zunächst, was ein Stigma schwerer Belastung, die Maßlosigkeit der Triebe, hier vor allem des (Geschlechtstriebes, dann eine angeboren verstärkte Neigung, das hemmende Bewußtsein auszuschalten, endlich Überwuchern, erhöhte Ansprechbarkeit und verstärkte Tätigkeit des Unbewußten bei besonders lebhaftem Traum- und Phantasieleben. Man denke an die Redensart „etwas bis zur Bewußtlosigkeit treiben‘ und dann auch daran, daß bei vielen Mensehen exzessive Triebe jede Hemmung des Bewußtseins ausschalten können. Vor allem schwinden nicht wenigen Individuen auf der Höhe des sexuellen Orgasmus wenn auch nur vorübergehend die Sinne. Von dieser noch fast physiologischen Erscheinung bis zur absichtlichen, künstlich erzeugten Ausschaltung des Bewußtseins bei disponierten Pseudoepileptikern ist nur ein Schritt.

Schlußbetrachtung. Nachdem ich vorstehend Verlauf und Resultate meiner Psycho- analyse abgehandelt habe, bleibt noch die Frage zu beantworten: 9*

132 J. Sadger.

was ist ihr theoretischer Gewinn für uns und der praktische Heilerfolg für den Kranken? Theoretisch ergab sie, zumal für die Genese der Inversion nebst voller Bestätigung von schon Bekanntem eine Reihe neuer, bedeutsamer Faktoren und solche zum Teil auch für die Statuen- liebhaberei, den Analcharakter, Alkoholsucht und -intoleranz, die verschiedenen Formen des Autoerotismus und endlich den Zusammen- hang von schwerer Belastung und Sexualität. Noch höher zu werten war der Heileffekt für den Patienten selber. Trotzdem der Fall an Kompliziertheit nichts mehr zu wünschen übrig ließ, die Behandlung hingegen kaum ein Viertel der angesetzten Kurzeit gewährt hatte, der Kranke sich darum wichtige Erinnerungen, zumal an die Mutter, zurückbehalten konnte, sind doch die epileptiformen Dämmerzustände vollständig geschwunden und auch die Inversion erfuhr einen ganz erklecklichen Wandel. Schon während der Analyse begann er seine Frau ‚viel mehr zu lieben‘‘ als je vorher und Hand in Hand damit sein Interesse für junge Leute in Uniform etwas abzuflauen. Er verkehrte spontan mit der Frau weit häufiger und war auch nicht mehr hinterdrein ‚nervös‘ wie in früheren Zeiten. Wenn er in Freuds Büchern von weib- lichen Genitalien las, so bekam er dabei die nämliche sexuelle Erregung wie ehedem bei Erwähnung der Geschlechtsteile überhaupt, unter welchen er sich bisher stets die männlichen vorgestellt hatte. Kameen erregten ihn gar nicht mehr. Am bezeichnendsten jedoch war folgender Punkt. Als er mit seiner Frau nach Wien gekommen, war die letztere auf alle jungen Leute zumal in Uniform eifersüchtig, gegen Ende der Behandlung aber kehrte diese Regung sich gegen Personen weiblichen Geschlechtes. Bedenkt man die außerordentliche Feinfühligkeit der Frau in allen Liebessachen, dünkt solcher Erfolg mich am beweiskräftig- sten. Als die Kur beendet und er nach Krakau gereist war, wo schon die Mittelschüler Uniform tragen, da wurde er in den ersten drei Tagen durch diese Fülle von Uniformen geschlechtlich erregt und fand dem- entsprechend, daß seine Frau ihn an den Studien hindere. Bald aber machte er sich selber begreiflich, daß es eigentlich eine urnische Regung sei, die ihn gegen seine Frau aufbringe, und mit dieser Erkenntnis war alles vorüber. Endlich noch ein sehr bezeichnender Punkt. Er war in die Heimat zurückgekehrt und hatte Gelegenheit, den vormals geliebten Kellner zu sehen. Da er ihn zum ersten Male wieder erblickt, bemerkte er auf einmal, dieser sei „verändert, ein wenig verwachsen und mager geworden“. Nun wäre ja denkbar, daß jener in der Zeit der Ent- fremdung abgenommen habe, doch daß er da auch noch skoliotisch

Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 133

geworden, ist wohl ausgeschlossen. Dies war er offenbar auch schon vorher, nur hatte die Liebe des sonst so scharfsichtigen Patienten dafür kein Auge. Kurz nach ‚Beendigung seiner Kur schrieb mir Patient: „Es ıst gar kein Zweifel, daß ich viel besser bin. Auch sagt meine Frau, ich sei verändert. Selber bemerke ich, daß ich im Ver- hältnis zu anderen Menschen viel klüger und berechnender bin als früher, da die sexuelle Sympathie eine so große Rolle spielte. Ja, ich fürchte sogar, daß dies in Herzlosigkeit übergehen könne, denn ich bin ja doch ein arger Egoist.‘

Ich glaube, die Wissenschaft wie unser Graf, sie dürfen mit dem bisher Erreichten, obendrein in so kurzer Behandlung Erzielten, zu- frieden sein.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses und der Versöhnung.

Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich.

Die Psychanalyse hat sich als unentbehrliches Forschungsprinzip um eine ganze Anzahl von Wissenschaften verdient gemacht. Nach der Neurologie besetzte sie die Gebiete der Psychologie, Kriminologie, Ästhetik, Mythen- und Märchenforschung, Pädagogik und Pastoral- theorie.

Die vorliegende Abhandlung möchte, nachdem es mir vergönnt gewesen war, das Banner der Psychanalyse auf dem Boden der Päda- gogik und der Pastoraltheorie aufzupflanzen, einen Vorstoß in das Land der Ethik wagen. Freilich kann es sich noch nicht darum handeln, die ethischen Kernfragen dem Scheinwerfer der neu gewonnenen heu- ristischen Methode auszusetzen. Daß diese auch in den Prinzipien- fragen der Sittenlehre mitzureden hat, steht außer Zweifel. Über das monistische oder dualistische Moralprinzip z. B. kann schon heute nicht mehr zeitgemäß verhandelt werden ohne Kenntnis der Entdeckungen Sigmund Freuds. Ob die Ethik allgemein verbindliche Pflichten oder nur gemeingültige sittliche Ideale aufstellen und als Pflicht- sebot individuell verschiedene Richtlinien zur bestmöglichen Ver- wirklichung jener Ideale darbieten soll, oder wie es sich in dieser Hin- sicht sonst etwa verhalten möge, setzt ebenfalls genaue Beherrschung des psychanalytisch gewonnenen Tatbestandes voraus.

Vorläufig scheint es angezeigt, einer induktiven Verarbeitung des sittlichen Sachverhaltes seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auch als Normwissenschaft kann sich eine moderne Ethik dieser Aufgabe nicht entziehen. Die Tage, da die „reine Vernunft“ die Sittengebote konstruieren sollte, sind vorüber. Schon die allgemeine Frage nach den

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 199

Kennzeichen, Bedingungen und Gesetzen des Sittlichen ist, wie Lipps betont, eine psychologische Tatsachenfrage!). Deshalb fußt selbst die spekulative oder metaphysische Ethik eines Wundt auf der empirischen Methode?) so gut wie die am Wohlfahrtsprinzip orientierte Sitten- lehre eines Höffding?).

Die psychologische Ergründung ethischer Phänomene fällt nicht nur wegen ihres Objektes in die Domäne der Ethik, sondern auch darum, weil die Exploration sehr häufig von einer bewertenden Tätigkeit nicht zu trennen ist. Der Sühnebegriff z. B. ruht offenbar auf dem Sühnebedürfnis, welches seinerseits auf unterschwellige, durch Verdrängung entstandene Tatsachen zurückgreift. Bei der analytischen Behandlung des Dranges nach Sühne nun schwindet unter gewissen Bedingungen der Sühnetrieb ebenso zugunsten eines andern Be- wußtseinsinhaltes, wie etwa die Auffindung der unterschwelligen Ursachen einer Angstneurose der quälenden Gemütslage ein Ende bereitet und eine neue einleitet. In anderen Fällen führt ein kleiner Schritt von der psychologischen Arbeit zur Lösung ethischer Probleme.

Die folgenden Erörterungen setzen Kenntnis der Traumforschung voraus. Ich möchte sie gerne jedem Leser vorenthalten, der nicht durch gründliches Studium der Freudschen Traumdeutung und eigene Ana- Iysen die Gesetze des subliminalen Phantasielebens kennen gelernt hat.

Vorbemerkung.

Max, geboren im Februar 1894, war vom Frühling 1905 an während eines Jahres mein Schüler und wies sich in dieser Zeit als intelligentes Bürschehen aus. Von da an sah ich ihn alle zwei Wochen im Jugend- gottesdienst, bis ich ihn im Mai 1908 in den Religionsunterricht einer hier nicht näher zu bestimmenden Schule aufnahm. Seine Leistungen zählten zu den besten der Klasse.

Die in einem früheren Aufsatz?) geschilderte Erkrankung seines Bruders Arno gab mir anfangs Oktober 1908 Einblicke in das gespannte Verhältnis, das zwischen fast allen Familiengliedern bestand, und in die Hysterie der Mutter. Max berichtete mir regelmäßig, wie es um seinen älteren Bruder stehe. War irgend ein Zwist ausgebrochen,

ı) Th. Lipps, Die ethischen Grundfragen, 4.

2) W. Wundt, Ethik?, 14 f.

3) H. Höffding, Ethik?, 44 f.

4) Psychanalytische Seelsorge und experimentelle Moralpädagogik. Pro- testantische Monatshefte 1909, Nr. 1.

136 Oskar Pfister.

so wußte er so geschickt die eigene Unschuld und das Verlangen nach Aussöhnung herauszustreichen, daß ich ihn für einen netten Jungen hielt, dem es nur an Willenskraft fehle, um ein friedliebender Mensch zu sein. Allerdings bedauerte ich, daß meine zahlreichen und eindring- lichen Ermahnungen, gegen den kranken Bruder ritterlich zu sein, keinerlei nachhaltige Wirkung ausübten. Auch Ermahnungen zu Willens- übungen im Sinne F. W. Försters fruchteten wenig, obwohl es dem Burschen nicht an Geneigtheit und redlichen Vorsätzen fehlte. Am 12. November erzählte er mir, Arno habe sich, seit er in meiner speziellen Seelsorge stehe, innerlich umgewandelt. Sogar seine Sprache habe sich verändert. Und nun platzte Max mit der Bitte heraus, ich möchte auch an ihm die neue Methode erproben. Er rede nicht aus Neugierde. Allein er fühle, daß er oft unter einem bösen inneren Zwang handle, so daß er nicht, wie er möchte, gut sein könne. Es sei sein Wunsch, gleich seinem Bruder ein neuer Mensch zu werden.

Erste (vorbereitende) Sitzung, 21. November 1908.

Max gesteht auf mein Befragen, daß er sich seit 4 bis 5 Jahren Unehrlichkeiten zuschulden kommen lasse. Am 14. Februar 1907 sei er überdies durch einen Kameraden zur Onanie verleitet worden, vor welcher man ihn nicht gewarnt hatte. Damals sei starke Reue über ihn gekommen, auch haben die heftigen Vorwürfe über Unehrlichkeit und Grobheit erst jetzt eingesetzt. Die Willenskraft ließ sehr zu wünschen übrig. Erst als Max, durch meinen Religionsunterricht angeregt, Willens- übungen vornahm, z. B. nächtliches Aufstehen mit Abwaschungen, früher Beginn der Aufsätze, wuchs die Willensenergie, aber nur wenig.

Den Vater schilderte Max als wohlgesinnt, früher gelegentlich zornig, aber weichherzig, die Mutter dagegen als nervenleidend, daher aufgeregt, tadelsüchtig, mitunter kleinlich. Arno wollte er sehr lieben; er sehne sich danach, gut mit ihm zu stehen. Der kleine Bruder war ihm, wie er angab, recht lieb.

Über sich selbst interpelliert, rühmte der Knabe sein weiches Herz. Beim Anblick eines Armen werde er sehr gerührt. Auffallend war eine gewisse Todesfurcht neben ausgesprochener Todessehnsucht. Er bemerkte: „Ich wurde einst chloroformiert und erinnere mich, wie ich entschwand. Jetzt denke ich oft daran, wie es wäre, wenn ich sterben müßte, wie die anderen weinten. Ich träumte schon oft vom Tode des Bruders oder der Mutter. Der Betreffende (so!) liegt dann tot im Bette. Das tut mir weh, und ich denke, ich wäre lieber tot und gar nicht auf

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 137

der Welt. Ich wollte, meine Stellung zur Mutter wäre besser. Wenn sie schilt, so mache ich meinem Zorne in Grobheiten Luft, was ich nie In Ihrer Gegenwart, dagegen nachher in der Einsamkeit sehr bereue.“

Die stereotypen Träume verraten, daß der anscheinend gut-

mütige Bursche Bruder und Mutter tot wünscht, die frevelhafte Be- gierde aber unterdrückt.

I. Komplexphantasien im Zeichen des Hasses.

Zweite Sitzung, 25. November.

Max erzählt, daß er seit einem Monat nicht mehr onaniere und sich deshalb wohler fühle. Auch sei sein Denken klarer geworden. Kom- pensationserscheinungen sind bis jetzt nicht wahrzunehmen.

Am Vorabend hatte er mit dem kranken Arno Streit, weil er sich bei brennender Lampe entkleidete. Der Bruder nannte ihn Quatsch- kopf, Wasserschädel u. dgl. Max benutzte die Gelegenheit zur Willens- übung und schwieg, was ihn nachher freute. Den Wert dieser asketi- schen Verdrängung werden wir alsbald kennen lernen.

Da ich gewiß war, daß der Groll gegen den Bruder mit peinlichen Erlebnissen zusammenhing, die aus der Erinnerung verdrängt worden waren, ließ ich mir alle Szenen, die durch bloßes Verhör ins Bewußtsein gezogen werden konnten, ausführlich mitteilen. Natürlich ergaben sich zahlreiche Prügeleien, deren letzte 2 bis 2!/, Jahre zurücklag. Stets war Max der leidende Teil, das unschuldige Lämmchen.

Als auf diesem Wege nichts mehr hervorzuholen war, griff ich zum Assoziationsexperiment, dem ich anfangs das Schema von Jung zu- grunde legte, um aber bald nach Jungs und Stekels Vorgang zur freien Assoziationskette überzugehen. Ich bin ein wenig in Verlegenheit, wie ich die Ergebnisse darstellen soll. Gebe ich den Gang der Unter- suchung protokollarisch wieder, so sind kleine Verwicklungen nicht zu vermeiden. Trachte ich nach säuberlicher Ordnung, so fehlt dem Leser der Einblick in meine Arbeitsmethode. Ich wähle daher das erstere und begnüge mich damit, Erklärungen und Nachträge in runden Klammern anzuführen. In eckigen Klammern findet der Leser meine an den Schüler gerichteten Worte.

[Ich werde dir jetzt einzelne Worte zurufen. Sofort wird dir ein anderes Wort in den Sinn kommen. Du teilst es mir sogleich mit, auch wenn es dir dumm oder häßlich erscheinen sollte.

138 Oskar Pfister.

Kopf.] Verstand. Zwischenzeit 3,2 Sekunden. [Was fällt dir jetzt ein?] Im Kopf ist Verstand. [Weiter!] Leute mit verstörtem Gesichte sind irr. Die meisten sind unheilbar. (Nachtrag vom 29. November:) Wenn mein Bruder unheilbar würde, so müßte er sterben. (Arno war infolge von Hysterie geistesgestört. Vgl. Protestantische Monatshefte 1909, Seite 13. Max verrät wieder seinen verdrängten Wunsch, der Bruder möchte sterben).

[Grün.] Rot. 2 Sekunden. Grün ist die Farbe der Hoffnung.

[Wasser.] Leiche. 4 Sekunden. Schiff, ein Ertrunkener. Ich sah, wie ein Ertrunkener in ein Schiff gezogen wurde. [Nenne alle Worte, die dir jetzt in den Sinn kommen!] Baden, schwimmen, Bade- anstalt, Badewärter, Grund, Seegras, Haifisch, Erde, Stein, Sprungbrett, Luft, Kette, Balken, Unterseeboot, Mann- schaft, keine Luft, ertrunken, Taucher, Taucherglocke, Gold, Strickleiter. [Was kommt dir jetzt in den Sinn?] Im Kine- matographentheater sah ich zwei Taucher, die Gold fanden. Einer durchhieb den Luftschlauch des andern, nahm das Gold und stieg empor.

[Baden.] Weil mein Bruder viel badet. Ich auch sehr gerne.

[Schwimmen.] Mein Bruder behauptet, er sei vom Sprungbrett aus fast bis auf den Grund getaucht. Dies macht mir einen tiefen Ein- druck. Es schauert einen ganz. Ich tauchte einmal an einer weniger tiefen Stelle auf den Grund. Das Ertrinken kommt mir in den Sinn. Ich sah im Kinematographentheater, wie einer ertrinkt.

[Seegras.] Man kann darin hängen bleiben. Dies passierte mir einmal.

[Erde.] Der Grund des Wassers. Dunkelschwarz. Das Grab im Busento. (Nachtrag vom 29. November:) Darin ist einer auf einem Pferd, groß, stramm, bleich. Es ist mein Bruder.

[Kette.] Außen an der Badeanstalt beim Fäßchen. Arno ging einmal dort in die Tiefe und blieb etwa 10m unter dem Wasserspiegel mit einem Finger hängen. Er sagte dann, er halte nicht viel vom Leben, er mache gerne lebensgefährliche Sachen, wie Schleifenbahn mit dem Velo.

[Unterseeboot.] Ich sah auf einem Bilde, wie die Mannschaft eines solchen erstickte. (29. November 1908:) [Kennst du jemand davon ?] Der Kapitän ist Arno.

[ Taucher. ] Der ertrinkende Taucher im Kinematographentheater. Man sieht das bleiche Gesicht durch das Glas. Der Mann war groß

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 159

und schwarz. Wır bekamen aus einem Panoptikum eine lebensgroße Wachsmaske,.die einen sterbenden König darstellte. Die Augen waren nach oben gerichtet. Arno setzte diesen Kopf einmal auf seine Schultern und schlug ein Leintuch um sich. Da sah er wie ein Geist aus. Ich er- schrak sehr. Der sterbende Taucher erinnert mich an jenes Wachsbild. (Man sieht deutlich die Verdrängungsarbeit: Max meint natürlich den, der in der Wachsmaske steckt, Arno, läßt aber diese Vorstellung nicht aufkommen.)

[Der Mörder.] Er war ein kleinerer Mann. Sein Gesicht sah man nicht. Er hatte große Furcht vor der Einsamkeit (!) und weil er den andern tötete. [Bilde eine Reihe!] Mitleid, Strafe, Kapitän, sucht nach dem Mörder, elektrischer Stuhl, Vergangenheit, Himmel, Hölle, Weltgericht, Gott, Abraham, Lazarus, der reiche Mann, Kluft, Wasser, Brüder, Lazarus auf dem Schemel bei Gott, die Bitte des Reichen, der Mann, der sich im Himmel einen Palast wünschte, mit dem Petrus Mitleid hatte, der Mann auf den Zehenspitzen, der durch das Astloch schaut, das Gottesreich. (29. November:) Der Mörder ist klein, flink, kurz- armig, habsüchtig, geldgierig, roh. [Wer ist’s?] Ja, ich. Das bemerkte ich schon am 25., dachte aber, es habe keinen Wert. Ich bin doch im gewöhnlichen Leben nicht roh? [Nein. Aber du bist das, was die Sprache so trefflich „zwiespältig‘“ nennt. Du hegtest schon böse Wünsche und wolltest sie vertreiben. Das ist dir nicht völlig gelungen. Daher dein Groll, dein dunkler Trieb zum Bösen.]

(Die ausführliche Analyse würde uns zu weit führen. Hier das Ergebnis: Der Mörder, Max, wird auf dem elektrischen Stuhl (siehe unten) hingerichtet, tröstet sich indessen durch die Hoffnung, er müsse nicht wie der reiche Mann im Gleichnis Jesu ewige Höllenpein dulden, sondern werde wie der Reiche in der schönen Erzählung von Volkmann-Leanders in der Hölle ein prächtiges Schloß voll Gold empfangen, auf den Zehen- spitzen stehend durch ein Astloch den Himmel sehen und endlich selig werden. Im Mann auf den Zehenspitzen erkennt Max deutlich sich selbst.)

[Was hast du jetzt gemerkt?] Ich bin zu habsüchtig, und doch ist Arno nicht so bevorzugt wie ich. [Hast du jemals mit Wissen deinem Bruder den Tod gewünscht?] Ganz offen gesagt: Ich mag es nicht hören, wenn mein Bruder sagt, es sei ihm gleichgültig, wenn er ertrinke. Mit 10 Jahren war ich einmal dem Ertrinken nahe. [Hat dein Bruder schon gesagt: Ich bringe dich um?] Ja, aber ich nahm es nicht für wahr

140 Oskar Pfister.

und entgegnete nichts ähnliches. Ich bin ganz sicher, daß ich Arno nie tot wünschte.

[Stechen.] Schmerz. 2,2 Sekunden.

[Engel.] Gott. 1 Sekunde.

[Lang.] Straße. 2,4 Sekunden.

[Schiff.] Kapitän. 2,4 Sekunden. Arno will Kapitän werden.

[Pflügen.] Acker. 2,6 Sekunden.

[Wolle.] Strumpf. 2,2 Sekunden.

[Freundlich.] Freund. 2 Sekunden. Jeder soll einen Freund haben. Brugger ist meines Bruders Freund, auch ein wenig der meine.

[Tisch.] Decke. 2,6 Sekunden. Auf dem Tische wird das Mittag- essen eingenommen.

(Man sieht aus diesen Beispielen, daß die Assoziationen zwar oft wichtige Vorstellungskomplexe angeben, allein durch das neue Reizwort wird der Eintritt in die tieferen Bewußtseinsschichten oder

auf den Namen kommt hier wenig an in die heikleren Regionen des Unterbewußtseins verwehrt. Ich kehre darum zur freien Kette zurück).

[Tisch, . Decke.] Tischnachbar, Fräulein, Gesellschaft, Bier, fünf Gänge, Caligula, grausam, verschwenderisch, Nero, wenn die Römer nur einen Kopf hätten, so würde er auch diesen abschlagen, sagte er zu seinen Tischgenossen. Da fragte ihn ein Freund, warum er lache. Cäsarenwahn, Cäsar, Brutus, Cinna, wurdevom Volkezerrissen. Die übrigen waren geflohen. Pompejus, Rom von Nero verbrannt..., Eitelkeit, Dichter, Schauspieler. Mit mir stirbt ein großer Mann, Nero war sehr feig. Er ließ sich von seinem Sklaven töten. Dnjestr, ich weiß nicht, warum, Fluß, Rußland, Zar, Moskau, Kreml, Kirche, Ausrufer, Halsweh, Doktor, Schmer- zen, Tod, die Verpflichtung, die Verantwortung des Doktors, seine zerstörte Praxis, Student, Bursche, Herr A., englisch.

(Die ersten Assoziationen beziehen sich auf einen vergnügten Ferienaufenthalt.)

‘) Als ich die Untersuchung vornahm, war ich mit den Feinheiten der Jungschen Assoziationsforschung nur so weit bekannt, als Publikationen vor- lagen. Ich möchte nicht unterlassen, zu bemerken, daß für den Kundigen das schlichte Assoziationsexperiment nach Jungs Schema sehr viel rascher als die freie Kette auf alle verschiedenen Komplexe hinweist und somit der Analyse Ansatzpunkte verschafft.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 141

[Bier.] Reizt die Geschlechtlichkeit. Als ich einst keines bekam, verlor ich jeden Reiz zur Onanie.

[Fünf Gänge.] Soviel erhielten wir eines Tages.

[Caligula.] Lebte auch sehr verschwenderisch und viel. (29. No- vember:) Der Name interessiert mich viel mehr als alles andere. (Er- klärung später.) Ich glaube, er war der, welcher im Cäsarenwahnsinn zwei Tage mit Wagen und Pferden über eine Brücke fuhr. Er ist groß und hat eine schwarze Nase. Er ist mein Bruder (der auch geisteskrank war und übertrieben viel Velo fährt. Caligula wurde bekanntlich er- mordet).

[Grausam.] Nero lebte auch verschwenderisch und grausam. Er war auch sehr eitel, Kürzlich redeten wir von ihm in der Geschichte. Ich las einmal ein Sherlock-Holmes-Buch, auf welchem Nero mit den lebenden Fackeln abgebildet war. Darin wurde geschildert, wie ein Maler seinen Gehilfen an ein Kreuz band und in seinem Atelier ver- brennen ließ, um die Züge des Sterbenden zu studieren und abzumalen. Ein andermal brachte der Bruder des Malers, ein Mann mit großem, schwarzem Mantel, großem Schlapphut und Bockbärtchen ein Fräulein, das der Künstler auch verbrannte. Das zuerst gefertigte Bild gewann in der Ausstellung den ersten Preis. Ein Fräulein besah es und fiel in Ohnmacht, da es in dem verbrennenden Jüngling den Bräutigam er- kannte. Der Maler wurde auf dem elektrischen Stuhle hingerichtet, sein Bruder kam ins Gefängnis. (29. November:) Das verbrannte Fräulein war eine schöne Blondine mit blauen Augen. [Einfall?] Es ist ein Mädchen, namens Berta. Arno und ich rissen sie oft umher, wobei wir aufgeregt wurden. Unsere Liebeswerbungen wies sie zurück, weshalb Arno wütend auf sie wurde. [Bilde eine Kette!] Berta, blond, schlank, jetzt kommt mir etwas in den Sinn: mein Bruder sah sie einmal beim Waschen unbekleidet.

(Arno ist somit der Verbrecher, der am Schlusse hingerichtet wird, Max sein Bruder. Beide zerrten jenes Mädchen umher. Die bei der Toilette betrachtete Berta wird zum brennenden Modell, das vom Maler studiert wird. Die sexuelle Brunst wird auf das Arno und Max gemeinsam erregende Sexualobjekt transponiert. Man beachte, daß ich vergaß, nach dem gekreuzigten Gehilfen zu fragen. Infolgedessen taucht das noch nicht völlig herausgezogene Material sechs Wochen später (5. Januar) plötzlich in ganz anderem Zusammenhange wieder auf.)

[Der Bruder des Malers.] Der fliegende Holländer.

[Warum er so lache.] Caligula lachte höhnisch, aber er dachte

142 Oskar Pfister.

etwas Gemeines. (Arno pflegt zu lachen, wenn er mit bösem Gewissen redet!.)

[Cäsar.] König von Rom. Empereur. Cäsar Brugger. Cäsar ist der richtige Vorname des Knaben, an den ich denke.

[Brutus.] Der beste Freund meines Bruders, der ihn kürzlich zu seinem intimsten Freund erklärte. Deswegen bin ich auf ihn eifer- süchtig. (29. November:) Brutus tötete sich selbst. Brugger macht oft verwegene Bergtouren. Er ißt sehr viel. [Und Arno?] Arno wenig. (Wahrscheinlich eine Eifersuchtsphantasie: Max wünscht, daß Arno, weil er den Bruder verschmäht, am Freunde so schlechte Erfahrungen mache, wie Cäsar an Brutus. Beide Freunde werden zweimal iden- tifiziert: Cäsars Name geht auf Brugger, Cäsars Schicksal als eines Ermordeten auf Arno (vgl. auch ‚„Cäsarenwahnsinn‘). Caligula als wahnsinniger Wagenlenker repräsentiert den Bruder, als Vielesser dessen Freund.)

[Cinna, wurde vom Volke zerrissen. ] Unschuldig. Keller, ein anderer Freund Arnos, wird viel geneckt, ohne es zu verdienen.

[Pompejus.] War ein Herrscher. Weiteres weiß ich nicht. Doch! Die Stadt Pompeji geht mich persönlich nahe an.

(Die Vorstellung von der Ermordung des Pompejus, hinter dem natürlich Max als Rivale Cäsars, Arnos und Bruggers steckt, wird so recht geschickt abgeleitet.)

[Eitelkeit.] Kunstfahrer.

[Neros Eitelkeit.] Mein Bruder, den ich schon oft für eitel hielt.

[Dichter.] Schiller, Goethe, Kraniche des Ibykus, Homer, Odyssee, Penelope, Meer, Schiff, Untergang, Insel, Hungersnot... ., Kinder des Odysseus, Kleid, Frau, Faden, Nadel, Schmerz, Empfindungsnerven, Gehirn, Bein, Unglück, Sanitätswagen,.... Eisfeld, Zollstraße, Hirn- erschütterung. Arno ist Dichter, er macht Verse.

(Die Analyse kann nicht wiedergegeben werden. Die Odyssee schildert eine schmerzliche Familiengeschichte, Arno erlitt vor fünf Jahren auf dem Eisfeld eine Hirnerschütterung und wurde sanitäts- polizeilich nach der Zollstraße verbracht.)

[Schauspieler.] Bühne, Sängerin, Gesang, Ehre,... Fenster, See, Himmel, Tiefe. Arno wollte einmal Schauspieler werden, weil man als solcher zu Ehren gelangen kann. (Nero ist eitel !) Als ich einst Theater spielte und ein Mädchen, das ich von ferne liebte, anwesend

‘) Protestantische Monatshefte, Seite 21.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 143

war, wurde ich beim Blick auf die Straße, wie seit einigen Jahren immer, wenn ich an einem Fenster stehe, von Angst befallen. [Hast du denn schon eine starke sexuelle Aufregung erfahren?] Vor fünf Jahren sah ich, wie im Walde einige Kameraden sich entkleideten und aufeinander lagen. Mein Bruder und ich taten es nicht, gerieten aber in Aufregung. [Damit ist vielleicht deine Furcht vor dem Abgrunde bereits erklärt. Das Mädchen hat die früher erregten Triebe aufgewühlt.]

[Nero ließ sich von einem Sklaven töten. Hinter Nero steckt doch offenbar dein Bruder!] Das stimmt ganz genau mit meinen Einfällen, aber nicht mit meiner wirklichen Gesinnung. (29. November:) [Be- schreibe den Sklaven!] Er war kleiner als Nero, schwarz, ein Mulatte, nackt, mittelfest, hält dem Nero einen Dolch an die Gurgel. Er muß auf den Zehen stehen. Ich bin’s! (Ein sehr interessanter Wachtraum! Max erscheint auf den Zehen stehend, wie in der Gestalt des reichen Mannes, weil er als solcher der ewigen Höllenpein entgeht. Als Mulatte, erscheint er, da seine heiß begehrte Berta einen Neger heiratete, der auf den verliebten Arno eifersüchtig sein könnte, und Max gerne in dessen Lage wäre, teils als Ehemann, teils als kräftiger und rachsüchtiger Verteidiger seiner Liebe. Möglicherweise hat Max das Wort des Caligula: „Wenn die Römer doch nur einen Kopf hätten, so könnte ich sie auf einmal köpfen‘ dem Nero beigelegt, um die Wollust der Rache in der Ermordung lebhafter zu fühlen. Der Mörder vollzieht nur, was ihm vom Ermordeten selbst zugedacht und aufgetragen war eine recht findige Beschwichtigung des Rachetriebes. Der Schnitt in die Gurgel mag auch durch den wächsernen Kopf des sterbenden Königs deter- miniert sein.)

[Dnjestr, ich weiß nicht, warum.] Wir besprachen diesen Fluß unlängst in der Geographiestunde. Er fließt ins Schwarze Meer. Jetzt kommt mir das Tote Meer in den Sinn. Es ist salzig, Körper schwimmen darin. [Was für einen Körper siehst du?] Es ist ein weißer Leib, ein Badender. Es ist Arno. Ich sehe ganz deutlich, daß es der Leib meines Bruders ist. Ich sage dies nicht etwa, damit es stimme.

[Zar.] Oberherr. Er trägt einen Bocksbart und hat Bomben unter dem Sitz. Ein Anarchist schleicht mit einer Lunte hinzu und will an- zünden, wird aber verhindert. (Der Leser entschuldige, wenn das Fol- gende konfus klingt. Er wird für seine Aufmerksamkeit entschädigt werden.) Die Anarchisten werden gefangen, kommen nach Sibirien, Hunger leiden, Kerker, einzelne auf Sachalin, dort eingeschlossen in Kerker ohne Fenster, oft geprügelt,

144 Oskar Pfister.

für die Russen ein schönes Schauspiel. In Sıbirien sieht man oft einen, der einen Toten mit einer Kugel am Beine nach- schleppt. Der andere ist schon tot. Ein sibirischer Flücht- ling, Terroristen, Bomben, Revolver, Dolch, Plan, zur Tür hinaus, überfallen, Weib, vom Sohne des Gouverneurs be- gnadigt. Von ‚Plan‘ an handelt es sich um ein Kinematographen- bild, das ich sah: Unter einer Schar überfallener Terroristen befand sich ein schönes Weib, das auch gefangen genommen werden sollte, Der Sohn des Gouverneurs nahm es in seine Kutsche auf und erlangte seine Begnadigung. Der Vater des Mädchens wollte aber die Ehe mit dem Gouverneurssohne nicht zugeben. Kaum auf Bitten der Tochter freigelassen, versucht der Alte den Gou- verneur zu erschießen. Seine Tochter fängt die Kugel auf und wird getötet.

[Der Zar trägt einen Bocksbart, ähnlich wie früher der Bruder des Malers?] Es steckt mir noch einer mit einem Bocksbärtchen im Kopfe. Ich weiß nicht, wer. Doch! Es ist ein Herr K., ein Deserteur, der überall betrog. Er hatte blaue Augen. Einmal ließ er sich den Bart abschneiden.

[Beschreibe den Zaren noch genauer!] Er ist ein großer, schlanker Mann mit dunkeln Augen und braunen Haaren. [Ist es dein Vater?] Nein, der ist groß und hager! [Also doch wie der Vater?] Mit dem stehe ich jetzt in sehr guter Beziehung.

[Schildere den Anarchisten!] Er ist klein, mittelfest, trägt hohe russische Stiefel, großen Schlapphut, braunen Rock, Schnäuzchen, duckt sich, will gerade den Zünder in Brand setzen, da kommt plötzlich ein Soldat von hinten, schlägt zu und macht dem Plan ein Ende. Ich sah einmal ein Bild des Zaren, unter welchem Bomben lagen. [Und der Anarchist?] Ich weiß, wer es ist: Ich bin’s. Es wird mir während dieser Übung wohler zumute. Gegen meinen Vater habe ich nicht das Geringste. (Etwas später:) Arno steht noch viel schlechter mit dem Vater als ıch.

(Wie erklärt sich das Behagen? Wenn Max seinen Vater liebt, sollte er sich doch eigentlich als Anarchist unglücklich fühlen. Das Rätsel löst sich einfach: Der Zar bedeutet, wie Kaiser, König u. dgl. fast immer den Vater. Auf den trifft auch die große und schlanke Figur einigermaßen zu. Und doch weigert sich der Knabe, noch bevor er sich als den Attentäter erkannte, im Zaren den Vater zu erblicken. Erst später entschließt er sich, wie wir sehen werden, dazu. Hinter dem

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 145

Zaren steckt eben jener Herr K., der sich an des Vaters Stelle setzte, indem er mit dessen Frau zum Verdrusse des Wachträumers ein Ver- hältnis anstrebte. In der Gestalt des Anarchisten rächt Max seinen Vater. Für diese Tat sieht der Träumer eine verhältnismäßig milde Strafe, die Verbannung nach Sibirien, voraus.)

[Durch wen wird der Anarchist an seinem Unterfangen ver- hindert?] Durch einen großen Soldaten mit hohen Glanzstiefeln, grüner Uniform, roter Borte, langem, breitem Schnurrbart. Es ist Arno. Er ist groß, trägt Velostulpen (dadurch war Caligula = Stiefelehen mit- bestimmt) und ein grünes Kleid. Auch besitzt er einen Soldatenmantel mit roten Borten.

Ich weiß, daß in mir noch viel Böses steckt. Darum werde ich oft so jähzornig. Als ıch vier Jahre alt war, fiel ich oft vor Zorn in Krämpfe und bekam blaue Lippen.

Jetzt kommt mir noch etwas in den Sinn: Gewöhnlich, wenn ich denke, daß mein Bruder gestorben ist, so erinnere ich mich dessen, was er besitzt (vgl. Taucherszene). Dann sage ich mir, diesen Gedanken möge ich nicht leiden und schiebe ihn weg.

Ich mache diese Übungen ungeheuer gern.

Dritte Sitzung, 29. November.

Gerne wollte ich schon jetzt zur Bearbeitung der bisherigen Phan- tasien schreiten. Allein die Assoziationen der vorangehenden Kette und besonders die Phantasie vom Zaren sind noch zu wenig aufgeklärt. Ich fahre daher in meinem etwas abgekürzten Protokoll fort.

Zu Beginn der Besprechung wurden die rätselhaft gebliebenen Reaktionen nachgeprüft. Die Befunde habe ich an den betreffenden Orten bereits eingereiht.

[Zar.] Tot, Mord, Dolch, Säbel, Bomben, groß, fest, Begleiter, Herr K., Holzsoldat, Gang, Grube, Thron, nichts weiter. Der Zar war in Lebensgefahr. Er sollte mit Dolch und Bombe ermordet werden. Der Säbel ragt über den Kleineren, der sich zu Boden duckt, hinaus. Der Soldat oder Offizier schaut nicht auf den Kleinen. Er hat es auf den Zaren abgesehen, weil „Säbel‘‘ zwischen „Dolch“ und „Bomben“ steht. Der Soldat erinnert an einen Holzsoldaten. Das ganze Bild ist be- wegungslos.

Der Kleine duckt sich vor Angst. Ich glaube nicht, daß er eine Lunte anzünden will. Man sieht ihn nicht handeln. Er kauert vor dem Soldaten zusammen. Ja ja, es ist schon wahr, daß ich vor Arno etwas

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 10

146 Oskar Pfister.

wie Furcht empfinde. Er erhebt gegen den Vater Anklagen und haßt mich. Der Kleinere kommt mir nun nicht mehr als Anarchist vor. Ich zweifelte schon früher an jener Auslegung.

(Im Traumbilde waren zwei getrennte Gedanken kunstvoll in einem einzigen Gemälde ausgedrückt: Die Rache an Herrn K., dem Liebhaber der Mutter, und die Furcht vor Arno und seinen Angriffen auf den Vater. Das Bild mußte bewegungslos erscheinen, weil bei der leisesten Handlung das Gebilde zerbricht, indem das Rachemotiv eine andere Bewegung fordert als der Furchtgedanke. Die Einfälle, die sich an die Apperzeption des Traumtableaus anschließen, verraten widerspruchsvolle Schwankungen, je nachdem sie im Zaren Herrn K. oder den Vater vermuten. Ersterem gegenüber ist der Gebückte in der Tat ein Anarchist, letzterem gegenüber der hilflose Vasall, der sich selbst fürchten muß. Dem Feinde des Vaters gegenüber ist Max der Angreifer, sofern er die schnöde Handlungsweise dem Vater mitteilen wollte, was ihm Arno verwehrte.

[Der Attentäter in Sibirien.] Er ist der sıbirische Flüchtling, der einen Toten schleift. Er trägt nicht ganz ein Bocksbärtchen wie Herr K. Sonst gleicht er ihm. Er ist schwarz und besitzt blaue Augen. (Zuvor hatte Max Herrn K. das Bocksbärtchen beigelegt, das ihm selbst als Malergehilfen eignete. Jetzt identifiziert er seinen Feind vollends mit sich selbst: Herr K. ist nun der Attentäter, der mit Arno an derselben Kette festgeschmiedet ıst. Ein Grund der Identifikation liegt ohne Zweifel darin, daß der Knabe selbst die Stelle des Liebhabers bei der Mutter einnehmen möchte. Behilflich war auch

der Einfall:) Herr K. ging einmal bei tiefstem Schnee über einen Paß, kam aber

mit dem Leben davon.

Der Tote ist von ziemlich langer Gestalt, sein Gesicht ist ver- borgen, seine Hände sind weiß. (Vgl. oben: der weiße Körper im Toten Meere, unten: die weißen Knie. Arno hat allerdings auffallend blassen Teint.) Beide sind zusammengekettet. Schade, daß ich das Gesicht nicht sehe! [Bilde eine Reihe! Der Tote.] Brutus, lachen, schwarz, Schuhe, Himmel, Hölle, Arno, bleich ...

[Brutus.] Der Freund Arnos.

[Lachen.] Er lacht gerade.

[Oben hast du Brutus und deinen Bruder identifiziert. Jetzt tust du es wieder. Das Lachen des Brutus vertritt das Arnos, das schon früher vorkam.

=

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 147

Schuhe.] Gewöhnliche Militärschuhe. (Himmel, Hölle, Arno wiederholen den Schluß der Taucherszene.)

[Das terroristische Weib.] Es ist die Mutter, die Herr K. haben wollte.

[Der Sohn des Gouverneurs.] Arno.

[Der Vater des Weibes.] Herr K.

(Weil Arno die dem Vater übermittelte Anklage gegen die Mutter hintertreiben will, verdächtigt ihn Max, daß er die Mutter für sich haben wolle. Diese Vermutung sprach mir mein Analysand auch offen aus. So erklärt es sich, daß Arno als Sohn des Gouverneurs mit der schönen Terroristin (der Mutter) in die Kutsche steigt und Begnadigung vom Gouverneur (Vater) erfleht. Das Verhältnis zwischen der Mutter und Herrn K. hat zur Zeit der Analyse bereits ein Ende genommen. Der Be- werber hat sich als Schwindler herausgestellt, die Mutter haßt ihn. Er ist so mit Vater und Mutter in Konflikt geraten. Deshalb ließ sich das Kinematographenbild auf die Familienverhältnisse des Träumers anwenden, obwohl Herr K. als Vater des Mädchens sich ungern in den Rahmen fügt. Viel wird immerhin erreicht: Arno ist der unlauteren Ab- sicht gegen die Mutter bezichtigt, letztere wird erschossen, Herr K. kann seinem Todeslose nicht mehr entrinnen, auch wenn es nicht aus- drücklich gesagt wird. Letztere Unterlassung führt übrigens, wie wir sehen werden, zu neuen Mordphantasien, da der peinliche Eindruck, den die Untreue der Mutter hervorrief, noch nicht genügend ausgeführt wurde.) |

[Moskau.] Hauptstadt von Rußland, durch Napoleon verbrannt, Kreml, Burg des Zaren usw. Napoleon war großmütig. Auf St. Helena nahm er einst einer schlafenden Schildwache das Gewehr aus dem Arme und stand selbst Wache, um zu beweisen, daß er ein gutes Gewissen habe und nicht fliehen wolle. Dies sah ich kinematographisch dargestellt. Auch mein Vater weilt auswärts (vgl. oben ‚„Odysseus‘‘). Er bestand immer auf seiner Rechtschaffenheit. Die Schildwache ist der gegen den Vater argwöhnische Arno.

[Kreml.] Krim, Krimkriegs. Ein Kinematographenbild: Ein Sterbender übergibt einer Frau den Ring ihres im Krimkrieg gefallenen Gatten. Die Frau macht ein schreckliches Gesicht, wie wenn sie ihn töten wollte. Der Sterbende ist nicht der Gatte der Frau. Dieser ist vielmehr auf dem Schlachtfelde gestorben. Der Gefallene ist mein Bruder. Der Ring geht auf das Tagebuch, welches Arno dem Vater übergab. Die Mutter hat Arno lieber als ihren Mann, darum erscheint der Sohn

10*

148 Oskar Pfister.

als ihr Gatte. Im Tagebuche, das ein Testament darstellt, steht, daß Arno über den Vater besser dachte als über die Mutter, weil Fehltritte bei Männern verzeihlicher sind als bei Frauen. (Rache an der Mutter, welcher der Sohn mit Verrat lohnt, sowie am Bruder, der im Kriege stirbt. Zu ‚„schreckliches‘‘ Gesicht vgl, ‚„Terroristin‘“.)

[Kirche.] Pfarrer P. Sie helfen mir, daß es besser kommen wird.

[Ausrufer.] In einem Kinematographentheater sah ich auf einem Turme einen Ausrufer stehen. Er rief Gebetstunden aus. Man sieht nur den Turm. Es sieht aus, als schwebte er in der Luft. Ich dachte, er werde bald heiser sein. Man sah ihn den Mund aufsperren, aber es kam kein Ton. Die Leute blieben alle stehen und beteten. Die Pharisäer stunden und beteten. Einigen war es ernst. Der Ausrufer ist Pfarrer P.

[Halsweh.] Der Ausrufer bekommt es. Mein kleiner Bruder leidet jetzt gerade daran. Es kommt schlimmer mit dem:Ausrufer, so daß man den Doktor holen muß. Vielleicht stirbt der Kranke, vielleicht nicht. Toter Ausrufer, Blödsinn, armer Kerl, andere Stellung, Ver- zweiflung, Gehorsam, Wirken, Früchte bringen.

[Blödsinn.] Es ist Blödsinn, daß der Ausrufer da hinausfteist und daß man sich vor ihm verhenst.

[Armer Kerl.] Der Ausrufer, dem der Hals sicher weh tut.

[Andere Stellung.] Er nimmt die gleiche Stellung gewiß nicht mehr an. (5. Dezember:) Er sucht eine andere. (Max wußte, daß ich eine Berufung erhalten und abgelehnt hatte.)

(5. Dezember.) [Verzweiflung.] Er ist verzweifelt über die Wahl seiner Stellung.

(5. Dezember.) [Gehorsam.] Wenn der Mann ausruft, so beugen sich die Leute und beten.

(5. Dezember.) [Früchte bringen.] Oft nützt dieses Beten, oft nicht. Es ist Blödsinn, daß der Ausrufer so die Stunden ausruft. Die Leute kennen sie selber. Blödsinn ist auch der Ruf, man solle brav sein. Das weiß man schon selber.

(29. November.) [Toter Ausrufer.] Grab, Ausgrabung, Wagen, Nick Carter, gefangen. Wieder ein Büchlein: Ein Totengräber grub immer für Studenten Leichen aus. Einer, der zwölf Löcher im Magen trug, hatte sich dieses Schicksal nach dem Tode nicht gewünscht. Da wurde er dennoch ausgegraben. Nick Carter stellte sich, als wollte er dem Totengräber helfen und fing ihn so. Der Tote ist mein Vater, Arno der Totengräber, weil er ihn gleichsam verkaufen will, und ich bin Nick Carter.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 149

(Der Ausrufer ist demnach wieder eine Mischfigur, zusammen- gefügt aus dem Vater und dem Pfarrer. Beide stellen ethische For- derungen, die Max unangenehm berühren. Daß besonders der Ana- Iytiker im Wachtraum übel mitgenommen wird, ist eine Übertragung im Sinne Freuds (vgl. Freud, Bruchstück einer Hysterieanalyse. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XVIII (1905), 462 bis 465 = Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, 2. Folge, 104 £.)

(5. Dezember.) [(Lachend:) Rede ich denn im Unterrichte über lauter selbstverständliche Dinge? Sage ich euch immer, wie ein lang- weiliger Moralprediger: ‚Buben, seid doch brav‘? Beschäftigen wir uns nicht in weihevollen Stunden viel mit religiöser Dichtung und Malerei? Reden wir nicht in strammen Diskussionen über moderne Probleme und Persönlichkeiten, wie sie im Lichte des Christen- tums erscheinen, oder über Lebensfragen, die ihr selbst als brennend mir vorlegtet?] (Max sieht sofort den tückischen Streich ein, den ihm seine unterbewußte Phantasie spielen wollte. Daß die Ab- wendung der nachteiligen Übertragung trotzdem unvollständig gelang, wird sich später weisen.)

(29. November.) [Doktor.] Unser Hausarzt. Als Arno krank war, wollte es lange nicht besser werden. Da sagte der Arzt, der Kranke müsse mehr Wickel umlegen, sonst würde man ihm, dem Arzte, die Schuld an einer Lungenentzündung beilegen.

[Schmerzen.] Arnos.

[Tod.] Arno.

[Die Verpflichtung, die Verantwortung des Doktors, seine zer- störte Praxis.] Die Praxis des Arztes wäre zerstört, wenn Arno gestorben wäre.

[Student, Bursche, Herr A., englisch.] Man wird zuerst Fuchs, dann Bursche. Herr A. erzählte uns in der Englischstunde, man rufe unter Studenten oft aus: „Hat’s brav gemacht, hat’s brav gemacht, drum wird er auch nicht ausgelacht!‘“ So weit Max.

Wir fragen zuerst nach den Komplexen, die jenen dunkeln Drang zu bösen Regungen hervorgerufen haben.

Vor uns steht eine nur allzu lange Reihe von Phantasien, in welchen der Träumer sich mit brutalem Sadısmus an der Qual von verhaßten und doch im Grunde geliebten Menschen weidete. Mit schauer- licher Ausdauer malte uns Max Bilder, die mit häßlichen und darum verdrängten Wünschen zusammenhingen. Dabei kamen Menschen,

150 Oskar Pfister.

gegen die er nur Abneigung empfand, und es gibt solche, nicht vor. Diese auffallende Erscheinung könnte allerdings auch mit der Art der Einstellung auf die das moralische Bewußtsein hemmenden Kom- plexe zusammenhängen. Stellen wir nun die Phantasien zusammen:

Tabelle A (Phantasien im Stadium des Hasses),. a) Auf Arno bezogen sich folgende Phantasien, die wir öfters als heimliche Wünsche entlarven konnten: 1. Er muß an unheilbarer Geisteskrankheit sterben.

. Er wird als Taucher vom Bruder ermordet und beraubt.

. Er ertrinkt, indem er bis auf den Grund taucht.

. Er ist im Busento begraben.

. Er bleibt an einer Kette unter Wasser hängen.

. Er verunglückt auf dem Velo beim Sturze aus der Schleifenbahn.

. Er stirbt als Kapitän eines Unterseebootes.

. Er stirbt in der Maske eines Königs.

. Er ist; Caligula (der im Wahnsinn rasend auf einer Brücke fährt

und ermordet wird).

10. Er ist Nero, grausam, eitel, wird von einem Sklaven erdolcht.

11. Er ist ein Maler, der seinen Gehilfen und sein Modell am Kreuze lebendig verbrennt und dafür auf dem elektrischen Stuhl endigt.

12. Er wird als Cäsar vom Freunde getötet (?).

13. Er verunglückt auf dem Eise.

14. Er schwimmt als weiße Leiche im Toten Meere.

15. Er will den Vater (Zaren) töten.

16. Er wird als sibirischer Flüchtling tot an einer Kette geschleift.

17. Er blamiert sich als schläfrige Schildwache vor Napoleon (dem Vater).

18. Er liegt tot auf dem Schlachtfelde, nachdem er sterbend die Mutter verriet.

19. Er stiehlt des Vaters Leiche.

20. Er stirbt an Lungenentzündung.

b) Sich selbst behandelt Max in folgender Weise:

21. Er macht sich als Taucher zum Mörder und Räuber, wird gefangen, elektrisch hingerichtet, in die Hölle verbannt, zuletzt in den Himmel aufgenommen.

22. Er wird als Gehilfe des Malers gekreuzigt und verbrannt, als Bruder des Malers und Gehilfe zum Mord eingekerkert.

23. Er wird als Fliegender Holländer gerettet (undeutlich).

24. Er wird als Pompejus ermordet (undeutlich).

SS OO NIS OT ww BD

26.

27.

28.

29.

Ss. 31.

92.

39. 34.

39. 36. 91.

38.

39. 40.

41. . als Terrorist zum Mörder an seiner Geliebten.

43.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 191

. Er ermordet in der Gestalt des schwarzen Sklaven (Gatte der

Berta und reicher Mann) seinen Bruder als Nero.

Er versucht als Anarchist Herrn K. zu töten; dieser als sein Doppel- gänger kommt als Flüchtling nach Sibirien.

Er entdeckt als Nick Carter den Verkauf der Leiche seines Vaters, damit den Verrat des Bruders.

c) Dem Vater sind gewidmet die Vorstellungen:

Er wird als Zar von Arno mit dem Tode bedroht.

Er wird als Gouverneur vom Verehrer seiner Frau nach einer groß- mütigen Tat beinahe erschossen.

Er macht als großmütiger Napoleon Arno lächerlich.

Er übergibt als Sterbender einen Ring, der für ihn ein günstiges Zeugnis von Arnos Seite her ablegt.

Er liegt mit zwölffach durchlöchertem Magen tot.

d) Von der Mutter wird geträumt:

Sie wird von ihrem Liebhaber K. erschossen, ferner

von ihrem geliebten Arno sterbend verraten.

e) Pfarrer P. |

Er hilft, daß es besser mit Max wird (keine Phantasievorstellung).

Er erscheint als blödsinniger Ausrufer, bekommt Halsweh und stirbt.

f) Die Freunde Arnos kommen übel weg.

Brugger (nachdem er Cäsar-Arno getötet hat) wird Selbstmörder. Keller wird unschuldig in Stücke gerissen.

g) Berta fällt

vor dem Bilde des gekreuzigten Bräutigams in Ohnmacht und wird am Kreuze verbrannt.

h) Herr K. soll

als Zar in die Luft gesprengt werden, kommt nach Sıbirien und wird

i) Der Arzt Arnos verliert seine Praxis. Fast alle diese Phantasien drücken offenbar den Haß aus, als

dessen Triebfedern zu erkennen sind:

1. Rachedurst. Würden wir die Einfälle tiefer analysieren, so

zeigte sich an manchem Punkte deutlich, daß der böse Wunsch auf erlittene Unbill zurückgeht und durch sie mitdeterminiert wird.

2. Habsucht. (Der räuberische Taucher.) 3. Eifersucht

152 Oskar Pfister.

a) auf Arno: Seine Freunde enden tragisch;

b) auf die Mutter: Identifikation des Max mit ihrem Liebhaber; c) auf Berta: Max als mordender Mulatte.

Diese Züge verraten neben der Stellung zum Vater die Anwesenheit

=

von Liebe.

In der Betätigung des Hasses zeigt sich aufs deutlichste sein sexueller Faktor, der im extrem sadistischen und masochistischen Charakter fast aller Phantasiebilder zum Ausdruck kommt. |

Entschieden sadistisch bedingt sind die Schilderungen 1 bis 19, 21 bis 22, 25 bis 26, 32 bis 34, 36 bis 41.

Masochistisch gefärbt sehen wir die Einfälle 21 bis 22, 24 und 26.

Auch außerdem finden sich sadistische und masochistische Züge von schwächerer Ausprägung. Ob mit den Phantasien deutliche sexuelle Innervationen verbunden waren, stellte ich nicht fest. Es ist jedoch nicht daran zu zweifeln. Jedenfalls muß der Sexualität bei der Ent- stehung und Auswirkung des Hasses ein enormer Einfluß zugeschrieben werden.

Wichtig ist die Erscheinung, daß aus dem phantastischen Material nur ganz wenige gütige Vorstellungen aufsteigen, und zwar nur solche, die gleichzeitig der Rache dienen (z. B. 30 bis 31). Nur in der bewußten Reflexion kommt Sympathie zur Geltung. Dies mag daher rühren, daß Max auf seinen Haß gegen den Bruder eingestellt war.

Die Psychologie des Hasses stellt uns nun vor die Frage: Wann sind diese Phantasiegebilde eigentlich entstanden?

Wir beginnen beim spätesten überhaupt möglichen Zeitpunkt, dem des Hersagens der ausgeführten Phantasie. Gegen ihn ist ein- zuwenden, daß schon in der Assoziationskette einzelne Wortfolgen deutlich die ihnen zugrunde liegende Phantasie verraten, z. B. keine Luft, ertrunken, Taucher, Taucherglocke, Gold. Es könnte sich höchstens fragen, ob einzelne Wachträume in der Seele des Knaben erst nach der Aussprache des Wortes, aus dessen Apperzeption sie zuletzt auftauchen, neu geschaffen wurden. Sicher ist ja, daß im Augenblicke, da das Glied der Reihe ausgesprochen wird, oft die zugehörige Phantasie dem Be- wußtsein fehlt, z. B. ‚‚Dnjestr, ich weiß nicht, warum.‘ Allein daß im Unterbewußtsein die sadistische Vorstellung bereits in jenem Moment vorhanden war, ergibt der Zusammenhang. Die vorangehende Er- mordung Neros hat mit dem Dnjestr nichts gemein, wohl aber der Tod Neros mit der hinter „‚Dnjestr“ steckenden, im Toten Meere schwim- menden Leiche Arnos.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 19893

Schon die Wortfolge der Reaktionsketten ist somit, wie wir an vielen anderen Punkten zeigen können, nur unter der Annahme er- klärlich, daß die bei der späteren Exploration ausgehobenen Phan- tasien im Augenblicke der Reihenbildung schon vorhanden waren, ohne bewußt zu sein. Ein einziges Mal schien erst während der analytischen Bearbeitung der Kettenworte die Phantasie gestaltend tätig zu sein. Es war damals, als der am Boden kauernde Anarchist sich in den Freund des Zaren, der diesen schützende Soldat sich in einen Attentäter ver- wandelte. Aber gerade da ergab die Fortsetzung der Analyse, daß beide Gedankenzüge bereits jenem Tableau zugrunde lagen, weshalb es zur Bewegungslosigkeit verurteilt war. |

Wir kommen somit zur Überzeugung, daß im Augenblick, da das Signal des assoziierten Wortes emporsprang, die ihm zugehörige Phan- tasie im Unterbewußtsein bereits gegeben war. Seit wann? Wahrschein- lich öfters ungefähr seit der Zeit, da der die Szenerie liefernde Eindruck eintraf. Daher machten jene Bilder einen so starken Eindruck. Oft aber auch wurde möglicherweise das Bild erst später zum Träger der grausamen Gedanken. Darum blieb es haften. Der vorhandene Komplex nahm es in Empfang und wußte sich sogleich oder später in ihm zu ver- stecken und zu betätigen, so daß er in seiner Verhüllung auf den Rui des Reizwortes desto leichter ins Bewußtsein aufsteigen konnte, während er ohne Verhüllung wegen seines peinlichen Charakters nur schwer ins Bewußtsein eingetreten wäre. Öfters wurde auch durch ein Erlebnis ein entsprechendes früheres Bild ausgelöst und dieses jetzt in den Dienst des Komplexes gestellt.

Die früheste mögliche Entstehungszeit der verschiedenen Phantasien läßt sich somit aus folgenden Daten der vorkommenden Beobachtungen ableiten:

Arnos geistige Umnachtung: 1908, IX.

Leiche aus dem Wasser gezogen: 1908, Sommer. Kinematographenbild der Taucher: 1903 oder 1904. Hängenbleiben im Seegras: 1907.

Grab ım Busento: 1908, X.

Arnos Abenteuer mit der Kette: 1908, VII. Unterseeboot (Kinematographenbild): 1908, IX. Erlebnis mit der Wachsmaske: 1905.

Die Erzählung vom Reichen, der auf den Zehen steht: 1907. Geschichte vom mörderischen Maler: 1908, I.

Arno prahlt mit seiner Todesverachtung: 1908, IX, X.

154 Oskar Pfister.

Max ist in Gefahr zu ertrinken: 1903.

Ferienaufenthalt: 1908, IX.

Caligula im Geschichtsunterricht behandelt: 1908, XI (3 Wochen vor

der Sitzung).

Nero im Geschichtsunterricht behandelt: 1908, VII.

Liebesgetändel mit Berta: 1904 bis 1907.

Freundschaftsbund zwischen Arno und Brugger: 1908, XI.

Odyssee: 1908, V.

Arnos Hirnerschütterung: 1903.

Theatervorstellung: 1906.

Dnjestr: 1908. XI (3 Wochen vor der Sitzung).

Das Tote Meer: 1906.

Bild des Zaren (Kinematographenbild): 1908, V.

Der Geschleifte in Sibirien: 1905, V und später.

Die Tragödie des terroristischen Weibes: 1907, XI.

Bruch mit Herrn K. (Erlebnis): 1908, V.

Napoleon als Schildwache (Kinematographenbild): 1907, XI.

Moskau

Kreml

Der Sterbende mit dem Ring (Kinematographenbild): 1908, XI (2 Tage

vor der Sitzung).

Der Ausrufer auf dem Turm (Kinematographenbild): 1908, V.

Pfarrers Berufung: 1908, IV.

Der Leichenraub (Nick Carter): 1906.

Arnos Gefahr in Krankheit: 1908, XI (3 Wochen vor der Sitzung). Angesichts dieser Daten mußte ich meine anfängliche Meinung,

die sadistischen Phantasien bilden eine Kompensation für die gehemmte

masturbatorische Sexualbetätigung, fallen lassen. Immerhin ist es

denkbar, daß die Reproduktion einer so großen Menge von grausamen

Vorstellungen mit der Überwindung der Onanie zusammenhängt.

Man vergesse übrigens nicht, daß am Abend vor der großen Assoziations-

kette die Erbitterung gegen den Bruder unterdrückt, also nicht ab-

reagiert worden war.

} Geographiestunde: 1908, XI (eine Woche vor der Sitzung).

Vierte Sitzung, 5. Dezember.

[Von der langen Kette wollen wir noch das letzte Wort näher besehen, nämlich:

englisch.] Indien, England, Doktor Meier, Schulknabe,

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 199

Felsen, Zylinder, Felsenvorsprung, Wasser,... Schiff, Untergang, Kapitän, Land, fertig.

[Indien.] Dort wird englisch gesprochen. Ich sehe ein Kine- matographenbild: von zwei Indern prahlt der eine, um einem Fräulein zu imponieren. Ein Fischer, der nie prahlte, liebte sie auch. Als einst ein Tiger drohte, lief der Prahlhans immer hintendrein und fürchtete sich. Da rettete der Fischer das Fräulein vor dem gegen sie anspringenden Tiger, den er ın ein Netz verwickelte. Auch der Feigling wurde in einem Netze gefangen und durchgeprügelt. [Wie sieht er aus?] Er ist ein Engländer, trägt Hut, Bart, Schnauz, hohe Gamaschen. Wegen der Gamaschen wird es mein Bruder sein. Der Mann war eitel. Er wurde gleichsam aus seinem Volke herausgeworfen. Auch Arno ist eitel. Nach seiner Krankheit wollten ihn zwei Lehrer nicht mehr aufnehmen.

[Doktor Meier.] Er erzählte uns von England. Einmal berichtete er, wie drei Schiffe strandeten. Der Kapitän blieb auf einem der Schiffe, damit es nicht als herrenlos gekapert werde. Der Kapitän ist immer der gleiche. Wenn er untergegangen wäre, so hätte das Schiff niemand gehört. [Dachtest du in jener Geographiestunde an Arno?] Nein, gar nicht. [Dachtest du vielleicht, du hättest gerne ein herrenloses Schiff angetroffen?] Herr Doktor Meier sagte, wenn man das Schiff nicht in Besitz nehme, so hole es einfach ein anderer. Ich dachte, dann ginge ich es schnell holen. Ich fragte mich, wie lange der Kapitän wohl noch auf dem Schiffe bleibe.

[Schulknabe.] In England haben schon die Schulknaben Zylınder an. Einer kletterte auf dem Felsenvorsprung der Ruine Regensburg in die Höhe, kam aber nicht hinauf. Es ist mein Bruder, er hat sein Ziel nicht erreicht.

Mit dem dunkeln Drang steht es besser. Es ist aber noch mehr da.

(Max bestätigt somit treffend den Eindruck, den die Einfälle erwecken.)

Zusammenstellung der in der vierten Sitzung produzierten Phantasien über dieBrüder:

Sympathisches Verhalten zu Arno:

1. Er wird als Prahlhans auf der Tigerjagd geprügelt.

2. Er schwebt als Kapitän in Gefahr, mit seinem Schiffe unter- zugehen, damit Max es erbe. (Der Wunsch, daß die Katastrophe

156 Oskar Pfister.

eintrete, tritt bei Max deutlich hervor, seine Erfüllung steht aber aus.)

3. Er kann die gefährliche Ruine nicht erklimmen.

Die geschilderten Phantasien ergeben ein zunächst für die Psycho- logie der Rache unseres Analysanden, aber auch für gewisse andere Personen und Komplexe gültiges Gesetz, das wir in die Worte kleiden:

Der verdrängte Haß bestimmter Individuen bildet aus geeigneten erlebten oder nur vorgestellten Erfahrungs- inhalten nach den Gesetzen der Traumarbeit Phantasien, durch welche er sich vorstellungsmäßige Befriedigung schafft. Diese Komplexbefriedigung kommt dadurch zu- stande, daß ein auf Schädigung des Gehaßten gerichteter Wunsch deutlich oder verhüllt im Inhalt des Wachtraumes als verwirklicht dargestellt ist. Die sexuelle Komponente des Hasses kommt in Form des Sadismus und Masochismus zum Ausdruck. Die „Wollust des Hasses‘ enthüllt der Analyse ihr Geheimnis.

Wie weit der aus den Phantasien abgeleitete Satz auf andere Individuen angewendet werden darf, soll uns hier nicht weiter be- schäftigen. Nur beiläufig bemerke ich, daß ich ähnliche Erscheinungen bei vielen Personen beobachtete, während andere nichts Ähnliches im Wachzustande produzieren, womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Phantasien auch subliminal fehlen. Es liegt auf der Hand, daß die angegebenen Wachträume, die sich bei Max oft mit obsedierender Aufdringlichkeit einstellten, als Komplexfunktionen anzusehen sind, welche die Bedeutung von Sicherheitsventilen für das menschliche Geistesleben besitzen.

II. Komplexphantasien im Zeichen der Versöhnung.

Fünfte Sitzung, 10. Dezember.

Max hat mit seinem Bruder nach langem, durch Mißtrauen gegen Arnos Entgegenkommen bestärktem Zögern offen geredet und sich mit ihm ausgesöhnt. Die knappe Zeit erlaubt nur eine kurze, oberflächliche Kette:

[Max.] Arno, Haß, Baum, der kleinste Bruder, Bücher, Kette.

[Arno.] Mein Bruder ist gut, bleich im Gesicht. Sein Kleid ist grau.

[Haß.] Vorher war Haß zwischen uns, jetzt nicht mehr.

[Der kleinste Bruder.] Der Haß auf ihn. Er ist neckisch, aber gut.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 157

[Baum.] Ich sehe ihn vor Ihrem Fenster. [Bücher.] Bevor ich zu Ihnen kam, rüstete ich meine Bücher. [Kette.] der 5!/,jährige Kleine zerriß mir meine Uhrkette.

Zusammenstellung:

a) Urteil über Arno:

1. Er ıst gut.

2. Er ist bleich.

3. Der frühere Haß ist verschwunden. b) Urteil über das Brüderchen:

1. Es ist gut, aber neckisch.

2. Es zerriß meine Uhrkette.

(Unterbewußte Phantasien treten nicht hervor, vielleicht weil das Reizwort zu direkt das Wachbewußtsein herausforderte.)

Für den Erzieher ist wichtig die Beobachtung, daß nun der Groll gegen das Brüderchen, wiewohl er kräftig verdrängt wurde, hervortritt. Deswegen das Überspringen von den Erinnerungen zu einem visuellen Eindruck, dem Baum. Hinter der Erinnerung an das Einpacken der Bücher steckt wieder jener Familienkomplex, den ich dem Leser vor- enthalten muß.

Sechste Sitzung, 16. Dezember.

[Willst du heute ein beliebiges Wort nennen, an das sich eine lange

Kette anschließen soll?] Ja, Erde. Es spielt sich gewöhnlich alles auf der Erde ab.

Erde, Geheimnis, Wasser, Mond, Atmosphäre, Saturn, Erdball, Splitter (Pause), Mars, Menschen, Verbindung (Pause), Glut, Eis, Nordpol, Schlitten, Andr&e, Grönland, Walroß, Sonne, Strahlen, Mekka, Indien, Bahn, Huber, Moschee, Pantoffel, Reise, blind, Blödsinn, Arbeit, Belohnung, Himmel, Schwester und Bruder, Germanen, Walhalla, Eskimo, Eisbär, Beil, Schlitten, Schiff, eingefroren, Andre&e, fertig. (3'/, Min.)

[Erde.] Erdkruste. Sie ist dünn. Darunter glühende Lava. Welt- schmerz. Mein Bruder hatte Weltschmerz. (Arno erzählte mir am 14. De- zember, er habe mit 9 Jahren eine Erdkarte oder ein Relief gesehen; da sei ihm Weltschmerz aufgestiegen, da die Erde so klein sei.) Auch ich hatte schon Weltschmerz. Gerade jetzt. Aber weil Sie im Religions- unterrichte davon redeten, wirkt das nicht.

158 Oskar Pfister.

[Geheimnis.] Die Erde birgt Geheimnisse. Das Naturgeheimnis ist eng verbunden mit der Religion.

[Wasser.] Das Meer. Meerschiff. Das Meer birgt auch Geheimnisse, auch Schätze. Der Taucher. Meerfisch. [Welcher Taucher?] Der das Beil hält. (Feuchte Augen.) Das andere Bild, der sterbende Taucher, ist wie von einer Wand verdeckt, einer ganz schwarzen Wand.

[Mond.] Eine Fahrt um den Mond. Es ist ein Kinematographen- bild. Ein Automobil fuhr durch die Alpen und Wolken nach dem Mond. Dann gab es ein Wettrennen auf den Saturn, durch die Wolken auf die Erde. Auf einer Straße wird das Automobil angehalten, in ein Bett verwandelt, um die Polizei irrezuführen, dann wieder zurückverwandelt, um dann zu verschwinden. Ich komme nicht darauf, was alles bedeutet. [ Wer sitzt im Automobil?] Einer in einem Hemde mit einer großen Brille, ungefähr wie Arno. Neben ihm eine Dame mit offenem Haar, auch im Hemde und auch mit Brille. [Wer könnte es sein?] Man kann es wegen der Brille nicht beschreiben. [Haarfarbe?] Hell. [Größe?] Ungefähr wie Arno. Es könnte Berta sein, ja ja! [Du willst also nicht mehr auf ıhn eifersüchtig sein?] Dazu muß ich mich gar nicht anstrengen.

[Die Polizisten.] Sie wollen nicht ernstlich verhaften, sie treiben nur Scherz. Beide haben krumme Beine. Der Kleinere hat X-Beine und kommt gar nicht vorwärts; er trägt einen blonden Schnurrbart und sieht aus wie ein Hanswurst. Ich habe keine Ahnung, wer es ist. Ich kann es doch nicht sein. [Am Ende ein Lehrer Arnos?] Ei natürlich ! Herr Y. wird wegen seiner Kleinheit und seiner X-Beine ausgelacht, von Herrn Z. heißt es, er mache O-Beine, wenn er an der Reckstange hängt (vgl. die zwei Lehrer der 4. Sitzung).

[Atmosphäre.] Sie wird in der Höhe immer dünner. Oft werden Registrierballons entsandt, die platzen. Sie haben einen Fallschirm. Sonst fällt mir nichts ein. [Doch !] Arno möchte gern Luftschiffer werden. Zeppelin.

[Saturn.] Rennbahn, Automobilrennen. Ich sah auf einem Kine- matographenbild, wie Automobile sich überschlugen und durch eine Wand brachen. L. ist ein berühmter Fahrer. Er trägt blonden Schnurr- bart und volles Gesicht. Ihm ist noch nie etwas passiert. Es ist mein Vater. |

[Erdball.] Er ist ein Splitter der Sonne. Sonst weiß ich nichts. Doch! ‚In Splitter fällt der Erdenball einst gleich dem Glück von Eden- hall.” Der junge leichtsinnige Lord in jenem Gedicht ist schlank wie

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 159

Arno. Vor einer Woche wünschte sich Arno leichtsinnigerweise einen Degenstock. Ich fand, das passe nicht für ihn und wollte es ihm sagen, unterließ es aber. [Wie ging es dem Lord?] Er wurde erstochen. (Die sadistische Phantasie erhielt sich, weil eine Verdrängung stattgefunden hatte.)

[Mars.] Man versuchte schon, mit Marsbewohnern in Verbindung zu treten. Auf einem Bilde des Mars sah ich aber keine Leute.

[Menschen.] Zuluindianer. So nannte ich scherzhaft einen Kameraden. Bertas Gatte ist ein guter Mensch. Brutus nannten wir auch oft einen Zulu.

[Glut.] Das Innere des Erdballs. Vulkan, Pompeji, verschüttet, Menschenformen. Man gräbt Teller und Gipsfiguren aus, Statuen, Bismarck, weiße Bilder, nichts mehr; den Ritter, den Sie uns auf Dürers Bild zeigten. Der Teller trägt ausgestemmte Ornamente, Kreise und Spiralen. Einen solchen Teller, der aus Ägypten stammte, ließ die Mutter in einer Kellerecke stehen. Da ging ich und verkaufte ihn um zwei Franken. Dies geschah vor vier Jahren. Bismarck hatte Willens- kraft. Er trug einen abwärts gebogenen Schnurrbart. Sie sind es. [St. Georg von Dürer.] Groß, scharfe Augen, stramme Beine, gerade Haltung. Wieder Sie.

[Eis.] Letzthin wurde Andrees Grab angeblich gefunden. Er wollte sein Glück versuchen und fukr mit dem Luftschiff (Sic!) hin. Er wollte etwas für die Wissenschaft erobern und ging dabei unter. Er trug einen heruntergebogenen Schnauz. Sie sind es. Er hatte zwei Gefährten, die auch umkamen. Ich kann sie nıcht beschreiben, da man sie nur aus der Ferne sieht. Sie stellen wohl Arno und mich vor. [Sind wır denn an ein schlimmes Ziel gelangt?] Im Gegenteil. Es will heißen, daß Sie vieles erklärten und sich um uns Mühe gaben, und daß es später vielleicht nichts nutzt. Hoffentlich wird es aber nicht so kommen. Es ist ja unmöglich, zu vergessen, was Sie mit uns besprachen. Ich glaube, es steckt auch der Gedanke hinter dem Bilde, daß ich wegen dieser Besprechung meine Aufgaben noch nicht machen konnte.

[Nordpol.] Gehört zu Andree.

Ich spüre, daß die Antworten viel leichter kamen als früher, weil jetzt alles abgeladen ist.

Siebente Sitzung, 5. Jänner 1909.

Die Stellung zum Bruder ist jetzt tadellos. „Ich kann Ihnen deswegen nur dankbar sein.“ Die Beiden sind wirklich ein Herz und eine

160 Oskar Pfister.

Seele geworden und besprechen gewisse für beide höchst peinliche Verhältnisse brüderlich. Von den Sherlock-Holmes-Geschichten will Max keine Ahnung mehr haben, ‚‚wiewohl wir noch lange nicht alle behandelten‘. Wir setzen die begonnene Analyse der Kette fort.

[Schlitten.] Dolder (guter Schlittweg).

[Grönland.] Zürichbergstraße, Schlitten, Mädchen, meine Freundin, die ich aus der Ferne liebe. Ich traf auch beim Schlittenfahren ein Mädchen, dessen Vater eine Grönlandexpedition machen will. Dies geschah aber erst vor einigen Tagen.

[Walroß.] Ich habe immer den bisher unbefriedigten Drang, jemand lieb zu haben. (Kompensation für den Haß, zugleich seine Ursache.) Jetzt kommt mir ein abenteuerliches Büchlein in den Sinn: Ein Matrose, namens Klaus, stand auf einer Eisfläche. Da hackte ein Walroß das Eis unter seinen Füßen auf. Er aber packte das Tier an den Zähnen und drückte es nieder. So wurde es gerettet. Der kleine, starke Matrose bin ıch, das Ungetüm die von mir besiegte Onanie.

[Sonne.] Himmelskörper. Weltuntergang. Nordlicht.

[Strahlen.] Fallen über die ganze Erde bis nach Mekka.

[Mekka.] Teppich, Perser, Turban, demütig, blind, glühender Stein, tot, fertig.

[Teppich.] Die Perser beten auf einem Teppich und wallfahren nach Mekka. Einige gehen zu Frauen, die glühende Steine haben, und lassen sich ihre Augen verderben, bis sie blind sind, um sich selber vor Mohammed zu demütigen. Dabei starben viele. Aber das ist ja gar nicht möglich, an ausgebrannten Augen zu sterben. Ich weiß nicht, was dahinter steckt. [Siehst du solche Perser?] Ja, einen mit einem Bocksbärtchen, Turban, Strohpantoffeln, blauen Augen. [Siehst du eine solche alte Frau?] Ja, eine, die einer Hexe gleicht, mit glühenden Augen und herabhängenden Haaren, wie bei Aschenbrödel. Es ist die Mutter (vgl. ihren schrecklichen Gesichtsausdruck bei der Ringüber- gabe), der Perser ihr Liebhaber, Herr K. Ich wünschte, daß er sich an ihr die Augen verbrenne und verderbe.

[Indien.] (Muß verschwiegen werden.)

[Bahn.] Die Verbindungsbahn zwischen Indien und Mekka. Ich sehe einen Arbeiter, der Frondienste leistet und nach Mekka zieht. Es ist der nämliche Perser (Herr K.). (Weshalb er eine Verbindung zwischen Indien und Arabien herstellen soll, kann hier nicht erörtert werden.)

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 161

[Huber.] Mein Lehrer. Er erzählte von seiner Reise nach Karthago und berichtete von mohammedanischen Sektierern, die sich selbst peinigten, indem sie den Kopf herumwarfen, sich durch die Muskeln stachen und von Schlangen beißen ließen. Seine Frau wurde dabei ohn- mächtig. Nun kommt wieder das Bild von der Blondine, die in der Gallerie das Porträt ihres Geliebten erblickt.

Die Sektierer sind braun und nur mit einem Tuch bekleidet. Ich sehe nur einen von Ihrer Größe. Sie sind es. Die Sektierer quälen sich für jemand ab, für Mohammed, für Jesus.

Die Ohnmächtige ist Berta. Der Gekreuzigte ist mittelgroß, ganz nackt, etwas fest, nicht so sehr schlank. Er ist wie der Gekreuzigte auf Dürers Bild. Den Kopf sehe ich nicht. Es ist, wie wenn eine schwarze Wand darüber wäre. Der Körper ist auffallend weiß, besonders das Knie, die Muskeln. Es ist Arno. [Wir vergaßen früher nachzuforschen, wer der gekreuzigte Gehilfe des Malers sei.] Ich kann mich unbedingt nicht mehr an Ihn erinnern. Er sah etwas schauspielerhaft aus, machte ein ver- liebtes Gesicht, trug gebügelte Hosen, wie eine Art Bureaustift. Der Gekreuzigte ist mittelgroß. Ich kann nicht sagen, daß es mein Bruder ist. Ich glaube, ich bin’s.

Unten am Kreuze stehen Mulatten. Ich sehe nur einen, fühle aber, daß noch andere da sind. Der eine sitzt, ein Knie hat er gebeugt und sieht zum Kreuz empor. Es ist Pfarrer P.

Auch Nero kommt hier vor, ich sehe ihn aber nicht. Er spielt auch keine Rolle. Er ist mein Vater.

(Der fanatische Sektierer, der sich um eines Höheren willen mißhandelt, bildet somit eine gemilderte Neuauflage des Ausrufers auf dem Turme.

Berta wird ohnmächtig, da sie in dem Gekreuzigten den Verlust des Geliebten sieht. Wer ist’s? Wahrscheinlich eine Mischfigur, zu- sammengesetzt aus Arno und Max. Denn beide werden von Berta geliebt, ihre Verschmelzung ergibt eine mittlere Größe, während sonst Arno groß, Max fast immer klein auftritt. Die schwarze Wand über dem Gesicht entspricht genau der, die in der vorigen Sitzung den sterbenden Taucher verdeckte. Die Auslegung der Phantasie mag etwa so lauten: Die früheren Kreuzigungsszenen im Atelier des Malers (A 11, 22, 40) erscheinen ins Erhabene umgedeutet. Freilich spielt noch ein gewisser Sadismus und Masochismus mit, aber bereits sublimiert, insofern Max das Schicksal seines Bruders teilt und das Todeslos Jesu übernimmt. Das weiße Knie entspricht der Gewohnheit, kurze Bein-

Jahrbuch für psyehoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 11

:162 Oskar Päster.

‚kleider und Strümpfe zu tragen. Zu Beginn der Phantasie wird die Frau vor dem Sektierer, der sich quälen läßt, also dem Pfarrer, ohn- mächtig, wie A 39 die Geliebte vor dem Bilde des vom Maler Ge- kreuzigten. Somit ist auch von seinem Tode die Rede, und es finden die Brüder mit ihrem Lehrer, wie früher im Wachtraum von Andree, ein gemeinsames heroisches Ende.

Weshalb bin ich nun zur Rolle des Zuschauers verurteilt worden? Weshab trete ich als Mulatte auf? Da Berta dabei steht, ist anzu- nehmen, daß Max mir seine Geliebte als Gattin abgetreten hat. Die Anwesenheit noch anderer Mulatten fügt aber hinzu: Jetzt kann sie haben, wer will. (Vgl. B 14: Brutus als „Zuluindianer‘.) Eine kleine boshafte Ironie ist unverkennbar. Als Zuschauer könnte ich mich über den freiwilligen Opfertod der Burschen freuen. Als Mulatte trage ich aber auch das Odium, dieses Ende aus Eifersucht gewünscht zu haben und mich am Anblicke des Gekreuzigten vielleicht sogar zu weiden, wie seinerzeit Arno als Maler sich am Tode seines gekreuzigten Ge- hilfen erfreut. Max empfindet die Analyse insgeheim als ein wenig peinlich. Der Ausdruck ‚auch Nero“ erinnert an ‚die brennenden Fackeln des Nero‘, woselbst Arno als Maler die Rolle des Zuschauers spielte. Nehmen wir hinzu, daß Arno auch als Nero ausführlich gekenn- zeichnet wurde (grausam, eitel, Dichter, Schauspieler), so werden wir vermuten dürfen, daß auch jetzt der römische Kaiser den Knaben repräsentiert, zumal der Vater außer seiner Würde mit Nero nichts gemein hat. Der Vater kann doch dahinter stecken, indem er und Nero sich aussprachen undnäher kamen. Soerklärtsich auch die Unsichtbarkeit Neros. Für eine wenig beteiligte Mischperson mußte keine sichtbare Figur geschaffen werden.)

[Moschee.] Nichts. Doch! Der Ausrufer auf dem Turme. Das . Bild entschwindet mir, wie wenn es nicht hervorkommen wollte. Wahr- scheinlich, weil die Geschichte schon mitgeteilt ist.

[Pantoffel.] Herr Huber bestach einen Aufseher und betrat in Pantoffeln eine Moschee. Mit Schlauheit kommt man überall durch.

[Reise.] Nach Mekka. Ich sehe wieder die Eisenbahn, die im Abendrot durch Afrika fährt. (Die früher erwähnte Bahn kam von Indien her. Die Erinnerung an Herrn Hubers Reise hat die Szene ver- schoben. Der Komplex des Hasses gegen Herrn K. ist noch nicht völlig abreagiert, deswegen erscheint die Bahn noch einmal, er ist aber, so kann man vielleicht vermuten, bald erledigt, darum das Abendrot.)

[Blind.] Wieder das mit dem glühenden Stein (Herr K.).

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 1693

[Blödsinn.] Es ist ein Blödsinn, sich blenden zu lassen, um Gott besser zu gefallen. (Bezieht sich vielleicht noch ein wenig auf Pfarrer P., der mit Herrn K. vermischt wird, vgl. oben „blödsinniger Ausrufer‘“.)

[Arbeit.] Man sollte lieber arbeiten, dann gefällt man Gott und erreicht sein Ideale.

[Belohnung.] Das ist dann die Belohnung für die Arbeit.

[Himmel.] Man braucht sich dann nicht vor der Hölle zu fürchten.

[Schwester und Bruder.] Die Mohammedaner stellten sich vor, Himmel und Erde seien Bruder und Schwester. Zur Strafe wurden sie auseinander gerissen. Ich und Arno. (Homosexueller Anklang.) Wenn man nicht gegen die Hölle kämpft, so wird man auseinander geführt. (Ich hatte aus der australischen Kosmogonie erzählt, Regen und Tau bedeuten die Tränen, welche die wegen eines Unrechtes getrennten Geschwister Himmel und Erde aus Sehnsucht nacheinander ver- gießen. Die Liebe zu Arno bricht somit hier recht kräftig hervor.)

[Germanen.] Die Germanen glaubten an Walhalla.

[Walhalla.] Dort werden dem verwundeten Ritter die abgehauenen Glieder wieder angesetzt. Ich sehe ihn nicht. Höchstens St. Georg von Dürer. Er und sein Pferd tragen Rüstung, er sitzt stramm im Sattel, genau wie im Bilde. Das Gesicht sieht man nicht. Der Schnurrbart ist schwarz. [Das reimt sich doch nicht!] Es fiel mir eben so ein. Die Figur ist schlank und groß. Pfarrer P. Nein, Sie können es nicht sein, ich dachte nicht mehr an Walhalla. (Es handelt sich um den Bruder.) Auf einem Bilde sah ich vor 1 bis 2 Jahren, wie zwei Könige miteinander turnierten. Der eine von ihnen, Heinrich IV. von Deutschland, wurde an der Stirne verwundet. (Arno hat vor etwa zwei Jahren Max absichtlich ein Loch in den Kopf geschlagen. Protestantische Monatshefte 1909, 21. Die Könige sind Arno und Max.) Er trug ein Bocksbärtchen, aber kein spitziges. Jetzt sehe ich wieder ein anderes Bild, auf dem das- selbe dargestellt wird, wieder König Heinrich, aber er ist ein anderer, obschon er genau gleich aussieht. Er trägt einen Degen in der Hand und kämpft gegen fünf oder sechs Feinde. Er ist groß, schlank, seine Augen sind schwarz. Er sieht ungefähr aus wie der Bruder des Malers. Ich bin’s.

(Die beiden Könige sind Arno und Max. Der eine von ihnen, der wegen des Bocksbärtchens mit dem Gehilfen des Malers, also Max, zu identifizieren ist, erscheint zuerst als Verwundeter, der von seinem Bruder, dem andern König, verletzt wird, sofort aber als ein anderer Mensch, der nicht mehr mit dem Bruder, sondern mit fremden Feinden

441%

164 Oskar Pfister.

siegreich kämpft. Dabei hat Max die Statur des Bruders angenommen, um sein Einssein mit ihm auszudrücken.)

[Eskimo.] Er denkt sich das Jenseits als Polarlandschaft voll Eisbären.

[Eisbären.] Wo sie sind, kann man prächtig Schlitten fahren.

[Schiff.] Eingefroren. Andr &e wollte auch in der Polargegend zu landen versuchen. Ich sehe sein Brustbild, die schwarzen Augen, den Sehnurrbart, die energischen Züge. Es ıst Pfarrer P.

(Der scheinbar in der Luft schwebende Ausrufer verwandelt sich in den unglücklichen Luftschiffer.)

[Es fällt mir auf, daß dein Bruder nie deutlich hervortrat.] Wir kommeneben so gut miteinander aus, daß gar keinEindruck zurückbleibt. Arno ist jetzt sehr artig mit allen. Ich bemerkte vorher jeden Tag, daß mich etwas drückte. Ich meinte, es wäre ein Stein. Jetzt ist dies ganz verschwunden. Ich fühle mich als andern Menschen.

Achte Sitzung, 15. Jänner 1909,

Der Versuch, über den Sektierer und Heinrich IV. mehr zu er- fahren, mißlingt. Max berichtet: „Es wird immer schwieriger, etwas zu den Worten, die ich aneinander füge, zu finden. Es geht einfach nicht mehr. Es ist, wie wenn es fertig wäre. Wir haben zwar lange nicht alle aufregenden Bilder und Bücher, die ich kennen lernte, besprochen. Allein sie kommen mir nicht mehr in den Sinn. Im Anfang hatte ich das Gefühl, daß die Bilder von selbst aus mir heraussprangen. Natürlich ist mir dabei wohl geworden, das ist klar. Sobald man aber denkt, es sel nicht mehr nötig, ging es schwerer. In den letzten Stunden war der Drang nach Befreiung nicht mehr so stark, darum wurden mir die Antworten unangenehm.‘ Daher also die schlechte Behandlung des Analytikers!

Im Wachbewußtsein anerkennt übrigens der Knabe willig den hohen Wert der vollzogenen Analyse.

[Was hast du bis jetzt aus unseren Beobachtungen gelernt?] Er- stens können aufregende Bücher und Kinematographenbilder einen ganz ruinieren. Sie lassen starke Eindrücke zurück, die man fast nicht mehr aus sich heraus bringt. Der geringste Streit in der Familie ver- wandelt sich unter dem Einflusse jener Bilder in Gift und Galle, so daß der Zwist vergrößert wurde. [Kamen dir die Bilder während des Streites in den Sinn ?] Doch, doch! Nicht im Augenblicke des Streites, aber gleich

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 169

nachher. Ich sah dann gewöhnlich Arno als ertrunken oder als über- fahren. (Max behauptet, einmal nach Schluß der eigentlichen Sitzung von einem Bahnwärtermädchen erzählt zu haben, das überfallen und auf die Schienen gebunden, aber von einem Zugführer gerettet wurde. Ich kann mich dieser Phantasie jedoch nicht entsinnen. Die Be- sprechungen während der Sitzung wurden wörtlich nachgeschrieben.)

Zweitens habe ich gelernt, daß man die häßlichen Bilder nur mit Hilfe der Analyse entfernen kann. Letztere ist so stark, daß die Romane und schauerlichen Bilder keine Macht mehr haben, um zur Lektüre der Romane und zum Besuche der Buden zu verführen.

Drittens weiß ich jetzt, daß es doch schön ist, wenn man in Frieden und ohne Zwietracht leben kann. Jetzt habe ich Freude an der Religion, an den Freunden und an der Schule. Von der Onanie weiß ich mich frei. Ich fühle mich jetzt vollkommen glücklich und leicht.

Die Phantasien der sechsten und siebenten Sitzung ordnen wir in

Tabelle B (Phantasien im Stadium der Versöhnung). Sechste Sitzung.

a) Phantasien über Arno: l. Er leidet an Weltschmerz (keine Phantasie). . Er erscheint als sterbender Taucher, aber hinter einer ganz schwarzen Wand. 3. Er erlebt mit Berta zusammen lustige Abenteuer im Automobil und wird von den Lehrern nur angehalten, nicht bestraft. 4. Er fliegt in einem Ballon auf, welcher platzt, rettet sich aber mit Hilfe des Fallschirmes. 5. Er geht als Lord von Edenhall unter. 6. Er endet an der Seite Andre&es am Nordpol. 6) Sieh selbst bedenkt Max mit folgenden Einfällen: 7. Er litt an Weltschmerz: (Sympathie mit Arno, keine Phantasie). 8. Er sieht sich noch einmal im Bilde des Tauchers als den Mörder seines Bruders (Tränen im Auge). 9. Er sieht, wie ein Teller, den er entwendete, ausgegraben wird. 10. Er geht als Gefährte Andrees und seines Bruders zugrunde. c) Phantasie über den Vater: ll. Er trägt als Automobilist große Siege davon. d) Von der Mutter träumt Max in dieser Sitzung nichts. e) Pfarrer P.

166 | Oskar Pfister.

12. Er wird als Bismarck- und St.-Georg-Statue aus den Ruinen von Pompeji ausgegraben.

13. Er findet als Andr&e einen ehrenvollen Märtyrertod. f) Arnos Freund Brutus

14. avanciert zum harmlosen ‚„Zuluindianer‘ und wird damit Bertas Gatten gleichgesetzt. g) Berta besitzt einen guten Gatten (keine Phantasie). h) Arnos Lehrer

15. werden mit krummen Beinen geschmückt.

Siebente Sitzung.

a) Bildliche Darstellungen Arnos.

16. Er erscheint als Gekreuzigter in der aus ihm und Arno zusammen- gesetzten Mischfigur, sein Kopf ist verdeckt. Als Nero wohnt er unsichtbar der Szene bei.

17. Er ist der Himmel (oder die Erde) und weint über die Trennung vom Bruder. |

18. Er erscheint als St. Georg sowie als königlicher Gegner, der in ritterlichem Turnier verwundet, zu glorreichem Gefecht aber nicht mehr nötig ist, da andere Partner auftreten.

b) Erinnerungen an sich selbst:

18a. Er traf die Tochter eines Grönlandfahrers.

185. (Indien.)

19. Er überwindet ein Walroß (Onanie).

20. Er teilt mit Bruder und Pfarrer den Kreuzestod.

21. Er weint als Erde (oder Himmel) über die Ferne des Bruders.

22. Er tritt auf als mit seinem Bruder harmlos turnierender und siegreich kämpfender König Heinrich IV.

c) Der Vater zeigt sich nicht mehr deutlich.

23. Seine Anwesenheit in der Gestalt des Nero wird nur noch gefühlt. d) Die Mutter

24. wird zur grausamen Hexe.

e) Pfarrer P. wird übel hergenommen:

25. Er peinigt sich seinem Glauben zulieb als brauner Sektierer; vielleicht auch: er läßt sich blenden, um Gott besser zu ı gefallen. (Identifikation mit Herrn K.)

26. Er tritt als Mulatte, der einer Kreuzigung zuschaut, in die Rolle des grausamen Malers, der sich am Tode seines Opfers weidet, und (vielleicht) in die Stellung des Gatten der geliebten Berta.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 167

27. Er erscheint unklar entschwindend in der Figur des Ausrufers,

28. Er wird von St. Georg, mit dem er in der sechsten Sitzung iden- tifiziert worden war, unterschieden.

29. Er gelangt als Andr&e ins Eskimojenseits. f) Herr K. kommt übel davon:

30. Er stirbt an geblendeten Augen.

31. Er leistet Frondienste beim Bau einer Wüstenbahn.

32 und 33. Beides klingt nochmals an.

g) Lehrer Huber wird in keine Phantasie einbezogen. Es ist lediglich von seiner interessanten Reise sowie seiner Klugheit und Energie die Rede.

h) Berta 34. erscheint noch einmal, indem sie vor einem gequälten religiösen

Fanatiker in Ohnmacht fällt, wird aber durch mehrere Mulatten

(Anspielung auf ihren Ehemann) entschädigt. Ein Trost liegt auch

in der leisen Anspielung auf ihre Gleichsetzung mit Maria, der Mutter Jesu.

II. Die psychologischen Veränderungen bei der Versöhnung.

I. Bearbeitung der Phantasien.

Wir stellen zunächst die Transformationen der Wachträume in systematischer Anordnung zusammen.

Tabelle C (Tropen der Transformation). A. Veränderungen auf gleichbleibendem Funktionsniveau. I. Mit Beibehaltung der früheren Szene:

a) Derselbe Deutlichkeitsgrad mit Konversion: A21. Der mordende Taucher. BS8. Dasselbe Bild; Tränen.

b) Das vorige Bild abgeschwächt: A 36. Der Pfarrer als Ausrufer. B 27. Entschwindend.

II. Mit Veränderung der früheren Szene:

a) Verhüllung des peinlichen Bildes: AS8. Arno als sterbender Taucher. B2. Hinter einer schwarzen Wand.

168 Oskar Pfister. b) Abbruch der Phantasie vor dem tragischen Ausgang: AT. Arno als sterbender Kapitän. Vierte Sitzung Nr. 2: als gefähr- deter Kapitän. c) Verwandlung der tragischen Figur in eine ihr ähnliche nicht- tragische: A4. Arno als Alarich im Busento. B18. Als St. Georg. A8. Arno als sterbender König. B18. Als turnierender König. d) Ersatz der früheren schädlichen Handlung in eine ähnliche mit harmlosem Ausgang. (Zugleich Disjektion.) A 6. Arnos Sturz ausder Schleifen- { B4. Arnos Rettung mit Hilfe des bahn. Fallschirmes. B3. Sein Flug um Saturn und auf die Erde im Automobil. e) Verzeichnung ins Komische. ce) Umdeutung der unangenehmen Erinnerung in eine un- schuldige Karikatur: Vierte Sıtzung. Die Lehrer wollen B15. Sie lassen ihn als krumm- Arno sitzen lassen. beinige Polizisten passieren. ß) Derselbe Vorgang mit Verdichtung. A6. Arno als Velofahrer in der Schleifenbahn. A 9. Arno als toll den Wagen len- {| B3. Er kreist im Automobil um kender Caligula. | den Mond.

B. Veränderungen mit Sublimierung. I. Mit Hilfe der Verdichtung. A13. Arno auf dem Eise verun- ]) B6. Arno stirbt als Begleiter An-

glückt. drees in eisiger Gegend. 16. Als Flüchtling tot in Sıbirien

geschleift. 25. Max als fliegender Holländer. | 10. Max endigt neben ihm nach 26. Als mit Arno zusammen- einem Flug durch die Luft.

geketteter sibirischer Flüchtling in Gestalt des Herrn K.

35. Der Pfarrer als blödsinniger | 13. Der Pfarrer geht als Märtyrer auf dem Turme in der Luft der Wissenschaft in Gestalt schwebender, sich in guter Ab- eines Luftschiffers zugrunde. sicht verzehrender Ausrufer.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 169

10. Arno als Nero, ] B 16. Arno ist als Nero unsichtbarer 11. als Maler, der seinen Gehilfen Zeuge einer Kreuzigung, er ist und sein Modell kreuzigt. also nicht vom schwarzen Skla-

ven (Max) ermordet; er wird 16. ähnlich dem Heiland und ge- meinsam mit 22. Max, der als Gehilfe des Malers | 20. Max gekreuzigt. gekreuzigt wird. 25. Max, der als schwarzer Sklave Nero ermordet. 39. Berta, die als Modell ge-

34. Berta fällt vor einem sich aus

kreuzigt und religiösen Motiven opfernden 40. als Betrachterin des ihren Fanatiker nieder; an Stelle des Bräutigam darstellenden Ge- Fanatikers erscheint der ge- mäldes in Ohnmacht fällt. kreuzigte Heiland, so daß Berta

das Aussehen der Maria erlangt.

26. Der Pfarrer übernimmt als Mulatte die Rolle des sich an den Qualen seines Opfers weidenden Malers Arno, als Mulatte die

des schwarzen Sklaven Max,

| der den Bruder (Nero) ermordet.

Il. Mit Hilfe der Disjektion.

A 35. Der Pfarrer stirbt als blöd- { B12. Der Pfarrer als Bismarck, sinniger, den Mund lautlos öff- d. h. geistreicher, kraftvoller

nender, auf einem Turme schwe- Redner, sowie bender Ausrufer, indem er sich | 13. als Luftschiffer, der sich für für eine törichte Sache wegwirft. die Wissenschaft opfert.

Weitaus die meisten Phantasien, die im Stadium des Hasses (Tabelle A) hervorsprangen, erfuhren im Zeichen der Versöhnung eine rückläufige Bewegung, nämlich bezüglich Arnos die Nummern 2 (2)!), 3, 4 und 5 (18), 6 (3, 4), 7 (Vierte Sitzung, 2), 8 (18), 9 (3), 10 (16), 11 (16), 12 (14), 13 (6), 14 (Fünfte Sitzung, a, 2), 16 (6).

Unerledigt blieben einzelne Teilstücke in 9 (der Wahnsinn), 10 (der braune Sklave), ferner ganz die Nummern 1, 15, 17 bis 20,

1) Die eingeklammerten Zahlen bezeichnen die korrespondierenden Bilder in Tabelle B.

170 Oskar Pfister.

Einige dieser Phantasien wurden später umgearbeitet, nämlich 1 und 9 (der Wahnsinn Arnos). (Siehe unten, Seite 175.) Nr. 15, 17 und 19 gingen keine Veränderung ein, weil die Stellung zum Vater auch nach der Versöhnung mit dem Bruder ungünstig blieb. Aus Nr. 17 wurde nur die Schläfrigkeit der Schildwache zurückgenommen. (Siehe gleichfalls unten, Seite 176.) Der braune Sklave (10) geht auf Max und ist dort zu untersuchen. Gänzlich unbeachtet scheinen nur die Bilder 18 und 20 zu bleiben.

Auch auf sein eigenes in Wachträumen beschriebenes Geschick kommt Max meistens zurück: 21 (8), 22 (16), 23 (10), 24 (schon in A. Pompejus in Pompeji abgeschwächt. Die auf der Hand liegende Deutung muß verschwiegen werden), 25 (16), 26 (der sibirische Flüchtling) (10). An Stelle des braunen Sklaven (A 10) erscheinen zur Abschwächung Brutus als ‚‚Zuluindianer‘ (B 14), der Pfarrer (26) und andere Mulatten (26); vielleicht dient auch (B 9) die Ausgrabung des gestohlenen Tellers dazu, vom -Brudermord aus Habsucht abzulenken. Aus 26 restiert Max als Anarchist. 27 (Max rettet des Vaters Leiche) konnte nicht um- gewandelt werden, da die Stellung der Brüder zum Vater ungefähr gleich blieb.

Der Pfarrer wurde rehabilitiert: 36 (12, 13, 25, 27). Allein die antipathische Übertragung spricht deutlich aus den sublimierten Bildern. Die steigende Erbitterung des subliminalen Bewußtseins drückt sich darin aus, daß seine in der sechsten Sitzung vollzogene Identifikation mit St. Georg in der siebenten Besprechung zurück- genommen und der Ausrufer (A 36) zum fanatischen Sektierer (B25) wird.

Die auf die Mutter (A 33 bis 34), Keller (A 38), Herrn K. (A 41 bis 42) und den Arzt (A 43) bezogenen Vorstellungen erfahren keine erneute Würdigung, weil der ihnen zugrunde liegende Komplex in ungeminderter Virulenz verharrte.

Dagegen würdigt der Träumer die Berta gewidmeten Tableaux einer Transformation: 39 (34), 40 (16, 20).

Gänzlich neu gebildet wurden die Phantasien:

B5. Arno stirbt als Lord von Edenhall. Der Grund dieser sadi- stischen Vorstellung liegt darin, daß Max seinem Bruder den Verdacht auf Leichtsinn verschwieg (Verdrängung). |

B9. Max sieht die Ausgrabung eines von ihm gestohlenen Tellers. Ein Zusammenhang zwischen dieser Szene und den Rachephantasıen besteht darin, daß Max zuvor als habsüchtiger Mörder (A 21) und lüsterner Erbe auftrat (Geständnisse in der zweiten Sıtzung, Schluß, und vierten

Analytische Untersuchuugen über die Psychologie des Hasses usw. 171

Sitzung a, 2). Doch liegt hier ein relativ selbständiger Komplex vor, erzeugt durch Eigentumsdelikte,

B19. Max bezwingt ein Walroß. Hier tritt der Masturbations- komplex auf.

B 17. Die Brüder als Himmel und Erde, die sehnsüchtig umeinander trauern. Vielleicht ist auch dieses Bild nicht ganz neu, sondern eine Umwandlung von A2 und 21, wonach Arno als Mörder in der Gestalt des reichen Mannes in die Hölle kommt. Lazarus, der schon in der Assoziationsreihe vorkommt, wäre natürlich der ausgeplünderte Arno. Doch erlaubte der Haß damals noch nicht, die Vorstellung der himm- lischen Seligkeit dieses Lazarus ins Bewußtsein treten zu lassen. In der Konsequenz der jetzt produzierten Szene läge also die harmloseTrennung der Brüder in der Höhe (Himmel) und der Tiefe (Erde, statt Unterwelt).

B1l. Der Vater als Automobilist drückt seine Annäherung zu dem früher von ihm innerlich getrennten Arno aus, somit einen neuen Gedanken. Eine Aussöhnung der beiden hat jedoch nicht stattgefunden, ihre Gesinnung ist noch ungefähr dieselbe, wenn auch die Spannung gemildert wurde.

B24. Die Mutter als Hexe, B30. Herr K. als von ihr geblendet £

und umgebracht drücken den gesteigerten Haß aus. B 31 bıs 33. Herr K. als Fronsklave

Aus den angegebenen Transformationen und Neubildungen können wir nunmehr das folgende für die Psychologie des Hasses und Versöhnung wichtige Gesetz ableiten:

Bei Verschärfung bedient sich der Haßkomplex zum Zwecke der Befriedigung in Wachphantasien immer neuer Bilder. Ob dies nur in unserem Schulfalle oder überhaupt die Regel ist, läßt sich hier nicht entscheiden. Weitere Erfahrung bejaht die Frage.

Bei der Versöhnung dagegen kehren die früheren Phan- tasien wieder, jedoch entweder unverändert verblaßt, re- spektive von Konversionszeichen begleitet oder in einer Umarbeitung, welche ihnen nach den Gesetzen der Traum- bildungden vormals peinlichenCharakterdurch Umdeutung auf gleichem oder sublimiertem Funktionsniveau nimmt.

Sofern wir bei dieser Arbeit das Bestreben erkennen, die früheren als unstatthaft und bedauerlich empfundenen Wunschphantasien zurückzunehmen, beobachten wir den Einfluß der Reue.

172 Oskar Pfister.

Die Umarbeitung der Phantasien nach der Versöhnung hat die Natur einer Kompensationsbildung. Die von der Analyse aufgeklärten Haßträume boten Befriedigung, indem sich in ihnen der Rachedurst kühlte. Das Gewissen konnte keinen Einspruch erheben, da es den wahren Sinn der Charaden nicht verstund. Durch die Analyse belehrt, verwirft es die ganze Phantasie und damit die unterschwellige Lustgewinnung, deren Verlust nun gedeckt werden muß. Dies geschieht dadurch, daß der Träumer auf die einst subliminal lustvolle Betätigung zurückkommt und durch Umdeutung usw. vorgibt: In Wirklichkeit war es nicht se, wie du irrtümlich aus den Phantasien herauslasest, sondern so und so. Die Versöhnungsphantasien geben sich dem Unterbewußtsein als Berichtigung früherer Irrtümer, und zwar die gleichstufigen durch einfache Zerstörung eines nichtigen Wahnes, durch Abschwächung oder Parodierung, die sublimierten durch ideale Überbietung. Da die Rachephantasie aber immerhin dem Rachetriebe Befriedigung bot, bedeutete eine nur gleichstufige Transformation Preisgabe einer lust- vollen Betätigung. Damit kann sich der psychische Organismus nicht zufrieden geben. Er muß einen Ersatz gewinnen. Die in der Versöhnung zutage tretende Sublimierung erweist sich somit als eine Kompen- sation, die im Bedürfnis der Selbsterhaltung begründet liegt.

Zu den mehrwertigen Neubildungen gehören besonders die Vor- stellungen vom Gekreuzigten und Andr&e. Beide enthalten abermals sadistische und masochistische Züge, aber in einwandfreier Ausprägung. Schön ist’s ja, daß der ehemalige Gehilfe zu grausamem Mord sich in der Weise Jesu kreuzigen läßt, erhebend, daß der einstige Terrorist sich mit dem früheren Spießgesellen neben Andree, dem Märtyrer der Wissenschaft, opfert usw. Allein wir verhehlen uns nicht, daß auch in diesen Reaktionen, die wir als Sühne bezeichnen, die nämlichen Sexualkräfte liegen wie in den primären Sadismen und Masochismen, nur jetzt sublimiert. Von hier aus erweist sich das Sühnebedürfnis überhaupt als Kompensationserscheinung auf sublimiertem Niveau. Bei grausamer Sühne springt die sexuelle Bedingtheit nur zu deutlich in die Augen.

2. Die Bedeutung der Phantasien und ihrer Analyse für das sittliche Verhalten.

Um die Frage zu prüfen, welche Bedeutung die hervorgelockten oder spontan geäußerten Wachträume im Gesamtleben unseres Ana-

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw, 173

Iysanden besitzen, erinnern wir daran, daß dieser einerseits angab, unter einem bösen inneren Drange zu stehen, anderseits die unschönen Bilder als eine aufdringliche Belästigung empfand. Ohne Zweifel haben wir es also mit den Manifestationen verdrängter Wünsche zu tun, die wegen ihrer Verwerflichkeit auf der Bildfläche des Klarbewußtseins nicht erscheinen durften, und zwar spiegelt sich in den Phantasien der Inhalt jener vor dem Gewissen verborgenen Begierden mit großer Deutlichkeit. Noch überzeugender trat dieser symptomatische Wert der Wachträume ım späteren Verlaufe der Analyse hervor, als Max mit seinem Bruder ausgesöhnt zu sein glaubte, aber eine Reihe neuer Mordphantasien produzierte. (S. unten.)

Wenn nun äußerer oder innerer Zuspruch den Haß bekämpfte, stellte sich der böse Trieb dem Angreifer nicht in seiner wahren Gestalt. An seiner Stelle befand sich eine harmlose oder fatale Episode mit un- bekannten Personen. Durch die Allegorie erlangte somit der Komplex den Vorteil, sich auswirken zu können, ohne der Gefahr des Entdeckt- werdens ausgesetzt zu sein. Meine Ermahnungen verfehlten ihr Ziel, weıl der Komplex nicht bloßgelegt wurde und die Anklage des eigenen sittlichen Bewußtseins nur auf Beobachtung einzelner relativ harm- loserer äußerer Symptome, lästiger Erinnerungen, bitterer Gefühle, nicht auf Kenntnis der schwerwiegenden subliminalen Delikte, der sadistischen Rachewünsche, fußte.

Wie die Wachträume den Haß in sicherer Hut beschirmten, so wußten sie ihn zu schüren. In erster Linie regten grausame Kine- matographenbilder und Schauergeschichten den Komplex an und reizten sein Gelüsten. In dieser Wirkung ruht die größte Gefahr derartiger Hlaborate für das sittliche Verhalten. Aber auch harmlose Bilder aus dem Unterrichte in Geschichte, Geographie und Religion mußten sich zu erwünschter Speise für die Haßbegierde umformen lassen. So mußte sich denn der dunkle Drang mehr und mehr ausbreiten und verstärken.

Gleichzeitig geriet der Rachsüchtige in immer tiefere Isolation. Er bewahrte das Geheimnis seines glühenden Hasses mit Hilfe der ob- sessionsartig auftretenden als unheimlich betrachteten Phantasien mit immer gesteigerter Sorgfalt, um nicht als Scheusal angesehen zu werden. Je mehr er sich nach außen abschloß, desto üppiger wucherte seine Libido im Sinne des Haßkomplexes. Nach Freud liegt die Isolierung von der Welt in der Tendenz jeder psychoneurotischen Störung!). Jung

1) Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, Bd. I, 410.

174 Oskar Pfister.

faßt in einer brieflichen Mitteilung diesen Prozeß in die Formel: ‚Der Komplex verhindert Übertragungsmöglichkeit, somit psychologische Anpassung, und hemmt auf diese Weise den Arterhaltungsinstinkt (Unterabteilung Sozietätstrieb) überhaupt; er isoliert den Menschen und schafft auf dem Wege des Circulus vitiosus introversio lıbidinis.‘

Die Analyse wirkte gegenüber den Wachträumen ebenso wie gegenüber den Obsessionen, Phobien, hysterischen Defekten u. dgl. Sie zog die verdrängte Vorstellung in ihrer wahren Gestalt ins Bewußt- sein, der Eindruck des Analytikers verstärkte den spontanen Widerstand gegen sie, das Kompromißgebilde der Phantasie mußte weichen, da es seinen listig verfolgten Zweck nicht mehr erfüllte. Der Haß wurde dereagiert, während die früheren Ermahnungen ergebnislos hatten verlaufen müssen. Die erhebliche moralpädagogische Wirkung der Analyse tritt auch hier deutlich hervor.

Um so bemerkenswerter ist der Umstand, daß die früheren Phan- tasıen umgearbeitet wurden. Die Kontinuität des geistigen Lebens kommt indiesen rückwärts gewandten Bemühungen schön zum Ausdruck.

Dieser Sachverhalt zeigt aber auch, daß der Analyse nur die negative Aufgabe zufällt, vorhandene Hemmungen zu beseitigen. Die neue Triebrichtung muß angebahnt werden durch bereits vor- handene Kräfte. Wo sie fehlen, kommt das Resultat eines neuen, ethisch höherwertigen Wollens nicht zustande. Darum hat die Analyse bei ethisch Imbezillen nur den theoretischen Wert, ihre Handlungsweise verständlich zu machen. |

Allein schon die befreiende Tätigkeit der Analyse ist bei ethisch Normalen von großer Bedeutung. Neben den angegebenen Wirkungen kommt ganz besonders eine in Betracht. Jung beschreibt sie mit dem Satz: „Durch Dereaktion wird Übertragung geschaffen und so das Individuum wieder in die Herde aufgenommen. Ein gemeinsamer Komplex ist kein Komplex (geistliche Orden, Klöster usw.). Durch Mitteilung wird der Komplex uninteressant.“

Selbstverständlich kann die Analyse nicht verhindern, daß neues traumatisches Material eintrifft und den Haßkomplex erneuert. Allein es wird wenigstens im ethisch gesund beanlagten Individuum durch die Mitteilung an einen als sittlich geachteten Hörer die Sehn- sucht nach einem von Haß gereinigten Modus vivendi geschaffen. Ist eine solche äquivalente oder supervalente Kompensation unmöglich oder wird sie bald gehemmt, so ist an Dauererfolg nicht zu denken.

Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw, 1798

Im Falle Max wurde eine erhebliche Besserung der brüderlichen Beziehungen erzielt. Beide Knaben kamen einander innerlich nahe. Eine auffallende Herzlichkeit herrschte einige Wochen oder Monate vor. Allein mißliche Familienverhältnisse, Müßiggang, schlechte Gesell- schaft, Geldmangel, die Gereiztheit der Mutter, die eine Denunziation von seiten ihrer Söhne befürchtete, und andere ungünstige Faktoren schufen eine Atmosphäre, die den Bund der Brüder stören mußte. Die Stellung zum Analytiker blieb bis zur Stunde, wie die Briefe aus der Ferne verraten, herzlich.

Am 14. und 15. April, am 24. Mai und am 3. Juli, dem Tage der Abreise, fand sich Gelegenheit zu analytischen Besprechungen. Dabei kam der Haß wiederum deutlich zum Vorschein, besonders am 14. April, wiewohl abends zuvor eine neue Versöhnung ein- getreten war, die angeblich alle früheren Friedensschlüsse übertraf. Die bösen Wünsche traten jedoch weit zahmer als früher auf: Arno fällt ‚vielleicht‘ bei einer Schiffahrt um, wobei er oben, Max unten zu liegen kommt, er erscheint als Kapitän eines lecken Schiffes, doch ist das Bild verwischt, er zeigt sich: auf einem Lift (Anspielung auf den Luftschiffer Arno), er erscheint ganz weiß als Gekreuzigter, ferner als Mörder des Lords von Edenhall (den diesmal Max repräsentiert, also Personenvertauschung), als Chauffeur im Auto- mobil, doch ohne Berta, und endlich geht er mit brennender Zigarre in den Benzinkeller, wobei vielleicht ein Unglück geschieht und vielleicht ein Toter unter dem Schutthaufen liest (vgl. B 12). Dann tritt er als Wilderer an der Seite seines Spießgesellen Max auf. (Beide hatten in der Tat etwas entwendet.) Die Analyse wurde aus Zeitmangel nur oberflächlich aufgenommen.

Tags darauf phantasiertte Max: Das Automobil verschwindet hinter einer schwarzen Wand, im versinkenden Schiffe sitzt Arno unten, Max oben, doch erreicht es den Strand usw. Sodann setzt eine große Phantasie ein, in welcher ein Astronom, Mephistopheles, ein Edelknabe (das Brüderchen) und Feen, die aus den Sternen hervortreten, eine Szene aufführen. Die Analyse dieses Wachtraumes konnte in Kürze nicht durchgeführt werden, da die unklare Situation während der Besprechung wechselte und an Farbe verlor, ähnlich wie Schlafträume bei längerer Analyse verblassen. Öfters schien es, als sollte in der Figur des Ge- lehrten oder seines Versuchers die Geisteskrankheit Arnos (A 1) revoziert werden. Max spielte dann den Braven, der den vom Bruder dargebotenen Gifttrank der Verführung zurückwies.

176 Oskar Pfister.

Am 24. Mai erschien Arno beim Reizwort ‚Saturn‘ als verführt von einem „Satur‘ oder ‚Satan‘, und zwar vom Geschlechtsteufel, der dann auch als grüne Schlange vor ihm als Naturforscher auftrat. Doch wurde Arno von einem Soldaten gewarnt, der zuerst die Züge des Pfarrers, dann deutlich die Arnos annahm (vgl. A 17, die schläfrige Schildwache). Hierauf erschien er zusammen mit Berta, doch nicht mehr im Hemde, sondern im Sportskleid, auch nicht mehr so zärtlich wie früher, bis eine schwarze Wand die beiden zudeckt.

Sich selbst schilderte Max außerhalb der erwähnten Bilder als Graf Zeppelin (vgl. B 10), als Bruder des unvorsichtigen Rauchers (beides am 15. April). Als Naturforscher will er sich einer Fee nähern, doch verwandelt sie sich in eine alte Hexe. Dahinter steckt eine Neigung zu einem Mädchen, dessen Mutter sein Töte-ä-töte öfters störte. Das Bild der gewünschten Schwiegermutter wird so von der Mutter her übernommen.

Der Vater figurierte als Richter über die beiden Wilderer (15. April).

Die Freunde kommen als Verführer zum Vorschein.

Wir begegnen somit auch noch einige Monate nach der Analyse den Ausläufern der einst quälenden Phantasien. Dies fällt um so mehr auf, als Max erklärte, die früheren Bilder vergessen zu haben. Man übersehe nicht, daß eben die ganze Analyse von Anfang an sehr unvoll- ständig war und die sekundären Determinanten großenteils aufzustöbern unterließ. Auch konstellierte die Person des Analytikers zugunsten der alten Gebilde. Ferner drängen Triebhemmungen in diesem Falle Störungen der brüderlichen Liebe immer wieder in verlassene Kanäle zurück. Bevor die Analyse durchgeführt werden konnte, verreiste Max für immer.

3. Der Wert unserer Untersuchung für die ethische Beurteilung des Hasses und der Versöhnung.

Die beiden Begriffe, deren psychologische Unterlage wir in einem speziellen Fall zu analysieren versuchten, pflegen in den Lehrbüchern der Ethik nicht näher geprüft zu werden. Sogar die neueren Werke von Wundt, Paulsen und Höffding schweigen sich über den wichtigen Gegenstand aus. Und doch ist es eine selbstverständliche Aufgabe, die für das individuelle und soziale Leben so überaus wichtigen Vor- gänge ethisch zu bewerten. Unsere Arbeit ermöglicht uns, wenn auch nicht überraschende Neuheiten, so doch empirisch erhärtete und auf

Analytische Uutersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 177

sonst meist verborgene Tiefen der Seele zurückgreifende Wertaussagen zu geben.

Für die ethische Würdigung des Hasses kommen folgende Beob- achtungen in Betracht:

1. Verarmung der Persönlichkeit durch einseitige Richtung und Festlegung des Interesses. Der Komplex wendet das Augenmerk mit monotoner Hartnäckigkeit den Stoffen zu, die ihm Beschwichtigung gewähren und präpariert sie zum Zwecke der Be- friedigung. Wir sahen, wie die verschiedensten Lebensgebiete vom Haß beschlagnahmt wurden, um ihn zu speisen.

2. Entgeistigung der Persönlichkeit durch wachsende Abhängigkeit vom dunkeln Drang. Die Gefahr nimmt überhand, daß der Mensch, teils in anhaltender Mißstimmung, teils in explosiven Enntladungen des Jähzornes seine Unfreiheit bezeuge. Max fühlte diese unheimlichen Gewalten deutlich in ihrem Zusammenhange mit den Phantasien.

3. Willenslähmung durch den unentschiedenen Wider- streit zwischen dem Hasse einerseits, der Liebe oder Furcht

anderseits. Zur Geltung gelangt Freuds Satz: ‚Steht einer inten- sıven Liebe ein fast ebenso starker Haß bindend entgegen, so muß die nächste Folge eine partielle Willenslähmung sein, eine Unfähigkeit zur Entschließung in all den Aktionen, für welche die Liebe das treibende Motiv sein soll!).“.

4. Verflüchtigung sittlicher Energie in unproduktives Träumen. Die widerspenstigen Bilder vertreten bei unserem Ana- Iysanden wie bei der Zwangsneurose Taten. Dadurch wird der Hasser zum Hamlet, seine Kraft verpufft in bloßen Wünschen.

5. Sadistische und masochistische Sexualisierung des Hasses. Indem er sein Geheimnis in die mannigfaltigsten Erlebnisse hineinträgt, breitet sich die Vernichtungswut im seelischen Organismus Immer weiter aus.

6. Wachsende Isolierung der Persönlichkeit. Durch die komplexbedingte Involutio libidinis lebt der Haßerfüllte nur noch sich selber. Der Egoismus ist vom Hasse unabtrennbar. Aber auch die in der involutio begründete pathogene Tendenz des Hasses tritt hervor. Ethik und Neurosenlehre verkünden übereinstimmend seine gesundheitsfeindliche Natur. Der ganzen Menschheit gilt daher in

1) Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch

I, 415. Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 12

178 Oskar Pfister.

seelenhygienischer Hinsicht Antigones Wort: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“ Die Neurologie bestätigt so die Forderung

der Ethik. Die Versöhnung gewinnt aus folgenden Gründen ethische Be-

deutung:

1. Dieim HaßgelegenendiePersönlichkeitberaubenden Einflüsse werden aufgehoben.

2. Die Persönlichkeit wird nicht allein in den Stand gesetzt, neue Inhalte aufzunehmen, sondern auch nach dem Gesetze der Ersatzbildung angespornt, die vom Hasse ge- schaffenen Mängel zu überkompensieren, sei es aufgleichem Funktionsniveau, sei es durch Sublimierung.

3. Indem die Versöhnung darauf ausgeht, die im Haß seschaffenenbösen Wünschedurchsympathischeüberwertig zu ersetzen, tritt gleichzeitig an die Stelle der zuvor be- günstigten sadistischen Komponente die masochistische. Bei gleichzeitiger Sublimierung entstehtaus diesem Zurück- fluten des Rachetriebes das Bedürfnis, Sühne zu leisten.

Da die Versöhnung auch ohne Analyse das geistige Leben in die vom Haß benutzten Kanäle zurücktreibt und hier die frühere Trieb- richtung umkehrt, vollzieht sie unbewußt die Arbeit, welche der Ana- lytiker zur Beseitigung aller Psychoneurosen anstrebt. Anerkennen wir in Übereinstimmung mit unserer Untersuchung die Versöhnung als einen Prozeß im Interesse der ethischen Gesundung, so wird uns diese Übereinstimmung in dem empirisch erhärteten Vertrauen be- stärken, daß die Psychanaylse ein naturgemäßes Mittel zur ethischen Seelentherapie darstellt.

„Über den Gegensinn der Urworte.“

Referat über die gleichnamige Broschüre von Karl Abel, 1884. Von Sigm. Freud.

In meiner „Traumdeutung“ habe ich als unverstandenes Ergebnis der analytischen Bemühung eine Behauptung aufgestellt, die ich nun zu Eingang dieses Referates wiederholen werdet):

„„töchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kate- gorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt. Das ‚Nein‘ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammen- gezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Frei- heit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß, ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.‘“*

Die Traumdeuter des Altertums scheinen von der Voraussetzung, daß ein Ding im Traume sein Gegenteil bedeuten könne, den ausgiebig- sten Gebrauch gemacht zu haben. Gelegentlich ist diese Möglichkeit auch von modernen Traumforschern, insofern sie dem Traume überhaupt Sinn und Deutbarkeit zugestanden haben, erkannt worden?). Ich glaube auch keinen Widerspruch hervorzurufen, wenn ich annehme, daß alle die- jenigen die oben zitierte Behauptung bestätigt gefunden haben, welche mir aufden Weg einer wissenschaftlichen Traumdeutung gefolgt sind.

Zum Verständnisse der sonderbaren Neigung der Traumarbeit, von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Darstellungsmittel Gegensätzliches zunı Ausdrucke zu bringen, bin ich erst durch die zufällige Lektüre einer Arbeit des Sprachforschers K, Abel gelangt, welche 1884 als selbständige Broschüre veröffentlicht, im nächsten Jahre auch unter die „Sprachwissenschaftlichen Abhandlungen“ des Verfassers aufgenommen worden ist. Das Interesse des Gegenstandes wird es

1) Zweite Auflage, pag. 232, im Abschnitte VI: Die Traumarbeit.

TR 2) Siehe z. B. G. H. v. Schubert, Die Symbolik des Traumes, vierte

Auflage, 1862, Kap: 2. Die Sprache des Traumes. 3% 1

180 Sigm. Freud.

rechtfertigen, wenn ich die entscheidenden Stellen der Abelschen Abhandlung nach ihrem vollen Wortlaute (wenn auch mit Weglassung der meisten Beispiele) hier anführe. Wir erhalten nämlich die erstaun- liche Aufklärung, daß die angegebene Praxis der Traumarbeit sich mit einer Eigentümlichkeit der ältesten uns bekannten Sprachen deckt.

Nachdem Abel das Alter der ägyptischen Sprache hervorgehoben, die lange Zeiten vor den ersten hieroglyphischen Inschriften entwickelt worden sein muß, fährt er fort (pag. 4):

„„‚In der ägyptischen Sprache nun, dieser einzigen Reliquie einer primitiven Welt, findet sich eine ziemliche Anzahl von Worten mit zwei Bedeutungen, deren eine das gerade Gegenteil der anderen besagt. Man denke sich, wenn man solch augenscheinlichen Unsinn zu denken vermag, daß das Wort ‚stark‘ in der deutschen Sprache sowohl „stark“ als „schwach‘‘ bedeute; daß das Nomen ‚Licht‘ in Berlin gebraucht werde, um sowohl ‚Licht‘ als „Dunkelheit“ zu bezeichnen; daß ein Münchener Bürger das Bier ‚Bier‘ nännte, während ein anderer das- selbe Wort anwendete, wenn er vom Wasser spräche, und man hat die erstaunliche Praxis, welcher sich die alten Ägypter in ihrer Sprache gewohnheitsmäßig hinzugeben pflegten. Wem kann man es verargen, wenn er dazu ungläubig den Kopf schüttelt?....... ““ (Beispiele.)

(Pag. 7): ‚Angesichts dieser und vieler ähnlicher Fälle anti- thetischer Bedeutung (siehe Anhang) kann es keinem Zweifel unter- liegen, daß es in einer Sprache wenigstens eine Fülle von Worten gegeben hat, welche ein Ding und das Gegenteil dieses Dinges gleich- zeitig bezeichneten. Wie erstaunlich es sei, wir stehen vor der Tatsache und haben damit zu rechnen.“

Der Autor weist nun die Erklärung dieses Sachverhaltes durch zufälligen Gleichlaut ab und verwahrt sich mit gleicher Entschiedenheit gegen die Zurückführung desselben auf den Tiefstand der ägyptischen Geistesentwicklung:

(Pag. 9): „Nun war aber Ägypten nichts weniger, als eine Heimat des Unsinnes. Es war im Gegenteil eine der frühesten Entwicklungs- stätten der menschlichen Vernunft.... Es kannte eine reine und würdevolle Moral und hatte einen großen Teil der zehn Gebote for- muliert, als diejenigen Völker, welchen die heutige Zivilisation gehört, blutdürstigen Idolen Menschenopfer zu schlachten pflegten. Ein Volk, welches die Fackel der Gerechtigkeit und Kultur in so dunkeln Zeiten entzündete, kann doch in seinem alltäglichen Reden und Denken nicht geradezu stupid gewesen sein ...... Wer Glas machen und ungeheure

„Über den Gegensinn der Urworte.“ 181

Blöcke maschinenmäßig zu heben und zu bewegen vermochte, muß doch mindestens Vernunft genug gehabt haben, um ein Ding nicht für sich selbst und gleichzeitig für sein Gegenteil anzusehen. Wie vereinen wir es nun damit, daß die Ägypter sich eine so sonderbare kontra- diktorische Sprache gestatteten?.... daß sie überhaupt den feindlichsten Gedanken ein und denselben lautlichen Träger zu geben und das, was sıch gegenseitig am stärksten opponierte, in einer Art unlöslicher Union zu verbinden pflegten?“

Vor jedem Versuche einer Erklärung muß noch einer Steigerung dieses unbegreiflichen Verfahrens der ägyptischen Sprache gedacht werden. „Von allen Exzentrizitäten des ägyptischen Lexikons ist es vielleicht die außerordentlichste, daß es, außer den Worten, die entgegen- gesetzte Bedeutungen in sich vereinen, andere zusammengesetzte Worte besitzt, in denen zwei Vokabeln von entgegengesetzter Be- deutung zu einem Kompositum vereint werden, welches die Bedeutung nur eines von seinen beiden konstituierenden Gliedern besitzt. Es gibt also in dieser außerordentlichen Sprache nicht allein Worte, die sowohl „stark“ als „schwach“ oder sowohl „befehlen“ als ‚„‚gehorchen‘ be- sagen; es gibt auch Komposita wie „altjung“, „fernnah“, ‚binden- trennen‘, „außeninnen“ (...... ), die trotz ihrer, das Verschiedenste einschließenden Zusammensetzung das erste nur „jung“, das zweite nur „nah“, das dritte nur ‚verbinden‘, das vierte nur „innen“ bedeuten. .... Man hat also bei diesen zusammengesetzten Worten begriffliche Widersprüche geradezu absichtlich vereint, nicht um einen dritten Begriff zu schaffen, wie im Chinesischen mitunter geschieht, sondern nur um durch das Kompositum die Bedeutung eines seiner kontra- diktorischen Glieder, das allein dasselbe bedeutet haben würde, auszu- drücken......

Indes ist das Rätsel leichter gelöst, als es scheinen will. Unsere Begriffe entstehen durch Vergleichung. ‚Wäre es immer hell, so würden wir zwischen hell und dunkel nicht unterscheiden und demgemäß weder den Begriff noch das Wort der Helligkeit haben können...... BR ist offenbar, alles auf diesem Planeten ist relativ, und hat unabhängige Existenz, nur insofern es in seinen Beziehungen zu und von anderen Dingen unterschieden wird...... „Da jeder Begriff somit der Zwilling seines Gegensatzes ist, wie konnte er zuerst gedacht, wie konnte er anderen, die ihn zu denken versuchten, mitgeteilt werden, wenn nicht durch die Messung an seinem Gegensatz? .... .“ (Pag.15): „„Da man den Begriff der Stärke nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze

182 Sigm. Freud.

zur Schwäche, so enthielt das Wort, welches ‚stark‘ besagte, eine gleichzeitige Erinnerung an „schwach“, als durch welche es erst zum Dasein gelangte. Dieses Wort bezeichnete in Wahrheit weder ‚stark‘ noch ‚schwach“, sondern das Verhältnis zwischen beiden, und den Unterschied beider, welcher beide gleichmäßig erschuf...... „Der Mensch hat eben seine ältesten und einfachsten Begriffe nicht anders erringen können, als im Gegensatze zu ihrem Gegensatz, und erst all- mählich die beiden Seiten der Antithese sondern und die eine ohne bewußte Messung an der andern denken gelernt.“

Da die Sprache nicht nur zum Ausdruck der eigenen Gedanken, sondern wesentlich zur Mitteilung derselben an andere dient, kann man die Frage aufwerfen, auf welche Weise hat der „Urägypter‘“ dem Nebenmenschen zu erkennen gegeben, ‚‚welche Seite desZwitterbegriffeser jedesmal meinte?‘ In der Schrift geschah dies mit Hilfe der sogenannten „determinativen‘‘ Bilder, welche, hinter die Buchstabenzeichen gesetzt, den Sinn derselben angeben und selbst nicht zur Aussprache bestimmt sind. (Pag. 18): ‚Wenn das ägyptische Wort ken ‚stark‘ bedeuten soll, steht hinter seinem alphabetisch geschriebenen Laut das Bild eines aufrechten, bewaffneten Mannes; wenn dasselbe Wort ‚schwach“ auszudrücken hat, folgt den Buchstaben, die den Laut darstellen, das Bild eines hockenden, lässigen Menschen. In ähnlicher Weise werden die meisten anderen zweideutigen Worte von erklärenden Bildern begleitet.‘ In der Sprache diente nach Abels Meinung die Geste dazu, dem gesprochenen Worte das gewünschte Vorzeichen zu geben.

Die „ältesten Wurzeln“ sind es, nach Abel, an denen die Er- scheinung des antithetischen Doppelsinnes beobachtet wird. Im weiteren Verlaufe der Sprachentwicklung schwand nun diese Zweideutigkeit, und im Altägyptischen wenigstens lassen sich alle Übergänge bis zur Eindeutigkeit desmodernen Sprachschatzes verfolgen. ‚Die ursprünglich doppelsinnigen Worte legen sich in der späteren Sprache in je zwei einsinnige auseinander, indem jeder der beiden entgegengesetzten Sinne je eine lautliche „Ermäßigung“ (Modifikation) derselben Wurzel für sich allein okkupiert.‘“““ So z.B.spaltet sich schon im Hieroglyphischen selbst ken (‚starkschwach‘‘) in ken ‚‚stark‘“ und kan „schwach“. „Mit anderen Worten, die Begriffe die nur antithetisch gefunden werden konnten, werden dem menschlichen Geiste im Laufe der Zeit genügend angeübt, um jedem ihrer beiden Teile eine selbständige Existenz zu

ermöglichen und jedem somit seinen separaten lautlichen Vertreter zu verschaffen.‘

„Über den Gegensinn der Urworte,“ 183

Der fürs Ägyptische leicht zu führende Nachweis kontradiktorischer Urbedeutungen läßt sich nach Abel auch auf die semitischen und indoeuropäischen Sprachen ausdehnen. „Wie weit dieses in anderen Sprachfamilien geschehen kann, bleibt abzuwarten; denn obschon der Gegensinn ursprünglich den Denkenden jeder Rasse gegenwärtig gewesen sein muß, so braucht derselbe nicht überall in den Bedeutungen erkennbar geworden oder erhalten zu sein.‘ |

Abel hebt ferner hervor, daß der Philosoph Bain diesen Doppel- sinn der Worte, wie es scheint, ohne Kenntnis der tatsächlichen Phäno- mene aus rein theoretischen Gründen als eine logische Notwendigkeit gefordert hat. Die betreffende Stelle (Logic I, 54) beginnt mit den Sätzen:

„Ihe essential Relativity of allknowledge, thought or consciousness cannot but show itself in language. If everything that we can know is viewed as a transition from something else, every experience must have two sides; and either every name must have a double meaning, or else for every meaning there must be two names.“

Aus dem „Anhang von Beispielen des ägyptischen, indoger- manischen und arabischen Gegensinns“ hebe ich einige Fälle hervor, die auch uns Sprachunkundigen Eindruck machen können: Im La- teinischen heißt altus hoch und tief, sacer heilig und verflucht, wo also noch der volle Gegensinn ohne Modifikation des Wortlaute besteht. Die phonetische Abänderung zur Sonderung der Gegensätze wird belegt durch Beispiele wie clamare schreien clam leise, still; siee us trocken suceus Saft. Im Deutschen bedeutet „Boden heute noch das Oberste wie das Unterste im Haus. Unserem bös (schlecht) entspricht ein bass (gut), im Altsächsischen bat (gut) gegen englisch bad (schlecht); im Englischen to lock (schließen) gegen deutsch Lücke, Loch. Deutsch kleben —- englisch to cleave (spalten); deutsch Stumm -— Stimme usw. So käme vielleicht noch die viel- belachte Ableitung lucus a non lucendo zu einem guten Sinn.

In seiner Abhandlung über den „Ursprung der Sprache“ (l. c., pag. 305) macht Abel noch auf andere Spuren alter Denkmühen auf- merksam. Der Engländer sagt noch heute, um „ohne“ auszudrücken „without“, also „mitohne“ und ebenso der Ostpreuße. „With“ selbst, das heute unserem ‚mit‘‘ entspricht, hat ursprünglich sowohl „mit“ als auch ‚‚ohne‘‘ geheißen, wie noch aus „withdraw“ (fortgehen), „with- hold‘ (entziehen) zu erkennen ist. Dieselbe Wandlung erkennen wir in dem deutschen ‚wider‘ (gegen) und „wieder“ (zusammen mit).

Für den Vergleich mit der Traumarbeit hat noch eine andere,

184 Sigm. Freud.

höchst sonderbare Eigentümlichkeit der altägyptischen Sprache Be- deutung. „Im Ägyptischen können die Worte wir wollen zunächst sagen, scheinbar— so wohl Laut wie Sinn umdrehen. Angenommen, das deutsche Wort gut wäre ägyptisch, so könnte es neben gut auch schlecht bedeuten, neben gut auch tug, lauten. Von solchen Laut- umdrehungen, die zu zahlreich sind, um durch Zufälligkeit erklärt zu werden, kann man auch reichliche Beispiele aus den arischen und semitischen Sprachen beibringen. Wenn man sich zunächst aufs Ger- manische beschränkt, merke man: Topf—-pot, boat -—- tub, wait— täuwen, hurry Ruhe, care reck, Balken klobe, club. Zieht man die anderen indogermanischen Sprachen mit in Betracht, so wächst die Zahl der dazugehörigen Fälle entsprechend z. B.: capere packen, ren Niere, the leaf (Blatt) folium, dum-a ®vuos Sansc. mödh, müdha, Mut, Rauchen Russ. Kur-iti, kreischen -—- to shriek usw.“

Das Phänomen der Lautumdrehung sucht Abel aus einer Doppelung, Reduplikation der Wurzel zu erklären. Hier würden wir eine Schwierigkeit empfinden, dem Sprachforscher zu folgen. Wir erinnern uns daran, wie gerne die Kinder mit der Umkehrung des Wort- lautes spielen, und wie häufig sich die Traumarbeit der Umkehrung ihres Darstellungsmaterials zu verschiedenen Zwecken bedient. (Hier sind es nicht mehr Buchstaben, sondern Bilder, deren Reihenfolge verkehrt wird.) Wir würden also eher geneigt sein, die Lautumdrehung auf ein tiefer greifendes Moment zurückzuführen!).

In der Übereinstimmung zwischen der eingangs hervorgehobenen Eigentümlichkeit der Traumarbeit und der vom Sprachforscher auf- gedeckten Praxis der ältesten Sprachen dürfen wir eine Bestätigung unserer Auffassung vom regressiven, archaischen Charakter des Ge- dankenausdruckes im Traume erblicken. Und als unabweisbare Ver- mutung drängt sich uns Psychiatern auf, daß wir die Sprache des Traumes besser verstehen und leichter übersetzen würden, wenn wir von der Eintwicklung der Sprache mehr wüßten?).

!) Über das Phänomen der Lautumdrehung (Metathesis), welches zur Traumarbeit vielleicht noch innigere Bezishungen hat als der Gegensinn (Anti- these), vgl. noch W. Meyer-Rinteln in: Kölnische Zeitung, 7. März 1909.

’) Es liegt auch nahe anzunehmen, daß der ursprüngliche Gegensinn der Worte den vorgebildeten Mechanismus darstellt, der von dem Versprechen zum Gegenteile im Dienste mannigfacher Tendenzen ausgenützt wird.

Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich.

Psychologische Untersuchungen an Dementia | praecox-Kranken.

Von Dr. A, Maeder, 1. Assistenzarzt.

I. Analysen von zwei Fällen von Dementia praecox (paranoide Form).

a) Fall J. B. 1. Krankengeschichte.

Über erbliche Belastung (bis auf den Großvater mütterlicherseits, der Potator war) ist nichts bekannt. Ein Bruder ist gesund. Der Vater, der Webermeister war, ist an Phthise gestorben. Patient hat drei Kinder, alle körperlich etwas schwächlich; die Frau war einige Zeit im Lungen- sanatorıum W.

Patient ist in B. geboren (1869) und aufgewachsen. Er erlitt als Junge ein Trauma (Schneeball ins rechte Auge), trägt eine Pupillendifferenz und einen Kornealfleck davon. Seit längerer Zeit leidet er an Konjunktivitis. B. war ein intelligenter Schüler. Nach zwei Jahren Sekundarschule trat er in die kaufmännische Lehre. 1883 starb seine Mutter.

B. bekleidete verschiedene Stellen als Kommis, wurde für eine Zeit- lang Weber in einer kleinen Fabrik, trieb Politik als Sozialdemokrat. Fır half bei der Gründung einer Nahrungsmittelgenossenschaft, wurde Sekretär derselben und gab die Stelle als Arbeiter definitiv auf. Er hatte Bekannt- schaft mit einer Arbeiterin gemacht, verkehrte sexuell mit ihr und mußte sie heiraten. Im Jahre 1886 wurde er Kassier und Einkäufer im Konsun- vereine W., dann in Z., 1894 kam er nach O. in eine Handelsgesellschaft als Buchhalter. Sein Bureauchef spekulierte, wurde verdächtigt; die Prüfungskommission konstatierte große Verluste und entließ ihn 1897. Es war für B. eine aufregende Zeit. Er wurde 1897 zum Bureauchef ernannt, mußte das Geschäft wieder in die Höhe bringen und einen Prozeß gegen den Vorgänger und einige Mitglieder des Verwaltungsrates führen, der jahrelang dauerte. Die Stelle war gut, machte aber dem Patienten viele Sorgen. Patient war daneben Gemeinderat, aktives Mitglied von einem Turn- und speziell Schützenverein; er war angesehen und beliebt.

Um 1900 wurde Patient aufgeregt, schien überanstrengt, wurde mehr und mehr eigentümlich verschlossen. 1901 wurde nachts in sein Bureau eingebrochen und es wurden 1800 Franken gestohlen; B. beunruhigte sich, meinte, man verdächtige ihn, mitgemacht zu haben; er hatte Angst, man

156 | A. Maeder.

arretiere ihn, es seien Männer auf der Straße, Polizisten, die auf ihn warten; in der Nacht machte er Hausuntersuchungen mit seiner Frau, um sich zu überzeugen, daß man das Geld nicht heimtückisch ins Haus gebracht hatte, um ihn verdächtig zu machen. Er fing an, sich vom politischen Leben zurückzuziehen, ging von da an unregelmäßig zur Arbeit, klagte viel über Kopfschmerzen (an der Stirne, am Scheitel), gab den Mitgliedern des Ver- waltungsrates ungern Auskunft, so daß er deshalb etwas auffiel.

Im Sommer 1901 ging er zur Kur nach Churwalden. Im Oktober desselben Jahres nach Lugano auf Rat des Arztes. Er brauchte daselbst ziemlich viel Geld, sprach vom Ankauf einer schönen Villa, wozu er kein Kapital besaß. Er war in der Nacht unruhig, mußte auf Bitte des Wirtes abgeholt werden.

Dann fing er plötzlich an, am Sonntag in Zylinder und schwarzem Rock in die Kirche zu gehen und ließ für seine Eltern schöne Grabsteine setzen. Er schlief ein paar Nächte in einem sehr teuern Hotel. Er wurde der Familie gegenüber sehr gleichgültig, ärgerte sich manchmal über die Frau, was früher nie der Fall war. Er war bis dato ein sehr guter Mensch gewesen; jetzt fing er plötzlich an, von Scheidung zu sprechen; er müsse auf höheren Befehl eine andere heiraten; ‚Frau und Kinder werden dann eine Pension bekommen“. März 1902 schrieb er der Königin Wilhelmine und bat sie um eine Stelle.

Für die Louis d’or hatte er damals einen echten Kultus, wollte kein Gold mehr ausgeben.

Wegen dieser Wahnideen und der zunehmenden Gleichgültigkeit der Familie gegenüber, der Pupillendifferenz usw., wurde er zwecks Beobachtung mit der Diagnose Progressive Paralyse in der Anstalt interniert (5. Mai 1902).

Er war bei der Aufnahme orientiert in Zeit und Raum. Die Auf- fassung war gut, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis ebenso. Eine Intelligenzprobe bestand er gut. Affektivität abnorm: gleichgültige Stimmung, stumpfe Euphorie. Wahnideen (er sei der morganatische Mann der Königin Wilhelmine, habe sie mehrmals in Zürich und Umgebung, sogar ım Eisenbahncoupe 3. Klasse getroffen. Beziehungsideen. Er deutet alles um, bezieht die harmlosesten Bemerkungen auf sich. Größenideen: er stamme aus der Orlöansfamilie; sei auch ein Sohn von Napoleon ].; seine Frau stamme aus dem katholischen belgischen Königshause. Sinnes- täuschungen: Er höre Stimmen von ‚einem Weibe“, habe das körperliche Gefühl der Anwesenheit der Königin Wilhelmine. Gab frühere Visionen zu (beim Tode der Mutter), auch später in O. habe er in der Nacht General- marsch blasen hören; er sei auf den Friedhof gegangen, habe aber nichts gesehen, als ein leuchtendes Ding am Grabsteine seiner Mutter, es sei wie eın Stern gewesen. Pupillendifferenz vorhanden; Reaktion beiderseits prompt. Körperlich nichts Abnormes, außer lebhaften Sehnenreflexen.

Er wurde am 10. Juli 1902 als ungebessert entlassen mit der Diagnose: Dementia praecox (paranoide Form). Zu Hause blieb er unbe- schäftigt, saß die längste Zeit in seinem Zimmer mit geschlossenen Läden, immer für sich; in den letzten Monaten vor der zweiten Internierung

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 187

(März 1903) klagte er die Frau an, sie wolle ihn vergiften. Er wurde der Frau gegenüber grob und gewalttätig, sie habe es mit anderen, habe heimlich eine Frühgeburt einleiten lassen, zu einer Zeit, wo er zur Erholung weg war (bei der Frau mußte in der Tat Abort wegen Tubereulosis incipiens eingeleitet werden). Er müsse also scheiden.

Zweite Aufnahme am 17. Juli 1903, er kommt wieder mit der Diagnose Progressive Paralyse. Körperlich außer der schon erwähnten Pupillen- differenz keine Abnormitäten. Auffassung, Merkfähigkeit, Gedächtnis immer noch gut. Keine Demenz. Wahnideen (Größenideen, Verfolgungs- ıdeen; über letztere wird weniger berichtet als über die Größenideen). Er scheint viel zu halluzinieren, „studiert‘‘ viel; ist zeitweise sehr aufgeregt.

Patient will nicht arbeiten, steht lange am Fenster im Wachsaale, spricht viel von seinen Kindern, die draußen zu leiden haben (er ist mit ihnen, wenn sie ihn besuchen, meistens zärtlich). Sie werden draußen mißhandelt, verfolgt, wie der Vater auch. Patient hält die Ärzte für ‚‚Fem- richter“ (die Verfolger sind zu einer Feme organisiert).

Im Dezember 1903 behauptet er, es habe im ärztlichen Bureau eine Sitzung seiner Richter stattgefunden, der Direktor der Anstalt sei die untersuchende Behörde. Der Bundesanwalt K. war auch dabei.

Neulich habe er einer Sitzung des Schwurgerichtes anwohnen müssen, wo man behauptete, er habe Homosexualität getrieben.

Er wird gegen die Ärzte immer ablehnender, schimpft, droht, muß in den Wachsaal versetzt werden. Im Jänner 1904 behauptet er, es habe soeben eine Versammlung der Ärzte des Kantons stattgefunden vor dem Hause; er habe die Verhandlungen verfolgen können. Der Assistenzarzt ' W. sei vom Vereine ausgeschlossen worden, er dürfe nicht mehr Psychiatrie treiben. Er habe auch gehört, daß einer seiner Söhne erschossen werden soll.

Juni 1904. Seine Sache sei sehr einfach, wenn man nur annehmen wolle, daß sein echter Name ‚Bonaparte‘ ist und Joh. B. nur der Name des Pflegevaters sei.

Jänner 1905. Äußert viele hypochondrische Klagen; man injiziere ıhm alle möglichen Gifte; er habe „Glanzaugen“ (der sogenannten Gens _ ulpia), die unter dieser Behandlung zugrunde gehen (,‚Chloridinjektionen““). ‚Es werden Messingscheiben in die Augen eingesetzt‘‘; mit einem ‚‚Pro- tektor‘‘ wird ihm in die Augen hineingeschossen; er versteckt den Kopf unter das Bettuch, um das zu verhindern. Es sei ein Verbrechen, ihn zurück- zuhalten, man verhindere, daß er dem Volke gezeigt wird. 1906 wurde er etwas zugänglicher, steckt immer aber voll von Wahnideen, hört viel Stimmen. Er komme nicht. mehr heraus, könne seine Erfindungen nicht patentieren lassen usw. Eine Verschlechterung trat ein; er wurde unruhig, mußte nachts in der Zelle schlafen, wo er sehr viel geplagt wird; er kommt allmählich von den besten Abteilungen auf die unruhigsten.

1907 ist er schon in der unruhigsten Abteilung. Im August 1906 wurde ein Detail notiert, das erst später verständlich sein wird: Bei der Exstirpation einer Warze führte er sich ziemlich wehleidig auf, spülte die Stelle viertelstundenlang am Brunnen.

Jänner 1908. Trotzdem er auf der Zellenabteilung ist, ist es gelungen,

188 A. Maeder.

ihn allmählich zu einer regelmäßigen Tätigkeit zu erziehen, er arbeitet acht Stunden auf dem Felde; ist für die Ärzte wieder etwas zugänglicher geworden, hält aber fest an seinen Wahnideen. In den freien Stunden steht er allein in einer Ecke des Zellenhofes, mit der Mütze dicht vor den Augen. Er ist manchmal sehr gereizt, manchmal klagt er über seine Leiden: häufig treibt er eine eigentümliche Gymnastik, über die er nie Auskunft geben will: plötzlich schwingt er die beiden Arme nach vorn und lacht dabei; oder er steht-mit gespreizten Beinen da, gibt sich mit der rechten Faust rhythmisch wiederholte Stöße in die eine oder andere Poplitealgrube, so daß eine plötz- liche unwillkürliche Bewegung des Beines im Kniegelenk erfolgt.

Dieser Status muß als paranoide Form der Dementia

praecox bezeichnet werden.

2, Analyse.

Nach dieser Krankengeschichte, welche nach rein klinischen Gesichtspunkten geführt ist, wollen wir jetzt versuchen, die Psycho- analyse des Falles darzustellen. Sie setzte zu einer Zeit ein, wo der Patient noch auf der unruhigen Abteilung war, wurde einige Wochen fortgesetzt bis zu dem im folgenden dargestellten relativen Abschluß. Während der Untersuchungszeit besserte sich der Zustand des Patienten derart, daß er in einem Sprunge von der unruhigsten auf die ruhigste offene Abteilung versetzt werden konnte, auf welcher er sich jetzt noch (nach 1'/, Jahren) hält. Über den möglichen therapeutischen Wert der Untersuchungsmethode will ich damit nichts gesagt haben. Der Parallelismus der beiden Vorgänge sei nur erwähnt.

Die Analyse brachte ein sehr großes Material ans Licht, welches ich in der Darstellung nur um zwei Zentren, der Klarheit wegen, herum- gruppiert und nur zum Teil verwertet habe. Meine Tätigkeit beschränkt sich darauf, das bruchstückweise produzierte Material in zusammen- hängender Darstellung zu geben, was in diesem Falle möglich erscheint, da Patient gute Auskunft gibt; er ist intelligent, hat ein gewisses Inter- esse an der Analyse, eine ausgesprochene Übertragung auf Ref.

Daß die Analyse lückenhaft ist, ist selbstverständlich. Der Fall ist nicht frisch, für vieles fehlen objektive Daten, die Technik ist noch mangelhaft und Patient ist eben ein Fall von Dementia praecox, mit dem man doch nicht den gemütlichen Rapport einer Hysterie hat.

Ergebnisse der Analyse. Das letzte, wirklich auslösende Moment der Psychose ist bei B. der Einbruchdiebstahl in seinem Bureau. Von diesem Augenblicke an wird die Krankheit nach außen manifest, speziell durch die Ver-

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folgungsideen und Größenideen, welche vorher nur episodisch, isoliert aufgetreten waren (der Grabstein der Eltern, das Absteigen in einem Hotel 1. Ranges usw.). Zu dieser Zeit sind namentlich zwei Vor- stellungskomplexe besonders gefühlsbetont: die Macht (das Geld, die hohe Abstammung) und die Sexualität und alles was damit zu- sammenhängt. Dieselben lassen sich jetzt noch nach acht Jahren ebenso deutlich nachweisen. Die Verfolgungsideen und Größenideen lassen sich bei den beiden Komplexen nachweisen: es wird sich im Laufe der Analyse zeigen lassen, daß zahlreiche Verbindungsbrücken diese sozusagen parallel verlaufenden Vorstellungsreihen miteinander ver- binden. Sie sind nicht scharf abgegrenzt, ihre Trennung ist eher künst- licher Natur, aber zwecks bequemerer Darstellung gemacht worden.

A. Komplex der Sexualität.

Patient ist seiner Frau gegenüber allmählich (1901 bis 1902) indifferent geworden, er sucht sie nur selten auf, höchstens einmal im Monat (objektive Bestätigung durch Ehefrau), „er war früher viel eifriger‘“. „Die Schwarzen sind sehr schwer zu sättigen“ (gemeint sind die schwarzhaarigen mit dunkeln Augen, wie die Frau von B.; er selbst ist blauäugig und dunkelblond dieser Umstand spielt eine wichtige Rolle in der späteren Entwicklung der Wahnideen), ‚sie haben ein heißes Temperament“. Er muß eine andere, eine Blondine heiraten (die erste Andeutung eines Impotenzkomplexes, er bedarf eines neuen Reizes, seine Frau verlangt zu viel). Als transitive Form dieses Wunsches taucht eine Wahnidee auf, die Frau sei ihm untreu, sie habe heimlich einen Abort einleiten lassen. Als Bestätigung der Impotenz- befürchtung kann die Unfähigkeit des Patienten gelten, die Zahl seiner Kinder richtig anzugeben, indem er immer zu viel angibt; einmal sagt er fünf, dann ‚eine ganze Menge von rassigen und nichtrassigen Kindern“, er behauptet, jedesmal Zwillinge gehabt zu haben usw. er hat in Wirklichkeit drei Kinder gehabt. Er sagt, ‚man wolle ihn ruinieren“, das heißt ‚direkt impotent machen‘ (sein eigener Ausdruck); man verfolgt ihn sexuell und mißhandelt ihn in einer grausamen Weise, durch Injektionen von Giften in die Augen, in das Abdomen, sogar in den After, man will den „wunderbaren Glanz“ seiner Augen vernichten, seine Samendrüsen ruinieren; es gibt Wüstlinge (wol- lüstige Männer und Weiber), die ihn nachts aufsuchen und „miß- brauchen‘ ; im verlorenen Samen könne man das grüne Gift noch nach- weisen. Hier taucht der Verdacht auf, es könne sich zum Teil um

190 A. Maeder.

homosexuelle Verfolgungen handeln: Einspritzung in den After, wollüstige Männer in Träumen und Halluzinationen. In der Tat erzählt Patient, wie seine Feinde versucht haben, ihn danach zu erproben: als er noch zu Hause war und im Bette lag, kam es vor, daß irgend welche Wüstlinge sein Glied steif gemacht haben auf eine geheime Weise —, dann schickten sie seine Frau in sein Zimmer (die Frau gehört aus vielen noch zu besprechenden Gründen zu den Ver- folgern), welche, um ihn zu verdächtigen, einen seiner Knaben gegen sein Bett zu ihm hinstieß. „Es wurde auch von meinen Feinden behauptet, daß meine Knaben einen syphilitischen Ausschlag am After und an den Augen haben, um auf diese Weise wahrscheinlich zu machen, ich hätte sie mißbraucht.‘ In der Anstalt wurden andere Proben gemacht; wenn er im Bad ist, werden manchmal nackte Männer ins Badezimmer geschickt, zur Probe ob sein Glied steif wird; es tritt bei ihm allerdings nicht ein, „eher das Gegenteil vom Erwünschten“,

(Es stimmt, daß mehrere Patienten zu gleicher Zeit nackt im Bade- zimmer gebadet werden, B. hat daran Beziehungsideen geknüpft.)

Folgendes ist auf homosexuelle Tendenzen ebenso verdächtig: Einmal abends wird B. allein im Privatzimmer eines Patienten der- selben Abteilung gefunden, und zwar im Bette. Der betreffende Zimmer- besitzer ist in der Anstalt als Homosexueller bekannt (deswegen inter- niert) und hat sein Zimmer in entsprechendem Stile dekoriert. B. be- hauptet, er habe die Idee gehabt, er bekäme nachts den Besuch einer hohen Dame; dieses Zimmer habe für ein Rendezvous am besten gepaßt. Er weıß aber auch, daß der andere ein Invertierter ist. (Siehe auch oben die Anklagen vor dem Schwurgerichte wegen Homosexualität.)

Sämtliche Äußerungen des Patienten über sexuelle Dinge lassen sich auf irgend einen der betonten Punkte zurückführen: Polygame Tendenzen, verdrängte homosexuelle Neigungen, Impotenz- befürchtungen (diese Elemente sind alle mit einem + oder Zeichen versehen, als Verfolgungen, kompensatorische Wunscherfüllungen usw.).

In diesem Rahmen spielt sich der wesentliche Inhalt dieser Psy- chose ab. Es liegt mir nun ob, die Zusammenhänge im einzelnen nach- zuweisen.

Wir gehen von den hypochondrischen Beschwerden aus:

B. klagt seit vielen Jahren über Schmerzen im Scheitel, in der Stirne, speziell in den Augen; man trifft ihn häufig daran, wie er sich förmliche Augenspülungen zuadministriertt, mit gewöhnlichem Wasser, seltener mit Milch oder gar mit Limonade, die er einfach übers

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Auge löffelweise gießt; er reibt auch viel in den Augen; hat natürlich eine hartnäckige Konjunktivitis bekommen. Die Schmerzen rühren von Vergiftungen her, von Injektionen von „Grünsäure“, „Grüngift“, Chloralhydrat, Morphium, Phosphor, Schwefel und anderen „grünen Giften“. Er bemerkt es, wenn nachts wieder etwas gemacht worden ist, am unscharfen Sehen, alles ist ‚„‚schleierhaft‘, der Himmel sieht dann nicht recht blau aus. Wenn er gegen das Licht durch die röhrenförmig geschlossene Hand hinschaut, sieht er grüne Farben, die aus seinen Augen ausstrahlen, ‚‚das sollte nicht sein“. Es kommt vom grünen Gift (daher die Spülungen). Man will überhaupt den wunderbaren Glanz seiner blauen Augen, deren „befruchtende Strahlen, welche nur seiner Rasse, der sogenannten Gensulpia angehören, vernichten.!) Daß die Augen bei ihm mit der Sexualität assoziiert sind, wissen wir schon. Seine Knaben sollen an den Augen einen syphilitischen Aus- schlag haben, der von sexuellem Mißbrauche herrührt. Die eingespritzten Gifte kreisen im Körper herum. In der Krankengeschichte wurde notiert zu einer Zeit, wo diese Vergiftungsgeschichte noch nicht bekannt war: nach der Exstirpation einer kleinen Warze spülte Patient die Wunde eine Viertelstunde lang am Brunnen. Diese Spülungen zur Verdünnung der Gifte, wie er selbst sagt, hat er ganz systematisch angewandt. Er verlangte auch täglich ein Bad, um sich von den fremden Stoffen gründlich reinigen zu können, und wenn er badet, so reibt er sich mit Seife energisch ab. Abreibungen mit Kampferspiritus wollte er auch als nervenreinigendes Mittel. Manchmal trinkt er literweise Wasser; er „muß“ auch onanieren, um die Ausscheidung durch die Genitaldrüsen zu befördern. Der Samen sei häufig grünlich verfärbt; der Urin habe zeitweise eine grünliche, verdächtige Farbe oder er sieht wie rosthaltig aus. Diese grünen und syphilitischen Gifte werden durch Injektion in die Augen, durch den Schädel, in das Abdomen, auch in den After, selten mit der Suppe (‚als Phosphate‘‘) eingeführt; er habe auch gesehen, wie ein Wärter eine grüne Flasche manchmal auf die Abteilung bringt. Man möchte den ganzen Körper ruinieren; in der Blase sei schon eine dicke grüne Kruste, speziell links; der linke Hoden ist schwarz wie Kohle. Den Anstoß zu dieser Hodenveränderung gab eine Kontusion, die ihm seine eigene Frau beigebracht habe. Der Magen, die Milz, die linke Niere, überhaupt alles auf der linken Seite, ist angegriffen; ‚„‚das Bedenkliche ist das, daß gerade die linke Seite die

t) Siehe die Besprechung der Impotenzkompensation und der Größenideen- Abstammung.

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positive Seite ist, wegen dem Herzen, von dem ja die Ausstrahlung ausgeht‘‘. Alles das fühlt er in sich; er sieht es auch, er hat die Eigen- schaft, in sein Inneres schauen zu können, die er der Doppelseitigkeit seiner Gewebe‘ verdankt (?).

Patient leidet viel unter Verfolgungen; scharfe Instru- mente werden von den Feinden gebraucht, Messer, Dolch, Nadeln, Flobertgewehr, Revolver, ‚Protektor‘; gezielt wird nach den Augen, dem Abdomen, dem Rücken (speziell nach der unteren Partie, in den After). Das dauert schon viele Jahre. Jetzt sind es Männer, die nachts mit Instrumenten ins Zimmer eindringen und manipulieren.

Bei weiblichen Patientinnen wissen wir, daß Injektionen häufig sexuell aufgefaßt werden, bei einzelnen sogar ganz bewußt. Die Rolle des Messers, der Pistole usw. als Symbol des männlichen Geschlechts- organes ist uns ebenso klar. Handelt es sich hier um etwas Ähnliches bei einem männlichen Patienten? Das Vorhandensein der homo- sexuellen Tendenzen ist oben aus ganz anderer Quelle bewiesen worden.

Die Annahme wird immer wahrscheinlicher, wenn wir von B. erfahren, daß die Quälereien meist von Pollutionen begleitet sind. B. hat vielfach geglaubt, er habe einen Molch, eine Schlange oder Würmer im After. Solche Phantasien haben Frauen häufig, mit dem Unterschiede, daß die betreffenden Tiere sich bei ihnen in der Vagina oder sonst im Leibe befinden. Die Angabe, er habe einige Zeit einen Molch im Darme gehabt, dessen Abgang sehr schwer war, klingt beinahe wie eine Entbindungsphantasie.

Durch die Annahme der homosexuellen Tendenzen und Ver- folgungen wird in unserem Falle verschiedenes klar; zuerst der für einen Schizophrenen auffallend gute gemütliche Rapport mit dem untersuchenden Arzte. Der adhäsiveHändedruck!)war an sich schon längst verdächtig.

In seinen Phantasien zeigt sich eine eigentümliche Passivität; „es wird etwas an mir gemacht“; „Wüstlinge sättigen ihre Wollust an mir‘ usw., ferner spricht B. sehr rühmlich von den ‚„Stauffacherinnen“, bekanntlich einem legendären Typus der energischen Frau, die ihren Mann zum Widerstande gegen die Landvögte ermutigt. Zum selben

‘) Siehe bei Epileptikern die Zurückführung des Symptomes auf die homo- sexuelle Komponente der Libido, Maeder, Die Sexualität der Epileptiker, dieses Jahrbuch, I. Band, 1909.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 193

Gedankengange gehört die Wahnidee, daß seine Söhne genau wie er mit Messerhieben in den Rücken verfolgt und gemartert werden; sie werden von den Feinden in der Nähe der Anstalt zurückgehalten; Patient spürt am eigenen Körper alles, was an den Kindern gemacht wird. Durch diesen Transitivismus scheint er sich der homo- sexuellen Neigung zu seinen Söhnen zu entledigen. Seine Feinde machen die Quälereien, mißbrauchen die Knaben, nicht er.

Die Verfolgung ist hier wohl im wesentlichen als homosexuelles Attentat aufzufassen.

Die Vergiftung soll die psychische Impotenz des Patienten erklären. Wir wissen schon, daß seine schwarzhaarige Frau in der letzten Zeit vor der Internierung keinen Reiz mehr auf ihn ausübte: ‚‚die Natur ist mir dreimal gekommen, während sie bei der Frau nur einmal kam“; „die Schwarzen sınd überhaupt nicht zu befriedigen, sie sind zu gierig“. Sie müsse weg, könne einen andern heiraten, er werde für sie finanziell schon sorgen, wenn er nur selbst eine andere, eine Blondine bekommt. In der letzten Zeit zu Hause hat er sich sexuell ‚‚geschont“. ‚‚Es heißt nämlich (eine Stimme sagt es), wenn ich eine Frau geschwängert habe dann bin ich impotent gewordent)‘“. „Wenn das eintreten sollte, wäre es ein Unglück für die ganze Menschheit“. Die ganze Männlichkeit würde zugrunde gehen, ja sogar die ganze organisierte Welt; man weiß, daß in den letzten Jahren die Natalität namentlich in Frankreich zurückgegangen ist, die Reben produzieren auch weniger, ganz speziell ist die Produktion des roten Weines (für ihn das spezifisch männliche) zurückgegangen“. Alles das ist ihm der klarste Ausdruck der sexuellen Verfolgungen, welche gegen ihn gerichtet sind.

Von ihm aus geht die „befruchtende Ausstrahlung“ in der ganzen Natur, von seinem ganzen Körper, speziell von seinen „wunder- baren Augen“, die gleich zwei Magnetpolen sind. Diese Strahlen heißen die Lebenslichtstrahlen oder elektromagnetische Strahlen. Sie er- wecken die ‚„Geschlechtsliebe“, sobald er jemanden nur anschaut. Die Frauen verlieben sich sofort in ihn. Es sind schon viele für ıhn bestimmt worden, meistens Blondinen, wie die Königin von Niederlande; die Ehe wurde bis jetzt durch die organisierten Feinde (die Feme) verhindert. Die Strahlen üben eine Anziehungskraft nicht nur auf die Frauen, sie erwecken auch die Samenproduktion in den Männern (Homosexualität), noch mehr, sie spielen in der ganzen Natur eine maß-

!) Man sieht daraus den teleologischen Wert psychischer Erscheinungen. Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forsehungen. II. 13

194 A. Maeder.

gebende Rolle; die Erde zieht ja die Sonne zu sich und die Wirkung ist gegenseitig, der Mond übt eine negative, feminine Wir- kung aus. Ein Beweis dieser Bestrahlung von der Erde aus und nicht von der Sonne sieht B. darin, daß die Alpen nur oben an der Spitze ewigen Schnee haben, das heißt weit weg von ıhm und nicht etwa an der Basis.

Alle großen Naturereignisse, wie Vulkanausbrüche, Zyklone, Überschwemmungen usw. hängen mit dem Zustande seines Körpers, speziell mit der Ausstrahlung, zusammen.

Die erste derartige Beobachtung machte er noch in O. Nachdem er einige Tage deprimiert war und unter einem schweren Weinkrampfe dessen Ursache Injektionen in das Gehirn waren gelitten hatte, merkte er, wie es plötzlich hell wurde, im Momente, wo er sich besser fühlte; der Himmel wurde klar, schön blau, wie seine Augen. Er erkannte bald darin einen innigen Zusammenhang; jetzt weiß er mit Sicherheit, daß, wenn nachts an seinen Augen „gepfuscht‘“ wurde, das Wetter am Morgen nicht klar ist; man kann an diesem Tage in der Stadt nicht photographieren, weder der Himmel noch seine Augen sind dann blau. Die Sonnenflecken hängen mit seiner Augenverletzung zusammen. Die Irisflecken entsprechen den Injektionsstichen, die Iris- flecken sind aber die Sonnenflecken. Er untersuchte seine Jugend rückgreifend danach und es war ihm leicht nachzuweisen, daß früher schon viel Auffallendes passiert war. Z. B. als er sich die Tautropfen näher ansah, merkte er farbige Strahlen, ‚die nur von seinen Augen ausstrahlen konnten“.

Einmal fiel er von einem Baume auf die Nase hinunter, ‚‚es war wie wenn eine Lichtkugel platzen würde‘, seit der Zeit habe er ein Gefühl des Beißens und Brennens in den Augen gehabt.

Mit 15 Jahren traf ihn ein Schneeball ins rechte Auge. Zu der- selben Zeit ereignete sich eine furchtbare Überschwemmung in ganz Europa (‚‚der Tränenfluß‘“) usw. Alles bis in die Neuzeit hinein hängt mit dem Geschicke seiner Familie zusammen; z. B. die Zerstörung des Zeppelinschen Luftschiffes bei der Mainzprobefahrt war die Reper- kussion eines Attentates auf seinen Knaben Hans. Patient untersucht fast jeden Tag die Zusammensetzung seiner Ausstrahlung, um die Intensität der Verwüstungen zu schätzen, welche in der Nacht durch die Mißhandlungen entstanden sind. Er macht das so, daß er die Hand zu einer Röhre schließt und durch sie nach der Sonne hinblickt. Er

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sieht, wenn er blinzelt, farbige Strahlen; wenn die roten und blauen überwiegen, steht es mit ihm gut, das sind die befruchtenden Strahlen (dem roten und blauen Blut entsprechend). Sie sind „sozusagen durch Elektrizität zerstäubtes arterielles und venöses Blut“. Wenn das grüne überwiegt, ist die Vergiftung mit dem Grüngifte (dazu gehören nach ihm S, P, Cu, As usw.) stark gewesen.

Es ist ganz unmöglich, ihm das Phänomen begreiflich zu machen, er kann absolut nicht anerkennen, daß andere Menschen solche Farben auch sehen können. Die anderen können es nur sehen zur gleichen Zeit wie er, „durch .Übertragung‘“.

B. kommt sich selbst vor wie eine kosmische Macht (ähnlich einer Gottheit), welche befruchtet und belebt; er sagt z. B. von seinem Herzen, daß es seine Pulsationen auf alle Uhren der Welt überträgt; Störungen im Uhrwerke gebe es nur, wenn bei ihm nachts etwas ge- pfuscht wurde.

B. fürchtet die Konkurrenz seiner eigenen Kinder, alle Rassenkinder müssen sofort von ihm entfernt werden; es ist nicht mög- lich, es ist schädlich, daß zwei Wesen von dieser Beschaffenheit zu- sammenleben, ‚wegen der Kreuzung der Lebenslichtstrahlen‘“, Patient selbst genüge, was die befruchtende Kraft anbelangt, für die ganze Schweiz,

Die angeführten Phantasien des Patienten über seine außer- gewöhnliche Fruchtbarkeit und Kraft bilden eine Kompen- sation seines zunehmenden Insuffizienzgefühles im se- xuellen Gebiete, seiner eintretenden Impotenz, sie sind klare Wunscherfüllungen.

Diese besondere Fähigkeit und Potenz gehört seiner ganzen Rasse an, von der später noch mehr die Rede sein wird; ich gebe jetzt nur ein paar Züge, welche in diesen Zusammenhang hineinpassen. Die Rasse ist die „Urgens‘ oder „Gens ulpia‘, sie besitzt die „Menschen- erzeugende Kraft, sie ist der Urtrieb der menschlichen und tierischen Erzeugungskraft“. „Gens ulpia, Genesis gleich Keimfähigkeit, Ulpia oder urgens gleich Ursprung des Geschlechtstriebes, Ursache der Lebensimpulse.‘ „Zum Gens ulpia Geschlecht gehören ich, meine Mutter, einige von mir erzeugten Töchter und einige andere Frauen (z. B. Königin Wilhelminet). Ich bin der Fortpflanzer der Männer, die männliche Gens ulpia regt auch die weibliche Zeugungskraft an.“

1) Also nur Frauen,

13*

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In der umgebenden Natur sieht B. einen Beweis seiner sexuellen Funktion; die Früchte an den Bäumen, speziell die Äpfel und Birnen, dieKirschen und Haselnüsse, die Hülsenfrüchte, sind nur ‚Darstellungen sowie Vervielfältigungen seiner eigenen Genitalien“, ganz speziell die „Eichel sei wie sein Glied geformt‘. Daß so etwas für die anderen Männer auch paßt, kann B. nicht verstehen; er kommt, seiner Ansicht nach, allein in Betracht (B. ist wieder ein Beispiel eines Schizophrenen, dem die Sexualsymbolik ganz bewußt ist, im Gegensatze zu den Hysterischen!).

Einmal äußert B. den Wunsch, sich mit dem Gartenbau, nament- lich mit dem edlen Obstbau zu beschäftigen; er wolle sich sogar, wenn er aus der Anstalt herauskommt, einen großen Obstgarten anschafien, den er liebevoll pflegen würde; er könne dann auf jedes soziale Leben, auf jede höhere Stellung verzichten.

Seit einigen Wochen arbeitet er allein fleißig im Obstgarten der Anstalt. Daß dieser Wunsch auch eine Äußerung seiner Komplexe ist, also psychisch genau determiniert ist, können wir vermuten, er hat uns gesagt, das ‚„Kernobst“ sei ein Sinnbild seiner eigenen Genitalien; wir wissen auch, daß B. unter einem starken Impotenzkomplexe leidet. Die Obstpflege selbst dürfte also symbolisch gemeint sein; das gibt er ohne weiteres zu, sobald man ihn zur Rede stellt, dieser Gedanke ist ihm vollkommen bewußt, es bedeutet nichts anderes in der Logik eines Dementia Praecox Kranken als die Pflege des ‚‚edelsten Teiles“ seiner Person.

Die Abwehr der Verfolgungen.

Gegen die Verfolgungen hat Patient eine Anzahl von Abwehr- oder „indirekten Verteidigungsmitteln‘“, wie er sie selbst nennt, erfunden. Zuerst die Abwaschungen und Spülungen der Augen und des ganzen Körpers, welche schon oben erwähnt worden sind,?) das Vielwassertrinken zwecks Verdünnung, die Onanie zur Aus- scheidung der in den Hoden angesammelten Gifte eine neue Art Entschuldigung des Lasters —, dann die sogenannte Heilgymnastik: Patient faßt sich selbst plötzlich am Hinterhaupte und gibt sich einen

!) Er sagt z. B. „er sei von den schwarzen Katzen verfolgt oder den schwarzen Weibern, es ist gleich“. ?) Einreibungen mit Kampferspiritus, den er als Nervenreinigungsmittel bezeichnete; der Kampfer ist als Antaphredisiakum im Volke bekannt. Diese ganze Symptomengruppe gehört, wie man jetzt weiß, zur Onanieabwehr.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 197

Stoß nach vorn; „durch Gefühlsübertragung fallen dann seine Feinde um“ ; oder er schnürt sich den Hals mit dem Taschentuch ein, als ob er sich erdrosseln wollte, lacht dabei, wie wenn er etwas recht Gescheites gemacht hätte; oder er hält einen kleinen Taschenspiegel dicht vor die Augen oder setzt seinen Hut so auf, daß er die Augen verdeckt. ‚Durch Übertragung sehen die Feinde auch nicht vor sich und wenn sie zufällig eine Treppe hinuntergehen, fallen sie um“; ‚‚es kommt doch hinzu, daß sie immer ein Messer in der Hand haben, um ihn zu quälen“; „man kann hoffen, daß das Stürzen ihnen einmal verhängnisvoll wird‘. Das erklärt das eigentümliche Triumphlachen, das einer solchen Handlung regelmäßig folgt.

Ein anderer Trick besteht darin, daß er sich selber rhymthische Faustschläge in die Poplitealgegend gibt, um eine unwillkürliche Beugung des Beines zu provozieren, welche weiter auf die Feinde übertragen wird, oder er streckt plötzlich den Arm nach einer bestimmten Richtung etc. Außer den schon erwähnten, hat B. noch eine ganze Anzahl anderer Verteidigungsmittel, die ich nicht alle erwähnen will. Er zieht sich dazu meistens in eine Ecke zurück, führt die Handlung mit großem Ernste aus, sie hat den Charakter des Automatischen in hohem Grade. In diesem Falle gibt uns die Psychoanalyse Aufschluß über den Sinn dieses katatonischen Symptomes par excellence. Hier ist die Stereo- typie sicher nicht der Ausdruck einer „psychomotorischen Reizung“, wie die gewöhnliche Phrase lautet, sondern ein psychisch genau deter- minierter Akt, eine symbolische Handlungt).

In das Gebiet der Abwehr gegen die Verfolgungen gehören noch die Erfindungen des Patienten; er hat hier ein Flugsutomobil erfunden, um seinen Feinden zu entschlüpfen, wenn sie ihn zu sehr drängen. Er hat ferner neue mächtige Feuerwaffen gezeichnet, die er patentieren lassen will. Bei der Gelegenheit erzählt er, daß er kurz vor der Internierung einen Revolver gekauft und Schießübungen im Walde gemacht hatte, um die Leute zu erschrecken. Wir wissen übrigens,

!) Bei einem alten Katatoniker, der seit vielen Jahren die Gewohnheit hat, peinlich genau in gerader Linie längs einem Striche auf dem Parkett zu gehen, konnte ich feststellen, daß diese Eigentümlichkeit vom Patienten selbst als ein Ausdruck seines Strebens betrachtet wird, ‚ein besseres Leben anzufangen“, nicht vom geraden Wege abzuweichen; er hält sich auch dementsprechend immer isoliert von den anderen, da er sich für unwürdig hält, mit den „guten Menschen‘‘ zu ver- kehren; sobald jemand in die Nähe kommt, deckt er sich das Gesicht zu und nimmt eine demütige Stellung ein. „Er sei ein alterNarr, der nichts Rechtes sagen könne“, so entschuldigt er sich bei jeder an ihn gestellten Frage.

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daß Patient ein sehr guter Schütze war und viele ersten Preise bei Schützenfesten gewonnen hat. B. begnügt sich damit nicht, sich regel- recht gegen die Feinde zu verteidigen, er versucht auch, sie mit dem Wortwitz und mit dem Rebus zu treffen. Z. B. trifft ihn Referent einmal auf der Abteilung, wie er eben folgendes Wort mit Nachdruck Silbe für Silbe auszusprechen versucht: Die Soziologen; er erzählt dann lachend, was es heißt: Die Sozi oh! logen! (Die Sozi = Gesellen sind die zur Feme organisierten Verfolger).

Aus dem gleichen Bedürfnisse entsprang folgender Rebus, den Patient selbst mit allen Details zeichnete und erklärte:

(Satyrisches Bilderrätsel.)

Fortlaufend gelesen heißt es: Immunität besser für Euch als Unstrafbarkeit!); der Spruch ist an die Feinde adressiert.

Ich will gleich bemerken, daß die Komplexe des Patienten sich sogar in den Einzelheiten verraten: unter dem Worte Im stehen noch die Worte Sac und Eier; B. liest Isaak Meier, erzählt dazu die Geschichte eines I. M., welcher in einem Harem überrascht und sofort kastriert wurde (Sac Eier = Hodensack).

!) Das Tier soll einen Stier darstellen, im Dialekt ‚„Muni‘ genannt; der Mann ißt = ein Esser; 4 = für (nach Aussprache der Süddeutschen, welche wegen des Katholizismus zu seinen Verfolgern gehören); der Baum ist eine Eiche, wird aus obigem Grunde für „Euch‘‘ eingesetzt, das Boot für „Barke“. Immunität besser für Euch als Unstrafbarkeit.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 199

Isaak ist ein Jude, der zu den geldgierigen Spekulanten, die ihn verfolgen, gehört.

Auffallend ist weiter am Stier, daß er keinen Hodensack hat und daß er den Namen Falb trägt. ‚‚Falb reimt mit Kalb, es ist der Name des Wetterpropheten, welcher behauptete, etwas vom Wetter zu ver- stehen; er ist einer meiner ärgsten Feinde.‘ Er verdient auch kastriert zu werden, wie der Stier. Man erkennt hier den Impotenzkomplex des Patienten, welcher in der beständigen Angst lebt, durch die spezifische Vergiftung seine sexuelle Leistungsfähigkeit zu verlieren. Der erste Teil des Rebus hat noch einen dritten, etwas gezwungenen Sinn, den ich nicht ausführlich mitteilen will; er sagt in Substanz seinen Feinden, „sie sind alle Stiere‘!).

B. Komplex der Abstammung.

Was diese Einteilung des Materials in die Komplexe der Sexualität und der Abstammung Künstliches hat, braucht kaum hervorgehoben zu werden; sie geschieht aus rein äußerlichen Gründen, der Übersicht- lichkeit wegen.

Wir wissen, daß die eigentliche Psychose im Anschlusse an den Diebstahl im Bureau des Patienten ausgebrochen ist. Es haben wahr- scheinlich schon ziemlich lange vorher isolierte Symptome bestanden. Von diesem sozusagen traumatisch wirkenden Momente an fühlt sich B. ungemütlich.

„Man verdächtigt ihn, „er werde beobachtet‘, er wagt sich nicht mehr hinaus in der Angst, daß die Polizisten, welche auf ihn lauern, ihn auf der Straße abfassen; er geht unregelmäßig zur Arbeit. „Man meint“, er mache mit den Feinden des Geschäftes mit; das gestohlene Geld sei wahrscheinlich bei ihm versteckt. Er stellt in der Nacht Haus- untersuchungen mit der Frau an. Der Zustand wird unhaltbar, die Beobachtung geschieht mit allen Schikanen der modernen Wissenschaft, mit der sogenannten ‚Multiplex Camera obscura‘‘ (?) und mit dem Phonophotograph usw. Es wird alles registriert. Eine Zeitlang durfte man zu Hause nur flüstern, zuletzt überhaupt nicht mehr reden, nur schreiben. Der höchste Grad des Raffinements war die Photographie der Gedanken im Gehirne vor ihrer Entstehung selbst.

Alles das ist das Werk einer Bande von Feinden, welche sich

!) „Wenn man sie in Muni verwandeln täte, würden sie Kälber erzeugen

können“.

200 | A. Maeder.

zu einer Feme organisiert haben, um ıhn ın seiner Kaıriere zu ver- hindern.

Diese große Gesellschaft besteht hauptsächlich aus zwei Gruppen von Menschen, aus den Roten und aus den Schwarzen. Die Roten sind die geldgierigenKapitalisten und Spekulanten, „welche aber im Essen und im Geschlechtsverkehr ebenso unersättlich sind“. Der Vorgänger des Patienten als Bureauchef der Firma hatte viel spekuliert, Patient mußte gegen ihn und einige Mitglieder des Verwaltungsrates von Instanz zu Instanz einen Prozeß führen, welcher jahrelang an- dauerte und sehr aufregend war. Das Geschäft ward dadurch stark geschädigt, konnte nur mit großer Mühe wieder in die Höhe gebracht werden. B. war ein aktives Mitglied der sozialdemokratischen Partei gewesen, er war als Mitglied des Gemeinde- und Schulrates und als Präsident von verschiedenen Vereinen sozial sehr tätig. Das lieferte ihm offenbar Material zu dieser Art von Verfolgung. Die Schwarzen sind die Jesuiten, die Konservativen, sie sind geizig, neidisch, sie gönnen sich selbst nicht einmal das Essen. Sie erregen den Geschlechts- trieb zu wenig. An dieser bestimmten Stelle kommt B. regelmäßig auf seine Fra u zu sprechen und dann auf seinen Vater. Wie die Erfahrung zeigt, ist bei der Dementia praecox das Nebeneinander in den Assoziationen sehr häufig gleich einer Identifikation der derart angeführten Objekte; also hier Vater Frau. Es trifft hier auch zu; Vater und Frau werden in der Tat mit genau den gleichen Aus- drücken charakterisiert. Sie waren beide „schwarzhaarig und schwarzäugig, geizig, neidisch und lungenkrank‘. Das sind die Eigen- schaften, welche wir von den schwarzen Verfolgern überhaupt kennen (bis auf die Lungenkrankheit). Dazu paßt noch, daß die Frau katholisch ist (die Jesuiten von oben). Aus verschiedenen Angaben wissen wir mit Sicherheit, daß die Frau zu den Verfolgern gehört, sie hantiert mit einem Messer, droht ihm, sobald er mit Blondinen spricht. (Die Mutter B.’s war blond und blauäugig wie Patient selbst.) Es war theore- tisch aus obigen Gründen zu vermuten, daß der Vater auch zu den Schwarzen gehört; B. machte spontan keine Angaben darüber. Bei der ersten Frage kam die Bestätigung. Patient vermutet, daß seinVater, der vor zirka zwanzig Jahren gestorben, wieder auf die Welt ge- kommen ist bei den Ausgrabungen zwecks Umbauten im Friedhofe seiner Vaterstadt. Er hat sich leider bei der Feme engagieren lassen.

Es ist interessant, jetzt schon darauf aufmerksam zu machen, daß sämtliche Eigenschaften der zahllosen Feinde, der Roten und der

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 201

Schwarzen zusammen charakteristische Züge der Frau und des Vaters des Patienten sind. Sie sind schwarz, geizig und gierig (in Geld und Geschlechtsgenuß), neidisch, Jesuiten (katholisch), erregen den Ge- schlechtstrieb zu wenig usw. Im Gegensatze dazu scheinen alle Eigen- schaften der erwünschten Geliebten und der phantasierten „‚Rassigen Kinder“ dem Typus der Mutter des Patienten anzugehören; sie war blond, hatte blaue Augen wie er selbst; die Königin der Niederlande, an die er sich in einem Brief gewendet hatte (in der Krankengeschichte steht noch eine authentische Antwort des holländischen Ministers des Äußern) und einige andere hohe Damen, mit welchen Heiraten auf diplomatischem Wege geplant worden waren, sind Beispiele davon.

Aus objektiven Angaben wissen wir auch, daß B. seine Mutter dem Vater immer vorgezogen hatte, daß sie in ihrem Gemüte und Charakter viel Ähnlichkeit mit ihm hatte. Er soll sie mit großer Opfer- freude bis zum Tode gepflegt haben (1883), wo er die Vision eines Engels, seines „Schutzengels“, gehabt hat.

Den Vater nennt er konsequent, ohne sich je zu versprechen, den „Stiefvater‘“ oder „Herr B.‘; er spricht immer in wenig günstigem Tone von ihm (,,er ist nicht gerade dumm gewesen, aber gehässig und geizig‘“), im Gegensatze zu der Mutter.

Auf die Grundlage dieser infantilen Einstellung baute sich bei B. allmählich ein kompliziertes System von Größen- und Verfolgungs- wahnideen. B. fing an, sich für Stiefsohn des Vaters B. zu halten. Zu jener Zeit litt Patient viel unter physikalischen Verfolgungen aller Art, sein Gedankengang war, nach seinen eigenen Angaben folgender: Wenn ich nur der B., Buchhalter und Protestant wäre, würden mich die Jesuiten und Geldmenschen nicht derart verfolgen, „es müßte den Kapitalisten gleich sein, ob ein gewöhnlicher B. lebt oder nicht; ich muß mehr als ein gewöhnlicher Mensch sein“.

Seine Mutter, eine geborene Kündig, sei die Königin Anna, der Name Kündig sei nur eine Verstümmelung von König!). Der echte Vater ist der französische König Louis Philippe d’Orleans; B. sei ein Abkömmling der Bourbons-Bonaparte-Orleans (den Widerspruch sieht er nicht, auch nicht, nachdem man ihn darauf aufmerksam gemacht hat). Als Beweis dafür erzählt er, daß es in seiner Jugend hieß, der

!) König = altertümlich Künig davon Kündig.

202 A. Maeder.

‚Großvater mütterlicherseits sei in fransösischem Dienste in Paris ge- standen, man zeigte noch einen adeligen Degen von ihm. „In Wirklich- keit war ein Mitglied des Herrscherhauses von Frankreich, man wagte es nur nicht zu sagen wegen der Verfolgung“. Dieser Wahn gibt uns die Erklärung, warum B. die ‚‚Louis d’or“ immer mit sich trug und sie nie ausgeben wollte. Einmal sogar war er in Geldverlegenheit; er hatte 100 Franken in Gold bei sich, weigerte sich, davon Gebrauch zu machen und wollte die Frau zwingen, ihre goldene Uhr zu versetzen, ‚die Wappen seiner Familie kann man doch nicht abgeben!) !“

Wir verstehen jetzt, warum er einen kostbaren Grabstein seinen Eltern, zwanzig Jahre nach ihrem Tode, in den Friedhof setzte.

Seine Familie nennt er die St. Johannesfamilie (er heißt selbst Johann, seine Mutter hieß Anna); ein Bindeglied zwischen der könig- lichen Familie Orleans und ihm ist die Jeanne d’Arc oder die Jungfrau von Orleans. Der Urvater des ganzen Geschlechtes ist der Erzengel Gabriel, welcher seinerzeit auf dem Himalaja wohnte, sich aber mit seinen Flügeln nach dem Kaukasus transportierte, dort als Prometheus auftrat, dann nach Griechenland, wo er Zeus und Apollo erzeugte, nach Palästina, wo Johannes der Täufer zur Welt kam, welcher ‚‚der eigent- liche Ehemann der heiligen Madonna und der Vater Christ!“ war, dann weiter nach dem Westen: nach Frankreich (die Orleans), nach England, das sogenannte Engelland usw. Der erste der schwarzen Bande war Kain, Abel war der erste Blonde der Johannesfamilie.

Patient ist mit seinen rassigen Kindern eines der Endglieder dieser großen Familie. Die ehelichen Kinder mit der „schwarzen Ehefrau“ sind nicht rassig bis auf den letzten im Jahre 1900 Geborenen, welcher Hans (Johannes) genannt wurde; er ist in der Tat der einzige Blonde; die anderen sind brünett bis schwarz, ‚‚sie gehören der Frau allein“ und werden nicht anerkannt. Eine Eigenschaft charakterisiert die Johannes- familie, das ist außer dem blonden Haar und den blauen Augen?), der besondere Glanz der Augen; wir haben dies schon im ersten Teil

!) Es ist dem Referenten aufgefallen, daß B. immer von Mark und nicht Franken spricht, was bei uns nicht üblich ist; er sagte z. B. ‚‚ich verdiene 5000 Mark“ statt 5060 Franken; zur Rede gestellt erklärte er, er vermeide den Ausdruck Franken absichtlich, „da es gewisse Leute gibt, welche meinen, unter Franken seien die blonden blauäugigen Einwohner von Frankreich gemeint und ich sollte zu ihrem Kaiser ernannt werden.‘

?) Bei den Verfolgungen sagten wir schon, daß die Augen bei B. mit der Sexualität assoziiert sind.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 203

angetroffen unter dem Namen der Liehtaugen der Gens ulpia. Diese Strahlen haben eine kosmische Bedeutung, sie sind die Träger der ‚Fruchtbarkeit überhaupt, sie bedingen die Anziehung und Bewegung der Himmelskörper (Gravitation usw.).

Es ist für Patienten kein Zufall, daß der erste Meridian durch Paris geht, es ist ja die Stadt seiner Ahnen, seiner königlichen Familie!).

3. Zusammenfassung.

Wichtig für die spätere Entwicklung der Psychose ist die Ein- stellung des Patienten als Kind seinen Eltern gegenüber. Die Mutter, eine Blondine mit blauen Augen?), steht ihm von jeher am nächsten; sie scheint auf das Gemüt ihres Sohnes stark gewirkt zu haben. Er wollte sie, als er noch Junggeselle war, zu sich nehmen, als sie tödlich erkrankte. Nach dem Tode soll er eine Vision von ihr, als Schutzengel, gehabt haben.

Der Vater war schwarz (Augen und Haare), Webermeister in einer großen Fabrik, wie der Bruder unseres Patienten. J. B. scheint ihn nicht besonders geliebt zu haben: ‚er war nicht gerade dumm, aber neidisch, geizig, schwarz und lungenkrank“. Wir wissen von objektiver Seite, daß das Verhältnis zwischen den beiden nie sehr innig war. Trotzdem muß der Vater auf den Sohn einen ziemlichen

') Wie weit die Assimilationstendenz des Komplexes bei unserem Patienten geht, ersehen wir noch aus folgendem Detail: Patient zeigt dem Referenten bei der Visite eine Abbildung aus einem Buche, das sich auf der Abteilung befindet. Es ist ein allegorisches Bild. In der Luft schweben eine Frau (irgend eine mythologische Divinität) und ein Knabe mit einer brennenden Fackel. Unterhalb derselben auf der Erde befinden sich auf der Seite der Frau ein Löwe, rechts ein Adler. Patient deutet spontan das Bild folgendermaßen. Die Frau ist die Jungfrau von Orleans, unter ihr sei der Löwe, ein goldner Löwe, einor lion oder Orlean. Der Junge sei ein St. Johannes; die brennende Fackel, das Feuer, beweise es zur Genüge (,„Johannisfeuer“), der Adler sei ein Zeichen der königlichen Abstammung. Aus diesem Beispiele sieht man sehr schön, wie bei den Schizophrenen das Innen- leben eine Überbetonung zeigt; die eigenen Wünsche und Befürchtungen stören die Wahrnehmungen, diese Kranken schauen die Außenwelt mit Gläsern eigener Fabrikation, deren Zusammensetzung von ihrem Vorleben und von ihrem Streben abhängt; das wahrgenommene Bild wird durch die Unvollkommenheit der Gläser verzerrt. |

2) Patient hat auch blaue Augen; er war blond, er ist jetzt brünetter als früher, was er auf die Vergiftung zurückführt.

204 A. Maeder.

Eindruck gemacht haben. J. B. hatte eine vollständige kaufmännische Lehre hinter sich, als er sich plötzlich entschloß, ohne äußeren Grund, Weber zu werden wie der Vater. Einen anderen Grund sehen wir darin, daß er sich eine Frau wählte, welche er, allerdings nachträglich, mit genau den gleichen Ausdrücken beschreibt wie den Vater!), allerdings fügt er noch hinzu: unersättlich und katholisch. Patient führt ein tätiges, relativ erfolgreiches Leben. Die Psychose bricht kurz nach dem 40. Lebensjahre aus; sie beginnt mit einem ausgesprochenen Beziehungs- wahn, dessen Inhalt ursprünglich an Ereignisse der letzten Jahre im Geschäfte anknüpfen. Episodisch treten Verfolgungs- und Größen- ideen auf, welche sich allmählich systematisieren. Es kommt gradatim bei B. zu einer Einteilung des psychischen Materials (aus der Ver- gangenheit wie aus der Jetztzeit) in zwei große Gruppen: Größen- wahn und Verfolgungswahn. Es ist interessant, jede Gruppe getrennt zu betrachten.

Die mütterlichen Züge, welche wir oben erwähnt haben, werden zu den typischen Zügen einer besonderen Rasse, der „Gens ulpia“. Zuerst gibt es nur weibliche Mitglieder außer B. selbst?), und zwar die Mutter, die blonde Königin von Niederlande (mit der er sich mor- ganatisch verehelicht glaubt) und einige starke Blondinen. Von der Mutter kommt er durch eine Klangassoziation auf eine glorreiche Ahnentafel (von Anna Kündig auf Königin Anna, Johanna von Orleans usw.), die durch sämtliche Königsfamilien der Welt bis auf Johannes den Täufer, Abel, Prometheus und den Erzengel Gabriel zurückgeht. Die Familie heißt die St. Johannisfamilie (Patient heißt Johann, die Mutter Anna). Alles Große und Gute auf der Erde ist von ihr geleistet worden. Die Erdgröße reicht aber nicht aus. Die Augen des J. B., welche aus zahlreichen Gründen?) eine Zentralstelle einnehmen, werden zu kosmischen Gebilden; sie befruchten durch ihre Ausstrahlung die ganze Welt, sie enthalten die Kraft der Gravitation, sie sind der Himmel selbst.

‘) Vgl. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. Deuticke, Wien 1909.

?) Dann sah er es ein und gründete eine männliche Gens ulpia, zu der außer ihm selbst seine rassigen Knaben gehörten.

®) Die Verteilung der Augenfarben in der Familie, die Verletzungen der

Augen in der Jugend, die Beobachtung der schillernden Tautropfen, die Macht des Blickes in der Liebe usw.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 205

Zur zweiten Gruppe gehören die Verfolger des Kranken zuerst sind es vage Gestalten, welche ihn in der denkbar grausamsten Art quälen, mit allen möglichen Instrumenten und Giften mißhandeln (der ganze physikalische Verfolgungswahn). Allmählich präzisiert sich die Art der Verfolgung, welche zum guten Teil symbolischer Art ist, die Verfolgung ist hauptsächlich eine sexuelle, und zwar ganz speziell eine homosexuelle. Die Hauptzüge der Feinde sind der Frau des Kranken und seinem eigenen Vater entnommen (im Gegensatze zu den Zügen der Mutter); die Mitglieder der Feme sind schwarze und rote Menschen, von einer besonderen Gierigkeit und Unersättlich- keit in sexueller und finanzieller Beziehung wie ihre Modelle. Sie wollen B. vollständig ruinieren, wogegen er sich wehrt so gut er kann, durch die Erfindung eines komplizierten Systems; er greift sogar zum Witz und Rebus. Der Wahn dehnt sich allmählich auf alles das aus, was für ihn negativ gefühlsbetont ist (Klerikalismus, Konservatismus, Sozialdemokratie usw.), schließlich kommt er auf Satan selbst, die Personifikation des Bösen. Schließlich ist aus dem ursprünglichen individuellen Konflikte bei B., welcher in der Familienkonstellation angelegt war, ein abstrakter Kampf des Guten gegen das Böse ge-

worden.

4. Anhang.

Nachdem die Psychoanalyse zu diesem soeben mitgeteilten relativen Abschlusse gekommen war, habe ich das Jungsche Asso- ziationsexperiment mit dem Patienten gemacht, um den Lesern zu zeigen, wie es erlaubt, sich in aller Kürze eine Übersicht der psychi- schen Konstellation der Versuchsperson zu verschaffen. Es wurden 100 Assoziationen aufgenommen. Das wahrscheinliche Mittel der Reaktionszeit war !*/, Sekunden. Ich werde im folgenden die 50 ersten Assoziationen kurz besprechen, mich nur bei denjenigen aufhalten, welche besondere Komplexmerkmale (im Sinne Jungs) aufweisen?).

1) Unterstrichen werden nur die Reaktionen mit Komplexmerkmalen (lange Reaktionszeiten, Reproduktionsstörungen usw.). In Klammern ( ) sind Bemerkungen der Experimentators.. (W) = Wiederholung des Reizwortes durch die Versuchsperson. = richtige Reproduktion.

206 A. Maeder.

Nr. | RBReizwort Reaktion Zeit Reproduktion

„gelb, malen“

(Die Reproduktionsstörung spricht für eine Gefühlsstörung; die Gifte, mit denen man ihn traktriet, sind alle grün)

3| Wasser Feuer 17 | ‚tragen‘, dann + ‚‚Wie Feuer, und Wasser sein, wenn man Feinde hat‘“ (Verfolgung)

4 singen dichten 16 schön? Fürs Vaterland, früher (gesungen).

5 Tod lebendig ir E_

6 lang kurz 6 u

7 Schiff Meer ll |Luftschiffe, selbst konstruiert (Siehe oben unter seinen Entdeckungen)

8 Zahlen Schulden 11 E=

9 | Fenster Nische 9 Scheibe, Türe

(Er steht sehr viel vor Fenstern und Türen und halluziniert, es wird immer von draußen gerufen, Verfolgung)

10 | freundlich häßlich 7

11 Tisch Stuhl 12 Bank, dann +

12 Fragen Antworten 9 En

13 Dorf Stadt 9 u

14 kalt warm 6 _—

15 | Stengel wachsen 17 (lächelt) Zuckerstengel

Samenstengel usw., sogar menschliche $8. (Stengel also Penis symbol)

16 | Tanzen | ja (W.) sehen | 50

(Am Tage vorher war Tanz in der Anstalt.) „Es gab da Patientinnen, die

meinten ich würde sie heiraten“ (er hat nur zugesehen, nicht mitgetanzt).

Als ledig früher viel getanzt. (Charakteristisch ist, daß er einige Patien-

tinnen anführt, welche sich immer erotisch benehmen und welche ihn offenbar gereizt haben, deswegen wird dieser Wunsch transitiv)

See Berg 9 r krank gesund 11 | aussehen, werden, ich selbst (Schließlich Reproduktion richtig)

17 18

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 207

Nr.| Reizwort Reaktion Zeit Reproduktion

19 Stolz Stein 9 in

20 kochen essen 7

21 Tinte schreiben 11 —- in die Tinte geraten

22 bös gut 11 +

23 Nadel stechen 27 | oder Stücke meinetwegen +

Verfolgung. „Das sind eckige

Worte zu‘ beantworten (lacht)

(Der Komplex der Verfolgung drückt sich nicht nur in der langen

Reaktionszeit, sondern auch in dem subjektiven Tone der Reproduktion aus; das sind typische Affektäußerungen)

24 | schwimmen | stehen 1.4 8»;] fahren (Vielleicht eine Perseveration von der letzten Reaktion?)

25 Reise machen 6 =

26 blau färben 16 | rot ... Die Augen, bei mir

sehr wichtig! (Größenidee der Abstammung und Verfolgung) 27 | Lampe zünden 12 | —+ Ja, es ist ein Verbum, es wird dem Leben verglichen 28 | sündigen | viel (lacht) oder | 14 |-+ Vorwürfe über die Abwehr- wenig gymnastik, sie kann Un-

schuldige auch treffen (Siehe Kapitel über die Abwehr)

29 essen 6 | =

30 sein oder machen?| 25 werden (Größenidee, man weiß, daß er aus einem Herrscherhause stammt, in Hotel I. Klasse absteigt usw.) Pflanze 21 |-+-ich möchte mich dem Obst- baue (edlen Obst) widmen (Wir haben schon die symbolische Bedeutung dieses Wunsches besprochen) 32 stechen |(W.?) ja mit dem| 88 E= stechen! meiden | (Verfolgung, der Mechanismus mit dem Spritzen ist oben auseinander gesetzt worden) 33 Mitleid haben 6 2=

34 gelb werden 21 | grün, welk, die Blätter und

Menschen vor Ärger (HypochondrischeWahnideenim AnschlußandieVerfolgungen und Quälereien)

Brot reich

31 Baum

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Nr.| Reizwort Reaktion | Zeit Reproduktion 35 Berg Tal 17 | + über Berg und Tal wandern, lieber (als hier in der Anstalt bleiben) 36 | sterben leben 17 |+- das Letzte; solche Gedanken (Selbstmord) schon gehabt 37 Salz Kochsalz oder 18 —- Nähr- und Giftsalze Essen (Vergiftung) 38 neu alt 14 —+ geboren 39 Sitte Gebräuche 24 was mit einer Person alles

geschehen ist (Sexuelle Attentate auf ihn)

40 beten arbeiten 482 u (motor. Unruhe)

41 Geld bekommen 9 m

42 dumm werden 9 n_

43 Heft schreiben 7 | -

44 | verachten | (Unruhe in den 173 |+- als die Feinde (bedeutender Händen) niemand und begreiflicher Affekt!)

45 Finger Ring 22 |-+ neulich für den Tanzabend

(in der Anstalt) habe ich den Ehering verlangt, damit die Frauen wissen, ich sei schon

verheiratet 46 teuer kekommen 9 —- 47 Vogel (lacht) frißt oder | 22 —- humoristisch

stirbt

(Macht ein Komplexgesicht, es hat offenbar Beziehungen zwischen ihm und den Feinden, nach der Mimik zu schließen)

48 fallen lassen 7 | _

49 Buch halter 7 + (war er)

50 | ungerecht beurteilt, 17 —- ich beurteilen

(Er ist unzufrieden, seit so vielen Jahren in der Anstalt eingesperrt zu bleiben, die Feme hat ihn ungerecht abgeurteilt)

2 Die Besprechung dieser 50 Assoziationen wird genügen, um zu zeigen, wie die Komplexe, welche wir im Laufe der Psychoanalyse

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 209

allmählich kennen lernten im Experiment zum Ausdrucke kommen, das System der Verfolgung, die Abwehr mit der sexuellen Betonung des ganzen, die Größenideen usw. konstellieren den Patienten in klarer Weise und rufen die typischen affektiven Störungen, welche unter der Form der Komplexmerkmale aufgezeichnet sind.

b) Fall F. R.

1. Krankengeschichte.

F. R., Schlosser, von Zürich, ledig, reformiert, geb. 8. März 1869.

F. R. ist erblich belastet: Der Großvater mütterlicherseits war ein „kurioser Mensch‘, die Mutter war acht Jahre in der Irrenanstalt. (Para- noia?) Drei Geschwister derselben waren Psychopathen. Zwei Geschwister des Patienten, sehr ehrgeizig, „fühlen sich zu Höherem bestimmt“. Der Vater des F. R. war Lehrer in der Realschule, ein Bruder des Patienten ist Zeichenlehrer.

R. lernte frühzeitig sprechen und gehen. Eine gewisse Debilität wurde in den letzten Jahren der Primarschule (in der Klasse des Vaters), namentlich aber in der Sekundarschule bemerkbar, im speziellen in der französischen Sprache versagte er. (Siehe später: die Bedeutung dieser Tatsache in der Psychose;) er kam schlecht nach, verlor bald den Mut, entschloß sich ‚aus Liebe zur Botanik‘, wie er in seiner Biographie sagt, für die Gärtnerei. Nach einem Jahre gab er das schon wieder auf und wurde 1884 Schlosserlehrling. Als Knabe soll er aufgeregt, jähzornig gewesen sein, kam mit dem Bruder schlecht aus, wollte ihn einmal mit 9 Jahren erwürgen, war mit seinen Eltern bös, ließ sich nichts sagen, soll einmal die Stiefmutter geschlagen haben, als sie ihn ermahnen wollte. Er war körperlich auch schwach, machte mit 15 Jahren einen schweren Lungenkatarrh durch. Nach der Lehrzeit nahm er einen Kurs als Maschinist und Heizer.

1888 ging er auf Wanderschaft, reiste durch die Schweiz, Süd- deutschland; wollte mit 25 Franken nach Paris, konnte wegen Mangel an Geld nicht einmal über die Grenze und kam schließlich wieder in die Heimat zurück. Er soll sich nirgends lange Zeit aufgehalten haben, kam nicht vor- wärts, erwies sich als unfähig bei selbständigen Arbeiten, war mehr als Handlanger tätig, bekam vielfach Streit mit seinen Meistern, lief einfach weg.

Die letzten zwei Jahre vor der Internierung, die 1895 erfolgte, blieb er zu Hause, versah nur Aushilfsdienst. Es traten allmählich deutliche Zeichen von Geisteskrankheit auf, die der Familie auffielen; er war jäh- zornig, warf mehreremals ein Messer oder eine Gabel dem Bruder und der Stiefmutter ins Gesicht, war alkoholintolerant, fing an zu gestikulieren, für sich zu reden; er verlangte das Geld, das ihm seine verstorbene Mutter hinterlassen haben soll, sagte, „die Haushaltung könnte ohne ihn nicht

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 14

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bestehen“, er müsse eine reiche Frau heiraten, welche einen ‚theologischen Herzfehler‘‘ habe, der liebe Gott habe es ihm am Karfreitage gesagt. Es bestehe eine Allianz gegen ihn. Sein Vater habe an ihm gepfuscht, sonst wäre er ein großer Kanzelredner geworden, die Welt gehe Ende der neun- ziger Jahre zugrunde, wenn sie (die Verwandten oder Eltern) vorher nicht „große Zofinger“ werden.

Er nahm körperlich und geistig rapid ab, wurde am 23. März 1895 in die Anstalt gebracht.

Diagnose: Originäre Paranoia.

Resume: Wir haben es mit einem wenig gebildeten, scheinbar unbegabten Manne zu tun, welcher von einer nicht ungebildeten Familie stammt. In selbständiger Stellung hat er überall versagt. Er ist körperlich schwach, nervös, ist arm und sehr häßlich (siehe später).

Es wird im folgenden interessant sein, diese Daten mit dem Inhalt seines Wahnes zu vergleichen.

In der Psychose lernen wir einen ganz anderen Menschen kennen. Die Krankengeschichte fängt mit folgender Angabe des Patienten an:

„Ich habe Freude an der Kultur und habe mir darüber Poesie gemacht. Ich fühle mich unglücklich, daß ich Schlosser geworden bin und nicht ein Bauer. Ich habe in der letzten Zeit nachgedacht, wie ich es einrichten würde alles was mir gefällt, würde ich mir anschaffen. In dieser Weise habe ich mir Pläne im Kopfe bezeichnet und nachstudiert‘‘ und: ‚‚seit drei Vierteljahren höre ich Stimmen, die mich ärgern, necken, mit Nadeln stechen, kneifen, indem sie meinen, ich hätte sie beleidigt und sei mit ihnen grob gewesen‘ (mit wem denn?), ‚das ist eine Allianz, ich höre ihre Stimmen, sie sind hell und tönen wie kindliche Sprache‘.

„Es hat mich aufgeregt, ich bin taub geworden (taub = zornig), es war mir zu dumm geworden, ıch habe sie zusammengeschimpft. Es hat aber nichts genutzt, sie haben wieder angefangen. Ich weiß, woher alles das kommt, aber ich habe keine Beweise dafür. Es sind noble Leute, die sich von mir verletzt fühlen usw. Es ist die Allianz Contesse, Zürich. Leute von der Bahnhofstraße (die größte Straße der Stadt!). B. ist der Präsident der Allianz, von der Union der noblen Leute, die ihre Positive auf die Volksseite auslassen, insofern sie beleidigt werden. Das sind die Kapitalisten usw. Ich glaube sie gesehen zu haben, wie sie nachts in mein Zimmer gekommen sind. Ich habe dann das Licht angezündet, konnte aber niemanden wahrnehmen usw.‘ ‚Manchmal habe ich auch einen be- sonderen Geschmack im Munde, als ob ein kleines Tierchen mir auf die Zunge gemacht hätte.“

. Im Laufe der Beobachtungszeit wurden ähnliche und andere Hallu- zinationen konstatiert, z. B.: R. ist beim Abwischen auf der Abteilung; plötzlich wirft er die Bürste weg, aufgeregt, „das ist unerlaubt“, er nimmt sein Notizbuch aus der Tasche und schreibt: „unerlaubte Störung durch

Psychologische Untersuchungen an Dementia praeeox-Kranken. 211

die Madonna“; oder er beklagt sich, daß man mit den Fingern in sein Ge- hirn „langt“.

Aus diesen wenigen Angaben entnimmt man schon Verschiedenes, was später eine große Bedeutung im Wahnsystem des Patienten nehmen wird: Patient ist mit seiner Lage nicht zufrieden, in der Phantasie stellt er sich die Sachen ganz anders vor. Er wird verfolgt von noblen Leuten der Bahnhofstraße, es sind die reichen Kapitalisten. Man macht etwas heimtückisch an ihm, er wird geplagt.

Die moderne Diagnose würde lauten Dementia praecox (paranoide Form).

2. Analyse.

A. Die Verfolgungen, hypochondrischen Klagen und die Insuffizienzgefühle.

„Im Jahre 1894 hat man mich nervös gemacht, der Satan hat meine Leitorgane weggenommen und die seinigen dafür gegeben; ich bemerkte das, weil mich der Leitstrom im Gehirn, Hinterkopf sowie im Leibe gezupft und gerupft hat. Die Leitorgane des Satans waren galvanisiert und schadeten mir dadurch, daß sie einen Anzug an meinen Nerven verursachten; im Blute fühlte ich eine schnelllere Zirkulation sowie eine Erhitzung. Ich bekam so die Glieder- sucht, es biß mich am ganzen Körper, überall Stechen und Kitzeln, Satan ärgerte mich tief und teilweise lächerlich, weil er nicht höflich sein wollte mit meiner kleinen Exzellenz von Jeremia.‘“ Später ändert sich die Darstellung etwas: „Mein Kopf ist nicht mehr in Ordnung, es ist etwas weggenommen worden, es wurde von den großen Herren gepfuscht (starker Affekt dabei), es war unanständig (auf die Frage was? Sperrung....), ein lustiger Schund (lacht läppisch), ich war früher in gewissen Dingen, im Fach Schlosserei und Regierungswesen sehr geschickt, jetzt ist das kaput gegangen. Man muß Nerveneinlagen und Anschlüsse machen, für die Nerven des Verstandes, der Vernunft, es ist ein Konfessivnerv herausgenommen worden (konfessiv heißt für den Patienten ‚vom täglichen Leben“, ‚was man für das Alltagsleben braucht“), es sind auch „Störungen der Destillation des Blutes, des Kreislaufes, Hoch- und Niederdruck aufgetreten‘; die ganze „Menschheitsrechnung‘“ oder die Fähigkeit des Menschen zu rechnen hat eingebüßt. Man muß neue Einlagen machen; man kann sie aus dem „Kasten der Optik der Lage‘ nehmen (siehe später über den Sinn des Ausdruckes). ‚Das kann der Gerechte machen, die Gerechtigkeit, das höhere Wesen, die Optik“ (Optik wird immer an

14*

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Vorstellungen wie Hohes, Wissenschaftliches, Zahlen und Rechnen usw. assoziiert), ‚‚es ist eigentlich eine Medizinalfachsache, gehört zur Dok- torurie, diese hohen Herren sind lauter Heilande, eine Gesellschaft von lauter Ärzten“.

Die Art der Verfolgung hat etwas Unbestimmites, sie wird nicht immer gleich beschrieben, der älteste Feind scheint der Satan selbst zu sein, den Patient in seiner „Kunstsprache“ eine galvanische Optik nennt, womit er ausdrücken will, ‚er sei galvanisch wie Zink, er sel aus einem andern Fleisch wie wir, er habe einen andern Stoff und andere Tinktur; es heißt galvanisch oder magnetisch, weil es einen ‚Anzug‘ hat; er kann einen besser anlocken und festhalten“; Optik hängt mit der eigentümlichen Beschaffenheit der höheren ‚‚wissent- lichen“ Wesen zusammen, es ist das feine, hohe, im intellektuellen Gebiete das schwierige, schwer verständliche, wie die Optik selbst für einen Schlosser mit recht mittelmäßiger Primarschulbildung. Der Satan ist auch der ‚Amphie“ und hat einen sexuellen Charakter (Schamreaktion dabei), ‚‚er rupft und zupft an einem, zieht an der Glocke, will das Wärlein!) (beides ihm bewußte Penissymbole) in die Hand nehmen“. Bei dieser Erzählung hat Patient immer das gleiche läppische Lachen und bringt in diesem Zusammenhange immer die Ausdrücke ‚Schund treiben“, „lustige, junge oder g’spassige Leute“. Diese sexuelle Verfolgung geschieht manchmal sogar seitens Frauen; beim Anblick eines Madonnabildes sagt er: ‚‚es ist eine hohe wissen- schaftliche Person, so wie Schulen, Lehrerin usw.; sie hat uns geneckt, es war eine Lügnerin und hat beim Lebenswerk die Glocke abgenommen“ (siehe später über das Lebenswerk, man merke sich nur die Wieder- holung des Ausdruckes ‚‚die Glocke‘‘ und den Satz aus seinem Notiz- buche in der Anamnese: unerlaubte Störung durch die Madonna), „sie ist mein Mütterlein‘ usw.

Es gibt nach des Patienten Angaben weibliche Teufelinnen oder „Datanine“, die den ‚„Schamschlitz“ seitlich (Hüften) haben. Der Gerechte ist der Heiland, manchmal der liebe Gott, er ist der Be- schützer des Patienten, welcher sich sogar als das ‚‚Neveutchen“ (Neffe) vom Heiland gibt. Trotzdem erlaubt er sich ausnahmsweise (,,‚er hatte zu viel gesoffen‘“) in dem Gehirn unseres F. R. zu „pfuschen“, „er langt allerdings nur an den Kopf“.

Es gibt noch viel mehr Feinde als diese, eine ganze Bande, welche mehr oder weniger organisiert ist, es sind Neidische zum Teil. ‚‚Die

!) Wärlein = Diminutiv von Ware, Dialektausdruck für Genitale.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 213

Feinde waren ein Raufvolk, ein gewisser Haß gegenüber höheren und besseren Personen und Justiz, gegen Ratspersonen usw.; ich hatte viele Anhänger und Freunde, war auf höheren Posten, Emanuel und Zar und Napoleon von Frankreich; es hatte sie geneckt wegen meiner besseren Geschäfte, sie hatten einen Haß auf uns, weil wir gescheit und und reiche Leute waren, sie konnten nicht dulden, daß wir so waren.‘

An einer andern Stelle erfahren wir, daß alle noblen Leute zu einer Allianz sich vereinigt hatten und ihre ‚Positive auf die Volksseite ausließen“. Die Positive auslassen heißt nach F. R. das Faust- recht ausüben, schlagen, prügeln, ‚sie protestierten, daß jemand an- genehmer sei oder besser rechnen könne“. Das Rechnen scheint bei Patienten besonders gefühlsbetont zu sein, wie die Optik, das spielt, wie wir noch sehen werden, bei der Entwieklung seiner ‚„Kunstsprache“ eine große Rolle. Patient klagte, namentlich im Anfang der Krankheit, viel über sehr peinliche Körperhalluzinationen, welche er auf „Schläge und Prügel seitens seiner Umgebung zurückführte, er war selbst mehrere- mal gewalttätig, offenbar um abzuwehren. Vielfach kamen die Miß- handlungen nicht nur von den vornehmen „Allianzleuten‘“, sondern von den Cortez Preglia, große Männer mit aufgekrempelten Ärmeln, wie Athleten, Bauersleute, Rüeblibuben!), sie sind meistens kecke, frische, schöne, junge Leute. Diese lustigen, etwas bösartigen Leute haben auch mit kleinen Messern hantiert, gekratzt und geschnitten und geklemmt, es war so etwas Nationalhässiges, weil ich nicht immer dienen konnte mit Geldern und Waren in der Agadations- zeit‘ (offenbar Agitation, es wird nämlich daran assoziert, ‚wenn das Volk stürmisch war“).

Dicht an die Verfolgungsideen schließen sich die hypochondri- schen Vorstellungen und sonstige Insuffizienzgefühle.

Er war und ist noch krank, zum Teil soll es sich um eine Er- schöpfung durch Überanstrengung handeln, „war zu müde wegen der Geschäfte in Gro ß-Winterthur““ (Groß ist sein Ausdruck; er hat eine Zeitlang dort als Schlosser gearbeitet, hielt sich für den Fabrik- besitzer; zum Teil ist die Gliedersucht schuld, für welche er freiwillig in die Anstalt gekommen sein will; die Schmerzen in den Gliedern be- stehen teilweise jetzt noch, er hat z. B. das Gefühl, in die große Zehe werde etwas hineingestochen usw., es ist nur ein euphemistischer Aus-

!) Rüebli = Deminutiv von Rübe, Dialektausdruck für Penis.

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druck für die physikalische Verfolgung. Die Verwüstungen durch die Mißhandlung sind sehr ausgedehnt und bedenklicher Natur; Patient hat sogar jetzt Einsicht, daß das Leiden nicht nur körperlicher, sondern auch intellektueller Natur sei. Das Pfuschen in das Hirn und den ganzen Körper hat zu einer Abschwächung des Blutes und der Zirkulation und Destillation usw. geführt, wie er sagt, zu einer Ab- nahme des Verstandes, der ‚„Menschheitsrechnung‘ oder Fähigkeit des Menschen zu rechnen. Die ‚‚Leitorgane“ sind durch Herausnahme von wichtigen Bestandteilen, Nerven und Adern, Blut, schwer ge- schädigt.

Die Aufzählung derselben, welche alle mit eigenen Ausdrücken, die der besonderen Anatomie des Kranken entstammen, behaftet sind, werden wir auf später verschieben, um dieses ganze System einiger- maßen einheitlich zur Darstellung zu bringen.

„ich bin ein ganz verrückter Kerl geworden, habe mich auf- geregt, man hat mir viel Ärgernis und Halluzinationen gemacht, der Kopf muß jetzt vergrößert werden, damit er kompetenter wird und mehr normaler, man muß die Einlagen wieder hereintun, das macht ein gewisser Arzt, der alle Doktorereien studiert hat.‘ ‚‚Mein Kopf ist nicht in Ordnung, es ist ein Gesundheitsproblem, mit mangelhaften Bestandteilen kann der Mensch nicht gesund sein; diese Sache wird in Vernunftsanstalten (Irrenanstalten) gemacht, wo ‚Korrektur ge- nommen’ wird, das ist der Abwag.“

B. Die Kompensationen (Wunscherfüllungen).

Wir haben in der Anamnese konstatiert, daß Patient aus einfachen Kreisen kommt, der Vater war Lehrer, die Stiefmutter hielt ein alko- holfreies Restaurant. Der Kranke selbst hat eine sehr unvollständige Bildung genossen, kam im ersten Jahre der Sekundarschule nicht mehr nach. Er ist körperlich schlecht gewachsen, von jeher schwächlich (sogar tuberkulös), hat ein häßliches Aussehen. Nach einem miß- lungenen Versuche bei einem Gärtner wurde er Schlosser, brachte es bis zu einem wenig tüchtigen Gesellen, der überall in Konflikt mit den Meistern kam, sich nirgends bewährte. Mit einem Worte: das Schicksal hat ıhn schlecht behandelt; Patient sorgt in der Psychose für reich- liche Kompensation, die Ungerechtigkeit wird in der Phantasie durch Wunscherfüllung korrigiert.

Zuerst kommen die infantilen Wünsche an die Reihe, man

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 215

sei reich, ein Prinz oder ein Heiliger, und wenn man aus einer Lehrer- familie stammt, wird man dazu noch ein Gelehrter. In der Tat erzählt Patient: „Ich war ein Großfürst von Gappflihaus, hatte Residenzen in Frankreich, Italien und Rußland usw., ich hatte viele Anhänger und Freunde, war früher auf hohen Posten, fürstlichen und königlichen Posten, Emanuel und Zar und Napoleon von Frankreich usw., ich war auch Friedensrichter, Großrat, Bundesrat und Genieoffizier der 8. Divi- sıon.‘“ Er verkehrt nur mit Exzellenzen. Von seinen Feinden, den Cortex Preglia, sagt er: „Es sind so junge Leute, die nicht mit Exzellenzen frequenzieren und nicht im Anstand zu leben wissen“. Er redet den Arzt auch mitten im Gespräch als ‚Ehrwürdige Exzellenz“ an. F.R. hat noch einen andern Titel, der eine eigene Schöpfung ist, er gibt sich für den Bilderbuchherr aus. Das Bilderbuch ist eine Landschaft, es besteht aus Städten, Wiesen, Wäldern und Flüssen, das heißt aus Landschaften; ein Bilderbuch ist eine Sammlung von Bildern. Bilder- buchherr heißt auch Staatsherr, der Ausdruck ist der sogenannten Exzellenzsprache entnommen, es ist eine „verbesserte Sprache für Leute der Union und besserer Stände‘ (die Sprache wird in einem be- sonderen Kapitel besprochen werden).

Unser Kranke ist noch mehr, er ist das „Neveutchen‘“ oder „der Sohn der rechten Linie des Heilandes‘, er steht in direktem Verkehr mit dem Gerechten, welcher sich allerdings manchmal erlaubt, in seinem Gehirn zum ‚Schund” zu pfuschen. Patient brüllt ihn dann als Kamel an. Er ist dem Heiland unterworfen, ist zeitweise der Christus selbst. „Ich komme von Privatdozent auf Bankdoktor, dann geht es hinauf in den Offiziersgrad”“ usw. Als Privatdozent bildete er sich im ,„Schloßfach“ und als Mechaniker aus. Bankdoktor ist ein „devisiver Herr oder ein Finanzherr“. Devisiv kommt immer in diesem Zusammenhange, hat mit Geld und Reichtum zu tun, „es ist finanzielle Sache‘ (ob es mit Defizit und Devise (Börse!) zu- sammenhängt, können wir nicht sagen, esscheint nicht unwahrscheinlich). „ich habe Groß-Winterthurgeschäft (die industriellste Stadt der Ge- gend), die Werkstätten, alle großen Geschäfte unter mir, ich bin von den Fürsten der aktiv, wir sind Freimaurer‘ usw., ‚wir sind in der Union, heimatlisches Mitglied, es sind wissenschaftliche, geschäft- liche Leute (Leute, welche Geschäfte machen), die Union ist nur Geschäftssache, Offerte, Geschäfte, heimatländische Geschäfte, kon- struktionell‘‘., Alles Assoziationen, welche mit seiner früheren Be- schäftigung zusammenhängen.

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Der Ausdruck Privatdozent ist uns früher schon begegnet; er tritt häufig auf, ebensosehr wie Schule, Schulkinder, Lehrer usw., noch häufiger ist „wissentliche und wissenschaftliche Personen“. ‚Der Präsident der Union ist eine wissentliche Person.‘ Ein Beweis, daß das Wissen und die Bildung und alles, was drum und dran hängt, bei ihm sehr gefühlsbetont ist. Er ist der Sohn und der Bruder von Lehrern, hat selbst keine rechte Bildung genossen, wünscht es natürlich um so mehr. Dies erklärt uns bis zu einem gewissen Grade seine Preziosität, welche immer der Ausdruck einer gewissen Unzufriedenheit mit der sozialen Lage und eines Strebens nach Höherem ist. Der Ausdruck Dozentwage, den er braucht, um eine gute Wage (Apothekerwage) zu benennen, charakterisiert diese Tendenz sehr deutlich; es ist etwas Besseres, „für bessere Leute‘‘, wie es sonst heißt. Von den Ärzten spricht er auch immer in großer Ehrfurcht; diejenigen welche ihn gesund machen werden, haben alle ‚„„Doktorereien‘‘ studiert, es sind lauter Heilande usw., er legt große Hoffnung auf sie. (Siehe später den Brief: Und Acla- miert Das!)

In einem Gebiete muß er noch erwartungsgemäß kompensieren, in demjenigen der normalen Sexualbefriedigung. Wir haben schon zur Genüge erwähnt, daß er arm, schwächlich und besonders häßlich ist, von der Jugend an ein Sonderling,. der natürlich ledig bleiben mußte. In der Phantasie schafft er sich genügenden Ersatz. „Meine Frau ist Königin von Italien, sie heißt Anna (wie die Schwester), sie ist schön und jung, es sind aber noch viele andere, Italienerinnen, Schweizerinnen und Französinnen; ich habe große Freundinnen, stolze schöne Frauen. In jedem Staate habe ich eine Hofdame, von meinem konfessiven Hause (konfessiv heißt Wohnhaus, alles was mit dem täglichen Leben zusammenhängt), es sind alles Lonsche Damen, das sind vornehme Personen, wie Volkslehrerinnen und Vorsteherinnen der Exzellenzen‘ (Lonsche ist überhaupt alles, was von noblen Leuten gemacht wird oder ihnen gehört, wie z. B. die Fassade der Anstalt und die schönen Bäume vor dem Eingang Fassadebäume). Wir wissen schon, daß die Madonna, welche mit der Mutter identifiziert wird (siehe oben, sie ist mein Mütterlein), sich erlaubt, ihn am Glied zu fassen, worüber er sich entsetzt und im Notizbüchlein schreibt; allerdings ist das Entsetzen vielleicht nicht ganz echt, die Erzählung wird immer begleitet von einem läppischen Lachen, manchmal von Gesten, die eine andere Einstellung im Unbewußten vermuten lassen.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 217

Das Kosmische. Das sogenannte „Lebenswerk“.

Bei Besprechung der hypochondrischen Vorstellungen haben wir auf die besonderen anatomischen Vorstellungen des Patienten hin- gewiesen, welche hier im Zusammenhange besprochen werden wollen. Durch einen eigentümlichen Mechanismus der Projektion wird der Körper des Patienten zu einem wichtigen Teil des Weltalls; noch mehr, der Körper, zusammen mit dem Apparat zur Herstellung der Gesundheit, wird selbst zum Weltallt).

F. R. war Schlosser und hat nur Volksschulbildung, seine ana- tomischen Vorstellungen, welche in seiner Psychose eine so große Rolle spielen, hat er aus seinem Fache geschöpft. Die Hauptbestand- teile des Körpers sind Nerven und Adern, die Nerven werden wie die Adern als Röhren aufgefaßt, da sie zur Leitung dienen. Der feine Mechanismus im Leibe und Gehirn besteht aus Räderchen und Krön- chen (Örthodix) und beweglichen Flügelchen (Zyklon genannt, von folgender Form ‚f'), aus einigen Hebeln, Hahnen und Anschlüssen. Die Funktion dieser Maschine reduziert sich auf „Zirkulation, De- stillation, Hin- und Her-, Hoch- und Niederdruck“. Das Nerven- system ist ziemlich kompliziert, es enthält Leitorgane oder Leit- nerven, Kondukteur- oder Kontrollnerven, welche alle ent- sprechenden Funktionen dienen; die Leistungsfähigkeit des Menschen hängt von der Größe und Dicke dieser Nerven ab. Ferner enthält der Kopf einen „Sägenerv“, eine kleine Säge in einer Hülse; der Mensch ist damit vor Konflikten geschützt, ‚‚die Hindernisse werden so gelöst und beiderseits auf die Seite getan.“ Die „Stellina“ sind Nerven und Adern, welche in den Kopf das Vernunft- und das Rechnungsblut namentlich (‚das hat jeder Gesunde, sonst könnte er gar nicht arbeiten‘) führen; dieses Blut heißt auch Blut des Wissens im Gegensatze zum „Kraftblut“, welches für die körperliche Arbeit und für die Be- wegung ist. Der Konfessivnerv dient zum Hausleben, zum all- täglichen Leben. Wichtig für den Zusammenhang ist die Existenz eines „Blutexaminiernerven oder Eßkort, für Destillation und Inhalt im Hinterkopf, er sorgt für eine gewisse Normalität, für einen gewissen Grad von Steigerung und Kraft“.

Ebenso direkt aus der Technik entnommen ist der Olgenerv, ein „Fleischnerv, damit es keinen Brand und keine Materie (= Eiter)

!) Siehe die Analyse des J. B., wo das kosmische Element auch eine be- deutende Rolle spielt.

—R— yme mun

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gibt an den Rundungen, innerhalb der Gelenke, an den Hautfalten, zwischen den Fingern, genau wie das Öl für die Maschine“. (,Olge‘ Derivat von Öl?) |

Je «, Wenn Ermüdung in einem bestimmten Organ eintritt, wird es ein- fach abgeschraubt und durch ein anderes ersetzt. Der Kopf, sogar die „Büste“, die ganze Figur, können abgenommen und ersetzt werden. Patient will mindestens 5000 Ersatzfiguren haben, dazu einzelne ‚‚spe- ziell für den Sonntag“. Wenn man krank ist, sind entweder durch Ab- nutzung oder böswillige Absichten einzelne Teile beschädigt. Es wird z. B. gepfuscht, geritzt, geklemmt oder gedrückt. Die Hauptkunst in der Heilkunde besteht dann darin, richtige Einlagen herzustellen. Manchmal werden sie an einem unrichtigen Ort eingelegt oder absicht- lich miteinander. verwechselt, „auf das Geratewohl eingesetzt“. Un- angenehme Störungen der Zirkulation können auftreten, „wenn zwei Hähne, zwei Hebelhähne, Destillationshähne aufgemacht werden, es übt Einfluß auf die Zirkulation, an einem Orte gab es Anzug, es ist bei mir eine gewisse Nervosität eingetreten auf den Kondukteur und Konduktor der Vernunft, ich bin schwach im Kopf geworden“. Die Einlagen müssen immer bereit sein, „in Bereithaltung sein,‘ wie er sich ausdrückt; sie sind in einem Kasten enthalten, ‚im Kasten der Optik der Lage,“ einem Fachkasten“, wo alle „zarten Organe für die guten Leute, für die Exzellenzen‘ enthalten sind; sie werden in den besseren Häusern, in den schönen Villen eingelegt. Optik hängt, wie oben schon einmal erwähnt wurde, mit den „hohen wissenschaft- lichen Sachen” zusammen, wie Algebra, Dinge, zu deren Verständnis unser Schlosser sich nie aufschwingen konnte; es bedeutet auch für ihn das Zarte, Feine, ‚jedes zarte Stück Organ,‘ der Augapfel, das Trom- melfell, das sind alles optische Sachen!).

Die Optik der Lage ist die bessere Lage, die den wertvollen Gegen- ständen gehört. Ein interessantes Detail, das die naive Denkweise des Patienten wiedergibt: die optischen Sachen bei den besseren Leuten sind aus kostbaren Stoffen, z. B. aus Silber, Elfenbein, Pergament. Diese Synthese genügt F. R. nicht, er versucht, sich den Stoffwechsel und den Heilungsvorgang etwas plastischer vorzustellen und kommt zu folgenden phantastischen Vorstelllungen. Das vorrätige Blut (Kraft- und Vernunftblut) ist in einem großen Gefäß enthalten (der sogenannte

') Bei der Schreibmaschine (Referent registriert alles mit der Maschine)

sind die Buchstaben „Optik“, „es gehört zu den Rechnungen und feineren zarten Gegenständen‘,

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 219

Kubik aus Zinksilber), ein Reservoir, welches sich im Himmel befindet und mit dem Körper durch unsichtbare Leitungen kommuniziert genau.wie das Wasserreservoir eines Dampfkessels (es sind noch ähnliche Systeme für Wasser und Luft vorhanden); die Kraft und Gesundheit kommen so in den Menschen hinein, und zwar durch die Vermittlung eines Blutverteilungsapparates und von Anschlüssen. Der kostbare Apparat trägt den Namen Balance oder Wage, da er zur Verteilung von Blut und Wasser dient. Der Prozeß der Heilung (durch die Verteilungen) heißt „der Abwag“. Die Anschlüsse sind lange Röhren, welche in der Luft hängen wie Stränge, Nerven und Adern; Patient zeigt dabei Gas- und Wasserleitungen auf der Abteilung, welche dazu gehören sollen, er ladet den Referenten ein; in den Keller hinunter zu gehen, da sehe man am besten, was das große Werk, das Lebenswerk sei, kleine Kubiks seien auch vorhanden und Hähne- anschlüsse. „Das Lebenswerk ist der Inhalt aller korporaturrecht- lichen Nerven, Adern, Figuren, Büsten; es ist ein kombiniertes Werk in Vertikalen (Vertikale = Bestandteile).‘“ Es stellt sich aber heraus, daß die Verfolgungen, von denen oben berichtet wurde, nicht nur gegen den Patienten gerichtet waren und sind, sondern gegen das Lebens- werk selbst, ‚es wurden mieine, unsere Organe geprügelt, meine Brust gedrückt,“ ‚die Glocke am Lebenswerk abgenommen“. Die Identi- fikation von F. R. mit dem Lebenswerke wird vollständig, er merkt an sich selbst die Schädigungen, welche an dem großen Werke verübt werden. Wenn geritzt oder gekratzt wird an irgend einer Röhre, empfindet er das als Nervenschmerz, alles was im Keller und sonst an der großen Maschine gemacht wird (z. B. bei Reparaturen in der Anstalt)» ist einer Verletzung seines Körpers gleichgestellt; er ist das Lebens- werk selbst. Die früheren Prügelszenen mit den „Cortez Preglia“, die wir bei den Verfolgungen besprochen haben, werden als Schädi- gungen der Teile der großen Maschine aufgefaßt; die einzelnen Teile werden gestampft, gedrückt, herausgenommen. Die strangartigen Röhren, welche von der Wage herunterhängen, sind verlegt worden, sie hängen jetzt schief oder wurden so gedreht, daß der Abfluß nicht mehr richtig ist, es kommt bei ihm dann zu Verdauungsstörungen usw.: „die Verdauungsorgane sind wie eine Schnur verdreht worden, man muß sie wieder gerade machen usw., es war Krieg draußen“. | Hier sehen wir den Mechanismus der Projektion in Tätigkeit. Der eigene Körper wird hinausprojiziert in die Welt, alle Wirkungen auf das kosmische System sind auch Wirkungen auf das Individuum.

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Schließlich läßt sich alles auf zwei Komponenten zurückführen: der Patient selbst mit dem lieben Gott, der er selbst auch ist (mit allem was drum und dran ist, Lebenswerk usw.), auf der andern Seite die Feinde, die starken, aber gemeinen Feinde, welche es mit dem Satan haben, der Teufel selbst. Also der Kampf des Bösen gegen das Gute.

Es lag mir sehr daran, durch ausführliche Darstellung zu zeigen, daß trotz der anscheinenden Verblödung doch eine ganz beträchtliche Geistesarbeit vom Patienten geleistet wird.

©. Sprachneubildungen.‘)

Bevor ich auf das Allgemeine eingehe, will ich ein Schriftstück des Patienten mitteilen, das auf meine Veranlassung im Juni 1908 ab- gefaßt wurde. Der Auftrag lautete: Der Patient soll dem Referenten einen Brief schreiben. Dieser Brief lautete folgendermaßen:

„Und Aclamiert Das!

Baldiger Einholung Einhallt for Weitere Zerrüttung! Auf’s Dasein. böse oder gar auch Arm In Organen! Güpfeli: Eckrundungen. schlimme Krankheit Gibt. Organe Noch Alle zu Zart und kurz und klein Also! Ein- holung!!! Einziger bedarf. Stegenbilderbuch! Büstenfigurwechsel Und Der Abwag. Der Olgenhalltbehaltwaag. In Hausbordiev Zwischen und Sibill Garsche zwischen Wand und Lebens Werk! Fom Stammblut Und Der In Wand ®/,tel Cedur Stellina Obere 2. Der Körperkraft. abwägen Das Normahlieren blutstand Und Innere °/, ig Und Verdauung. Aller und Trink Wahren. Und Kopffergrößerung. Aster 5,4 Igräk Ipsilong Sennjahl und Allfabeet. Anschlüsse Lonsche 4 Mitt Eßkort Confesiev Nerv 2—4 Adern Hinderkopf Und Eßkort leib Abwägen. Weitere Sachen Inn Stück Dingen sind bereit! In Nerven Adern Belege und Fertikahl Consequente!!!! Und In Prima die Dinge! Fleisch! Sache! Asterchen! Die Prima. Ferzeien Sie Geerter Herr Dır. Für Hülfsfertikahle Ist Unser In Schwererträglicher Zeit. Der ganze Bruderkranz Arm An diesen Bedingungen. Und Also fer- tikahl bereit!!! Achtungsfollst. ! lange bemüt und Geduld blieb! Und Er- erbietig. Die Verungglükten Und bitte Die Herrn hoch Ererbietig Wenn Sie Das gesetzt Dingung Nicht Selbst Die Machenschaft bleiben können. Um den Stabs Arzt. auf Prompte Sache.

Oder Aller Seehligen Jeremia Tellegramm! Dankvoll!: ! Sekretär ! HB

') Ein Teil dieses Kapitels ist verwendet worden für einen Aufsatz: La langue d’un ali6n&. Analyse d’un cas de glossolalie, in den Archives de Psychologie, T. IX, 1910.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 221

Im folgenden werde ich versuchen, eine Art Übersetzung des Briefes zu geben. Zum voraus bemerke ich aber, daß nicht alles restlos übersetzt werden kann, es ist wahrscheinlich überhaupt nicht ganz in die Sprache des Normalen übersetzbar. Viele der Neologismen drücken Begriffe aus, die nur in einer schwer dissozüerten Psyche entstehen können. Immerhin hat das Ganze einen bestimmten Sinn, der mit den in den obigen Abschnitten mitgeteilten Wahnideen übereinstimmt. Der Patient wıll uns damit etwas sagen.

Die Technik, die angewandt wurde, um diese Wortbildungen zu studieren, war folgende: Freies, zwangloses Assoziieren, jedes Wort für sich genommen, wie Jung es angewandt hat in seinem Fall St., der in seiner „Psychologie der Dementia praecox‘ dargestellt ist. Diese Methode war aber in unserem Falle nicht immer genügend. Ich ließ darum den Patienten vorgehaltene Gegenstände, Bilder be- schreiben, ließ ihn vorgelesene Geschichten nacherzählen, und auf diese Weise kam ich auf den Sinn von mehreren Neologismen, die mir bei der ersten Methode nicht klar geworden waren.

Übersetzung:

„Das sei gesagt! (laut gesagt, akkklamiert). Halt vor der weiteren Zerrüttung (meiner Gesundheit), der frühere Zustand muß bald ein- geholt (wiedererreicht) werden. Es ist eine Frage des Lebens oder des Todes; böse steht es mit mir, ich bin gar arm an Organen geworden!). Die Gelenke und Verzweigungen der Nerven und Adern (Güpfeli) sınd krank, es ist eine schlimme Krankheit?). Meine Organe (die frisch ein- gelegten) sind noch alle zu zart und kurz und klein, also vorwärts! Allein notwendig ...... sind: der Wechsel der Büste und Figur?) und die richtige Verteilung der Kraft. Diese Heilung durch den Abwag, „das macht ein Doktor‘*). Der Apparat (die Wage) befindet sich oben in der Luft im Stegebilderbuch. Und endlich ist notwendig die Verteilung der Flüssigkeit, Öl —, gegen den Brand?)...... Man

!) Man erinnere sich an die Theorie der herausgenommenen „Einlagen“,

2) Anderswo als Eckenbrand, Brand an den Gelenken, Hautfalten usw. bezeichnet.

3) Wir wissen, daß Patient glaubt durch Ersatz von schlechten Organen durch neue könne man wieder gesund werden.

4) Der Abwag ist der Prozeß der Behandlung durch richtige Verteilung des Blutes und Wassers auf der Balance (= Wage).

5) Olge entspricht in seiner Wirkung dem Öl in einer Maschine, es wirkt gegen die Reibung und die Erhitzung.

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muß die Körperkraft messen, den Blutstand wieder herstellen!), ebenso muß die Verdauung für alle Speisen hergestellt sein. Dann muß der Kopf vergrößert werden (was für ihn eine Besserung bedeutet), bis zu einer gewissen Größe, die „Aster‘-Größe. Als Einlagen kommen dann hinein die Nerven oder Organe für das Rechnen ( Ygrec und Ypsilon), für das bessere Sprechen (das Alphabet ist die „Reihe der besseren Worte2),fürdas Handeln und ‚Bestreben‘ unddie,,positiven Leistungen“, Die Anschlüsse an das Lebenswerk müssen ‚‚lonsche‘‘ sein (das heißt: wie bei den Großen, Exzellenzen, Gesunden). Es müssen die Blut- examiniernerven (Eßkortnerv) für den Kopf und den Leib, welche für einen gewissen Grad von Normalität des Blutes sorgen, eingelegt werden, ebenso der Konfessivnerv (der Nerv des Haus- und Alltagslebens überhaupt). Diese Sachen, Einlagen usw., sind alle parat, mit allen ihren Bestandteilen (Vertikalen). Sehr wichtig (konsequente) ist, daß alles erster Qualität und richtiger Größe sei. Verzeihen Sie, Herr Dr., die Inanspruchnahme Ihrer Hilfe. Es ist für uns eine schwierige Zeit. Unsere armen Brüder?) sind schwach in Gesundheit. Es sei also alles bereit (Komponente, Elemente), Achtungs- vollst! Ich bin sehr lange bemüht und noch geduldig! Wir Verunglückte bitten noch die hochgeehrten Herren, wenn Sie die Behandlung nicht übernehmen können), einen Stabsarzt zu rufen; es ist eine dringende Sache; oder auch dem seligen Propheten Jeremia ein Telegramm schicken’). Mit bestem Dank. : Der Sekretär F. R.

Durch die Unklarheiten des Schizophrenen erkennt man doch einen Faden; er bittet also um ärztliche Hilfe, zeigt die Fehler seines Körpers und Geistes an, gibt einen Wink für die Therapie nach seiner Auffassung. Einen Einwand will ich zum voraus beantworten; man könnte behaupten, die Assoziationen des Patienten an die einzelnen Neubildungen seien akzidentelle. Es stimmt aber nicht. Im Laufe der letzten 16 Monate habe ich häufig kontrolliert und immer wieder gefragt. aber jedesmal die Übereinstimmung konstatiert. Die täglichen Bruch- stücke von Gesprächen, welche ich mit dem Patienten auf der Abteilung führe, haben immer den gleichen Inhalt; die Gedanken und Phantasien

!) Normalieren heißt: gesund machen.

2) Patient stellt sich alles das rein mechanisch vor.

?) Die Partei Gottes und die seinige.

*) Machenschaft heißt das „Rezeptmachen‘‘, also die ärztliche Behandlung.

5) Patient hält sich für einen Deszendenten von Jeremias.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 223

des Patienten beschäftigen sich beständig mit den Feinden, die ihn krank gemacht haben, mit den Mitteln, wieder gesund zu werden, mit seiner früheren und aktuellen Größe, wie in diesem Briefe auch. Die Neologismen sind nicht willkürlich, sie kommen nur bei Kom- plexstellen vor. Über ganz gleichgültige Dinge spricht F. R. in unserer gewöhnlichen Sprache, freilich nur wenn man mit ihm nach längeren Bemühungen einen leidlich guten Rapport hat. Ich gebe im folgen- den eine sehr unvollständige Liste der Neologismen, nach dem Inhalt der Komplexe geordnet: Das Lebenswerk mit der Balance, wo der Prozeß des Abwages (Verteilung der Kraft) stattfindet. Dazu die zahlreichen Anschlüsse (Mandr &es) an die „Büste“ und Figur, durch welche das Kraft- und Vernunftblut in den Kopf gelangen, wo sich die oberen, zum Rechnen dienenden Nerven (Stellina) be- finden, die reichverzweigten Nerven und Gefäße (Cedur), der Eßkort- nerv (zur Untersuchung der Blutzusammensetzung = Blutexami- niernerv), der Konfessivnerv, welcher bei der gewöhnlichen Tätig- keit des Gehirns in Anspruch genommen wird. In der Korporation (Körper) sind verschiedene zarte Organe enthalten, wie das Zyklon, das sich wie Flügelchen (z. B. in einem Uhrwerke) bewegt, die Ortho- dixen, kleine Krönchen aus Elfenbein usw. Aus einer Vorratskammer (Kubik) stammt das Blut, das in die Menschen verteilt wird. Wie in jedem zusammengesetzten (aus Vertikalen Bestandteilen bestehenden) Werke unterscheidet man im Lebenswerke die Optik, die feineren, zarten, komplizierten, mit hohem Wissen konstrulerten Gegenstände von den gröberen (Agreablen), welche „etwas kor- pulentes‘“, massives an sich haben. (In einer Uhr ist z. B. die Schale die Agreable, während der schöne Zeiger, das feine Räderwerk ‚„‚optische Sache“ ist.)

Das Bilderbuch ist ein Land, ein Reich, die Erde z. B. ist eines; Patient ist deren Bilderbuchherr. Es besteht aus Proteriat (manchmal unsicher ‚‚Proletariat‘‘ ausgesprochen) und aus den Wiesen, Feldern, Wäldern und Flüssen usw. Das Proteriat selbst ist die Stadt mit der nächsten Umgebung, welche reich an Gärten ist; Gärten für das Gemüse, das Obst und für die zarteren und Luxuspflanzen. Er unterscheidet verschiedene Arten Erde, je nach Farbe (Täng = teint) und Verwendung; Strabliziertet) (bearbeitete) Erde, Ovensive Erde; ABC und Alphabet heißen auch diejenigen Teile, wo die

!) Von Strapazen.

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Treibhäuser in Reihen (in Kategorien) nebeneinander aufgestellt sind, Beetreihen oder Beetreigen usw.

Wir wissen, daß F. R. mit 15 Jahren die Absicht hatte, Gärtner zu werden, daß er sogar 1 Jahr als solcher in der Lehre war. ‚Ich hatte Freude an der Kultur, habe mir darüber Poesie gemacht. Ich fühle mich unglücklich, daß ich ein Schlosser und nicht ein Bauer geworden bin‘ sagte er bei seiner Aufnahme in die Anstalt vor zirka 15 Jahren.

Mit 19 Jahren ist er „in die Nation“ (auf die Wanderschaft) gegangen, in die Kometarlinie (das heißt: in die weite Welt, aber nicht in gerader Linie). Er will ein devesiver Herr (reicher Herr) und Bankdirektor geworden sein, er sei sogar sehr reich (conce). Jetzt hat er sich auf sein „Dolis‘ gelegt (Ruhe, Ferien, Dolis heißt auch friedlich; alte Herren im Saal, im Leseartikel welche lesen sind ganz dolis). Ob es mit dem französischen ‚‚douce‘“, „dulcine‘ zusammen- hängt, konnte ich nicht ausfindig machen. F. R. verkehrt nur mit Longe oder lonschen Herren und Damen (vom französichen long?) „es hängt von der Größe und Länge ab“, „trifft bei vornehmen Leuten zu.“

Die Feinde, das Raufvolk bilden eine „Allianz“, eine organisierte Bande; lonsch sind diese nicht; dafür ist die ärztliche Direktion der Anstalt lonsch, ebenso die Fassadenbäume (vor der Anstalt), die großen Bände in der Bibliothek (Referent unterhält sich in der Bibliothek mit dem Patienten). Ocoliev sind die feinen Leute, die auf der Seite der Exzellenzen stehen und „zart sind‘, welche zu einem sagen ‚‚s’il vous plait“ oder ein ‚so sehr“ und welche ‚sehr höflich in Ange- nehmung“ sind.

Sibille bezieht sich auf das ‚Fremde, Mysteriöse, Entfernte“, hat meistens noch einen etwas heimtückisch-befremdenden Charakter- zug; Sıbıll ist z. B. das „fremde Land, wo ‚‚die früheren Götter“ gelebt haben, Neptun und die Meeressibillen; es hat in sich etwas Verdorbenes, Ungesundes. ‚In Früchten sind die Sibillen schöne aber giftige Äpfel“ („wie der falsche Apfel im Paradies‘); Sibille auf Wohnung bezogen charakterisiert die Labyrinthe im Altertum, eine Reihe von Zimmern (Kamerationen) hintereinander mit komplizierten Schlössern, ver- wickelten Gängen, wo Schätze aufbewahrt werden. Gotik oder gotisch hat (wie oben Sibille) einen sehr weiten Sinn; es bezieht sich auf den Stil in der Baukunst und Dekoration überhaupt; eine

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 225

korinthische Säule ist für ihn ebenso gotisch wie das Ulmer Münster; es heißt einfach Stil, und kommt in einem andern Zusammenhange nicht vor. ‚‚Wenn ich meine Positive hatte“ heißt: wenn ich ärgerlich war; „seine Positive auslassen‘ ist soviel wie „Faustrecht ausüben‘. Topotiv ist der Druck, die Foreierung; in der Mechanik der Druck eines Kolbens in einer Pumpe; beim Menschen ‚wenn man die Kraft braucht“, ‚die Faust macht‘ (das Wort kam zum ersten Male heraus beim Assoziationsexperiment als Antwort auf das Reizwort „bös‘).

Brojon (vom französischen Brouillon?) ist ein dickes Buch, wo die Rezepte, welche man nicht im Kopf behalten kann, geschrieben werden, es ist sauber, rein usw.

Bemerken möchte ich noch, daß eine Anzahl von Worten in den Schriften von F. R. immer wieder vorkommt, mit allen denkbaren und unmöglichen Prä- und Suffixen, es sind dies unter anderen: Halt (Inhalt, Einhalt, Behalt, Vorbehalt Vorhalt usw.), Fach, Artikel, Padent (Patent), Prima, Prozent, Rechnen (Verrechnungen, Zuarechnung, Berechnung), Einsehen haben, Lehrfach, wissent- lich, Gelehrte, Alphabet, alle gefühlsbetonten Begriffe, alle Komplexwörter.

Diese Sprache wird vom Patienten Sallischur- oder Ex- zellenzsprache genannt. Sie ist das Organ der Union. Es sei die Bildungssprache oder die kompetente Sprache), die Sprache der vornehmen Leute, der geschäftlichen Leute (es heißt: ‚Leute, welche Geschäfte machen, große Kaufleute), alle wissentlich (also gelehrt) in Fach Rezept und Schule, „für bessere Stände“, sie sei „klassisch“. Interessant ist ferner, daß Patient, als Referent anfing mit ihm etwas eingehender zu sprechen (vor zirka 1!/, Jahr), bei jedem neuen Worte, sobald es einen fremden Klang hatte, wie Vertikale, Nation, Proteriat, Observatorium usw., mit einem gewissen über- legenen Lächeln fragte: „Verstehen Sie das?“. Damit ist auch die psychologische Determinierung der Schöpfung einer solchen Sprache gegeben. Patient will seiner vornehmen Abstammung und Art, seiner Bildung, seiner Macht einen eigenartigen, ich möchte beinahe sagen, einen esoterischen Charakter geben; diese künst- liche Sprache entspringt dem Bedürfnisse, sich vor den andernen auszuzeichnen. Man sieht beim Überblicken des Wort- schatzes, daß die meisten Ausdrücke sich auf noble oder seltene,

1) Im Gegensatze zum gewöhnlichen Deutsch, „das ein Patois ist‘“. Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 15

226 A. Maeder.

schätzenswerte Eigenschaften beziehen. Das ganze hat einen naiven kindischen Charakter!).

Die Bevorzugung der Fremdwörter französischen Ursprunges ist ohne weiteres klar: Das Französische gilt in dem Kreise, dem F. R. angehört, als vornehm;; es kommt hinzu, daß unser Patient diese Sprache nicht beherrscht; wir haben erfahren, daß er in der Sekundarschule gerade in diesem Fache versagte und daß er sich auf der Wanderschaft nur 3—4 Wochen in der französischen Schweiz aufhielt. Das Nicht- erreichte, beim Vorhandensein eines Bildungskomplexes (er stammt aus einer Lehrerfamilie!), wird leicht als etwas Vornehmes betrachtet. Es trifft auch hier zu. Patient sagt Balance statt Wage, Union usw. Die deutschen Wörter selbst müssen eine originelle Wendung, ein in- dividuelles Gepräge erhalten, man spricht von „Dingung‘, ‚Doktor- urie“. Die Verstümmelung hängt zum Teil mit der Unwissenheit des Patienten zusammen; er sagt ‚„Agadation“ für Agitation, „frequen- zieren“ für frequentieren, ‚Proteriat“ für Proletariat; schließlich wendet er Ausdrücke in einem ihm besonderen Sinne an, ohne sich um den gewöhnlichen Sinn der Worte zu kümmern, z. B. spricht er von Korporation wie wenn es ‚der gesamte Körper‘ wäre, von ‚„Zurech- nungsfähigkeit‘‘ als Fähigkeit zu rechnen usw. Diese Art Verdich- tung verwendet er viel, sie trägt sehr dazu bei, der Sprache von F. R. einen sonderbaren unverständlichen Charakter zu geben.

Die Sprache ist also der Umgebung überhaupt nicht angepaßt. Man kann sie nicht ohne weiteres verstehen, was ihm ganz gleich ist, er hat sie ja nur für sich selbst geschaffen. Er schreibt nur sich selbst und den fingierten Feinden und Freunden; er allein versteht sie; er spricht fast ununterbrochen, aber in Monologen; er hat nie das Be- dürfnis sich mit anderen zu unterhalten, er gestikuliert im Korridor mit dem Besen (er hilft die Hausordnung auf der Abteilung machen), ohne sich durch Vorübergehende stören zu lassen. Spontan hat er Referenten noch nie angesprochen.

1) Referent hat einen Epileptiker gekannt, der aus ungebildeten Kreisen stammte, dessen Bruder aber in einem Kloster eine hohe Stelle einnahm; der Patient war schon sehr dement, wenig produktiv und tätig, hatte daneben kom- pensatorische Wahnideen, er hielt sich für einen hohen Propheten, für einen Aus- erwählten. Er brauchte auch viele eigene Ausdrücke, welche meistens aus ver- zierten deutschen Wörtern stammten, wie „Gedünnerigung‘‘ und „Gedickerigung“ für dünner und dicker werden, die »Wärmigung‘‘ für Wärme; er sei von seinen Eltern „‚beschafferet worden‘, offenbar auch ein Ausdruck seiner Eitelkeit.

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Seine Eitelkeit drückt sich nicht nur in der Geziertheit der Neologismen, sondern auch in der Satzbildung aus. F. R. drückt sich möglichst gelehrt, abstrakt und pompös aus. Er gibt z. B. folgende Legende zu einer Abbildung, welche einen Bauer darstellt, der einem Metzger ein Rind anbietet: „Ein Viehhändler in Angebot von Viehstand“. Von zwei Menschen, welche an einem Schlagbaume Halt machen müssen, sagt er: „Die Menschen, die da warten, sind Anhaltleute.“ Ein Magnet (Referent zeigt ihm einen solchen) ist für Kraftanzug oder Materialhebung. Er sieht das Bild der betenden Jungfrau von Orlean: „Das ist eine Gnadenfigur, die wäre im Gebet, es war eine Fürstin.“ EineMachenschaft heißt: die Fähigkeit, etwas zu machen, Rezepte zu schreiben z. B.

Wie aus all dem hervorgeht, ist seine Sprache aus einem bestimmten Bedürfnisse entsprungen: Die Neologismen drücken meistens neue Begriffe (eigene Anatomie und Pathologie) oder für unseren Kranken besonders gefühlsbetonte Vorstellungen aus. Alle Wunscherfüllungen (Wissenschaft, Reichtum, Adel, Macht) sind reichlich vertreten. Die neue Sprache ist ein Instrument, um die wenig systematisierten Wahn- ideen darzustellen?).

D. Die sogenannte Verblödung.

F. R. ıst über 15 Jahre in der Anstalt. Er hält sich seit vielen Jahren auf der offenen Abteilung mit vielen anderen chronischen Pa- tienten zusammen. Er wird bei der Hausordnung beschäftigt, ist immer allein; wenn unbeschäftigt, füllt er Hefte mit Notizen, welche er nie- mandem zeigt. Er spricht halblaut fast ununterbrochen, antwortet auf seine Stimmen, erteilt Befehle in die Luft, gestikuliert. Dem Anstalts- leben gegenüber bleibt er vollständig gleichgültig, er macht nie ein Fest mit; er geht früh ins Bett, liegt viel tagsüber während der freien Zeit auf einer einsamen Bank. Man trifft ihn nie im Hofe. Spontan hat er nie etwas zu fragen, auch nie zu klagen. Er dreht sich nicht einmal um, wenn ein Arzt vorbeigeht. Er lebt mitten in einer Gruppe von über 30 Patienten wie ein Einsiedler. Auf Fragen erhält man von ihm Ant- worten in einer sonderbaren, unverständlichen Sprache. Wenn

!) Ein eingehenderes Studium dieser Sprache werde ich später noch ver- öffentlichen, wo ich einen Anschluß an die Xenoglossie und Glossolalie zu finden versuchen werde. Bei allen diesen Fällen von „sekundären Sprachen‘ spielen das Affektleben und das Infantile eine große Rolle. Der Nachweis der schizo- phrenenReaktionsweise läßt sich bis in die Einzelheiten leisten.

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man nach dem Sinn dieser Ausdrücke frägt, antwortet er gleich unver- ständlich, spricht davon in einem selbstverständlichen Tone, wie wenn jedermann ihn verstehen sollte. Allen Einwendungen zum Trotz bleibt er dabei, daß man ihn verstehen müsse. Er sieht ziemlich vernach- lässigt aus, hat einen befremdenden Blick. Kurz, er bietet das klassische Bild einer Dementia praecox mit ausgebildeter Verblödung.

Die in den obigen Abschnitten mitgeteilten Dokumente lassen uns schon vermuten, daß es mit der Verblödung bei tieferem Eingehen nicht so schlimm steht. Patient hat im Gegenteil den Beweis einer gewissen intellektuellen Tätigkeit und Produktivität ge- liefert. Er hat sich mit mangelhafter Schulbildung, mit den Erfah- rungen eines Schlossergesellen eine menschliche Anatomie und Pathologie auf seine Weise konstruiert, wozu seine Wahnideen, namentlich der physikalische Verfolgungswahn, ihn geführt haben. Daß ‚seine Wissen- schaft‘ unserer Anatomie nicht ebenbürtig ist, können wir dem armen Kranken nicht übel nehmen. Seine neue Sprache zeigt auch den Ver- such, sich vor den anderen herauszuheben, mit gebildeteren und sozial höher stehenden Leuten zu verkehren. Es ist ein mißglückter Versuch, aber doch das Zeichen einer gewissen, wenn auch verfehlten Produk- tivität.

Die Phantasietätigkeit ist sehr ausgesprochen, sie hat die ganze Aufmerksamkeit des Patienten auf sich "gelenkt. Im Vergleiche dazu ist ihm die Außenwelt blaß, farblos und wenig des Interesses würdig. Wenn es gelingt, seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu konzentrieren, läßt sich folgendes konstatieren: Vorgelesene Fabeln ist er imstande richtig zu reproduzieren; die Moral versteht er gut, er drückt sie meistens mit eigenen Worten aus, ein Zeichen seiner guten individuellen Auffassung. ‚Der Adler und die Schildkröte“ resümiert er folgendermaßen: „Die Schildkröte bestritt das Fliegen. Der Adler gab seinen Beweis, daß man Flügel haben müsse, wenn man fliegen wolle; wenn er sie gehen ließ, konnte sie nicht (in der Luft) bleiben. Die Schildkröte war durch ihren Eigensinn betrogen.“ Die Schatzgräber erzählt er auch gut, etwas geziert: „Der Vater hatte ein Vermächtnis gemacht in Weinbergen. Die Söhne haben gegraben, um dem Schatz nachzukommen. Das Bebauen war wichtig“ usw.

Referent lied ihn eine große Anzahl von Abbildungen erklären. Er zeigte sich geschickt und nicht so unwissend, wie eigentlich erwartet wurde. Er wußte z.B., daßMenhirs „Steine aus alten Gräbern“ sind; er konnte die meisten wilden Tiere, die gezeigt wurden, erkennen und

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benennen. Einiges wurde im Sinne seiner Komplexe assimiliert und gedeutet, z. B. die Sanduhr als „physikalischer Apparat für Unter- suchungen, ob etwas giftig sei‘. Napoleon mitten in seinem Offiziersstab wurde sofort erkannt. Ein Stiergefecht wird folgendermaßen be- schrieben: „Ein Stier ist in einem spanischen Stiergefecht gefallen; das ist die Fassade (er meint damit die Estrade, das Podium), die Maul- tiere ziehen es.‘

Zum „Spiel der Wellen“ von Böcklin gab er folgenden Kommentar: „Eine Meeressibille und Fische in Optik (also besonderer vornehmerer Art), sie haben früher gelebt, diese Wesen, haben ver- steckt gelebt, sie waren nicht so rein und gesund im Körper und in der Figur; sie konnten deswegen nicht gut tun, sind sündhaft, schwarz (moralisch gemeint). Sie schwimmen wie Fische; es (das Bild) ist lustig, und zwar imposant, sinnbildlich. Solche Leute konnten sich auf Erden nicht gut halten, sie hatten alle Seuchen, Pocken, Syphilis. Der Mann (zeigt eine Figur) ist dekoriert (mit Blumen); es ist ein Sinn- bıld aus der romantischen Zeit, eine Schwimmpartie, eine Unterhaltung mit Spässen.

Zum Bild „Die Gefilde der Seligen‘ von Böcklin sagt er: „Kine Landschaft, ein Schwanenteich in der Landschaft, ein gleich- namiges (= gleiches) Bild wie das andere (siehe oben), die anderen waren im Meer. Es ist im Bade, lustige Leute, etwas familiäres, ein Sibillheer (zeigt den Kentaur); (die Insel:) ein Garten, ein Venusgarten oder Sibillvenusgarten.“ Ein symbolisches Bild der Hoffnung (Watts)— als eine Frau mit einer Harfe auf der Erdkugel sitzend dargestellt beschreibt er: ‚Es ist ein Globus, ein Sinnbild, eine Weibsperson darauf, sie spielt Harfe; erfreuliches Zeichen, eine Jahreszeit, vielleicht die Wendung des Jahres usw.‘

Interessant, aber für diese Mitteilung zu ausführlich, wäre seine lange detaillierte Erzählung von Wilhelm Tell, welche sozusagen ganz konfabuliert ist und weitgehende Identifizierung des Patienten mit dem Landvogt Geßler und seiner Feinde mit Wilhelm Tell zeigt!).

Referent erlaubte sich nach der Erzählung die Bemerkung, er kenne eine ganz andere historische Darstellung von Tell, wo von einem Hute, der gegrüßt werden sollte, die Rede ist und so weiter. Darauf erwiderte F.R.: ‚Das kann ich auch, es ist Guillaume Tell, den Sie meinen.“ Er erzählte es mir nachträglich im ganzen korrekt, mit wenigen erfundenen

1) Überall wo Störungen der Auffassung, überall wo Neologismen vor- kommen, sind Ich-Beziehungen, Kompiexe im Spiel.

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Einzelheiten. Dies halte ich für sehr wichtig; wenn man es nicht beachtet, kann man sehr irregeführt werden und die Urteilskraft des Patienten sehr unterschätzen. Bei den ersten vorgelesenen Geschichten, die R. mir erzählte, geriet er in eine vage phantasierte Erzählung, mit der . ich nicht zurecht kam. Ich war zuerst geneigt anzunehmen, die Schwierigkeiten des Textes seien für die Intelligenz des Kranken zu groß und glaubte schon meine Vermutung der Debilität des Patienten bestätigt, welche ich nach seinem Vorleben (schon in der Schule) als sehr wahrscheinlich hingestellt hatte (man sehe nach die Anamnese im Anfang der Analyse, welche vor acht Monaten niedergeschrieben wurde). Eine geduldige Prüfung, die Wiederholung der Versuche zeigte aber mit Sicherheit, daß es sich um einen Aufmerksamkeitsfehler handelte. Im Laufe der zahlreichen und langen Sitzungen mit dem Patienten lernte ich einsehen, daß für R. die Außenwelt wenig Interesse bietet, daß die Innenwelt, die Phantasie, seine ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentriert. Ich konnte mich zugleich überzeugen, daß keine Demenz im eigentlichen Sinne besteht, sondern eine einseitige kom- plexmäßige Phantasietätigkeit ohne Fühlung mit der Wirklichkeit. Das Innenleben überwiegt so sehr, daß die ständige Anpassung an die äußeren Verhältnisse fehlt. Von Außen sieht dann das Treiben des Kranken unbegreiflich und namentlich blöd aus.

Die krankhafte Phantasietätigkeit mit innerer Ablenkung wird wahrscheinlich in der Sekundarschule aufgetreten sein und die Debilität vorgetäuscht haben. Besonders bemerkenswert scheint in diesem Falle die Produktivität, die aktive (konstruktive) Phantasietätigkeit des Patienten zu sein. Sie steht in einem gewissen Gegensatze zu seiner Bildung und Begabung; letztere steht jedenfalls nicht über der Norm.

Wahrscheinlich sollte auf diesen Unterschied bei psychiatrischen Untersuchungen mehr geachtet werden; es will uns scheinen, daß dies zum Verständinsse von scheinbar paradoxen Erscheinungen bei Im- bezillen (höhere Imbezille?) verhelfen könnte. Einschränkend muß aber hinzugefügt werden, daß die Produktivität eines Schizophrenen eine eigenartige Prägung trägt, sie ist nicht an die äußeren Verhältnisse angepaßt und dadurch meistens unnütz, ‚‚unbrauchbar“. Diese Kranken sind asoziale Typen par excellence.

E. Zur Psychogenese. Ich halte es nicht für möglich in diesem Falle einen vollständigen Zusammenhang zwischen allen Krankheitserscheinungen zu geben,

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die Entwicklung von der Kindheit bis zum jetzigen Zustande klar- zulegen. Es fehlt eine detaillierte objektive Anamnese und die Einsicht in die intimeren Familienverhältnisse. F. R. ist derart in seine Phanta- sien versunken, daß er nicht imstande ist, sich vollständig an unsere Fragen anzupassen und sie entsprechend klar zu beantworten. Viel- leicht käme man weiter mit einem gründlicheren Studium seiner Sprache, die ich bisher nur soweit verfolgt habe, als es für das Verständnis der Hauptzüge der Psychologie unseres Patienten absolut notwendig war. Mit den gewonnenen Dokumenten läßt sich aber doch eine Art Gerüst aufstellen. Die Beziehungen zwischen dem Milieu, im weitesten biologischen Sinne Einwirkung auf das Individuum ab ovo und dem Inhalt der Psychose sind demonstrierbar.

Der Vater R.s war Lehrer in Z.; er war ein stattlich gebauter ge- sunder Mann, „ein guter Bürger‘ und ‚strenger Herr“. Er wird auf den Sohn einen starken, ja imponierenden Eindruck gemacht haben. R. sagt an einer Stelle ‚man führte mich heim zum Vater, zum Herrn Lehrer‘, anderswo spricht er vom ‚Lehrvater‘‘. Daß er für ihn eine besondere Liebe empfunden hätte, läßt er nirgends durchblicken. Der Vater soll ziemlich hart und grob gewesen sein. Das verhinderte aber nicht, daß sein Einfluß auf den Sohn bedeutend war. Sicher ist es, daß die außergewöhnliche Achtung des Schlossergesellen für die Wissenschaft, für das Gelehrte vom Vater stammt. Patient hält sich selbst für einen Dozenten, für einen ‚‚wissentlichen‘‘ (— viel wissenden) Herrn. In der Exzellenzsprache spielt das ‚„Lehrfach“ eine große Rolle!). Der Wunsch, eine eigene Sprache zu sprechen, welche für die Vornehmen und Gelehrten bestimmt ist, die Geziertheit derselben, sind Beweise dafür.

Das Verhältnis des Patienten zum lieben Gott und zum Heiland (er ist sein Sohn, manchmal sein ‚„Neveutchen“, manchmal auch der Heiland selbst), läßt die Vermutung aufkommen, daß es sich um eine Umformung des Verhältnisses des Sohnes zum Vater handelt, was sich in vielen Fällen deutlich nachweisen läßt; im speziellen sind wir auf solches Material nicht gestoßen, möchten aber nichts daraus folgern. Bei der Mutter läßt sich nämlich nachweisen, daß sie das Abbild der Madonna geliefert hat, ja daß sie die Madonna selbst ist.

Von seiner Mutter sagt uns Patient, sie sei ‚„‚zart und fein“, „kränk-

!) In der Autobiographie schreibt er über seine Schulbildung: ‚unser Fachasterfleiß (Aster heißt groß), immer das Gute beantwortet, etwas, Prima!, ein Gewisses in Darstellungen !“

232 A. Maeder.

lich und fromm‘“ gewesen, was objektiv nachweisbar ist, da sie in un- serer Anstalt interniert war und hier an einer Lungentuberkulose starb. Laut Krankengeschichte war sie ein „geziertes Dämchen“, das stunden- lang beten konnte. Die Stieimutter, welche der Patient erhielt, ist im Gegenteil eine siarke, feste Person. Sämtliche Züge der beiden finden sich bei den idealen Figuren wieder, für welche F. R. in der Psychose schwärmt. Das Wörterbuch der „Sallischursprache“ ist sehr reich an Ausdrücken, um das Feine, Zarte, Vornehme auszudrücken; von der Madonna sagt R., sie sei „eine wissenschaftliche Person, wie eine Lehrerin, sie ist mein Mütterlein gewesen‘, ‚sie hat uns geneckt, sie hat die Glocke am Lebenswerk genommen, sie hat mit dem Wärlein gespielt“ usw. (man erinnert sich an die Notiz in seinem Hefte: ‚‚unerhörte Störung durch die Madonna”, was mit großer Entrüstung geschrieben wurde); von den „Lonschen Damen“, „Hof- damen‘ usw. wurde im Abschnitte über die Kompensationen schon genügend berichtet, es sind die zahlreichen Geliebten, welche die Prägung der ersten infantilen Liebesobjekte (Mutter und Stief- mutter) erhalten haben. |

Hier, wie bei allen anderen Neurotikern und Psychotikern, welche eingehend analysiert werden, läßt sich die polymorph perverse Anlage (Freud), die sexuelle Polyvalenz!) feststellen; R. hat z. B. ‚in jedem Staat eine schöne Hofdame“; die homosexuelle Komponente fehlt auch nicht, und zwar befindet sie sich in der Verdrängung (siehe diesen Mechanismus im theoretischen Teil, siehe auch daselbst die Be- deutung des Vaters für die Entstehung der passiven Verfolgung). R. wird homosexuell verfolgt; es wird etwas an ihm von jungen Leuten und den Cortez Preglia, den Athleten gemacht, an seinem Ge- schlechtsteile gespielt usw. Im allgemeinen ist bei ıhm das Sexuelle unter Symbolen stark verdeckt.

Einige Elemente spielen in der Psychose eine große Rolle, deren Ursache nicht bei den Eltern zu finden ist; ganz besonders gefühls- betont sind der Gartenbau, die Landwirtschaft und namentlich die Maschinentechnik, man erinnere sich an das ‚‚Proteriat im Bilderbuche?),“

!) SieheMaeder, Die Sexualitätder Epileptiker. Dieses Jahrbuch, I. Band, 1. Hälfte.

*) In einer Arbeit über die Sprache des Patienten werde ich auf eine Erzählung des Patienten über Wilhelm Tell zu sprechen kommen, in welcher aus Tell ein Kartoffel- und „Rüben‘dieb gemacht wird. Es wird sich zeigen, daß Patient sich mit dem Landvogte Geßler identifiziert hat, dem die „Rüebli‘‘ gestohlen

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an das Lebenswerk mit den Anschlüssen usw. Es haben in der Jugend ausgesprochene Interessen für den Gartenbau und die Technik be- standen; F. R. wurde ja nach der Schule zu einem Gärtner in die Lehre geschickt (‚ich hatte Freude an der Kultur“, ‚aus Liebe zur Botanik“ usw.); nach einem Jahre trat er aus uns unbekanntem Grunde bei einem

chlosser in die Lehre; die tiefere Determinante dieser Zuneigung läßt sich nachträglich nicht mehr aufklären. Die meisten Wünsche, welche in der Psychose zur Erfüllung gelangen (Größenideen) und die wir ausführlich in einem besonderen Abschnitte beschrieben haben, sind infantile Wünsche oder Wünsche, welche aus der sozialen Stellung des Kranken entspringen, welche zu einer maßlosen Wuche- rung ohne Korrektur und Zensur gediehen sind.

Sie sind alle echte Kompensationen; der Patient leistet sich in der Phantasie alles das, was die Natur ihm verweigert hat. In der Anamnese haben wir geschrieben: „Wir haben es mit einem wenig ge- bildeten, scheinbar unbegabten Manne zu tun, welcher von einer nicht ungebildeten Familie stammt, er hat in selbständiger Stellung überall versagt, er ist körperlich schwach, nervös; er ist arm und sehr häßlich. In der Psychose haben wir im Gegensatze dazu, mit einem Dozenten und Herrn zu tun, der eine höchst vornehme esoterische Sprache spricht mit vielen abstrakten Ausdrücken, der nur mit wissenschaftlich ge- bildeten Leuten zu tun haben will. Er ist der Besitzer der großen Winter- thurer Werke, das Haupt des Staates und der Erde; alles gehorcht ihm, er stammt von Gott selbst, Er ist enorm reich (Bankdoktor und ein de- vesiver Herr); ‚ich war zu charmant, zu galant und schön“; er wurde ein Objekt des Neides. Kein Geringerer als der Teufel selbst fing mit ihm den Krieg an, schickte gegen ihn seine Bande, die mächtige Allianz, ein ganzes Raufvolk. Der Kampf schwillt an zu einem Kampf der höchsten Macht gegen den Teufel. F. R. gewinnt also eine kosmische Bedeutung, das Summum der Größenidee überhaupt. Sein gesunder, kräftiger Körper wurde durch sonderbare ‚‚Manöver‘ stark geschädigt. Jetzt liegt er krank bei uns. Die physikalische Verfolgung nimmt einen eigenartigen Charakter dadurch an, daß der Körper des Patienten in die Welt hinaus projiziert und mit ihr identifiziert wird; der Kampf gegen ihn heißt soviel wie der Kampf des Bösen mit dem Guten!).

werden. Dahinter stecken selbstverständlich Symbole, welche die Eigenart der Erinnerungstäuschung „einer so populären‘ Erzählung erklären.

1) Ich mache auf die ähnlichen Resultate der Analyse J. B. aufmerksam.

II. Theoretisehes. Über die Mechanismen.

a) Über die Entstehung des Verfolgungswahnes.

I. Aus der Analyse des ersten Falles J. B. entnehmen wir folgendes: Zu einer Zeit, wo die Frau des Kranken wegen einer beginnenden Lungen- tuberkulose in einem Sanatorium in Behandlung stand, erhielt sie von ihm einen Brief, in dem er ganz unerwartet von Scheidung sprach, und zwar mit der Motivierung, er könnte durch die Krankheit der Frau angesteckt werden. Später teilte er mit, er sei zu etwas Höherem berufen. Interessant ist, an dieser Stelle auf eine Erinnerungstäuschung aufmerksam zu machen. J.B. behauptet nämlich jetzt, die Behörde habe damals Schritte getan, um ihn von seiner Frau zu trennen, man habe eine andere Ehe ‚auf diplomatischem Wege“ für ihn in Aussicht gehabt. Die Verantwortlichkeit für diesen Schritt die Scheidung schiebt er unbewußt auf die Behörde.

Die Ehefrau ging selbstverständlich auf seinen Vorschlag nicht ein. Bei ıhm traten allmählich neue Gedanken auf; sie sei ihm untreu, habe heimlich abortiert. In Wirklichkeit verhielt es sich so, daß der Abort wegen Tuberkulosis incipiens eingeleitet wurde. Das Verhältnis zwischen dem Ehepaar wurde immer gespannter (man erinnere sich an dıe Anekdote mit der goldenen Uhr, die er versetzen wollte). J. B. be- hauptete schließlich, die Frau verfolge ihm, sie hantiere mit Waffen um ihn herum, sie habe sich in die Feme aufnehmen lassen. Er wurde srob, mißhandelte sie, bis er interniert wurde.

Die Untersuchung hat uns das Vorhandensein von ausgesprochenen polygamen und homosexuellen Tendenzen bei B. gezeigt, Tendenzen, welche freilich nicht zur Betätigung kamen. In der Psychose treten sie in den Vordergrund, sie veranlassen Patienten sogar zu Taten.

Der Brief an das Ministerium des Äußeren in Amsterdam, hinter dem die Idee steckte, die junge Königin sei für ihn bestimmt.

Zu dieser Expansion ist ihm die Ehefrau ein Hindernis. Nur dadurch, daß sie existiert, schon rein passiv!) ist sie für seine Ent-

‘) Die Frau des Patienten ist eine selten brave und treue Person. B. ist seit 9 Jahren interniert, sie besucht ihn jetzt noch zwei- bis dreimal im Monat, trotzdem er ihr gegenüber völlig gleichgültig ist. Sie kann kaum mit ihrer Arbeit ihre Familie durchbringen und bringt es noch fertig, etwas zu sparen, um ihrem Manne in der Anstalt bessere Kleider zu verschaffen. |

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wicklung ein Widerstand. Dies erklärt uns die Genese und Progres- sion der Wahnideen gegen sie.

Der Mechanismus der Entstehung dieser Verfolgungsidee scheint folgender zu sein: Es besteht primär beim Patienten ein Trieb zur Tätigkeit, zur Expansion nach einer bestimmten Richtung. Von außen wirkt ein Hindernis hemmend darauf. Dieser passive Widerstand wird vom Ich als ein aktiver Widerstand empfunden, er wird sozusagen beseelt, er wird zu einer aggressiven Macht umgewandelt.

Daß ein passiver Widerstand sehr leicht als eine feindliche Macht aufgefaßt wird, sehen wir aus dem Verhalten der meisten Anstalts- patienten dem Direktor gegenüber. Er ist derjenige, welcher in letzter Instanz die Patienten in der Anstalt zurückhält und sie nicht entlassen will. „Er muß ein Interesse daran haben, er ist ein F. ind.“ Die Direk- toren werden auch entsprechend gehaßt.

Diese Reaktionsweise ist nicht bloß für den Verfolgungswahn charakteristisch, sie ist eine ganz allgemeine Reaktionsweise. Ich verweise auf das Verhalten der Kinder. Wenn ein Kind den Kopf an den Tisch anschlägt, wird es sofort mißmutig und schlägt den Tisch, indem es sagt: „Du böser Tisch!“ Rein infantil oder nur infantil ist diese Art auch nicht. Wir wissen aus der Geschichte, daß Xerxes das unruhige Meer mit Ketten schlagen ließ. Bei den Griechen wurden von den Senatoren alle leblosen Gegenstände, welche ohne menschliche Intervention den Tod eines Menschen verursacht hatten, aus dem Land entfernt und verbannt. Horatius verdammt in einem Liede den Baum, der ihn fast erschlug. Der Indianer beißt den Stein, an dem er sich stieß. Ähnliches kann man auch bei Tieren beobachten.

Diese Belebungstendenz gehört zum Animismus, wie Tylor es genannt hat, oder allgemein ausgedrückt zum Anthro- pismus.

Die Belebung (oder Beseelung) des Hindernisses (oder Widerstandes) ist ein primitiver und allgemeiner Reak- tionstypus; er hat höchst wahrscheinlich eine biologische Be- deutung und dient zur Verteidigung des Individuums. Sie ermöglicht die Reaktion auf die Aktio!). Ob diese Art der Entstehung

1) Ein einfsches Bild des Vorganges gibt uns das Verhalten eines senkrecht auf einen Spiegel fallenden Lichtstrahles. Der zurückgeworfene Strahl scheint von einer Lichtquelle jenseits des Spiegels auszustrahlen.

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der Verfolgung rein vorkommt ist schwer zu sagen und an sich wenig wahrscheinlich. Sie kombiniert sich vielfach mit der jetzt zu besprechen- den Art, welche Freud zuerst mit voller Klarheit formuliert hat.

II. Wir gehen wieder von der Analyse des ersten Falles aus. Es bestehen bei J. B. unzweifelhaft homosexuelle Tendenzen. In der Psychose ist die Homosexualität hinter der Verfolgung versteckt. Er wird von einer gierigen Bande von roten und schwarzen Menschen, von Wüstlingen verfolgt, die ihn mißbrauchen und sexuell schädigen (sein physikalischer Verfolgungswahn). Durch welchen psychologischen Mechanismus ist aus dieser homosexuellen Tendenz eine passive Ver- folgung entstanden?

Ein Beispiel einer Phantasie, die ich von einem gesunden, jungen Manne habe, scheint mir diese Genese plastisch zu schildern:

Ein junger Mann sieht ein schönes Weib. Es taucht in ihm der Wunsch auf, sie zu besitzen. Dieser Gedanke wird als unanständig bewußt verdrängt. Kurz darauf tritt plötzlich die Phantasie auf, das Weib kommt auf ihn zu, will ihn sexuell angreifen; sie reizt ihn so, daß er nachgibt und sie überwältigt.

Unser Kranker hat deutliche homosexuelle Neigungen; in seinen paranoiden Phantasien erleidet er homosexu«lle Attentate. Es liegt sehr nahe anzunehmen, daß die Umwandlung des aktiven Triebes in ein passives Erleiden, unter dem Einflusse der Verdrängung wie im obigen Beispiele, stattgefunden hat, wobei die Verdrängung nicht als ein x-beliebiges Deus ex machina zu betrachten ist; sie wird nichts anderes sein, als das durch die Erziehung und das Gesellschaftsleben auferlegte System der Hemmungen!).

Freud hat diesen Mechanismus der Verfolgung vor vielen Jahren schon deutlich formuliert: Ein bestimmter Wunsch (z. B. die Liebe zu einer Frau) taucht auf, welcher der Verdrängung unterliegt, er erscheint unter einer veränderten Form als Verfolgung durch diese Frau mit pathologischem Affekt wieder. Anders ausgedrückt lautet es: .Der Wunsch des Ich wird auf das Wunschobjekt projiziert und kommt auf das Ich zurück. Es ist eine Projektion oder ein Transitivismus. Dieser hat für das Ich den Wert einer Entlastung: Die Verbindung dieses uneingestehbaren Wunsches mit dem Ich ist damit abgebrochen. Der Wunsch ist sozusagen „depersonalisiert“;

‘) Vielleicht ist eine Komponente der Verdrängung direkt biologischer

a Eee organisch bedingte Abwehr gegen die Überschreitungen und Perver- sıtäten. Siehe Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Deuticke, 1905.

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das Ich kann dafür nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Der Patient erlebt auf diese Weise rein passiv. Nur wer aktiv tätig ist, ist verantwortlich. Der Transitivismus kann als eine Schutzma ßregel gegen unangenehm gefühlsbetonte Bewußtseinsinhalte aufgefaßt werden!). Die Phantasie selbst ist eine Art Ersatz und ist beim Nor- malen von einem Lustton begleitet.

Die Tatsache, daß die Projektion auf das Wunschobjekt ge- schieht, ist besonders erwähnenswert. Im ersten Mechanismus der Verfolgung hatten wir festgestellt, daß irgendein Hindernis der Expansion der Ausgangspunkt der Verfolgung werden kann. Die Be- anspruchung des Wunschobjektes in diesem zweiten Typus stimmt mit der häufigen Beobachtung, daß die Verfolgung bei Paranoiden gerade von früher angeschwärmten Personen ausgeht oder von solchen, welche auf den Patienten irgendeinen Reiz ausgeübt haben. Wenn man von jemanden viel erwartet hat, was sich nie realisiert, ist man leicht geneigt, den Mißerfolg auf den schlechten Willen oder auf die feindliche Ein- stellung des Betreffenden zu schieben. Wie hoch die Ansprüche von vielen Paranoiden an ihre Mitmenschen sind, was sie alles von ihnen erwarten, weiß jeder Psychiater zur Genüge. Die Enttäuschung muß entsprechend den Erwartungen groß sein?). Mit dieser Projektion hängt es wahrscheinlich zusammen, daß die Kranken immer meinen, man wisse ganz genau, was sie denken und wünschen, ohne daß sie sich auszusprechen brauchen.

Der Mechanismus der Projektion ist, wie wir gesehen haben, nicht spezifisch für den Verfolgungswahn der Paranoiden; er ist beim Nor- malen sozusagen vorgebahnt. Er gibt den Schlüssel zur Erklärung des Eifersuchtswahnes der Alkoholiker, wie Bleuler und seine Schüler es getan haben (siehe namentlich K. Abraham: Die psycho- logischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus, Zeitschr. f. Sexualwissenschaften 1908). Beim Paranoiden ist der begleitende Affekt (zum guten Teile Angst) von besonderer Intensität. Der Transitivismus hat aus diesem Grunde nicht mehr die einfache Bedeu-

1) Die Reaktionsweise erinnert sehr an das Verhalten der Kinder, welche wenn angeklagt, die gleiche Klage an den Kläger sofort zurückgeben. Französisch heißt es z. B. sehr einfach: „Voleur!‘“ „Voleur toi-m&me!‘‘ Auf das Spiel der Retourkutsche hat uns Freud wiederholt aufmerksam gemacht.

2) In diesem Zusammenhang paßt es vielleicht daran zu erinnern, daß es aus der Alltagspsychologie zur Genüge bekannt ist, wie Haß und Liebe innig verbunden sind. Ein neutrales Wesen kann weder geliebt noch gehaßt werden.

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-tung einer Entlastung und Schutzmaßregel wie beim Gesunden. Er ist eine mißlungene (pathologische) Schutzmaßregel. Freud hat ‘durch seine Auffassung der Angst als verdrängte „Libido“ eine Er- klärung dieses pathologischen begleitenden Affektes ermöglicht. Interessant ist, daß bei chronischen Fällen der begleitende Affekt nieht mehr rein ist; er wird ein Mischaffekt, in dem man aus der Mimik leicht die negative und positive Komponente unterscheiden kann. ‚Die Mitteilungen von J. B. und F. R. waren von einem solchen Misch- affekt begleitet, in dem eine sehr deutliche läppische Komponente herauszumerken war; sie kam immer an den kritischen Stellen zum Ausdruck, wo speziell über die Mißhandlung an den Genitalien erzählt _ wurde. Es ist das Stadium der Krankheit, in welchem wieder Kom- _ promisse mit der Außenwelt gemacht werden und die Verdrängung etwas nachgibt. & | Verallgemeinerung des Verfolgungswahnes. Wir haben die Entstehung des Verfolgungswahnes geschildert, oder vielmehr nur des Kernes desselben. (Ob andere als die zwei beschriebenen Mechanis- men wirken, mag dahingestellt bleiben.) Wie geschieht der Wachs- tum, die Verallgemeinerung? Es kommt allmählich zu einer Einteilung der Assoziationen, je nach dem Gefühlston derselben, und zwar gilt das, für die neuen Eindrücke wie für die Vergangenheit. J. B. erweitert die Bande der Verfolger allmählich bis auf den Beginn derWeltgeschichte. Das erste Mitglied der Feme war Kain. Die letzten Ereignisse wie das Unglück des Zeppelinschen Ballons werden assimiliert und im Sinne des Wahnes als Verfolgung gedeutet. Die Ausdehnung der Verfolgung von der Frau auf die Feme ist sehr bezeichnend. Er schildert sie wie eine gierige, unersättliche, leidenschaftliche, schwarze und geizige Person. Alle diese Eigenschaften werden den vermeintlichen Feinden zu- geschrieben, deren Kreis sich immer mehr erweitert. Das Schwarze ist nicht nur das Symbol des Bösen (Dunklen) und Leidenschaftlichen (die Rasse der Dunkelhaarigen, die Südländer, zu deren Typus seine Frau in Wirklichkeit gehört, sie stammt aus Frankreich), es wird aus- gedehnt auf die Katholischen (die Frau ist katholisch), die Jesuiten, die ‚„„Ultramontanen‘ und Konservativen. Schwarz und rot sind ihm die Farben des Teufels, der Unterwelt, die ihn plagt und verfolgt. Das Rote, Feurige, Blutige (die Gierigen, Unersättlichen) wird ausgedehnt auf die Freimaurer, die Liberalen, und speziell auf die Sozialdemo- kraten und Anarchisten. Früher hat er mit ihnen lebhaft sympathisiert; es paßt aber nicht mehr in die jetzige Konstellation, namentlich wegen

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der Größenphantasien. Er gerät in die Verdrängung wegen des nicht mehr passenden Gefühlstones. |

Mit einem Worte: alles was ein Unlustgefühl enthält oder hervor- rufen kann, wird in die Kategorie der Bösen und Feindlichen eingereiht. Bei der Besprechung der Größenideen werden wir sehen, daß alles was gut und erhaben ist, zur „Gens ulpia“, zur blonden Rasse von Abel bis zum Patienten selbst gehört.

Die Abspaltung der negativ gefühlsbetonten Vorstellungen und ihre Projektion nach außen, hat für das Ich den Wert einer Entlastung und einer Einengung.

b) Über die Entstehung des Größenwahnes,

Der an Dementia praecox Erkrankte sperrt sich allmählich von der Umgebung ab, er verliert immer mehr den Rapport mit der Außen- welt; der feine Gefühlskontakt mit den Mitmenschen geht gradatim zugrundet). Beim Normalen besteht ein steter Austausch zwischen Individuum und Außenwelt. Er gibt nach außen und empfängt von außen. Für irgend etwas, sei es das Weib, die Politik, die Religion, der Sport, das Bier, hat er ein Interesse, das ihn zu einer gewissen Tätigkeit bringt. Der Schizophrene büßt das alles allmählich ein. Die Welt wird für ihn leer; er gibt ihr immer weniger von sich, empfängt von ihr nur das Allernötigste.

Daß das innere Leben bei den Kranken nicht still steht, haben uns die Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt; die obigen Ana- lysen sind ein neuer Beleg dafür. Es kommt allmählich zu einem mehr oder weniger manifesten Größenwahn, der sich auf alles bezieht, was mit dem Patienten zusammenhängt. Er ist von einem wunder- baren Körperbau, enorm kräftig, er versteht und weiß alles. J. B. rühmt ‚den wunderbaren Glanz‘ seiner Augen, die Macht seines Blickes, welcher die Liebe überall weckt, seine Potenz, welche auf die Männ- lichkeit der ganzen Welt einwirkt. F.R. sagt von sich „ich war zu charmant, zu galant und schön“. Kurz jeder hält sich für den Herr- lichsten der Herrlichen.

Wie ist das zu erklären? Eine einfache Hypothese ermöglicht diese beiden Tatsachen zu vereinigen. Sie lautet: Durch die Ablehnung der Außenwelt, durch Zurückhaltung des geistigen und gemütlichen Verkehres mit ihr muß eine Retention entstehen. Der Tätigkeitstrieb, der Trieb nach Expansion wird zurückgehalten, er wird introver-

!) Siehe Jung, Psychologie der Dementia praecox. Marhold, Halle, 1907.

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tiert!), er appliziert sich anstatt auf die Objekte der Außenwelt auf das Ich. Daher das lebhafte innere Leben, daher die Überbetonung der eigenen Person, welche zu den Größenideen führt (Überbesetzung des „Ich“ Freuds)?). Die eigene Person rückt in den Vordergrund des Interesses, die Eindrücke der Außenwelt sind nur schwach besetzt; dadurch wird die objektive Korrektur immer schwächer. Die Selbst- überschätzung wächst maßlos und ungehemmt. Alle unbefriedigt gebliebenen Wünsche der Vergangenheit und der Jetztzeit werden aufgefrischt und gelangen in der Phantasie zur Erfüllung. Die Wiederaufnahme der infantilen Regungen (Jung hat sie mit dem bildlichem Ausdruck der „Rückstauung in die infantilen Kanäle“ treffend bezeichnet) ist in unseren analysierten Fällen leicht nach- weisbar. J. B. ist in der Psychose König und zur gleichen Zeit Kaiser von Frankreich; der Wunsch ist sicher infantilen Ursprunges, speziell für einen Schweizer. Sein Großvater hatte im französischen Militär- dienste in Paris gestanden, und hatte einen „adeligen‘‘ Degen heim- gebracht. Es wurde darüber viel gesprochen in der Kindheit des Patienten. Daran knüpfen die Phantasien an. F. R. spricht in der Psychose eine esoterische, abstrakte Sprache, er verkehrt viel mit Ge- lehrten. Als Kind war er in der Schule debil, er versagte schon sehr früh. Für ihn, als Sohn eines Lehrers, muß es eine peinliche Lage gewesen sein. Der Drang nach Bildung muß damals in den Phantasien eine Rolle gespielt haben. Seine Vorliebe für die Kultur und die Technik, welche vom späteren Datum ist, drückt sich in der Psychose in üppigen Phantasien aus, genau wie die infantilen Regungen. Die Impotenzbe- fürchtung von J. B., welche zu der uns bekannten maßlosen Kom- pensation gelangt, stammt aus den vierziger Jahren des Patienten. Die Psychose sorgt für eine gewisse Kompensation; die Phantasie leistet einigermaßen den Ersatz für die stiefmütterliche Behandlung durch das Schicksal?). Der Weg ist im Infantilen vorgebahnt;

!) Vgl. Jung, Über Konflikte der kindlichen Seele. Dieses Jahrbuch, II. Band, 1. Heft. ?) Die verschlossenen Naturen, welche noch nicht einen pathologisch zu nennenden Grad erreicht haben, zeigen schon eine Andeutung dieser Überbesetzung. ®) Gerade bei solchen pathologischen Äußerungen, wie die der Phantasie in einer Psychose wird man instand gesetzt, diebiologische Bedeutung vieler Vorgänge zu erfassen. Daß dies (Funktion des Surrogats) die einzige Be- _ deutung der Phantasie sei, glauben wir nicht; die Verwertung der Theorie des Spiels vonK. Groos (Die Spiele der Tiere, Die Spiele des Menschen) ermöglicht - neue Einblicke, auf die wir hier nicht eingehen können.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 241

denn Größenideen sind andeutungsweise bei jedem Kinde vorhanden. Der Vater eines jeden ist ‚„‚der Starke, der Gute, der Reiche‘, in einem Worte gesagt „der Held“. Er ist für das Kind ein Ideal. Die Korrektur kommt allmählich mit der Erfahrung, mit den Enttäuschungen und den Vergleichen. Es ist interessant zu sehen, wie alles das wieder auf- genommen wird beim Paranoiden, wie es rückläufig koordiniert wird. Die Bildung der Größenideen von J. B. über seine Augen ist sehr cha- rakteristisch für den Vorgang. Der Ausgang in der Psychose ist durch die Augenfarbe gegeben, welche ein Merkmal für die Einteilung der Menschen in zwei Kategorien liefert. Rückläufig werden alle früheren Erfahrungen aus der Vergangenheit geholt und zum Ausbaue benutzt, wie das Funkensehen beim Fallen aufs Gesicht, die Beobachtungen der schillernden Tautropfen usw.

Exteriorisation. Wir möchten noch einen besonderen Mecha- nısmus des Größenwahnes zeigen, der eine wesentliche Rolle spielt. Wir wissen, daß J. B. seine Augen im weitgehenden Maße mit dem Himmel identifiziert (siehe oben die Erklärungen der Überschwemmungen, der Sonnenflecken); was im Himmel geschieht, geschieht an seinen eigenen Augen. Das an den Bäumen hängende Obst betrachtet er als Ver- vielfältigung seiner Genitalien. Der zweite Fall, F. R. empfindet jedes Manipulieren an den Gas- oder Wasserleitungen als eine Reizung seiner Nerven und Gefäße. Er ist selbst das „ganze Lebenswerk‘.

Wir haben es in beiden Fällen mit einer eigenartigen „Projektion“ zu tun. Die Patienten finden in ihrer Umgebung Teile von ihrem eigenen Körper wieder. Es ist zu einer „Exteriorisation“ gekommen!). Die dem Wahn wichtigen Organe (Genitalien und Augen bei J. B.) werden exteriorisiert. Der Vorgang ist wahrscheinlich fortschreitend. ‘Schließlich werden die Kranken durch diese besondere Erweiterung ihres Ich zu einer kosmischen Macht. [J. B. wird zur Gravitationskraft, zum befruchtenden Prinzip in der Natur.] Das Ich enthält die ganze Welt, mit Ausschluß der Verfolger. Damit ist der Gipfel des Größen- wahnes und der Egozentrizität erreicht. Der Kranke lebt in einer Welt, die er mit seinen Komplexen belebt hat. Sein Standpunkt hat sich

1) Der Ausdruck stammt aus dem Okkultismus. Man hat behauptet, es sei möglich die Hautsensibilität eines bestimmten Mediums auf ein Objekt, das in einer gewissen Entfernung des Mediums stand, zu übertragen. Man sprach von der „Exteriorisation‘‘, der Sensibilität. Die Behauptung hat sich als falsch erwiesen. Das Envoütement (Behexen) beruht auf dieser Hypothese. Der Begriff ist uns aus der Traumanalyse bekannt,

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II, 16

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etwas geändert. Früher hat er die Außenwelt abgelehnt, sie war für ihn leer. Allmählich hat er seine Umgebung nach seinen eigenen Wün- schen belebt, er tritt wieder in einen gewissen Verkehr mit ihr. In der Tat sind viele Patienten in diesem Endstadium brauchbare ‚Automaten“ in den Anstalten; sie werden bei allen möglichen Hausarbeiten ver- wendet. Es tritt eine gewisse bedingte Anpassung ein; sie schließen ein Kompromiß ab!). Man erinnere sich an die Tätigkeit von J. B. im Obstgarten.

Die Exteriorisation ist für das Ich eine Erweiterung, im Gegensatze zum Transitivismus, der eine Einengung bedeutet. Diese beiden Mechanismen spielen in der Psychologie der Dementia praecox eine wichtige Rolle.

Wir kommen zu dem Schlusse, daß in unseren beiden Fällen die Verfolgungs- und Größenideen unabhängig voneinander ent- standen sind. Gemeinsam ist ihnen aber in letzter Instanz der Aus- gangspunkt aus dem Triebleben, sie entstehen alle aus den freien oder verdrängten, nach Verwirklichung ringenden Wünschen.

c) Schlußbemerkungen,

Unsere Analysen haben mit Deutlichkeit gezeigt, wie in der Psy- chose alle Symptome in Zusammenhang mit einigen ge- fühlsbetonten Vorstellungskomplexen stehen, wie sie direkt als Folgen oder Wirkungen derselben zu betrachten sind. Es zeigt sich, daß der Inhalt der Psychose streng individuell determiniert ist, daß aber die Mechanismen bei den Patienten die gleichen sind; daß die Motive zum Handeln relativ wenig zahlreich sınd, und daß die meisten dem Triebleben der infantilen Zeit angehören.

Es besteht bei diesen paranoiden Kranken noch eine lebhafte geistige Tätigkeit konstruktiven Charakters, welche sich im paranoiden System zeigt. Eine eingehende Untersuchung mit Berücksichtigung der psychoanalytischen Methode erlaubt den Schluß, daß die Zerfahrenheit im chronischen Stadium bloß vorgetäuscht ist, daß von Verblödung im eigentlichen Sinne wie bei einer or- ganischen Geisteskrankheit nicht die Rede sein kann. Die Patienten denken im Gegenteil noch sehr lebhaft; sie sind imstande,

‘) Bleuler berichtet über einen Fall eines Kranken, der seit Jahren in der Abwaschküche tätig war, der aus dem Wasserstrahle am Hahn die Stimmen der Nixen hörte und dadurch so gefesselt war.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praeeox-Kranken. 243

wenn sie sich zusammennehmen, relativ komplizierte Bilder zu be- schreiben und zu deuten und Erzählungen wiederzugeben. Eine Haupt- fehlerquelle ist die mangelhafte Applikation, die schlechte Fähig- keit sich zu konzentrieren. Der Experimentator muß einen solchen gemütlichen Rapport mit dem Patienten im Laufe der Untersuchung gewinnen, daß er vermag, die Komplexe des Patienten bis zu einem gewissen Grade auszuschalten (siehe das Beispiel der Tellgeschichte bei FR.)

Die sogenannte Verblödung ist nur ein Schein. Die Tätig- keit des Patienten ist an die Außenwelt nicht genügend angepaßt; sie geht von innen heraus und erfährt die Korrektur nicht, welche die Fühlung mit der Außenwelt mit sich bringt.

Es kommt beim Patienten zu einer Konzentrierung des Affekt- lebens um die wenigen Fragen, welche ihn persönlich stark interessieren (Komplexe!), das übrige ist ihnen blaß und bedeutungslos.

Die Kranken leben iin einer Tra umwelt, in welcher sie ihre unerfüllten Wünsche der Kindheit und zum Teil der Jetztzeit zur Erfüllung, ja noch mehr, zu einer krankhaften Kompen- sation gelangen lassen. Aus diesem Grunde tragen die Wahn- ideen vielfach einen eigenartigen Charakter, der mit den Patienten, wie sie vor uns stehen, scharf kontrastiert. Dieser Traum ist für den Patienten so gefühlsbetont, daß er das Interesse für die Außenwelt verliert!).

Ob die Unfähigkeit, sich an die wechselnden Verhältnisse der Außenwelt anzupassen (welche von kompensatorischen Phantasien begleitet ist), oder ob das Vortreten der Innenwelt mit sekundärer Vernachlässigung der Realität primär ist, ist eine offene Frage; die erste Hypothese einer gewissen primären Unzulänglichkeit hat vieles für sich; sie ist ein Versuch einer biologischen Erklärung der Phänomene?); wir glauben, daß die Psychiatrie danach trachten sollte, allmählich eine Naturwissenschaft zu werden, eine besondere Disziplin der biologischen Pathologie.

Diese beiden Psychoanalysen haben uns einen Einblick in die Entwicklung des Individuums und der Krankheit gegeben. Wir sind von dem Einflusse des Milieu und der Konstellation in der

1) Vgl. Jung, Der Inhalt der Psychose. Deuticke, Leipzig und Wien, 1908. 2) Siehe die Definition der Krankheit von Ribbert in „Das Wesen der Krankheit‘, Bonn, 1909. 16*

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Familie ausgegangen. Es ließ sich nachweisen, daß der Vater und die Mutter in beiden Fällen einen ganz bestimmten Einfluß ausübten, der für die spätere Entwicklung des Knaben maßgebend wurde. Die spätere Geschmacksrichtung läßt sich auf infantile Einflüsse zurückführen, die Berufswahl, die Sympathien und Antipathien (welche unter anderem bei der Wahl der Frau maßgebend sind), ge- wisse Tendenzen, wie bei F.R. ein echter „Bildungstrieb‘, alles das zeigt sich durch die Prägung seitens der Eltern in den ersten Lebens- jahren für immer fixiert. Das Milieu beim Erwachsenen wirkt auch bestimmend auf den Inhalt von einzelnen Symptomen; man denke an die Anatomie und Physiologie des Schlossergesellen F. R., an die be- sondere Art der Kompensation in den Größenideen, welche eine reich- liche Erfüllung der Wünsche eines durch das Schicksal schlecht be- handelten Menschen hervorgerufen hat (der häßliche, arme, schwächliche F.R. wird in der Psychose ein „charmanter, schöner, kräftiger, reicher, mächtiger‘ junger Mann).

Interessant ist ferner, daß der Übergang des Normalen zum Pathologischen nicht scharf abgegrenzt, sondern im Gegenteil fließend ist; es gibt keine wirkliche Kontinuitätstrennung; die Psychose arbeitet nicht nach prinzipiell neuen Mechanismen (daß sie sich ohne Mechanismen entwickelt; daß die Symptome ohne nähere Determinante, aufs Geratewohl auftreten, wird wohl kein Psychiater mehr annehmen, der eine naturwissenschaftliche Bildung genossen hat), sie verwertet auch kein besonderes, eigenes Material, sie schöpft aus der früheren Erfahrung und wählt nach Komplexgründen aus der Gegenwart!). Die Triebkräfte des normalen Handelns (Selbst- erhaltungstrieb, Sexualtrieb, mit seinem zahlreichen Partialtrieben) wirken in der Psychose fort. Wahrscheinlich ist ihr Zusammenspiel die Synergie gestört.

Unser Standpunkt läßt sich durch den Ausdruck psycho- genetisch charakterisieren. Die Psychiatrie ist auf dem Wege, eine erklärende Wissenschaft zu werden, sie war bis jetzt eine be- schreibende Wissenschaft. Zuletzt möchte ich einschränkend noch bemerken, dal ich in dieser Arbeit das Konstruktive, die neuen Ge- sichtspunkte hervorgehoben habe, ohne immer auf die vorhandenen

!) Der Spieltrieb sogar bleibt in der Psychose erhalten und wird durch die Komplexe alimentiert, wie J. B. in seinen Rätselbildern und seiner Abwehr- gymnastik gezeist hat. Siehe auch F. Chalewsky, Heilung eines hyster. Bellens durch Psychoanalyse, Zentralblatt für Nervenheilkunde, 1909.

Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 245

Lücken hinzuweisen; es ist bewußt geschehen. Wenn man zu einem neuen Gesichtspunkte gekommen ist, muß man zuerst alles unter diesem neuen Gesichtswinkel anschauen; erst nachher soll die Kritik ihr Werk an- fangen, sonst sterilisiert sie jede Regung ab ovo.

Um die Übersichtlichkeit der Darstellung beizubehalten, habe ich eine Auswahl des Materials der Psychoanalyse getroffen; die meisten

Punkte könnten besser belegt werden, ich habe es für unnötig ge- halten?).

1) Die hier entwickelten Gedanken stützen sich auf die Grundanschauungen von Freud und von der sogenannten Züricher Schule. Vieles ist schon in der Literatur niedergelegt, namentlich in den Arbeiten vonFreudundJung, Mehreres verdanke ich mündlichen Mitteilungen von Bleuler und Jung.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose.

Von Dr. F. Riklin, Nervenarzt, kant. Inspektor für Irrenpflege, Zürich.

Ich hatte Gelegenheit, während mehreren Wochen einen Zwangs- neurotiker zu beobachten, über dessen Analyse ich in der psychoana- Iytischen Vereinigung in Zürich berichtet habe. Dabei kamen mir die Ausführungen Freuds über die Zwangsneurose an der Versamm- lung in Salzburg, Frühjahr 1908, sehr zugute. Freuds Vortrag lag damals das gleiche Material zugrunde wie in seiner Arbeit „Bemer- kungen über einen Fall von Zwangsneurose“ im soeben er- schienenen II. Teil des ‚‚Jahrbuches‘“, Bd. I. Die Lektüre dieser pracht- vollen Abhandlung hat in mir die Bedenken, die ich gegen die Ver- öffentlichung meiner Untersuchung hatte, verstärkt; deren Unvoll- kommenheit ist mir allzusehr bewußt; ferner ist die Analyse unvoll- ständig, da sie aus äußeren Gründen nach kurzer Zeit eine Unter- brechung erleiden mußte; das erschwert die Durchleuchtung des komplizierten Gebildes noch mehr.

Was mich dennoch zur Veröffentlichung bestimmt, ist der Fall an sich und eine Reihe von Gebilden, die wir trotz der Unfertigkeit der ganzen Analyse verstehen können. Ich hoffe, später den Fall auch theoretisch vollständiger aufklären zu können.

Ich erhielt die unbeschränkte Vollmacht, das Material zu ver- werten.

Die uneingeschränkte Erlaubnis zur Publikation wird ergänzt durch das Vorhaben des Patienten, auch seinen Leib der Wissenschaft, dem Seziermesser, zu opfern und ihn dereinst einer Anatomie zu schen- ken. Dieser Zug an unserem Kranken wurzelt ebensosehr in seinen „Komplexen“ wie die Wahl der Philosophie als Universitätsstudium und die Auswahl seiner Kollegien, in denen solche über Philosophie, Ethik und Geographie vorwiegen.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 247

Er ist zwanzig Jahre alt, körperlich zart, von keinem Sport gestählt, der Habitus noch etwas infantil; sine Bewegungen sind bedächtig und ungeschickt. Ich sah von ihm eine Photographie aus dem fünften Jahr und es fiel mir auf, wie merkwürdig wenig er sich im Grunde genommen seither verändert habe. Dort sah er zart, aber sehr geweckt aus. Das ist er auch jetzt; nur liegt über der Persönlich- keit eine Unfreiheit, Unsicherheit und ein Ausdruck von Enttäuschung. Die seelischen Infantilismen, die seelische Unsicherheit der Zwangs- neurose, die Phobie vor der Berührung von Gegenständen, welche ihm als „infiziert“ galten, die Enttäuschung an der Wirklichkeit, an der Welt, wie sie ist und die damit zusammenhängende Tendenz der Regression ins Infantile malen "sich deutlich in seinem Gehaben. Er ist liebenswürdig und liebebedürftig. Die Übertragung gelingt leicht; ‚doch machen sich oft große Widerstände geltend, aus denen der Kranke ‚sichtlich einen Lustgewinn bezieht; er versteht es, den Arzt mit den Widerständen zu quälen.

Er fühlte sich, mit seinem seelischen Kram und Spielzeug, mit seinen Leiden unverstanden und vereinsamt, ungemein erleichtert, einen Arzt zu finden, der die Vorgänge in seiner Seele überhaupt be- greifen will, nachdem er vorsichtig sondiert hatte, ob man ıhn nicht verlachen werde. Dann eröffnet“er seine Geheimnisse mit großer Pietät, nachdem er sie bisher wie einen jungfräulichen Schatz gehütet hatte. Namentlich sind es die?Produkte seiner wundersamen Tag- träumereien und Phantasien, welche er mit Sorgfalt entschleiert, und seine Leiden, welche er wirkungsvoll darstellt.

Im Aufbau der Neurose und ihrer Symptome liegt ein ungemeiner Aufwand, eine große Leistung; er hat ihm auch einen großen Teil seiner Zeit und seines Daseins geschenkt. Ich habe den Eindruck, es bereite ihm Genuß und Behagen, einem Kenner seine Raritätensamm- lung zeigen und Wollust und Entsetzen seines Lebensromans dabei wieder durchkosten zu können. Dank der unverkennbaren maso- chistischen Tendenz, die sich anscheinend breiter, macht als die | sadi- ‚stische, scheint er auch aus dem Peinlichen Lust zu schöpfen, sofern es gelungen ist, nicht nur das scheinbar Peinliche, sondern auch das wirklich Peinliche ans Licht zu ziehen.

Neben den Widerständen zeigte sich eine große Wißbegierde, die der Analyse notwendig großes Interesse entgegenbrachte. Er bedauerte lebhaft die Unterbrechung der Behandlung, den Verlust der angenehmen und interessanten Unterhaltung!

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An der Unterbrechung war Patient in erster Linie selbst schuld; es gab zwar mehrere einwandfreie Gründe, im kommenden Semester in eine andere Universitätsstadt überzusiedeln; aber es spielte dabei besonders der Wunsch mit, den Winter in einer Landschaft zu ver- bringen, die das Milieu seiner Tagträumereien widerspiegelte, und dieser Sehnsucht opferte er auch die Aussicht, möglichst bald durch die Analyse von seiner anscheinend qualvollen Krankheit befreit zu “werden. Die Tendenz, in der Krankheit zu bleiben und den darin ge- “botenen Gewinn auszukosten, hält somit der anderen, dem Wunsche ‘gesund zu werden, noch reichlich die Wage; die Nachteile der Krank- ‚heit haben den jungen Patienten noch nicht mürbe gemacht. fr Der folgende Traum, welcher die Behandlung inaugurierte, dem somit große Bedeutung zukommt, klärt uns noch weiter über die Art der Übertragung und die Verwertung der analytischen Be- handlung durch den Patienten auf.

Er hatte sich aus dem Grausen seiner bisherigen Stadtwohnung geflüchtet und ein Zimmer in einem benachbarten Dorfe bezogen. Von dieser Flucht aufs Land hoffte er eine Verminderung seiner Pho- bien und anderseits kam er so in die Nähe von Dr. Jung, dem er sich anvertrauen wollte.

In seiner Anschauung mußte sein Arzt übrigens unverheiratet sein und durfte keine Kinder haben, die Entdeckung des Gegenteils war eine unerwartete, fast unangenehme Überraschung und daß auch ich verheiratet bin, erwies sich für den Gang der Analyse als eine folgenschwere Tatsache.

Dr. Jung wies den Kranken an mich. In der Nacht oder am Morgen vor der ersten Konsultation träumte er nun folgendes:

Er stellt sich die Konsultation zum voraus vor; er sitzt bei mir und erzählt seine Leidensgeschichte. Da verändert sich allmählich die Szene: Statt daß er mir erzählt, verwandelt er sich in das Objekt einer masochistischen und exhibitionistischen Phantasie: er ist un- bekleidet an einen Pfahl oder Baum geschnallt, wehrlos, und zwar so, daß er den Baum umarmen muß, und dann wieder mit dem Rücken an denselben gebunden ist. Der Traum kennzeichnet genügend die Auffassung der Analyse und die Art der Übertragung. Patient scheint übrigens ein Traumstück unterschlagen zu haben; er sagt nicht, wer ihn bindet und quält; wir dürfen annehmen, daß es sich nicht nur um eine Exhibition des Leidens handelt; denn Patient hat zahlreiche, ganz entsprechende Phantasien, wo es der Vater ist (respektive die

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 249

ım Vater verkörperten Tendenzen der Eltern!), der ihn mißhandelt oder mit Qual droht, Phantasien, wo er seinem Diener befiehlt, ihn wehr- los zu machen, zu binden, einzugraben (er war dabei immer nackt) und so die Drohungen des Vaters in der Phantasie zu realisieren. Der Arzt wird also mit dem Vater identifiziert, es wird ihm auch dessen Rolle zugeteilt. Die Analyse ergibt aber noch, daß eine der frühesten Szenen, welche dieser masochistischen Tendenz Nahrung boten, in sehr früher Kindheit stattfand und sich im Sprechzimmer eines Arztes abspielte. Er wurde wegen Plattfüßen und anderer kleinerer Gebrechen zum Orthopäden gebracht und mußte sich dort ausziehen. Es waren eine Reihe orthopädischer Apparate im Zimmer und Nebenzimmer und die Mutter drohte, wenn er nicht artig sei, werde er zur Strafe an solche Apparate geschnallt. Er stellte sich die Folterung durch den Arzt! lebhaft vor und empfand dabei eine Wollust, die er sich in Zukunft‘ durch Ausmalung ähnlicher Situationen wieder zu verschaffen suchte,

Wir dürfen wohl annehmen, daß die Szene beim Orthopäden nicht die ursprünglichste ist, welche zur Qualeinstellung führte. Es fehlen uns vorläufig genauere Anhaltspunkte. Patient sagt, daß er als Knabe immer von der Mutter geprügelt worden sei, nicht vom Vater; und doch scheint die Szene beim Orthopäden eine frühere mit dem Vater irgendwie zu decken.

Wir haben noch weitere Gründe zu der Annahmie, daß dem Masochismus ein alter Sadismus, wenn wir das so bezeichnen wollen, vorausgeht, eine alte Auflehnung gegen Vater oder Mutter, oder beide, und eine-Umgestaltung des Unterliegens in Genuß.

Durch die spätere Jugendzeit hindurch bis in die letzten Jahre geht ein Zug von Zerstörungswut, der sich darin äußerte, daß er, wenn ihm ein kleines Unternehmen mißlang, z. B. ein Tintenklecks auf ein schön beschriebenes Zettelchen fiel oder sonst eine Vollendung nicht erreicht wurde in eine kleine Raserei geriet und die Zerstörung

1) Der Kampf gegen die Macht und Autorität der Eltern konzentriert sich gewöhnlich im Vaterkomplex des Sohnes. Die männliche Gottheit entwickelt sich aus dem Vaterkomplex. So kann es nach meiner Meinung kommen, daß auch von. der Mutter her, sofern die Mutter an der Macht- und Autoritätswirkung beteiligt ist, Einflüsse kommen, die im. Vaterkomplex abgehandelt werden.

Ein Patient, ein Pole, schöpfte aus der Revolution gegen die Eltern die Mo- tive zur Revolutionsbetätigung auf politischem Gebiete. Er ist sich über diesen Zusammenhang ganz klar. Dabei ist Polen in seinen Vorstellungen das Mutter- land, nicht das Vaterland. Die Autorität verkörpert sich im Vater. Von der Mutter will sich der neurotische Sohn zunächst nicht befreien.

250 F. Riklin.

fortsetzte; dadurch opferte er aber etwas, das, wie wir sehen, für ihn einen großen Wert hatte. Und bei diesem ganzen Vorgange kam eine Wollust über ihn, die seit der Pubertät zum Orgasmus führen konnte.

Eine Serie von Opferhandlungen zeigt nicht mehr deutlich das Wutmotiv, das Mißlingen, sondern es wird nur noch etwas Liebes ge- opfert zugunsten eines andern geliebten Objektes und aus dem Opfer- schmerz der masochistische Genuß geschöpft, der später immer leicht zum Samenerguß führt.

Ein weiterer Grund ist eine weitgehende Verdrängung des Analerotischen, d. h. in der Zwangsneurose sehen wir die sukzessive Darstellung des positiven Analerotismus und dessen Verdrängung. Und in den masochistischen Phantasien stellt er die Qual dar in irgend- einer Form, in welchem ihm von den Eltern Strafe angedroht worden war, 2. B. Gebunden- und Eingewickeltwerden; dabei finden wir auch die Qual der Züchtigung.

Die Art der Übertragung auf den Arzt, welche in diesem Inau- guraltraum sich kennzeichnet, ruft den Vergleich mit den Über- tragungsträumen weiblicher Kranker.

Diese bekommen ein Kind von ihm, mit oder ohne Zensur, d.h. mit oder ohne Vergewaltigung (im Sinne des Witzes, wo das im Walde ihres Geldes beraubte ältere Fräulein zum Räuber sagt: Ja, und wo bleibt denn die Vergewaltigung?)

Unser Patient ersetzt das weibliche Analysenübertragungs- verhältnis eben einfach durch eine Vergewaltigung durch einen Mann, den Arzt (ehedem Vater?).

Der Arztübertragung der weiblichen Patienten wird wohl ebenso eine Vaterübertragung vorausgehen.

Sich selbst drängt der Patient durch diesen Traum in die Rolle des Weibes.

Lebensgeschichte:

Patient ist 1889 in einem Städtchen nahe der Landeshauptstadt geboren. Er ist das einzige Kind; die Mutter soll eines Myoms wegen, das sich in der Schwangerschaft ausgebildet habe, seither unfruchtbar geblieben sein; diese Kenntnis erhielt Patient in seinen Pubertäts- jahren durch Andeutungen. Beide Eltern leben: der Vater ist 15 Jahre älter als die Mutter.

Die Schilderungen des Patienten von seinen Eltern geschehen, wie er selbst sagt, in einer besonderen Beleuchtung. Er will ganz

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objektiv, sachlich beschreiben; in dieser versuchten, forcierten Sach- lichkeit, für deren Darstellung leider zu wenig Raum ist,'liegt gerade das Besondere. |

„Ich bin ganz sachlich im Urteil über meine Eltern. Ich liebe sie genau so, nicht mehr und nicht weniger, als den Hund zu Hause. Wenn ich heim komme, bin ich zärtlich mit dem Hunde, tändle, spiele mit ihm, kneife und knete ihn. Genau so mache ich es mit meinem Vater.“

Patient erzählt, wie er den Hund heranlocke mit den Worten: „Komm, Foxerl, komm zur Qual“, und dann beginnen diese Lieb- kosungen des Hundes, den er auf den Rücken legt, knetet, oder an den Beinen über den Teppich schleppt. Den Vater quälte er in der gleichen Weise, wenn er am Morgen noch zu Bette lag, oder beim Mittags- schlafe, und freute sich, wenn er schrie oder piepte.

Patient hat eine große Freude, diese etwas kindischen Dinge zu erzählen. Er rächt sich sadistisch am Vater in einer Form, die ‚keine schlimmen Folgen für ihn hat.

„Geistig stehe ich meinen Eltern genau so nahe wie dem Hund.“ In dieser, durch eine Auflehnung gegen die Eltern beruhenden Über- treibung ist doch etwas Wahres. Sie stehen ihm seelisch nicht nahe; seine Auflehnung hat sehr früh begonnen, so früh sozusagen wie sein Wissensdrang; und was von den Eltern verboten worden wäre, das rettete er in große Phantasien, die ihm als rein und heilig galten. In dieses geistige Leben hatten die Eltern keinen Einblick.

‚Meinen Vater, über dessen Physis ich sonst wenig zu sagen weiß er war immer gesund halte ich für recht unintelligent. Er ist Richter. Ich halte ihn für einen miserablen Richter; zu Hause hat er keinen Gerechtigkeitssinn; daraus muß ich schließen, daß er auch in seinem Berufe so ist. Er ist ungeheuer gutmütig, Phlegmatiker, mit einem Stich ins Melancholische. Es vergehen Monate, bis er lacht.“

Dieser Ausschnitt ist vielsagend für die gegenwärtige Stellung des Sohnes zum Vater. Wir erkennen klar eine Auflehnung, den revolutionären Kampf, der zur Ablösung führen sollte.

Der Vater wird als unwissend hingestellt wahrscheinlich eine Rache dafür, daß er dem Sohn zu bestimmter Zeit gewisse Kennt- nisse vorenthielt, sich unwissend stellte; und als ungerecht, weil die väterliche Autorität dem Sohn Hemmnisse entgegenstellte, die er nun zu überwinden sucht. Er ist] im Zweifel, welcher Tendenz er endgültig folgen will: ob der kindlichen Befriedigung von Liebkosungen

252 F. Riklin.

mit sadistischem Zug, oder ob er erwachsen sein will, ob er sich vom Vater ablösen, befreien will. In der Vaterübertragung liegen Liebe und Haß; der Haß erleichtert die Vorbereitungen zur Übertragung auf neue Objekte.

Zwischen die beiden Tendenzen stellt Patient eine Zwangs- zeremonie, zu welcher der Hund, der in diesem Zusammenhange den Vater vertritt, das Mittelglied abgibt. Unter dem Vorwande, der Hund habe Würmer, mit welchem man sich infizieren könnte, dehnt er einen aus einer andern Quelle hergeleiteten Waschzwang auf alles aus, was mit dem Hunde, d. h. mit den Eltern in Berührung kommt. Der Hund ist der Liebling der Mutter, er darf auf dem Bette und dem Sofa liegen, also sind die Eltern mit Wurmeiern (analer, d. h. anal- erotischer Abkunft) infiziert.

Er knetet also den Bauch des Vaters oder des Hundes; da aber diese Objekte infiziert sind, erfolgt darauf eine gründliche Wasch- prozedur; die infantile ‚„Schweinerei, welche durch die wohl ver- wertete Symbolik des Hundes ausgezeichnet dargestellt ist, ist nur gestattet durch die nachfolgende Zwangsabsolution. Mit dieser Wa- schung quält er seine Eltern wieder, denen er ruhig sagt, er habe sie zwar lieb, aber sie seien ihm ein Gegenstand des Grausens und Ekels. Er weidet sich nun an der Indignation des Vaters und den Tränen- strömen der Mutter.

Von der Mutter sagt er, sie sei aufgeregt, von einem Extrem der Stimmung ins andere fallend, übermäßig zärtlich und ungehemmt zornig. Sie verhätschelte den Sohn, ohne ihn später intellektuell zu verstehen. Er erinnert sich an Fälle, wo er schon als kleiner Bub von 6 bis 7 Jahren ganz ungerecht gezüchtigt wurde.

Die Anschauungen in der Familie waren äußerst konventionell. Man sah sehr auf das Urteil der anderen Leute und tat nichts, was geläufigen Vorurteilen vor den Kopf stieß.

Über natürliche Dinge wurde nie gesprochen. Als der Sohn z. B. ins Ausland studieren ging was eine große Umwälzung bedeutete -— fühlte man sich verpflichtet, ihn sexuell aufzuklären, was ja schon längst anderwärts geschehen war. Jeder schob diese schwere Eltern- pflicht dem andern zu und die Aufklärung geriet sehr komisch. Man sprach vom Leben und seinen Gefahren und daß, falls „gewisse“ Krankheiten eintreten, man heutzutage nicht zu verzweifeln brauche. Das weitere übertrug man dem Onkel Apotheker, der es derber be- sorgte und dem angehenden Studenten zum Abschied ein kleines

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 258

Paket mit Schutzmitteln in die Hand drückte übrigens ganz über- flüssigerweise. In den ersten Universitätsferien amüsierte er sich dann damit, diese Geräte mit Wasser zu ira und die Mutter damit zu entsetzen!

Zu den Beziehungen zwischen Sohn und Mutter ist zu bemerken, daß direkte Inzestphantasien vorhanden sind. Ferner, daß er immer den Wunsch hatte, die Mutter beim An- und Auskleiden zu sehen, wobei sie in späteren Jahren die Entrüstete spielte und ihn mit dem Onkel Apotheker verglich, der seine Schwestern jeweilen durch ähn- liche Überraschungen erschreckt hatte. Sie liebte es, ihre Füße zu zeigen; dann trieb sie einen Kult mit seinen Füßen, und nannte sie infantil „Futi“. Darunter verstand aber Patient selbst „ein ekelhaftes Wort“ und wenn das Dienstmädchen am Morgen hereinkam und das hörte, war es ihm äußerst peinlich; es mußte auch etwas anderes darunter verstehen. [Es gehört dies zu den Beziehungen zwischen Fußfetischis- mus und Sexualorganen.])

In seinen Phantasien treibt Patient dann selber einen Kult mit seinen Füßen.

Es fanden auch Ringkämpfe statt, in denen die Mutter immer unterlag und in eine Ecke gedrängt wurde. Er verfolgte sie als Schlange („Jetzt kommt die Schlange“), Salamander, Gespenst, das wie ein Frosch hüpfte und sie erschreckte.

Er nannte diese bedeutsamen agressiven Spiele „Romps“ oder bezeichnete die Tätigkeit mit ‚Samen der Verwirrung streuen“. Nach- her hatte er oft moralischen Katzenjammer. Es ist uns leicht, den _ Sinn dieser Spiele mit dem sadistischen Zuge, als Abkömmlinge von Inzestvorstellungen zu entlarven.

Die Mutter trieb mit ihm bis in die neuere Zeit das ‚Poperl- spiel“ oder den ‚„‚Poperlkultus“. Es war ein ausgesprochener Analzonen- kultus, den ich nicht näher zu beschreiben brauche und der sich auch noch dem erwachsenen Sohne gegenüber erhalten hatte, unter dem Schutze des mütterlichen Rechtes auf intime Zärtlichkeiten den Kindern gegenüber. Dieses von der Konvention anstandslos be- willigte Recht dehnte sie auch dahin aus, daß sie ihm mit Vergnügen intime Zimmerdienste wie einem kleinen Kinde besorgte, auch als er schon groß war und daß sie die Gelegenheiten dazu geradezu pro- vozierte.

Der Sohn bekam mit der Zeit das Gefühl dafür, daß diese Aus- dehnung des infantilen Analzonenkultus nicht mehr passe; aber er

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verzichtet doch nicht gerne darauf. Und darum erfindet die Neurose den gleichen Ausweg wie beim Vater: Sie läßt diese Kulte gewähren, aber ‘da die Mutter den Hund mit den Würmern liebkost, erfolgt eine Wasch- prozedur dagegen. Der Analzonenkult erhält im Symbol des Hundes mit den Würmern seine Abwehr durch den Waschzwang, dessen Her- kunft, wie wir sehen werden, abzuleiten ist aus einem Reinigen, Ab- waschen des Unreinen, mit einer Verschiebung vom Psychischen ins ‚Körperliche. Was unrein, schmutzig im konventionell-ethischen Sinne / ist, soll reingewaschen werden durch eine körperliche Waschung, eine Verschiebung, welche in den symbolischen Waschungen in den Kulten bereits stattgefunden hat (‚‚die Hände in Unschuld waschen“; Taufe; das ‚„Lavabo‘‘ in der Messe). Aber der Begriff ‚‚rein‘‘ und ‚‚unrein‘ wird beim Zustandekommen des Waschzwanges noch in einem andern Sinne gebraucht: ‚‚Unrein‘ 'sind die sadistischen und andern Lieb- ! - kosungen der Eltern und durch eine Verallgemeinerung, was von den Eltern herkommt. ‚‚Rein‘ sind seine infantil-erotischen und späteren erotischen Phantasien, die er vor den Eltern verborgen hält, für sich behält; es war ihm furchtbar peinlich, wenn er irgendein Zettelchen verlor, in welchem etwas von diesen Phantasien stand.

Durch diese doppelte Herkunft des Begriffes ‚rein‘ und ‚‚unrein‘, ım Sinne der konventionellen Anschauungen (der Eltern) und gegen die Eltern kann es kommen, daß gewisse Dinge in seinen Phantasien „rein“ sind, welche im Zusammenhange mit den Drohungen der Eltern „unrein“ sind. Überdies ist der Begriff ‚rein‘ auf erotischem Gebiete ja den weitesten Schwankungen unterworfen, was dem Streben der Zwangsneurose, Unsicherheit zu haben und Entscheidungen aufzu- schieben, außerordentlich passend vorkommen muß.

Im Begriffe ‚rein‘ aus der einen und andern Herkunft liegt das, daß die wirkliche erotische Betätigung am Objekt im Gegensatz

kur Betätigung in der Phantasie abgelehnt wird. Dazu gehören: die Manipulationen an den Eltern und am Hunde, der wirkliche Sexual- verkehr, (wirklich im Gegensatze zum Vorkommen in der Phantasie), das sexuelle Berühren des Objektes der Liebe, die Masturbation.

Der Waschzwang erfährt eine Ausdehnung auf alles, was von zu Hause kommt, auch auf die Briefe, die er zuerst mit Interesse liest.

Die Würmertheorie beruht gleichfalls auf einer Verschiebung. Die Infektionstheorie ist nur für die Oberfläche. Die hunde- mäßige Art, wie das Tier zu Würmern kommt, ist das Wesentliche,

dem die Abwehr, welche eine der Affektquellen des Wasch-

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 259

zwanges bildet, gilt .dem ‚„Hundebrauch‘. (Belecken des Afters, ‚tie- rische‘“ Art der Hunde.)

Im ‚„Hundebrauch‘ tritt uns vor allem die Analerotik ent- gegen. Der ‚„Poperlkult‘“ beweist uns, daß sie auch von der Mutter geradezu gezüchtet wurde. Im Übertragungstraume, wo Patient sich nicht allein von vorn, sondern auch von hinten quälen läßt, haben wir neue Beweise. Die Wurmeier treten, wie wir später sehen werden, in eine Linie mit Spermatozoen!). Das Gequältwerden von vorn wird in einer andern Phantasie im Kampfe mit dem Schlaf dar- gestellt durch schmerzhaftes Einführen eines Katheters in die Harn- röhre. Fügen wir hinzu, daß Patient ausgesprochen ästhetisch ist, auch von erotischen Bildern nur ästhetisch einwandfreie liebt, die anderen verabscheut, so vermögen wir durch den Waschzwang hin- durch die verdrängten infantilen, analerotischen Wünsche zu erkennen, dıe Patient in der Analyse noch nicht angebracht hat. Der Zwang setzt erst später, in der Vorpubertät ein, richtet sich in seiner Haupt- front gegen das Sexuell-Gemeine. Aber während es nicht allzuschwer war, dies bewußt zu machen, hat die Analyse die infantilen Quellen erst teilweise aufgedeckt.

Wir sind von der Darstellung der Verhältnisse im Elternhause mitten in die Zwangssymptome und Phobien hineingeraten.

Indem ich im Programme weiterfahre, möchte ich ein Beispiel an- führen, wie merkwürdig der Knabefdas ‚brutale Spielverderben‘“ durch den Vater abreagierte.

Mit einem Kameraden hatte er abgemacht, jedesmal, wenn die Eltern (hauptsächlich betraf es den Vater) sie in ihren Spielen stören, brutal unterbrechen oder verständnislos schimpfen, solle in Gegenwart des Beleidigers laut das Wort ausgesprochen werden: „Mq“, „Emque‘‘. Das Wort wurde also da angewendet, wo wir etwa einen maskierten Fluch erwarten könnten. Der Sprachgebrauch pflegt Fluchworte, deren Analyse oft haarsträubende sexuelle Schmähungen zutage fördert, durch verschiedene Methoden: Abkürzung, Verball- hornung, Verschiebung usw. so abzuschwächen, daß ihre Bedeutung dem, der sie ausspricht, gar nicht mehr bewußt wird. So kann man die in ihrer Bedeutung schlimmsten Fluchabkürzungen im Munde der gesitteten Dame in bester Gesellschaft hören. Wir besitzen in der Schweiz z.B. Kose-Adjektiva, die ursprünglich schlimme Flüche waren.

1) Darin liegt eine starke Verdrängung der Inzestwünsche, welche er als Kind mit infantilen und jetzt mit erwachsenen Anschauungen hat.

256 F. Riklin.

Freud hat in seiner erwähnten letzten Arbeit ähnliche Formeln analysiert, wie das „Emque‘‘ unseres Patienten; nur stammen sie dort aus Anfangsbuchstaben von Gebeten, in die sich zwangsmäßig die Negation eines guten Wunsches einmischt, und die als Wort ge- lesen, einen neuen bedeutsamen Inhalt bekommen.

„Emque‘“ ist eine Abkürzung von „Marterqualen“.

Als Fluch heißt das: „Du sollst Marterqualen erdulden!““ Welche Marterqualen gemeint sind, können wir leicht erraten; wir haben sie bei der Analyse des Übertragungstraumes und später kennen gelernt.

Im Anwendungsritus von ‚„Emque“ liegt aber eine Übertreibung des Leides, das dem Knaben durch die ‚„Brutalisierung‘‘ zugefügt wird. Die Brutalisierung wird als Erduldung der Marterqualen ge- deutet, von denen der Knabe wunschhaft phantasiert. Sadistische und masochistische, männliche und weibliche Sexualphantasien sind also am Aufbau des ‚„Emque“ beteiligt.

In der Anwendung liegt eine durch die Furcht vor dem Vater durch die Abkürzung und Symbolisierung abgeschwächte Auflehnung gegen die Autorität. Es ist eine Form, dem Vater zu sagen, er sei ein brutaler, dummer Kerl, ohne daß es der Vater versteht und sich rächen kann.

„Emque“ ist ein Geheimnis der Knaben; sie wissen etwas, was der Vater nicht weiß. Sie hänseln ihn damit, sie sagen, daß sie das Ge- heimnis ganz gut wissen, das ihnen die Eltern vorenthalten, von dem sie heucheln, sie wissen nichts davon.

Das wird uns klar, wenn wir erfahren, daß der Kamerad im Bunde der ist, welcher den Patienten kurz vorher in das große Ge- heimnis von der Herkunft der Kinder eingeführt hatte, das sie vor den Eltern, die nichts davon verlauten lassen wollten, geheimhalten mußten. ‚„Emque“ heißt also: ‚Wir wissen es schon; wenn ihr weiter die Naiven spielen wollt, wünschen wir euch viel Vergnügen.“

Bezeichnend ist die Verwendung einer Formel, deren Inhalt in archaischer Darstellung das sagt, was der Kleine in den ersten Kinderjahren schon einmal wußte und was durch die Mitteilung des Kameraden von neuem entdeckt wurde.

Wir ergänzen die Beweisführung durch die Erzählung des Kran- ken, wie er gerade in jener Zeit in den Besitz weiterer Kenntnisse über das große Geheimnis zu kommen suchte.

Als er als kleiner Bub einmal ein Buch mit anatomischen Abbil- dungen erwischte und die Mutter um Aufklärung bat, machte sie ihm

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 297

Angst und schreckte ihn mit dem Knochenmann, dem Tod. Dieser Schrecken vor dem natürlichen Baue und den Verrichtungen des menschlichen Organismus, durch die Mutter hervorgerufen, haftet jetzt noch nachwirkend am Patienten und liefert Material zu Abwehr- bildungen gegen die Sexualität als Wirklichkeit.

Wir haben also infantil-sexuelle Wünsche (infantile Inzest- wünsche), die verdrängt sind; nun kommen von der Mutter her neue Verdrängungen gegen die neuen Wünsche und Ziele der erwachsenen Sexualität, die so nachhaltig sind, daß er nicht zum definitiven Ziele gelangt und eine Regression in die Phantasie vollzieht, wo er Orgien feiert und wieder auf den Inzest mit der Mutter regrediert. Diese Inzestphantasien gab Patient in der Analyse ziemlich bald geheimnis- voll preis; die jetzigen Vorstellungen fußen nicht mehr auf infantilen Sexualtheorien, sondern auf den in der Vorpubertät neuerworbenen, richtigen Vorstellungen.

Als Patient in meiner Bibliothek einmal ein illustriertes Lehr- buch der Geburtshilfe erwischte, überkam ihn ein neues Grausen vor der Roheit der menschlichen Physiologie in ihrer Wirklichkeit und bestärkte ihn in seinem ohnmächtigen Kampf gegen die Kinder- zeugung.

Aber zur Zeit des „„Emque‘ überwog der Wissenstrieb und die Neugier. Vom Vater erhielt er die Erlaubnis, das Konversations- lexikon zu gebrauchen, wenn er über ihm unbekannte Dinge, die sich ihm in der Lektüre aufdrängten, Aufschluß haben wollte. Aber er mußte die Wörter auf einen Zettel schreiben und der väterlichen Zensur unterbreiten. Da brauchte er denn die List, daß er sich Wörter mit dem Anfangsbuchstaben M zusammenstellte, um die Zensur zu hintergehen und den Band M benutzen zu können, wo er das Geheim- nis des Menschen und der Menschwerdung erfahren konnte.

Im Werdegang.des Normalen und des Neurotikers interessiert uns besonders, wie er sich von der infantilen Erotik ablöst, wie er das erste Sexualobjekt, die Mutter, verläßt, um sich neuen Objekten zuzuwenden und das definitive Ziel zu erreichen. Wir werden sehen, wie wenig diese normale Entwicklung unserem Kranken bis jetzt gelungen ist, welche Versuche er gemacht hat. In der neuen, zweiten Verdrängungsperiode, welche in der frühen Pubertät, genährt durch die infantile, einsetzt, wird er an der normalen Übertragung auf neue Objekte durch die Abwehr der realen Erotik gehemmt, und so kommt es zu einer Regression in die Phantasie, wo es ihm gelingt, ziemlich

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 17

298 F. Riklin.

ungehemmte Orgien zu feiern; aber auch auf diesen Schauplatz ver- folgt ihn der Streit der Zwangsantagonismen. Überdies pendelt seine Libido zwischen zwei Gebieten; bald kultiviert er in der Phantasie seine Holden, die er in der Wirklichkeit kennt, bald wendet er sich großen Phantasien und Tagträumereien zu, in denen die Wirklichkeit eine noch untergeordnetere Rolle spielt.

Mit 7!/, Jahren (1896/97) sah er ein schönes Mädchen, das ein Fahrrad besaß. Es war mindestens 15 bis 16 Jahre alt. (Wir erkennen die Wirkung des Mutterkomplexes; die Mutter war zur Zeit seiner Geburt 21 Jahre alt.) Er schloß es für kurze Zeit in seine Gedanken ein. Zu gleicher Zeit liebte er schon ein anderes Mädchen, dem wir bald be- gegnen werden (Lilly), und spielte gern mit ihm. Er glaubte damals noch an den Storch.

1899 liebte er zwei Knaben; er trieb einen Kultus mit deren Namen, schrieb sie überall hin und schnitt die Anfangsbuchstaben in die Rinde der Bäume, wie Liebende tun. Sonst geschah nichts; aber der Namenkultus gelangte später in seinen Tagträumereien zu größerer Bedeutung.

Er phantasierte sich darin u. a. als Vater mit vielen Kindern, an die er alle schönen und bedeutungsvollen Namen bringen mußte, welche er sammelte.

1899/1900 kam die sexuelle Aufklärung durch den erwähnten Kameraden. Nun kannte er die Herkunft der Kinder. Den Zeugungs- vorgang lernte er erst etwas später kennen. Einmal kam er spontan, ohne äußeres Zutun, zur Pubertätsmasturbation mit Samenerguß, und nun war ihm auf einen Schlag alles klar, was beweist, daß er es eben schon früher wußte. Dann kamen noch ergänzende Aufklärungen durch Kameraden hinzu. (Nach anderen Angaben müssen wir an- nehmen, daß die Masturbation erst im Herbste 1903 auftrat. Wir haben in der Zwischenzeit noch Liebesverhältnisse mit infantilen Befruchtungstheorien.)

Wir haben keine sicheren Bestätigungen für infantile Mastur- bation; aber einzelne Erinnerungen an Verbote der Mutter und des Arztes, nicht mit dem Gliede zu spielen.

Und doch finden wir eine starke Abwehr gegen die Pubertäts- masturbation im Waschzwang, den wir kennen lernen werden. Wir ahnen vorläufig, durch die Ausdehnung des Waschzwanges auf den Hund, den Zusammenhang zwischen erster und zweiter Verdrängung,

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 259

zwischen dem Material, das durch die Wurmeier repräsentiert wird, und dem Sperma.

Durch das Verschlucken der Wurmeier bekommt man übrigens Würmer; eine Phantasie respektive eine Phobie, durch Verschlucken von Sperma schwanger zu werden, spukte noch im Anfang der Analyse in der Bitte des Patienten, ich möchte ausdrücklich bestätigen, daß dies nicht der Fall sein könne. Die Geburt hätte in beiden Fällen nach der ‚„Lumpf‘“-Theorie des kleinen Hans, durch den Anus respektive die Kloake, stattzufinden. (Freud, Analyse der Phobie eines fünf- jährigen Knaben.) &

Wurmeier und Spermatozoen sind Kinder. Der Gedanke, nach erfolgter Masturbation in einem Schwarme von Kindern zu liegen, ist dem Patienten peinlich. So macht Patient die Keime zum Endprodukte und hat die Möglichkeit, Geburten auf dem analen und genitalen Weg darzustellen, und für die Befruchtung bleiben ihm außer der Oraltheorie noch zwei Wege übrig; der anale Weg und einer nach der Kathetrisierphantasie. Eine glänzende bisexuelle Ver- wertung!).

Unmittelbar nach der definitiven sexuellen Aufklärung hatte er einen seiner bedeutsamen Träume. Er kehrte selbst auf dem natür- lichen Wege in den Schoß seiner Mutter zurück. Aber an die Einzel- heiten dieser Rückkehr erinnert er sich nicht ganz genau. Sicher handelt es sich um einen Inzesttraum, der sich später in den Phantasien noch deutlicher darstellt. Zweitens aber hat er in dieser Darstellung, als Pendant der Vergrößerung: Sperma-Kind, eine Verkleinerung vor- genommen: er wird zum Wurm, Penis oder Sperma.

Im Herbst 1901, 12jährig, kam Patient mit der Mutter nach dem Süden wegen einer Bronchitis fibrinosa. Da hatte er im Fe- bruar 1902 einen weiteren bedeutsamen Traum.

Er lag in der Situation eines Kranken oder Verwundeten, unter Verwertung einer Heldenphantasie (Freischarenheld) zu Bette. Da kommt ein kleines Mädchen (Lilly), das er zu Hause wohl gekannt, aber noch kaum geliebt hatte, an sein Lager, pflegt ihn voller Zärt- lichkeiten und umarmt ihn, gleichwie die Mutter bisher getan hatte.

Wir lesen aus dem Traume, daß er die Mutter, sein erstes Sexual- objekt, durch das Mädchen ersetzt und daß er die Rolle des Helden,

!) Zur Kathetrisierphantasie des „Schlafkampfes‘“: Seine rohen Kameraden, die er in der Pubertätszeit kennen lernte, pflegten sich auch kleine Gegenstände

in die Harnröhre zu stecken. 17*

260 F. Riklin.

wie im Märchen und Mythos, antritt; aus der Krankheit des schwäch- lichen’Knaben macht der Traum eine Verwundung des Helden.

Das Mädchen ist jenes, mit dem er zu Hause vorher etwa gespielt hatte, und wird zur ersten Geliebten (nach der Mutter) erhoben. Er ist von da an heftig verliebt in das Kind.

Um diese Zeit begann der Schnurrbart zu wachsen.

Wenn er sich an diesem Kurorte auch von verschiedenen Frauen und Mädchen den Hof machen ließ, so freute er sich jetzt doch sehr auf das Wiedersehen mit der kleinen Freundin im Frühjahre 1902. Einige Wochen nach der Rückkehr wurden aber die Beziehungen vorläufig abgebrochen. Angestellte ihres Vaters machten ıhr den Hof; er wurde zuerst eifersüchtig und gab dann, zurückgesetzt, den Posten auf.

Einmal befürchtete er, das Mädchen könnte durch seine Liebe schwanger geworden sein. Er war in seinen Sexualtheorien noch un- sicher und schloß aus den Gesetzesbüchern seines Vaters, wo von Kindern die Rede war, welche aus einem Liebesverhältnis hervor- gehen, durch seine bloße Liebe könnte schon etwas geschehen sein. [,, Allmacht der Gedanken“.]

Die Unsicherheit in der Befruchtungstheorie kann vielleicht schon der Zwangsneurose zugeschrieben werden. Wir finden auch eine Unsicherheit des Gedächtnisses (vgl. Freud, Bemerkungen): so in der Zeitbestimmung des Masturbationsbeginnes (1900 bis 1903). Eine andere Unsicherheit über den Befruchtungsvorgang haben wir er- wähnt, die trotz aller Aufklärung im 20. Jahr sich noch bemerkbar machte (Selbstbefruchtung auf oralem Wege durch Sperma, das beim Masturbieren durch die Hand übertragen werden könnte).

Durch die Phantasie, das geliebte Mädchen könnte von ihm schwanger sein, wird dessen Muttervertretung ja vollends gesichert.

Im Sommer 1902 war wieder eine kleine Liebe, um die andere zu vergessen.

Im Herbste 1902 trat sie aber zurück. Er las da zum erstenmal eine Beschreibung von Ozeanien, was von der allergrößten Be- deutung wurde, zum äußeren Ausgangspunkte von Tagträumereien, die sich über Jahre erstrecken und die wir kurz die Ins elphanta- sien nennen wollen, und die um Weihnachten 1902 zur größten Ent- faltung kamen.

Der Sommer 1903 brachte daneben wieder eine kleine Liebe zu eınem Mädchen im Hause, älter als er (P.). Als er einmal Kleider

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 261

im Korridor hängen sah, mußte er sich gewaltsam zurückhalten, um nicht die Bluse zu küssen.

Im Herbste 1903 kam er zur weiteren Schulung in ein Konvikt‘ in ein kleines Städtchen, wohin er täglich mit der Eisenbahn fuhr zwei Stationen weit.

Es ıst ein wichtiger Wendepunkt in seinem Leben.

Kurz vorher war er zum erstenmal zum Masturbieren gelangt. Er erzählt davon mit Hemmungen. Auch das Zeugungsproblem wurde ıhm da klar. In der Konviktszeit trieb er die Masturbation weiter, wenn auch sehr mäßig.

Bald begann auch der Waschzwang, den wir im Zusammen- hange durchnehmen. Wir wollen nur betonen, daß er, wie wohl fast immer wo er auftritt, der Masturbation auf dem Fuße folgte. Im Konvikte fehlte es nicht an sexuellen und schmutzigen Gesprächen. Ein Gartenpavillon hieß der „Schweinekongreß“, weil man da zu solchen Reden und Witzen zusammenkam.

Der Patient benutzte geschickt das Wüste, Garstige der Konvikts- erlebnisse, um daran den Waschzwang anzuhängen.

Genauer besehen, ist das Grausen auf Grund des Hundemotivs das erste. Es führte aber noch nicht selbständig zum Waschzwang; daneben grauste ihn, auch sehr früh, vor Käse u. dgl. Aber erst durch

' das Hinzutreten der Masturbation kam es zur Ausbildung des Wasch- zwanges.

Zur Ausbildung der Verdrängung in der Pubertät half noch die erwähnte Art bei, mit der man zu Hause den natürlichen Dingen und der Aufklärung gegenüberstand und all dies als garstig und ver- werflich hinstellte.

Man entdeckte die Spuren von Pollutionen und Masturbation in seinem Bette. Es gab garstige Szenen. Die Mutter machte eine drohende, strenge Miene.

Der Vater sagte: Du leidest an einer schrecklichen Krankheit usw. Patient war empört, denn die Masturbation stand ja im Zu- sammenhange mit den geheimen ‚reinen‘ Phantasien. Er hatte sich nie getraut, um Aufklärung anzufragen. So wurde ihm neuer Schrecken vor den körperlichen Äußerungen der Sexualität eingejagt. Er hatte regelmäßig Gewissensbisse, masturbierte 1904 monatelang gar nicht (arbeitete dafür die Inselphantasien auf der einen, Abwehrsymptome auf der andern Seite aus), und erst 1905 begann er die Sache intensiver

262 F. Riklin.

zu betreiben; das hing zusammen mit der Vertiefung der Liebe zum Mädchen aus dem Traume.

Im J. 1904, wo sich der Wera ausbildete, geschah nichts Ernstliches im Verlieben. Alle sogenannten Liebesverhältnisse hatten überhaupt nichts Tätiges, Agressives es passierte nichts, auch keine Geständnisse, Küsse oder ähnliches kamen vor. Im Herbste 1904 nahm er Tanzstunden (15 Jahre alt). Da gab es eine Verliebtheit, die einige Monate dauerte; sie soll von Seite des Patienten',,‚ganz rasend“ gewesen sein. Sie war ein schwächliches Mädchen, eine Maurermeisters- tochter, was man daheim sehr unstandesgemäß fand. Ein Zug, wo er gegen die Vorurteile der Eltern trotzt und kämpft, geht überhaupt durch die Unternehmungen des Patienten und weckt in ihm Sym- pathien zum gewöhnlichen Volke, wenn auch nur als Symptom.

Während dieser Zeit treten die Insel- und Paradiesphantasien zeitweise zurück, um im Winter 1905/06 wieder stark aufzublühen. Er wollte einmal daheim durchbrennen, weil er Schule und Haus unerträglich fand, um auf seine Phantasieinsel, sein Paradies, sein Jugendland, zu seinen Jugendträumen zurückzufliehen.

Der Kern des Gedankens war die Wiederaufnahme eines Wun- sches, einer Phantasie aus der Zeit, wo die Inseltagträumereien aufs lebhafteste einzusetzen begonnen hatten. Er wollte zu jener nackten Samoanerin fahren, deren Bild zu Weihnachten 1902 diese Phantasien entfesselt hatte.

Zur Zeit der Fluchtgedanken im 17. Jahre wurde sie oft ersetzt durch das Mädchen aus dem Traume.

Der Plan war folgender: Er wollte mit den Eltern oder, wie auch schon, mit einem Lehrer eine Bergreise machen und einen Absturz fingieren, um unbemerkt fortreisen zu können.

In der Flucht wäre auch eine Rache, eine Qual für die Eltern gelegen. Er dachte an eine spätere Rückkehr im Triumphe und Ver- söhnung voll Rührung.

Die Inselphantasien wurden unter diesem Projekt etwas reali- sierbarer gestaltet, sie verloren am Ursprünglichen, Phantastischen.

Zu den Fluchtvorbereitungen gehörten auch körperliche Übungen, um sich für die Strapazen zu stählen. Er trieb sie bis zur Erschöpfung, der Arzt konstatierte m. W. eine nervöse Herzerkrankung und diese Krankheit gab dem Patienten Gelegenheit, seinen Fluchtplan nicht

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 263

ausführen zu können oder müssen, denn man pflegte ihn liebevoll, es bestanden wieder gute Beziehungen zu den Eltern!).

Do haben sich gerade an diesem Punkte die gegensätzlichen Tendenzen, wie es bei der Zwangsneurose üblich ist, nacheinander geäußert, der Sieg blieb der ursprünglichen Tendenz, der Rückkehr zu den Eltern. |

Indem er das Zimmerturnen bis zur Erschöpfung trieb, folgte er alten Wegen zur Lustgewinnung.

In der wehrlosen Erschöpfung empfindet er Wollust wie in den Phantasien vom Gebunden-, Eingegraben-, Überwältigt- und Gequält- werden.

Das Zimmerturnen wurde zum gleichen Zwecke schon früher geübt, spätestens zu Beginn der „‚Inselphantasien‘‘, und immer wurde die Ermüdung mit Wollust empfunden; er turnte mit entblößtem Körper.

Im Turnen realisiert er die wollustige Marter durch ortho- pädische Apparate.

Man ist auch von diesen Erscheinungen aus veranlaßt, hinter dem großen Spiel der Befreiung von den Eltern und dem Unterliegen, welches selber ein Unterliegen unter ihrer Liebe und unter ihrer Gewalt in sich schließt, ein altes Vorkommnis zu suchen, einen wirklichen ‘Kampf des kleinen Buben gegen Vater oder Mutter, in welchem er aber unterlag und irgendwie gebändigt wurde. Dieser Vorgang müßte zurückdatiert werden vor die Konsultation beim Orthopäden.

Noch jetzt muß er ab und zu, wenn ihn Eltern und Neurose, besonders das sogenannte ‚„Ichproblem‘“ drücken, sagen: „Ich sehe, ich muß doch auf meine Insel, um dort ganz einsam zu leben.“

Dieser phantastische Gedanke darf natürlich, so ernst er im Moment ausgesprochen wird, nur in seinem Wert als Symptom- äußerung aufgefaßt werden.

Die Tanzstundenliebe war sein Trost, wenn der Schul- und Sexualekel des Konvikts ihn zu arg plagte. Er dachte viel an seine Liebe und masturbierte. Auch sonst war der Gedanke der sexuellen Vereinigung mit ihr oft da und tröstete ihn. Von der Mama ließ er sich gern erzählen, es sei doch ein liebes Mädchen. Aber es wurde ihm untreu (sie wußte jedenfalls, daß er sie anschmachtete!) und ging sogar mit einem Metzgerburschen. Da war es fertig.

1) Ein Kranker wolite sich mit einem Revolver ernsthaft verwunden, um wieder die Liebe der Mutter zu erlangen.

264 F. Riklin.

Jetzt erinnerte er sich wieder Lillys, des Mädchens aus dem Traume, der alten Liebe, ging oft zu ihr hinüber und verlebte die schönsten, idyllischen Stunden. Zur Beruhigung'sei aber gleich wieder betont, daß gar nichts passierte. Patient meint nur: „Sie dürfte es immerhin gemerkt haben, daß ich in sie verliebt war.“

So oft er hingegen masturbierte, war sie in seine Phantasie ein- geschlossen und lag in seinen Armen. Er war zwischen 15 und 16 Jahren. In der Schule ging es schlecht, und er malte sich allerhand Berufe aus, die er ausüben könnte, um bald zu heiraten; Marineoffizier, Seeaspirant usw., Berufsarten, in denen seine Insel- und Helden- phantasien abfärbten. Er wäre natürlich zu schwächlich gewesen. Er trat sogar in die Realschule über, um dort schneller abschließen zu können als am Gymnasium.

Das ging bis ins Jahr 1906, bis zur Zeit des Fluchtplanes.

Die Fluchtpläne gaben den Anlaß zur Gründung seines ‚„Mu- seums‘‘, dessen Inhalt wir noch kennen lernen werden.

Vor der Abreise ins Sanatorium, wo er auf den Rat des Arztes sich von seiner ‚‚nervösen Herzerkrankung‘ erholen und, wie Patientsagt, eine Mastkur ‚‚erdulden‘ sollte, wollte er eine Entscheidung mit Lilly, dem Traummädchen, herbeiführen. Aber bei jedem Anlaufe zum Sprechen fiel ihm das Herz in die Hosen. Beim letzten Besuche bat er um die Erlaubnis, ihr das schreiben zu dürfen, was er ihr gern sagen wollte. Als er doch versuchte, ein Liebesgeständnis hervorzupressen, bekam er eine Erektion und mußte sich deswegen, höchst unhelder haft in” gebückter Stellung zurückziehen. Aus dem Sanatorium schrieb er ihr bald einen Liebesbrief mit den üblichen vieldeutigen Wen- dungen. Die Antwort lautete allgemein, unbestimmt. Patient sah ihre Mutter dahinter. Ihre Antwort auf seinen zweiten Brief enthielt nach seinem Vorschlag eine geheime Zusage durch die Art der Schlußformel, während der Inhalt, der die mütterliche Zensur passierte, nichts- sagend war.

Nach Hause zurückgekehrt, machte er ihr einen Besuch; als er von Liebe reden wollte, wurde die Angelegenheit durch die DIOR, „Du wirst es doch nicht ernst meinen, du bist ja’ noch so jung“ USW, erledigt. Er wagte nicht mehr davon zu sprechen, vergoß daheim einige Tränen und fühlte sich auf einmal ganz wohl und frei. Im Frühjahr 1907 endlich schrieb er ihr, nach dem noch längere Zeit ein kleinerer Briefwechsel stattgefunden hatte, den letzten Abschiedsbrief.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 265

Zwischenhinein kam es noch zu verschiedenen kleineren Ent- flammungen, die nichts Besonderes an sich haben.

Im Sanatorium lernte er ein reiferes Mädchen kennen. Sie wußte den Einsamen ans Licht zu ziehen. Sie war intelligent, was ihn lockte, hatte aber zum Teil ganz andere Ideale. Die Korrespondenz mit ihr dauert bis jetzt an. Sie enthält einen komischen Wechsel von An- ziehung und Abstoßung. Einmal verlobte sie sieh mit einem Offizier, aber nach einem Jahre ging es wieder aus, und nun teilt sie mit dem Patienten die Ideen gegen die Eltern und gegen das Kinderkriegen, die wir im ‚„Traktat‘‘ wiedersehen werden.

Noch einen Liebeshandel müssen wir erwähnen, in den Patient wider seinen Willen geriet.

Nach dem Konvikte, von 1906 an, wohnte Patient zuerst bei den Großeltern in der Stadt, wo er seine Studien fortsetzte. Dann bezog er ein Zimmer bei einfachen Leuten. Diesen Wirtsleuten gegen- über zeigt er von da ab die Liebe und Verehrung, die er den Eltern nicht schenken kann. Es sind Ersatzeltern. Wieder sein demo- kratischer revolutionärer Zug. Gegenüber wohnte eine junge Magd; ein frisches „‚Apferl“. Er bekam Anwandlungen von Kühnheit und Eitelkeit, und lenkte ihre Aufmerksamkeit durch Blicke und gelispelta Worte auf sich, ohne bestimmte Absicht, daß sie es hören sollte. „Wie lieb‘ flüsterte er beispielsweise. Im Juli 1908 sollte er dann ins Ausland fahren. Da fing er den drohenden Verlust ihres Anblickes zu bedauern an. Er schien zu bemerken, daß sie in ihn verliebt sei.

Im Dezember 1908 schrieb ihm seine Wirtin, das ‚‚Apferl‘ lasse herzlich grüßen. Er war erstaunt und geängstigt. Um abzulenken, schrieb er zurück, auch im Ausland gebe es nette Apferl. Aber als er an Weihnachten heimkam, erfuhr er erst die ganze Geschichte.

Das Apferl hatte es sehr ernst genommen, hatte Tränen ver- gossen, sich erkundigt, wohin er verschwunden sei, gebeten, den jungen Herrn an Weihnachten sprechen zu können. Ihm war es pein- lich, diese Liebesbrunst durch seinen Leichtsinn angefacht zu haben. Endlich gab es eine Zusammenkunft: Das unschuldige, harmlose Landmädel erklärte ihre unendliche Liebe zum jungen Herrn und schwor ihm ewige Treue. Der Held bekam fürchterliche Gewissens- bisse und in der Verwirrung sagte er zwar nicht ja, ließ aber doch noch Raum für Hoffnungen und streichelte ihr Wänglein und Händlein. Das

266 F. Riklin.

war seine agressivste Tat sinnlicher Liebe in seinem Leben!). Er be- merkte noch, er könne nichts Bestimmtes sagen. Außerdem habe er allerhand Zeug im Kopf, vielleicht würde er bald überschnappen und erst wenn er über diese Fragen sicher sei, könne er sich entscheiden.

Übrigens war seine Liebesflamme schon erloschen. Sie sah in ihrem Sonntagsputz, enggeschnürt, komisch aus und stieß ihn eher ab.

An allen Liebeshändeln des Kranken fällt uns auf, wie wenig agressiv er ist, wie wenig die Liebe in Taten sich äußert. Um so aus- schweifender ıst der Patient in der Phantasie. |

Immerhin sind Versuche zur normalen Objektliebe vor- handen.

Zwischenhinein kehrt sich aber die psychische Tätigkeit ab- wechselnd wieder intensiv der Ausgestaltung von besonderen Phan- tasien und Tagträumereien zu, in welchen die in der Wirklichkeit vorhandenen Geliebten und die Objektliebe ganz zurücktreten. Es ist dies das Gebiet, wohin er sich vor den Eltern und vor der Liebe zu neuen Objekten rettet.

Ich habe noch nachzutragen, daß Patient schon 1902 irgendeine kleine Entzündung der Harnröhrenmündung hatte. Er empfand den

kitzelnden Reiz an der Glans angenehm.

Mitte Juli 1903, also noch vor dem Eintritte ins Konvikt, bekam er starkes Jucken in der Genitalsphäre; als er sich kratzte und zwickte, kam es auf einmal zu einer Ejakulation. Auf diese Ejakulationen war er auf der einen Seite sehr stolz, auf der andern knüpfte er Abwehr- handlungen daran. In der Abwehr liegt auch die Elternwirkung.

In ähnlicher Weise ist er stolz auf eine andere Leistung, die Defäkation; es ist fast überflüssig, zu sagen, daß er an Verstopfung leidet. Manchmal führte die Reizung des Mastdarmes dabei zu gleich- zeitigem Samenerguß.

Ähnliches geschah ihm bei anderen Gelegenheiten, wo die Si- tuation weit autoerotischer ist. Einmal geschah es beim Lesen von Rousseaus Bekenntnissen, an der Stelle wo erzählt wird, wie die bisher mütterliche Freundin seine Geliebte wird.

Dann noch unter anderen Umständen: wenn er opfern soll. Einmal wollte er vor dem Verreisen einem Kinde Briefmarken ver- schenken, die er früher sehr geschätzt hatte; bei dieser Opferhandlung

') „In die Wänglein kneifen“, ist ihm eine angenehme Vorstellung; er

stellt es im Gespräch und im Traume dem Kneifen ins Gesäß gegenüber, eine Vorstellung, die ihm widerlich ist.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 267

kam es zu einer Ejakulation. Ebenso, als er einmal versuchte, den Waschzwang, der weitgehend analysiert war, zu opfern, indem er ein zu Boden gefallenes Buch, statt es zuerst zu waschen, unter den Arm nahm und sogar an sich preßte.

Er gestaltet das Opfern zur Lustquelle, zur Hingabe (vgl. die frühere Auseinandersetzung über Opfern und Masoehismus).

Mit 15 bis 17 Jahren hatte er eine Zeitlang Angst, er sei eine Miß- geburt, oder die männliche Kraft sei verloren gegangen, er sei ein Eunüch geworden, die Hoden seien bei verschiedenen Gelegenheiten jedenfalls gequetscht worden.

Die Befürchtung wich der Aufklärung durch einen Arzt, daß das Frenulum ein normales Gebilde sei. Die zweite verlor sich selbst wieder durch den tatsächlichen Gegenbeweis. Längere Zeit mußte er sich durch Innervation der willkürlichen Muskulatur des Penis den Beweis konstruieren, daß die Funktionen in Ordnung seien.

Ähnliche Entmannungsmotive scheinen auch bei anderen Neuro- tikern vorzukommen und bei gewissen Kulten im Altertum zu Ehren der weiblichen Gottheit in die Tat umgesetzt worden zu sein. ®ie dürfen vielleicht als Strafen für die Inzestphantasien angesehen werden (Jung).

Der Waschzwang,

Patient teilt die Hauptgruppen seiner neurotischen Symptome in vier bis fünf „Krankheiten“ ein. | Die Neurose hat ihren Charakter als Leiden, als Qual erst mit Beginn und im Verlaufe der Pubertätszeit angenommen. Erst da setzen die Zwänge ein. Erst da wird das Leiden zur Qual, die er sogar als Ganzes wieder in sein masochistisches System aufnimmt; das ist selbst wieder ein Widerstand gegen die Heilung. Das eine dieser Leiden ist die „Grausopathie‘, die Qual des Grausens. | Der Patient beschreibt einMartyrium und dauert einem furchtbar. Aber es ist so komisch, nach der Analyse dieses Leidens gibt er seine Wascherei nicht auf, er kann die liebgewordene und wohldurchdachte Gewohnheit nicht aufgeben, und sagt schließlich: Ja, das ist auch gar nicht das Schlimmste, damit könnte man sich wohl abfinden, aber das Schlimme sind meine anderen Leiden, die Willensschwäche und namentlich das Ichrätsel! Das Leiden begann 1904 im Konvikte, wo er Externer war.

268. F. Riklin.

Die Mitschüler waren rechte Schweine, trieben ekelhafte Dinge und machten sich ein Vergnügen daraus, ihm allerhand Scheußlichkeiten anzutun. Sie fuhren ihm mit den Händen im Gesichte herum, und ihm grauste vor diesen schmutzigen Händen (NB. mit denen sie z. B. masturbiert hatten !). Einmal warf ihm einer zu Boden er war ja der schwache Prügelknabe und er kam mit dem Gesichte auf den Boden zu liegen, vor dem ihm grauste, denn es war gerade beim Abort. Oder in der Pause wurde ihm Nasensekret in ein Buch hineinpraktiziert oder hineingespuckt. Oder man entwendete ihm heimlich das Taschen- tuch, und als er es suchte, gab man es ihm zurück mit dem Bescheid, es sei beim Vetter so und so gewesen, was hieß, man habe es zu ekel- haften Manipulationen benutzt. Der Vetter X ist der Penis.

Nun grauste ihm vor diesen Büchern, welche die schmutzigen Gesellen in der Hand gehabt hatten. Zu Hause trachtete er die ver- grausten Schulsachen von den anderen, den Lieblingsbüchern, ab- zusondern, sie zu isolieren. Mußte er sie benutzen, so arbeitete er wie ein Arzt mit infiziertem Material, stülpte die Rockärmel zurück und wusch sich nachher die Hände; vorher rührte er nichts anderes an.

Vom Momente, wo er mit den vergrausten Schulbüchern von zu Hause fortging, bis er sie abends wieder an ihren Isolierplatz legen konnte, war er sich selbst ein Gegenstand des Ekels und zu Hause nahm er eine große Waschung vor, auch der Kleider, wo sie mit ver- ekeltem Material in Berührung gekommen waren.

Die Eltern hatten kein Verständnis für seine Not, sagten paper- lapap, das sei gesund.

Und das Dienstmädchen kümmerte sich gar nicht um seine Isoliermethode und stellte die infizierten Bücher in Reih und Glied zwischen die reinen, behandelte sie mit dem gleichen Staublappen und so wurde alles infiziert, bevor er mit peinlicher Genauigkeit alle vergrausten Blätter und Flächen mit medizinischer Gewissenhaftigkeit (er benutzte sogar eine Lysollösung) hatte abwaschen können. Das erfüllte ihn mit Entsetzen. Das infizierte Material stapelte sich auf, von Zeit zu Zeit gab es zeitraubende Generalwaschungen, aber er konnte dem Übelfgar nicht Meister werden.

Das Studium in den vergrausten Büchern und in der vergrausten Schule konnte nicht gedeihen und über den schlechten Noten erhob sich zu Hause großer Lärm. Übrigens klagt Patient, daß man ihn überhaupt nie zu Gründlichkeit und Ausdauer angeleitet habe.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 269

Er mußte beständig sorgen, daß ihm die reinen Sachen nicht vergraust wurden.

Vom Hunde mit den Würmern her leitet sich eine zweite Quelle von Infektion und Waschprozeduren. Diese Wurzel haben wir schon kennen gelernt. Durch den Hund wurde ihm auch die Mutter, welche ülesen ins Bett nahm, vergraust; dann alles, was mit zu Hause zu- sammenhing.

Patient konnte sich nicht mehr aufs Sofa setzen, weil der Hund dort zu liegen pflegte, weil sonst seine Hosen durch Wurmkeime infiziert wurden. Er hatte ein unangenehmes Gefühl, wie wenn er auf einer frischlackierten Bank gesessen wäre, nur daß der Lack keine Infektions- keime in sich birgt. Er mußte dann auch die Hosen waschen.

So zog die angebliche Infektionsfurcht, mit Bakterienfurcht vergleichbar, immer größere Kreise.

Der Ekel hatte sich, m. W. wie der Ekel vor dem Hunde, zeit- weise auch auf Käse u. dgl. ausgedehnt, wovon die Eltern gerne aßen; doch kam die Waschzwangabwehr erst von der Masturbation her auch auf dieses Gebiet herüber.

Überhaupt sind die Phobien und Zwänge nicht konsequent durch- geführt. |

Einzelne gab er selbst wieder auf; z. B. wollte er eine Zeitlang alles Geld, was er von Hause bekam, waschen; da sagte ihm eine ganz richtige Überlegung, das Geld, das er von andern Leuten bekomme, müsse mindestens ebenso unappetitlich und infektiös sein; und er dehnte diese Abwehrzeremonie nicht weiter aus.

Der Geldwaschzwang deutet selbst wieder daraufhin, daß wır eine starke und alte Analerotikverdrängung vor uns haben; er hängt ja zusammen mit dem Hundemotiv.

Der Kranke betonte mehrfach, wenn ihn der Arzt einmal rund- weg energisch für seinen Blödsinn ausschimpfen würde, könnte seine Grausopathie vergehen; auch wenn man ihn hypnotisieren würde. Beides wären Überwältigungsmethoden, die er in seiner masochi- stischen Bearbeitung verschiedener Gebiete wieder aufnimmt.

Patient hatte ferner einem Freund Bücher geliehen, der später an Tuberkulose starb. Diese Bücher wurden nun auch ein Quell des Grausens, aber durch gründliche Waschung verschwand diese Einzelphobie.

Aber in der letzten Zeit dehnte sich das Grausen noch weiter aus.

Da ist einmal der Straßenboden und die Hausmauern. Nimmt

270 F. Riklin.

ihm der Wind den Hut vom Kopfe, so ist die Sache durch einfaches Putzen nicht erledigt, es muß eine große Waschprozedur folgen.

Es schweben ihm alle die Sputa vor, die auf die Straße kommen ; es ist weniger Furcht als Ekel; besonders graust ihm vor den Sputa, welche mit Nasensekret vermischt sind, das durch den Rachen in die Mundhöhle aspiriert wird.

Er denkt welch ein widerlicher Gedanke! an die vielen Bettleintücher, die in der Frühe aus den Fenstern ausgeschüttet werden, die schmierigen Leute, die darin gelegen sind, daß ihm das Ausgeschüttete auf den Kopf fallen könnte. Darum muß er in der Frühe ın der Mitte der Straßen gehen, und die engen alten Gassen zu durch- schreiten ist ihm besonders peinlich. Denn da wohnen nach seinem Sinn Prostituierte, die ihm der Gipfel alles Grausens sind.

Geht er auf die Straße und jemand geht vor ihm her und spuckt aus, und der Wind zieht gegen ihn, so bemächtigt sich des Patienten das Daimonion, und sagtihm: „Vielleicht bist du doch getroffen worden“, wenn es auch unmöglich war. „Wer weiß, ob der Mensch nicht Sy- philis hatte oder Tuberkulose oder so etwas.‘ Und es zwingt ihn zu Hause zu einer Waschprozedur.

Er hat einen Ekel vor Türklinken, weil da alle schmutzigen Hände daran kommen. Zur Verdeutlichung will ich sofort sagen, daß es die schmutzigen Hände sind, mit denen die Genitalien berührt worden sind, Hände welche masturbiert haben.

Wir haben durch die Reihenfolge dieser Darstellung, die der Patient selbst in der Erzählung innegehalten hat, den Kreis um die Wurzel der Grausopathie immer enger gezogen.

Zeitlich beginnt die Phobie mit dem Masturbieren. Der Ekel richtet sich zuerst gegen die Konviktskameraden, ihre schmutzigen Masturbantenhände und ihre Sekrete.

An der Peripherie der Phobie stehen sozusagen die ansteckenden Krankheiten, z. B. Tuberkulose und Syphilis (Patient ist über die Naturgeschichte dieser Übel nur laienhaft orientiert).

Aber die Nosophobie, welehe dem Waschzwange den Des- infektionscharakter verleiht, ist wieder nur Tünche. Dahinter steht der Ekel vor Sekreten, Sputum, Nasensekret, Urin und Kot und dem

© Genitalsekret im Zentrum.

Das Sputum ist auch nur mehr vorgeschoben; ihn ekelt vor den Sputa, die Nasensekret enthalten. Und zwischen Nasen- und

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 271

' Genitalsekret, Sperma, bestehen enge Zusammenhänge, nicht nur bei unserem Falle, sondern genau gleich auch bei anderen. ;

Beides sind Sekrete. Wir müssen auch an den Verlegungs- mechanismus denken. Unter den menschlichen Sekreten haben sie unter sich die größte Ähnlichkeit.

Die Nase hat mit dem Sperma noch einen Zusammenhang durch den Geruchsinn. Ein Hysteriker z. B. bekam immer Nies- krämpfe; zuerst bei der Masturbation, dann bei seinen Exzessen mit Frauenzimmern. Die Nasenspezialisten mühten sich sehr um den eigentümlichen nervösen Katarrh.

Ähnlich war es bei unserem Patienten und er sagte mir selbst, daß diese enge Assoziation zwischen Nasen- und Genitalsekretion sich bei ihm sofort gebildet hatte.

In der Nosophobie wird die Syphilis erwähnt. Die Übertragung wird sowohl als Infektion durch Sputum respektive Nasensekret ge- dacht, als auch durch Ausschütteln der Leintücher der Prostituierten und anderer Leute.

Die Syphilis ist „die geheime‘ Sexualkrankheit; genaue Kennt- nisse hatte der junge Mann ja darüber nicht, als der Abwehrzwang sich auf Grundlage der Phobie bildete (die Phobie ist das Primäre). Sie mischte sich mit den dunkeln Vorstellungen der entsetzlichen Krankheit, von der der Vater drohend sprach, als man Samenflecken in seinem Bette entdeckte. Hier liegt ein Grund, warum die Phobie eine Krankheit, Bakterien-, und Ansteckungsfurcht, entwickelte. Im Ansteckungsgedanken liegt der Ekel. Von den ausgebeutelten Leintüchern kamen nicht etwa bloß Syphiliskeime, sondern Patient dachte an Sperma; und hier berühren sich die beiden Bilder: Samen- flecken in seinem Leintuch Masturbation geheime Krankheit und ausgebeutelte Leintücher von syphilitischen Prostituierten (als konzentrierter Ausdruck von Leuten mit Sexualverkehr oder Sperma- produktion).

Als ein Destillat der Phobie bleibt Sperma phobie zurück, die der Wurmeierphobie an der Seite steht. Deren vielsinnige Bedeutung haben wir schon teilweise kennen gelernt.

Aber wie es für die Zwangsneurose charakteristisch ist: Auf der einen Seite ist er stolz auf die Mannbarkeit, empfindet Genuß in der Masturbation, hat Vaterphantasien, auf der andern Seite kommt aus einer alten Quelle und genährt von neueren Zuflüssen von Motiven die Verdrängung und überflutet die gleichen Gebiete. Alle Quellen

212 F. Riklin.

aber lassen sich von den Beziehungen zu den Eltern und Wirkung der Eltern herleiten.

Patient will wie ein gewissenhafter Syphiliskranker nicht heiraten wegen des sogenannten „Ichproblems“,’mit dem er niemand infizieren will; er will es auch/nicht auf die Kinder vererben. Beides im Gegen- satze zum‘Wunsche, das zu tun, womit man die Übertragung”der Krankheit bewerkstelligt (wir haben nur die gleiche Verschiebung von Syphilis auf Sperma und Koitus vorzunehmen, welche Patient im Aufbaue der Phobie und des Waschzwanges verwendet) und a zu bekommen!).

In der Phobie liegt auch die Verdrängung des Wunsches, selbst ‚befruchtet zu werden (Furcht vor Befruchtung durch Sperma per os).

Die Zwangshandlung wird teilweise zur Zeremonie. Das Waschen wird im Laufe der Zeit nicht mehr gründlich besorgt, es ist auch unmöglich, es wird zum Zeremoniell und Symbol, wie in den Kulten.

Der Waschzwang ist ein symbolisches Reinmachen.

Die mit der Masturbation befleckten Objekte müssen getrennt werden von den reinen. Die reinen sind z. B. seine Lieblingsbücher und alle Gegenstände, an die sich liebe Erinnerungen knüpfen. Die Waschung bringt das Infizierte mit dem Reinen wieder zusammen.

In der Religionspsychologie geschieht die Entsündigung oft durch das Blut; das Blut Christi wäscht von den Sünden rein. Blut ist aber wieder ein Samensymbol (Goethes Schöne Seele). Blut macht ja Flecken. Als religiöses Heilmittel aber befleckt es nicht mehr wie die Sünde (die häufig mit der Masturbation identifiziert wird), sondern reinigt.

Dadurch, daß die Masturbation und mit ihr die Zeugung mit Phobie und Zwang belegt wird, macht sich Patient zum Feind des Kinderzeugens. Dieses Motiv bildet einen Hauptinhalt seines Trak- tates: „De parentibus.‘‘ Damit verbindet er den Kampf gegen die Eltern, in welchem er sich durch diese Verdichtung der Motive selbst wieder trifft.

!) Ein anderer Zwangsneurotiker konstruierte auf Grund eines einmaligen Bordellbesuches, bei dem er völlig impotent war, eine Ansteckungsphobie, wobei er aber fürchtete, er werde alle möglichen Menschen mit Syphilis oder anderen Krankheiten anstecken, oder, in Verschiebungen und Variationen dieser Idee, mit Mäusegiftweizen, der sich in seinen Taschen befinden könnte, oder mit Grün- span usw. vergiften. Wir dürfen dahinter den Wunsch vermuten, mit allen das zu tun, womit man gewöhnlich Syphilis überträgt.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 273

Er verurteilt das an sich, was er, wie die Eltern, selbst tun möchte, und bisexuell an den Eltern tun möchte, wie er es in seinen infantilen Phantasien darstellt.

Die ‚„Grausopathie“ und den Waschzwang möchte ich nach dieser theoretischen Abhandlung noch etwas illustrieren.

2. B. fuhr er mit der Eisenbahn und wollte sich die Zeit durch interessante Lektüre vertreiben. Er geht durch den Wagen und muß die Klinke der Türe berühren, welche sich neben dem Abort befindet. Die Hand ist infiziert. Er kann nun das Buch, das rein und ihm lieb ist, nicht aus der Tasche nehmen, und die Freude auf die Lektüre ist verdorben. Beim nächsten Halt entdeckt er einen Brunnen und kann die Hände waschen. Aber eine Stunde lang hatte er infiziert dasitzen müssen und konnte nichts machen.

Im Hause des Arztes ist glücklicherweise nichts infiziert, es ist rein, auch die Türklinken machen nichts.

Der Zwang verekelt das Leben; es sei eine Komödie und oft habe er versucht, kopfüber in den Dreck zu springen, auf infizierte Bänke zu sitzen, unreine Bücher zu berühren. Aber es half nichts, und die Wascherei wurde ob dieser Unvorsichtigkeit nur komplizierter.

Es ekelt ihn vor den Fliegen, die sich auf alles setzen, in der Stadt mehr als auf dem Lande; aber auch dort mußte er zu seinem Schreck gewahren, daß sie auf unappetitlichem Material herumspazieren können. Das verdirbt ihm die freie Natur, die Landschaft, an der er so gewaltig hängt, weil sich daran ‚reine‘ infantile Tagträume knüpfen.

Einmal wusch er die Hände an einem Brünnlein auf der Alp; glaubte sich gereinigt und steckte die Hände in die reinzuhaltenden Rocktaschen. Da sah er, weiter oben, wie das Brünnlein aus einem unreinen Graben mit Abfällen herkam; nun waren auch die Taschen infiziert, und er hatte den ganzen Sonntagnachmittag mit Wasch- prozeduren zuzubringen. So geht unendlich viel Zeit verloren, die ihn an besseren Leistungen hindert.

Die Außenseite der Kleider ist unrein; der Kopf ist unrein, die Strümpfe und Schuhe sind unrein, weil sie mit dem Boden in Berührung kommen. Das Bett ist unrein, weil die Wirtsleute die nötigen Vor- sichtsmaßregeln nicht anwenden. Also ist auch die Körperober- fläche durch Berührung mit der Bettwäsche unrein. So kommt es beim Ankleiden zum kompliziertesten Waschzeremoniell.

Rein an ihm ist schließlich nur noch der virtuelle Raum zwischen Innenseite der Ober- und Außenseite der Unterkleider. Rein sind

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. I. 18

274 F. Riklin.

ferner alle Taschen, in denen er jene Gegenstände steckt, welche ihm lieb sind (z. B. Bücher, Notizen). Schließlich auch die Hände nach der Waschung.

Wenn Patient auf der Reise übernachten muß, so wird die Innen-

fläche des Bettes mit Packpapier ausgelegt, damit er nicht direkt mit dem Leintuche in Berührung kommt. Da muß einem einfallen, / unwillkürlich auch an Bettunterlagen für kleine Kinder zu denken. 3 Eine große intellektuelle Arbeit wird geleistet, um den fort- währenden Kampf zwischen rein und infiziert zu führen, auszuklügeln, Methoden auszuarbeiten. £ Die Zwangsneurose gleicht darin den paranoiden Fällen von ' Dementia praecox, wo um die Halluzinationen herum scharfsinnige Erklärungs-, Deutungs- und Abwehrsysteme aufgebaut werden. 3 Natürlich nimmt das alles Zeit und Denkarbeit in Anspruch, wodurch ein großer Ausfall an zweckmäßiger Leistung und Arbeits- fähigkeit entsteht. Bei den Paranoiden entsteht durch diese Arbeit und Introversion, welche viel absoluter ist als bei der Zwangsneurose, der Eindruck der Verblödung.

Das Grausen erstreckt sich auf alles, was mit der Analzone zusammenhängt, auch bei den von ihm geliebten Wesen, geht also gegen Kot und Urin; es ist ihm furchtbar peinlich, sich diese Dinge im Zusammenhange mit seinen Frauen denken zu müssen; auch die Vorstellung einer Popoexhibition ist ihm unangenehm, aber er hat sie.

Diese Vorstellungen kommen dann als Inhalt von Zwangs- gedanken, die wir in einem besonderen Abschnitt erwähnen müssen (Fäzes einer Frau).

Er findet es entsetzlich anzusehen, wenn jemand eine Kellnerin in die Hüfte kneift; aber er tut esz. B. in einem Traum: er geht hinter einem Mädchen her, und im Moment, wo er es einholt, schiebt sich ein anderer , der bekannte andere des Traumes, dazwischen und kneift das Mädchen in den Popo.

Halten wir das zusammen mit seiner infantilen Verstopfung, der Lust an der Defäkation, der Behandlung des Hundes, die er nicht lassen kann, aber mit Waschzwang umgibt, dem Poperlkultus durch die Mutter, der sich aus der Säuglingszeit kontinuierlich bis in die Gegenwart erstreckt, so sehen wir, daß eine ausgesprochene und aus- gedehnte Analerotik vorhanden ist, mit dem Spiel von Wunsch oder Lust und Verdrängung, das bei der Zwangsneurose mit ihrer Un- sicherheit und ihrem Zweifel besonders charakteristisch ist.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 275

In der Hauptsache geht die Analzonenverdrängung gegen das Erwachsene, erwachsenen Frauen gegenüber, während das Unbewußte

Zwangsgedanken, Traum diese Analerotik beim Erwachsenen sucht.

Vielleicht hängt das wieder mit der Mutterübertragung zu- sammen.

Um das Kapitel Analerotik vorläufig zu erledigen, erwähne ich an dieser Stelle noch gewisse Reizempfindungen, die in die Anal- gegend verlegt werden: beim Schaukeln, beim Schwindelgefühl auf einem Berge, oder z. B. beim Stehen auf einer Platte oder einem Gitter, das irgendeine Tiefe oder Grube bedeckt, auch zum Schwindelkom- plexe gehörend. Dann beim Ansehen 'einer geschnürten erwachsenen Frau, z. B. seiner Hauswirtin oder jener verliebten Magd ım Sonntags- staat. Da bekommt er ein Gefühl von Kleben in der Analgegend, wie er es etwa beim Schwitzen hatte, mit Assoziationen von Fleisch- extrakt und Gewürz. Er fühlt sich in die im Mieder eingepreßte Frau ein.

Diese Empfindungen alle gehen mehr oder weniger auch auf die Genitalzone über, sind auch assoziiert zum unangenehmen Gefühl, das er hat, wenn er, wie er sich ausdrückt, im Sperma liegt. Die Wurzel dieser Gefühle reicht wohl ganz tief in die erste Kindheit zurück. Diese Gefühle sind jetzt alle stark unlustbetont respektive enthalten ein Gemisch von Unlust und Lust, aber mit Vorwiegen der ersteren.

Er unterscheidet dies Gefühl der Analfläche deutlich von sexueller \ Erregung der Genitalzone. Es ist etwas anderes.

Es kommen ihm auch Gedanken an ein dickes Dienstmädchen in der eigenen Familie, bei deren Anblick er ähnliches fühlte; es kommen Gedanken an allerhand flüssige Ausscheidungen, auch an Krusten von Wunden, an das Schwarze unterm Nagelrand. Es verbindet sich mit diesem Gefühl ein Zusammenschaudern und er bekommt Gänsehaut,

Zur Zeit, wo er im Konvikt war und die Gegenstände zu Hause in reine und unreine schied, entstanden die Pesthöhle und das Heilig- tum. Die Pesthöhle war der Ort für die unreinen Gegenstände, das Heiligtum enthielt die liebsten, die reinsten Dinge und Dokumente. Zwischenhinein bildete sich ein System von Abstufungen und ver- schiedenen Reinheitsgraden wie in Dantes Hölle oder im christlichen

Himmel. Diese feineren Nuancen wurden später wieder fallen gelassen. 18*

976 F. Riklin.

Das Heiligtum ist sozusagen die notwendige zwangsneurotische Ergänzung zum Waschzwangkomplex.

Das Heiligtum oder Museum begann sich so zu bilden, daß er das Liebste besonders sorgfältig aufhob, Gegenstände, Zettelchen, Märchenbücher usw., an die sich Kindheitserinnerungen knüpften. Diese waren also besonders heilig.

Dieses Aufsparen und Sammeln von Sächelchen und Zettelchen als das Kostbarste und Wertvollste ruft den Vergleich mit den Märchenkostbarkeiten, die auf einer Verschiebung von Analprodukt, dem Wertlosesten, auf Gold, das Wertvollste beruht und von dorther aus einer infantilen Quelle seinen Wert bezieht.

Hier ist ein Ursprung des Sammeltriebes. Und bei unserem Zwangskranken mit der Analverdrängung ist die Sammlung infantiler Schätze ja vollständig am Platze.

Zur Zeit als er nach Ozeanien flüchten wollte, konnte er sich von diesen liebsten Dingen nicht trennen und er sammelte sie in eine kleine Holztruhe, die er mitzunehmen dachte. Seither lagen sie da drin wohlverwahrt und als er die Universität bezog, nahm er die Kas- sette immer mit sich von einer Wohnung in die andere und hütete sie am sorgfältigsten. Er umgab das Heiligtum mit ganz besonders sorg- fältigen Waschzeremonien; er bestrebte sich, dieses kleine Mu- seum um keinen Preis besudeln zu lassen. Lieber wollte er das ganze Leben im Ekel und Dreck verbringen und die übrigen Reinigungsversuche fahren lassen, als das kleine Museum preisgeben!

„Ekel und Dreck‘ haben wir nicht allein auf Verdrängung des Genitalen, sondern namentlich auch des Analen zu beziehen.

Wir sehen, welch einen Affektbetrag er in dieses Museum lest.

Vor Angst, daß etwas Unreines hineinkomme, wagte er es die letzten zwei bis drei Jahre überhaupt nicht mehr zu öffnen.

Als er zum letztenmal ein Objekt hineinlegte, zog er zuvor sein Hemd aus, damit nicht mit einem Kleidungsstück etwas Unreines hineinkomme!

Ich will meine Gedanken zu diesem heiligen Akte nicht äußern, um nicht von mir aus etwas hineinzulegen, was nicht darin ist. |

Ich will nur auf den Zusammenhang der Nacktheit mit anderen autoerotischen Nacktkulten und Phantasien aufmerksam machen, deren Abschluß dieser Akt bildete. Damit war auch symbolisch die letzte Erinnerung aus dem Jugendparadies im Heilistume aufgehoben und begraben.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 277

Wenn wir aus diesem Akte schließen, daß beim Patienten in der Nacktheit die größte Reinheit lag, und daß diese glückliche Periode nun definitiv abgeschlossen war, so gibt uns die weitere Analyse recht. Es war auch die intensivste Reinigung!

Das Museum wurde angelegt, als ihm die Jugend, das Infantile, zu entschwinden drohte, die er nicht preisgeben wollte.

Inhalt des Museums. Inselphantasien.

Ich wagte anzudeuten, daß ich mich für den Inhalt des Heilig- tums außerordentlich interessiere und daß Patient bei mir ein pietät- volles Verständnis dafür erwarten dürfe. Er versprach mir das Heilig- tum zu bringen, was ich für eine außerordentliche Ehre halten mußte, denn kein Mensch außer mir hatte bis dahin einen Blick hineinwerfen dürfen.

Nach mehrmaligem Vergessen brachte er es endlich mit. Vor der Eröffnung mußte ich ihm eine kleine feierliche Handwaschung gestatten und mit zurückgestülpten Rockärmeln und gewaschenen Händen, die sonst nichts berühren durften, wurde zuerst der Deckel gehoben, dann die Hand nochmals gewaschen und die Herausnahme der Objekte konnte beginnen.

Ich mußte mir vorkommen wie ein trockener Staatsbeamter, der in der Sakristei eines säkularisierten Klosters eindringt, um die Inventarisation der geweihten kostbaren Kultgeräte vorzunehmen.

Ich schicke voraus, daß die Kassette nun einige Zeit bei mir blieb, bis die Inventarisation erledigt war. In den folgenden Be- sprechungen wurden keine Zeremonien mehr vorgenommen. Wenn Patient auch bei jedem Gegenstande lange in liebendem Gedächtnisse verweilte, so gab es keine Waschschranken mehr, und die Gegenstände durften herumliegen und in die Hand genommen werden, wenigstens in meinem Hause, das ja immerhin nicht als unrein galt.

So wurde das Heiligtum und sein Kult aufgehoben, Patient ge- dachte endgültig darauf zu verzichten ich schlug ihm vor, diejenigen Objekte, die nicht an und für sich wertvoll waren, in den Flammen eines reinen Feuerleins aufgehen zu lassen. Was geschehen ist, weiß ich nicht ganz bestimmt; die Märchenbücher habe ich jetzt noch leihweise zur Lektüre; er wollte etwas bei mir zurücklassen.

Die Aufhebung des Heiligtums war ein kleiner therapeutischer Fortschritt.

278 F. Riklin.

Der Inhalt des Kofferchens erinnerte ein wenig an die Samm- lungen, welche manchmal bei Patienten mit Dementia praecox zu finden sind. Es waren viele Zettelchen mit Notizen, gedruckte Ausschnitte, Bildchen u. dgl. darin, als fast armselige Dokumente für Ideen und Phantasien.

Aber es besteht doch ein wichtiger Unterschied. Es ist keine Ideenarmut, die Bedeutung der Notizen und Dokumente ist leicht verständlich; die Sammlung hat einen richtig infantilen Charakter, aber die Zeugen der Vergangenheit sind noch lebendig und sprechen noch, es sind nicht öde, kalte Trümmer aus einer in die Tiefe versun- kenen Gedankenwelt.

Man hat den Eindruck, jeder Knabe könnte einmal so etwas gesammelt haben es ist uns nichts Unbekanntes, wir fühlen uns dieser Welt noch verwandt während uns die Sammlungen von schizophrenen Patienten schon fremd sind; erst die Analyse kann ihnen wieder Sinn und Wärme einhauchen.

Das Museum ist reich an Aufschlüssen über die ganze Kindheits- zeit bis in die Pubertät heinein. Dort schließt sie ab.

In diesem Kästchen ist die Jugendzeit des Patienten verschlossen, begraben und verwahrt gewesen, alles Liebe aus dieser ganzen Epoche, alle lieben Erinnerungen, die ganze Auto- und Phantasieerotik.

Von der konnte er sich nicht trennen und schleppte sie behutsam mit sich herum und doch brachte er es dazu, sie abzuschließen. Es wird der große Versuch gemacht, erwachsen zu werden. Aber er gelingt nur halb. |

Die Sehnsucht geht, auch in den Zukunftsphantasien, immer wieder zurück ins Paradies der Jugend, auf die Insel der Seligkeit.

Die Besprechung des Museumsinhaltes gibt uns Gelegenheit, die infantile Autoerotik der ersten Kindheit und die Inselphantasien der zweiten Kindheit und Pubertät durchzunehmen.

Im Museum finden wir einmal Photographien der Eltern, be- sonders der Mutter und eine Photographie des Patienten selbst aus dem fünften Jahr.

Er legte sie damals hinein als er glaubte, es bei den Eltern nicht mehr aushalten zu können und fliehen wollte! Es gibt keine bessere Symbolik fürdas Verhalten des Elternkomplexes der Neurotiker, vom mißlungenen Ablösungsversuche.

Dann kommen mehrere Märchenbücher; beim Herausheben verweilt er nochmals mit großer Andacht bei ihnen.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 279

Weiter ein Bilderbuch mit einem sogenannten ‚‚Goldenen ABC“, Beim Buchstaben ist die Jagd nach dem Glück primitiv dargestellt, das Glück ein Zirkuswesen in engem Trikot, das wie ein Hermes dem nachjagenden Publikum enteilt. Diese Dame weckte bereits im fünf- jährigen Knaben erotische Lust, ebenso darauf Nixen und Najaden in den bekannten Bildern mit Märchenfiguren in früheren Jahrgängen der „Fliegenden Blätter‘.

Diese Beschauungstendenz hatte er auch der Mutter gegenüber; wir erfahren, daß sie gerne ihre nackten Füße zeigte und daß er sie gerne im Neglig& sah und später liebte, Witze über ihre nackten Arme zu machen, wobei sie halb entrüstet tat und ihn mit dem Onkel Max verglich, der die Schwestern früher gern zum Erröten gebracht hatte.

Jagd nach dem Glück, Najaden und Nixen und ähnliche Abbil- dungen liebte er aber schon lange vor der bewußten sexuellen Auf- klärung, die erotischen Phantasiebilder von nackten Mädchen fallen in die Zeit nach derselben.

Wendepunkt war die Weihnacht 1902, in der Vorpubertät, im Beginne der Aufklärung, fast ein Jahr vor der Masturbation der Pubertät.

Da sah er in einem geographischen Werk das Bild einer nackten Samoanerin, für das er in Glut geriet und die zum großen Wunsch- objekt seiner Inselphantasien wurde, die bereits seit einigen Monaten im Gang waren.

Im Museum befinden sich noch eine Reihe von Frauenbildnissen. Ebenso trägt er noch solche herum in seiner Brieftasche, die im Grunde senöommen ein zweites Heiligtum ist, das ebenfalls mit viel Sorgfalt umgeben wird. Wir kommen darauf beim Abschnitte: ‚„Willens- schwäche und Ethik‘ zurück.

Da sind Sachen wie ‚„Jeune fille laborieuse, La eruche casse® v. Creuze, Isadora Duncan, eine Plakatfigur von einer Ausstellung: ein reifes Weib mit entblößter Brust; eine Reihe Reproduktionen von Skulpturen, z. B. eine nackte Psyche usw. Ich möchte diese Bilder in zwei Gruppen bringen: die mit sanften, feinen, zarten Zügen, ohne Exhibition und die sinnlichen, reifen, unverhüllten Frauen, oder die wenigstens auf ihn diesen Eindruck machen. Diese Bilder stammen aus den Pubertätsjahren und reichen bis in seine Gegenwart hinein.

Im ganzen hat er wie erwähnt keinen schlechten Geschmack; er ist entschieden ästhetisch, auch in seiner Sprache.

Einmal (1903/04) fand man zu Hause solche erotische Bilder

280 F. Riklin.

und Postkarten von ihm, und es gab ein großes Geschrei. Später kaufte er wieder einmal ähnliche Bilder zur Befriedigung seiner Schan- lust und trug sie mit schlechtem Gewissen im geheimen herum. Da ereignete sich ein merkwürdiger Vorfall:

Eines Nachmittags blieb die Mutter sehr lange aus, es wurde ihm bange; vielleicht hatte sie Selbstmordgedanken, weil sie hie und da solche Äußerungen in der Erregung machte. Er geriet in eine furcht- bare Heulerei, die Mutter fand ihn am späten Abend in Tränen.

In dieser Angst, die Mutter zu verlieren, sagte ihm eine Stimme: „Zintweder deine Mutter oder die Karten mit deinen Weibern mußt du opfern!“ Er opferte die Karten, warf sie in den Ofen und so wurde ihm die Mutter am Abend wieder geschenkt!

Dies Ereignis gehört in den Zusammenhang von zwei Gruppen von Erscheinungen: Opferhandlungen mit stark masochistischem Einschlag und anderseits zu der Gruppe: Zwangsgedanken, Zwangs- impulse (inneren Stimmen, Schwüren).

Beides muß noch besonders im Zusammenhange dargestellt werden. |

Das Museum beherbergt eine Menge kleiner Landschafts- bilder; an den Richterschen Märchenbildern waren es die Land- schäftchen, welche ihn anzogen, die Figuren, die immerhin das Wesent- liche an der Richterschen Kunst sind, hätte er lieber weggewünscht. Er hatte da einige Lieblingsbildchen in Bechsteins Märchenbuch, die er sich durch Buchzeichen merkte. Die Vorliebe für Richter und Pocei mit ihrer Kindlichkeit ist ja ganz in Ordnung. Daneben sind Land- schaften auf Ansichtskarten vorhanden oder Ausschnitte aus illu- strierten Kalendern oder Zeitschriften. Die infantileren haben noch zum Teil silberumrandete Bäume, einen silbernen Mond u. dgl. Im ganzen ist aber die Auswahl ganz geschmackvoll.

Wir finden im Museum drei Fläschchen mit Wasser, das aus drei verschiedenen Seen stammt, die er in verschiedenen Ferienaufent- halten landschaftlich genossen hatte. Er hebt sie mit Liebe heraus, denkt an alle die schönen Erinnerungen, denkt voll Sentimentalität, daß da drin auch ein Quantum jener frischduftenden Seeluft ein- geschlossen sei!

Bei der Aufhebung des Museums will er das Wasser jedes Fläsch-

chens wieder in den See ausgießen, aus dem er es entnommen hat. Nun fehlt bei einem Fläschchen die Etikette, und er weiß nicht mehr,

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 281

in welchen See er es entleeren muß. Das ist für den Zwangsneurotiker ein Haken, an dem er Zweifel und Qual einhängen kann.

Freud sagt, daß von den Zwangsneurotikern an allen Stellen der Ungewißheit Zweifel angesiedelt werde, und da gebe es natürliche Lücken in unserm Denken, wo wir nichts mehr Sicheres wissen, bei der Unsicherheit des Gedächtnisses, der Unsicherheit unserer Herkunft und der Unsicherheit des Jenseits, des Todes.

Wir kommen darauf zurück beim Ichrätsel.

Der Landschaftskult ist der Vorläufer der Inselphantasien. Er wirkt jetzt noch im Patienten nach. Er muß in Universitätsstädten studieren, die seinen landschaftlichen Idealen entsprechen. Er opferte dieser Idee sogar die Vollendung der Analyse, weil ihm Zürich im Winter nicht genügend entspricht, trotzdem die Behandlung durch die Analyse in seiner Überzeugung die einzige ist, zieht er den Landschaftskult vor.

Im Landschaftskult hegt er seine seligen Kindheitserinnerungen, namentlich die Ferien, welche dem Stadtkind wie ein paradiesisches Sichausleben vorkamen. Das waren die Aufenthalte in der freien Natur, die er voll Wonne genoß, es waren die Ferien mit der Mutter!

Nicht umsonst ist die Wunschinsel, die sich aus der Landschafts- liebe entwickelt, u. a. auch das Wunschland, wo er Ferien hat, nichts tun muß, und der Lektüre seiner Lieblingsbücher sich widmen kann. Es gibt dort eine Lieblingsbibliothek.

Und nicht umsonst empfand er, als er einmal die Zwangsvor- stellung hatte, die Eltern seien gestorben weil die übliche ‚‚Brief- sekretion‘, wie er esnennt, 14 Tage lang ausblieb (man sieht den starken Zusammenhang mit den Eltern in diesem häufigen Briefwechsel) eine Mischung von Angst und Befriedigung, letztere im Gedanken, mit dem ererbten Gelde auf die Wunschinsel ziehen zu können, um seinen Liebhabereien zu leben. Diese Gedanken kamen besonders, wenn er sich für eine bestimmte Berufstätigkeit entscheiden sollte. Da hätte er lieber Ferien mit Versenkung in die Jugendphantasien.

In den bildlichen und wirklichen Landschaften äußert sich eine Vorliebe für Pfützen und Sümpfe. Sie geht ebenfalls in die frühe Kindheit zurück, hauptsächlich spielte es im Jahre 1898/99 (im 9. bis 10. Jahr). Es fesselte ihn das geheimnisvolle Wunder, wo das Wasser sich mit der Erde vermischt!

Es dürfen auch Jauchepfützen sein. Halten wir das zusanımen

282 F. Riklin.

mit unseren Kenntnissen über die Analerotik des Patienten, so dürfen wir dieser Lust ein sehr hohes Alter geben.

In der Landschaftsliebe spricht sich der Gegensatz aus zwischen freier Natur und Kultur, zwischen Freiheit der natürlichen Triebe und Verdrängung. Ich habe diese Symbolik, die im Grunde uns allen geläufig ist, in den Phantasien von Neurotikern mehrmals in der feinsten Ausarbeitung kennen gelernt.

So ist es bei unserem Patienten. Die Bedeutung der Sumpf- vorliebe scheint mir leicht zu verstehen.

Eine weitere Aufklärung dafür erhalten wir aus dem Bericht, daß er als kleiner Bub er konnte zwar schon lesen von Moor- und Schlammbädern hörte. Die Empfindung, die er beim Sumpfkultus hatte, war zwar nicht ganz gleich. Der Gedanke, ganz in weichem Schlamm liegen zu müssen, erfüllte ihn mit Wollust, mit der gleichen masochistischen Wollust, welche die Vorstellung vom wehrlos Ein- gegrabensein, wehrlos Gebundensein auslöste. Man ist versucht, die Anfänge aller dieser Lüste beim Wickelkinde zu suchen.

Die Moorbadphantasie war so mächtig, daßer aus einem Kalender ein Inserat herausschnitt, welches Reklame für Moorbäder machte und die Adresse einer Drogerie angab, die Schlamm für solche Bäder lieferte! Dieses Papierchen aber wurde als Dokument dem Museum einverleibt.

Bedeutungsvoll als Vorläufer für die Inselphantasie, scheint mir, ist eine Landschaftsvorstellung, die meines Wissens zuerst als Traum auftrat und nachher eine Lieblingsvorstelllung wurde. Das war ım Herbste 1901 und Frühjahr 1902, also ein Jahr vor dem Aus- bruche der eigentlichen Inselphantasien:

Da war ein Schloß, mit unterirdischem Ausgang in einen langen Kanal, mit Mündung im Ufer eines Gewässers; man kann mit einem Boote hineinfahren in diesen dunklen Gang. An der Mündung steht Gebüsch.

Als Vorläufer für die Inselphantasie ist dieses sexualsymbolische Bild so wichtig wie jener Traum vom kleinen Mädchen, der ihn plötz- lich zum Verliebten machte. Der letztere Traum fällt in den Winter 1901/02, wird also von dieser Symbolphantasie zeitlich umrahmt.

In den Inselphantasien und in den Bildchen, welche er als Do- kumente zu denselben aus Kalendern und Zeitschriften herausschnitt und dem Museum einverleibte, kehrt dieses Bild in zahlreichen Vari- anten wieder. Fast immer eine Bucht mit einer Hütte, einem Schlosse

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 233

oder ähnliches im Hintergrund, und ein Boot oder Schifflein. Er hat auch eine Menge Abbildungen von Häuschen, Hütten und Schlössern gesammelt, die nach seinem Sinne waren.

Im Herbste 1902 sah er das Buch, das der äußere Ausgangs- punkt zu den Inselphantasien abgab. Es beschrieb die Weltumseglung eines Engländers und enthielt viele Abbildungen von Koralleninseln, einsamen Atollen im Stillen Ozean. Patient beschäftigte sich sehr mit diesen Inseln, namentlich mit den Bildehen und wählte sich seine Leibinseln aus, die nach seinem Sinne waren. Die Hauptleibinsel hieß Rotuma.

In diesen Anfangsphantasien und in den späteren spielt natürlich der Reisetrieb, der Wunsch nach Abenteuern und der Knabenehrgeiz eine wichtige Rolle, und je schlechter es in der Schule ging, um so schöner wurden die Pläne. Er dachte sich zuerst als Staatsmann, als Revolutionär (gegen den*Absolutismus des Vaters!), der seine Monarchie umwälzte, neu einteilte und den Provinzen schöne Namen gab. Mit seinem Freunde schrieb er ein Bardeigesetz (sie!). Dann wurde er ein Garibaldi des Meeres. Daraus wurde später der Wunsch Seeoffizier zu werden, darum der Übertritt aus dem Gymnasium usw., dessen weitere Motive wir erwähnten. Die übertriebenen kör- perlichen Übungen vor der geplanten Flucht hängen auch damit zusammen. Er genoß dabei masochistisch die Erschöpfung. Der Wunschheld unterlag; aber in den Inselphantasien hat er sich noch vielfach ausgelebt. Ä

Dann dachte er sich wieder als großen Weltweisen mit Lieblings- büchern, auch auf der Insel, und sein Philosophiestudium wird wohl hier einen Vorläufer haben.

Vergegenwärtigen wir uns aber, daß sein philosophisches Haupt- werk, das ‚„Traktat‘‘, das er mit großem Aufwande an Zeit und unter Hintansetzung der Studien immer weiter ausarbeitet, vom Kinder- problem handelt, sich gegen die Kinderproduktion wendet, so dürfen wir die Quelle aller philosophischen Bestrebungen dort suchen, wo dieses Problem zum erstemal auftaucht, in den ersten Kinderjahren.

Zu Weihnachten 1902 kam dann das Bild der Samoanerin, einer Tänzerin des Königs X., in einem Buche über Länderkunde, mit genaueren Inselbeschreibungen.

„Dieses Weib machte mich ganz verrückt; ich machte mir para- disiesche Phantasien, wo ich mit diesem Weib allein war. Ich umarmte sie wohl in Gedanken, umschlang und küßte sie. Ich

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glaube nicht, daß deutliche Vorstellungen von sexuellem Verkehr da waren.

Wenn nun die Eltern fort waren, habe ich mich auch nackt entkleidet. Es war da ein Turnapparat, der baumelte an einer Tür herum, da machte ich meine Kunststücke. Es ist mir etwas unange- nehm, darüber zu erzählen —; es fiel mir erst dieser Tage wieder alles ein —; ich hatte auch Hanteln, und eben diese Ermüdung da war die Sache die, ich war nackt, turnie mit den Hanteln, dachte mir, wie schön es wäre, das auf einer einsamen Insel in der freien Natur zu machen, wo niemand dich sieht; aber es war ein deutlich maso- chistischer Einschlag dabei, in diesem Gefühle der Erschöpfung, der Ermüdung. Richtig, da fällt mir noch was ein es ist so entfernt möglicherweise ist es auch gar nicht der Fall gewesen, ich kann es nicht beschwören, aber doch bin ich überzeugt, daß es sich so verhalten hat: Eines Abends, als die Eltern fort waren, glaube ich in ein anderes Zimmer gegangen zu sein, unbekleidet, aufs Sofa, band mir die Füße zusammen, machte kunstvolle Knoten in der Er- wartung, wenn vielleicht die Eltern kämen....! Ich wollte nicht erwischt werden; aber an der Lust war das Gefühl der Gefahr be- teiligt, das Gefühl des Wehrlosseinwollens.‘

„Das allererste war das Bedürfnis, barfuß herumzugehen. Abends, wenn die Eltern fort waren, spazierte ich so herum. Ich stellte mich auch vor den Spiegel. Ich legte eine Tabelle an, auf der ich die Daten dieser Exkursionen, dieser Spaziergänge aufnotierte. Das ganze geht in dieser Form frühestens auf den Herbst 1899 zurück.‘ (10 Jahre alt.) Auf der Tabelle, die im Museum aufbewahrt wurde, notierte er: Nudis pedibus ambulavi: darunter die Daten, an welchen es geschehen war.

Er sah auch, wie die Heiligenstatuen und Bilder in der Kirche, z. B. Maria, mit wallenden Gewändern dargestellt wurden, welche auf die bloßen Füße fallen und diese halb bedecken. Das ahmte er nach, mit irgendwelchen Kleidungsstücken, und hatte ein Wohlgefallen daran, wie die Füße hervorsahen.

Diese Dinge alle kamen in der Inselzeit ebenfalls zur vollen Entfaltung.

Er machte gern Spaziergänge zu einem kleinen Föhrenhain mit etwas Buschwerk. Der Hain hatte etwas Atollartiges, war ringförmig, mıt einer kleinen Wiese in der Mitte. ‚Wenn der Wind durch die Bäume

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 285

rauschte, hat es mich ganz bezaubert; da habe ich mich dort besonders gern den Inselphantasien hingegeben.“

Nun ging es los, lichterloh. Er dachte Sch mit der nackten Samoanerin auf einer polynesischen Leibinsel. Die Phantasien nahmen schwer überhand, erstickten die Schulinteressen, namentlich später im Konvikt.

Das war aber noch fast ein Jahr vorher, und vor der Mastur- bation.

Es entwickelte sich eine ganz auffallende Sublimierung in Geographie.

Er schaffte Landkarten und geographische Bücher an, suchte sich Leibinseln heraus, kaufte eine stumme Karte und zeichnete die Leibinseln ein.

Immer mehr Inseln lernte er kennen, ihre Form, Lage, Größe, Vegetation, Kultur. Er sammelt eine Unmenge geographischer Ab- bildungen, hauptsächlich von Inseln oder dann Festlandsbuchten. Alles kommt später ins Heiligtum.

Die Insel ist der Schauplatz, auf dem sich alle Wünsche und Pläne des Knaben in der Phantasie verwirklichen. Sie ist das Paradies.!) Da erfüllt sich alles: er kann entsprechend seinen infantilerotischen Phantasien nackt herumgehen, entsprechend seinen masochistischen Gelüsten sich von einem Diener bis zum Halse eingraben lassen. Er verwirklicht seine ehrgeizigen, männlichen Pläne: bald lebt er alsWilder, körperlich kräftig, einsam, fern von allem Zwang und Kultur, bald ist er ein Fürst, ein Zivilisator, verbreitet Kultur nach seinem Sinne, führt die Post ein, baut Eisenbahnen, bald wohnt er in der Hütte nach Art der Eingeborenen, bald läßt er ein Landhaus oder Schloß am Ende der Bucht aufbauen. Die Phantasie, als Lokomotivführer zu fahren, kollidierte einmal mit der Fürstenidee; er überlegte, daß er nicht wohl Fürst und Lokomotivführer zusammen sein konnte. Bei der Einrichtung der Post wäre den Briefmarken die größte Aufmerk- samkeit zuteil geworden. Das Museum enthielt Lieblingsmarken, die als Vorbilder dienen sollten. Wir finden da entweder Marken mit hübschen Landschaften oder Frauenbildnisse: eine junge Königin Viktoria von England und die Königin Wilhelmine als Mädchen! Das war die Hauptsache an der Postphantasie. Zahllos sind die kleinen

!) Ein junger Masturbant phantasierte sich mit einem hoaienes Mädchen auf eine fruchtbare Oase in der Wüste.

286 F. Riklin.

Zettelehen im ‚„‚Museum“, welche alle diesePhantasien dokumentieren, Sammlungen von Häusern samt Ausstattungen.

Ich erinnere an den Angstgedanken, den Eltern sei etwas zu- gestoßen, als er länger als gewöhnlich keine Nachricht erhielt, ver- bunden mit dem anderen Gedanken: Dann kann ich erben, muß keinen Beruf wählen, sondern kann auf die Insel fahren und in meiner Biblio- thek sitzen.

Auf der Insel gab es auch eine Art Kirche, mit Mittag- und Abendgeläute. Das gehörte zu den Fürstenphantasien.

Er dachte sich auch einen Kult der Freiheitsgöttin; die Brief- marke mit der Königin Viktoria als Mädchen hätte als Vorbild für eine Statue dieser Göttin dienen sollen.

Verschiedene von seinen Flammen dachte er sich auch etwa auf der Insel als Geliebte. Andermal war er einsam, allein; manchmal waren nur Eingeborene um ihn, manchmal ein bis zwei Freunde.

Aus einem botanischen Buche machte er pflanzengeographische Notizen. Es fehlt auch nicht ein Verzeichnis der zu pflanzenden Bäume. Auf Zettelchen standen alle nötigen Details für die Ausrüstung, mit Hinweis auf Kataloge von Spezialgeschäften. Ein Proviantverzeichnis. Eine Hausapotheke sollte auch da sein; er machte ein Verzeichnis der Mittel, die ihm aus eigener Anschauung bekannt waren.

Ein Verzeichnis von Büchern, eine Art Testament über die Ver- wertung derselben nach seiner Flucht.

Eine Variation der Inselphantasie in der zweiten Blütezeit be- stand darin, daß er auch an eine Flucht in eine einsame Gegend im Gebirge dachte; dahin hätte er sich wenigstens doch Zeitungen kommen lassen können; er macht da in der späteren Zeit bereits wieder Kom- promisse mit der Kultur. Von zu abonnierenden Blättern ist ebenfalls ein Verzeichnis da.

Er dachte auch zeitweise, in der späteren Zeit, daß er bei der Flucht von zu Hause nicht auf die Wunschinsel fliehen, sondern als Bauernknecht untergehen würde. Es gäbe auf dem Totenbett eine Wiedererkennungsszene mit einem alten Freunde— oder mit den Eltern.

Im ersten Teile dieser tragischen Phantasievariante entdecken wir ein Motiv, das wir aus den Märchen kennen.

Die ganze Variante stammt aus einer Erzählung von Adalbert Stifter. #% | Gewöhnlich ist der Abschluß der Phantasie beim Patienten ein anderer: Er wird ein reicher Mann auf der Insel, kehrt einmal

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 287 zurück und gibt sich der ersten Geliebten beim Tanze plötzlich zu erkennen. |

Oder er kehrt mit der Samoanerin heim.

Die Verzeichnisse sind möglichst vollständig. Patient hat Angst, irgend etwas zu vergessen. Dieses Ausassoziieren bis in die letzten Glieder der Kette, bis in alle Winkel, bis in alle Zweiglein ist sehr bedeutsam. Darum die vielen Zettelchen und Verzeichnisse.

Es wird dies nicht bloß bei den Komplexphantasien der Zwangs- neurotiker so sein, sondern auch bei denen der Gesunden.

Im Museum liegt auch ein Verzeichnis von Ortschaftsnamen, für die zu gründenden Städte und Dörfer. Die Namen waren zum Teil vom Patienten selbst gemacht, mit spanischem und italienischem Klang; teils kannte er sie von seinem Aufenthalte am Gardasee her (Sommer 1902). Da hatte er ja die schönen langen Ferien gehabt.

Er hat ja überhaupt einen Namenkultus ausgebildet; er hat als Garibaldi von Österreich, als Revolutionär, das Land neu eingeteilt und den Provinzen wohlklingende Namen verliehen, ähnlich wie es der andere Eroberer, Napoleon, gemacht hat. Hier werden die Namen aus der Sprache des schönen Landes genommen, wo sich Patient wie in einem Paradies hatte enthalten können, bei den Franzosen stammen sie aus dem römischen Altertum; indem die Revolution auf die Zeit der Republik als Vorbild zurückgriff, Napoleon in seiner Weiterent- wicklung das römische Weltreich wiederaufleben ließ.

Der Namenkultus schaffte auch die Namen für die Kinder in den Vaterphantasien.

Früher waren die Namen: Stephan, Konstantin beliebt, später kamen sie ihm plump vor. An ihrer Stelle wurden die Namen: Adrian, Balduin, Marius gewürdigt. Das ging noch weiter bis in die letzte Zeit, wo unter anderen Nicander besonders beliebt war. Obwohl ihm jetzt das ganze komisch vorkommt. Von Mädchennamen galten vor allem Mathilde, auch Dorothea.

„Ich wußte nicht, wie es anstellen, um alle Namen anzubringen; ich mußte einfach soviele Kinder haben.‘ Der Kultus mit den Eigen- namen ist nach dem eigenen Vergleiche des Patienten genau dasselbe, wie wenn Kinder mit Puppen spielen.

Die Anfänge gehen bei ihm in die frühe Knabenzeit zurück.

1903 kam ein besonderer Datenkultus, ein Komplexkalender, dazu; er begann im Jänner und Februar, als die Inselphantasie im

288 F. Riklin.

üppigsten Saft war. Etwas haben wir schon gesehen beim ‚„Nudis pedibus ambulavı‘.

Er wollte gewisse Festtage im Kalender auf der Insel einführen: Die ganze Inselphantasie mahnt uns ja oft an die Geschichte von Robinson, ohne daß diese als Vorbild diente. Aber wir wissen ja, warum jene Kulturgeschichte des Menschen bei den Knaben so beliebt ist. Nur hat unser Patient die Erotik nicht vergessen, wie Daniel Defoe.

„Ich griff zuerst nach beliebigen Daten, die ich zusammenstellte, z. B. 20. Jänner, 12. Februar, 5. August. Aber die Auswahl war doch nicht beliebig, es war ein ästhetisches Interesse an ihrer Zusammen- stellung beteiligt. Es ging nach gewissen Regeln; genau weiß ich sie nicht mehr. Mir erschienen, offenbar aus der frühesten Kindheit her, die Zahlen und Buchstaben in bestimmten Farben, z. B. auch die Wochentage.

Ebenso haben die Monatsnamen Farbenassoziationen. Manches mag vom mehrfarbigen Blockkalender stammen. Die dunkle Farbe des Montags mag damit zusammenhängen, daß er mir sehr unsym- pathisch war, weil man wieder in die Schule gehen mußte.

Übrigens war auch der Sonntag unsympathisch; da mußte man in einem lächerlichen Aufzug mit den Eltern spazieren gehen.“

Ein Einfluß kommt auch aus dem goldenen ABC-Buch der Kind- heit, wo die Buchstaben als Wesen, als Individuen erscheinen.

Bei den Zahlen tritt ebenfalls eine gewisse Personifikation ein, es gibt Arme, Beine usw.

Der Datenkultus ging also in der Inselzeit zuerst nach gewissen Farbenharmonien der Monats- und Tagesziffern ‚Schließlich fiel mir ein, daß ich ja verschiedene wirkliche Daten hatte, die sich großartig verwenden ließen, Daten von meinen Spaziergängen, Ausflügen, Begebenheiten. Viele dieser Daten konnte ich so noch erforschen, aus den Ausgabebüchern Papas und ähnlichen Urkunden.

So gab es im Frühjahre 1903 schon Andachten, fast jede Woche, manchmal fielen auf einen Tag mehrere Erinnerungsfeiern zusammen aus verschiedenen Jahren. Der eigentliche Kultus war in vollem Gange 1904, und da kam fortwährend Neuerlebtes dazu. Das wurde sofort in den neuen Kalender aufgenommen, um im nächsten Jahre seine erste Erinnerungsfeier zu bekommen. Die Feier bestand in einem Darandenken, in der andachtsvollen Wiedervergegenwärtigung dieser Begebenheiten in allen einzelnen Punkten. Jeder Augenblick

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 289

davon wurde wieder erinnert, alles was an jenem Tage zur gleichen Zeit geschehen war.

Hatte ich einen solchen Festtag aber vergessen, so war große Verzweiflung; es gab etwas, das fast ein Gebet an den lieben Gott war, er möchte die Zeit etwas zurückdrehen, oder es gab eine Abwehr- bewegung: „hm, hm.“ i

Diese Abwehrbewegung ist sehr bedeutsam, wir werden bei der Schilderung der Zwangseinfälle darauf zurückkommen.

Hier erscheinen sie beim Vergessen, dort bei Zwangsein- fällen.

Diese Kalenderphantasien sind etwas Großartiges. Wohl kennen wir ja die Erinnerungsfeier Hysterischer; was sind sie aber gegen diese mit der höchsten Liebe, mit der größten Libidobesetzung ins Feinste ausgearbeiteten Gebilde der Zwangsneurose!

Da liegt wohl gerade ein Hauptunterschied. Meines Wissens feiert die Hysterie hauptsächlich die Unglückstage ihrer Liebe und sucht nach etwas Besserem; die Zwangsneurose feiert die Fest- tage, ganz autoerotisch; aber sie ist nicht so geizig wie die Dementia praecox, welche ihre Mysterien in die Tiefen des Unbewußten verlegt, aus denen wir nur ab und zu ein grelles Fortissimo heraushören, sondern sie gibt uns ein wohlorganisiertes, gut und liebevoll ausgestattetes Festspiel, eine, allerdings autoerotische, Symphonie. Es wird etwas aufgeführt für sich und zuhanden des Zuschauers oder Zuhörers, wohl durchdacht, stark intellektualisiert. Er bringt ein Produkt an die Oberfläche, stellt es am Schaufenster aus; aber es ist nicht verkäuflich und nicht zum Verkaufe bestimmt, oder nur schwer.

Der Datenkult lehrt uns aber noch mehr. Vergleichen wir einmal diesen Kalender, diesen individualistischen, autoerotischen, mit unserem allgemein gültigen. Da ist ein großer Unterschied. Unser Patient hat den Kalender des Mikrokosmos, unser Kalender ist der des Makrokosmos. Beide sind historische Kalender. Aber beide grün- den sich auf die Natur. Im Mikrokosmischen wird die Wiederkehr der autoerotischen und infantilen Naturereignisse gefeiert, im Makro- kosmischen die Wiederkehr des Tages und der Sonne. Dort werden stille Andachten verrichtet, hier heidnische Feste gefeiert.

In der Phantasie gelingt ihm die Ablösung von den Eltern, in der Wirklichkeit nur sehr unvollkommen; in der Phantasie gelingt ihm die Übertragung auf andere Frauen, sogar in üppigster Weise, in der Wirklichkeit bleibt sie ganz rudimentär.

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, II. 19

290 F. Riklin.

Die Inselphantasie ist ein einziges, großes, schönes und nament- lich darstellbares autoerotisches Gebilde. |

Die Produktivität war Schwankungen unterworfen. So ist ein Zurückfluten etwa im Jahre 1904 zu konstatieren. 1905/06, als er zu fliehen dachte, trat sie wieder in den Vordergrund. Der Rückgang 1904 fällt zusammen mit Masturbation und der zweiten Liebe. Das zweite Aufleben fällt in die Zeit nach der totalen Aufklärung (respek- tive Wiederaufklärung). Sie trat mehr oder weniger zurück, wenn eine neue Flamme auf dem Plan erschien, und dauerte im wesentlichen bis zur Zeit, wo er das letzte Dokument dem Museum einverleibte, wo er, bildlich gesprochen, mit der Jugend, der infantilen Erotik ab- zuschließen sucht, bis zur Zeit, wo er einen ernsthaften Fluchtplan macht, den er durch hysteriforme Gegenerscheinungen vereitelt, um sich wieder mit den Eltern abzufinden. Er kommt dann ins Sana- torium, lernt die Jüdin kennen: wieder ein Übertragungsversuch nach außen. Aber auf diesem neuen Boden gedeiht nun wieder eine neue Phantasiepflanze, das Traktat ‚De parentibus“; in den darin aus- gesprochenen Ideen stimmen die Jüdin und er überein. Das Traktat ist nicht mehr infantil, es ist etwas reifer, scheinbar philosophischer, Patient ist vom Revolutionär, Krieger, Wilden und Fürst zum Philo- sophen durchgedrungen,

Es ist ihm wichtiger als seine Studien. Er hält große Stücke darauf. Es ist sein philosophisches Werk; er forderte mich auf, logische Lücken daran zu suchen; wenn ich sie nachweisen könne, dann wolle er mir glauben, daß er auf dem Holzwege sei. Der Versuch, das ganze als ein Symptomprodukt hinzustellen, dem ein großer philosophischer Wert abgehe, verursachte einen bedeutenden Widerstand gegen mich, verstärkt durch die Tatsache, daß ich Vater sei und daher sowieso in der Frage keinen objektiven Standpunkt mehr einnehmen‘ könne. Wenn er aber meine kleine Tochter sah, meinte er: Ja, da seien allerdings alle seine Gedanken entwaffnet, am Ende könnte doch er unrecht haben!

Er gab das Traktat, wie das Museum, ungern frei. Er hegte und pflegte es innig, verschwendete seine Zeit daran statt zu studieren, änderte und feilte daran herum, schrieb es ab, machte Kopien davon, und dachte im geheimen an Publikation, Verbreitung desselben, an eine Propaganda. Er fürchtete, ich als Vater könnte bei der Lektüre und dessen Richtigkeit vielleicht erkennen müssen und würde, da ich schon Vater sei, unglücklich werden.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 291

Das Traktat lautet in der Fassung von 1909:

Über Elterngötzendienst und Kindergeneration.

Je wichtiger das Amt eines Menschen, je verantwortungsvoller sein Beruf, desto strenger sind die Forderungen, die an seine Vor- bildung hiezu gestellt werden; allein beim Elternberuf ist es anders: Da ist gar keine Vorbereitung nötig; jeder Tropf und Trottel, jede Gans und Trine können ihn ausüben.

Zwei Individuen, Mann und Weib, mögen noch so beschränkt, unwissend, willensschwach, charakterlos usw. sein, deren Trauschein betrachtet die Gesellschaft als genügenden Befähigungsausweis zur Kindererziehung. Dazu werden sie Pächter des Niesichirrenkönnens und Immerrechthabens ihren Kindern gegenüber, welches Rechts- bewußtsein in der stereotypen Formel: ‚Ich dulde keinen le seinen schönsten Ausdruck findet.

Das Kind wird ohne seinen Wunsch und Willen ins Leben ge- stoßen. Hat es nun irgendeine Verpflichtung den Individuen gegen- über, die es in die Welt hinein gezerrt haben, wo seiner tausendfältiges Leid wartet, wo seiner auf Schritt und Tritt Kampf, Unfreiheit und Zwang harren, trotzdem es hier nichts weniger als ein zudringlicher Eindringling ist? Nein, es hat im Gegenteil einen durch nichts zu verwirkenden Anspruch auf unbegrenzte Entschädigung ihrerseits, wenn ihm das aufgenötigte Dasein mißfällt, in welches einzutreten es sich oft gar gründlich überlegen würde, wäre es vor seiner Mensch- werdung mit Voraussicht und Vernunft begabt und ihm freigestellt, sich um den Scharen der Sterblichen beizugesellen oder nicht. Durch sein unfreiwilliges Eintreten ins Dasein erwirbt sich das Kind geradezu ein Recht auf Glück.

Sich gerne in eine Art von halbgöttlichem Nimbus hüllend, haben es die Eltern verstanden, bisweilen ihren Kindern mit nicht wenig Würde und Feierlichkeit die Tatsache ihrer Urheberschaft an ihnen in Erinnerung zu bringen, mit Worten wie „Wir haben dir das Leben geschenkt‘ u. dgl. Die Eltern erheischen also Dankbarkeit für ein gar nicht erbetenes, für ein aufgenötigtes Geschenk. Statt einzusehen, daß sie selbst keineswegs Schöpfer, sondern nur Werkzeuge der Schöpfung, der Natur sind, die sich bei ihrer Verwendung, eben- so wie das Tier, nicht der mindesten geistigen Anstrengung zu unter-

ziehen brauchen, geschweige Scharfsinn an den Tag zu legen hatten, | 19*

292 F. Riklin.

tun sie, als ob sie Erzeuger im eigentlichen Sinne des Wortes wären, und geberden sich wie Erfinder, die sich ihres Werkes rühmen.

Was, im doppelten Sinne des Wortes, jeder Hund und jeder Esel fertig bringt, das an sich soll Grund zu Respekt und Ehr- furcht sein!

Ähnlicher Bedeutung sind die häufigen ausdrücklichen Auffor- derungen zur Dankbarkeit, besonders für Auf- und Erziehung. Es ist nur ihre natürliche Pflicht und Schuldigkeit, dem so unschuldig ins Leben Gestoßenen schwimmen zu helfen wohin es will, und wenn es einmal seine Vernunft brauchen kann, mit allem zu versehen, was dazu nötig ist. Sie können dadurch überhaupt nur einen Bruchteil ihrer Schuld an das Kind abzahlen; an das Kind, das in das Leben hinein- gestoßen wurde und schon das Angebinde des Endlichsterbenmüssens empfangen hat.

Er führt weiter aus: Die Eltern haben eine unendliche Schuld. Es ist ein großer Egoismus von ihnen; sie wollen die Vater- und Mutter- freuden genießen, darum die Kindermacherei.

Zu den Gründen des Kindermachens gehört auch die unbe- wußte Freude am Monarch- und Untertanenspiel, dummes Selbst- gefühl, Fortpflanzung des eigenen Namens, die Idee, ein Scherflein an den Militarismus beizutragen. Es ist kein Anlaß, ihnen zu danken. Es ist ein Größenwahn und Leichtsinn von ihnen.

Die Beteiligten stehen gewöhnlich unter dem Tiere, da letzteres sich über die Fortpflanzung keine Gedanken machen kann, wohl aber der Mensch. Es ist, wie wenn man ein Sekret, einen Kaktus ge- macht?!) hätte und sich dessen rühmte! Nicht nur Dumme, sondern auch geistig Höherstehende stellen sich ohne weiteres dem Perpe- tuum mobile?) der Kinderfabrikation und als Gebärmaschinen zur Verfügung.

Er schließt seine Betrachtung damit, daß zwar alle diese Über- legungen nicht beachtet würden, die Losung sei: „Frisch, froh, frei an die Kindermacherei“, und die Natur lache sich ins Fäustchen dazu.

Es ist Schopenhauersche Philosophie im Traktat.

Patient ist stolz darauf, daß man ihm keine logischen Fehler im Traktat nachweisen könne und trachtet es so zu verbessern, daß dessen Logik absolut zwingend und beweisend sei.

RL Das Bild entspricht einer infantilen Gebärtheorie. ) Die Geisteskranken beschäftigen sich oft mit dem Perpetuum-mobile- Problem; es leitet sich meist vom gleichen Gedanken her.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. | 293

Dadurch will er beweisen, daß die Natur, d. h. der Sexualtrieb, Unrecht hat. Diesen Gedanken habe ich bei einem andern Zwangs- neurotiker auch getroffen, der ihn ebenfalls logisch zu entwickeln suchte und dabei einen Triumph über die Natur errungen zu haben glaubte.

Leider hat die Logik nicht recht; ‚die Natur lacht sich ins Fäustchen‘, und den, der sich gegen sie auflehnt, straft sie; sie macht ıhn zum Einsamen, und uns ist in der Einsamkeit nicht wohl, auch wenn wir zehnmal recht hätten und die Gescheitern wären.

Die Zwangsneurotiker suchen ihre Probleme, wie hier Patient im Traktat, zu intellektualisieren, auf ein Gebiet zu locken, wo es schwerer ist, den Irrtum nachzuweisen. Da suchen sie ihre Unsicher- heit zu sichern.

Wir sehen im ‚„Traktat‘‘ den Kampf gegen die Eltern und die Autorität; sie sind in ihm übermächtig, verhindern die genügende Übertragung auf neue Objekte, auf die Gegenwart. Die Thesen sind revolutionär, lehnen sich gegen die Autorität auf. Der Erfolg ist auf der einen Seite ungenügend, die Ablösung gelingt doch nicht recht; sie gelingt aber besser als z. B. bei der Dementia praecox.

Das Traktat geht in seiner Revolution zu weit. Sie bekämpft den Naturtrieb, ein ohnmächtiges Beginnen. Es geht gegen die All- macht und Autorität der Natur, die ja auch wieder in den Eltern sichtbar waltet; der Kranke fühlt sich von ihr schlecht behandelt, verlangt unbegrenzte Entschädigung, macht maßlose Genuß- ansprüche. |

Der Kampf, die Verdrängung, geht gegen die Arterhaltung, gegen die Kindererzeugung, damit auch wieder gegen die Eltern. Damit geht er auch gegen seine Inzestgedanken, verdrängt sie. Und eine weitere Unterströmung geht gegen den eigenen Fortpflanzungs- trieb. Und damit ist er gerade wieder eine Waffe gegen die Ablösung von den Eltern geworden; denn diese bestände gerade darin, daß er auf ein neues Objekt der Liebe übertragen würde, daß er Kinder be- kommen möchte.

In dieser Unterströmung entdecken wir auch den Kampf gegen die Masturbation; er faßt sie ja als eine große Kinderproduktion auf, wie wir gesehen haben.

„Ich hatte tatsächlich auch Kindergedanken ; der Namenkultus aus der Inselzeit spielte da mit. Ich hatte 6 Knaben- und 6 Mäd- chennamen zu besetzen. Wie das Geld haben für gar so viele Kinder?

294 F. Riklin.

Denn ich wollte keinen Namen unbesetzt lassen. Noch 1907 sah ich mich als Vater; hatte Gedanken, wie man es anstellen könnte, einen Buben zu bekommen statt eines Mädels. Ganz ernsthaft sind die Gedanken gegen die Kinder erst vor einem Jahre aufgetreten, weil mich das Ichrätsel so stark packte, wie noch nie. |

Neben den Mädchenbildnissen im Museum, die früheren kindlich, die späteren sinnlich, findet sich auch eins mit einem Mann und einem Knäblein, entsprechend den Vaterphantasien, die bis Frühjahr 1908 dauerten und dann mit Entschiedenheit aufhörten.

Auf der Insel dachte er sich oft als Vater mit einem Knäblein zu dieser Zeit nur einem einzigen offenbar wie es bei ihm zu Hause war und da wußte er eben nicht recht, wie es anfangen, daß es nur eins gäbe.

Wir entdecken somit im Traktat das ganze tolle Spiel der Gegen- sätze, wie es fast nur bei der Zwangsneurose sich äußert, und das ganze Gebäude droht beim Anblick eines Kindes zusammenzustürzen !

In der Masturbation und in den Phantasien, im Autoerotismus, gestattet er sich aber alles, was er im Traktat verbietet.

Durch die mehr oder weniger gut angestellte Propaganda des Traktates sucht er sich zu verallgemeinern.

Wie es bei einem Zwangsneurotiker nicht anders geht, hat unser Patient ein System von Geboten, und als Gegensatz dazu eine soge- nannte Willensschwäche.

Aus den Klagen über Willensschwäche greifen wir eine besonders heraus, die Klage, daß er immer vergesse, die Uhr aufzuziehen.

Ich glaube es steht in der ‚„Psychopathologie des Alltagslebens“, daß diese Symptombehandlung manchmal in der Bedeutung vorkomme, es lohne sich nicht, den neuen Tag zu erleben.!)

Bei unserem Kranken drückt es vielleicht den ersten dieser Gedanken aus, ohne daß ich danach besonders geforscht hätte. Aber er äußerte oft, daß seine Willensschwäche u. a. der Lebensunlust ent- springe. Jeder neue Tag komme unerwünscht, bringe ja nur neue Qualen. Darum möge er auch morgens nicht aufstehen. Der Jammer über diese Schwäche nimmt einen breiten Raum ein.

Aber das Vergessen, die Uhr aufzuziehen, birgt noch einen andern Gedanken: Er sagte mir, als wir auf den Inhalt seiner Brief- tasche zu sprechen kamen:

; 2) In den „Bemerkungen“ erwäht Freud, daß manche Zwangsneu- rotiker die Uhr nicht aufziehen, um die neurotische Unsicherheit zu pflegen.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 295

Gleichwie ich immer vergesse, die Taschenuhr aufzuziehen, genau so vergesse ich immer die ethischen Gebote zu lesen, welche ich in meiner Brieftasche aufbewahre! Brieftasche und Uhr befinden sich, um eine Vorstellung aus der topographischen Anatomie herüber- zunehmen, in der gleichen Schicht, im Raume zwischen der äußersten und zweitäußersten Kleiderschicht (ich verweise auf die Wichtigkeit dieser Vorstellung bei unserem Kranken), beide links, beide in einer Tasche. Der Impuls, die Brieftasche oder die Uhr herauszunehmen, löst in beiden Fällen einen ganz ähnlichen Komplex von Bewegungen des rechten Armes und der Hand aus. Es findet nur eine kleine Ver- schiebung vom Brieftaschen- auf den Uhrenkomplex statt.

Die Brieftasche ist ein weiteres kleines Heiligtum. Die Rock- taschen müssen rein gehalten werden, weil man darin reine Sachen, Bücher fu. dgl. herumträgt. Die Brieftasche nun wird wie das Mu- seum mit einem besonderen Waschzauber umgeben. Denn was sie enthält, ist ebenso heilig, wie der Inhalt des Museums. Lange Zeit z. B. trug und trägt er darin gewisse Mädchenbildnisse herum.

Ebenso also ein Extrakt von ethischen Geboten und die vergißt, er, auzusehen, wie es nach seiner Meinung nötig wäre. Ich wunderte mich über diese infantile Art der Selbsterziehung. Und doch finden wir diesen Sport gar oft beim Kinde, und viele Asketiker empfehlen sie ja und nehmen sie ernst. Ich erwähne, daß Patient Ethik als ‚‚Sym- ptomkolleg‘“ gehört hat. |

Den letzten Anlaß zur Sammlung ethischer Grundsätze gab ein Sprüchlein, daß sich als Zwangsgedanke festsetzte, jetzt aber ganz überwunden ist.

„Zwei Elemente bilden die Welt, Dummheit und Schlechtigkeit innig gesellt.“

„Es war natürlich eine Reaktion gegen den Vater‘ bemerkt Patient ausdrücklich. Die nähere Analyse fehlt noch und somit die tiefere Begründung der ganzen Sammlung. Ein Gebot heißt: ‚„Erkenne dich, beherrsche dich, veredle dich.“ Das Beherrschen ist im Försterschen Sinne gedacht. ‚Man macht sich was vor, man macht anderen etwas vor, man läßt sich von anderen was vormachen.“

Das geht wiederum gegen die Eltern; wir finden den Eltern- komplex also auch in den ethischen Sprüchen vertreten und die Eltern bekämpft.

Ein anderes Postulat heißt: „Wahres, Gutes, Schönes.‘‘ Bei der Auswahl der Gebote und ethischen Forderungen ist wichtig, daß

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Patient teils den Standpunkt des Vaters aus Bequemlichkeit ein- nimmt, teils unter den Nachwirkungen der Vorwürfe seiner Mutter steht.

Zum Teil stammen die in der Brieftasche geborgenen Grundsätze aus Schopenhauers Grazian (Balthasar Grazians Handorakel der Weltklugheit, übersetzt von Schopenhauer).

„Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben.‘

„Sich nicht in den Personen täuschen.“

„Aufmerksamkeit auf sich im Reden.‘

„Ohne zu lügen nicht alle Wahrheit sagen.“

„Nie dem Rechenschaft geben, der sie nicht gefordert hat.“

„Über den Feind gut reden.“

„Zu widersprechen verstehen.‘

„Nicht dem ersten Eindruck angehören.“

„Das Letzte behalte bei uns nicht allemal recht.“

„Die Gemütsart derer, mit denen man zu tun hat, begreifen‘ usw.

„Diese Prinzipien machten mir zwar keine großen Beschwerden. Ich spielte gerne den einzig Gescheiten mit dieser Weisheit. Es war Eitelkeit, wie die Freude an schönem Stehkragen und Handschuhen, weil ich noch mit Mädchen zu tun hatte. Es ist eine Spielerei, eine Phantasie des Jünglings, der Feldherr, Staatsmann und zuletzt Ge- lehrter sein will.“ Es handelt sich'also noch nicht um typische Zwangsneurosengebote.

Hingegen traten Zwangsgedanken bei ihm auf, am meisten in der Konviktszeit; sie setzten aber schon früher ein, traten aber später wieder in den Hintergrund.

Seine religiöse Erziehung war sehr lax und erlaubte ihm, die Dogmatik frühzeitig abzustreifen.

Nebenbei erzählt er, daß die erste Kommunion von ihm in be- merkenswerter Weise empfunden wurde: „Ich war wie verrückt; es war mir zumute wie einer Frau zur Zeit der Empfängnis.“

Bald nachher entledigte er sich allmählich des Glaubens, den er kennen gelernt hatte; aber es blieb noch ein großer Glaube an die Autorität, welche er in den folgenden Jahren im Kampfe gegen die Eltern und revolutionären Heldenphantasien ebenfalls ab- zustreifen versuchte. Zur Zeit, wo er vor der Autorität noch so große Ehrfurcht hatte, war ihm z. B. der Eid etwas Großes und Furchtbares.

Da hatte er Zwangseinfälle in Form eines Eides, z. B.: ‚‚Das erste Mädchen, welches dir begegnet, wirst du heiraten.‘ oder: „Ich

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 297

schwöre, dieses Mädchen zu heiraten.‘ Er geriet darüber in große Aufregung: „Die gefällt mir ja gar nicht; jetzt hast du einen Schwur getan, und mußt den nun halten und diesem Mädchen nachlaufen; sonst wirst du meineidig!‘“ Die ersten Male ging er noch zur Beichte mit diesen Skrupeln und erhielt die erlösende Erklärung, daß diese Schwüre nicht alle Bedingungen und Merkmale eines richtigen Eides erfüllen und daher keine Pflicht nach sich ziehen, sie zu halten.

Wir sehen diese Eide entstehen auf Grund der Unsicherheit der Objektwahl; in der Eidesformel drückt sich die Tendenz aus, die von der Mutter, der infantilen Liebe, sich befreien und ihn zwingen will, mit der Macht des Eides, der sichersten und kräftigsten Bestä- tigung, neue Ziele zu suchen. Aber im Grunde genommen weiß er, daß es doch kein Eid ist, und läßt sichs vom Beichtvater bestätigen, daß er ihn nicht halten muß. So ist er der Sache enthoben und kann in seinen infantilen Neigungen weiterleben.

Unser Fall kennzeichnet sich dadurch, daß er der Mutter noch gar kein bestimmtes Objekt gegenüberstellen kann, sondern nur im allgemeinen zwischen Mutter (respektive Eltern) einerseits und einer ganzen Reihe von Mädchen respektive Frauen, d. h. anderen Sexual- objekten, dem Sexualziele des Erwachsenen, schwankt.

Dazwischen liegen die großen Phantasien mit einem deutlichen Sublimierungsversuche. |

Ein anderer Zweifel, welcher im „Ichprobleme‘‘ abgehandelt wird, ist der Zweifel an sich selbst, die Frage, warum er ‚ich‘ ist und nicht ein anderer. Wahrscheinlich ist es die große Unsicherheit sich und der Welt gegenüber, ein Ausfluß der Unsicherheit in der Liebe, welche zu folgender Zwangserscheinung Anlaß gab.

Er mußte täglich mit der Eisenbahn eine kurze Strecke fahren, um ins Konvikt zu gelangen. Er kannte auf der Strecke jedes Brück- lein, jeden Baum und Bach ganz genau. Zu dieser Zeit, wo durch den Eintritt der Geschlechtsreife der Zweifel zwischen infantiler und erwachsener Sexualität am größten waren, wo alles anders wurde!), da fing er an, auf dem Wege sich zu denken und allmählich laut zu

murmeln: „Jetzt kommt das Brücklein; jetzt kommt das Wässerlein !“

!) Man beobachtet oft bei Dementia praecox, daß den Kranken ‚alles anders‘‘, falsch, oder unsicher vorkommt; als unzweideutiger Ausdruck des Ge- dankens: Es ist alles anders, als es sein sollte, nämlich in meiner Liebe. Die ganze Welt ist dann anders, bei jedem Haus und Baum taucht die Frage auf: Ist denn das wirklich dieses Haus oder dieser Baum?

293 F. Riklin.

Diese zwangsweise Verifikation wurde immer lästiger, und er fing an, den lästigen Zwangsgedanken mit einem unwilligen Kopf- und Achsel- zucken und einem Räuspern ‚Mh, mh“ abzuschütteln.

Eine Reihe von Zwangsgedanken haben den Inhalt: Wenn das und das eintritt, so stirbt dein Vater oder die Mutter.

Deutlich ist der Sinn in dem schon erwähnten Falle, wo eine innere Stimme die Alternative stellt: Entweder opferst du deine Weiber, d.h. deine Frauenbildnisse, die du im geheimen bei dir trägst, oder deine Mutter kehrt nicht zurück.

Und nachdem er die Bilder im Feuer geopfert hat, kehrt die Mutter, um die er sich geängstigt hat, gleichsam infolge seines Willens, die anderen zu opfern, zurück.

Ein Beispiel von Aberglaube und ‚Allmacht der Gedanken“ des Zwangsneurotikers (vgl. Freud, Bemerkungen). Beizufügen ist, daß man früher einmal dergleichen erotische Bilder bei ihm entdeckt und ihn dafür geschmäht hatte.

Solche Zwangsbefürchtungen traten mit Vorliebe ein, wenn er von den Eltern weg war.

Zur Zeit der ersten Trennung von den Eltern, es war auf einer ziemlich weiten Reise, dachte er beim Einschlafen: ‚Wer weiß, ob jetzt nicht dein Vater gestorben ist.‘ Das Telegramm, das seinen Tod melden würde, könnte um 7 Uhr da sein. Große Angst. Alsum 7 Uhr kein Telegramm eintraf, quälte ihn der Gedanke weiter mit der An- nahme: ‚Aber er könnte auch erst eine Stunde später gestorben sein, und nur darum ist das fatale Telegramm noch nicht angekommen.“ Oder er machte einen Ausflug in eine Gegend, wo er selten hinkam. Da sagte z. B. eine innere Stimme:

„Wenn du dieses Haus wiedersiehst, ist deine Mutter gestorben‘ oder ‚dann ist dein Vater gestorben.‘ Oder eine Stimme sagte: „Du wirst sterben am so und sovielten eines bestimmten Jahres“; z. B. hieß es eine Zeitlang ‚‚im Jahre 1947“.

Leider fehlt noch die besondere Analyse dieser Beispiele. Es wird auch ein Zusammenhang mit dem Datenkult vorhanden sein, denn dort wehrte er, in gleicher Weise wie solche Zwangsgedanken, das Vergessen wichtiger Daten ab mit ‚„‚Mh, mh.“

Die Beispiele ließen sich um eine ganze Reihe vermehren.

Es kamen noch andere Zwangsgedanken mit dem Charakter der Schwüre; in der ersten Zeit hatten diese Einfälle überhaupt den Wert von Eingebungen einer höheren oder dämonischen Macht. Da

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 299

waren plötzliche, ekelhafte Einfälle, Patient kann sie angeblich nicht mehr genau erinnern und gibt ein, wie er sagt, als Typus gewähltes Beispiel: Wenn er eine Frau vorbeigehen sah oder am Haus einer Dame vorbeikam, mußte er sich plötzlich die Exkremente derselben vorstellen.

Diese Einfälle wurden mit heftigem Abwehrhüsteln und Be- wegungen des Abschüttelns begleitet.

Das Beispiel unterliegt, wie er selbst zugibt, einer Zensur, die uns vermutlich noch Schlimmeres verheimlicht; dieses Schlimmere besteht wahrscheinlich in analerotischen Inzestphantasien, wofür wir bereits eine Reihe von Anhaltspunkten haben. Denn hinter den Gestalten anderer Damen finden wir, wie Patient selbst sagt, fast immer die Mutter.

Andere Male waren auch andere Vorstellungen der Inhalt dieser Einfälle: der Urin, die Genitalien von Frauen, die er liebte. Ich wieder- hole, daß, obwohl er in bestimmten Zusammenhängen mit Lust vom Sexualverkehr mit seinen geliebten Mädchen träumte, in anderen, wahrscheinlich in Verbindung mit Mutter- und Analphantasien, eine große Verdrängung dieser Vorstellungen vorhanden war. Nament- lich Verdrängung der Analvorstellungen: aus dieser alten Verdrängung brechen sie als Zwangsgedanken hervor. Der Gedanke ‚‚inter urinas et faeces‘, der Anblick von Frauen, die sich bückten, oder die ge- schnürt waren, war ihm ekelhaft. Beim Anblicke geschnürter Körper hatte er Empfindungen von Kleben an den Sitzteilen und Vorstellungen von Gerüchen, Suppenwürze u. dgl.

Bezeichnenderweise bekam er bei der Schilderung grotesker oder ekelhafter Situationen zwangsartige Lachkrämpfe, über die er sich schämte und die er als Beweis seiner Blödheit anführte.

Zur Zeit als er im Konvikt war und das Grausen schon im Tun war, etwa mit 14!/, Jahren, klärte ihn ein Kamerad auch über die Prostitution auf, die später ja fast ins Zentrum des Wanschzwanges rückte.

Im Städtchen, wo sich das Konvikt befand, zeigte ihm der Ka- merad das Frauenzimmer, von dem es hieß, sie sei eine Hure. Er hatte eben seine Enthüllung gemacht, so kam sie an ihnen vorbei und streifte den Ärmel des Patienten. Großes Grausen. Und das ekelhafte Wort wollte ihm nicht aus dem Sinn. Z. B. sagte öfter einmal eine Stimme: Wenn du bei diesem Hause vorübergehst oder beim nächsten Schul- gottesdienst eben durch die Türe in die geweihte Kirche trittst, oder

300 ! F. Riklin.

wenn du der und der Dame begegnest so wirst du das Wort ‚‚Hure“ denken. („Das ist die Hure‘‘, hatte der Ausdruck des Kameraden gelautet.) Er war voller Angst, wenn er die genannten Orte passieren mußte, und es gab ein heftiges Abwehrhüsteln.

Noch deutlicher offenbarte sich die zwanghafte Assoziation zwischen (sexuell) Heiligem und (sexuell) Verdrängtem, Ekelhaftem am nächsten Beispiele. | Einmal fuhr man in die Ferien aufs Land (ins Paradies, ins un-

schuldige Gebiet der Infantilerotik). Die Stimme sagte: Im Momente, wo du wegfährst, wirst du jenes Wort aussprechen und im Momente, wo du zurückkommst, wirst du wieder ‚Hure‘ sagen. Der ganze schöne Sommer mit allen seinen Ausflügen wird da eingeklammert sein zwischen die ekelhaften Worte, wird dadurch entweiht, entheiligt, verunreinigt werden.

Richtig, im Momente der Wegfahrt muß er sagen: Hure! Bei der Rückkehr vergaß er darauf, und erst nach dem Aussteigen fiel es ihm ein. Da war der entscheidende Moment glücklich verpaßt, und der böse Geist hatte das Nachsehen, denn die Bedingungen, unter denen die reinen Ferientage dem Ekel verfallen wären, waren nicht ein- gehalten worden.

In der Gruppe von Zwangsgedanken, welche sich mit dem Tode der Eltern, beispielsweise der Mutter, befassen, kommen die Zweitel der Objektwahl zum Ausdruck. Das Haßmotiv gegen die Eltern, speziell die Mutter, verstärkt die Tendenz, neue Objekte zu suchen.

Ein großer Gegensatz ergibt sich zwischen ihm und den Eltern dadurch, daß vom Eiternkomplexe aus eine große Verdrängung seiner Sexualität stattfindet. Als er ganz klein war, wurde ihm das Spielen mit dem Penis unter schweren Drohungen untersagt. Vielleicht war es die Inzestverdrängung, genährt durch die Behandlung durch die Eltern, welche ihn veranlaßten, in der Betätigung der maso- chistischen und sadistischen Triebkomponente einen Ausweg zu suchen. Die verständnislose Sexualverdrängung durch den Eltern- komplex half dazu auch, seine Sexualentwicklung vor ihnen zu verbergen. So kam er dazu, seine Phantasien ängstlich für sich zu behalten.

Wenn er seine Spaziergänge mit nackten Füßen machte oder die Drohung der Eltern, wenn er nicht artig sei, werde er vollständig eingewickelt, eingebunden und wehrlos gemacht, in eine Wollust- phantasie verarbeitete und sich, nackt auf dem weichen Sofa liegend,

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 301

die Füße kunstvoll zusammenband, so machte er das immer für sich im geheimen; der Gedanke, die Eltern könnten ihn ertappen, wurde in wohllüstiges Entsetzen verarbeitet.

Einmal entdeckte man ein Zettelchen, auf welchem er eine solche Qualsituation inbrünstig beschrieben hatte aus der Zeit vor der Pubertät. Es war ihm entsetzlich. Die Eltern schimpften ihn zwar nicht, da sie dem Phänomen ratlos und mitleidig gegenüberstanden. Sondern es plagte ihn furchtbar der Gedanke, die Eltern wissen nun seine Geheimnisse, diese werden überhaupt bekannt, und bis in die neueste Zeit war es ihm eine Qual, daß dieses Zettelchen sich nicht wiederfand. Der Affekt stammt wohl nicht allein vom Verrate dieses Geheimnisses her, sondern aus der Angst, die anderen, schlimmeren Geheimnisse könnten verraten werden. |

(In den „Bemerkungen“ von Freud findet sich der Zwangs- glaube des Patienten, die Eltern wissen alles, was er denke.) Von den Eitern her findet ferner eine Verdrängung aller Masturbation statt. Die infantile wird zwar geleugnet, aber die Drohungen, an die sich Patient erinnert, sprechen doch dafür, daß sie da gewesen war.

Die Dokumente für die Inselphantasien hatte er zu Hause immer sorgfältig verschlossen.

Im Gegensatze zu den Eltern sind diese Dinge rein; auf der andern Seite werden ungefähr die gleichen Dinge zu unreinen, wenn sie unter der Wirkung des Elternkomplexes und im gleichen Sinne betrachtet werden.

Aus diesem Verhältnisse zum Elternkomplex entsteht wieder ein Gegensatzpaar.

Der Kampf mit dem Schlafe.

„Die Schlafkrankheit‘‘ des Patienten ist nicht alt, datiert erst seit Winter 1908/09. Aber die Elemente, die sich früher zu einem an- genehmen Erlebnisse, jetzt zu einer unangenehmen Krankheit, einem Kampf gestaltet haben, sind alt. Nachdem das Leiden den Patienten aurch Wochen und Monate belästigt hatte, trat es wieder zurück, um einige Wochen vor dem Beginne der Analyse meuchlings sich wieder einzustellen.

Die Wiederkehr geschah auf merkwürdige Weise. Wir sind zwar | mit dieser seltenen Art der Komplexe, ihren bevorstehenden Besuch oder ihre Rückkehr anzukünden, aus der Psychologie des Unbewußten bereits bekannt.

302 F. Riklin.

Es kam ihm eines Abends plötzlich der Gedanke: Nun, dieses Leiden, diese Angst vor dem Schlafe hast du jetzt, Gott sei Dank, schon lange verloren! Und durch diesen Einfall war er plötzlich wieder mitten in diesem unerwünschten Hexenzauber drin.

Das Warum dieser ‚Wiederkehr ist mir noch unbekannt; vorläufig weiß ich auch noch nicht, wie das erste Auftreten motiviert ist.

„Es bringt mich ganz herunter. Wenn ich mich also abends niedergelegt habe, so senkt sich der Schlaf auf mich hernieder, wie es sich gehört. Dann kommt aber ein Daimonion, das mir eine große Angst vor dem Moment des Einschlaiens einjagt. Also ringe ich ın entsetzlichem Kampfe mit einem Wesen, das ja mein guter Freund sein will, bis er mich schließlich übermannt, überwältigt (man beachte wohl diese bildlichen Ausdrücke), und ich dann bis spät in den Morgen hinein schlafe.

Ich bekomme also Angst vor dem Einschlafen. Nun suche ich Gedanken, die mich gerade beschäftigen, zu verfolgen und auf diese Weise den Schlaf abzuwehren (also wie einen wüsten erotischen Ge- danken? Der Referent), damit er ja nicht kommt. Sobald ich zu unter- liegen scheine, wird schnell ein anderer Gedanke aufgegriffen und ver- folgt. So geht es in einer Wellenbewegung, bald bin ich wach, bald drohe ich zu unterliegen.

Es ist nicht eine gewöhnliche Schlaflosigkeit; im Gegenteile, ich habe Überfluß an Schlafbedürfnis. Ich bin schlaftrunken von !/,9,Uhr an. Beim Abendessen oder beim Nachhausegehen taumle ich schon vor Schlaf.

Wenn ich mich in diesem Dämmerzustande ohne weiteres auf das Sofa niedersinken lasse, schlafe ich sofort ein mit einem herr- lichen Schlafe, wenn ich keine Schlafvorbereitungen vornehme. Mache ich aber die üblichen Manipulationen, kleide ich mich aus und nehme die vielerlei Hantierungen vor, so wird dadurch der Schlaf vollkommen weggescheucht, und- wenn ich mich jetzt ins Bett lege, bin ich wach und es bemächtigt sich meiner das Daimonion und der geschilderte Kampf beginnt.

Ich muß sagen, daß ich schon als kleiner J unge, aber selten aus Neugier, auf den Moment des Einschlafens lauerte ; der Versuch mißlang natürlich; es war aber dann nur die Angst, welche wohl auch der Gesunde bekommt vor diesem seltsamen Phänomen.

Einige Zeit nachdem ich die Masturbation kennen gelernt hatte, da hatte ich jeweilen ein unglaubliches Schlafbedürfnis jeden Abend,

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 803

etwa gegen 6 Uhr, Es war im Zusammenhange mit jenen Turnübungen, wo ıch die Ermüdung wollüstig genoß und wo ich mich nackt auf das Sofa legte, mit gebundenen Füßen. Ich fiel jeweilen einfach auf den Divan hin und hätte man mich nicht geweckt, so hätte ich dort bis zum Morgen weitergeschlafen. Man weckte mich dann, führte mich‘ halbschlafend zu Bette, und ich schlief gleich wieder ganz ein. Mit- unter aber, wenn es eine große Schelte gab wegen meiner Faulheit, wurde ich ganz wach und konnte zuerst nicht schlafen; aber es ging bald; ich hatte damals noch keine Angst vor dem Schlafe. Zu Hause wurde mir dies Verhalten nämlich als Faulheit ausgelegt: Du gerätest ganz dem Vater nach, sagte die Mama und lärmte, weil der Vater ein schläfriger Mensch ist und fast immer die Augen zu hatte.

Dieses Einschlafen, d.h. der Zustand vor dem eigentlichen Schlafe Überwundenwerden war mir immer etwas Herrliches, Also gerade das Gegenteil von jetzt. Es war etwas wie Fieberschauer, aber sehr angenehm.

Diese Müdigkeit ist im Prinzip auch heute da, wenn auch erst etwas später am Abend. Aber jetzt kommt das Daimonion und ich kann nicht mehr die Freuden von früher genießen. An und für sich ist sie mir immer noch wohlig, in ganz elementarer Weise.

Zu Hause war es immer ein ganz weicher Diwan. Aber auch wenn ich jetzt aus Angst vor dem Kampfe das Zubettegehen aufschiebe und z. B. zur Kreuzkirche hinauf spazierte und mich auf einer Bank niederließ, so schlief ich ohne Kampf fest ein und wachte erst auf, wenn um 10, 11 oder 12 Uhr die Turmglocke mich durch ihre vielen Stundenschläge weckte.

Es ist da auch eine gewisse Angst vorhanden vor dem Alleın, und im Dunkelnschlafen. Wenn ich früher etwa die Schlafangst hatte, so bat ich jeweilen Mama, an mein Bett zu sitzen, und wenn ich wußte, daß sie so lange dablieb, schlief ich ruhig und rasch ein.

Der Schlafkampf ist erst aufgetreten, seitdem ich unter fremden Leuten bin; zwischenhinein verschwand er wie gesagt auch wieder; ich bekam heraus, daß es in der Zeit war, wo er energisch auf die Maturität hinarbeiten mußte.“

Es fehlt ihm jemand, der ihn lieb hat,-seit er von zu Hause fort ist! Zu Hause kam das Problem nur selten, und dann rief man eben die Mutter.

Er ist also ein großes Kind geblieben. Er gesteht, daß er eben

304 F. Riklin.

doch gern daheim wäre, trotzdem er angeblich die Eltern nicht anders als den Hund liebt! Und auch den liebt er ja zu streicheln!

Wäre die Mutter da am Bette oder statt ihr jemand anderer, um ihn zu liebkosen, dann wäre es gut.

Er sucht also Heilung in der Übertragung auf die Mutter oder eine Nachfolgerin derselben; solange die Geliebte fehlt, ıst die Krank- heit da.

Die Krankheit ist aber gerade eine Revolution, eine Ablehnung dieser infantilen Übertragung.

Früher ließ er sich gerne vom Schlafe vergewaltigen, mit Wollust. Durch die Masturbation als etwas Aktives wurde anderseits die Wol- lust des Überwältigtwerdens, der Ermüdung als etwas Passives ausgelöst.

Jetzt tritt der Gegensatz auf. Er kämpft gegen die Überwältigung, wie er gegen den Vater, die Elternvergewaltigung kämpft. Aber gerade durch den Kampf wird die Überwältigung ja noch vertieft, ausgebaut.

Er ist das Weib in diesem Kampfe wie dann, wenn er sich die Füße bindet usw.

Der Kampf gegen den Schlaf ist ein Kampf gegen einen Freund, den man doch lieb hat.

Immer wieder sehen wir das Spiel der Gegensatzpaare im gleichen Objekte; wir haben es eben mit einer Zwangsneurose zu tun, wo es am tollsten zugeht, mit dem Zweifel an der Wurzel.

Hinter dem Gedanken des Überwältigtwerdens vom Schlafe ist der Gedanke an dessen Bruder, den Tod. Er hat die Todesangst des neurotischen Weibes.

Es ist Sexualangst, wenn auch das Problem durch eine gewisse Übertragung ins Abstrakte stark intellektualisiert ist. Es steckt auch die Angst des Kindes darin, das sich ohne Mutter fürchtet.

Im Schlafkampfe nimmt er die früheren Scheltszenen der Eltern und dadurch den Kampf gegen dieselben wieder auf. Darum kommt der Kampf nicht, wenn er, wie damals, auf dem Sofa liest, sondern wenn er wieder aufstehen, wach werden, sich auskleiden und ins Bett legen muß.

Das Sofa ist nicht ohne Bedeutung. Da kann er einschlafen, und zwar angekleidet. Früher lag erauch auf dem Sofa, zur Inselzeit, in den masochistischen Phantasien. Damals nackt! Jetzt kommt der Kampf, wenn er ausgezogen schlafen soll, aber im Bett!

Beim Kampfe gegen das Einschlafen hat er Schmerzen im Kreuz

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 805

und in den Knien er hat genau die gleichen Empfindungen, wenn auch schwächer, bei oder nach der Masturbation.

Wenn er masturbiert hat, klagt er am andern Tage über eine Schwäche, die in die Knie verlegt wird. Er fragt, ob er keine Ent- zündung bekomme! Er kümmert sich auch um sein Zyanometer. Das sind die blauen Ringe um die Augen, als Zeichen zunehmender Krank- heit. Man sieht zwar keine. Es steckt da noch ein Stück jenes Aus- spruches vom Vater darin, er leide an einer geheimen, verderblichen Krankheit.

Also sehen wir wieder, wie der Schlafkampl erotisch aufgefaßt wird. Noch mehr: der Patient teilt uns mit, daß es ihm dann sei, wie wenn ihm eine entsetzliche Operation bevorstehen würde, eine Injektion oder ein Katheterismus!!

Früher, zu Hause, wenn er auf dem Sofa einschlief, kam ein wohliges Zittern über ihn. Das hat er auch jetzt wieder, sofern er auf dem Sofa einschläft. Es kam im bekannten merkwürdigen Winter 1903/04.

Im Schlafbedürfnisse ahmt er dem Vater nach, er meint, es ererbt zu haben. Im Kampfe gegen das Einschlafen kämpft er gegen den Vater!

Andere Vorstellungen beim Schlafproblem:

Es ist das schreckliche Unbekannte, in das man hineingestoßen wird. Dies Gefühl kam stärker und sicherer erst im Winter 1907/08 und hängt enge mit dem Ichproblem zusammen.

An solchen Stellen wird, wie Freud sagt, bei der Zwangsneurose am meisten Zweifel angesiedelt.

Das erotische Problem wird, in intellektualisierter Form, an solchen abstrakteren Objekten abgehandelt.

Noch einige Angaben zum Schlafkampie.

Beim Schlafkampfe kommen keine erotischen Phantasien. Wenn Träume und erotische Phantasien kommen, wache der Kranke gleich auf, weil er spüre, daß da der Schlaf eintreten wolle.

Der Schlafkampf werde verschwinden, wenn er z. B. nach Hause, in die Ferien, auf den Fauteuill komme. Wenn er mit den Kleidern gleich aufs Bett liegen könnte, würde er ganz gut schlafen. Wenn er sich aber ausziehen müßte und aufs Sofa legen, würde der Schlaf-

kampf auch da sein.

„Der Schlaf ist der BruderdesTodes. Ich bin wie ein Dachdecker, der stürzt, sich noch anklammern kann, aber vergebens ruft.

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 20

306 F. Riklin.

Ich horchte auch mit Angst auf die Atemzüge des Vaters, in der Furcht, es könnte ihn der Schlag treffen. Wenn ich ihn nicht atmen hörte, mußte ich aufstehen und sehen, ob etwas los sei.

Im Februar 1908 packte mich ein ganz eigenartiger Pessimismus, nachdem ich Nirwana gelesen hatte. Da kam die Wollust des Pessi- mismus über mich, die Freude, mich hineinzufühlen und zu leiden, und da konnte ich gut einschlafen; es war einige Wochen nach dem Beginn des Schlafkampfes. Schopenhauer sagt, der angenehmste Moment sei der des Einschlafens und der unangenehmste der des Erwachens.‘‘

Diese gute Reaktion dauerte leider nur ein Paar Wochen.

Unser Patient beschreibt also in wunderbarer Weise die Be- ziehungen zwischen Schlaf, Tod und Sexualität.

Das Ichrätsel.

Das Ichrätsel steht ın naher Beziehung zum Schlafproblem. Aber es ist weniger leicht zu verstehen, weil es am unvollständigsten analysiert ist, und weil, nachdem die anderen Erscheinungen aufge- klärt waren, Patient dieses Hauptbollwerk seiner Neurose nicht aufgeben wollte, denn sonst hätte er am Ende diese selbst aufgeben müssen. Hier bildete er schließlich den Hauptwiderstand gegen die Analyse aus, natürlich auf dem philosophischen und metaphysischen Gebiete, wo es am schwersten ist, dem Zweifel beizukommen.

Wir haben ein weiteres Beispiel vor uns, daß die Zwangsneuro- tiker es lieben, ihr erotisches Problem und ihre Gegensätze auf Fragen zu verschieben, welche allen Spitzfindigkeiten ausgesetzt sind, wo möglichst viel Unsicheres ist. Außer den metaphysischen werden z. B. gewisse schwierige Probleme der Physik und Chemie zum Tummel- platz der Gegensätze ausgewählt. Einiger Widerstand kam schon bei der Besprechung des Traktates; da wurde ich als Vater schon teil- weise. mit dem Vater identifiziert und es mußte also auch gegen mich gekämpft werden. Es reizte ihn zum Widerstand, als ich das Traktat nicht als vollwertig gelten lassen wollte.

Beim Ichproblem rückte er immer sparsamer mit dem Material heraus, es wollte ihm nichts mehr einfallen, und er suchte sich aus dem Gefechte herauszuziehen, indem er immer anderes vorbrachte und die Besprechung des Ichproblems gegen den Schluß der Zeit hinschob,

die ri für die Analyse bis zu seiner Abreise noch zur Verfügung stand.

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 307

„Das andere mögen Sie meinetwegen alles auseinander lesen, dem Ichproblem werden Sie niemals ganz beikommen, das Ichrätsel werden wir nie lösen.‘‘ So redete er bald, nachdem ich ernsthaft ver- suchte, dieser Festung, die ja auch nicht außer der Welt war, sondern innert der Grenzen der menschlichen Psychologie lag und auf den assoziativen Zufahrtsstraßen erreicht werden mußte, näher zu kommen. |

„Ich vergleiche meinen Geist mit einem Zimmer, darin ist eine Nische, von einem Vorhang bedeckt. Dahinter ist etwas ganz Schreck- liches, Furchtbares, das mich zur Verzweiflung bringt, wenn ich den Blick hinwende (meinem Vergleiche mit dem verschleierten Bild von Sais stimmt er sofort zu).

Aber ich bin in diesem Zimmer eingesperrt, kann nicht heraus, und nun bin ich gewohnt, mit diesem unheimlichen Dinge zu leben; ich kann lange Zeit nicht hinschauen, aber täglich muß ich denken, daß dieses unheimliche Etwas da ist. Manchmal aber treibt es mich doch hin, und dann muß ich die entsetzlichsten Qualen ausstehen, und bin überzeugt, daß ich da wirklich am Überschnappen bin.

Dieses Ichrätsel hat mich schon als kleiner Bub geplagt, aber lange nicht wie heute. Einmal, ich war sicher noch nicht 10 Jahre alt, wußte ich schon nicht wo aus und ein, war verzweifelt, suchte nach Aufklärung bei den Eltern. Aber sie glotzten mich verständnis- los an, als hätte ich chinesisch geredet, und sagten: Na ja, du wirst später mit denkenden Menschen reden, und die werden dich über alles aufklären können u. del.

Die Frage kann ich nicht klären, weil ich sie unmöglich dar- stellen kann.

Ein zweites Bild: Wenn ich noch an den lieben Gott"glauben würde, der jeden Menschen schafft und ihm die Seele einbläst, so müßte ich annehmen, er hätte sich bei meiner Erschaffung geirrt und aus Versehen ein Paar Tropfen falscher Substanz in die Masse fallen lassen, Substanz, die nicht für Menschen bestimmt war, sondern für Engel oder ähnliche Wesen!).

Ich habe eine große Hemmung, anderen Menschen das Ichrätsel mitzuteilen, denn wenn sie es verstehen, müssen sie ja unglücklich werden.

(Das Gleiche sagte er mir beim Vorlesen des Traktates.)

!) Ein Größengedanke. Solche finden sich öfter bei Zwangskranken. 20*

308 F. Riklin.

Der, dem ichs mitteile, wird von demselben Ungeheuer geplagt sein wie ich; lieber will ich es allein tragen und allein daran zugrunde gehen. Es ist das Rätsel aller Rätsel.

Aber ich wäre beruhigt zu erfahren, daß andere Menschen dasselbe haben, daß ich nicht der einzige bin, der das hat.

Ich versuche zu schildern, Sie werden lachen über den Blödsinn.

Also, Sie sehen Ihren Körper, Bauch, Hände, Füße, Arme und Beine, aber die Anschauung ist beschränkt. Wenn Sie die Augen aus- renken, sehen Sie noch Nase, Schulter, Augenbrauen. Aber weiter gehts nicht.‘ (In einem kleinen Anfall von Verzweiflung): „Mir kommt es so fürchterlich, so komisch, so unheimlich, so schrecklich vor, das Verhältnis von mir zur Welt. Ich zur Welt, ich und die Weltmenschen, ich und die Geschöpfe, denen stehe ich gegenüber, ich, ich; ja ich komme einfach nicht weiter.‘ (Ist erregt.)')

„Es müßte notwendig sein, um mich zu verstehen, daß jemand Ähnliches erlebt hätte, und das glaube ich nicht.

!) Ich konnte dem Kranken an einem Beispiele aus meiner frühen Jugend zeigen, daß ich auch ein Ichproblem hatte.

Als ich etwa 5 Jahre alt war der Zeitpunkt läßt sich noch ziemlich genau bestimmen packte mich, ich weiß leider nicht mehr in welchem Zusammen- hange, das Problem vom Ende der Welt. Ich stellte mir die Erde flächenhaft vor, umgeben von Wasser. Aber dies Wasser mußte doch ein Ende haben. Also stellte ich mir vor, es sei von einer undurchsichtigen Bretterwand umgeben. Da mußte ich mich aber weiter fragen, was hinter dieser Wand sei. Wieder Wasser? Ich fand keinen Ausweg und lief in großer Angst weinend zur Mutter und klammerte mich an sie, ohne ihr jedoch sagen zu können, was mich plage.

Da war auch das Problem: Ich und die Welt. Das Weltproblem, die Unsicher- heit über die Welt, löst sich auf durch die Erklärung der Bretterwand; ich fand sie erst zur Zeit, als ich mich mit Psychoanalyse beschäftigte; das Bild, das ich mir als kleiner Knabe gemacht hatte, blieb mir immer in genauer Erinnerung, aber erst jetzt wurde mir plötzlich einmal klar, woher die Bretterwand stammt: In meiner Geburtsstadt war ein großer Weiher, der im Sommer als Badeanstalt diente. An seinem einen Ende war damals eine Mädchenbadeanstalt eingebaut, zu der ein Steg vom Ufer hinführte. Diese Mädehenbadeanstalt war umgeben von einer hohen, undurchsichtigen Bretterwand, mit der meine Bretterwand, welche die Grenze der Welt darstellte, identisch war. Das große Problem reduzierte sich zur wichtigen Frage: Was ist hinter jener Bretterwand? Darum die Angst und die Anklammerung an das Sichere, die geliebte Mutter! Auch eine kleine Regression! Seither habe ich noch andere Ichprobleme kennen gelernt.

Ein Knabe hatte das Problem: Warum bin ich ich und nicht dieser Stein da?

Der Stein lag da, wo der Knabe oft den Mädchen beim Baden zusah und dann weggeschickt wurde. (Beispiel von Jun 8.)

Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 309

Ich kann deswegen nicht heiraten, da immer dieser Daimon als dritter zwischen meiner Frau und mir wäre, und der Frau könnte ich es nicht mitteilen oder nicht klarmachen, da es mir auch nicht klar ist, oder sie würde unglücklich, oder die Kinder könnten es ja von mir erben! Also mache ich es wie ein gewissenhafter Syphilis- kranker, der sich vor dem Verkehr und der Liebe zu Mädchen hüten muß.

Wenn ich am Ichrätsel überschnappe, so werden Sie mich als Geisteskranken mit der Idee finden, ich sei der Weltgeist, in mir manifestiere sich die Gottheit!). Als ich noch ein kleiner Knirps war, hatte ich ein Paar Kameraden, also A und B, und ich war der S. Ich konnte nicht begreifen, warum ich gerade der S war und nicht der A oder B.

Im elften Jahre lehnte ich am Fenster bei Bekannten, ganz nahe bei mir stand ein Mädchen der Familie. Da war es mir entsetzlich, warum ich ich sei, nicht aus mir heraus könne, warum ich nicht das andere sei, sondern ich.

Wenn es nicht bessert, muß ich doch auf die Insel, abgesondert für mich als einsamer Naturmensch !““ (Also: Wenn mein Sexualpro- blem sich nicht löst, muß ich zurück ins Infantile!) |

„ich bin dadurch auch gehindert, mich ganz darüber auszu- sprechen, weil ich fürchte, daß Sie da etwas Irriges aufschnappen, z. B. aus der letzten Bemerkung.

Es packt mich namentlich im Finstern,' im Bette, wenn ich allein bin. Wenn ich nur ein anderes Geschöpf hätte, an das ich mich halten könnte, das mich beruhigen würde. Es ist ähnlich wie beim Schlafproblem.

Das Festhalten aller lieben Sächelchen aus der Kindheit im Museum hängt auch damit zusammen, daß sie aus einer Zeit stammen wo ich noch nicht besessen war vom bösen Geist, wo ich noch kein Ichrätsel hatte.

Ich- und Schlafproblem kombinierten sich, wenn ich an das Hinübergestoßenwerden ins Unbekannte dachte. Das Ichrätsel konnte mich stärker quälen, das Dunkel im ganzen Weltall. Einmal wird ım Weltall doch alles Licht auslöschen.

!) Im Gegensatz zur höchsten Vereinsamung des Introvertierten eine Identifikation mit dem Kosmos, ähnlich dem Paranoiden, über den Honegge am Kongreß in Nürnberg berichtet hat.

310 F. Riklin.

Gestern z. B. hat es mich gepackt, schrecklich, ich hatte weinen mögen, und gerade jetzt packt es mich wieder.‘ (Weint verzweifelt.)

„Letzten Winter, als ich mich mehr und mehr mit Philosophie abgab, las ich Mach und Avenarius. Es ist ganz unheimlich. Es machte mir Angst und bange, wie wenn mir der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Die Unendlichkeitsvorstellungen machten mir bange.

Es ist eben das Unheimliche: Ich hatte niemand mehr: Zuerst der Zusammenbruch der Eltern, dann des lieben Gottes. Dieses Niemandenhaben, auch keinen Gott, bei dem man Trost finden könnte, dieses Trostlose ist schrecklich. Was tauscht man gegen den früheren Glauben ein? Das Ichrätsel ist verbunden mit dem Wachsen über die Eltern, welche die Autorität waren. Durch die sexuelle Aufklärung sanken sie zu Menschen herab, ja darunter. Und dann kam der liebe Gott an die Reihe.

Genau wie es mit dem Ich ist, so läßt sich eine Erweiterung machen zum Wirrätsel. Es ist im Prinzip das gleiche. Das Wirrätsel wird zu einem Heimaträtsel.

Ich versuchte mir Photographien zu verschaffen von mir, wo ich nicht allein war, sondern mit Schulkameraden. Dann wurde es mir etwas klarer, aber nicht ganz. Ich sah, daß ich doch unter den anderen als normaler Mensch figurierte.

Ich dachte mir das Ichrätsel auch im Zusammenhange mit dem Tod, und das waren Gedanken, die mich beim Schlafengehen packten. Wenn es eine Unsterblichkeit gibt, würde ich vielleicht noch im Jen- seits mit meinem merkwürdigen Ich herumgehen; also wäre ich im Jenseits doch unglücklich. Anderseits wie unangenehm, wenn es keine Unsterblichkeit gibt, wenn alles fertig ist.

Dann kam die geschilderte Nirwanazeit, wo es vorübergehend besser war. |

Ich habe Angst vor der Lösung des Ichrätsels, Angst, ich könnte dann sterben oder verrückt werden. Wie beim verschleierten Bild von Sais.

Es schnürt mir die Kehle zu, ich bin daran, in Tränen auszu- brechen.

Es fiel mir als Kind ganz plötzlich ein; ich glaubte noch an den lieben Gott (mit 10 bis 11 Jahren). Zu jener Zeit erhörte er aber noch

meine Gebete wie jene anderen, wo ich ihm in der Schule anflehte, daß ich nicht drankomme.“

Aus der Analyse einer Zwangsneurose, Sll

Im ‚„Ichrätsel‘, an einem abstrakten Problem, kann der Zweitel am besten ‚„angesiedelt‘‘ werden, ist die Unsicherheit am größten. Der Kranke spricht damit aus, daß wir der Welt gegenüber nur sicher sind, wenn es auch in unserer Liebe der Fall ist.

Zum Unterschiede von anderen Fällen konnte ich bei unserem

Kranken keine zweite ‚Religion‘ finden, in welche er sich flüchten kann; er bedauert aber diesen Mangel und die Unsicherheit ist ihm um so beschwerlicher. ' ©) Unser Fall ist in seinem ganzen Wesen bedeutend infantiler als der von Freud in den „Bemerkungen“ dargestellte. Wohl schwankt er auch zwischen den alten Objekten der Übertragung und neuen. Aber diese neuen haben sich noch gar nicht in einer Hauptperson kristallisiert; er hat noch gar keine ernsthaften Versuche gemacht; die Regression ist viel stärker. Gegenwärtig arbeitet er noch am „Traktat“ in neuer Auflage; der Inhalt ist wesentlich milder, er rechnet nicht mehr auf dessen große Macht und Wirkung, die ursprünglich auf ein Aufhören jeder Kinderzeugung zielte. Doch ist es immer mie sein philosophisches Hauptwerk.

ı Er gibt sich durch seine Krankheit Mühe, die Wahl eines neuen Objektes und die Ablösung von den Eltern, aufzuschieben. Einmal sprach er davon, die ganze Krankheit zu opfern, wie er es mit anderen lieben Dingen auch tat oder zu tun versuchte. Er zeigt dadurch, daß er die Neurose mit ihrer reichen intellektuellen Ausarbeitung liebt, sie ist sein Lebenswerk. Er kostet auch ihre Vorteile, wählt sich schöne Aufenthalte, die seinen Phantasien entsprechen, schafft sich aus der Qual Lust usw. Aber eine Unsicherheit hindert ihn wieder an diesem Opfer; er wisse nicht, ob er dann das andere bekomme nämlich ein Weib, das er lieben könne.

In diesem Zweifel gleicht seine Zwangsneurose der Dementia praecox, welche die Übertragung auf neue Objekte überhaupt kaum versucht und gänzlich ins Infantile zurückkehrt. Der Zwangsneurotiker hat aber mehr Rapport zur Wirklichkeit, mehr Objektliebe, indem seine Phantasieelaboration sorgfältiger, darstellbarer, verständlicher ist und durch ihre Intellektualisierung sich charakterisiert.

Ich schließe meine Ausführungen ab mit der Bitte, man möge bei der Unvollkommenheit der Darstellung die Schwierigkeit des Problems und die Unfertigkeit der Analyse berücksichtigen.

Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not’).

Von Dr. C. 6. Jung (Küsnach-Zürich).

Das Buch ist mit ebenso viel Leidenschaft als Intelligenz ge- schrieben. Es spricht von der Frage der Fruchtabtreibung, der Sy- philis, der Familie, vom Kind, von Frauen und Frauenberuf. Sein Motto lautet: ‚‚Die Menschen müssen ihre Sexualität ausleben, sonst verkrüppeln sie.‘ Dem Sinne dieses Satzes entsprechend erhebt Wittels seine Stimme für die Befreiung der Sexualität in weitem Umfang. Er spricht eine Sprache, die man selten hört, die Sprache der schonungslosen, fast fanatischen Wahrhaftigkeit, die unerfreulich in den Ohren klingt, allen Scheinbarkeiten und Kulturlügen die Maske vom Gesichte reißen möchte. Es steht mir nicht an, die ethischen Tendenzen des Verfassers zu beurteilen; die Wissenschaft hat bloß diese Stimme zu hören und schweigend festzustellen, daß, wie immer, auch dieser Rufer nicht allein steht, sondern ein Führer ist für viele, die diesen Weg zu gehen sich anschicken, daß es sich um eine Bewegung handelt, deren Quellen unsichtbar fließen und deren Strömung fast mit jedem Tage höher schwillt. Die Wissenschaft hat den Wahrheits- gehalt des Beweismaterials zu prüfen und zuzuwägen und zu ver- stehen. Das Buch ist Freud gewidmet und basiert in vielem auf der von Freud gegründeten Psychologie, welche in ihrem Kerne die wissen- schaftliche Rationalisierung eben dieser Bewegung unserer Zeit ist. Man verwechsle die beiden Dinge aber nicht miteinander: dem Sozial- psychologen ist und bleibt die Bewegung ein intellektuelles Problem, dem Sozialethiker aber ist sie eine Aufforderung, der Wittels in seiner Art nachkommt, andere versuchen es auf andere Weise. Man höre

Verlag C. W. Stern. Wien und Leipzig, 1909, 207 Seiten.

Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not. 818

sie alle. Nirgends ist so sehr wie hier die Ermahnung am Platze, sich des enthusiastischen Beifalles einerseits zu enthalten und anderseits nicht blindwütig dagegen anzurennen, sondern sich leidenschaftslos klar zu machen, daß das, worüber sich draußen die Menschen streiten, auch ein Kampf in unserm eigenen Innern ist. Denn man muß sich doch endlich die Erkenntnis zu eigen machen, daß die Menschheit nicht eine Anhäufung getrenntester Individualitäten ist, sondern einen so hohen Grad von psychologischer Gemeinschaftlichkeit besitzt, daß das Individuelle daneben bloß wie eine leise Variation erscheint. Wie sollen wir aber gerecht über diese Sache urteilen, wenn wir uns nicht ein- gestehen können, daß es auch unsere Frage ist? Wer dies sich selber bekennen kann, der wird auch bei sich zuerst die Lösung versuchen, und so bahnen sich überhaupt die großen Lösungen an.

Es steckt noch ein zu großes Stück Zirkusschaulust inden Menschen, wenn sie so gar begierig sind, immer gleich wissen und entscheiden zu wollen, wer endgültig Recht oder Unrecht hat. Wenn man die Fun- damente und Hintergründe seines Denkens und Handelns untersuchen gelernt und einen recht tiefen und heilsamen Eindruck davon emp- fangen hat, wieviel unbewußte biologische Zweckdienlichkeit unsere Logik beugt, dann vergeht einem die Lust an Gladiatorenkampf und öffentlicher Disputation, man macht es in und mit sich selber aus. Dabei bewahrt man sich die Perspektive, die unserer Zeit, der ein Nietzsche als bedeutendes Omen voraufging, besonders von Nöten ist. Wittels wird gewiß nicht allein bleiben, er ist nur einer der ersten und einer von vielen, die aus den Schächten dieser wahrhaft biologischen Psychologie Freuds ‚‚ethische‘‘ Folgerungen herauf- bringen werden, vor denen das bisher ‚„‚Gute‘ bis ins Mark erschauern wird. Wie ein witziger Franzose einmal bemerkte, geht es den Moralisten am schlechtesten von allen Erfindern, denn ihre Neuigkeiten können stets nur Immoralitäten sein. Das ist lächerlich und traurig zugleich, denn es zeigt, wie unzeitgemäß unser Moralbegriff geworden ist: es mangelt ihm das Beste, was modernes Denken errungen hat, nämlich das biologische und das historische Bewußtsein. Dieser Mangel an Anpassung muß ihn über kurz oder lang zu Falle bringen, und nichts wird seinen Fall aufhalten. Ich muß hier an ein weises Wort von Anatole France erinnern: ‚Bien que le passe leur montre des droits et des devoirs sans cesse changeants et mouvants, ils se croiraient dupes s’ils prevoyaient que I’humanit£ future se ferait d’autres droits, d’autres devoirs et d’autres dieux. Enfin, ils ont peur de se d&shonorer aux yeux

3l4 ©. @. Jung.

de leurs contemporains en assumant cette horrible immoralite qu’est la morale future. Ce sont des empö&öchements ä rechercher Y’avenir.‘ Hier liegt der Schaden unseres altertümlichen Moralbegriffes: er trübt den Blick für Neuerungen, die, wenn noch so zweckmäßig, doch immer notwendigerweise das Odium der Immoralität mit sich führen. Aber gerade hier sollten unsere Augen hell und weitblickend sein: die Bewegung, von der wir oben sprachen, das Drängen nach Reformation der Sexualmoral, ist keine Erfindung einiger Nachtwandlergehirne, sondern eine Erscheinung, die mit den großen Allüren einer Naturmacht auftritt. Hier frommt kein Argumentieren und Tüfteln über moralische Existenzberechtigung, das Klügste ist immer anzuerkennen und das Beste daraus zu machen. Das fordert rauhe und schmutzige Arbeit. Das Buch von Wittels gibt einen Vorgeschmack von dem Kommenden,

der viele erschrecken und abschrecken wird. Der lange Schatten dieses Schreckens wird natürlich auf die Freudsche Psychologie fallen, der man vorwerfen wird, der Nährboden für alle Unholde zu sein. Gegen diesen Vorwurf möchte ich sie jetzt schon in Schutz nehmen. Unsere

Psychologie ist eine Wissenschaft, der man höchstens vorwerfen kann,

daß sie das Dynamit erfunden hat, mit dem auch der Terrorist arbeitet.

Was der Ethiker, der Praktiker überhaupt damit anfängt, geht uns

nichts an, und wir mischen uns auch nicht darein. Es werden sich viele

Unberufene herzudrängen und die größtmöglichen Tollheiten damit anstellen, auch das kann uns nicht berühren. Unser Ziel ist einzig und allein die wissenschaftliche Erkenntnis, die sich um das Getümmel, das sich um sie erhebt, nicht zu kümmern hat. Sollten dabei Religion und Moral in Stücke gehen, um so schlimmer für sie, wenn sie nicht mehr Haltbarkeit besitzen. Erkenntnis ist auch eine Natur- macht, die mit innerer und unaufhaltsamer Notwendigkeit ihres Weges geht. Auch da gibt es kein Vertuschen und Unterhandeln, sondern nur ein bedingungsloses Annehmen.

Diese Erkenntnis identifiziert sich aber nicht mit den wechselnden Vorschlägen der Praktiker; daher kann sie auch nicht mit moralischem Maßstabe gemessen werden. Man muß dies merkwürdigerweise laut sagen, weil es heute noch Leute mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gibt, die ihre moralischen Bedenklichkeiten sogar auf wissenschaftliche Erkenntnisse ausdehnen. Wie jede rechte Wissenschaft steht auch die Psychoanalyse jenseits aller Moral, sie rationalisiert das Unbewußte und fügt so die vorher autonomen und unbewußten Triebkräfte in die seelische Hierarchie. Der Unterschied von vor und nachher ist der,

Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not. 815

daß der Mensch nun wirklich auch das sein will, was er ıst und nichts mehr der blinden Fügung des Unbewußten überläßt. Der sich sofort erhebende Gegengrund: der Unmöglichkeit, nämlich, daß dann die Welt aus ihren Fugen ginge, ist der Psychoanalyse in erster Linie zu überweisen; sie hat das Wort, aber nur unter vier Augen, denn diese Angst ist eine Individualangst. Genug, das ideale Ziel der Psycho- analyse ist ein Zustand der Seele, wo das Sollen und Müssen durch ein Wollen ersetzt ist, wo man, wie Nietzsche meint, nicht nur Herr über seine Laster, sondern auch über seine Tugenden ist. Insofern die Psychoanalyse also rein rational ist und sie ist es ihrem ganzen Wesen nach —, ist sie weder moralisch noch antimoralisch .und gibt weder Präskriptionen noch sonstige ‚Du sollst“. Das ungeheure Füh- rungsbedürfnis der Masse wird allerdings viele dazu zwingen, den Stand- punkt des Psychoanalytikers aufzugeben und mit ‚„Verschreiben‘ an- zufangen. Der eine wird Moral, der andere „Ausleben‘‘ verschreiben. Beide dienen der Masse und gehorchen den Strömungen, welche die Masse umtreiben. Die Wissenschaft steht darüber und leiht die Macht ihrer Waffen dem Christen sowohl wie dem Antichristen. Wissenschaft ist bekanntlich nicht konfessionell,

Ich habe noch kein Buch über die Sexualfrage gelesen, das mit solcher Härte und Unbarmherzigkeit die heutige Moral zerreißt und trotzdem in den Hauptstücken so wahr ist; eben deshalb verdient Wittels gelesen zu werden, aber auch viele der anderen, die über das-

selbe schreiben, denn nicht das einzelne Buch ist das Wichtige, sondern ihr gemeinsames Problem.

Bericht über die neuere englische und amerika- nische Literatur zur klinischen Psychologie und Psyecehopathologie.

Von Ernest Jones. M. D. (London.) Demonstrator of Psychiatry, University of Toronto, Canada.

(Übersetzt von Dr. W. Stoekmayer, Assistenzarzt der Kgl. Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten, Tübingen.)

I. Einführung. In der klinischen Psychologie und Psychopathologie gab es in den

angelsächsischen Ländern vier getrennte Bewegungen. Die beiden, die ihren Anfang in England nahmen, sind, insofern man den weiteren Fortgang in Betracht zieht, soviel wie tot; die beiden amerikanischen sind auf der Höhe ihrer Wirksamkeit. An der Spitze dieser Bewegungen stehen die Namen von Braid beziehungsweise von F. W. H. Myers, von Morton Prince und von Adolf Meyer. In Verbindung mit Braid muß man die Namen seiner Vorgänger Elliotson und Es- daile besonders erwähnen, mit dem zweiten die von Gurney, Pod- more, William James und Hyslop, mit dem dritten Boris Sidis, Putnam, Coriat, Courtney, Linenthalund Taylor und mit dem vierten August Hoch und Macfie Campbell.

Der ersten dieser Bewegungen, die von 1840 ab datiert werden kann, verdanken wir direkt das Meiste unserer modernen Kenntnisse des Hypnotismus. Braids Werk war die Inspiration für Azam, Broca und Velpeau und indirekt einigermaßen für Li&ba.ult, von dem die Schule von Nancy und sozusagen alle anderen heutigen Schulen desHypnotismusin Europaherstammen. Es ist jedoch wenig zu Braids Werk hinzugefügt worden. Der Hypnotismus wird in England vom Ärztestand noch scheel angesehen und mehr noch in Amerika, obwohl

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literaturusw. 817

es viele Ärzte in ersterem Lande gibt, wie namentlich Milne Bram- well, Lloyd Tuckey, Woods und Kingsbury, und einige im letzteren, wie Quackenbos und andere, die sich seiner Ausübung widmen.

Die zweite Bewegung, die am meisten in den achtziger Jahren zuerst in England und dann in Amerika blühte, brachte eine Menge wertvoller Experimentalarbeiten über posthypnotische Suggestion, Halluzinationen, automatisches Schreiben, Kristalloskopie usw. her- vor. Dies ist so ziemlich alles in den ‚‚Proceedings of the Societies for Psychical Research“ veröffentlicht. Von Anbeginn jedoch wandte man solchen Gegenständen wie Hellsehen, Telepathie, Tischklopfen usw. großes Interesse zu und in den letzten Jahren haben die spiritistischen Gesichtspunkte alle anderen beherrscht. Die ausgesprochene Tendenz der Mitglieder zum Spiritismus bewirkte zu einem großen Teil, daß Ihre Arbeiten über andere Gegenstände in Mißkredit kamen, und ist eine von vielen Ursachen, warum in England die klinische und prak- tische Psychologie noch kühl aufgenommen wird.

Die dritte Bewegung wurde vor ungefähr zwanzig Jahren durch Morton Prince eingeleitet; die Mehrzahl der veröffentlichten Arbeiten ist jedoch weniger als ein halbes Dutzend Jahre alt und erst innerhalb dieser Zeit hat er einige beachtenswerte Anhänger erlangt. Obgleich diese Bewegung viele unabhängige Züge hat, verdankt sie viele ihrer Inspirationen einerseits der experimentellen, nichtspiritistischen Arbeit der zweiten, vorher erwähnten Bewegung und anderseits den Unter- suchungen der Pariser Schule, besonders denen von Pierre Janet.

Die vierte Bewegung ist noch neueren Datums und weist direktere Beziehungen zum Kontinent, besonders zur Freudschen Schule auf. Sie befaßt sich hauptsächlich mit den psychopathologischen Problemen der Psychiatrie.

Der vorliegende Bericht nimmt hauptsächlich auf die Ver- öffentlichungen der letzten drei Jahre Bezug. Eine große Anzahl von Arbeiten, häufig ohne jeden Wert, sind in dieser Zeit erschienen und in dem nachher gegebenen Verzeichnis findet nur ungefähr ein Zehntel der Veröffentlichungen Erwähnung; es ist zu hoffen, daß das Ver- zeichnis alle besseren Arbeiten über den Gegenstand in sich schließt. Viele ausgezeichnete Arbeiten wurden während dieser Zeit von fremden Autoren, insbesondere von Bechterew, Claparöde, Janet, Jung, Pick, Sollier und Soukhanoff, in angelsächsischen Zeitschriften veröffentlicht, jedoch sind diese hier nicht inbegriffen, da sie keiner

318 Ernest Jones.

angelsächsischen Schule entstammen. Arbeiten über den Gegenstand des Hypnotismus, der Sexuologie, der Religions- und der sozialen Psychologie sind ebenfalls ausgeschlossen, um Platz zu sparen. Viele der besten Arbeiten, die irgend über die beiden letzteren Gegenstände gemacht worden sind, waren amerikanisch; es kann auf einen Bericht über die neuesten amerikanischen Arbeiten über Religionspsychologie in der Zeitschrift für Religionspsychologie 1909, Bd. III, H. 3, ver- wiesen werden. Der führende angelsächsiche Autor in der Sexuologie ist Havelock Ellis, dessen Arbeiten in Deutschland besser als sonst irgendwo bekannt sind.

Ein Wort mag über die Haltung gesagt werden, die in angel- sächsischen wissenschaftlichen Kreisen der klinischen Psychologie gegenüber vorherrscht. Dies ist in England und in Amerika ganz ver- schieden. Im ersteren Lande wird der Gegenstand mit kühler Anti- pathie betrachtet und soweit der Verfasser unterrichtet ist, wurde auch nicht eine wissenschaftliche Untersuchung darüber ausgeführt; weniger als ein Zehntel der Arbeiten, auf die hier Bezug genommen ist, wurden in englischen Zeitschriften veröffentlicht. In Amerika anderseits be- steht für diesen Gegenstand ein weitverbreitetes Interesse, obgleich dessen Wert durch die oberflächlichen und unkritischen Ansichten, die, ausgenommen in einem vergleichsweise kleinen Kreise, allgemein vorherrschen, bei weitem das Gleichgewicht gehalten wird. Im ame- rikanischen Ärztestande ist die Bereitwilligkeit, einen psychogenetischen Ursprung gewisser Krankheiten anzunehmen, viel ausgedehnter als im englischen und auch die Laien nehmen in diesem Lande sehr großes Interesse an den Problemen, wie aus der Popularität solcher Bücher wie Addington Bruces ‚The riddle of Personality“, Hudsons „Psychie Phenomena“ und Waldsteins ‚The Subeonscious Self“ usw. augenscheinlich wird.

Wer die Absicht hat, die eine oder andere der Arbeiten, auf die hier verwiesen wird, persönlich zu studieren, sei ausdrücklich daran erinnert, daß, weil der in dieser Übersicht davon gegebene Bericht auf des Autors individuelle Beurteilung gegründet ist, er wohl kaum ganz unpartelisch ist, obwohl der Autor sich soviel wie möglich bestrebt, unparteiisch zu sein. Die Darstellungen werden ferner notwendig unvollständig und gekürzt sein, so daß die. Gefahr, die Ansichten

der betreffenden Autoren zu entstellen, besonders schwer zu ver- meiden ist.

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 319

II. Kasuistik, Symptomatologie, Diagnose und Therapie.

In der Symptomatologie der Hysterie sind über den Gegenstand der Blindheit und anderer Abnormitäten des Sehens wertvolle Beiträge von Baird (5), Diller (40), Gradle (59), Onuf (114) und Parker (116) geliefert worden, über den hysterischer Aifektionen des Gehörs von Holmes (70) und Me. Bride (96), Fälle von hysterischem Mutismus sind von Hudson-Makuen (72), J.K. Mitchell (109) und Oettinger (113) verzeichnet worden und von Aphasie durch Le Kerr (9). Es wird festgestellt, daß Hemianopsie niemals bei Hysterie vorkommt, eine Ansicht, die von Mills (106) ebenfalls unterschrieben wird. Studien über den Ganserschen Symptomenkomplex wurden von Diller und Wright (41), Frost (54) und Ruggles (143) veröffentlicht; der erst- genannte (42) und Woodman (191) haben auch nützliche klinische Erörterungen über hysterische Geistesstörungen beigesteuert. Allge- mein besteht die Ansicht, daß der Gansersche Symptomenkomplex nicht pathognomonisch für Hysterie sei und daß die Hysterie bei Anstalts- fällen vergleichsweise selten gefunden wird. Detaillierte Untersuchungen über den Gegenstand der Hysterie bei Kindern mit vielen erläuternden Fällen wurden von Hecht (63) und Thomas (166) veröffentlicht; er ist von einem rein klinischen Gesichtspunkte behandelt. Hoovers (71) Kennzeichen der hysterischen Paraplegie besteht im Fehlen des normalen Abwärtsdrückens der Ferse, wenn der Kranke das andere Bein vom Bett erhebt. Ich habe einen Fall von Hysterie veröffentlicht (77), der in vier verschiedenen Stadien seiner Entwicklung wahre taktile Aphasie (in Claparödes Sinn), Asymbolie, Tastlähmung und Anästhesie zeigte. Ich habe auch gezeigt (81), daß die gangbare Ansicht, die hysterische Hemiplegie befalle vorzugsweise die linke Seite, allein auf Briquets Meinung gegründet ist; in den seit 1880 veröffentlichten Fällen sind die beiden Seiten mit gleicher Häufigkeit befallen. In den zwei weiteren Abhandlungen (78, 80) wird gezeigt, daß Allochirie ein pathognomonisches Symptom von Hysterie ist; früher ist es mit andern

törungen, die in organischen Krankheiten vorkommen können, ver- mengt worden. Dyschirie ist eine Affektion des ‚„chirognostischen Sinnes“, wovon es drei Formen gibt: 1. Achirie, wobei der Kranke keine Kenntnis von der Seite eines Reizes hat, 2. Allochirie, wobei er ihn auf den genau entsprechenden Punkt auf der entgegengesetzten Seite bezieht, und 3. Synchirie, wobei er ihn auf beide Seiten bezieht.

Deaver (36) und Williams (182) zeigen die Wichtigkeit der psy- chischen Faktoren in Fällen von Magenneurose und Cannon (16)

320 Ernest Jones.

befaßt sich mit dem selben Gegenstande vom Standpunkte des Phy- siologen,aus, indem er sich auf die Arbeiten Pawlows und anderer über psychische Einflüsse in Verbindung mit der Magensekretion bezieht.

‚Weir Mitchell (111) hat einen Fall unter dem Titel ‚„‚Motorische Ataxie‘“ veröffentlicht und Sceripture (152) einen unter dem Titel „Schriftstottern‘‘, die augenscheinlich Beispiele von Angsthysterie sind.

Janets Konzeption der Psychasthenie hat in Amerika großes Ansehen und der nosologische Status dieser Krankheit ist allgemein angenommen. ‚„‚Orthodoxe” Darlegungen über den Gegenstand sind von Blumer (7), Collins (22), Courtney (31) und Donley (49) gegeben worden; von diesen ist Courtneys Beschreibung die voll- ständigste und präziseste. Donley (43, 45) hat einige Fälle von dem veröffentlicht, was Prince 1891 unter dem Ausdruck ‚Assoziations- neurose‘ beschrieb. Damit ist ein Symptomenkomplex gemeint, der in verschiedenen Krankheiten vorkommen kann, wo das Symptom (z. B. Furcht) wieder hervorgerufen wird, so oft der Kranke eine Er- fahrung durchlebt, die mit der Gelegenheit, wobei das Symptom zuerst auftrat, assoziiert ist; zum Beispiel kann ein Kranker, der einmal auf einem Kirchhofe erschreckt worden ist, einen Schreck erleiden, so oft er irgend etwas begegnet, das mit einer Kirche assoziiert ist. Der Kranke ist gewöhnlich davon befreit, wenn er sich vollständig erinnert und über das ursprüngliche Erlebnis redet.

Eine Versammlung der neurologischen Sektion der königlichen Gesellschaft für Medizin in London am 30. Januar 1908, bei der Buz- zard, Collier, Guthrie, Harris, Head und Ormerod sprachen, war einer Diskussion des Tic s gewidmet. Sie folgte den Richtlinien, die von Cruchet, Meige und Feindel gelegt sind und es wurde nichts neues vorgebracht. Prince (125) hat einen schweren Fall von mul- tiplen Tics beschrieben und äußert die Ansicht, daß das Symptom die Manifestation eines dissoziierten Automatismus sei, der der Wirk- samkeit einiger unterbewußter psychischer Vorgänge zuzuschreiben sei; deren Natur konnte er nicht bestimmen.

Spiller (162) bringt einen interessanten Artikel über den Gegen- stand der psychasthenischen Anfälle von dem Typus, der be- sonders von Oppenheim beschrieben wurde, und erörtert die Diagnose zwischen diesen und ‚„narkoleptischen“ Anfällen. Mit Bezug darauf beschrieb ich einen Fall (79), bei dem es durch Erforschung der unter- bewußten, mit dem Anfalle verknüpften Erinnerungen möglich war,

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literaturusw. 321

die Diagnose Hysterie zu stellen; er stellt die ‚massive‘ Zerlegung (Disaggregation) der Hysterie der ‚molekularen‘ Zerlegung der Psych- asthenie gegenüber. Putnam und Waterman (139) haben ebenfalls die Differentialdiagnose zwischen epileptischen und hysterischen An- fällen von einem psychologischen Standpunkt erörtert und Camp (16), Hecht (64) und Taylor (163) haben andere Bedingungen chronischer „Narkolepsie‘‘ beschrieben. Coriat (25, 27) konnte eine Verbindung zwischen „nächtlicher Lähmung“ (Weir Mitchells Symptomenkom- plex) und unterdrückten unbewußten Erinnerungen peinlicher Er- fahrungen verfolgen; er hat fünf Fälle davon beschrieben und bringt gute Gründe dafür vor, es als eine psychische Kundgebung, als einen „wiederauftauchenden psychischen Zustand“ (recurrent mental state) zu betrachten.

Für den Gegenstand mehrfacher Persönlichkeiten wurde in Amerika durch Princes Untersuchung eines Falles dieser Art, der ım Jahre 1906 in sehr ausführlicher Darstellung veröffentlicht wurde (126), großes Interesse erweckt. Er ist einer der bestbeobachteten Fälle der Art, der aufgezeichnet wurde, und ist so wohl bekannt, daß eine Beschreibung davon hier nicht notwendig ist. Das Buch ist rein beschreibenden Charakters und wird im Jahre 1910 von einem andern Band gefolgt werden, worin die theoretischen Gesichtspunkte über den Gegenstand behandelt werden sollen. In einem Buche, auf das sogleich noch einmal hingewiesen werden wird (154), veröffentlichte Sıdis einen Fall von doppelter Persönlichkeit und seither ist eine An- zahl ähnlicher Fälle von Angell (63), Coriat (26), Dewey (39), Foy (63), @aver (56) Gordon (57), Hyslop (73) und anderen verzeichnet worden. Hyslops Fall zeigte eine unterbewußte Erfindung einer Marssprache, ähnlich der von Mlle. Helöne Smith erfundenen, die wahrscheinlich auf die Kenntnis von Flournoys Buch gegründet ist. Aufsätze über Fälle von ambulatorischem Automatismus sind von Courtney (30), Lloyd (95) und Patrick (117) veröffentlicht worden; in der erst erwähnten Arbeit erörtert Courtney die Differentialdiagnose zwischen den verschiedenen Krankheiten, bei denen BIeREL Zustand auftreten kann.

Die Zahl von Arbeiten, die über Psychotherapie veröffentlicht wurden, ist sehr groß und die Qualität vieler davon ist sicherlich gering. Sozusagen alle europäischen Schulen sind in Amerika vertreten. So vertritt Barker (6) Dejerines Methode der Isolierung usw., Jelliffe (75, 76) die „Überredungsmethode“ von Dubois, Williams (176,

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 21

322 Ernest Jones.

187 usw.) die von Babinski usw., Prince und Coriat (132) halten dafür, daß es keinen Unterschied zwischen Überredung und Suggestion gebe. Sie stützen sich bei der Behandlung insbesondere darauf, daß sie den Ursprung des Symptoms, hauptsächlich in der Hypnose, soweit als möglich zurückverfolgen, es seiner unangenehmen Assoziationen entkleiden (Janets Erfindung) und eine neue Gruppe angenehmer Assoziationen substituieren. Der Hypnotismus wird im allgemeinen in Amerika nicht wohlwollend angesehen. Putnam (134, 135) vertritt, was er die ‚„‚Nebengeleise‘“-Methode nennt, vermittels derer das Interesse des Kranken für die Gesundheit und nutzvolle geistige Beschäftigung nachdrücklich erweckt wird. Er hat in dem Allgemeinen Hospital von Massachusetts eine interessante Abteilung für ‚soziale Arbeits-

leistung‘ ins Leben gerufen, so daß die Kranken soweit als möglich

in eine gesündere und anregendere Umgebung gebracht werden können.

Von Putnam (137), Schwab (149) und anderen wird auf die Ver-

bindung der psychotherapeutischen Behandlung mit dem ‚sozialen Bewußtsein‘ Nachdruck gelegt. Eine andere und originellere psycho- therapeutische Methode ist die von Sidis (159) ersonnene und von ıhm „Hypnoidisation‘“ genannte; sie ist von Donley (47) und anderen in umfassender Weise angewandt worden. Sie wird in Verbindung mit den anderen Arbeiten von Sidis im nächsten Abschnitt erörtert werden. Münsterberg (112) hat ein sehr interessantes und brauchbares Buch von allgemeinem Charakter veröffentlicht, erörtert aber im einzelnen keine besonderen Methoden. Am 6. Mai 1909 hielt die amerikanische therapeutische Gesellschaft ein ‚Symposion‘ über Psychotherapie. Die dort gehaltenen Vorträge sind unter dem Titel „Psychotherapie“ in Buchform veröffentlicht worden; dieses begreift neben den vorher aufgezählten Arbeiten 49, 84, 131, 159, 165, 172 eine von Gerrish in sich über den therapeutischen Wert der hypnotischen Suggestion und eine von Putnam über die Beziehung der Charakterbildung zur Psychotherapie.

Die Emmanuel- und andere religiöse Bewegungen, die sich mit Psychotherapie beschäftigen, haben in ärztlichen Kreisen viel Erörterung hervorgerufen; gegen ihre ärztlichen Übergriffe wurde von Collins (23), Farrar (52) undWitmer (190) nachdrücklich Einspruch erhoben. Die Beziehung zwischen religiösen und ärztlichen Bestrebungen ist in dieser Hinsicht von Putnam (138) und anderen abgegrenzt worden. In diesem Zusammenhange mag eine interessante Abhandlung von Waddle (170) über Wunderheilungen erwähnt werden.

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 323

III. Allgemeine Psychopathologie.

Wir können mit einigen der Werke von Morton Prince beginnen, der unstreitig die führende angelsächsiche Autorität in der „abnormen Psychologie“ ist. Sein erstes Buch ‚Die Natur des Geistes und die Automatismen des Menschen“, das im Jahre 1885 veröffentlicht wurde, war dazu bestimmt, eine panpsychische Theorie zu entwickeln. Er hat sein Interesse für ähnliche Probleme beibehalten und sein letztes Werk (130) befaßt sich hauptsächlich mit der Beziehung der bewußten zur unterbewußten Seelentätigkeit und dieser beiden zur unbewußten Gehirntätigkeit. Wie vorher erwähnt wurde, hat er eine sehr große Zahl interessanter Beobachtungen über Fälle von mehrfacher Persön- lichkeit gemacht und er formuliert seine Schlüsse über unterbewußte Prozesse hauptsächlich im Lichte solcher Fälle. Für deren Studium benutzt er direkte Beobachtung, Hypnose, automatisches Schreiben, Kristalloskopie und verschiedene speziell ersonnene Experimental- methoden.

Princes Arbeiten über das Unterbewußte mögen in Ver- bindung mit denen anderer Autoren betrachtet werden; seine An- sichten sind speziell in einer Reihe von Arbeiten über das Unbewußte (130) entwickelt und in einem Berichte über ein „Symposion“ zur Frage des Unterbewußten im Journ. of Abn. Psychol., April und Juni 1907, veröffentlicht. In der Einleitung zu diesem Symposion definiert er die sechs Hauptbedeutungen, in denen der Begriff des Unterbewußten zu verschiedenen Zeiten angewandt wurde: 1. Die Randzone verminderter Aufmerksamkeit, die in irgendeinem gegebenen Augenblicke außerhalb des Brennpunktes des Bewußtseins ist; 2. aktive, dissoziierte Vorstellungen, über diedas Subjekt gar nicht unterrichtet ist; 3. zusammengesetzte Zustände mit Selbstbewußtsein, die vom Haupt- bewußtsein gesondert sind und einen beträchtlichen Teil jedes normalen und abnormen Geistes bilden; 4. alle möglichen Erinnerungen mit Ein- schluß sowohl der aktiven, dissoziierten, in der zweiten Definition er- wähnten Zustände und allerbewußt gewesenen Erfahrungen, die jetzt un- wirksam sind und in einem gegebenen Augenblicke der Wiedererweckung fähig sind odernicht; 5. ein „unter der Schwelle liegendes‘‘ Behältnis, das das Hauptbewußtsein einbegreift, aus dem das persönliche Bewußt- sein als Nebenstrom fließt; 6. die unbewußte Gehirntätigkeit. Die vierte Definition ist von Sidis, die fünfte von F. W. H. Myers an- genommen. In diesem Symposion nennt Münsterberg die dritte, zweite und sechste vorher gegebene Definition resp. die Definition des

21*

324 Ernest Jones.

Laien, des Arztes und des Psychologen; er tritt für die letztgenannte ein und behauptet, daß all die Tatsachen, die zugunsten des Begriffes des Unterbewußten angerufen werden, angemessener und einfacher durch die physiologische Hypothese erklärt würden, Auch Ribot neigt, in einem kurzen Beitrag, zur selben Ansicht. Jastro w scheint, so- wohl in dieser Versammlung als in einem speziell dem Gegenstande ge- widmeten Buche (74), eine ähnliche Stellung einzunehmen, aber infolge der Dunkelheit der Sprache, in der es abgefaßt ist, ist Verfasser nicht in der Lage, seinen Standpunkt zu verstehen und somit darzustellen. Janet beschränkt den Begriff ‚‚Unterbewußt‘‘ auf die zweite vorhin gegebene Bedeutung und betrachtet jede Dissoziation als abnorm. Prince trennt die gewöhnlich ‚„‚unterbewußt“ genannten Erscheinungen, z. B. wie der Begriff von Sidis gebraucht wırd und auch die in Freuds Unbewußtem einbegriffenen, scharf in zwei fundamental verschiedene Gruppen, die er „Mitbewußt‘ und „Unbewußt“ nennt. Mitbewußte Vorstellungen sind gleichbedeutend mit Janets Unterbewußtem und sind psychische Zustände, die von der Hauptpersönlichkeit ab- getrennt sind. Das Subjekt ist oft von ihrer Gegenwart nicht unter- richtet, aber manchmal, wie in dem Fall einer Obsession, ist es dies. So ist für Prince nicht Mangel an Unterrichtetsein das wahre Kri- terium von Mitbewußtsein, sondern Unabhängigkeit und automatische Tätigkeit, die vom Subjekt nicht beherrscht werden kann. Und weiter: „Das Bewußtsein kann so rudimentär sein, daß es nichts von Gewahr- werden, von einem Selbst, von Intellekt oder Willen enthält.“ Er hält, namentlich gegen Münsterberg und Ribot, die psychische Natur dieser Zustände kräftig fest und stützt diese Ansicht durch eine Reihe meist überzeugender Argumente und geistreicher Experimente (129, 130, 133 und J. Ab. P. Juni 1907). Unbewußte Prozesse anderseits sind nicht psychisch, sondern physiologisch. Sie werden in zwei Untergruppen geteilt: a) zerebrale Nervenorganisationen und Rückstände der Funktionstätigkeit, die als Bewußtsein kund wird; b) spinale und Ganglienorganisationen und Rückstände der Funktions- tätigkeit, die als physiologisches Gedächtnis kund wird; es kann jedoch keine scharfe Linie zwischen diesen beiden gezogen werden. „Rein physiologische Prozesse können sich in Akten von ebenso intelligentem Charakter kundtun, wie ihn die bewußten Prozesse aufweisen.“ Prince gebraucht den Ausdruck ‚„Schlafendes Bewußtsein“ (Dormant con- Sclousness), um jene physiologischen Rückstände zu bezeichnen, in welche psychische Komplexe übergehen, wenn sie außerhalb der Seele

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur nsw. 929

sind. „Das Unbewußte, mehr als das Bewußte, ist es, was der wichtige Faktor in der Persönlichkeit und der Intelligenz ist. Das Unbewußte ist der Speicher unserer Seele. Das Geheimnis unserer Stimmungen, unserer Antriebe, unserer Intelligenz, unserer Errungenschaften, unserer Haltungen, unserer Urteile und unserer Fähigkeiten muß in seinen Dispositionen, die es aufbewahrt hat, gefunden werden.“ Diese schlafen- den Erinnerungen können der willkürlichen Reproduktion fähig sein oder nicht; wenn nicht, können sie fähig sein, durch die Anwendung einer speziellen Technik (Hypnotismus usw.) zurückgerufen zu werden. Dagegen „können dissoziierte schlafende Komplexe, die durch keine Mittel zur bewußten Erinnerung erweckt werden können, als eine un- abhängige, mitbewußte Vorstellung zur Wirksamkeit erweckt werden.“ „Wenn der Begriff Unbewußt nicht auf Mitbewußt beschränkt wird, entsteht große Verwirrung und eben dieser Verwirrung unterliegt die Psychopathologie der Freudschen und der Zürcher Schule“. Prince kritisiert Freud und Jung lebhaft, daß sie den Unterschied zwischen mitbewußter und unbewußter Wirksamkeit so ‚unbestimmt‘ ließen: „Freuds Theorien werden durch Mängel sehr beeinträchtigt, die eine Folge seiner gänzlichen Vernachlässigung und Unvertrautheit mit den Methoden und den Ergebnissen der experimentellen Psychologie zu sein scheinen. Wenn wir gesunde Grundsätze aufstellen sollen, denen die Mechanismen der Psyche unterliegen, so müssen wir die Ergebnisse aller Untersuchungsmethoden, der experimentellen so gut wie der klinischen, in Wechselbeziehung bringen und die Resultate, die von allen kompetenten Forschern erhalten wurden, gehörig in Erwägung ziehen.‘ Seiner Kritik, in der er hauptsächlich Jung zitiert, ist nicht leicht zu folgen, besonders da er den Begriff „Komplex“ in einem spe- ziellen und ihm zugehörigen Sinne gebraucht. Die Hauptkritik scheint sich gegen Freuds Konzeption der Wirksamkeit des Unbewußten zu richten. Prince behauptet, daß Freuds Tatsachen ohne Anrufen dieser Konzeption auf zweierlei Weise erklärt werden können. Einer- seits kann die Reizung eines unbewußten Komplexes (z. B. im Asso- ziationsversuche) diesen veranlassen, als eine mitbewußte Vorstellung zu wirken, in welchem Falle keine unbewußte und rein physiologische Gehirntätigkeit vorliegt, wie er meint, daß Freud es glaube. Anderseits kann ein gegebener Komplex, der gereizt worden ist, zerspalten worden sein, so daß der Affekt sekundär an eine indifferente Vorstellung ange- heftetworden ist. So kann eingegebenesReizworteinen peinlichen Affekt wachrufen, nicht weil der zugrunde liegende Komplex zu wirksamer

326 Ernest Jones.

Tätigkeit gereizt wurde, sondern weil der Affekt, der ursprünglich mit dem Komplex verknüpft war, sekundär an eine assoziierte Vorstellung geheftet wurde, die durch das Reizwort dargestellt wird; in diesem Falle tritt der zugrunde liegende Komplex nicht in Wirksamkeit und ist an der Äußerung des Affektes nicht beteiligt, obgleich er historisch an dessen Genese beteiligt gewesen sein kann.

Prince scheint die Tätigkeit mitbewußter Vorstellungen nur als bewiesen anzunehmen, wenn diese experimentell demonstriert werden können und er hat eine große Zahl von Beispielen veröffentlicht, bei denen er dies mit Hilfe des automatischen Schreibens, der Kristallo- skopie und anderer Methoden getan hat. Die Grundsätze der Disso- ziation und des Automatismus dissozüterter Vorstellungen sind die beiden Dinge, worauf er in der Psychopathologie (124) das meiste Gewicht legt. Er hat jedoch keinen der aktuellen Mechanismen erklärt, durch deren Vermittlung diese dissozilerten Vorstellungen zur Wirk- samkeit kommen. Über den Gegenstand der vielfachen Persönlichkeit hat er jüngst neben dem vorher erwähnten Buche (126) eine sehr interessante Abhandlung (128) geschrieben, die die gewöhnliche Hysterie mit diesem Zustande vergleicht. Er betrachtet alle Fälle von Hysterie als eine forme fruste der vielfachen Persönlichkeit und betont, daß in keinem der beiden Fälle irgendeine Amnesie notwendig vorliegt. Die Abhandlung enthält eine tabellarische Übersicht von zwanzig der best verzeichneten Fälle vielfacher Persönlichkeit und es wird gezeigt, daß man in einigen davon (z. B. Felida X) mit Unrecht von dem neu- auftretenden Zustand dachte, er bedeute die Entwicklung einer neuen, höheren Persönlichkeit, während er in Wirklichkeit die Synthese zweier Hälften der Persönlichkeit bedeutete, von denen die eine vorher seit der Kindheit im Zustande der Untätigkeit gewesen wart).

Das erste Buch von Sidis, Die Psychologie der Suggestion, 1897, befaßte sich ebenfalls mit der Frage des Unterbewußten, was er in dem vierten früher gegebenen Sinne definiert; es enthält viele originelle und interessante Gedanken, die jedoch hier nicht in Betracht gezogen werden können. Sein zweites Buch, Psychopathologische Unter- suchungen über psychische Dissoziation, 1902, ist ein Bericht über experimentelle Beobachtungen an Amnesien, Anästhesien, „rückläufige psychische Zustände“, „Disaggregation“, motorischen Automatismen usw.; es wird gezeigt, daß die Anfälle bei psychischer Epilepsie die

‘) Vgl. Jung, Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene. Mutze, Leipzig, 1902.

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 327

Äußerung dissoziüerter psychischer Zustände sind. Sidis hat jüngst eine Reihe umfassender Aufsätze über die Gegenstände der Wahr- nehmung und Halluzination beigesteuert. In einem davon (157) behauptet er, daß Vorstellungs- und Wahrnehmungsprozesse in ihrer Natur von Grund aus verschieden seien; eine Wahrnehmung unter- scheidet sich von einem Bilde darin, daß sie Intensität hat, das Merk- mal der Gegenständlichkeit trägt, unmittelbare Erfahrung ist und darin, daß ihre Reproduktion unabhängig vom Willen ist. Er teilt die Elemente einer Wahrnehmung in zwei, primäre und sekundäre, Sinnes- elemente; die ersteren entstehen aus der direkten Reizung eines Sinnes- organs von der Außenseite her, die letzteren aus der Ausstrahlung dieses physiologischen Prozesses auf andere Sinnesflächen. So sieht man, wenn man einen Tisch anblickt, die Farbe, Form usw. (primäre Sinneselemente), aber man sieht auch die Festigkeit, das Gewicht usw. (sekundäre Sinneselemente). In dieser Arbeit und in einer vorher- gehenden (153) behauptet er, daß Halluzinationen rein sinnlich in ıhrer Natur seien und sich von normalen Wahrnehmungen darin unter- scheiden, daß die primären Sinneselemente dissozilert seien und so vom Bewußtsein nicht erfaßt würden, während die sekudären Sinnes- elemente die Halluzination bilden; alle Halluzinationen sind die Folge peripherer Reize, die mit der Tendenz zu psychischer Dissoziation auf ein Subjekt wirken. Die Halluzinationen, die in der Hypnose sug- geriert werden, sind anderseits nach Sidis (155) von echten Hallu- zinationen gänzlich verschieden; sie sind keine Wahrnehmungen, sondern Bilder und sollten richtiger Täuschungen genannt werden. In einer andern Reihe von Aufsätzen (158) handelt Sidis über den Gegenstand des Schlafes. Unter Einteilung der Erklärungen in phy- siologische, pathologische, histologische, psychologische und biologische tritt er nachdrücklich für die letztgenannte ein und stimmt in der Be- trachtung des Schlafes als eines aktiven Schutzinstinktes mit Cla pa- r&de überein. Er berichtet über eine Anzahl von Experimenten, die an niederen Tieren (Fröschen, Meerschweinchen und Hunden) und an Kindern mit Hilfe von monotoner Reizung, Bewegungsbeschränkung und Fernhaltung äußerer Eindrücke ausgeführt wurden. Er sieht in einem gewissen halbwachen Zustande, den er ‚„hypnoidal‘“ nennt, den anfänglichen biologischen Zustand, aus dem heraus sich beides, Schlaf und Hypnose, später entwickelt hat. Der Hypnoidalzustand, der von Bremauds Faszinationszustand und Forels Hypo- taxie nicht verschieden zu sein scheint, liegt zwischen dem wachen

328 Ernest Jones.

Zustand einerseits und der Hypnose anderseits in der Mitte. Er wird durch die Anwendung monotoner Reizung (z. B. den Schall eines Metronoms) herbeigeführt, während das Versuchsobjekt in einem Zustande der Erschlaffung ist und ist ein unstabiler, fließender Zustand. Im Hypnoidalzustand entscheidet es sich, ob Schlaf oder Hypnose folgen wird. Der Schlaf unterscheidet sich von der Hypnose wesentlich darin, daß die psychomotorischen Schwellen höher als im Normalzustande sind (d. h. psychomotorische Tätigkeiten sprechen auf Reize weniger an), während sie in der Hypnose niedriger sind; in dem Hypnoidalzustand tritt eine Wiederverteilung der Schwellen ein.

Die jüngste Arbeit von Sidis über Psychopathologie ist in seinem dritten Buche (154) enthalten und in einer Reihe von Aufsätzen, die „Studien über Psychopathologie‘ (156) betitelt sind. Er gebraucht eine sehr spezielle Sprache in der Erklärung davon, wie „schwindende Momente‘, „rückläufige psychomotorische Zustände“, ,Moment- bewußtsein“ und bezieht sich auf mehrere verschiedene Zustände wie hypnoid, hypnoidisch, hypnoidal, hypnagogisch, hypnoleptisch, hypna- pagogisch, hypnonergisch usw. Das Buch enthält eine wertvolle Samm- lung von Beispielen mehrfacher Persönlichkeit und schließt neben an- deren, persönlich beobachteten einen Bericht des berühmten Falles Hanna ein. Dies war eine Kranke mit tiefer und totaler retrograder Amnesie, sogar für die Bedeutung alltäglicher Gegenstände wie Nah- rungsmittel und Kleidung, und Sidis gibt einen interessanten Bericht über die Ordnung, in der die wieder zum Leben erweckten Erinnerungen aufleuchteten und stufenweise zusammengefügt wurden. Dazu fügt er eine Anzahl von Betrachtungen über die theoretischen Ansichten über die Beschaffenheit und die verschiedenen Arten der abnormen psychischen Zustände. Sidis hat eine große Erfahrung im Studium psychischer Amnesien, Anästhesien, Synthesen und anderer Typen von Dissoziation. Dissozüerte psychische Tätigkeiten begreifen für ihn einen großen Teil der Psychopathologie in sich, aber in der Betrachtung der Genese davon gibt er sich mit solchen Faktoren wie psychisches Trauma, Affekt, Eindruck usw. zufrieden; die Wunschseite der Phäno- mene ist kaum in Betracht gezogen. In ähnlicher Weise hat er keinen der Mechanismen aufgedeckt, durch die diese dissoziierten Tätigkeiten sich äußern. Rückläufige motorische Zustände ist der Name, den er den Symptomen der Zwangsneurose und der psychischen Epilepsie gibt; diese führt er auf die Äußerungen unterbewußter Tätigkeiten

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 829

zurück (er gebraucht ‚„unterbewußt‘“ ungefähr im selben Sinne wie Freuds Unbewußtes).

Sıdis legt der Anwendung des Hypnoidalzustandes große thera- peutische Wichtigkeit bei (154, 156, 159). In diesem Zustand erhält der Kranke zu unterbewußten Erinnerungen Zugang, die auf andere Weise schwierig zu erreichen sind, aber Sidis behauptet, daß das bloße Bewußtmachen davon an sich unwirksam sei. Die Wirksamkeit des Hypnoidalzustandes liegt vielmehr in der dadurch ermöglichten Ent- bindung einer Fülle potentieller unterbewußter Energie; diese ent- bundene Energie bewerkstelligt eine Synthese der vorher dissoziierten psychischen Zustände, die nun an die Oberfläche kommen!).

In einer Arbeit, die gemeinsam mit Prince und Linenthal geschrieben ist (161), behandelt Sidis die Pathologie der Hysterie ım Licht eines gegebenen Falles. Es wird, mit Janets Methoden, ge- zeigt, daß die hysterische Anästhesie in Wirklichkeit nur eine psychische Anästhesie ist und daß unterbewußt eine Hyperästhesie vorliegt. Halb epileptiforme Anfälle wurden in der Hypnose auf ihr erstes Auftreten bei Gelegenheit eines schweren Schrecks zurückverfolgt, obwohl keine Erklärung darüber gegeben wird, warum dieses besondere Symptom daraus gefolgt haben sollte. Wenn der Kranke sich zu erinnern fähig war, daß er in den Anfällen die schreckhafte Erfahrung wieder durch- lebte, hörten sie auf. Man kommt zum Schlusse, daß hysterische Sym- ptome die Äußerung der automatischen Tätigkeit einer unterbewußten Gedankengruppe sind, wobei in diesem Falle die Dissoziation durch den Schreck bewerkstelligt worden ist. „Dissoziation und Automatismus sind die zwei grundlegenden Vorgänge bei der Hysterie.“

Coriat (24, 28) berichtet über mehrere Fälle, bei denen er durch experimentelle Methoden imstande gewesen ist, die Erinnerungen, die beı alkoholischer Amnesie und unter anderen Bedingungen verloren gegangen waren, wieder zu bringen; bei der Erörterung des Mechanismus der Amnesie zieht er den Prozeß der Verdrängung nicht in Betracht. Verrall (169) hat einen ausgezeichneten Bericht über automatisches Schreiben, das sich in ihr selbst entwickelt hatte, gegeben. In einer Anzahl von Aufsätzen (80, 86, 89) erörtere ich die Pathologie der Dyschirie im allgemeinen und der Allochirie im besonderen. Bei der gewöhnlichen Form der hysterischen Anästhesie werden nur die neu eintreffenden Empfindungen dissoziert, bei der selteneren Form (De-

!) Vgl. die Arbeit von Bezzola, die in diesem Bande des Jahrbuches

referiert ist.

330 Ernest Jones.

personalisation) kommt eine Amnesie für die früheren Erinnerungen an den fraglichen Körperteil dazu. Wenn die letzteren und nicht die ersteren dissoziiert sind, ein seltenes Vorkommnis, das ich ‚„paradoxen Typus von Spaltung‘ nenne, so entsteht Dyschirie, zuerst in ihrer einfachsten Form, der Achirie. Empfindungen, die durch Reizung eines solchen Teiles wachgerufen werden, haben sechs charakteristische Merkmale, die ich unter den Begriff „‚phriktopathisch‘ gruppiere (83). Allochirie ist ein sekundäres Ergebnis; es wird eine teleologische Hypo- these aufgestellt, die ihr Vorkommen als eine irrtümliche Assoziation erklärt, die der Funktion dient, die verlorenen Körpererinnerungen wieder zu befähigen, vom Bewußtsein erfaßt zu werden. Es wird über eine detaillierte Untersuchung zweier Fälle berichtet (86), von der anzunehmen ist, daß sie Janets ‚„Bildhypothese“ der Allochirie widerlegt.

Mehrere Autoren haben die Pathologie der Hysterie erörtert. Woodman (191) erklärt Janets Ansichten im Lichte von sechsund- zwandzig persönlich verzeichneten Fällen. Williams (175, 176, 179, 180, 183, 184, 187, 189) ist ein eifriger Anhänger von Babinskis An- sichten und hat sie in einer Anzahl kurzer Aufsätze erklärt. Mills (108) tritt für viele von Babinskis Ansichten ein, die er als sehr fruchtbar betrachtet, denkt aber nicht, daß sie Janets Dissoziationstheorie wider- sprechen. Er hält dafür, daß physisches Trauma und Gemütserregung so gut wie Suggestion wirksam sind und glaubt, daß vasomotorische Symptome aus der Hysterie hervorgehen können, wie es Edgeworth tut (51). Dercum (37) bestreitet Babinskis Ansichten durchaus und erklärt die Hysterie auf seine eigene hier nicht näher zu behandelnde Weise. Dana (34) betrachtet die hysterischen Symptome als Anzeichen einer „Abnutzung der psychischen Maschinerie, eine Folge einiger Stoffwechselzelldegenerationen, die durch einen teratologischen Detekt hervorgebracht werden.‘ Savill (147), der in London die führende Autorität auf dem Gebiete der Psychoneurosen ist, hält daran fest, daß die Hysterie eine Krankheit des sympathischen Nervensystems sei(!}}).

Zu einer neuen Klassifikation der Psychoneurosen sind mehrere Versuche gemacht worden. Dana (33) beschränkt den Aus- druck Hysterie auf die schweren Fälle mit ausgesprochenen körper- lichen Symptomen und teilt die Psychoneurosen ein in 1. Neurasthenie,

2. abortive Fälle der größeren Psychosen (z. B. manisch-depressives

Irresein), 3. Phrenasthenie, die einschließt a) die große Hysterie,

!) Das Ausrufungszeichen ist Anmerkung der Redaktion.

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 3931

b) hypochondrische Psychasthenie (gewöhnlich als Hysterie diagno- stiziert), c) obsessive Psychasthenie. Dercum (37) teilt sie in 1. Neur- asthenie, 2. neurasthenoide Zustände, 3. symptomatische Neur- asthenie, 4. Hysterie, 5. Hypochondrie. Walton (171) gruppiert alle Fälle von Tic, Hypochondrie, Neurasthenie, kleiner Hysterie, folie du doute und milden manisch-depressiven Richtungen unter den Begriff „obsessive Psychose‘, indem er das Obsessionsmerkmal als das zugrunde liegende auifaßt.

Auf die psychische Seite der Neurasthenie wird ak ge- legt von Donley (44), Drummond (49), Lane (91), J. K. Mitchell (110) und anderen; Lane zieht in Betracht, daß irgendeine depressive Gemütsbewegung und nicht, Überarbeitung die Ursache der Neur- asthenie sei. Savill (145) schreibt die Neurasthenie Toxinen zu, die von den Zähnen und den Eingeweiden absorbiert wurden (!)!). Courtney (31) betrachtet die Psychasthenie als eine forme fruste von petit mal(!)!) nahe verwandt der Epilepsie. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß auf die sexuelle Genese von keinem Autor Bezug genommen wird. Booth (8) behauptet, daß der Coitus interruptus eine wichtige Ursache der Psychoneurosen sei, aber er zeichnet kein klares Bild von den resultierenden Symptomen.

Die erste von Adolf Meyers Arbeiten, auf die verwiesen ist (99), ist ein langes und sympathisch gehaltenes Referat über Bleulers Affektivität, Suggestibilität und Paranoia; er tritt einer irgend über- dogmatischen Trennung der affektiven und intellektuellen Funktionen entgegen. In dieser wie in seinen anderen Arbeiten benützt Meyer seinen Einfluß kräftig und nachhaltig zur Unterstützung der Wichtig- keit des psychogenetischen Gesichtspunktes. Zwei Umstände jedoch machen es schwierig, über seine Arbeiten zu referieren oder eine richtige Würdigung ihrer Bedeutung zu geben: erstens, weil er seinen Einfluß hauptsächlich im persönlichen Lehren oder in Diskussionen bei Versammlungen ausgeübt hat, und zweitens, weil seine Veröffent- liehungen über den Gegenstand keine Einzelarbeiten in sich begreifen, sondern entweder in Bemerkungen über verschiedene deutsche Arbeiten in der Form eines Referates zusammengefaßt sind oder in abgekürzten Berichten von Vorträgen, die er auf Versammlungen hielt. Seine Arbeiten sind in ihrem Charakter sehr allgemein und befassen sich nicht technisch mit konkreten Mechanismen der Psychogenese. Wer also nur von seinen Publikationen wüßte, wäre einer Unterschätzung der Wichtigkeit seines Einflusses ausgesetzt. Die Hauptsätze, die er ent-

332 Ernest Jones.

wickelt, sagen: daß es von größter Bedeutung ist, einen allgemein biologischen Standpunkt, besonders im Gegensatze zu dem histologischen, anzunehmen und abnormePhänomene als verschiedene Formen der Reaktion auf die Umgebung zu beurteilen. Indem er von der Dementia praecox spricht, sagt er: ‚„„Die Symptome erscheinen als vollkommen natürliche Folgen nicht von abstrakten und ganz unbewiesenen annehmbar gemachten Autointoxikationen oder nur durch Fragmente histologischer Kenntnis, sondern von Funktionsgewohnheiten und psychischer Tätigkeit, die zum Teil eine Aussicht auf Korrektur offenlassen. Das allgemeine Prinzip ist, daß viele Individuen nicht imstande sind, auf unbegrenzte Elastizität im gewöhnlichen Gebrauche gewisser Gewohnheiten der Ausgleichung zu rechnen; diese Instinkte werden durch andauernde falsche Anwendung untergraben und die feine Balance der psychischen Ausgleichung und ihres materiellen Substrates muß in umfassender Weise von einer Aufrechterhaltung eines gesunden Instinktes und Reaktionstypus abhängen. Zuerst besteht vielleicht nur ein Übermaß stellvertretender Reaktionen, wie sie auch beim Normalen vorkommen, ein Ausweichen, zerstreutes und verwirrtes Hinweggehen über die Schwierigkeiten, Geheimtuerei, anstatt einer freien Ventilation und Korrektur durch Anschluß an die Tätigkeiten des Normalen eine Ge- wohnheit von sich selbst entschuldigender Sorglosigkeit und Mangel an Bestimmtheit durch hypochondrische Klagen über oder Bekritteln an anderen, oder die Gewohnheit, über Schwierigkeiten durch phan- tastische Gedanken, oder bloßes Beten oder Nachsinnen oder andere Hilfsmittel hinwegzukommen, die in der Regel allmählich über ein individuelles Mißgeschick hinweghelfen, usw.‘ Er stimmt in den Schlüssen mit Bleuler überein (105), der sich, wie er sagt, in der Be- trachtung der Paralyse als des obligaten Paradigmas der Psychosen mit Kräpelin einverstanden erklärt; dieÄtiologie derDementia praecox faßt er als einen Konflikt der Instinkte und Gewohnheiten zusammen. Er legt in der Psychopathologie besonderes Gewicht auf ‚„abnorme Wege in der Befassung mit den Verhältnissen des Lebens und auf die Tendenz zu falschen Ausgleichungen‘“ und beschreibt (105) sechs Reaktionstypen von Störung: 1. Die Reaktionen organischer Störungen, 2. delirante Zustände mit traumähnlichen, phanta- stischen Erlebnissen, Halluzinationen, besonders des Gesichts, mit mangelhafter Orientierung, 3. die wesentlich affektiven Reaktionen, 4. paranoische Entwicklungen, in sechs Graden, 5. substitutive

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 9939

Störungen vom Typus der Hysterie und Psychasthenie, 6. Deiekt- und Entartungstypen. |

Macfie Campbell, ein Assistent Meyers, hat Meyers An- sichten über die Dementia praecox in einer sehr klaren Arbeit (15) dar- gestellt und gibt einen Bericht über fünf Fälle; die Psychose ist ‚‚der Höhepunkt einer langanhaltenden Periode von ungesunden biologischen Ausgleichungen bei Individuen, die konstitutionell geneigt sind, ihren Schwierigkeiten in einer inadäquaten Weise zu begegnen.“ August Hoch (67, 68) legt ebenfalls großes Gewicht auf die Psychogenese in den Psychosen; zur Dementia praecox (69) teilt er mit, daß er in 50°), der Fälle ein klares Hervortreten einer besonderen ‚Abgesperrtheit‘ in den persönlichen Reaktionen vor dem Ausbruche der Krankheit gefunden habe. Ricksher (141) hat Sterns Aussagemethoden bei Dementia praecox angewandt und findet, daß die Fähigkeit, die Reize zu reproduzieren, direkt von der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, abhängt.

Campbell (15), Donley (46), Hart (62), Meyer (99, 103, 104, 105) und Putnam (136) behandeln die Beziehung ‚philosophischer Konzeptionen zur Psychiatrie. Meyer (104) definiert die Seele als ‚ein zureichend organisiertes Leben, das in Tätigkeit ist“. Harts Arbeit ist besonders klar und eindringend. Er entwickelt den Standpunkt, der von Ostwald, Mach und besonders Karl Pearson vertreten wird, und unterscheidet klar zwischen den empirischen Konzeptionen des wissenschaftlichen Idealismus und den absoluten Ansichten ver- schiedener metaphysischer Schulen, Seine Bemerkungen über die praktische Anwendung dieser Prinzipien auf die Forschungsprobleme in der Psychiatrie und seine Kritik der materialistischen Ansichten, die in psychiatrischen Kreisen im Umlaufe sind, verdienen besonders gelesen zu werden,

IV. Psychoanalyse.

In der englischen Literatur habe ich nur eine Erwähnung von Freuds Arbeiten und keine von denen Jungs finden können; in Amerika anderseits ist eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten über den. Gegenstand erschienen. Die Psychoanalyse wird in den meisten Arbeiten über Psychotherapie erörtert, obwohl sie in zwei neuen, ausführlichen Referaten über den Gegenstand, von Mills (106) und Münsterberg (112), nicht erwähnt wird. Die Arbeiten können in drei Gruppen geteilt werden, je nachdem sie Freuds Ansichten unterstützen, oder bei der

334 Ernest Jones.

eingenommenen Haltung ihr Urteil aufschieben oder indifferent sind oder ihnen entgegenstehen.

Zur ersten dieser Gruppen gehören A. A. Brill und Verfasser. Vier Arbeiten, die Freuds Ansichten erklären, sind veröffentlicht worden, eine von Brill (12) und drei vom Verfasser (84, 88, 90); sie enthalten nichts, was den Lesern des Jahrbuches nicht vertraut wäre. In einer Arbeit über die Psychopathologie des Alltagslebens (11) ver- zeichnet Brill eine interessante Sammlung von einigen zwanzig Bei- spielen, die Freudsche Prinzipien erläutern. Eines davon möge an- geführt sein: Während Brill an einen Kranken dachte, für den er sich sehr interessiert und auf dessen Fall er einen großen Teil seiner Zeit ver- wandt hatte, fand er sich nicht imstande, sich an des Kranken Namen zu erinnern und er beschloß, eine Selbstanalyse zu machen. Der Fall war ungewöhnlich und nachdem er sich sehr dabei angestrengt hatte, schrieb er für die Veröffentlichung einen Bericht davon. Gerade als dieser fertig war, teilte ihm sein Chef mit, daß er selbst den Fall bei einer Versammlung öffentlich bekannt zu machen wünsche, was er zu Brills großem Verdrusse tat; der Chef war jedoch im letzten Augen- blick verhindert, den Vortrag persönlich zu halten. In einer fünf- stündigen Analyse füllte Brill über zwei Dutzend Seiten mit der Auf- zeichnung der freien Assoziationen, die ihm, jedoch zuerst vergebens, kamen. Er bemerkte dann, daß zwei Gedanken, die anscheinend nicht mit dem Gegenstande verknüpft waren, ihm immer wiederkamen. Der erste, der ihm achtundzwanzigmal öfteralsirgendein anderer wieder- kam, war eine lebhafte Erinnerung einer aktuellen Szene, in der sein Chef auf ein Kaninchen (,‚rabbit‘‘) geschossen, es aber gefehlt hatte. Während er über diese Erinnerung nachdachte, tauchte der Namen des Kranken, der gesucht wurde, plötzlich auf; er war Lapin (Kanin- chen). Die Szene hatte das Mißlingen seines Chefs beim ‚‚Schießen des Kaninchens“ symbolisch ausgedrückt. Der andere Gedanke, der immer wiederkam, war der Name eines andern Kranken Appen- zeller, der an derselben Krankheit wie der erste litt und der erste Teil von dessen Namen phonetisch nahe an das französische Wort Lapin erinnert. In einem kurzen Vortrage (82), der auf dem Salzburger Kon- gresse (1908)!) gehalten wurde, gibt Verfasser einen Bericht über die Mechanismen der Rationalisierung und der ‚Ausflucht‘“‘, wodurch eine Person eine plausible Erklärung für eine gegebene Meinung oder Tätigkeit erfindet, die in Wirklichkeit durch irgendeinen unbewußten

!) Private Zusammenkunft der Anhänger der Freudschen Lehre.

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 339

Vorgang determiniert wurde. Über vier Fälle sind psychoanalytische Berichte veröffentlicht worden, zwei von Brill (9, 10) und zwei vom Verfasser (85, 87). Brills Fälle waren solche von Dementia praecox, die im Burghölzli untersucht worden waren; die anderen zwei waren resp. Hysterie mit vollständigem Verluste der persönlichen Erinnerungen und manisch-depressives Irresein. Aus einleuchtenden Gründen ist es unmöglich, sie hier zu beschreiben.

_ In’die zweite Gruppe können fünf Arbeiten gerechnet werden. Diese begreifen einen kurzen Bericht von Collins (21) über psycho- analytische Behandlung in sich, worin keine Meinung über ihre Vor- züge ausgedrückt ist, einen allgemeinen Bericht über Komplexe von White (173), eine Arbeit von Peterson (122), worin eine Seite für die Beschreibung von Freuds Ansichten über Psychoanalyse, Träume, Geistesstörung und Alltagsleben gegeben ist, und zwei Arbeiten von Putnam (135) beziehungsweise von Linenthal und Taylor (94), worin ein Bericht über Versuche, die Psychoanalyse anzuwenden, ge- geben wird. Die letzteren zwei Arbeiten sympathisieren im ganzen und es werden mehrere Fälle verzeichnet, in denen jedoch die Psychoanalyse von einer sehr elementaren Art ist.

Die dritte Gruppe ist die größte. Die Berichte, die über die Psycho- analyse gegeben werden, sind sehr kurz, nehmen gewöhnlich weniger als eine Seite ein und sind oft entstellt, wie z. B. in Collins Arbeit (21), wo gesagt wird, Freud (dort durchweg Freund genannt) stütze sich auf den Hypnotismus, oder in der Scotts (150), wo gesagt wird, daß ‚‚die normale Reaktion einer Gemütsbewegung in willkürliche Abwehr- bewegungen konvertiert sei, die dann noch als Ties vorhanden seien“, Die gegnerischen Kritiken sind selten in persönlichem Tone geschrieben und sind offensichtlich auf Unwissenheit über den Gegenstand ge- gründet. Princes Kritik der Ansichten Freuds über das Unbewußte sind früher erwähnt worden; er bestreitet (131), daß die therapeutischen Erfolge der Psychoanalyse dem Bewußtmachen unterdrückter psychi- scher Prozesse zu verdanken seien, denn ‚‚wenn auch nichts dazu getan wäre, würde der Kranke sie doch nicht ertragen und sie wieder ausstoßen“. Die Erfolge sind der allgemeinen Re-Edukation, der Ein- führung neuer Ideen und Gefühle in die Komplexe zu verdanken. Pierce Clark (19) sagt: „Freuds Methode ist von großem Vorteil bei Hysterischen, aber sie ist bei den allgemeinen Störungen der klei- neren Neurosen nicht ausgedehnt verwendbar, bis: die sexuelle Idee eliminiert ist.“ Allen (1) faßt in genau denselben Worten zusammen,

336 Ernest Jones.

die offensichtlich von Clark entlehnt sind; bei der Beschreibung der Methode erklärt er, ‚‚der Arzt sollte ein Mann von Moralität, gleichwohl (sic) ein Mann von Welt sein“. Courtney (32) sagt, Freud habe eine idee fixe über den Gegenstand der Sexualität; er fügt hinzu: ‚Die Theorie paßt nur auf einen gewissen ungesunden Typus, bei dem irgend- ein ungewöhnliches Ereignis in der Sexualsphäre zu Hysterie führen kann. Es gibt äußerst wenig Fälle, bei denen nicht Erziehung und Umgebung, verbunden mit des Individuums eigener Kraft der Hemmung, einen vor den Gefahren schützen, die die „Entäußerung‘“ des Instinktes in einigen seiner Formen begleiten können.‘ Edes (50) sagt: „Freuds Methode führe einen Zustand vertrauender Zuversicht herbei, der durch lange fortgesetztes und sorgfältiges Fragen hervorgerufen werde.

Dieses weitläufige Fragen hat die fast sichere Folge, Vorstellungen

von eben der Art einzupflanzen und lebendig zu machen, von denen es

wünschenswert ist, sie los zu werden.‘ Schwab (149) sagt, die Freud-

sche Behandlung sei nutzlos, weil es zweifelhaft sei, ob es so etwas wie unterbewußte Tätigkeit gebe. Die ungereimtesten Kritiken sind jedoch die von Dercum (38), Savill (147) und Scott (150).

Jungs Arbeiten sind in Amerika weiterhin bekannt als die Freuds und allgemeiner akzeptiert; es findet sich sozusagen keine Gegenkritik. Unter den günstigen Referaten darüber mögen erwähnt sein die von Meyer (Psychol. Bull. 1905, p. 241; 1906, p. 275; 1907, p. 196; 1908, p. 273), Kirby (do. 1907, p. 197; 1908, p. 270), Hoch (J. Ab. P. Juni 1906, p. 95), Coriat (do. Juni 1908, p. 137), Karpas (do. Dez. 1908, p. 366), Hart (Journ. of Ment. Sc. 1908). Die Arbeiten von Bleuler, Riklin, Wehrlin und Binswanger sind hier ebenfalls inbegriffen. Demonstrationen und Erläuterungen seiner Assoziations- methode sind veröffentlicht worden von Bailey (4), Henke und Eddy (65), Seripture (151), Town (168) und Yerkes und Berry (191), die alle seine Resultate und Schlüsse bestätigen. Peterson (119, 120) hat, ın beiden unabhängig und in Verbindung mit Scripture (123) Erläuterungen zur psychogalvanischen Methode gegeben. Prince und Peterson (129, 133) haben diese Methode angewandt, um die Existenz mitbewußter Vorstellungen zu beweisen. Sidisund Kalmus (160) haben in zwei Arbeiten, die sich anfänglich nicht mit psycho- gischen Problemen befaßten, einen Bericht über Experimente gegeben, die nach ihrer Behauptung zeigen, daß der psycho-galvanische Reflex nicht die Folge irgendeiner Änderung im Körperwiderstand ist, sondern

von unabhängigen Strömen, die durch die affektive Störung entstehen;

Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 397

Prince (130) akzeptiert ihre Resultate. Coriat (29) findet, daß die affektiven Störungen bei der Assoziationstätigkeit leichter durch ein Anwachsen der Pulsfrequenz entdeckt würden, dieam besten beobachtet würde, während der Kranke im Hypnoidalzustande sei.

Im ganzen ist die Freudsche Bewegung in Amerika in einem hoffnungsvollen Stadium. Mehrere hervorragende Autoritäten haben Freuds Ansichten sozusagen in ihrer Gesamtheit akzeptiert, obwohl sie bis jetzt noch keine Arbeiten in diesem Sinne publiziert haben; unter diesen mögen erwähnt sein Stanley Hall (Präsident der Clark University), Hart (Long Grove Asylum, London), Adolf Meyer (Pro- fessor der Psychiatrie, Johns Hopkins University), Putnam (Professor der Neurologie, Harvard University) und August Hoch (Direktor des pathologischen Institutes, New York). Zwei Ereignisse des ver- sangenen Halbjahres werden in dieser Richtung hoffentlich beitragen, nämlich die Vorlesungen, die Freud und Jung an der Clark Uni- versity, Worcester, Mass., hielten und die Veröffentlichung einiger gesammelter Schriften Freuds und von Jungs Psychologie der Dementia praecox, in Übersetzungen von Brill. Es ist daher jetzt schon zu erwarten, daß das nächste Jahr einen beträchtlichen Fort- schritt in der Bewegung bringen wird.

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Wegen des Raumes ist von folgenden Abkürzungen Gebrauch ge- macht worden: '£5 A. J. I. = American Journal of Insanity. A. J.M. $.—= The American Journal ofthe Medical Sciences. Bost. J.= The Boston Medical and Surgical . Journal. B. M. J. = British Medical Journal. Disc. = Discussion. J. A. M. A. = The Journal of the American Medical Association. J. Ab. P. = Journal of Abnormal Psychology. J. N. M. D. = Journal of Nervous and Mental Disease. L. = Lancet. N.Y.M. J. = New York Medical Journal.

Über den gegenwärtigen Stand der Freudschen Psychologie in Rußland.

Von J. Neiditsch (Berlin).

Die russische Fachliteratur hat sich bis vor kurzem mit der von Freud inaugurierten Psychologie gar nicht beschäftigt. Erst 1908 fing man an, das Interesse diesen neuen Forschungen zuzuwenden. Schon vor einiger Zeit ist die kleine Ausgabe der Traumdeutung, die Freudsche Schrift über den ‚Traum‘, ins Russische übersetzt worden. Als einer der ersten hat Dr. Ossipow von der Moskauer psychiatrischen Universitätsklinik eine ausführliche Berichterstattung über die Freud- schen Forschungen veröffentlicht unter dem Titel: ‚Die psychologischen und psychopathologischen Anschauungen von $. Freud in der deutschen Literatur des Jahres 1907.“ Darin finden sich Referate über die wich- tigsten Arbeiten Freuds mit Randbemerkungen versehen. Mehreres davon ist in sehr zustimmendem Tone gehalten. Aus dem kritischen Teile und aus den Schlußfolgerungen gewinnt man aber den Eindruck, daß der Autor einigen fundamentalen Punkten der Freudschen Lehre noch nicht voll beistimmen kann, so äußert er sich z. B. folgendermaßen: „F. hat auch eine besondere Theorie des Sexualgefühles aufgestellt. . Ich habe dieser Theorie nicht soviel Aufmerksamkeit geschenkt, weil die Freudschen Ansichten nicht viel verlieren, auch wenn man seine Überzeugung über die Allmächtigkeit der Sexualität nicht teilt.“

In einem sehr ausführlich und anerkennend gehaltenen Artikel über ‚Die Psychologie der Komplexe und des Assoziationsexperimentes in den Arbeiten der Züricher Klinik“ kommt Dr. Ossipo w zum Schlusse, daß die von Freud beeinflußte, rein psychologische Richtung der Zü- richer Schule eine notwendige Ergänzung bilde zu den Hauptmethoden psychiatrischer Forschung, der anatomischen und klinisch-nosologischen.

Selbstverständlich macht ein Kritiker auch energische Opposition gegen die Freudsche Sexualtheorie, indem er dieselben Einwände

348 J. Neiditsch.

vorbringt, die in der deutschen Literatur schon reichlich niedergelegt sind. Auch der Ton der Kritik ist der übliche.

Eine Rezension über ‚Die diagnostischen Assoziationsstudien von Jung‘ veranlaßte Dr. A. Bernstein, Privatdozent der Psychiatrie in Moskau, sich über seine Stellung zu Freud zu äußern: ‚‚Durch seine Assoziationsstudien hat Jung die Frage des unbewußten Seelenlebens auf experimentellen Boden gestellt. Ich muß hinzufügen, daß die Ex- perimente der Züricher Schule der Lehre Freuds über Hysterie und Zwangsneurose noch mehr Überzeugung verleihen, jener Lehre, welche noch immer mit dem Skeptizismus der meisten Psychiater zu kämpfen hat. Jung ist ein feuriger Anhänger Freuds, und ich glaube, daß seine Experimente und Beobachtungen ihm dazu auch das volle Recht geben.“

In einem andern Artikel „Über Form und Inhalt psychischer Störungen“ kommt Bernstein wieder auf Freud zu sprechen: ‚Es ist das Verdienst von Freud, uns den Weg gezeigt zu haben zum Ver- ständnisse der menschlichen Psyche. Die Psychoanalyse deckt die Ursache verschiedener psychopathologischer Symptome auf und er- öffnet so den Weg zu einer rationellen symptomatischen Psychotherapie, welche die Stelle solcher empirischer Panazeen wie die Hypnose, die Suggestion einnehmen wird. Die Erfolge der psychoanalytischen Therapie bei Hysterie, Phobie und Zwangsneurose sind ja zur Genüge bekannt.“

In zustimmender Weise äußert sich Dr. Pownizki (Petersburg) über Stekels Buch ‚Nervöse Angstzustände“. Er sagt: „St.s Buch ist eine sehr schöne Demonstration von klinischen Fällen, die nach der Methode Breuer-Freud behandelt worden sind. St.s Erfahrungen stimmen mit den unsrigen überein und verdienen die größte Aufmerk- samkeit der Psychopathologie.“ Pownizki selbst hat sechs Fälle von Hysterie und Zwangsneurose mit Erfolg behandelt. Die Fälle sind bis jetzt aber nur in einer vorläufigen Mitteilung kurz dargestellt worden und sollen später ausführlich veröffentlicht werden.

Die obigen Mitteilungen erwähnen so ziemlich alles, was bis dahin (Mitte 1909) über Freudsche Psychologie in Rußland publiziert wurde. Im allgemeinen steht die russische Fachliteratur der Sache noch recht teilnahmslos und fremd gegenüber, wenn schon vielerorts von Einzelnen viel darüber diskutiert wird. Daß aber das Interesse mächtig zu wachsen beginnt, zeigt die von der Moskauer Neuropatho- logisch-psychiatrischen Gesellschaft gestellte Preisa ufgabe: ‚Die Psychoanalyse und ihre Bedeutung für die Nervenkrankheiten.“

Die Freudsehen Lehren in Italien. Von Dr. Roberto 6. Assagioli (Florenz).

Merkwürdigerweise haben die Freudschen Lehren in Italien noch kein großes Interesse erregt, obgleich meines Erachtens der italienische Geist, dank seiner Lebhaftigkeit und Feinheit, den scharf- sinnigen Denkoperationen der Psychoanalyse zugänglich sein sollte. Die Ursachen solcher Vernachlässigung lassen sich jedoch aus der gegen- wärtigen Lage der psychiatrischen Forschungsweise in Italien begreifen.

Man kann sagen, daß im großen und ganzen die italienischen Forscher auf diesem Gebiete in zwei Hauptgruppen zerfallen. Die erste folgt einer Richtung, welche man als klinische bezeichnen kann und die sich mit der Symptomatologie und Klassifikation der Psy- chosen befaßt. Die andere verfolgt im Gegenteile die anatomische Richtung und beschäftigt sich hauptsächlich mit histologischen und biochemischen Fragen. So kommt es, daß die eigentliche psycho- pathologische Forschung einer ziemlichen Vernachlässigung anheim- gefallen ist, bis auf einige spezielle Gebiete, wie die Mediumnität und geistige Abnormitäten bei Kindern; letzteres wegen seines besonderen praktischen Interesses.

In den letzten drei Jahren jedoch sind zwei ziemlich eingehende Studien über die Freudschen Lehren erschienen, welche hoffen lassen, daß diese Forschungen in Italien einer ernsten und unpartelischen Be- urteilung unterzogen werden, so daß man ihre Ergebnisse benutzen kann, ohne deshalb sich einer voreiligen und gefährlichen Begeisterung hinzugeben und auch ohne ihnen die Feindseligkeit, das Vorurteil und die leidenschaftlichen, verständnislosen Kritiken entgegenzubringen, welche, besonders in Deutschland, dem Ernste und dem Fortschritte der psychopathologischen Forschung Abbruch getan haben.

390 Roberto G. Assagioli.

Der erste italienische Versuch über die Freudsche Lehre wurde von Dr. Luigi Baronecini veröffentlicht in der Rivista di psico- logia applicata (B. IV, 1908. Nr. 3), unter dem Titel: „Il fonda- mento e ilmeccanesimo della psico-analisi“ (Grundlage und Mechanismus der Psychoanalyse). Baroncini gibt in erster Linie eine Übersicht über die Hauptpunkte der Freudschen Ideen, wobei er jedoch haupt- sächlich jene der ersten Periode in Betracht zieht. Dann folgt eine Zusammenstellung der von Jung in seiner ‚„‚Psychologie der Dementia praecox“ geäußerten Ansichten und zum Schluß einige Notizen über die Technik der Psychoanalyse. Die angefügten kritischen Betrach- tungen Baroncinis sind zwar kurz, aber treffend und den besprochenen Lehren entschieden zustimmend, wie aus folgender Stelle erhellt: „Eine Kritik dieser verschiedenen wichtigen psychologischen Auf- fassungen zu liefern bietet keine Schwierigkeit, wenn man sich gegen den einen oder anderen einzeln genommenen Punkt wendet, wenn man die geringfügigen Widersprüche in den Details, welche nicht zu leugnen sind, hervorhebt, und damit die ganze Theorie über den Haufen zu werfen glaubt. Aber dergleichen Kritiken kommen den Erfindern selbst nicht unerwartet; sie wissen, daß sie nichts Definitives hervor- gebracht haben, sie glauben nicht, das ganze Gebiet erschöpft, alle Zweifel und alle Schwierigkeiten beseitigt zu haben.“

„Der eigentliche Hauptpunkt der Freudschen Untersuchungen besteht inder neuen Methode, welche Freud für das Studium der psy- chischen Phänomene ausgedacht hat, und welche in seinen Händen und denen Jungs eine reiche Ernte glänzender Erfolge ergeben hat. Willman also diese psychologische Auffassung vernichten, so muß erst der Beweis erbracht werden, daß die psychoanalytische Methode auf falscher Grundlage ruht und deshalb kein Zutrauen verdient, oder aber daß die von ihr gelieferten Ergebnisse in keinerlei Weise mit den bisherigen Erfahrungen der Psychopathologie in Einklang zu bringen sind. In jedem Falle soll man”selbst prüfen, beobachten und experimentieren in der von Freud angegebenen Richtung und mit seinen Mitteln. Aber den verdrängten Komplexen ihren Wert abzusprechen, nur weil sie zu anthropomorph aufgefaßt werden, oder weil sie zu mechanisch wirken, oder weil man die Methode ihrer Auffindung für nicht beweis- kräftig (insofern alle von ihr ans Licht geförderten Phänomene nur ein Produkt der Suggestion und der Erwartung sein sollen) und über- dies für unmoralisch hält dies alles behaupten wollen ohne vorher experimentell geprüft zu haben, scheint uns mit wissenschaftlicher

Die Freudschen Lehren in Italien. 351

Strenge unvereinbar und ungerecht gegen die Urheber jener kühnen Auffassung, der sie seit so viel Jahren all ihren Scharfsinn und ihre Arbeit weihen.“

Ein weiterer Autor, der sich mit der Freudschen Theorie be- schäftigt hat, ist Dr. Gustavo Modena. Er hat zuerst eine kurze Übersicht derselben im Giornale di psichiatria elinica etecnica manicomiale (1907, Nr. 4, S. 759) und dann später in der Rivista sperimentale di freniatria (B. XXXIV, 1908, Nr. 3—4) eine Abhandlung veröffentlicht unter dem Titel: ‚„Psicopatologia ed etio- logia dei fenomeni psiconeurotici (Contributo alla dottrina di S. Freud)“.

Der Verfasser hebt die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der Freudschen Untersuchungenhervor. Er teiltdie Arbeiten derFr eud- schen Psychologie in drei Hauptgruppen: In der ersten behandelt er „Die Arten und Erscheinungen der Hysterie im Lichte der Ergebnisse der Psychoanalyse“. In der zweiten ‚Die sexuelle Frage und der Einfluß der Sexualität in der Ätiologie der psychoneurotischen Erscheinungen“, wobei er eine weitläufige Zusammenfassung der ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ gibt. In der dritten beschreibt er ‚Die psycho- analytische Methode und Therapie.“ Darauf folgt eine Zusammen- stellung der verschiedenen Ansichten über die Freudschen Ideen, der zustimmenden sowohl als absprechenden, wobei er sich mißbilligend über die Weise äußert, in welcher die Diskussion geführt wurde. „Wenn wir die ausgedehnte Literatur über diesen Gegenstand überblicken, (schreibt er), so finden wir, daß sich die heftige Polemik zwischen einer hartnäckigen Opposition und einer blinden Hingebung an die Lehren hin und her bewegt. Für die letztere ist jeder Ausspruch ein Dogma, für die erstere ist jeder Schluß falsch und unhaltbar. Einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Aber eine Lehre wird nicht von der Kritik und der Antikritik gestürzt oder bewiesen; nur fortgesetzte Beobach- tungen und der unparteiische Austausch von Erfahrungen und Ideen können die Meinungsunterschiede beseitigen, Zweifel und Unsicher- heiten tilgen und Fehler und falsche Schlüsse aufdecken.“

Modena fügt eine Reihe von kritischen Bemerkungen bei und liefert auch einige bestätigende Beiträge.

Was die bekanntlich so oft beanstandete libidinöse Bedeutung des „Ludelns“ (Lullen) betrifft, bemerkt er: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Gewohnheit mit angenehmen Empfindungen verbun- den ist, weil sie zu den Mitteln gehört, die von den Ammen angewandt werden, um die Kinder zu beruhigen. Daß sie mit erotischen Empfin-

992 Roberto @. Assagioli.

dungen zusammenhängt, wird von der Tatsache bestätigt, daß viele Kinder gleichzeitig mit dem Ludeln am Finger oder am Arme die Sexualorgane berühren. Ich selbst habe zwei solche. Fälle beobachtet, und einer meiner Kollegen, ein tüchtiger Kinderarzt, teilte mir mit, daß er in seiner langen Erfahrung mehrere Male Gelegenheit hatte, dieses Phänomen zu beobachten.“ |

Modena stimmt auch dem Begriffe der Verdrängung bei: „Eine genaue psychologische Analyse der Kranken, auch wenn sie den von Freud gegebenen Vorschriften der Psychoanalyse nicht folgt, genügt oft, um im Hintergrunde des neurotischen Zustandes die Abwehr- tendenz eines Komplexes bloßzulegen, welcher als Trauma gewirkt hat und zu einem augenscheinlichen psychischen Konflikte Anlaß gibt. Letzterer offenbart sich in psychischen Erscheinungen bei der Zwangs- neurose oder mittels der Konversion in körperlichen Symptomen, wie zum Beispiel in der Hysterie.‘

Was die zwei Krankheitsgruppen anbelangt, welche Freud als Angstneurosen und Psychoneurosen unterscheidet, sagt Modena, daß das von Freud für diese Klassifikation gewählte ätiologische Kriterium noch nicht hinreichend sicher ist, aber fügt hinzu: ‚Die Erfahrung bestätigt, daß diese von Freud beschriebenen Formen der Angstneu- rosen bestehen ; und die Literatur über dieselben liefert viele und wichtige Beiträge. Bei der Untersuchung der Psychoneurosen vom klinischen Standpunkte aus werden gleichfalls viele Berührungspunkte und Analogien zwischen Hysterie und Zwangsvorstellungen bemerkbar, welche Freuds Ideen teilweise rechtfertigen.‘“. Weitere Auseinander- setzungen widmet Modena dem Problem der biochemischen Grundlage der Sexualität, anschließend an Freuds Äußerungen über den Sexual- stoffwechsel. In Anbetracht der Tatsache, daß hierüber (d. h. über die „„Neurosenchemie‘‘) faktisch so gut wie nichts bekannt ist, ver- zichten wir auf ein ausführliches Referat der Modenaschen Ansichten. Wir verweisen dafür auf das Original.

Wir wollen hinzufügen, daß Modena die italienische Über- setzung der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ und verschiedene kleine Berichte für die Rivista sperimentale Freniatria vorbereitet.

Professor Sancte de Sanetis (Rom) hat in den Folia Neuro- bologioa; (B. II. 6. 8. 673) ein Referat in deutscher Sprache über Baroneinis Schrift gebracht, in welchem er die Gelegenheit benutzte,

Die Freudschen Lehren in Italien. 353

seine eigene Meinung über die Freudsche Lehre folgendermaßen zu äußern:

„Meinerseits schätze ich seit langem das Talent Sigmund Freuds, mit dem ich öfter Briefwechsel pflog, und von Jung, den ich persönlich kenne, kann ich sagen, daß er äußerst gewissenhaft ist und mit bewundernswürdigem Enthusiasmus arbeitet. Man kann daher nicht ironisch oder gleichgültig dem gegenüberstehen, was Freud mit Jung auf dem Gebiete der auf die Geistespathologie angewandten Psychologie geschaffen haben und schaffen. Die Neigung, dem Ur- sprunge der psychopathologischen Erscheinungen näher zu treten, zeugt sicher von einem großen Scharfsinne. Ziehe ich ferner meine persönliche Erfahrung heran, so kann ich behaupten, daß, richtig ge- handhabt, die angeführten Methoden große Vorteile für die Erkenntnis der Psyche des Individuums und für die Ermittlung des Ursprungs der psychopathologischen Erscheinungen und der anormalen Merk- male bieten. Nur muß man sich an die Tatsachen halten und in einen unnützen Teleologismus zu verfallen vermeiden. Es scheint mir außer allem Zweifel zu stehen, daß viele psychopathologische Erscheinungen ihren logischen und psychologischen Ursprung nicht unter der Schwelle des Bewußtseins haben, sondern daß sie einfach auf physiologischer Grundlage stehen, indem sie plötzlich durch Unterbrechung von inter- zerebralen Beziehungen und durch Entstehung von automatischen Bewegungen oder Taten verursacht werden, die mit dem früheren Seelenleben der betreffenden Individuen gar nichts zu tun haben.

Was die Methode der Psychoanalyse und der Assoziationen betrifft, so hat mich die persönliche Erfahrung folgendes gelehrt:

1. Bei der Untersuchung der Individuen mit den genannten Methoden kann man in ihnen nichts Neues, nicht schon im Bewußtsein Vorhandenes [und somit durch das freiwillige Geständnis der Indi- viduen zu Erfahrendes] auffinden.

2. Zuweilen findet man tatsächlich unter der Schwelle des Be- wußtseins Vorstellungsgruppen und Gefühle, die dem Bewußtseinsinhalt fremd sind; aber die Gegenwart dieser Vorstellungen und Gefühle kann meistens durchaus nicht die krankhaften oder anormalen Erscheinungen der Untersuchten erklären, und es führt nur in einer kleinen Minderzahl der Fälle die Erforschung des Unterbewußtseins zu der Auffindung der Ursache der psychopathologischen Erscheinung.

Es folgt daraus, daß es unzulässig wäre, eine Lehre der Hysterie einzig auf die Ergebnisse der Psychoanalyse und der Assoziations-

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II, 23

354 Roberto G. Assagioli.

methode zu gründen. In der Tat hat Freud nach Beobachtung einer größeren Zahl von Patienten seine Schlüsse allmählich verändern müssen. Und so ist der Umstand beachtenswert, daß diese Veränderung der Freudschen Lehre in einer immer weniger restriktiven Deutung der Erscheinungen besteht. Vorläufig bleibt in der Freudschen Lehre die Bedeutung der Sexualität bei der Entstehung der Hysterie und die Tatsache, daß diese im präpuberalen Leben ihren Ursprung hat. Diese zwei ätiologischen Tatsachen können im allgemeinen angenommen werden. Es bleibt aber meiner Ansicht nach noch die Art und Weise unaufgeklärt, wie die hysterischen Erscheinungen ausbrechen.““

Ohne die Behauptungen de Sanctis im einzelnen bestreiten zu wollen, erlaube ich mir zu bemerken, daß aller Wahrscheinlichkeit nach der Grund seiner so wenig befriedigenden Resultate mit der psy- choanalytischen Methode in dem Mangel an Geduld und Ausdauer gesucht werden muß. Überhäuft mit vielerlei Arbeiten und Interessen hat de Sanctis sich die speziellen Anforderungen nicht vergegen- wärtigt, welche die Technik der Psychoanalyse stellt, und hat die mühe- volle Arbeit zu bald aufgegeben, um positive Ergebnisse verzeichnen zu können.

Diese Bemerkung soll die Verdienste, die sich de Sanctis um die Förderung der psychologischen Forschung in Italien erworben hat, nicht bemängeln.

Prof. Bianchi (Neapel) hat sich, meines Wissens, in seinen Schriften nur ein einziges Mal über die Freudschen Ideen geäußert, dann aber in höchst bestimmter Weise. Denn in seinem Lehrbuch der Psychiatrie (S. 532) bespricht er das Verhältnis zwischen Sexualität und Hysterie und fügt hinzu: ‚„... in dieser Beziehung bin ich nicht nur geneigt den Ideen Freuds über die Wichtigkeit der ins Unbewußte übergegangenen sexuellen Bilder für die Ent- stehung der Hysterie beizupflichten, sondern ich hege gar keinen Zweifel darüber.“

Der Verfasser dieses Referates hat bis jetzt nur eine Schrift veröffentlicht, in welcher die in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‘“ enthaltenen Ideen zusammengefaßt und einer kurzen Kritik unterzogen worden sind, und weiter einen Bericht über die II. Psychoanalytische Vereinigung in Nürnberg. Seine ausführliche Doktordissertation über die Psychoanalyse ist noch nicht erschienen.

Die Freudschen Lehren in Italien, 355

Der Umstand, daß eine derartige Dissertation ihm aus eigenem Antrieb von einem Professor vorgeschlagen wurde, der zu den entschiedenen Anhängern der anatomischen Richtung gehört, ist ein Zeichen dafür, daß die Psychoanalyse sich in Italien vielleicht wird verbreiten können, ohne in den offiziellen Kreisen der systematischen „Zensur‘‘ zu begegnen, welche anderwärts, obwohl vergeblich, die Psychoanalyse aus dem ihr zukommenden Platz im wissenschaftlichen Bewußtsein zu verdrängen versucht hat.

23*

Referate über psychologische Arbeiten schweizerischer Autoren (bis Ende 1909).

Zusammengestellt von Dr. C. 6. Jung, Privatdozent der Psychiatrie an der Universität Zürich.

Diese Sammlung enthält unter anderem alle diejenigen Arbeiten der Züricher Schule, welche sich entweder direkt mit Psychoanalyse befassen oder dieselbe wesentlich berühren. Arbeiten sonstigen klini- schen oder psychologischen Inhaltes der genannten Schule sind weg- gelassen. Die Arbeiten Abrahams, auch die, die in Zürich entstanden sind, finden sich referiert im Jahrbuche 1909. Einige Arbeiten deutscher Autoren, welche sich den Ergebnissen der ‚„Diagnostischen Assoziations- studien‘ annähern, sind parenthetisch angemerkt. Die Berücksichti- gung der kritischen und oppositionellen Literatur ist leider unmöglich, solange die Wissenschaftlichkeit unserer Forschungsprinzipien von der Kritik in Frage gestellt wird.

Bezzola (Schloß Hard, Ermatingen)!): Zur Analyse psychotraumatischer Symptome.

Journ. f. Psychol. und Neurol, Band VIII, 1907.

Verfasser steht noch ganz auf dem Boden der Traumatheorie. Sein Verfahren entspricht bis ins einzelne der Breuer-Freudschen Methode, die als „„Kathartische‘“ bezeichnet wurde. {Von der späteren Methodik hat Verfasser noch keine richtige Vorstellung. Er empfiehlt eine Modifikation, die er Psychosynthese nennt. Er geht dabei von folgender Basis aus: ‚‚Jedes psychisch wirksame Erlebnis gelangt ın Form von dissoziierten Erregungen der Sinnessphäre zu unserem Bewußtsein. Um zum Begriffe zu werden, müssen diese Erregungen

1) Vormals.

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 397

unter sich und mit dem Bewußtsein assoziiert werden. Infolge der Bewußtseinsenge aber kann dieser Prozeß nicht völlig stattfinden, ge- wisse Komponenten bleiben im Unbewußten oder werden falsch asso- ziiert bewußt. Die Psychosynthese besteht nun darin, daß diese ver- einzelten bewußten Bestandteile durch Nachempfindung so lange verstärkt werden, daß die damit unterbewußt assoziierten Kompo- nenten sich neu beleben, wodurch die nachträgliche Entwicklung des ganzen Ereignisses zum Bewußtsein stattfindet und die Lösung der psychotraumatischen Symptome erfolgt.‘ Eine Reihe von Fällen stützen diese Theorie. Natürlich sind sie mit totaler Blindheit für den eigent- lichen psychosexuellen Untergrund dargestellt. Das Schlußwort enthält einen Angriff auf die Freudsche Sexualtheorie mit dem üblichen nervösen Ton und den entsprechenden Argumenten.

Binswanger siehe Jung: Diagnost. Assoc. stud., XI. Beitrag.

Bieuler (Zürich): Freudsehe Mechanismen in der Symptomatologie von Psychosen.

Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift, 1906.

Sammlung von Auflösungen von Symptomen und Zusammen- hängen in verschiedenen psychotischen Zuständen.

Bieuler und Jung: Kompiexe und Krankheitsursache bei Dementia praecox.

Zentralbl. £. Nervenheilkunde u. Psychiatrie, XXXI.Jahrg., 1908, 8. 220.

Die Autoren versuchen gegenüber der Meyerschen Kritik der Jungschen Dementia-praecox-Lehre ihren Standpunkt in der Frage der Ätiologie klarzulegen. Zunächst wird festgestellt, daß die neue Auffassung keine ätiologische, sondern eine symptomatologische ist. Die Fragen der Ätiologie sind verwickelt und kommen in zweiter Linie. Bleuler unterscheidet streng zwischen dem physischen Krankheits- prozesse und der psychologischen Determination der Symptome, welch letzterer er keine ätiologische Bedeutung in Ansehung des Krankheits- prozesses beimißt. Demgegenüber hält Jung sich die Frage der ideo- genen Ätiologie offen, indem bei physischen Krankheitsprozessen dem physischen Affektkorrelat eine ätiologisch bedeutsame Rolle zu- fallen kann.

358 C. G. Jung.

Bleuler: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. Halle, Carl Marhold, 1906.

Das Buch Bleulers über die Affektivität bedeutet einen groß- zügigen Versuch einer allgemeinen psychologischen Beschreibung und Definition der affektiven Vorgänge, in die er die Feststellungen der Freudschen Psychologie in Umrissen einzureihen sucht. Die Auf- fassung der Aufmerksamkeit und der Suggestibilität als Spezialfälle oder Teilerscheinungen der Affektivität ist eine wohltuende Verein- fachung in der babylonischen Sprachen- und Begriffsverwirrung der heutigen Psychologie und Psychiatrie. Wenn auch nichts Endgültiges damit geschaffen sein wird, so ermöglicht uns hier Bleuler doch eine einfache und der Erfahrung entsprechende Art der Auffassung kom- plizierter Seelenvorgänge. Das hat die Psychiatrie dringend nötig, denn der Seelenarzt ist gezwungen mit komplizierten psychischen Größen zu denken und umzugehen. Bis wir solches aber einmal von der ex- perimentellen Laboratoriumspsychologie bekämen, könnten wir ruhig noch 100 Jahre warten. Auf den gleichen Boden der Affektivität stellt Bleuler ein ungemein wichtiges Kapitel der Psychiatrie, nämlich die Einsetzung der paranoischen Idee; indem er nämlich in vier Fällen nachweist, daß ein affektbetonter Vorstellungskomplex die Wurzel der Wahnidee ist.

Der Referent begnügt sich mit dieser allgemeinen Skizzierung des Inhaltes und seiner Tendenz. Das reichhaltige Detail des Buches eignet sich nicht für ein kurzes Referat. Man kann sagen, daß Bleulers Buch’das Beste ist, was wir dato an allgemeiner Beschreibung elemen- tarer Affektpsychologie besitzen. Die Lektüre ist darum jedermann, ganz besonders dem Anfänger warm zu empfehlen.

Derselbe: Sexuelle Abnormitäten der Kinder.

Jahrbuch der schweiz. Gesellschaft für Schulgesundheits- pflege, IX. Jahrg., 1908, p. 623.

Verfasser schildert in allgemein verständlicher Weise die sexuellen Perversionen, die bei Kindern in Betracht kommen. Es wird vielfach auf die Freudsche Psychologie Bezug genommen. Verfasser befür- wortet die sexuelle Aufklärung der Kinder, jedoch nicht in der Form der Massenaufklärung in der Schule, sondern zu Hause unter takt- voller Auswahl des Momentes durch die Eltern.

Derselbe siehe Jung: Diagnost. Assoc. stud., V. Beitrag.

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8399

Bolte (Bremen): Assoziationsversuche als diagnostisches Hilfsmittel. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 64, 1907.

Verfasser weist die Verwendbarkeit des Assoziationsexperimentes zu diagnostischen Zwecken. nach. Eristinder Lage, den Grundanschauungen der „Diagnostischen Assoziationsstudien‘“ im wesentlichen beipflichten zu

können. Einige interessante Beispiele machen die Gedanken seiner Arbeit recht anschaulich.

Chalewsky (Zürich): Heilung eines hysterischen Bellens durch Psycho- analyse.

Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, XX.Band, 1909.

Eine kurze und durchsichtige Symptomanalyse bei einem 13jähr. Mädchen, die an hysterischem Husten (,,Bellen“) litt. Nachts vor dem Tage der Erkrankung Traum: ‚sie wird mit ihrer Schwester Bella im Walde überfallen, ihrer Schwester wird der Bauch aufgeschnitten, sie selber bösen Hunden vorgeworfen.‘ Sie hat schon längst Hunde- phobie. Folgenden Tags erschricekt sie über eine Blutlache und be- kommt sofort das ‚Bellen‘, das mit der Analyse verschwindet. Maeder.

Ciaparede (Genf): Quelques mots sur la definition de I’hysterie. Archives de Psychologie, Tome VII, 1908, p. 169.

Verfasser kritisiert mit großem Geschicke die von Babinski inaugurierte neuere Hysterieauffassung. Im Schlußkapitel gibt C. seine eigene Auffassung respektive Grundlagen zu einer Auffassung, die aber selber noch in einer Reihe von Fragezeichen besteht. Er an- erkennt die Wichtigkeit der Freudschen Verdrängung und mißt ıhr eine biologische Bedeutung bei. Den psychoanalytischen Widerstand, den er durch eigene Erfahrung kennen gelernt hat, nennt er eine Abwehr- reaktion. Ähnlich faßt er den Globus, Erbrechen, Ösophagusspasmen, Lüge und Simulation usw. auf. In den körperlichen Symptomen er- blickt er eine Wiederbelebung anzestraler Reaktionen, die ehemals nützlich waren. So faßt C. den hysterogenen Mechanismus als eine Tendance ä& la reversion, zum Atavismus in der Reaktionsweise. Dafür scheinen ihm der Infantilecharakter und die „Disposition ludique“ die Spieltendenz zu sprechen. Seinen Erörterungen fehlt der nötige empirische Boden, den man sich eben nur mit Psychoanalyse erwirbt.

360 °C. 6. Jung.

Ebersehweiler (Zürich): Untersuchungen über die sprachliche Kom- ponente der Assoziation. Züricher Dissertation, 1908. Erschienen in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychia-

trie, 1908.

Es handelt sich um eine ebenso mühsame wie sorgfältige Unter- suchung, die Verfasser auf Veranlassung des Referenten unternommen hat. Für die Komplexpsychologie ist ein Ergebnis von besonderem Interesse: Es zeigte sich, daß im Assoziationsexperimente sogenannte Vokalsequenzen vorkommen, d. h. daß einige aufeinanderfolgende Reaktionen denselben Akzentvokal besitzen. Untersucht man nun diese ‚‚Perseverationen” auf das Zusammentreffen mit Komplex- merkmalen, so zeigt es sich, daß, bei einem durchschnittlichen Total- gehalte von 036 Komplexmerkmalen pro Reaktion, auf ein Wort der Vokalsequenz 065 Komplexmerkmale fallen. Nehmen wir die den Vokalsequenzen vorausgehenden zwei Assoziationen ohne Klang- verwandtschaft, so ergibt sich folgende Reihe:

a) Assoziation ohne Vokalsequenz 0:10 Komplexmerkmale.

b) Assoziation ohne Vokalsequenz 0:58 Komplexmerkmale.

I. Beginn der Vokalsequenz (Assoziation, deren Akzentvokal in der folgenden Reihe perseveriert) 0'91 Komplexmerkmale.

Il. Glied der Vokalsequenz 0:68 u

Ill. Glied der Vokalsequenz 0'10 53

IV. Glied der Vokalsequenz 0'05 en

2. Assoziation mit neuem Akzentvokale 0'42 Komplexmerkmale.

Man sieht also, daß nach Komplexstörungen eine entschiedene Neigung zu Klangperseverationen vorhanden ist, eine für den Me- chanismus des Klangwitzes und des Reimens wichtige Fest- stellung.

Flournoy (Genf): Des Indes ä la Plan&te Mars. Etude sur un cas de somnambulisme avec glossolalie. III. Edition. Paris, F. Alcan et Gendve, Ch. Eggimann et Cie., 1900. Derselbe: Nouvelles observations sur un eas de somnambulisme avee glossolalie. Archives de Psychologie, Tome I., 1901. Die großzügigen und überaus bedeutsamen Arbeiten Flourno ys über einen Fall von hysterischem Somnambulismus bringen ein auch

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 961

für die Psychoanalyse wertvolles Beobachtungsmaterial über Phantasie- systeme, das allgemeine Beachtung verdient. Bei der Darstellung des Falles nähert sich F. auch explizite gewissen Freudschen Auffassungen, wenn schon die neueren Gesichtspunkte Freuds auf das Werk keine Anwendung mehr finden konnten.

Frank (Zürich): Zur Psychoanalyse.

Festschrift für Forel. Journal für Psychologie und Neurologie, Band XIII, 1908.

Nach einer kurzen historischen Einleitung basiert auf die Breuer- Freudschen Studien, drückt Verfasser sein Bedauern aus, daß Freud ohne Angabe seiner Gründe die ursprüngliche Methode verlassen habe. (Eine aufmerksame Lektüre der folgenden Schriften Freuds findet bald heraus, warum die vollkommene Technik der unvollkommenen ursprünglichen vorgezogen wird. Referent.) Verfasser selbst beschränkt sich auf das ursprüngliche kathartische Verfahren verbunden mit Hypnose, und seine kasuistischen Mitteilungen zeigen, daß er mit einer praktisch anwendbaren und wertvollen Methode arbeitet, welche ent- schieden lohnende Erfolge aufzuweisen hat. Dadurch wird der unver- meidliche Angriff auf die Freudsche Sexualitätslehre auf mildere Töne gestimmt; Verfasser fragt: „Warum sollten von den vielen Affekten, mit denen die Psyche ausgestattet ist, nur die sexuellen zu Störungen Veranlassung geben, oder sollte gar der Sexualaffekt die Wurzel aller anderen Affekte sein?‘ (Die Sexualität in den Neurosen wurde nicht a priori erfunden, sondern empirisch gefunden, und zwar durch Anwendung der Psychoanalyse, was etwas anderes ist als das kathartische Verfahren. Der Referent.) Verfasser wendet die Psycho- analyse nicht an, weil „dem Praktiker nicht die Pflicht überbunden werden kann, in jedem Falle lediglich aus theoretischen Gründen die Psychoanalyse bis zum letzten Ende aller Enden durchzuführen“. (Diese Pflicht existiert nirgends, wohl aber muß man aus praktischen Gründen weiter als 1895 gehen, denn wenn die damalige Methode alles geleistet hätte, so hätte man keine Nötigung gehabt, weiter zu gehen.) Verfasser gewann den Eindruck, daß Freud die Hypnose und die Sug- gestion wohl theoretisch, keineswegs aber praktisch völlig beherrscht hat. „Ich kann mir sein stetes Wechseln der Methoden nur daraus erklären, daß er als Theoretiker durch seine nicht genügend ein- gehenden Behandlungen!) in Hypnose und unbefriedigenden

1) Vom Referenten gesperrt.

362 C. G. Jung.

Resultate!) immer wieder nach neuen Methoden ausging“ usw. „Freud hat diese Methoden trotz seiner Erfolge?) verlassen“ sagt der Verfasser etwas weiter oben. Bei diesem Widerspruche ist zu erwähnen, daß Frank sowohl Freuds spätere Werke als auch die Ar- beiten anderer Autoren und der Züricher Klinik völlig übergeht, sonst könnte er nicht behaupten, und zwar 1908, daß die kathartische Methode und ihre’Resultate ‚„‚unbeachtet‘ blieben und nur „vereinzelte Nachprüfungen‘“ stattfanden.

(Ref. kann sich nicht enthalten, darauf hinzuweisen, wie einfach man sich über diese anscheinend schwierigen Fragen orientieren kann. Wenn also z. B. ein Autor vor dem Probleme steht,’ warum Freud wohl die Hypnose aufgegeben habe, dann setze er einen Brief auf an Herrn Prof. Freud und erkundige sich. Ref. insistiert auf diesen Punkt, weil es überhaupt das Grundübel der deutschen Psychiatrie ist, daß man sich nie verstehen, sondern nur mißverstehen will. In diesen Dingen muß man sich persönlich auseinandersetzen zur Ab- kürzung aller unnötigen Schwierigkeiten und Mißverständnisse.

Würde dieser Grundsatz, der z. B. in Amerika volle Geltung hat, einmal in unseren Landen anerkannt, so müßten sich nicht so viele sonst hochverdiente Autoren mit Kritiken blamieren, die dazu noch gelegentlich in einem Tone gehalten sind, der von vornherein jede Er- widerung unmöglich macht.) |

Fürst siehe Jung: Diagnost. Assoc. stud., X. Beitrag.

Hermann (Galkhausen): Gefühlsbetonte Komplexe im Seelenleben des Kindes, im Alltagsleben und im Wahnsinn.

Zeitschrift für Kinderforschung, XIII. Jahrg., p. 129—143.

Allgemein verständliche Einführung in die Komplexlehre und ihre An- wendung auf die verschiedenen normalen und pathologischen Seelen- zustände.

Isserlin (München): Die diagnostische Bedeutung der Assoziations- versuche.

Münchner Medizinische Wochenschrift, Nr. 27, 1907.

Mehrere wesentliche Ergebnisse der Züricher Assoziationsstudien werden in dieser kritischen Darstellung als bestehend anerkannt. Wo die Freudsche Psychologie aber anfängt, hört die Billigung des Verfassers auf.

1) Idem. 2) Idem,

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 3683

Jung (Zürich): Zur Psyehologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene. Eine psychiatrische Studie.

Verlag Oswald Mutze, Leipzig, 1902.

Neben vielen klinischen und psychologischen Erörterungen über das Wesen des hysterischen Somnambulismus enthält die Schrift die ausführlichen Betrachtungen über einen Fall spiritistischer Mediumnität. Die Persönlichkeitsspaltung wird aus den Tendenzen der infantilen Persönlichkeit abgeleitet und als Wurzeln der Phantasiesysteme werden sexuelle Wunschdelirien aufgedeckt. Unter den Beispielen neurotischer Automatismen findet sich ein Fall von Kryptomnesie, den Verfasser in Nietzsches Zarathustra entdeckt hat.

Derselbe: Ein Fall von hysterischem Stupor bei einer Untersuchungs- gefangenen.

Journal für Psychologie und Neurologie, Bd. I, 1902.

In einem Falle von sogenanntem Ganser - Raeckeschem Däm- merzustande weist Verfasser die pathologische Absicht, den Krank- heitswillen, die Freudsche Verdrängung des Unlustbetonten und das Wunscherfüllungsdelir nach.

Derselbe: Die psychopathologische Bedeutung des Assoziationsex- perimentes.

Archiv für Kriminalantrophologie, 22. Bd., p. 145.

Allgemeine Einleitung in das Assoziationsexperiment und die Komplexlehre.

Derselbe: Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungsver- mögen.

Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatrie, XX VIII. Jahrg, 1905, p. 653.

Verfasser teilt hier das von ihm eingeführte Reproduktions- verfahren mit. Wenn man nach Vollendung eines Assoziations- experimentes die Versuchsperson prüft, ob sie sich bei jedem einzelnen Reizworte der früher gegebenen Reaktion richtig entsinnt, so stellt sich heraus, daß das Vergessen in der Regel bei oder unmittelbar nach Komplexstörungen stattfindet. Es ist also ein ‚„Freudsches Vergessen“. Das Verfahren ergibt praktisch wertvolle Komplexmerkmale.

364 C. G. Jung.

Derselbe: Die Hysterielehre Freuds. Eine Erwiderung auf die Aschaffen- burgsehe Kritik. Münchner Medizinische Wochenschrift, Nr. 47, 1906.

Wie der Titel andeutet, eine polemische Schrift, welche versucht, es dem Gegner nahe zu legen, sich einmal mit psychoanalytischer Methode näher zu beschäftigen und dann zu urteilen. Die Schrift hat heute nur mehr historischen Wert, als sie den Ausgangspunkt der, wir können sagen, nunmehr blühenden Bewegung der Freudschen Psychologie markiert.

Derselbe: Die Freudsche Hysterietheorie.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXIII, Heft 4, p. 310.

Es handelt sich um ein Referat, zu dem Verfasser vom Vorstande des internationalen Kongresses für Psychiatrie in Amsterdam 1907 aufgefordert worden ist. Die auf das Elementarste sich beschränkenden Ausführungen entsprechen dem damaligen Erkenntnisniveau des Verfassers, das sich seither natürlich durch wachsende Erfahrung wesentlich verändert hat. Die Freudsche Lehre wird historisch ent- wickelt in ihrer Wandlung von der kathartischen Methode zur Psychoanalyse. Dabei wird versucht, die Denkmöglichkeit der psycho- analytischen Prinzipien darzustellen in möglichster Annäherung an das in der Wissenschaft bereits Bekannte. Als Illustration der psychoanaly- tischen Hysterieauffassung wird ein schematisch reduzierter Fall von Hysterie demonstriert. Die Schlußformulierungen lauten (abgekürzt): Auf konstitutionellem Boden erwachsen gewisse vorzeitige Sexual- betätigungen von mehr oder weniger perverser Natur. Zur Pubertäts- zeit erhält die Phantasie eine durch die infantile Sexualbetätigung konstellierte Richtung. Die Phantasie führt zur Bildung von Vor- stellungskomplexen, die mit dem übrigen Bewußtseinsinhalte unver- einbar sind und darum der Verdrängung unterliegen. In diese Ver- drängung wird die Übertragung der Libido auf eine geliebte Person mit hineingezogen, woraus der große Gefühlskonflikt entsteht, der dann die Veranlassung zum Ausbruche der eigentlichen Krankheit gibt.

Derselbe: Assoeiations d’idses familiales. (Avec 5 graphiques.)

Archives de Psychologie, Tome VII, 1907.

Verfasser hat am Fürstschen Materiale (siehe unter ‚Dia- gnostische Assoziationsstudien‘“‘) Berechnungen über die durchschnitt-

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 369

liche Differenz der Assoziationstypen angestellt. Die Ergebnisse werden hier rechnerisch und graphisch dargestellt.

Derselbe: L’analyse des Reves.

Annee psychologique, publiee par Alfred Binet. Tome XV, 1909. p. 160.

Verfasser versucht in kurzen Zügen die Grundlagen der Freud- schen Traumdeutung darzustellen. Als Material dienen eine Reihe von Beispielen eigener Erfahrung.

Derselbe: Über die Psychologie der Dementia praecox. Ein Versuch. Verlag Karl Marhold, Halle 1907.

Die Schrift zerfällt in fünf Kapitel:

I. Kritische Darstellung theoretischer Ansichten über die Psycho- logie der Dementia praecox, die bis zum Jahre 1906 in der Literatur sich vorfanden, besprochen. Es ergibt sich daraus, daß allgemein eine ganz zentrale Störung angenommen wird, die bei den verschiedenen Autoren mit ganz verschiedenen Namen belegt wird, außerdem er- wähnen einige Autoren die „Fixierung“ und die „Abspaltung von Vorstellungsreihen“. Freud hat zum ersten Male den psychogenen Mechanismus einer paranoiden Demenz klargelegt.

II. Der gefühlsbetonte Komplex und seine allgemeinen Wirkungen auf die Psyche. Es wird eine akute und eine chronische Komplex- wirkung unterschieden, worunter die unmittelbare und langanhaltende Bearbeitung der Komplexinhalte verstanden ist.

III. Der Einfluß des gefühlsbetonten Komplexes auf die Wertig- keit der Assoziation.

Hier wird in detaillierter Weise der Einfluß des Komplexes auf die Assoziation geschildert, wobei ein Hauptakzent auf das biologische Problem der Komplexbearbeitung in ihrer Beziehung zur psycho- logischen Anpassung an die Umgebung gelegt wird.

IV. Dementia praecox und Hysterie. Eine Parallele.

In diesem Kapitel wird eine möglichst eingehende Schilderung der Ähnlichkeiten und der Unterschiede der beiden Krankheiten gegeben. Die Schlußformulierung ergibt:

Die Hysterie enthält in ihrem innersten Wesen einen Komplex, der nie ganz überwunden werden konnte. Potentia ist aber die Über- windungsmöglichkeit vorhanden.

366 C. @. Jung.

Die Dementia praecox aber enthält einen Komplex, der nie über- wunden werden kann, und der sich deshalb dauernd fixiert.

V. Analyse eines Falles von paranoider Demenz als Paradigma.

Es handelt sich um einen sogenannten verblödeten alten und absolut typischen Fall mit massenhaften Neologismen, die sich ana- lytısch befriedigend erklären ließen und den Inhalt der vorausgehenden Kapitel bestätigen.

Das Buch ist ins Englische übersetzt von Peterson und Brillmit einer längeren Einleitung der Übersetzer. Der Titel der englischen Aus- gabe ist:

C. G. Jung: The Psychology of Dementia praecox. Nervous and mental disease series No. 3.

Authorized Translation with an introduction by Frederick Peter- son M. D. and A. A. Brill Ph. B.,M.D. New York, 1909.

Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. Beiträge zur experimentellen Psychopathologie, Herausgegeben von Dr. C. G. Jung. I. Bd. hen von J. A. Barth, Leipzig, 1906.

Dieser Band enthält eine Auswahl von Arbeiten aus der Züricher Klinik über Assoziation und Assoziationsexperiment, die zuvor einzeln im Journal für Psychologie und Neurologie erschienen sind. Abgesehen vom psychologischen Standpunkte kommt diesen Arbeiten auch ein praktisch-ärztliches Interesse zu, indem sich aus diesen Unter- suchungen das diagnostische Assoziationsexperimententwickelt hat, ein Experiment, das uns rasch und sicher über die jeweiligen wich- tigsten Komplexe aufklärt. Diese diagnostische Anwendung kommt in allererster Linie; von sekundärer und für sehr viele Fälle noch unsicherer diagnostischer Bedeutung ist das Experiment in seiner Anwendung als klinisch-differentialdiagnostisches Hilfsmittel.

Vorwort: von Prof. Bleuler: Über die Bedeutung von Asso- ziationsversuchen, p. 1—6.

Die sprachliche Assoziation ist eines der wenigen experimentell faßbaren Gebilde. Die Ausbeute derartiger Versuche läßt viel erwarten, denn in der Assoziationstätigkeit spiegelt sich das ganze psychische Sein der Vergangenheit und der Gegenwart mit allen seinen Erfahrungen und Strebungen. Sie ist ein ‚Index für alle psychischen Vorgänge,

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8367

den wir nur zu entziffern brauchen, um den ganzen Menschen zu kennen.“

I. Beitrag. C. G, Jung und Fr, Riklin (Zürich): Experimentelle Untersuehungen über Assoziationen Gesunder, p. 7—145.

Dieser Arbeit liegt das Bestreben zugrunde, ein großes Material von Assoziationen geistig Gesunder zu sammeln und darzustellen. Die Arbeit soll über die in der Breite des Normalen vorkommenden Möglichkeiten unterrichten. Um das umfangreiche Material zahlen- mäßig darzustellen, bedurfte es eines Einteilungsschemas respektive der Erweiterung und Verbesserung des bereits vorhandenen Kraepelin- Aschaffenburgschen Schemas. Das von den beiden Autoren adoptierte System ist nach logisch-sprachlichen Gesichtspunkten gegliedert und vermittelt einen wenn auch unvollkommenen, so doch für die vor- liegenden Zwecke genügenden, zahlenmäßigen Ausdruck. Zunächst wurde die Frage bearbeitet, ob und was für Typen der Reaktionsweise im normalen Zustande vorkommen. Es ergab sich, daß gebildete Ver- suchspersonen durchschnittlich einen flacheren Reaktionstypus auf- weisen als die Ungebildeten; sodann ergaben sich zwei gesonderte Haupttypen, die indessen mit allen Graden der Abstufung ineinander übergehen: ein sachlicher und ein egozentrischer Typus. Ersterer reagiert mit wenig Anzeichen von Gefühlen, letzterer mit vielen Ge- fühlsanzeichen. Vom praktischen Standpunkte aus ist namentlich letzterer Typus interessant; er zerfällt in zwei weitere Unterabteilungen: in den sogenannten Konstellations- respektive Komplexkonstel- lationstypus und in den Prädikattypus. Ersterer Typus sucht starke Gefühle zu verdrängen, letzterer sucht sie zu zeigen.

Ermüdung, Schläfrigkeit, Alkoholintoxikation, Manie verflachen den Reaktionstypus. Diese Verflachung beruht in erster Linie auf der Störung der Aufmerksamkeit in diesen Zuständen.

Dieses läßt sich dadurch erweisen, daß man durch eine besondere Versuchsanordnung die Aufmerksamkeit spaltet und unter dieser Be- dingung dann das Assoziationsexperiment vornimmt. Diese Ex- perimente ergaben bestätigende Resultate.

II. Beitrag. K. Wehrlin (Zürich): Über die Assoziationen von Im- bezillen und Idioten, pag. 146—174.

Verfasser referiert über die Ergebnisse seiner Assoziationsver- suche an 13 Imbezillen. Die Assoziationen der meisten Schwach-

368 ©. G. Jung.

sinnigen zeigen einen bestimmten Typus, den sogenannten Defini- tionstypus. Charakteristische Reaktionen dieser Art sind:

Winter: besteht aus Schnee.

Singen: besteht aus Noten und Gesangbüchern.

Vater: Mitglied neben der Mutter.

Kirsche: Eine Gartensache. Usw. ; Die Imbezillen zeigen somit eine bis aufs äußerste gesteigerte

Einstellung auf die intellektuelle Bedeutung des Reizwortes. Daß

dieser Typus gerade bei intellektuell Schwachen vorkommt, ist cha- rakteristisch. (Vgl. unten die Arbeit von Frl. Dr. Fürst.)

III. Beitrag. C. G. Jung: Analyse der Assoziationen eines Epilep-

tikers, p. 175—192.

Die Assoziationen dieses Epileptikers zeigen deutlichen Defini- tionstypus von schwerfälligem, umständlichem Charakter, der sich besonders in Bestätigung und Ergänzung der eigenen Reaktion äußert.

Z. B. Obst: das ist eine Frucht, eine Obstfrucht;

stark: bin kräftig, das ist stark; lustig: ich bin lustig, ich bin fröhlich.

Außerdem findet sich eine außerordentliche Menge gefühlsbetonter egozentrischer Beziehungen, die unverhüllt ausgesprochen werden. Im übrigen ergeben sich einige Anzeichen, die vermuten lassen, daß dem epileptischen Gefühlston ein besonders perseverierender Charakter zukommt.

IV. Beitrag. C. G. Jung: Über das Verhalten der Reaktionszeit beim

Assoziationsexperiment, p. 193—228.

Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Erforschung der bisher unbekannten Gründe für die abnorme Verlängerung gewisser Reak- tionszeiten.

Die Ergebnisse sind folgende:

Gebildete reagieren durchschnittlich rascher als Ungebildete. Die Reaktionszeit der weiblichen Versuchspersonen ist durchschnittlich beträchtlich länger als die der männlichen. Die grammatische Qualität des Reizwortes hat einen bestimmten Einfluß auf die Reaktionszeit, ebenso die logisch sprachliche Qualität der Assoziation. Die über dem wahrscheinlichen Mittel liegenden Reaktionszeiten sind zum größeren Teile verursacht durch Interferenz eınes sehr oft nicht bewußten (verdrängten) Komplexes.

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8369

Sie sind daher ein wichtiges Hilfsmittel zur Auffindung eines verdrängten Komplexes. Diese Tatsache ist belegt durch zahlreiche Beispiele von Analysen derartig konstellierter Assoziationen.

V. Beitrag. E. Bleuler: Bewußtsein und Assoziation, p. 229—257.

Die Arbeit befaßt sich mit literarischen und kasuistischen Nach- weisen zu der Tatsache, daß sich ‚in der Beobachtung keine Grenze zwischen bewußt und unbewußt ziehen‘ lasse und daß die gleichen funktionellen Gebilde und Mechanismen, die wir im Bewußtsein finden, auch außerhalb desselben nachzuweisen sind, und von da aus unsere Psyche ebensowohl beeinflussen wie die analogen bewußten Vorgänge. „Es gibt in diesem Sinne unbewußte Empfindungen, Wahrnehmungen, Schlüsse, Gefühle, Befürchtungen und Hoffnungen, die sich von den gleichbezeichneten bewußten Phänomenen einzig und allein durch das Fehlen der Bewußtheitsqualität unterscheiden.“ B. weist besonders auf die Fälle mehrfacher Persönlichkeit hin und bemerkt, daß man nicht bloß von einem Unbewußten reden könne, sondern daß vielmehr eine nahezu unendliche Anzahl von verschiedenen unbewußten Gruppie- rungen möglich sei, Die Gruppierung der Erinnerungselemente zu den verschiedenen Persönlichkeiten geschieht ausnahmslos unter dem maßgebenden Einflusse von Affekten.

B. betrachtet die Bewußtheitsqualität als etwas Nebensächliches, indem psychische Vorgänge nur unter gewissen Bedingungen bewußt zu sein brauchen, nämlich nur dann, wenn sie eine Assoziation eingehen „mit denjenigen Vorstellungen, Empfindungen, Strebungen, die im gegebenen Momente unsere Persönlichkeit ausmachen“.

VI. Beitrag. Jung: Psychoanalyse und Assoziationsexperiment. p. 258—281.

Die Arbeit steht noch stark unter dem Einflusse der ursprüng- lichen Breuer-Freudschen Neurosenlehre, also der Lehre vom psy- chischen Trauma. Das neurotische Symptom ist im wesentlichen ein Symbol für verdrängte Vorstellungskomplexe. Das Assoziations- experiment enthüllt uns in seinen gestörten Reaktionen diejenigen Worte und Dinge, welche direkt auf den unbekannten Komplex führen. Insofern kann das Experiment eine wertvolle Hilfe bei der Analyse sein. Diese Möglichkeit wird an einem praktischen Beispiele, einem Falle von Zwangsneurose, erörtert. Die Zusammenstellung der gestörten Reak- tionen zu einer Legende ergibt das Vorhandensein eines ausgedehnten erotischen Komplexes, der eine Reihe von individuellen Bestimmungen

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. I. 24

370 ©. G. Jung.

enthält. Auf diese Weise ist ein tiefer Einblick in die aktuelle Persön- lichkeit ermöglicht; die nachfolgende Psychoanalyse erwies die Be- rechtigung der durch das Assoziationsexperiment geweckten Erwar- tungen, so daß der Schluß sich rechtfertigt, daß nämlich das Asso- ziationsexperiment den Komplex, der zunächst hinter den neurotischen Symptomen liegt, der Erforschung zugänglich macht. Jede Neurose enthält einen das Assoziationsexperiment wesentlich beeinflussenden Komplex, dem man auf Grund zahlreicher Erfahrungen eine kausale Bedeutung einräumen muß.

Die Beiträge VII bis XII sind jetzt im II. Bande der Diagnostischen Assoziationsstudien gesammelt erschienen.

Vill. Beitrag. Riklin Franz (Zürich): Kasuistische Beiträge zur Kenntnis hysterischer Assoziationsphänomene.

p. 1-30.

Verfasser untersucht die Assoziationsphänomene bei acht Hy- sterischen und kommt zu folgenden Ergebnissen:

Im Vorgerdrunde des hysterischen Reaktionstypus stehen mehr oder weniger selbständig wirkende Vorstellungskomplexe von großem Affektwerte, deren Entfaltung weit mächtiger zu sein scheint, als bei Gesunden. Der oder die Komplexe beherrschen den Reaktionstypus fast ausschließlich, so daß die Assoziationsversuche von Komplex- störungen ganz durchsetzt sind. Die Domination durch einen Komplex ist die Hauptsache hysterischer Psychologie, und wohl alle Symptome lassen sich aus dem Komplex direkt ableiten.

VIil. Beitrag. Jung: Assoziation, Traum und hysterisches Symptom. p. 31—66.

Die Arbeit unternimmt es, an einem Falle von Hysterie den ero- tischen Komplex in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen zu be- schreiben und zu determinieren. Zuerst wird durch die Analyse der Assoziationen die Konstellation durch den erotischen Komplex er- wiesen, dann werden die Wandlungen des Komplexes in einer Traum- serie analysiert und schließlich wird der Komplex auch als Grundlage der Neurose dargestellt. Der Komplex hat bei der Hysterie eine ab- norme »elbständigkeit und neigt zu einer aktiven Sonderexistenz, welche die konstellierende Kraft des Ichkomplexes progressiv herab- setzt und vertritt. Dadurch wird allmählich eine neue Krankheits- persönlichkeit geschaffen, deren N eigungen, Urteile und Entschlüsse nur

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. tl

in der Riehtung des Krankheitswillens gehen. Durch die zweite Per- sönlichkeit wird der normale Ichrest aufgezehrt und in die Rolle eines sekundären (beherrschten) Komplexes gedrängt.

IX. Beitrag. C. G. Jung: Über die Reproduktionsstörungen beim Assoziationsexperiment. p. 67—76.

Die Arbeit beschäftigt sich mit der oben besprochenen Repro- duktionsmethode. An Hand eines größeren pathologischen Materials wird nachgewiesen, daß in der Hauptsache die mangelhaft reprodu- zierte Assoziation eine Reaktionszeit besitzt, die über dem Mittel des ganzen Versuches liegt, auch zeigt sie durchschnittlich mehr als doppelt soviel Komplexmerkmale als eine richtig reproduzierte Assoziation. Woraus hervorgeht, daß die Reproduktionsstörung auch ein Merkmal ıst für die Interferenz eines Komplexes.

X. Beitrag. Fürst Emma (Schaffhausen): Statistische Untersuchungen über Wortassoziationen und über familiäre Übereinstimmung im Reaktionstiypus bei Ungebildeten.

p. 77—112.

Es wurden bei 24 Familien mit zusammen 100 Versuchspersonen Assoziationsversuche aufgenommen. In dieser Arbeit werden vorder- hand bloß die Resultate der Bearbeitung von 9 ungebildeten Familien mit 37 Versuchspersonen dargestellt. Die mühsame Bearbeitung des übrigen Materials ıst noch nicht beendigt. Es ergibt sich folgendes:

Die Männer neigen etwas mehr zu äußeren Assoziationen als ihre Frauen, ebenso die Söhne etwas mehr als ihre Schwestern. 54°/, der Versuchspersonen weisen ausgesprochene prädikative Einstellung auf, und zwar überwiegen die Frauen. Die Tendenz zur Bildung von Wert- prädikaten ist im Alter größer als in der Jugend; bei Frauen beginnt die entsprechende Tendenz vom 40. Jahre und bei Männern vom 60. an. Verwandte haben eine Tendenz zur Übereinstimmung im Reaktions- typus, zur Assoziationskonkordanz. Die beste und gleichmäßigste Übereinstimmung findet zwischen den Eltern und ihren gleichgeschlech- tigen Kindern statt.

XI. Beitrag. Binswanger L. en. Über das Verhalten des psychogalvanischen Phänomens beim Assoziationsexperiment. p. 113—195. | Der aus dem psychologischen Laboratorium des Burghölzli her-

vorgegangenen Arbeit liegen 30 Assoziationsversuche an 23 gebildeten 24*

312 C. G. Jung.

und ungebildeten gesunden Versuchspersonen zugrunde, die während des Experimentes in einen elektrischen Stromkreis von sehr geringer Intensität eingeschaltet waren. Der I. Teil bringt zunächst einen histo- rischen Überblick über die Literatur des p. g. Ph. bis 1906, behandelt sodann eingehend die Versuchsanordnung, Technik und Registrier- methode der eigenen Versuche. Auf die Entstehungsbedingungen des p. g. Ph. wird nur kurz eingegangen. Verfasser weist dabei dem Schweiß- drüsensystem eine hervorragende Rolle zu, äußert sich aber sehr reser- viert über die näheren physiologischen und physikalischen Vorgänge. So viel scheint ihm aber aus seinen Versuchen hervorzugehen, daß es sich um sehr feine physikalische Vorgänge handeln muß und um solche, „deren Ablauf fortwährend von Zentralorgan beherrscht, gefördert oder gehemmt werden kann“. Von psychischen Vorgängen sah Verfasser nur affektive Vorgänge auf das p. g. Ph. einwirken. Hierauf gründet sich die Brauchbarkeit des Phänomens beim Assoziationsexperiment. Im II. Teile sind vier Versuche in extenso wiedergegeben. Im Anhange befinden sich die zugehörigen instruktiven Kurven mit den in Stäbchenform registrierten Galvanometerausschlägen, unter denen auf einer Horizontalen die Reaktionszeiten markiert sind. Die Analyse der einzelnen Reaktionen wird eingehend und mit Hilfe der Freudschen Technik durchgeführt. Das Hauptergebnis dieser Versuche ist der Nachweis, daß den Komplexreaktionen in den meisten Fällen ‚‚zu lange“, d. h. über dem wahrscheinlichen Mittel des Gesamtversuches liegende Ausschläge entsprechen, wodurch der zu lange Ausschlag als wertvolles neues Glied in die Reihe der Komplexmerkmale eintritt. Wichtig ist ferner die Unterscheidung zwischen der Asso- ziationskurve (Veraguth) und den Komplexkurven, d. h. solchen Abschnitten der Assoziationskurve, die sich auf deren Gesamtverlauf als sekundäre Wellen abheben. Das Studium des Verhaltens der Kom- plexkurven ist dem Verfasser wertvoll zur Beurteilung des affektiven Typus der Versuchspersonen. Verfasser bespricht eingehend den ab- fallenden Schenkel der Komplexkurve und dessen Beziehungen zu der abfallenden Kurve, die man erhält bei einem unabhängig vom Ex- perimente bestehenden starken Affekt sowie bei innerer und äußerer Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Experimente (die beigegebenen Tafeln illustrieren diese Verhältnisse). Durch hier nicht näher wieder- zugebende Überlegungen kommt er zu folgendem Resultate: ‚Ein bestehender Komplex (Daueraffekt, Dauerkonzentration auf etwas anderes als die Experimentreize) hemmt die psychische Verarbeitung

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 979

des Reizes. Er bleibt assoziations- und gefühlsarm. Aus dem Mangel an neuen Affekten ergibt sich der Mangel an neuen Innervationen und daher auch das Verschwinden der Ausschläge. Daß die Kurve all- mählich absinkt, erklärt sich daraus, daß der akute Affekt allmählich erlischt, wohingegen die durch den Affekt geschaffene Hemmungs- einstellung noch längere Zeit anhält.“ Da das Absinken der Galvano- meterkurve der Ausdruck der Zunahme des elektrischen Leitungs- widerstandes der Versuchsperson (im wesentlichen der Haut) ist, lassen sich diese Verhältnisse auch so ausdrücken: Der el. L. w. der Versuchsperson nimmt überall da ab, wo es zu einem Zuwachs an Innervationen kommt, hingegen zu, wo eine Hemmung oder ein Wegfall an Innervationen eintritt (in der Ruhe, im Schlafe, bei rein intellektueller geistiger Arbeit, bei dauernder Ablenkung der Aufmerksamkeit).

Im III. Teile werden die Beziehungen zwischen Ausschlag und Reaktionszeit eingehend gewürdigt und die Ursachen erläutert, die zu einer auffallenden Diskrepanz in dem Verhalten der beiden Komplex- merkmale führen können. Intellektuelle und sprachliche Gründe wirken hier mit, vor allem aber die Perseveration, deren große Rolle beim Assoziationsexperimente überhaupt in der Arbeit klar zutage tritt. Ein besonderes Augenmerk richtet Verfasser auf das sehr interessante Verhalten der Ausschläge bei den Klangassoziationen, wobei er zu dem Ergebnis gelangt, daß ein bei einer Klangreaktion auftretender zu langer Ausschlag auf eine tiefere inhaltliche Verknüpfung der beiden Klang- assoziationen hinweist, die aber öft im Unbewußten liegt und durch Psychoanalyse aufgedeckt werden muß. Daß verdrängte Komplexe auf das p. g. Ph. einzuwirken vermögen, wird an einigen Beispielen klar zu machen versucht.

Der IV. Teil enthält umfassende und in fünf Tabellen nieder- gelegte Berechnungen über Ausschläge und Reaktionszeiten bei den vier Gruppen der gebildeten und ungebildeten Männer und Frauen. Hauptergebnisse: ‚Die Differenz zwischen dem wahrscheinlichen und dem arithmetischen Mittel der Ausschläge ist ein sichereres Kri- terium für die Emotivität der V.P. als die Differenz zwischen beiden Mitteln der Reaktionszeiten.“ „In allen vier Gruppen von Ver- suchspersonen entsprechen den zu langen Reaktionszeiten auch zu lange Ausschläge. In allen vier Gruppen nimmt die Größe des Ausschlages mit der Zahl der Komplexmerk- male zu. Nur die Komplexlehre, die aus dem Auftreten der Komplexmerkmale auf das Vorhandensein einer ge-

374 C. G. Jung.

fühlsbetonten Vorstellungsmasse schließt, gibt uns das Verständnis für diese Beobachtung.“ Binswanger.

* ”* *

Mit der tatbestandsdiagnostischen Anwendung des Asso- ziationsexperimentes befassen sich folgende Arbeiten der Züricher Klinik: | Jung: Die psychologische Diagnose des Tatbestandes.

Verlag von Karl Marhold, Halle, 1906.

Allgemeine Darstellung und Auffassung des Experimentes. Praktische Anwendung bei einem Diebstahl.

Derselbe: Le nuove vedute della Psicologia eriminale. Contributo al metodo della „Diagnosi della conoscenza del fatto”. |

Rivista di Psicologia applicata. Anno IV, p. 287—304. =

Praktische Anwendung bei einem konkreten Diebstahle mit mehreren Verdächtigen.

Stein Philipp (Budapest): Tatbestandsdiagnostische Versuche bei Unter- . suehungsgefangenen. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane,

1909.

Die Arbeit beschäftigt sich mit Untersuchungen über konkrete Tat- bestände bei Schuldigen, Verdächtigen und Unwissenden. Das Material wurde teils in der psychiatrischen Klinik, teils im Untersuchungsgefängnisse in Zürich gewonnen und hat, weil es aus der lebendigen Wirklichkeit der Kriminalpraxis hervorgeht, ein besonderes Interesse.

* > *

Jung: Der Inhalt der Psychose.

Freuds Schriften zur angewandten Seelenkunde. III. Heft, 1908. Franz Deuticke, Leipzig und Wien.

Die Arbeit, ein akademischer Vortrag, beschäftigt sich mit der großen Veränderung in der psychologischen Auffassung der Psychosen, welche die Einführung der Freudschen Psychologie gebracht hat. In allgemein verständlicher Weise wird zuerst die Schwenkung von der anatomischen Betrachtungsweise zu der psychologischen dargestellt; sodann wird an Hand einer Reihe von konkreten Fällen der psycho- logische Aufbau der sogenannten Dementia praecox in Umrissen wenig-

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8375

stens geschildert. Die Schrift will nichts als eine orientierende Einleitung in die modernen Probleme der psychologischen Psychiatrie sein.

1909 ist die Schrift auch in russischer und polnischer Sprache erschienen.

Jung: siehe Bleuler und Jung.

Ladame (Genf): L’assoeiation des id6es et son utilisation comme möthode d’examen dans les maladies mentales.

L’encephale, journal mensuel de Neurologie et de Psy- chiatrie, Nr. 8, 1908.

Möglichst objektive Darstellung der Ergebnisse der Assoziations- studien.

Derselbe: Archives de Psyehologie, Tome IX. 1909, p. 76. Referat über Jungs Psychologie der Dementia praecox.

L. stellt mit ziemlicher Ausführlichkeit den Inhalt dar, enthält sich der Kritik und fügt nur am Ende folgenden Passus bei: ‚„Bemerken wir zum Schlusse, wie fruchtbar Versuche dieser Art sind. Nach ihrer Lektüre ist es unmöglich, sich geistig wieder aufs Ohr zu legen und gelassen oder flüchtig die zahlreichen Dementia-praecox-Kranken, die unsere Asyle bevölkern, zu betrachten. Man fühlt sich unwider- stehlich gedrängt, etwas anderes hinter den banalen Symptomen der Psychosen zu suchen, das Individuum zu entdecken und seine normale und abnorme psychische Persönlichkeit.“

Alph. Maeder (Zürich): I. Contributions a la psychopathologie de la vie quotidienne.

(Archives de Psychologie Tome VI.)

Derselbe: II. Nouvelles eontributions a la psychopathologie. (Archives de Psychologie Tome VII.)

I. Eine Anzahl von einfachen Analysen von Versprechen, Ver- gessen, Vergreifen, nach Freud, bei welchen eine verdrängte, negativ gefühlsbetonte Vorstellung nachweisbar ıst. |

II. Verfasser zeigt an der Hand von Beispielen die Arten des Ver- _ sessens durch ‚Isolation‘, ‚„Derivation‘; er bespricht das „‚Abreagieren (decharge &motionnelle) unter Benutzung des Begriffes des Kom- plexes, Andeutungen von „Dissoziation“ werden beim Normalen nachgewiesen, wie die Mechanismen der „Verlegung der affektiven „Irradiation und der ‚‚Identifikation“. Verfasser macht auf die

376 C. G. Jung.

„Automatismes musicaux‘ aufmerksam, auf die indirekten Aus- drucksmittel des Unbewußten; er betont dann die Fruchtbarkeit dieses Grenzgebietes der Psychopathologie.

Derselbe: Essai d’interpretation de quelques r&ves. (Archives de Psychologie, Tome VI.)

Einleitend eine kurze Darstellung der Freudschen Theorie der Traumdeutung und der Psychoanalyse Es folgen vier eigene Traumanalysen als Illustration. Verfasser zeigt mit Beispielen, daß die gleichen Symbole in Träumen, Legenden, in der Mytho- logie im gleichen Sinne häufig angewandt werden. (Speziell: Notice sur le serpent, le chien, l’oiseau, le jardin, la maison, la boite.)

Derselbe: Die Symbolik in den Legenden, Märchen, Gebräuchen und Träumen.

(Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, X. Jahrg.)

Das Denken in Symbolen ist eine niedrige Stufe der Asso- ziation (die Ähnlichkeit zur Gleichheit erhöht), es ist ein häufiger Prozeß der unbewußten Tätigkeit (deswegen die Rolle in Träumen, Hallu- zinationen, Wahnideen, auch in den Gedichten): Beispiele von epilepti- schen Dämmerzuständen. Die Assimilationstendenz des Sexualkomplexes und die Entstehung der Symbole. Deutung des Fisches als Sexual- symbol gibt den Schlüssel zur Erklärung vieler Gebräuche, Volks- glauben (Fisch am Freitag, der Aprilfisch Aprilscherz, das Spiel am Aschermittwoch ...), Legenden und Märchen (Grimm: Die goldenen Fische).

Derselbe: Une voie nouvelle en psychologie. (Freud et son &cole) Coenobium Lugano-Milano, 1909.

Allgemein orientierender Aufsatz über die Freudsche Psychologie (mit Ausschluß der Psychopathologie). Die Psychoanalyse ermöglicht durch Aufdeckung der unbewußten Motivierung eine einheitliche Auf- fassung des Denkens und Wirkens eines Menschen.

Zuerst werden die Störungen der unbewußten Tätigkeit beim Gesunden an Hand eigener Analysen besprochen. Die Störungen sind aufzufassen als Ausdrucksmittel des Unbewußten, als Verrat von uneingestandenen Tendenzen. Der allmähliche Übergang ins Patho- logische wird überall betont. Der Traum steht im innigen Zusammen- hange mit den aktuellen Konflikten des Individuums, er gibt eine Lösung des Unbewußten, welche später häufig angenommen wird

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 377

und zur Verwirklichung gelangt. Die Konflikte entstehen zum Teil unter dem Drucke des Kulturlebens. Folgt eine ausführliche Traum- analyse.

Im Ill. Abschnitte werden die Symbole im Traume, in den Halluzinationen, Erzählungen und Legenden und in der Sprachefbe- handelt. Das Symbol ist eine besondere Form der Gedankenassoziation, welche durch das unscharfe charakterisiert ist; vage Analogien wurden als Gleichheit betrachtet. Es ist wahrscheinlich für das Unbewußte typisch; es hat etwas Infantiles und Primitives. Symbolik in der Volks- sprache (Rabelais, Folklore), in den Legenden, in der Sprache der Wilden Form der Assoziationen bei der Ermüdung, im Abaissement du niveau mental, in den Symptomhandlungen bei abgelenkter Auf- merksamkeit, im Traume und in den Psychosen und Neurosen.

Derselbe: A propos des Symboles.

Journal de Psychol. normale et pathologique, Paris, 1909. Der Aufsatz enthält im wesentlichen das gleiche wie der III. Ab- schnitt der Broschüre: Une voie nouvelle en psychologie. Er ist eine

polemische Schrift gegen Leroy (Paris). Die Symbole müssen das Objekt des wissenschaftlichen Studiums sein. # © . 1, ,"Maeder.

Müller Hermann E. (Zürich): Beiträge zur Kenntnis der Hyperemesis Gravidarum.

Dissertation aus der Universitätsfrauenklinik in Zürich.

Gedruckt im X. Jahrg. der Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift.

Auf Grund einer aufmerksamen klinischen Beobachtung einer

Reihe von Hyperemesisfällen kommt Verfasser zu folgenden Schlüssen:

1. Der Vomitus matutinus gravidarum ist ein psychogenes Symptom.

2. Die Hyperemesis ist in der Mehrzahl der Fälle psychogen.

Obschon Verfasser keine vollständige Analyse beibringt, so hat

er doch in mehreren von seinen Fällen einen psychologischen Einblick

ermöglicht. Überall nimmt Verfasser Rücksicht auf die Ansichten der Freudschen Schule.

Derselbe: Ein Fall von induziertem Irresein nebst anschließenden Er- örterungen,. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, XI. Jahrg.

Ein Fall von abergläubischer Exaltation bei einem religiös über- spannten Frauenzimmer führte bei einer Hysterika, die mit derKranken

378 C. @. Jung.

zusammen lebte, auf Grund des ‚gleichen ätiologischen Anspruches“ zu einer Induktion der Psychose.

Die Heranziehung der Freudschen Analytik gestaltet die Fälle recht hübsch und durchsichtig.

Pfister Oskar, Dr., Pfarrer (Zürich): Wahnvorstellung und Schüler- selbstmord. Auf Grund einer Traumanalyse beleuchtet. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspilege (Expe- dition: Orell Füßh in Zürich), 1909, Nr. 1.

Derselbe: Psyehoanalytische Seelsorge {und experimentelle Moral-

pädagogik. Protestantische Monatshefte (Leipzig, Heinsius Nachf.), 1909, Nr. 1. Derselbe: Ein Fall von psychoanalytischer Seelsorge und Seelen- heilung.

Evangelische Freiheit, Monatsschrift für die kirchliche Praxis in der gegenwärtigen Kultur (Mohr, Tübingen), 1909, Nr. 3—5.

Die drei Arbeiten schildern einige Erstlingsversuche, die Psycho- analyse im Dienste der Pädagogik und Theologie, speziell der Seelsorge, zu verwerten.

Der erstgenannte kleine Aufsatz berichtet von einem 13!/,jährigen Knaben, der infolge eines Traumes sechs Monate lang der Verzweiflung und schließlich dem Suizidium nahe war. Die heftigen Erregungen, welche ihm die Besprechung sexueller Gegenstände mit der Schwester verursachte, verdichteten sich nämlich in dem kurz zuvor von Mastur- bation geheilten Burschen zum Traume, er habe mit ihr Inzest be- gangen, und zur Zwangsvorstellung, dem Traume müsse Wirklichkeit zugrunde liegen. Selbst offene Aussprache mit der durchaus ehrbaren Schwester vermochte keine völlige Beruhigung zu schaffen, bis drei Jahre später die Analyse den Wahn vertrieb.

In der zweiten Arbeit sucht der Verfasser den Nachweis zu liefern, daß viele ethische und religiöse Defekte vollständig konform den hy- sterischen Leiden entstanden sind und überwunden werden können. Um ein anschauliches und übersichtliches Beweismaterial zu erhalten, bedient er sich des Assoziationsexperimentes von Jung, wobei er jedoch nach jeder Reaktion sogleich die Analyse vornimmt. Das Verfahren entbehrt der künstlerischen Feinheit, welche der freien, individuell

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 979

angepaßten Psychoanalyse einen so hohen ästhetischen Reiz verleiht. Allein die Assoziationsmethode empfahl sich trotz ihres etwas plumpen und mechanischen Charakters durch zwei Vorzüge: 1. Sie kann in primitiver Form von jedem Beliebigen angewandt werden, wenn auch das tiefere Verständnis der gewonnenen Reaktionen ein gründliches Studium der Jungschen Assoziationsforschung und genaue Kenntnis der Traumsymbole wünschbar erscheinen läßt. 2. Sie ermöglicht eine statistische Kontrolle der Komplexvorgänge.

Bewegen sich die beiden beleuchteten Arbeiten vorwiegend auf dem Gebiete der Pädagogik, so führt der dritte Aufsatz auf das der Pastoration. Geschildert wird die Heilung eines 19!/,jährigen Jüng- lings, der seit beinahe vier Jahren an der Zwangsvorstellung litt, er müsse nach einem nutzlosen, moralisch verwerflichen Leben im Irrenhaus enden. Seit einem Jahre waren die Impulse zum Selbst- mord bis zum Entschluß vorgedrungen. Reichliches hypochondrisches Brüten rief regelmäßig Kopfschmerzen hervor. In die Domäne des Pfarrers gehörte der Fall darum, weil der im Geist des freien Protestantismus erzogene Jüngling sich trotz der‘ energischen Ein- sprüche seiner kritischen Vernunft mächtig zum Katholizismus hin- gezogen fühlte und einen förmlichen Madonnenkultus trieb. Die abnormen Erscheinungen lagen begründet in häuslichen Verhältnissen und Szenen, die eine innere Ablösung von Vater und Mutter be- wirkten. Die Zwangsbefüchtungen um die eigene Zukunft gingen, um nur die wichtigste der vielen Bedingungen zu nennen, aus Drohungen des Vaters hervor. In Madonna und der ehrwürdigen Gestalt eines Bischofs fand der Kranke Surrogate für Mutter und Vater. Die Heilung gelang in wenig Besprechungen und hielt bis jetzt (Juni) an.

Die besprochenen Studien wollen andeuten, welche enorme Bedeutung die Psychoanalyse für den Lehrer und Pfarrer besitzt. Sie möchten zeigen, daß nicht nur die erzieherische Behandlung des kranken, sondern auch die des gesunden Menschen infolge der Freud- schen Neurosenlehre eine gründliche Umgestaltung erfahren muß. Es ist aber auch höchste Zeit, daß das grausame und oft verderbliche Herumknien auf der Kindesseele, das Würgen und Pressen des Ge- mütes der Erwachsenen ein Ende nehme und die Einsicht erwache, daß nicht die Knebelung, sondern die Befreiung des Erziehers edelste Aufgabe bildet, wenn auch selbstverständlich die ernste Zumutung, die Verdrängung am richtigen Orte das notwendige Komplement der Analyse bildet. Diese Erkenntnis wird um so gewisser zum Siege ge-

380 C. G. Jung.

langen, je überzeugender der Nachweis gelingt und er gelingt heute schon in Hunderten von Fällen! daß die Analyse milde und schnell die schönsten erzieherischen Ziele erreicht, wo die Askese und Dressur mit ihrer Quälerei und Selbstquälerei nur Not und Verzweiflung hervor- rufen, daß die Analyse das Gemüt sittlich kräftigt, reinigt, heiligt, wo die kirchliche Autorität nur zermalmt und die herkömmliche Praxis im Geiste des freien Protestantismus wirkungslos abprallt. Pfister.

Pototzky (Berlin): Die Verwertbarkeit des Assoziationsversuches für die Beurteilung der traumatischen Neurosen. IR

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXV, p. 521.

Verfasser machte bei zwei Fällen von Unfallneurose das Assoziations- experiment. Bei dem einen Falle ergab sich ein überwiegendes Vortreten des Rentenkomplexes, bei dem andern ein auffallendes Nichthervortreten des gleichen Komplexes, woraus prognostische Folgerungen abgeleitet werden.

Riklin (Zürich): Hebung epileptischer Amnesien durch Hypnose.

Journal für Psychologie und Neurologie, I. Bd., Heft 5 und 6, 1903.

Die Verwandtschaft epileptischer und hysterischer Amnesien wird dadurch erwiesen, daß Verfasser imstande war, durch Hypnose die Amnesien Epileptischer aufzuheben. In der Arbeit sind auch Asso- ziationsexperimente von klinisch-diagnostischem Interesse berichtet.

Derselbe: Zur Anwendung der Hypnose bei epileptischen Amnesien. Journal für Psychologie und Neurologie, II. Bd., 1903.

J. A. Barth, Leipzig.

Enthält die Darstellung eines weiteren Falles mit epileptischen Absenzen, mit Aufklärung der Amnesie, wobei wir jetzt natürlich den Mangel einer Analyse des Absenzeninhaltes bedauern. Patient streichelte in den Absenzen liebevoll] eine Katze, manchmal auch eine Ziege. Seither wurde m. W. in Erfahrung gebracht, daß diese im Anfalle dargestellte Szene ein Bruchstück eines infantilerotischen Erlebnisses ist.

Jung und Riklin: Untersuchungen über die Assoziationen Gesunder. Siehe Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. I. Beitrag.

Riklin: Zur Psychologie hysterischer Dämmerzustände und des Ganser- schen Symptoms,

Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Jahrg. 1904, Nr. 22.

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 381

Ganser hat das Symptom des Vorbeiredens bei hysterischen Dämmerzuständen klinisch beschrieben. In der Folge wurde der Be- griff des Ganserschen Symptoms von den Autoren (namentlich Raecke) bald enger, bald weiter verstanden. Ferner bildete sich die Ansicht aus, es knüpfe sich ausschließlich an den Ausbruch hysterischer Dämmer- zustände bei Untersuchungsgefangenen. Die psychologische Verwandt- schaft des hysterischen, Ganserschen Vorbeiredens mit dem Mecha- nismus der Simulation drängte sich gerade aus diesem Umstande den verschiedenen Autoren auf; erst Jung (Ein Fall von hysterischem Stupor bei einer Untersuchungsgefangenen; Journal für Psychologie und Neurologie, Bd. I, 1902) verpflanzte das Problem auf den Boden Freudscher Psychologie, von dem aus die richtige Wertung und Deutung des Symptoms und des Zustandes möglich war.

Die vorliegende Arbeit berichtet über vier Fälle von hysterischem Dämmerzustande mit dem Ganserschen Symptom. Davon ist nur einer in der Untersuchungshaft aufgetreten, die drei andern nicht. Die psy- chische Lage des Untersuchungsgefangenen, der in die Enge getrieben wird, falsche Antworten gibt, leugnet, und in der höchsten Bedrängnis in einen Dämmerzustand gerät, undin den Symptomen dieses Zustandes erst noch die „automatisierte Simulation‘, das Nichtwissen und Nicht- verstehen, nachdrücklich hervorkehrt, wird damit nur zu einem Spezial- falle. Die allgemeine Situation beim Ausbruch eines Ganserschen Dämmerzustandes ist die, daß ein peinliches Ereignis bei seinem Eintreten durch Verdrängung ins Vergessen gestoßen wird, wegen seiner In- kompatibilität mit dem übrigen Bewußtseinsinhalte. Das Motiv des Nichtwissens oder Nichtwissenwollens produziert das Symptom des Vorbeiredens. Die Orientierungsstörung erweist sich als Wunsch, nicht über die gegenwärtige Lage orientiert zu sein. Im Dämmer- zustande wird das Nichtwissen auch durch kompensatorische Wunsch- phantasien ersetzt. Die auffallende „Einengung des Bewußtseins“ dient dazu, die unerträgliche Vorstellung abzuspalten und einzelne zensurierte, wunschhafte Situationen aufkommen zu lassen.

Derselbe: Analytische Untersuchungen der Symptome und Assozia- tionen eines Falles von Hysterie. (Lina H.) Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 1905, Nr. 46. Die Analyse stammt in der Hauptsache aus dem Jahre 1902/03 und betrifft eine typische, schwere Konversionshysterie. Als theo- retisches und technisches Vorbild dienten damals noch die ‚Studien über Hysterie“. Das therapeutische Resultat muß als recht gut be-

382 C. @. Jung.

trachtet werden; denn die Patientin ist auf ihre körperlichen Symptome seither, also in 6—-7 Jahren, nur noch ausnahmsweise zurückgekommen ; wohl aber hat sich eine ethisch mangelhafte Persönlichkeit enthüllt. Heutzutage hätte man vielleicht nicht mehr den Mut und die Lust, eine Persönlichkeit von so wenig Wert und Entwicklung und mit so wenig Zukunftshoffnungen zu analysieren. Der Erfolg ist darum um so höher anzuschlagen. Das Hauptmoment des Erfolges war die Über- tragung auf den Arzt. Während der Verfasser das Abreagieren für nicht genügend fand, um den therapeutischen Erfolg zu erklären, ging ihm die Kenntnis des Wesens der Übertragung noch ab.

Zur Zeit der Analyse war der Verfasser auch mit der Traum- deutung noch zu wenig bekannt, als daß er daraus hätte Nutzen für die Analyse ziehen können.

Es wurden die Symptome in ihrem Aufbaue analysiert und eine Reihe von psychischen Traumata entziffert; die frühe Kindheit kommt noch zu kurz; hingegen wird an Hand der Analyse der Entstehungs- . mechanismus körperlich hysterischer Beschwerden vielfach nachgewiesen.

In einem experimentellen Teile werden die Assoziations- versuche mitgeteilt. Es war damals noch von großer Bedeutung, nachzuweisen, daß im Assoziationsexperimente die gleichen Mechanis- men arbeiten wie bei der Herstellung hysterischer Erscheinungen, und dıe Gesetze der Komplexwirkungen im Experiment die gleichen sind wie bei Gesunden, nur daß sie in verstärkter Deutlichkeit auftreten.

Eın Abschnitt beschäftigt sich mit dem Assoziationsmechanismus beim Zustandekommen der Konversion und der Theorie des Abrea- gierens. Der Verfasser empfand damals Lücken zwischen Theorie und tatsächlichen Erscheinungen, welche seither durch die Einschaltung der Begriffe Übertragung, Libido und der Kenntnis der infantilen Sexualität reichlich ausgefüllt worden sind.

Derselbe: Die diagnostische Bedeutung von Assoziationsversuchen bei Hysterischen.

Vortrag an der 35. Versammlung des Vereines schweizerischer Psychiater 1904 in St. Urban. Referate im Jahresberichte des Vereines und in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Jahrg. 1904, Nr. 29.

Derselbe: Kasuistische Beiträge zur Kenntnis hysterischer Assoziations- Phänomene.

Siehe Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. VII. Beitrag.

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 383

Derselbe: Über Versetzungsbesserungen.

Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Jahrg. 1905, Nr. 16—18.

Die Eröffnung der Neubauten der züricherischen Pflegeanstalt Rheinau gab Gelegenheit zu beobachten, in welcher Weise die Ver- setzung Geisteskranker von einer Anstalt in eine neue einwirkt. Die Beobachtungen beziehen sich in der Hauptsache auf 85 Patienten, welche der Verfasser vorher im Burghölzli bereits kennen gelernt hatte. Die Besserung wurde bei mehr als der Hälfte der Fälle beobachtet.

Zur Anpassung an die Wirklichkeit hilft die größere Bewegungs- freiheit. Dann vor allem die Arbeitstherapie. Sie bedeutet, namentlich bei der häufigsten Krankheit, der „Dementia praecox‘, ein Herausziehen aus der Introversion, eine Übertragung auf die Wirk- lichkeit. Um die Verarbeitung des neuen Milieus durch diese Kranken zu demonstrieren, setzt der Verfasser in Kürze die psychologische Be- deutung einer Reihe der wichtigsten Erscheinungen bei der genannten Krankheit auseinander (Negativismus; Sperrungen; Wunscher- füllung in den Wahnideen: Dienstmädchenpsychosen; Fruchtbar- keitsideen, Fruchtbarkeitssymbole; Personenverkennung im Sinne der Komplexe; religiöse Wahnideen als Übersetzung erotischer; Wunsch- phantasien in den paranoiden Ideen; ihre Ausarbeitung, Verdichtung, Stereotypisierung, Besetzung des motorischen Apparates durch Kom- plexautomatismen).

Am besten wirkt die Übung und Beschäftigung normal gebliebener Vorstellungskomplexe und Funktionen. In diesem Sinne wirken auch die frühe Entlassung, möglichster Ersatz der Bettbehandlung, welche die Introversion und das ‚Träumen‘ der Dementia praecox begünstigt, durch Arbeitstherapie, welche sie nach außen hın zieht.

An zwei Krankengeschichten wird kurz nachgewiesen, wie die Introversion zustande kommt, wo die Übertragung nach außen nicht gelingt, und wie da der Prozeß viel weiter geht als eine einfache reparatorische Wunscherfüllung in der Phantasie nötig machen würde. Im zweiten Falle konnte auch die versuchte wirkliche Wunscherfüllung die Introversion nicht mehr aufhalten, aus dem Unbewußten meldeten sich Selbstvernichtungsideen, denen der Kranke durch Suizid erlag.

In etwa der Hälfte der Fälle hatte die Versetzung keinen wahr- nehmbaren Einfluß.

Eine Reihe von kurzen Krankengeschichtsauszügen, nach ana-

384 C. G. Jung.

Iytischen Gesichtspunkten wiedergegeben, dient zur Illustrierung der Versetzungserscheinungen. |

Derselbe: Beitrag zur Psychologie der kataleptischen Zustände bei Katatonie.

Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 1906, Nr.32—33.

Es gelang, mit einem Katatoniker mitten in einem schweren „kataleptischen Zustand in Kontakt zu kommen und einiges von dem zu erfahren, was in diesem Zustande in ihm vorging. Aus der Anamnese erwähnen wir, daß der Zustand nach vierjährigem Bestande der Psy- chose einsetzte. Diese äußerte sich zuerst in autoerotischer Selbst- vergrößerung seit dem 18. Jahre. Er suchte die reiche Tochter eines Verwandten zu erobern, in vollständiger Verkennung der Möglichkeit, sie zu gewinnen. Trotz einer Abweisung wiederholte er unbeirrt seine Anträge. Zur Zeit der Aufnahme in die Anstalt waren schon katalep- tische Symptome da; daneben ein beharrliches, uneinsichtiges zur Türe Hinausdrängen, um zur Cousine zu kommen.

Der Zustand des Kranken ist etwa folgendermaßen zu skizzieren: Der Katalepsie liegt geradezu eine Tendenz zu schlafen, ‚ein Toter zu sein“, zugrunde; das mußte aus den Äußerungen der Patienten ent- nommen werden. Der Erfolg dieser Tendenz ist ein ähnlicher wie beim natürlichen Schlafe, gleicht aber noch mehr dem hypnotischen Schlafe. Die Tendenz entspringt einem Motive, nämlich der Verdrängung eines Komplexes, einem Vergessenswunsche.

Im vorliegenden Falle gelang das Durchbrechen dieser Schlaf- tendenz, aber nicht vollständig, so daß während einer im Grunde ge- nommen sehr adäquaten Affektäußerung, z. B. Weinen über die ab- solute Hoffnungslosigkeit, die Geliebte zu erreichen, in Mimik und Haltung eine sonderbare Resultante zwischen Affektäußerung und Schlaftendenz zu bemerken ist. Die beiden Komponenten teilen sich manchmal auch in die Gesichtshälften: einseitiges Weinen; einseitiges Offenhalten der Augen: Offenhalten der Augen bedeutet Rapport mit dem Untersucher, Schließen der Augen: Abbruch des Rapportes, Ob- siegen der Schlaf- respektive Vergessenstendenz.

Durch die ganze Exploration hindurch perseveriert der Gedanke: Ich heirate Emma C., oder: Ich liebe Emma C., und der andere, der die Schlaftendenz als Schutzfaktor unterhält, der in der Antwort der Cousine besteht: ‚‚Von der Zukunft sollst du nichts erwarten.“ |

Leicht geschieht es, daß Patient wunscherfüllende Situationen

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8385

gestaltet, die Geliebte vor sich glaubt, ihr entgegengeht, sie umarmen will, die Geliebte durch anwesende Personen (Arzt, Wärter) sub- stituiert (Personenverkennung), alles immerhin durch den Schleier des kataleptischen Schlafes hindurch.

Durch diesen Schleier hindurch nimmt man ganz adäquate, tiefe Affektäußerungen wahr.

Die Verwertung der Fragen und die Reaktionsweise gehen nach den Gesetzen der Komplexreaktionen in Assoziationsversuch.

Die Beobachtung legt es nahe, den katatonen Erscheinungen bei Dementia praecox im allgemeinen eine analoge Bedeutung zu unterschieben, wie sie im beschriebenen Falle besteht.

Derselbe: Über Gefängnispsychosen.

Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift, XI. Jahrg., Nr. 30—37.

Ein Versuch, die Bilder der Haftpsychosen nach den Ergebnissen der Psychoanalyse zu erklären und zu gruppieren. Die Haft ist eine psychologische Situation, welche bei verschiedener Anlage im dia- gnostischen Sinne doch mehr oder weniger einheitliche psychologische und pathologische Reaktionen auslöst.

Derselbe: Psyehologie und Sexualsymbolik der Märchen.

Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift, IX. Jahrg., Nr. 22-24,

Einige Beispiele aus der größeren Arbeit: ‚„Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen.“

Derselbe: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen.

Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben von Freud, 2. Heft. Leipzig und Wien, F. Deuticke, 1908.

Die Märchenanalyse ergibt meistens eine Verdichtung mehrerer Sagen, das Ganze präsentiert sich in einem infantilisierten Gewande und enthält meistens eine offen zutage liegende Wunscherfüllung. Im Märchen werden die gleichen sexual-psychologischen Grundfragen abgehandelt, wie in der Neurose, und die analytische Technik zu ihrer Erschließung ist dieselbe.

Die Philologen sagen uns, daß die Sagen und Märchen überall entstehen können, und daß das Auftreten eines ähnlichen Motivs an verschiedenen Orten nicht ohne weiteres eine Wanderung des Märchens von einen Ort zum andern beweist. Vielmehr haben wir überall die

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 25

386 C. G. Jung.

gleiche Psychologie, also auch die gleichen Motive für Sagen und Märchen.

Der Verfasser durchgeht zuerst eine Reihe von Formen, in welche sich die Wunschgebilde kleiden: Wunschtraum, Wunschgestalten der Dichter, Wunschgebilde in Kulten und Bräuchen und in den Psychosen. Wunschbildungen sind die Zaubergaben, welche die menschliche Un- zulänglichkeit vervollkommnen. Zugleich sind sie Verkörperungen oder Sinnbilder von psychischen Kräften, die der Sexualität entspringen.

Im Sinne des Wunsches sind die Handelnden Könige und Königs- kinder, Helden oder andere gewaltige Wesen; es ist eine Übertragung der Menschenschicksale ins Königliche und ins Heldenhafte.

Der Ursprung vieler Märchenfiguren bedarf übrigens einer weiteren Forschung und Analyse.

Typische Wunscherfüllungsmärchen sind Stiefmuttermärchen und die, wo sogenannte „Ellbogenkinder“, Schwächlinge, die Helden sind. Die körperliche oder geistige Schwäche ist manchmal nur ein Verwandlungsstadium des Helden.

Die Stiefmuttermärchen sind ein Spezialfall der Märchen mit erotischer Wunscherfüllung, die Stiefmutter eine spezielle Figur der Nebenbuhlerin, besonders der Mutter der Heldin.

Ein Kapitel ist der Symbolik im allgemeinen gewidmet. Es werden die Merkmale und das Zustandekommen von Symbolen er- läutert, das Vorkommen der Symbole in den verschiedensten Gebieten besprochen. Im Märchen werden ausgiebig Symbole verwendet; um sie richtig zu deuten, müssen wir sie mit denen des Traumes und der Neurosen vergleichen; manchmal ist auch eine Analyse möglich durch Vergleichung möglichst vieler Märchen, Mythen, in denen es in bestimmten Zusammenhängen erscheint. So ist eine richtige Deutung möglich. Eine weite Ausdehnung auf allen Gebieten hat die Sexual- symbolik; ausgiebig verwertet wird die Schlange als phallisches Symbol. Verschiedene Sexualsymbole können promisceue in ähnlicher oder gleicher Bedeutung vorkommen: Schlange, Drache, Dämon, Teufel, Riese, Ungeheuer. Es erklärt sich diese Möglichkeit aus dem Wesen der Sexualverdrängung. Die verdrängte Sexualität kann in verschiedenen Gewandungen dargestellt werden. Die Märchen ‚„Oda und die Schlange“ und ‚Der Froschkönig und der eiserne Heinrich“ erhalten durch die Substitution der Sexualsymbole eine klare Deutung. Der Frosch, Zweige von fruchtbringenden Bäumen, große Tiere wie: Bär, Löwe, Stiere, Böcke, Hunde, Vögel werden als männliche Sexual-

Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 387

symbole verwendet. Ihre Verwandlung durch die Erlösung in der Liebe bevreist dies deutlich.

Eine Reihe von Märchen stellen die individuelle Sexualentwick- lung dar, wenn die Deutung vollkommen ist: Die Übertragung auf Vater und Mutter (Ödipusproblem), die Nachwirkung des Vater- und Mutterkomplexes, den Ablösungskampf, der endlich zum Ziele führt.

Ausgiebig verwertet wird der Versuchsmechanismus, besonders die „Verlegung nach oben”, die Substitution der Genitalzone durch die Mundzone, namentlich in den infantilen Befruchtungs- theorien. Die Befruchtung durch Essen oder Verschlucken von Tieren und Gegenständen, welche den Phallus oder Sperma symbolisieren: Fisch, Schlange, Rübe, Kerne von Früchten kommen in vielen Märchen vor; aus dieser Zeugung geht ein Held hervor; fast immer war die Mutter der Helden vorher unfruchtbar, die Befruchtung wird zum Wunder; die Zeugung durch Götter und Dämonen in verschiedener sexualsymbolischer Gestalt ist eine weitere Form der Mensch- werdung des Helden. Die Schwangerschaft wird im Märchen vom „Bärchen und die drei Ritter“ dargestellt durch die Inkubation einer Rübe im Ofen.

Das Inzestmotiv (Ödipusmotiv) wird in verschiedenen Mär- chen ausführlich behandelt.

In der Geschichte des jungen Tobias ist ein Märchenbeispiel, wo das sadistische Motiv: das grausame Umbringen aller Männer, die nicht einen bestimmten Zauber durchbrechen, in Verbindung ge- bracht ist mit dem Vaterkomplex. Die Verfolgung im Märchen (Stiefmutter, Drache usw.) ist gewöhnlich das Bild des Kampfes gegen Vater- und Mutterkomplex; die Stiefmutter ist die eigene Mutter, die durch die Zensur so dargestellt wird.

Die Arbeit wird dokumentiert durch eine Reihe von Beispielen aus verschiedenen Märchensammlungen und anderen Quellen. Riklin.

Schnyder (Bern): Definition et Nature de P’Hysterie.

Congres des medecins alienistes et Neurologistes de France et des pays de Langue Francaise.

XVIIme Session. Gen&ve-Lausanne, 1907. Gendve 1907.

Die Arbeit berücksichtigt die Lehrmeinungen einer umfangreichen

Literatur. Unter den Referaten findet sich auch eine objektive Dar-

stellung des Breuer - Freudschen Standpunktes, sowie der Komplex-

lehre. Die modernen Gesichtspunkte lehnt Schnyder ab. ‚‚Les idöes 25*

388 C. G. Jung.

de Freud et de ses partisans representent certainement une contri- bution importante ä la solution du problöme de l’hysterie. Ou peut reprocher au savant viennois d’introduire dans la conception psycho- logique de l’'hysterie une me&canisation arbitraire, de s’appuyer sur des hypothöses assur&ment ingenieuses, mais d’un caractere trop subjectif pour pouvoir pretendre ä une valeur scientifigue incontestable.‘

Schwarzwald (Lausanne): Beitrag zur Psychopathologie der hysterischen Dämmerzustände und Automatismen. Journal für Psychologie und Neurologie, Bd. XV, 1909.

Es handelt sich um einen Fall von psychogenem Dämmerzustand, in welchem der Kranke Feuer an sein Haus legte. Das Material ge- stattet mehrere psychologische Einblicke in den Mechanismus der Tat und des Falles überhaupt. Die Infantilgeschichte ıst leider unvoll- ständig; Verfasser tut aber Unrecht daran, auf die Geschichte der Infantilentwicklung ganz zu verzichten. Die Kindheit des Patienten ist für die Entstehung einer späteren Neurose von größter Bedeutung, zum mindesten von ebenso großer Bedeutung wie die Aktualmomente, wenn nicht von viel größerer.

Eine weitere Vertiefung seiner psychoanalytischen Technik wird den Autor von der Richtigkeit dieser Anschauung überzeugen. Der Traum vom ‚‚kleinen Däumling“, den der Kranke einige Tage vor der Brandstiftung hatte, ist sehr bedeutsam und weist schon durch sein Material auf eine energische Determinierung der Tat durch Kindheits- erinnerungen hin. Das ist der Aufmerksamkeit des Autors entgangen. Die Kindheitsanalyse und die richtige Bewertung ihrer Resultate ist allerdings eines der schwersten Stücke der psychoanalytischen Technik, deren Erwerbung jedem Anfänger recht schwer fallen muß.

+ F =

Am 30. und 31. März 1910 fand in Nürnberg die II. Psychoana- Iytische Vereinigung statt, welche eine private Zusammenkunft der Psychoanalytiker verschiedener Länder darstellt. Bei diesem Anlaß wurde die ‚Internationale psychoanalytische Vereinigung“ gegründet. Als Vorsitzender wurde Dr. C.G. Jung und als Sekretär Dr. Fr. Riklin gewählt. |

Anfragen sind an Herrn Dr. Fr. Riklin, Neumünsterstra ße 34, Zürich V., zu richten, -

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| Privatdozent der Psychiatrie an der Universität in Zürich. | Sonderabdruck aus dem Jahrbuch für psychoanalytische und niyehonatlolasenne RR Forschungen. Band I. er

Binden zur Grundlegung der Psychologie. | | I. Psychologie und Leben. ee, II. Assoziationen und Perioden. II. Leib und Boote. 2

4 Von‘Dr. Hermann Swoboda.. N Preis MI = K3— EN Be

‚Die Eldechen: Tage des Menschen und ihre De a rechnung mit dem Periodenschieber. ER.

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