INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK BAND XII

POPULÄRE VORTRÄGE

ÜBER

PSYCHOANALYSE

VON

DR. S. FERENCZI

NERVENARZT IN BUDAPEST

INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG LEIPZIG ; WIEN / ZÜRICH 1922

WERKEVON EROFSIGM. FREUD

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Fehlleistungen, Traum, Allgemeine Neurosenlehre. Drei Teile in einem Band. Großoktavausgabe, 3. Auflage. 1920.

Taschenausgabe, 1922. (Auf dünnem Papier, in biegsamem Ganzleinen- oder Ganzlederband.)

Die Traumdeutun 9. 6. vermehrte Auflage, mit Beiträgen von Dr. Otto Rank. 1921.

Über den Traum. 3. Auflage 1921.

Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. 8. Auflage. 1922.

Totem und Tabu. Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker. 2. durchgesehene Auflage. 1920.

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. 3. Auflage. 1921.

Über Ps ychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20. jähr. Gründungs- feier der Clark University in Worcester, Mass. 6. Aufl. 1922.

Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 5. Auflage. 1922.

Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Erste Folge. 3. unveränderte Auflage. 1920. Zweite Folge. 3. unveränderte Auflage. 1921. Dritte Folge. 2. Unveränderte Auflage. 1921. Vierte Folge. 1918. | Fünfte Folge. 1922. | |

Studien über Hysterie (mit Dr. Josef Breuer). 3. Auflage. 1916.

Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. (Schriften zur angewandten Seelenkunde, 1. Heft.) 2. Aufl. 1912.

Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.

| (Schriften zur angewandten Seelenkunde, 7. Heft.) 3. Aufl. 1922.

Jenseits des Lustprinzips. (Il. Beiheft der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse.) 2. durchgesehene Auflage. 1921.

Massenpsychologie und Ich-Analyse. 1921.

/IMAGO, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes- wissenschaften. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud.

Redigiert von Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs. Viermal jährlich im Gesamtumfange von mindestens 32 Druckbogen Großquart.

INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYSE. ‚Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud. Unter Mitwirkung von Dr. K. Abraham (Berlin), Dr. J. van Emden (Haag), Dr. S. Ferenczi (Budapest), Dr. E.E Hitschmann (Wien), Dr. E. Jones (London) und Dr. E. Oberholzer (Zürich), redigiert von Dr. Otto Rank. | Viermal jährlich im Gesamtumfange von mindestens 32 Druckbogen Großoktav.

INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG | "LEIPZIG = WIEN ZÜRICH,

Dr. S. Ferenczi

Populäre Vorträge

über

Psychoanalyse

Internationaler

Psychoanalytischer Verlag

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INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK BAND XII

POPULÄRE VORTRÄGE ÜBER

PSYCHOANALYSE

VON

DRS. TERENCZI

NERVENARZT IN BUDAPEST

INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH 1922

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten

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Copyright 1922 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.“, Wien 1.

Gedruckt bei K. Liebel, Wien.

Vorwort

Dieser Band enthält eine Reihe von Vorträgen über psychoanalytische Themen für ärztliche und nichtärztliche Laien. Sie wurden zu einer Zeit gehalten (manche noch im Jahre 1907/38), wo die Literatur der Psycho- analyse in jeder Hinsicht einfacher und übersichtlicher war, so daß ihre populäre Darstellung eher gelingen konnte; sie dürften sich als erste Anregung auch heute bewähren. Für jene, die sich für die hier nur an- gedeuteten Gedankengänge näher interessieren wollen, empfiehlt sich die Lektüre von Freud’s „Fünf Vorlesungen“, seiner „Vorlesungen zux, Einführung in die Psychoanalyse“ (3 Teile), sowie der Arbeit von Rank und Sachs über „Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“.

Nebst den populären Vorträgen enthält dieser Band auch einige Aufsätze aus späterer Zeit, deren Verständnis kein besonderes Fachwissen erfordert. Die rein medizinisch-fachlichen Arbeiten des Verfassers sollen als besonderer Band dieser Bibliothek erscheinen.

Ein Teil dieser Aufsätze und Vorträge erschien in meinen von E. Jones ins Englische übersetzten „Contributions to Psychoanalysis“ und fast alle auch ungarisch.

Budapest, im Mai 1921.

S. Ferenczi.

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Über Aktual- und Psychoneurosen im Lichte der Freudschen Forschungen und über die Psychoanalyse“

Aus Anlaß des Ill. Ungarischen Psychiatrischen Kongresses in Budapest hielt ich vor mehrerer Jahren einen Vortrag über „Neur- asthenie“, in dem ich die richtige nosologische Einordnung dieses viel zu bunten Krankheitsbildes, des Deckmantels so vieler falscher oder fehlender Diagnosen, verlangte. Und obzwar ich im Rechte war, als ich mich dafür aussprach, daß die eigentliche Erschöpfungs- neurasthenie von allen anderen nervösen Zuständen, unter anderen von den nur psychiatrisch erklärbaren, scharf zu sondern ist, be- ging ich doch einen schwer gutzumachenden Fehler, indem ich die Neurosenforschungen des Wiener Universitätslehrers Prof. Freud außeracht ließ. Dieses Versäumnis muß mir um so eher angerechnet werden, als ich von den Arbeiten Freuds Kenntnis hatte. Schon im Jahre 1893 las ich seinen gemeinschaftlich mit Breuer verfaßten Artikel über den psychischen Mechanismus der hysterischen Sym- ptome, später eine andere selbständige Arbeit, in welcher er infan- tile sexuelle Traumen als die Ursachen oder Ausgangspunkte der Psychoneurosen anspricht. Heute, wo’ ich mich in so vielen Fällen von der Richtigkeit der Freudschen Lehren überzeugt habe, muß ich mich wohl fragen, warum ich sie damals so rasch verworfen habe, warum sie mir von vorneherein unwahrscheinlich und gekünstelt erschienen und besonders: weshalb die Annahme einer rein sexu- ellen Pathogenese der Neurosen in mir einen solch’ starken Wider-

* Vortrag gehalten in der „Budapester Kgl. Gesellschaft der Ärzte“ 1908.

ÄAbgedruckt in der „Wiener Klinischen Rundschau“ Nr. 48—51, 1908. 1

Ferenczi, Elemente.

2 Über Aktual- und Psychoneurosen

willen hervorrief, daß ich sie nicht einmal einer näheren Prüfung würdigte. Zu meiner Entschuldigung muß ich allerdings anführen, daß die übergroße Mehrzahl der Fachmänner, unter ihnen so be- deutende wie Kraepelin und Aschaffenburg, noch heute Freud gegenüber einen gänzlich abweisenden Standpunkt einnehmen. Die wenigen aber, die es später doch versuchten, die eigentümlichen Probleme der Neurosenkasuistik mittelst der mühsamen Methode Freuds zu lösen, wurden enthusiastische Anhänger der bis dahin gänzlich unbeachteten Richtung.

Wie verlockend es auch wäre, kann ich es doch nicht unter- nehmen, die Entwicklungsgeschichte des Freudschen Ideenganges vorzutragen und zu erzählen, wie Breuer und Freud in den Eigen- heiten eines Hysteriefalles, die einfach für Zufälligkeiten hätten ange- sehen werden können, allgemein giltige und für die zukünftige Entwick- lung der normalen und pathologischen Psychologie zu ungeahnt großer Rolle berufene seelische Erscheinungen entdeckt haben. Ich muß es mir auch hier versagen, den nunmehr allein schreitenden Freud auf dem mühsamen Wege, auf dem er zu seinem heutigem "Standpunkte anlangte, weiter zu begleiten. Ich beschränke mich da- rauf, insoweit es in einem Vortrage möglich ist, die hauptsächlichsten Knotenpunkte seiner Theorie zu beleuchten und deren Bedeutung mit Beispielen aus dem Leben zu illustrieren.

Eines der Grundprinzipien der neuen Lehre ist, daß der Sexuali- tät eine spezifische Rolle bei den Neurosen zukommt, daß die meisten Neurosen im Grunde nichts anderes sind, als Decksymp- tome einer abnormen vita sexualis, und daß nur die Entlarvung dieser Abnormitäten die Krankheitsäußerungen der Neurosen verständlich und auf Grund des Verständnisses der Heilung zuführbar macht.

Als erste Gruppe der Neurosen unterscheidet Freud jene nervösen Zustände, bei denen irgend eine aktuelle Regelwidrigkeit in der Physiologie der Sexualfunktion, ohne Mitwirkung psycho- logischer Faktoren als Krankheitsursache wirkt. Zu dieser Gruppe gehören zwei Krankheitszustände, die Freud mit dem Namen „Aktualneurosen“ benennt, die wir aber im Gegensatz zu den Psychoneurosen auch Physioneurosen nennen könnten. Es sind dies: die Neurasthenie im engeren Sinne, und eine scharf um- schriebene Symptomgruppe mit der Benennung Angstneurose.

Über Aktual- und Psychoneurosen 3

Wenn wir von den bisher als Neurasthenie bezeichneten Krank- heitsfällen alles ausscheiden, was anderen, natürlicheren, nosologischen Verbänden zugeteilt werden müßte, so bleibt eine gut charakte- risierte Gruppe zurück, bei der Kopfdruck, Spinalirritation, Obsti- pation, Parästhesien, verminderte Potenz und unter der Wirkung dieser Zustände eine Gemütsdepression vorherrschen. Als ur- sächlichen Faktor der 'neurasthenischen Neurose in diesem engen Sinne fand Freud die exzessive Masturbation. Um dem nahe- liegenden Einwande der Banalität entgegenzutreten, betone ich, daß es sich hier um einen exzessiven und meist lange nach er- reichter Pubertät fortgesetzten Onanismus handelt, also nicht nur um die gewöhnliche Onanie im Kindesalter. Diese letztere ist meiner Erfahrung nach so allgemein verbreitet, daß ich eher beim voll- kommenen Mangel autoerotischer Antezedentien die Normalität eines Menschen in Zweifel zu ziehen geneigt bin.

Die ätiologische Würdigung der Onanie ist in ständiger Fluk- tuation begriffen; den Wellenberg bezeichnete die Annahme, daß sie die Ursache der Tabes sei, das Wellental die Meinung von ihrer vollkommenen Unschädlichkeit. Ich schließe mich jenen an, die die Bedeutung der Onanie weder zu hoch noch zu gering anschlagen und kann auf Grund eigener Beobachtungen bestätigen, daß bei der Neurasthenie im Sinne Freuds die übertriebene Selbstbefriedigung niemals fehlt und die Krankheitserscheinungen zureichend erklärt.

Ich bemerke gleich hier, daß diese unmittelbare neurasthenie- erzeugende Wirkung der Masturbation nicht so schwerwiegend ist wie die Zerrüttung des Gemütes, die sie zur Folge hat. Die Men- schen leiden unsäglich unter dem Bewußtsein der vermeintlichen Schädlichkeit und Unsittlichkeit ihrer onanistischen Handlungen. Meist trachten sie, diese Leidenschaft zu unterdrücken; aber indem sie der Charybdis der Neurasthenie ausweichen, können sie an der Scylla der Angstneurose oder einer Psychoneurose Schiffbruch leiden.

Die Masturbation wirkt dadurch krankmachend, daß sie den Organismus mittels wertloser Surrogate sexuell entspannen will, oder wie Freud sagt: durch inadäquate Entlastung. Eine solche Art der Befriedigung erschöpft, wenn sie übertrieben wird, die neuro- psychischen Energiequellen. Die normale Begattung ist nämlich ein komplizierter aber doch reflektorischer Vorgang, deren Reflexbögen

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Über Aktual- und Psychoneurosen

hauptsächlich nur das Rückenmark und subkortikale Zentren durch- ziehen, allerdings unter Mitbeteiligung auch höherer psychischer Sphären. Bei der Masturbation hingegen, wo die äußeren Reize so armselig sind, entnimmt das Erektions- und Ejakulationszentrum hauptsächlich der Phantasie, also einer psychischen Energiequelle, jenen. Grad von Spannung, der den reflektorischen Mechanismus in Gang bringen kann. Es ist verständlich, daß eine solche gewollte Befriedigung mehr Energieaufwand erfordert, als der fast un- bewußte Begattungsakt.

Bei der zweiten Form der Aktualneurosen, der Freudschen Angstneurose finden wir folgenden Symptomkomplex: allgemeine Reizbarkeit, die sich meist auch in Schlaflosigkeit und Gehörshyper- ästhesie manifestiert; eine eigentümliche chronisch-ängstliche Erwar- tung, z. B. fortwährende Angst vor der eigenen Erkrankung oder Verunglückung, sowie vor der der Angehörigen; Angstanfälle mit Herz- und Athembeschwerden, mit vasomotorischen und sekreto- rischen Störungen, die im Patienten die Furcht vor Herzlähmung und Schlaganfall erwecken. Die Angstanfälle können rudimentär erscheinen, als Schwitzanfall, Herzklopfen, plötzliches Hungergefühl oder Diarrhoe. Manchmal äußern sie sich nur in Ängstträumen und nächtlichem Aufschrecken. Schwindelanfälle spielen oft eine große Rolle bei der Angstneurose; sie können so hochgradig sein, daß sie die Freizügigkeit des Kranken mehr oder minder beeinträchtigen. Ein großer Teil der Agoraphobien ist eigentlich die entfernte Folge solcher Schwindelanfälle; der Kranke hat Furcht herumzugehen, das heißt: er fürchtet, von einem Angstanfall auf offener Straße über- rascht zu werden. Die Phobie ist gleichsam eine: Schutzmaßregel gegen die Angst, die Angst selbst aber eine psychologisch nicht weiter analysierbare, rein physiologisch zu erklärende Erscheinung.

Alle diese ÄAngstsymptome und Symptomkomplexe könnte man ohne Mühe mit den so viel mißbrauchten Namen Hysterie oder Neurasthenie benennen, wäre es Freud nicht gelungen, ihre ätiologische Einheit nachzuweisen. Die Angstneurose entsteht näm- lich immer dann, wenn die geschlechtliche Libido auf irgend eine Art vom Psychischen abgelenkt wird. Es ist eine der bedeutendsten Entdeckung Freuds, daß dieses Fernhalten der Psyche von der Libido subjektiv sich als Angst geltend macht, daß also die vom

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Orgasmus abgehaltene Sexualerregung physiologische Wirkungen hervorruft, deren psychologisches Korrelat die Angst ist. Die Angst- neurose steht in dieser Hinsicht in diametralem Gegensatz zur Mastur- bationsneurasthenie, wo es sich um eine übermäßige Inanspruch- nahme der psychischen Besetzung bei einem natürlicherweise auto- matisch sich abwickelnden Vorgange handelt. Mit einem der Physik entlehnten Vergleiche könnte man die neurotische Angstentbindung, die Umwandlung der Lust in Angst bei Absperrung vom Psychi- schen, mit der Umwandlung der Elektrizität in Wärme bei Engerwerden der Leitung in Analogie bringen. Allerdings pflichtet Freud nicht einer physikalischen sondern einer chemischen Erklärung der Aktualneurosen bei, betrachtet sie als chronische Intoxikation durch Sexualsubstanzen.

Zu den bekanntesten der von Freud beschriebenen Formen der Angstneurose gehört die virginale Angst. Sie entsteht dadurch, daß die unvorbereitete Psyche sich bei den ersten sexuellen Erleb- nissen an der Libido nicht beteiligen kann. Sehr häufig .ist die Ängstneurose eine Folge frustraner Erregungen, wie sie beson- ders bei Verlobten vorkommen. Schwerere Formen der Angstneu- rose verursacht bei Männern der coitus interruptus und bei Frauen das Ausbleiben des Orgasmus infolge der Ejaculatio praecox beim Manne, die ihrerseits meist die Folge der Masturbation ist. Bei der enormen Verbreitung des voreiligen Samenergußes kann es nicht Wunder nehmen, daß die Kombination: neurasthenischer Gatte, nervös-ängstliche Frau so außerordentlich häufig ist. Nebst der immer vorhandenen Koinzidenz einer dieser Schädlichkeiten mit der Angst- neurose spricht auch der therapeutische Erfolg dafür, daß Freud Recht hatte, als er die Ablenkung der Libido vom Psychischen für die spezifische Ursache der Angstneurose erklärte. Werden nämlich die besagten schädlichen Umstände oder Störungen beseitigt, so schwin- den auch die Symptome der Angstneurose. Das Heilmittel der virgi- nalen Angst ist die Gewöhnung, die der anderer Ängstneurosen die Enthaltung vor unzweckmäßigen Arten der Befriedigung; sehr oft schwindet die Angst der Gattin, wenn die Potenz des Mannes gehoben wird. Auch die schwersten Fälle dieser Neurose, bei denen alle be- kannten Beruhigungsmittel im Stiche ließen, heilen, wenn die sexuellen Schädlichkeiten beseitigt werden. Diese Entdeckung Freuds er- weitert also nicht nur unsere Einsicht in die Genese vieler nervösen

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Zustände, sie setzt uns auch in den Stand, auf diese Einsicht eine rationelle und wirksame Therapie zu gründen.

Das zweite, schwierigere Kapitel der Freudschen Lehren, seine Auffassung der Psychoneurosen, verläßt die mechanistisch- chemische und anatomisch-physiologische Grundlage vollkommen; Freud kann sie nur psychologisch erklären.

Zwei Krankheitszustände rechnet er zu dieser Gruppe: die Hysterie und die Zwangsneurose.

Die Zwangsneurosen werden heutzutage meist unter den „Neur- asthenien“ untergebracht; von der Hysterie hingegen ist schon längst bekannt, daß sie eine psychogene Neurose ist, deren Sym- ptome von psychologischen Automatismen verursacht werden. Doch vermochten es die Autoren nicht, so sehr sie mit den diesbezüg- lichen Beobachtungen und Experimenten die neurologische Erkennt- nis bereicherten, die variablen Krankheitsbilder der Hysterie von einem einheitlichen Gesichtspunkte zu übersehen. Sie konnten auch nicht verständlich machen, was bei diesem Kranken diese, bei jenem jene Gruppe oder Reihe von hysterischen Symptomen determiniert. So lange dies aber nicht gelang, stellte jeder Hysteriefall, wie die Sphinx, nur Fragen, auf die man nicht antworten konnte. Während aber die Sphinx mit starrer Ruhe ins Unendliche blickt, wird die Hysterie nicht müde, ihr Angesicht als wollte sie unsere Un- wissenheit verhöhnen zu merkwürdigen und stets unerwarteten Grimassen zu verzerren. Die Krankheit wird endlich eine Plage nicht nur für den Leidenden, sondern auch für den Arzt und die Umgebung. Der Arzt wird bald müde, die Medikamente und Bäder- kuren zu variieren und kombinieren, verzichtet auf die flüchtigen Erfolge der Suggestion und erwartet sehnsüchtig den Sommer, wo die Hysterischen aufs Land je weiter, umso besser geschickt werden können. Kehren sie aber auch gebessert zurück: bei der ersten ernsteren seelischen Erregung stellt sich mit unzweifelhafter Gewißheit die Rezidive ein. So geht das Jahre, Jahrzehnte hin- durch, so daß kein praktischer Arzt mehr an die in den Lehr- büchern gepriesene Benignität der Hysterie glauben will. Unter solchen Umständen verkündet das Evangelium Freuds von der Endeckung des wahren Schlüssels der Hysterie eine förmliche Er- lösung für Ärzte und Patienten.

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Breuer war der erste, dem es gelang, die Krankheitserschei- nungen einer Hysterischen auf Psychotraumen zurückzuführen, auf seelische Erschütterungen, an die sich die Patientin gar nicht er- innerte, deren Erinnerungsbild aber samt dem entsprechenden Affekt im Unbewußten lauerte und, einem in die Seele eingeschlossenen Fremdkörper gleich, dauernde oder sich wiederholende Erregungs- zustände im neuropsychischen Apparat hervorrief. Es gelang Breuer und Freud in vielen Hysteriefällen mit Hilfe der hypnotischen Hyper- mnesie nachzuweisen, daß die Krankheitserscheinungen eigentlich die Symbole solcher latenter Erinnerungen waren. Wurde dann der Patient ‘im Wachen an die so entdeckten Äntezedentien bewußt erinnert, so war ein starker Affektausbruch die nächste Folge, nach dessen Ab- klingen aber die Symptome verschwunden waren. Nach der ursprüng- lichen Auffassung Breuer’s und Freud’s war die Einklemmung der Affekte dadurch verursacht, daß das Individuum im Momente der seelischen Erschütterung verhindert war, auf den Reiz mit adäquater motorischer Entladung, mit Rede, Geste, Mimik, Weinen, Lachen oder den Ausdrucksbewegungen des Ärgers, des Hasses zu reagieren, oder aber diese Gefühle auf dem Wege der Ideenassoziation zu zer- teilen. Die in der Psyche unerledigt gebliebenen, zur unbewußten Erinnerung gehörenden Gefühle konnten dann auf das Körperliche ausstrahlen, sich in hysterische Symptome „konvertieren“. Die Be- handlung von den Autoren „Katharsis“ benannt verschaffte dann dem Patienten die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen, die unerledigten Gefühle „abzureagieren“, worauf die pathogenen Wir- kungen der bewußt und affektfrei gewordenen Erinnerung aufhörten.

Aus diesem Samen sproß die Freud’sche Seelenuntersuchungs- methode, die Psychoanalyse hervor. Dieses Verfahren verzichtet auf die Hypnose, es wird im wachen Zustande des Patienten zur Anwendung gebracht. Dies macht es für eine größere Zahl von Patienten zugänglich, und beseitigt zugleich den Einwand, daß die bei der Analyse ermittelten Tatsachen auf Suggestion beruhen.

Um den Sinn dieses Verfahrens zu erklären, kann man von Freud’s Ansicht über das Vergessen ausgehen.

Freud machte die merkwürdige Entdeckung, daß nicht alles Vergessen auf dem naturgemäßen Erblassen der Erinnerungsspuren mit der Zeit beruht, sondern daß wir uns vieler Eindrücke nur darum

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nicht entsinnen können, weil eine kritische Instanz der Seele, die Zensur, es zustande bringt, die für das Bewußtsein lästigen oder unerträglichen Gedanken unter die Schwelle des Bewußtseins zu drücken. Diesen Abwehrvorgang nennt Freud Verdrängung und führt den Nachweis, daß viele normale und krankhafte Seelenvor- gänge nur bei Annahme dieses Mechanismus verständlich werden. Doch die Verdrängung sowie das dauernde Unterdrückthalten un- liebsamer Erinnerungen gelingt fast niemals vollständig; der Kampf zwischen dem verdrängten, nach Reproduktion ringenden Gedanken- komplex und der ihn zurückdrängenden Zensur endet zumeist mit einem Kompromiß; der Komplex als solcher bleibt vergessen (un- bewußt), wird aber im Bewußtsein durch irgend eine oberflächliche Assoziation vertreten. Als solche Komplexvertreter oder Komplex- symbole qualifizierte Freud die freien Einfälle, d. h. Gedanken, die die logische Gedankenreihe durchbrechend, scheinbar ohne jeden Zusammenhang plötzlich im Bewußtsein auftauchen. Die Erlebnisse der Kindheit z. B. sind meist ganz vergessen. Will man sich ihrer entsinnen, so fallem einem lächerlich kleinliche, bedeutungs- und harmlöse Dinge ein. Wir wüßten nicht, warum sich unser Gedächt- nis mit ihnen beschwert hat, wäre es Freud nicht gelungen nach- zuweisen, daß diese Einfälle „Deckerinnerungen“ bedeutsamer und meist gar nicht harmloser Kindheitseindrücke sind. Versteckte Kom- plexe lassen sich nebst den Deckerinnerungen auch hinter den schein- bar unwesentlichen Störungen der Rede und der Motilität vermuten (Versprechen, Vergreifen, Verlegen), sowie hinter gewissen stereo- typen, spielerischen, sinnlosen Bewegungen (den „Symptomhand- lungen“ Freuds).

Jung hat dann experimentell nachgewiesen, daß bei der so- genannten freien Assoziation auf Reizworte alle „gestörten“ Reak- tionen (Verlängerung der Reaktionszeit, „mittelbare“ oder sonst auf- fallende Reaktionsworte, Vergessen des Reaktionswortes beim Re- produktionsversuch usw.) bei näherer Analyse sich als durch einen „Komplex“ konstelliert erweisen. Bei den gleichzeitig mit den Reak- tionen beobachteten Intensitätsschwankungen eines durch den Körper geleiteten schwachen galvanischen Stromes, fand Jung jedesmal einen Anstieg der Kurve bei den „Komplexreaktionen“, der als Zeichen

einer durch die Affektentbindung verursachten Schwankung des

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elektrischen Leitungswiderstandes gedeutet werden mußte. Jung geht nun bei seinen Analysen von den Reizworten der so gefundenen Komplexreaktionen aus und führt den Nachweis, daß die an solche sich knüpfenden Einfälle leicht und rasch zu pathogenen Gedanken- gruppen führen.

Eine schwierige Aufgabe ist es, die eigentliche Technik des Freud’schen Verfahrens bekannt zu machen. Im engen Rahmen dieses Vortrages muß ich mich auf skizzenhafte Andeutungen beschränken.

Der zu analysierende Patient wird belehrt, daß er ohne jede Kritik, gleichsam seine Gedanken objektiv beobachtend, alles was ihm einfällt, mag es noch so sinnlos, lächerlich, mag es für ihn an- genehm oder unangenehm sein, hersagen soll. Die dabei betätigte Arbeitsweise des Intellekts ist gleichsam der Gegensatz der ge- wohnten Denkarbeit, die ja alle der gerade herrschenden Zielvorstellung nicht unterzuordnenden Einfälle als für sie „wertlos“, „störend“, ein- fach verwirft und nicht weiter verfolgt. Die Analyse aber verlegt den Schwerpunkt gerade auf das, was das Bewußtsein abzuwehren geneigt ist. Darum fordert man den Patienten auf, alles mitzuteilen, was ihm beim Hinlenken der Aufmerksamkeit gerade auf diese Einfälle in den Sinn kommt.. Die Ideenverknüpfung bewegt sich anfangs meist auf der Oberfläche, beschäftigt sich mit den Ereignissen und Eindrücken des Tages. Bald jedoch steigen an der Hand der Einfälle ältere Erinnerungsspuren Deckerinnerungen empor, deren weitere Analyse zum Erstaunen des Patienten selbst, alte und für ihn sehr bedeutsame, nichtsdestoweniger bis nun ganz „vergessen“ gewesene Erlebnisse ans Tageslicht bringt, die vielleicht aktuell vorhandene, bislang unerklärlithe Seelenvorgänge verständlich machen. Eines der Grundprinzipien Freuds ist es eben, daß es im Seelenleben eben- sowenig einen Zufall gibt wie in der physischen Welt. Auch in der Psyche ist alles determiniert, nur sind die meisten Determinanten in einer vor der Kenntnis der Psychoanalyse unerreichbar gewesenen, tieferen Schichte der Psyche, im Unbewußten, versteckt. Unsere Haupt- aufgabe bei der Analyse ist es, dem Patienten seine Gedanken und Gefühlsregungen, auch die unangenehmen und daher abgewehrten, bewußt zu machen und ihn dazu zu bringen, daß er sich die meist unbewußt gewesenen Motive seiner Handlungen eingesteht. Die Ana- lyse, eine Art wissenschaftliche Beichte, erfordert vom Ärzte viel

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Takt und psychologischen Sinn; sie kann nur durch lange Übung erlernt werden. Auch wird man mit dem Lernen nie fertig; jeder Fall erfordert gleichsam eine individuelle Technik, die auf den Bil- ‚dungsgrad, den Intellekt und die psychische Empfindlichkeit ‚des Patienten Rücksicht nimmt. Man arbeitet immer tastend vorwärts, verläßt eventuell eine Fährte, die einen irregeführt hat, sucht dafür neue Andeutungen in den Einfällen und adaptiert die Art und das Tempo der Analyse an die aktuelle Disposition der zu behandelnden Person. Dabei darf man sich niemals auf den moralisierenden Stand- punkt stellen, sondern, dem Grundsatze des ethischen Determinis- mus entsprechend, alles verstehen und verzeihen.

Ein ausgezeichneter Weg zur Entlarvung unbewußter Gedanken und Erinnerungen geht von den Träumen aus. Freuds bedeutend- stes Werk ist eben die Begründung einer wissenschaftlichen Traum- deutung, deren Hauptsatz folgendermaßen lautet: „Der Traum ist stets die mehr-minder verkleidete Erfüllung eines unterdrückten Wunsches“. Die Traumdeutung besteht in der Analyse des Traum- inhaltes; sie ist eine schwierige Aufgabe, die eigens erlernt und geübt werden muß; ohne sie ist aber keine Psychoanalyse denk- bar. Der Traum enthüllt immer ein größeres Stück des Unbewußten als die Einfälle im Wachen, weil die sich vordrängenden Wünsche und zur Reproduktion strebenden latenten Gedanken während des Schlafes von den unterdrückenden Mächten des Seelenlebens viel weniger scharf überwacht werden, als bei Tage. |

Während der Analyse muß man wie gesagt auch alle „Zufalls“-handlungen, Fehlerinnerungen, Fehlgriffe des Patienten, jede unmotivierte mimische Ausdrucksbewegung und’ Geste geradeso der Analyse unterziehen, wie die „freisteigenden“ Einfälle. Zur Ergänzung und Kontrolle der Analyse kann man etwa auch von Zeit zu Zeit das Jungsche Assoziationsexperiment machen, even- tuell die Analyse von dessen ‚Reiz- und Reaktionsworten aus fort- setzen.“

Wird die Analyse auf die angedeutete Art bei einer an Hysterie leidenden Person in Anwendung gebracht, und längere Zeit, mehrere Monate lang, fortgesetzt, so kommen nach und nach

* Dieser technische Kunstgriff erwies sich aber vielfach als störend, so daß man auf ihn lieber verzichtet. (Anm. bei der Korrektur.)

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auch solche verdrängt gewesene Gedanken und Erinnerungen zum Bewußtsein, die mit den Symptomen zusammenhängen. Und ist einmal die Analyse beendet und die gesamte psychische Entwicklung des Patienten zu übersehen, dann wird uns klar, daß auch die hysterischen Symptome nichts anderes als Komplexsymbole waren, die an und für sich keinen Sinn hatten, aber verständlich wurden, nachdem es gelang, die versteckten Vorstellungskomplexe, mit denen sie oft nur mittels eines dünnen Ässoziationsfadens zusammenhängen, aus der Verdrängung zu befreien und bewußt zu machen. Die merkwürdige und erfreuliche Folge einer vollständigen Analyse aller Symptome ist aber auch die oft erst nach neuerlichem Wiederauf- flackern der Krankheit eintretende aber endgiltige Heilung der hysterischen Krankheitszeichen.

Um zu diesen unerwarteten Einblicken in die pathologischen Seelenvorgänge zu gelangen, mußte Freud, abgesehen von der analytischen Beobachtung Nervenkranker, auch ein ganzes Stück der normalen Psychologie selbst bearbeiten. In erster Linie muß seine „Iraumdeutung“ hervorgehoben werden, ein Werk, dem es zum erstenmal gelang, den Sinn jener verworrenen, für bedeutungs- los gehaltenen nächtlichen Halluzinationen, die man Träume nennt, zu entziffern. Dann schuf er die „Psychopathologie des All- tagslebens“, in der alle kleinen, bislang fast unbeachtet geblie- benen Fehlleistungen des normalen Menschen auf Grund des Ver- drängungsmechanismus ihre Erklärung finden. Freud machte auch den ersten gelungen Versuch, eine Art der ästhetischen Produktion und des ästhetischen Genusses, den Witz und das Komische, als die Leistungen unbewußter und vorbewußter Tendenzen und Arbeits- weisen darzustellen, dieselben mit der Traumarbeit in Parallele zu bringen und hiedurch dem Verständnis näher zu rücken. Endlich gab er uns auch den Plan einer zukünftigen Normalpsychologie und Psychogenese, die allen diesen neu gewonnenen Kenntnissen gerecht wird und zweifellos eine glückliche Wendung in der Ent- wicklung dieser vielfach auf Abwege geratenen Disziplin bedeutet. Ich muß es mir leider versagen, auf all dies näher einzugehen, und muß mich hier auf die Mitteilung von Tatsachen, die sich unmittel- bar auf die Pathologie und Therapie der Neurosen beziehen, be- schränken, betone aber, daß das Studium dieser Werke Freuds

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die unerläßliche Vorbedingung jeder erfolgreichen psychöanalytischen Arbeit ist.

Die Seelenanalyse von Psychoneurotikern führte Freud zur bedeutungsvollen und seltsamen Erkenntnis, daß die den Symp- tomen zugrundeliegenden verdrängten Komplexe stets sexueller Natur sind, oder genauer gesprochen, daß unbewußte sexuelle Faktoren in keinem Falle von Psychoneurose fehlen, ja zumeist die Haupt- rolle spielen. Der Schein der Seltsamkeit dieser Tatsache schwindet aber, wenn man erwägt, daß der Sexualtrieb einer der stärksten Instinkte der Lebewesen ist und imperativ zur Betätigung drängt, anderseits beim Menschen alle Kulturmächte von der frühesten Kindheit angefangen an der Unterdrückung dieses Instinktes arbeiten. Die durch Beispiel in der Erziehung gewonnenen ethischen Begriffe: Gewissen, Anstand, Ehre, Rücksicht auf die Angehörigen und die Gesellschaft, dann die Befehle, Drohungen und Strafen der kirch- lichen und staatlichen Autorität, also innerer und äußerer Zwang, errichten in der Seele eine mächtige Zensur gegen die freie Be- tätigung sexueller Triebe, ja sogar gegen die innerliche Bejahung derselben. Der Konflikt ist also unvermeidlich, und kann entweder mit dem Siege der schrankenlosen Sexualität, („Perversität“) oder mit der totalen Unterdrückung derselben enden; das häufigste aber ist eine Kompromißbildung, die es ermöglicht, die sexuellen Wünsche gleichzeitig bewußt zu verneinen und unbewußt zu bejahen. Die Hysterie ist eine Form der mißlungenen Verdrängung. Es gelingt hier dem Bewußtsein, den „unlauteren“ Gedankenkomplex von sich fernzuhalten, aber die affektive Energie des Verdrängten findet doch Mittel und Wege zur Betätigung, sie strahlt ins Körperliche aus, wird in hysterische Symptome konvertiert. Welche individuellen Momente die Lokalisation der Symptome an dieses oder jenes Organ bestimmen, das wird nach der Analyse aus dem assoziativen (ge- danklichen) Zusammenhang des betreffenden Organs oder dessen Funktion mit dem Komplex erklärlich; wahrscheinlich spielt aber dabei auch das „körperliche Entgegenkommen“ (Freud), das heißt eine spezielle Eignung oder Neigung des betreffenden Organs zur Bindung der vom Verdrängten losgelösten Erregungssumme, eine Rolle.

Ich kann es auf Grund zahlreicher Psychoanalysen Hysterischer bestätigen, daß Freud in jedem Punkte Recht hat, und daß seine

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Methode die einzige von den bis nun bekannten ist, die dieses problematisch gewesene Leiden zureichend erklärt. Einige Beispiele will ich hier kurz anführen. |

Ein 17jähriger Jüngling sucht meine Ordination mit der Klage auf, er leide an Speichelfluß und müsse immer wieder spucken. Ich konnte mich überzeugen, daß er die Wahrheit spricht; sein Mund war stets voller Speichel und er entleerte davon unglaubliche Men- gen. Weder die Anamnese, noch die Organuntersuchung vermochte diesen Zustand zu erklären, und ich mußte in Anbetracht der zahl- reichen hysterischen „Stigmen“ annehmen, daß das Symptom funktio- neller Natur, hysterisch sei. Anstatt aber mich mit dieser diagnosti- schen Feststellung und der Anwendung suggestiver Maßnahmen zu begnügen, schlug ich die Psychoanalyse vor. Das erste überraschende Resultat derselben war die Konstatierung, daß die Speichelsekretion in Gegenwart von Frauen bedeutend stärker als sonst war. Auf die Frage, warum er das früher nicht erzählte, kam die Antwort, er hätte diesen Umstand für bedeutungslos gehalten. Das Absprechen jeglicher Bedeutung ist ein beliebtes und oft auch erfolgreiches Mittel der Ablenkung der Aufmerksamkeit von unliebsamen Ge- danken. Später erinnerte sich der Patient, daß er schon früher einmal den Speichelfluß bemerkte; das war in einem populären anatomischen Museum, wo er die Wachsmoulagen weiblicher Geni- talien mit und ohne Geschlechtskrankheiten besichtigte. Er habe sich damals auch unwohl gefühlt, mußte nach Hause eilen und sich die Hände waschen. (Kombination der Hysterie mit einer Zwangs- handlung). Warum er das tat, könne er nicht sagen. Später ent- sann er sich aber, daß in ihm im Museum die Erinnerung an seinen ersten und einzigen Koitus und an die bei diesem Ereignis durch- lebten Unlust- und Ekelgefühle aufstieg. Die Erklärung dieses über- triebenen Ekels vor weiblichen Genitalien kam aber erst gegen das Ende der Behandlung, wo es sich herausstellte, daß er als fünf- jähriger Knabe mit mehreren ungefähr gleich alten Mädchen, darunter mit der eigenen Schwester Cunnilingus getrieben hatte; die gedank- liche Assoziation Genitale—Cunnilingus—Mund machte den hyste- rischen Ptyalismus verständlich. Von dem Momente an, wo er einsah, daß das in seinem Unbewußten fortlebende Kind nach wie vor die Wiederholung dieser von seinem Bewußtsein energisch zurückge-

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wiesenen unzüchtigen Handlung wünsche, wo ihm also sein „Kom- plex“ bewußt wurde, hörte das Symptom auf und kam nicht wieder. Abgesehen vom therapeutischen Erfolg verdankte ich dieser Analyse einen viel tieferen Einblick in die Genese dieses Krankheitsfalles, als ich es früher für möglich gehalten hätte.

Ein 19jährıiges Mädchen, das sich vor Männern immer außer- ordentlich schämte und sie mied, wo sie nur konnte, verlor ihre hysterischen Parästhesien parallel mit der sukzessiven Auffrischung der Erinnerung an passive sexuelle Erlebnisse der Kindheit, die sich auf die mit den abnormen Sensationen behafteten Körperstellen bezogen, sowie mit der Kenntnisnahme der aktuellen unbewußten Phantasietätigkeit, die an diese versteckten Erinnerungen anknüpften. Eine besondere Erklärung ihrer Rückenschmerzen brachte ein in sexueller Hinsicht scheinbar ganz harmloser Traum. Ihr träumte, sie sei in einen kleinen Fluß hineingefallen. Auf Befragen erzählte sie, der Fluß hätte ganz so ausgeschaut, wie ein ihr bekanntes Flüßchen in Oberungarn, Ondova genannt. Doch die Ähnlichkeit dieses Eigennamen mit dem ungarischen Ausdruck für Sperma, „ondö“, ist so auffällig, daß ich mich genötigt fand, ihre diesbezüglichen Kenntnisse auszuforschen. Da stellte sich allerdings heraus, daß die Patientin im Besitze laienhafter Kenntnisse über Samenfluß sei. Da sie aber, wie es sich bei dieser Gelegenheit herausstellte, an weißem Fluß litt, den sie mit dem Samenfluß identifizierte, und der auf ihre früheren onanistischen Praktiken zurückgeführt werden konnte, da sie ferner der weit verbreiteten Ansicht, daß Sperma- torrhoe und Onanie Rückenmarksleiden erzeugen können, Glauben schenkte, so mußte sie nebst der Lust zur Onanie auch den Ge- danken, daß sie an Tabes leidet, verdrängen. Die Rückenschmerzen waren nur die Konversionssymbole dieser Verdrängung. Wer mit der von Freud entlarvten Technik der Traumarbeit und ihrer Ver- wandtschaft mit der Witzarbeit einigermaßen vertraut ist, dem wird diese Deutung nicht allzu witzig oder gezwungen erscheinen.

Hinter den Symptomen einer anderen jungen Hysterischen (singultus, globus, tremor) konnte ich die verdrängten Erinnerungen an einem angeblich im Kindesalter gesehenen Exhibitionisten und an zwei sexuelle Ereignisse der Pubertätszeit, so wie die sich an diese anknüpfenden, gleichfalls verdrängten Phantasien nachweisen.

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Sie werden mich fragen, wie ich mit jungen Mädchen über: „solche Sachen“ sprechen konnte. Die Antwort hat aber schon Freud selbst gegeben in der Gegenfrage, wie sich die Ärzte er- lauben, die Sexualorgane, von denen der ÄAnalytiker nur spricht, wenn nötig, direkt zu inspizieren und zu betasten? Sie geben wohl . alle zu, daß es unsinnig wäre, auf die notwendig erscheinende oynäkologische Untersuchung bei jungen Mädchen mit Rücksicht auf ihr Schamgefühl zu verzichten. Ein nicht geringerer Fehler wäre es aber, die Untersuchung und die Behandlung psychosexueller Leiden aus dem gleichem Grunde abzulehnen. Daß’man die Ana- lyse taktvoll und schonend durchführen muß, versteht sich von selbst; dies ist ja ein Erfordernis bei allen ärztlichen Eingriffen ohne Aus- nahme. Auch ist es nicht die Spezialität gerade der Psychoanalyse, daß Unwissenheit und böser Wille durch sie auch Schaden stiften kann; diese Möglichkeit ist auch in der operativen Gynäkologie gegeben. Dem Ärzte, der sich Genitaluntersuchungen gestattet, die Psychoanalyse aber als unsittlich verurteilt, zitieren wir nach Freud das Goethesche Wort: „Du darfst es nicht vor keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können.“

Ich könnte die Beispiele ad libitum häufen. Eine 40jährige Hysterika, die zeitweise einen unerträglich bitteren Geschmack im Munde verspürt, erinnert sich im Laufe der Analyse, daß sie den- selben bitteren Geschmack empfand, als sie ihrem totkranken Bruder das Chinin nicht wie gewöhnlich selbst verabreichte, sondern durch eine Pflegeperson geben ließ, infolge deren Ungeschicklichkeit die Oblate im Munde zerging und dem Kranken einen sehr bitteren Geschmack verursachte. (Hysterische Identifizierung, Freud). Weiters brachte ich dann heraus, daß die Patientin als Kind von ihrem Vater merkwürdig intensiv geherzt und überzärtlich geküßt wurde; der bittere Geschmack symbolisiert auch den bitteren Geschmack dieser Küsse, der Vater war nämlich ein sehr starker Raucher. Wenn wir ‚noch hinzunehmen, daß die Kranke von diesem nun beinahe 90jäh- rigen aber furchtbar strengen Vater viel „Bitternise“ erdulden muß, so haben wir in diesem Fall ein charakteristisches Beispiel für die Überdeterminierung eines neurotischen Symptoms: eine Krankheitserscheinung repräsentiert hier mehrere verdrängte Komplexe.

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Bei dieser Kranken bereitete mir die Übertragung große Schwierigkeiten. Auf dem Wege von den Krankheitssymbolen zu dem Verdrängten, den die Kranken bei der Analyse durchzu- machen haben, machen sie meist einen letzten Versuch, der Einsicht ins eigene Unbewußte auszuweichen. Sie tun das, indem sie alle ihre vom Unbewußten her verstärkten Affekte (Haß, Liebe) auf den behandelnden Arzt übertragen. Doch vermag die taktvolle und ein- sichtige Fortsetzung der Analyse die Übertragung zu lösen, dieselbe sogar der Analyse dienstbar zu machen.

Die hysterischen ÄAttaquen, Krampf- und Obihrachtsänfälle kommen, wie es die Analysen beweisen, zustande, wenn ein äußerer Reiz sich so intensiv mit dem Verdrängten assoziiert, daß das Be- wußtsein vor dessen Reproduktion nicht anders flüchten kann, als indem es sich dem Unbewußten ganz überläßt. Wird also die Seele an ihren hysterogenen Punkten stark berührt, so kann Bewußtseins- verlust die Folge sein. Das ist die „Überwältigung durch das Un- bewußte“ (Freud);die im Anfall produzierten Zuckungen, Ausdrucks- bewegungen, sind Symbole und Begleiterscheinungen unbewußter Phantasien. Hier ein Beispiel:

Ein 15jähriger Schlosserlehrling leidet seit 3 Wochen an Attaquen von Bewußtseinsverlust mit tonisch-klonischen Krämpfen; die Anfälle enden damit, daß der Patient drei-viermal die Zunge ausstreckt. Der erste Anfall trat auf, nachdem ihn die Gehilfen „in den Bock ge- spannt“ haben; es ist dies eine rohe aber an manchen Orten beliebte Unterhaltung; sie besteht darin, daß man jemanden, der diesen Spaß noch nicht kennt, die gefaltenen Hände unter den gebeugten Knieen bindet, dann durch die Lücke zwischen den Knieen und den Ellen- bögen eine Stange einführt, und 'den auf diese Art ganz wehrlos ge- machten um die Stange herumdreht. Bei dem großen Schreck, den man als Opfer dieses Schmerzes empfindet (ich habe es als Kind einmal durchgemacht) hätte ich die Krankheit früher einfach für traumatische Hysterie erklärt. Seit Freud weiß ich aber, daß auch bei Neurosen nach Erschütterungen meist eine in der Vorgeschichte begründete Disposition nachzuweisen ist. Ich versuchte also die Ana- lyse. Bald stellte es sich heraus, daß der Junge vor ungefähr 3 Monaten in einen Tümpel mit stinkendem schmutzigem Wasser hinein- sefallen war, wobei ihm etwas von der ekelhaften Flüssigkeit in den

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Mund drang. Er fühlte sich damals unwohl und die Reproduktion dieses Erlebnisses löst auch in der Analyse einen starken Anfall aus. Ein noch stärkerer Anfall ging der Erinnerung an folgendes Erlebnis aus dem 13. Lebensjahre voraus: Er spielte mit seinen barfüßigen Kameraden auf der Wiese; man spielte den „blinden Jäger“, es wurden ihm die Augen verbunden, und die andern durften ihn mit einem Stock hänseln. Da hatte einer der Spielge- nossen den gräulichen Einfall, den Stock, den man ihm entgegenhielt, mit Exkrementen zu beschmieren. Er griff zu: die unerwartete Em- pfindung der Feuchtigkeit und das Lachen der Anderen veranlaßte ihn, die Binde sofort von den Augen zu entfernen, dabei war es aber unglücklicherweise nicht zu vermeiden, daß er den Geruch und Geschmack der schmutzigen Materie zu spüren bekam. Voll erklärt wurde der Fall erst, als es die Analyse herausbrachte, daß er als ganz junges Kind, nebst anderen sexuellen Handlungen, auch die gegenseitige Koprophagie mit seinen kleinen Freunden versuchte, und daß er, wenn ihn die Mutter küßte, mit dem Gedanken kämpfen mußte, daß man das auch mit ihr versuchen könnte. Der Umstand nun, daß der letzte große Schreck (beim Scherz der Schlosserge- hilfen) auch unwillkürlichen Harn- und Kotabgang zur Folge hatte, erweckte wahrscheinlich alle diese, für den Jungen längst unerträg- lichen, daher verdrängten Wünsche und Erinnerungen, vor deren Reproduktion er ins Unbewußte flüchten mußte, nicht ohne den In- halt der bewußtseinsunfähigen Phantasien durch die Zungenbewe- gungen anzudeuten. Eine Zeitlang konnte ich prompt einen Anfall auslösen, wenn ich auf eines der beiden exkrementellen Bedürf- nisse zu sprechen kam. Erst nach längerer pädagogischer Be- mühung brachte ich ihn dazu einzusehen, daß Schlechtes denken, und Schlechtes tun nicht dasselbe ist, und daß er diese kindischen Phantasien ohne Gewissensangst zu Ende denken dürfe. Zum Schluß machte ich bei dem Jungen einen mit der Änalerotik asso- ziierten ausgesprochen masochistischen Partialtrieb bewußt; darauf- hin hörten die Anfälle ein für allemal auf. Solche Fälle stützen die Annahme Jungs, der die Analyse für eine Energiekur an- sieht, die die Patienten gewöhnt, sich die eigenen für das Bewußt- sein unangenehmen Vorstellungen und Wünsche freimütig ein- zugestehen.

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erenczi, Elemente,

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Ist eine gründliche Analyse möglich, so kann man bei jedem ein- zelnen Hysteriefalle „perverse“ Kindheitserinnerungen und eben solche unbewußte Phantasien ermitteln. Die manifest meist sehr prekäre Sexualität der Hysterischen lebt sich in den verdrängten perversen Gedanken und deren Konversionssymptomen aus; die Be- handlung hat nicht nur das Aufhören der Bildung und der Erhal- tung von Symptomen zur Folge, sondern auch die Fähigkeit zum normalen Sexualleben. Wem das letztere durch äußere Umstände verwehrt ist, der muß eben nach Beendigung der Analyse seine Libido „sublimieren“, d. h. bewußt auf asexuelle Ziele ablenken.

Die Zwangsneurose (Zwangsvorstellungen, Zwangshand- lungen) ist die zweite große Gruppe der Psychoneurosen nach Freud. Beim Zwangsmenschen drängen sich gewisse mit dem son- stigen Gedankenkreise scheinbar gar nicht zusammenhängende Vor- stellungsgruppen unmotiviert ins Bewußtsein. Der Kranke hat volle Einsicht in das Unlogische, Krankhafte seines Monoideismus, versucht aber vergeblich ihn los zu werden. Oder er muß eine koordinierte, aber, wie er es ganz gut weiß, absolut zweck- und sinnlose Bewe- gung fortwährend wiederholen und kann sie mit der größten An- strengung nicht unterdrücken. In solchen Fällen versagten früher alle unsere Erklärungs- und Heilversuche. Die letzte mir zugängliche Auflage des Oppenheimschen Lehrbuches bespricht die Zwangs- neurose noch als ein Leiden, dessen Prognose eine „ernste, oder wenigstens eine zweifelhafte“ ist. Nach meiner heutigen Erfahrung war es auch von vorneherein ausgeschlossen, ohne die Freudsche Psychoanalyse, also ohne die Genese und Bedeutung dieser Sym- ptome zu erkennen, dauernde Heilerfolge zu erzielen. Erst die „Seelen- zerlegung“ hat die bizarren Äußerungen dieses Leidens verständlich gemacht. Es stellte sich heraus, daß die Zwangsvorstellung nur schein- bar so ganz unsinnig ist, sich aber als sinnvoll erweist, wenn die Analyse ihre allerdings recht oberflächliche assoziative Verknüpfung mit verdrängten psychischen Gebilden nachweist. Der Unterschied zwischen Hysterie und Zwangsneurose ist der, daß beim Hysterischen die affektive Energie verdrängter Vorstellungskomplexe in körper- liche Symptome konvertiert wird, der Zwangsneurotiker hingegen sich vom Bewußtsein peinlicher Vorstellungen auf die Art befreit, daß er ihnen den ÄAffekt entzieht und diesen auf andere mit den

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Ursprünglichen assoziativ verknüpfte, aber harmlose Gedanken ver- schiebt. Diesen eigentümlichen Vorgang der Affektverschiebung nennt Freud Substitution (Verschiebung). Wir erfahren, daß der sich unausgesetzt vordrängende lästige Gedanke ein unschuldiger Prügel- knabe ist, während die wirklich „schuldigen“ Vorstellungen von ihrem Affekte befreit ungestört im Unbewußten ruhen. Das psychische Gleich- gewicht bleibt solange verschoben, bis es nicht gelingt, den versteckten Gedankenkomplex ausfindig zu machen und den verschobenen Affekt zu seiner Quelle zurückzuführen. Der Weg hiezu ist die Psycho- analyse. Nach Beendigung der Kur hat der Patient volle Einsicht in die moralischen und ästhetischen Schattenseiten seines Seelen- lebens, von der Zwangsvorstellung ist er aber befreit.

Woran es liegt, daß der Eine seine versteckten Komplexe durch ein körperliches, der Ändere durch ein seelisches Symbol andeutet, ist noch nicht entschieden. Nach Analogie des körper- lichen Entgegenkommens bei der Hysterie kann man vielleicht ein psychisches Entgegenkommen, d. h. psychisch-konstitutionelle Momente zur Erklärung der Zwangsgedanken heranziehen. Über diese Frage wird vielleicht die „Familienanalyse“ d. h. die Seelen- zerlegung bei mehreren nervösen Mitgliedern derselben Familie entscheiden.

Mittelst der Analyse gelang es Freud nachzuweisen, daß die wirkliche Quelle der besonders bei Frauen so häufigen Versuchungs- gedanken (sie fürchten ihre Kinder töten, beim Fenster hinaus- ‘springen zu müssen etc.) zumeist die Unzufriedenheit mit der Ehe und die Furcht vor sexuellen Versuchungsgedanken ist.

Eine junge Patientin Freuds, die fortwährend von der Angst gequält war, in Gesellschaft den Harn nicht halten zu können und deshalb in voller Zurückgezogenheit leben mußte, erfuhr bei der Analyse, daß sie eigentlich vor den eigenen sexuellen Wunschvor- stellungen Angst hatte, in denen der Erinnerung an einen Vorfall, wo sie zugleich Orgasmus und Harndrang verspürte, eine große Rolle zukam.

Einer meiner Patienten, ein hochbegabter junger Mann, mußte stets über Leben und Tod, über die Rätsel des menschlichen Orga- nismus grübeln und verlor hierüber alle Lebens- und Arbeitslust. Die Analyse stellte fest, daß er als kleines Kind sexuelle Neugierde

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für die Genitalien seiner Mutter bekundete und den Tod des ge- strengen Vaters zu wünschen sich vermaß („Ödipuskomplex“, Freud). Daher die gänzliche Abwendung von allem Sinnlichen und die philosophische Grübelsucht.

Eine merkwürdige Abneigung, Bücher zu lesen oder auch nur zu berühren, war die Klage eines älteren Mädchens (Arbeiterin), die obzwar schön, vielbegehrt und arm, nicht heiraten wollte. Der Erfolg der Analyse war die Feststellung folgender Tatsachen: Im Alter von 8 Jahren hatte ein 13jähriger Junge mit ihr regelrecht den Coitus ausgeübt, das hat sie aber in der „Periode der ge- lungenen Abwehr“ vollkommen vergessen gehabt, bis sie sich ein- mal im 16. Lebensjahre nach der Lektüre eines Buches über „Jack den Bauchaufschlitzer“ im Traume (?) an die Kindergeschichte er- innerte und eine Zeitlang fortwährend von dem Gedanken geplagt wurde, ihr zukünftiger Ehegemahl werde in der Brautnacht ihre Schande entdecken und sie töten. Trotz ihrer Angst befaßte sie sich auch mit Selbstmordgedanken, allerdings ungewöhnlicher Art: Sie nahm sich vor, zu heiraten, damit der Mann ihren Fehltritt entdecke und sie töte. Sie konnte sich also diesen Wunsch eingestehen, indem sie den Affekt auf das Sterben und nicht auf die Sexualität ver- legte. Die Verlegung der Phobie von dem Schauerroman auf alles Gedruckte, bedeutete eine weitere Station der Verschiebung, und mag im Sinne Freuds als eine Schutzmaßregel gegen das bewußte Auftauchen des angstentbindenden Wunsches und seiner unmittelbaren Derivate aufgefaßt werden. |

Die Idiosynkrasie eines meiner Patienten gegen das fette Fleisch und alles Gesalzene entpuppte sich als Symbol seiner ver- drängten homosexuellen Neigungen. Er wurde, noch ein Kind, von einem älteren korpulenten Jungen gezwungen, den Coitus per os zu dulden (fettes Fleisch Penis, salziger Geschmack = Sperma). Die von Fliess entdeckte dauernde Bisexualität aller Menschen konnte ich nach Freud bei allen Neurotikern in ungewöhnlichem Maße nachweisen. Wie viel davon auf die Konstitution und wie viel auf infantile Erlebnisse und Entwicklungsstörungen zurückzuführen ist, bleibt einstweilen unentschieden.“

* Einen Teil der hier als Zwangsneurose benannten Fälle müßten wir ae im Kapitel „Angsthysterie“ behandeln. (Anm. bei der Korrektur).

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Die Zwangsbewegungen und Zwangshandlungen sind, wie Freud richtig ermittelte, Schutzmaßregeln gegen die Reproduktion von Zwangsvorstellungen und entstellte Äußerungen der Onanie- neigung. Der Verschiebungsarbeit, die, wie wir in einem unserer Fälle sahen, auch im Bereiche der bewußten Gedanken tätig ist, gelingt es endlich, den Affekt von der psychischen Sphäre in das körperliche zu drängen, also auf großen Umwegen dasselbe zu erreichen, was die hysterische Konversion ohne solche Mühe ver- mag. Wir müssen uns also merken, daß hinter jeder Zwangs- handlung eine Zwangsvorstellung versteckt ist, die ihrerseits eine inkompatible Idee des Unbewußten repräsentiert. Der Waschzwang z. B. ist ein recht unlogisches, aber wirksames Mittel zur Milderung peinlicher Zwangsgedanken, deren Komplexe für die eigene mora- lische „Unreinlichkeit“ zeugen. Auch andere Handlungen vom Zwangs- charakter (Zählen, Lesen von Straßentafeln, Einhalten gewisser Ryth- men beim Gehen etc.) dienen dazu, die Aufmerksamkeit von pein- lichen (überwertigen) Gedanken abzulenken. Eine Patientin Freuds mußte jedes Stückchen Papier von der Erde auflesen und in die Tasche stecken: dieser Zwang entwickelte sich sekundär aus Zwangs- gedanken, die auf die Gefahren eines geheimen Liebesbriefwechsels Bezug hatten. Äbergläubische Furcht zwang einen von mir ana- lysierten, sonst sehr aufgeklärten jungen Mann, bei allen möglichen

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Anlässen Geld in die Sammelbüchse eines Tempels zu werfen. Der

im übrigen sparsam veranlagte Patient sühnte mit diesen Opfer- gaben unbewußte schlechte Gedanken wider die Eltern, zugleich aber den längst vergessenen Streich, in ähnliche Büchsen einstmal statt Geld Steine geworfen zu haben. Einen merkwürdigen Fall bewußter Verschiebung des Zwangsgedankens entdeckte ich bei einer Patientin, die von der elterlichen Autorität widerwillig zur Ehe gezwungen, fortwährend über ihr Unglück nachsinnen mußte. Eine Freundin riet ihr dann, sie soll’eher an etwas anderes, harm- loses denken, z. B. an Worte und Buchstaben. Von diesem Momente an grübelte sie immerzu über das Wunder, daß Laute und Worte sinnvoll sind und Gedanken vermitteln können.

Freud folgerte anfangs aus der außerordentlichen Häufigkeit infantiler psychosexueller Traumen bei seinen Patienten, daß die Psychoneurosen nur nach solchen abnormen Kindheitserlebnissen

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auftreten. Doch mußte er später zugeben, daß die Analyse gesunder Menschen oft schwere Psychotraumen des Kindesalters entdeckt, denen nichtsdestoweniger gar keine pathogene Nachwirkung fölgte. Andererseits fand er so manche neurotische Erkrankung. von ganz ge- ringfügigen, scheinbar harmlosen sexuellen Eindrücken determiniert. Nebst der symptombildenden Kraft infantiler Erlebnisse mußte also Freud auch das konstitutionelle Moment zu seinem Recht verhelfen, nur setzte er an Stelle der viel zu allgemeinen, daher nichtssagenden Begriffe der „Disposition“, „Degeneration“, den einer abnormen, zu Verdrängungsmechanismen neigenden Sexualkonstitution. Freud scheute auch vor der schwierigen Aufgabe nicht zurück, die ganze « Entwicklungsgeschichte der Sexualität zu revidieren. Dies tat er in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Er wies hier nach, daß eine im weiteren Sinne genommene sexuelle Lust überhaupt untrennbar vom Leben ist, und den Menschen vom Mo- mente der Konzeption bis zum Tode begleitet. Bei Säuglingen und ganz jungen Kindern z.B. spielen libidinöse Tendenzen eine viel größere Rolle, als wir es bisher zu glauben liebten; ja gerade dieses Alter, die Periode der infantilen Perversion, in der die deutlich bi- sexuelle Libido noch nicht an die Betätigung eines Organs ge- bunden ist, wo noch keine Scham, keine Inzestschranke die Aus- wahl der Sexualziele und Sexualobjekte eindämmt, eignet sich vor- züglich zum Empfangen von Eindrücken und zur Fixierung von Tendenzen, die die Erziehung eine Zeitlang sublimieren kann, die sich aber bei dem neuerlichen organischen Schub der Pubertät '_ energisch vordrängen und eine so starke Verdrängung erfordern, daß eine minder robuste Konstitution sie nicht ohne neurotische Er- krankung verträgt. Es ist klar, daß eine Sexualpädagogik, die diese Tatsachen nicht in Betracht zieht, als wertlos bezeichnet werden muß. Neurasthenie, Anxietät, Hysterie und Zwangsneurose treten

fast niemals gesondert in Erscheinung, das Leben bietet meist ein Gemisch ihrer Symptome. Wo aber die Krankheitszeichen vermischt sind, können wir mit Sicherheit auf die entsprechende „ätiologische Mischung“ (Freud) folgern. Wer lange masturbiert hat und plötzlich abstinent wird, bei dem wird man neurasthenische Parästhesien und Angstzustände nebeneinander antreffen. Wenn eine Frau mit ab- normer Sexualentwicklung „unerlaubte“ Sexualregungen zu verspüren

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beginnt, so wird sie diese verdrängen und zu gleicher Zeit ängst- lich und hysterisch werden. Auch die psychosexuelle Impotenz des Mannes ist ein Gemisch von Aktual- und Psychoneurosen. Es ver- steht sich von selbst, daß die Analyse in solchen Fällen nur die psychogenen Symptome löst, während die physiologisch bedingten als unlösbarer Rest zurückbleiben und nur durch entsprechende sexualhygienische Maßnahmen zu beeinflussen sind.

Ich will es nicht verhehlen, daß mir Analysen auch mißlungen sind. Doch geschah dies nur in Fällen, wo ich die von Freud an- gegebenen Bedingungen einer aussichtsvollen Analyse nicht beachtete, oder wo es mir oder dem Patienten an der zur Analyse unentbehrlichen Geduld mangelte. Einigemale unterbrach ich die Behandlung, weil ich einsah, daß es unter den gegebenen Umständen für den Patienten besser sei, an Verdrängungen zu leiden, als klare Einsicht in die Wirklichkeit zu gewinnen. Für solche eignen sich eher die Kuren von Ibsens Dr. Relling, der bei unglücklichen Menschen „die Lebens- lüge aufrecht zu erhalten“ trachtet.

Nur streifen kann ich hier die erfreuliche Tatsache, daß die wissenschaftliche Anwendung der Psychoanalyse sich auch in der Psychiatrie als fruchtbar erwies. Freud gelang der Nachweis, daß die Wahnideen der Paranoischen nur in die Außenwelt projizierte, unbewußte Gedankenkomplexe sind; Jungs ausgezeichnete Mono- graphie macht die ganze Symptomatologie der Dementia praecox mittelst der Komplexpsychologie verständlich, und Otto Groß räumt dem Freudschen Idiogenitätsmoment auch bei dem manisch-depres- siven Irresein eine große Bedeutung ein.

Noch ein paar Worte über die Ätiologie der Neurosen. Es ist zum Schlagwort geworden, daß Freud die Neurosen ausschließ- lich von sexualtraumatischen Ursachen ableitet. Das ist nicht richtig. Wie oben angedeutet, mißt er ja konstitutionellen Faktoren die ge- bührende Bedeutung bei. Hinzufügen muß ich noch, daß nach ihm auch nichtsexuelle seelische Erschütterungen (Unfall, Schreck, trau- rige Erlebnisse) mit ihrer traumatischen Kraft zur Neurose beitragen oder gar eine solche auslösen können. Allerdings betrachtet Freud die sexuellen Faktoren als „spezifische“ Ursachen der Neurosen, nicht nur weil diese in allen Fällen nachzuweisen sind, sehr oft ohine Mithilfe anderer Ursachen, sondern hauptsächlich, weil sie die

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Symptome des Leidens qualitativ determinieren. Und last, not least weist er auf die Erfolge der analytischen Therapie hin, die das neurotische Symptom heilt, indem sie die patho- genen sexuellen Faktoren ausfindig macht, und durch deren Be- seitigung das Gleichgewicht des Sexuallebens und sexuellen Fühlens herstellt. |

Ich bin darauf gefaßt, daß die Freudsche Sexualtheorie deı Neurosen auch bei Ihnen auf den größten Widerstand stoßen wird. Ich müßte ja an der Richtigkeit der Freudschen Lehren zweifeln, wenn die Zensur gegen das Sexuelle nur bei Nervenkranken nach- zuweisen und bei gesunden Menschen, z. B. bei gesunden Ärzten, keine Spur einer solchen Abwehr zu entdecken wäre. Wir alle be- herbergen in unserem Unbewußten eine Menge verdrängter sexuelier Vorstellungen und Tendenzen, und die Aversion gegen die offene Besprechung von Sexualproblemen ist eine Reaktionsbildung, die deren Bewußtwerden verhindern soll. Auch mich lehrte die Selbst- analyse, daß ich mich früher aus dem gleichen Grunde so hartnäckig gegen die Nachuntersuchung der Freudschen Entdeckungen gewehrt hatte. Ich kann aber versichern, daß die Belehrung, die ich der voraus- setzungslosen Erforschung auch der sexuellen Seelenvorgänge ver- danke, reichlich die Anstrengung aufwiegt, die mich das Über- winden der Antipathie gegen diese Dinge gekostet hat. Leider ent- schädigt mich diese Einsicht nicht für die Jahre in denen ich gegen die Probleme der funktionellen Nervenkrankheiten nur mit den alten, stumpfen Waffen der Neurosenpathologie ins Feld zog.

Es sprach aus mir der praktische Nervenarzt, als ich hier die pathologische Bedeutung der neuen Lehre so sehr hervorkehrte. Von einem höheren, allgemeineren Standpunkte betrachtet, müssen wir es als einen viel größeren Gewinn betrachten, daß wir mit Hilfe der Freudschen Lehren tiefer in die Funktion des psychi- schen Mechanismus und in die Ökonomie der ihn bewegenden Kräfte einblicken konnten.

Ich zweifle nicht daran, daß die Entdeckungen, die wir Freud verdanken, sowohl für die Individual- und Volkspsychologie, als auch für die diese anwendenden Wissenszweige (Pädagogik, Soziologie, Kulturgeschichte, Ästhetik) einen wesentlichen Fortschritt bedeuten.

Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen*

Dem mir vom Äerzteverein erteilten ehrenvollen Auftrag, über die Fortschritte der Neurosenlehre einen referierenden Vor- trag zu halten, könnte ich auf mehrere Arten nachkommen. Ich könnte sämtliche funktionelle Neurosen der Reihe nach vor- nehmen und über die Neuheiten berichten, die sich bei den einzelnen Neurosen-Arten im Laufe der letzten Jahre ergeben haben. Nach einiger Überlegung nahm ich von diesem Plan Abstand, denn, wollte ich Ihnen auch nur die Namen all der Krankheitserscheinungen nennen, die man heute mit dem Sammel- wort „funktionelle Neurosen“ bezeichnet, so entstünde daraus ein solches Chaos von griechisch-lateinischen Wortneubildungen, daß ich damit die Verwirrung, die heutzutage bezüglich der Neurosen herrscht, nur noch steigern würde. Darum versuche ich, mich meiner Aufgabe auf eine andere Art zu entledigen. Anstatt in Einzelheiten einzugehen, will ich die Dinge einheitlich überblicken und den Ge- samteindruck wiedergeben, den der Nervenarzt von dem heutigen Stand dieses seines Fachgebietes empfangen kann.

Einer der geistreichsten deutschen Schriftsteller Georg Christian Lichtenberg warf einmal die paradoxe Frage auf, warum es den Forschern nie einfällt, daß man Entdeckungen nicht nur mit Hilfe des Vergrößerungsglases, sondern vielleicht auch mit einer Verkleinerungslinse machen könnte. Er meinte offenbar, daß das unausgesetzte Forschen nach den Einzelheiten, in das sich die

* Aus einem 1909 im Budapester Aerzteverein gehaltenen Vortragszyklus.

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Wissenschaft verbohrt und wobei sie die Uebersicht über das Ganze vergißt, zeitweilig aufzugeben wäre, um die’ bereits erzielten Ergebnisse aus einer gewissen Distanz einheitlich zu überblicken. Er will daher ungefähr dasselbe, was Herbert Spencer als die notwendige Phase jeder natürlichen Entwicklung bezeichnet, nämlich: die Differenzierung soll zeitweise von der zusammenfassenden, integrierenden Arbeit abgelöst werden.

Wenn ich nun sämtliche Neurosen durch ein solches Ver- kleinerungsglas betrachte, so reduziert sich deren Vielfältigkeit ganz von selbst zu einer Zweiteilung, die sich nicht weiter integrieren läßt.

Die eine Art der Neurosen, wenn sie auch das Seelenleben nicht unberührt läßt (es gibt ja überhaupt keine Krankheit ohne Beteiligung der Psyche), spielt sich doch wesentlich auf somatischem Gebiete ab. Eine andere große Gruppe der Neurosen dagegen äußert sich, wenn es auch bei ihnen nicht ganz ohne körperliche Begleiterscheinungen abgeht, hauptsächlich in seelischen Ver- änderungen, ja sie verdankt auch ihre Entstehung ausschließlich seelischen Erschütterungen.

Sie werden vielleicht erstaunt sein, daß heutzutage, im Zeit- alter des Monismus, eine solche dualistische Einteilung von Krank- heiten möglich ist. Ich beeile mich auch hier hinzuzufügen, daß dieser nosologische Dualismus sich ganz gut mit dem agnostischen Monismus der Philosophen verträgt, da letzterer wie sein Name besagt nur die einheitliche Gesetzmäßigkeit im Naturganzen postuliert, dabei aber aufrichtig genug ist, zuzugeben, daß wir über das Wesen dieser Einheitlichkeit nichts aussagen können. Die monistische Auffassung ist nach meiner Anschauung vorläufig nur ein philosophisches Glaubensbekenntnis oder ein Ideal, dem man sich nähern möchte, das aber noch so weit von den Grenzen unseres heutigen Wissens entfernt ist, daß wir praktischen Nutzen von seinen Lehren zur Zeit nicht ziehen können. Denn umsonst will man die Sache beschönigen, die Dinge stehen heute so, daß wir einen Teil der Erscheinungen nur physikalisch, eine andere Reihe nur psychologisch analysieren können. Auch der psychophysiologische Parallelismus ist ein, gewiß mögliches, aber eigentlich. recht unwahrscheinliches philosophisches Theorem, durch

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das wir uns in unseren Beobachtungen nicht beirren zu lassen brauchen. Mit einem Worte, wir erklären es für eine Unaufrichtig- keit, wenn man wie es heutzutage üblich ist das seelische Geschehen mit anatomischen und physiologischen Begriffen be- stimmt; denn die Wahrheit ist die, daß wir von der physiologischen Seite des Seelenlebens, wie auch vom anatomischen Substrat seiner Mechanismen nicht das Geringste wissen. Was wir diesbezüglich von der Naturwissenschaft lernten, ist höchstens die Tatsache der zerebralen Lokalisation der Sinnesfunktionen und die Kenntnis einzelner koordinatorischer Zentren für die Bewegungen. Flechsig versuchte zwar, eine moderne Phrenologie auf Grund der chrono- logischen Entwicklungsfolge im Gewebe des embryonalen Gehirns zu.konstruieren, aber das ganze komplizierte System der von ihm angenommenen drei bis vier Dutzend psychischen Zentren, ihrer Projektions- und Assoziationsfasern ist doch nur ein, wenn auch geistreiches, aber äußerst schwankendes theoretisches Gebäude, um das sich der Kliniker nicht viel zu kümmern braucht.

Ganz unfruchtbar blieb bisher auch alles Forschen nach den die Geisteskrankheiten begleitenden anatomischen Gehirnveränderungen wie auch der Versuch, den pathologisch-anatomischen Befund mit den in vivo konstatierten seelischen Symptomen in Beziehung zu bringen, um daraus auf die psychische Funktion der einzelnen Gehirnpartien einen Schluß zu ziehen. Weder bei der Manie oder Melancholie, noch bei der Paranoia, Hysterie und Zwangsneurose fand man irgendwelche Veränderungen bei der mikroskopischen Untersuchung des Gehirns; bei anderen Krankheiten, wie bei Paralyse, Alkoholismus, Dementia senilis, fand man zwar solche Veränderungen, man konnte aber den Zusammenhang der Gehirn- laesion mit dem psychischen Symptombilde nicht angeben, so daß wir getrost sagen können, daß wir heute von einer pathologischen Anatomie der Psychosen und Psychoneurosen gerade so wenig reden können, wie vom materiellen Korrelat der Seelenfunktion überhaupt.

Unsere Gelehrten aber, wenn sie sich auch darein finden, den funktionellen Mechanismus der „denkenden Materie“ noch nicht zu kennen, sträuben sich merkwürdigerweise, dieses Nichtwissen auch bezüglich der Pathologie dieser Materie einzugestehen. Wenn es

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aber ein Falsum ist, statt einfach vom Fühlen, Denken und Wollen von „Molekularbewegungen“ der Gehirnzellen zu sprechen, so ist es eine nicht geringere Unaufrichtigkeit, bei der Beschreibung der sogenannten funktionellen Psychosen und Neurosen mit anatomischen physiologischen, physikalischen und chemischen Ausdrücken um sich zu werfen. Unsere Gelehrten scheinen aber der Änsicht zu sein, daß die docta ignorantia erträglicher als die indocta ignorantia ist, daß also das naive Bekenntnis unserer Unwissen- heit beschämender ist als ein Nichtwissen, das sich in wissen- schaftliche Worte kleidet.

Setzen wir aber den Fall, daß der Mensch es einmal so weit brächte, die 'den 'eigenen Empfindungen Pparallellaufenden Gehirn- veränderungen unmittelbar an sich selbst beobachten zu können: die Zweiteilung der Erscheinungsreihen, die Sonderung des von außen Beobachteten und des innerlich Geschauten, bliebe nichts- destoweniger bestehen. Selbst die genaueste Beschreibung der Be- wegungen der Gehirnmoleküle würde die introspektive Psychologie nicht überflüssig machen.

Für das Verständnis der gesunden und kranken Seele bleibt also die Analyse der unmittelbaren inneren Wahrnehmung die Hauptquelle der psychologischen Erkenntnis; sie hat sogar mehr Aussicht auf Bestand, als die rein materialistische Betrachtungsweise. Haben wir doch erlebt, daß einige unerwartete Entdeckungen die Physik in ihren Grundfesten erschüttern konnten, während die Elemente der Introspektion immer die gleichen bleiben.

Ich konnte Ihnen diese philosophische Exkursion nicht ersparen, obzwar ich dabei immerfort an ein anderes Witzwort des eben genannten Lichtenberg gemahnt werde, daß man sich mit der Philosophie, wie mit einem scharfen Rasiermesser allzuleicht schneiden kann, wenn man damit nicht sehr vorsichtig umgeht. Ich gebe also diese gefährliche Waffe aus der Hand und beschränke mich darauf, nochmals zu wiederholen, daß die dualistische Einteilung der Neurosen beim heutigen Stande unseres Wissens eine vollauf berechtigte ist.

Zu den organischen Neurosen oder, wie ich sie benennen möchte, den Physioneurosen rechnen wir z. B. die Chorea, das Myxoedem, die Basedow’sche Krankheit, die Neurasthenie und die

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Angstneurose im Sinne Freuds, und andere, bei denen die Ursache der Krankheit in Störungen des Stoffwechsels u. dgl. gesucht oder schon gefunden wird. In meinem heutigen Vortrage möchte ich aber Ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich auf die andere große Gruppe der Neurosen, auf die Psycho-Neurosen lenken, auf jene Neu- rosen also, deren Verursachung, pathologisches Wesen und Symptoma- tologie derzeit nur einer introspektiv psychischen Untersuchung zugänglich ist, insbesondere auf die Hysterie und die Zwangsneurose. Ich bemerke gleich hier, daß die Psychoneurosen weder von den „normalen“ seelischen Funktionsweisen, noch von den funktionellen Psychosen scharf zu sondern sind; es sind hauptsächlich praktische Gesichtspunkte, die den Arzt zwingen, Normalität, Psychoneurose und Psychose als besondere Kapitel der Seelenkunde zu behandeln. Vom wissenschaftlichen Standpunkte ist kein fundamentaler Unterschied zwischen den Leidenschaftsausbrüchen des „normalen“ Menschen, den Anfällen des Hysterikers und der Raserei des Geisteskranken.

Die „psychogenetische“ Betrachtungsweise der Psychosen und Neurosen ist uralt.

Erst das Überhandnehmen der materialistischen und mechani- stischen Anschauung im XIX. Jahrhundert verführte die Psychologen und Psychopathologen dazu, auf die naive, aber ehrliche intro- spektive Psychologie zu verzichten und die in den exakten Natur- wissenschaften so erfolgreichen Experimentalmethoden nachzuahmen. Schließlich kam es so weit, daß Ärzte und Naturforscher die kleinen und großen seelischen Probleme des Menschen, als wären sie ihrer Betrachtung nicht würdig, den Belletristen überließen und sich immer mehr auf sinnesphysiologische Registrierarbeit be- schränkten. Seit Fechner und Wundt hat kaum jemand das tote Material der Experimentalpsychologie mit einer irgendwie orientie- renden Idee belebt. Erst Freuds Anstrengungen gelang es in jüngster Zeit, die abgerissenen Fäden zwischen der wissenschaftlichen Psychologie und dem täglichen Leben wieder anzuknüpfen und einen lange brachgelegenen wissenschaftlichen Boden von neuem urbar zu machen.

Ich hatte schon ein anderesmal Gelegenheit, Ihnen, geehrte Kollegen, über den Entwicklungsweg der Lehren und der Methode Freuds, über die Psychoanalyse, zu erzählen. Diesmal will ich nur

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auf die Fortschritte hinweisen, die die Erforschung der Psycho- neurosen der Psychoanalyse zu verdanken hat.

Diese neue Psychologie geht von einer Trieblehre aus. Der Hauptregulator all unseres Handelns und Denkens ist das „Lust- prinzip“, das Bestreben, unangenehmen Situationen möglichst aus- zuweichen, der Wunsch sich mit der allerkleinsten Anstrengung die größtmöglichste Befriedigung zu verschaffen.

Nun kann aber kein Mensch für sich allein bestehen, sondern muß sich in ein kompliziertes, fast unabänderliches Milieu fügen. Schon in früher Kindheit muß er es lernen, einem großen Teil seiner natürlichen Wunschregungen zu entsagen; ist er erwachsen, so verlangt die Kultur von ihm, daß er sogar die Selbstaufopferung für die Gemeinschaft für etwas schönes, gutes, erstrebenswertes ansehe. Die größten Opfer für die Gesellschaftsordnung muß aber der Mensch in Bezug auf seine sexuellen Wünsche bringen. Alle Erziehungsfaktoren wirken auf die Unterdrückung dieser Begierden hin und die meisten Menschen schicken sich ohne besonderen Schaden in diese Forderung.

Die Psychoanalyse zeigte nun, daß diese Anpassung mit Hilfe eines besonderen seelischen Mechanismus geschieht, dessen Wesen darin besteht, daß man die unerfüllbaren Wünsche und die dazu gehörenden Vorstellungen, Erinnerungen und Denkvorgänge ins Unbewußte versenkt. Um es einfacher auszudrücken: man „vergißt“ diese Wünsche und alles, was damit in gedanklichem Zusammen- hang steht. Dieses Vergessen bedeutet aber nicht die vollständige Vernichtung jener Tendenzen und Ideengruppen; die vergessenen Komplexe leben unter der Schwelle des Bewußtseins fort, sie be- halten ihre potentielle Kraft und können unter geeigneten Verhält- nissen wieder zum Vorschein kommen. Der gesunde Mensch schützt sich mit Erfolg gegen die Wiederkehr dieser Wünsche und das Auftauchen der Wunschobjekte, indem er moralische Schutzwälle um diese „verdrängten Komplexe“ baut. Schamgefühl und Ekel verhüllen ihm zeitlebens die Einsicht, daß er jene verachteten, ekelhaften, beschämenden Dinge eigentlich immer noch als Wunsch- vorstellungen beherbergt. Das geht aber nur beim Gesunden so zu; wo aber infolge besonderer Disposition oder durch übergroße Be- lastung jener Schutzwälle der seelische Mechanismus der Verdrän-

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gung versagt, dort kommt es zur „Wiederkehr des Verdrängten“ und damit zur Bildung von Krankheitssymptomen.

. Man stellt oft die Frage, warum die Psychoanalyse gerade der sexuellen Verdrängung eine so große Rolle in der Ätiologie der Psychoneurosen zuschreibt. Doch, die so fragen, vergessen, daß seit jeher „Hunger und Liebe“ die Welt regieren, daß das Streben nach Selbst- und Arterhaltung gleich ‚mächtige Instinkte jedes Lebe- wesens sind. Gäbe es eine Gesellschaft, in der die Nahrungsauf- nahme eine so beschämende Lebensäußerung wäre wie bei uns die Begattung, also etwas, was man zwar tun muß, wovon man aber nicht reden, woran man kaum denken darf, und wäre dort die Art und Weise des Essens so strengen Beschränkungen unter- worfen wie bei uns die sexuelle Befriedigung, so würde dort viel- leicht die Verdrängung der Selbsterhaltungstriebe in der Ätio- logie der Psychoneurosen die Hauptrolle spielen. Die Dominanz der Sexualität bei der Entstehung der seelischen Erkrankungen ist also zu einem großen Teil auf soziale Ursachen zurückzuführen.

Dies sind allerdings vollständig neuartige Anschauungen, die in denkbar schärfstem Gegensatz zu allem stehen, was die mit anatomischen und psychologischen Begriffen arbeitende Neurologie bisher gelehrt hat. Doch schon Claude Bernard sagte es klar her- aus, daß, wenn neue Tatsachen mit alten Theorien in Widerspruch stehen, die Theorien es sind, die man aufgeben muß. Es ist ja möglich, daß diese neue Libido-Theorie der Neurosen auch nicht das allerletzte Wort ist, das über die Neurosen gesagt werden kann; ein solches „letztes Wort“ kennt ja die Wissenschaft nicht. Es ist aber meine Überzeugung, daß es zur Zeit keine Theorie gibt, welche den Tatsachen und ihren Zusammenhängen besser ge- recht würde als die psychoanalytische.

Wie klassifiziert nun die Psychoanalyse die Psychoneurosen ? Was ist die Grundlage, auf die sie ihre Nosologie aufbaut? Die Antwort ist einfach: sie unterscheidet die Krankheitsgruppen nach der speziellen Art, in der die abgewehrten und aus der Verdrän- gung zurückgekehrten „Komplexe“ sich als Krankheitssymptome Geltung verschaffen. Der an Zwangsneurose Leidende versteht es, den affektiven Wert der Komplexvorstellungen auf andere ähn- liche, aber harmlosere Gedanken zu verschieben. So kommt es

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zur Bildung von Zwangsideen, die sich, anscheinend ganz sinnlos, fortwährend vordrängen.

Der Hysterische geht noch weiter; er duldet unter seinen Gedanken nicht einmal diese harmlosen Vertreter der verdrängten Triebregungen und schafft für sie in seiner Körperlichkeit ein Symbol. Er stellt also sowohl die bewußtseinsunfähigen Begierden als auch den gegen sie geführten Abwehrkampf mittels motorischer und sensitiv-sensorieller Symptome dar. Die hysterischen Anästhesien, Schmerzen, Lähmungen und Krämpfe sind nichts als Symbole ver- drängter Gedanken.

Es gibt aber auch andere Arten der Abwehr unangenehmer Vorstellungskomplexe. In der Paranoia löst z. B. der Kranke die ihm unerträglich gewordenen Vorstellungen einfach von seinem „Ich“ los und projiziert Sie auf andere Personen.

Die Grenze zwischen „Ich“ und Außenwelt ist verschiebbar; wir merken oft auch bei Gesunden die Tendenz, unliebsame Vor- stellungen anderen in die Schuhe zu schieben. Dasselbe tut auch der Paranoiker, allerdings viel ausgiebiger. Anstatt sich gewisse Arten des Liebens und Hassens einzugestehen, läßt er diese mit seiner Selbstachtung unerträglichen Gefühle und Gedanken durch unsichtbare Geister in sein Ohr flüstern oder er liest sie aus den Gesichtszügen oder Bewegungen seiner Mitmenschen ab.

Eine vierte Form der Selbstverteidigung gegen die erwähnten Komplexe finden wir bei der Dementia praecox. Seit Jungs und Abrahams grundlegenden Arbeiten wissen wir, daß Menschen, die an diesem Übel leiden, nicht in dem Sinne verblöden, als wären sie unfähig, logische Gedanken zu bilden, sondern, daß sie ihre Libido der Außenwelt so vollkommen entziehen, daß diese für sie sozusagen zu existieren aufhört. |

Der Demente überträgt das ganze Interesse und die Affekt- besetzung, die er der Außenwelt entzieht, auf das eigene Ich; da- her seine kindischen Größenwahnideen, seine infantilen Gewohn- heiten, das Wiederaufleben der autoerotischen Befriedigungsarten, die Rücksichtslosigkeit gegen die Anforderungen der Kultur, über- haupt die vollständige Nichtachtung, Vernachlässigung der Außenwelt.

Alle genannten Arten der Flucht vor unangenehmen Vorstel- lungen finden sich auch innerhalb des „Normalen“. Die körperlichen

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Äußerungen der „normalen“ Gefühlsausbrüche haben viel mit der Hysterie gemein; ein Verliebter vermag seinen Liebesaffekt auf jeden Gegenstand, jede Person zu übertragen, die mit dem eigent- lichen Gegenstand seiner Gefühle in assoziativem Zusammenhange stehen, und das hat nicht mehr Sinn als eine zwangsneurotische Affekt- verschiebung; der Mißtrauische, der Eifersüchtige: wie oft projizieren sie nur die Ahnung der eigenen Nichtsnutzigkeit oder Lieblosig- keit auf andere; und wenn sich jemand in den Menschen getäuscht hat: wird er nicht ein Egoist, ein in sich gekehrter Mensch, der teilnahmslos das Schaffen und Walten der anderen beobachtet und dessen ganzes Interesse seinem eigenen Wohlergehen, seiner körper- lichen und seelischen Befriedigung gilt?

Der berühmte Spruch des Physiologen Brücke „Krankheit ist nur Leben unter veränderten Bedingungen“, gilt also auch für die Psychoneurosen. Funktionale Psychosen und Psychoneurosen unterscheiden sich vom normalen Seelenleben nur graduell.

Nun noch einige Worte von der Ätiologie dieser Neurosen. Die Schriftsteller, die das Leben naiv, aber mit scharfen Augen be- obachten, konnte keine Gehirnanatomie von der Auffassung ab- bringen, daß seelische Erregungen für sich allein im Stande sind, eine Erkrankung der Seele zu verursachen. Während wir Ärzte das leere Stroh physiologischer Schlagwörter druschen, machte Ibsen in seiner „Frau vom Meere“ eine fast tadellose Psychoanalyse, durch die er die Ursache einer Zwangsvorstellung in einem psychischen Konflikt aufdeckte. „Die Frau Agnes“ von Johann Arany*, die ihr weißes Leintuch immerfort im Bache wäscht, leidet an Dementia praecox, deren Stereotypie in der Tragik der Ballade dieselbe Er- klärung findet, die man für .die stereotypen Handlungen vieler Geisteskranker an der Züricher Klinik gegeben hat. Der Waschzwang der Lady Macbeth ist uns viel plausibler geworden, seitdem wir uns überzeugt haben, daß auch unsere Neurotiker mit derselben Zwangshandlung die moralischen Flecken ihres Gewissens wegwischen möchten. Der Mann der Wissenschaft machte sich früher oft über die Naivität des Romandichter lustig, der, wenn er um eine Lösung verlegen war, seinen Helden einfach verrückt werden ließ; und nun müssen wir uns zu unserer Beschämung eingestehen, daß nicht die

* Hervorragender ungarischer Epiker und Balladendichter 3

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Gelehrten, sondern die naiven Dichter im Rechte waren. Die Psycho- analyse zeigte uns, daß der Mensch, wenn er keinen Ausweg aus seinen Seelenkonflikten findet, sich in die Neurose oder die Psy- chose flüchtet. Angesichts der Kurzsichtigkeit der Fachgelehrten, die das übersehen konnten, ist man versucht, wieder jenem Lich- tenberg recht zu geben, der da behauptete: „die Leute vom Fach wissen oft das beste nicht“.

Vor der Psychoanalyse hielt man die Frage der Ätiologie der funktionalen Seelenkrankheiten mit dem Schlagworte „erbliche Be- lastung“ für erledigt. Aber gleichwie es voreilig und unfruchtbar war, die Lösung -des Neurosenproblems mit Hilfe von Anatomie, Physik und Chemie des Gehirns zu forcieren, so war es auch sehr übereilt, zur Erklärung der Neurosenätiologie die erbliche Disposi- tion heranzuziehen, ehe man die Möglichkeiten der zur Erkrankung führenden Einflüsse nach der Geburt erschöpft hatte. Es ist ja unzweifelhaft, daß der Erblichkeit eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Seelenkrankheiten zukommt. Aber über die Natur dieser dispositionellen Faktoren, wissen wir noch gar nichts*, so daß die Zurückführung der Neurosen auf „Degeneration“ gleichbedeutend ist mit dem Bekenntnis der vollen Unwissenheit in pathologischer und der Machtlosigkeit in therapeutischer Hinsicht. Nach der psycho- analytischen Auffassung istniemand vollständig immun gegen zu starke oder zu lange dauernde Belastung oder Erschütterungen des Gemütes, die Disposition hat nur die Bedeutung, daß dem schon von Geburt aus stark Belasteten kleinere, dem robuster Konstituierten größere Erschütterungen Schaden bringen. Natürlich erkennt die Psychoana- lyse auch die Möglichkeit an, daß erbliche Faktoren auch auf die spezielle Art der Neurose Einfluß nehmen können. Freud vergleicht die Erblichkeit der Neurosen mit der Erblichkeit der Tuberkulose. Gleichwie es sich bei der ererbten Tuberkulose bei gründlicher Untersuchung oft herausstellt, daß es sich um eine von der Kranken- umgebung im Kindesalter akquirierte Infektion handelt, nicht nur um mitgebrachte Schwäche des Organismus: so müssen wir bei den Kindern neurotischer Eltern nebst der Erblichkeit auch den ab- normen seelischen Eindrücken eine große Bedeutung beimessen, denen

* Dieser Satz gilt heute,

dank d ch tischen F ) mehr. (Anm. bei der Korrektur.) en psychoanalytıschen Forschungen, nicht

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sie seit ihrer frühesten Kindheit ausgesetzt waren. Jeder Knabe und jedes Mädchen hat z. B. den sehnlichen Wunsch, Vater beziehungs- weise Mutter zu werden, und wir können uns nicht wundern, wenn die Kinder nicht nur die wirklichen oder vermeinten Vorzüge der Eltern, sondern auch ihre Eigentümlichkeiten und neurotischen Symptome sich aneignen. |

Daß die Psychoneurose unter den Angehörigen des weiblichen Geschlechtes häufiger ist, wird verständlich, wenn wir an den Grad- unterschied des kulturellen Druckes denken, der auf der Sexualität der beiden Geschlechter lastet. Den Männern ist schon in der Jugend vieles erlaubt, was der Frau nicht nur in Wirklichkeit, sondern auch in der Phantasie verwehrt ist. Auch die Ehe kennt zweierlei Moral, deren eine für den Ehemann, deren andere für die Frau Giltigkeit hat. Die Gesellschaft ahndet sexuelle Verfehlungen der Frau viel strenger als die des Mannes. Die periodischen Schübe in der weib- lichen Sexualität, die Pubertät, die Menses, die Schwangerschaften und Geburten, das Klimakterium, erfordern von der Frau eine viel stär- kere Verdrängung, als sie beim Manne notwendig ist. All das vermehrt bei ihnen die Anzahl der Psychoneurosen. Besonders unter den Hysterischen sind die Frauen in überwiegender Mehrzahl, während die Männer sich eher in die Zwangsneurose retten. Bezüglich der Paranoia und der Demenz hat man keine verläßlichen Daten über die Verteilung nach Geschlechtern; mein persönlicher Eindruck geht dahin, daß die Paranoia mehr unter Männern, die Demenz eher unter Frauen ihre Opfer sucht.

Im Gesagten habe ich Ihnen eine allerdings sehr rohe und primitive Skizze der psychoanalytischen Neurosenlehre gegeben. Ich weiß aber, daß Sie als Praktiker von mir auch eine Stellung- nahme zu den bisher üblichen therapeutischen Verfahren und wenig- stens Andeutungen über die analytische Therapie erwarten.

Das versteht sich eigentlich nicht so von selbst. „Warum ver- langt man nicht“ fragt Dietl „vom Astronomen, daß er Tag in Nacht, vom Meteorologen, daß er kalten Winter in heißen Sommer, vom Chemiker, daß er Wasser in Wein verwandelt“ und mit welchem Recht verlangt man gerade vom Arzt, daß er sich in die Ver- kettung der Ursachen des verwickelten Lebensprozesses einmengt und den Krankheitszustand des kompliziertesten Naturgeschöpfes,

3*

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des Menschen, in Gesundheit verwandelt? Zum Glück begann man über diese Frage erst zu einer Zeit wissenschaftlich zu grübeln, als die ärztliche Heilkunde schon seit Jahrtausenden an der Arbeit war und auch recht bedeutende Erfolge aufweisen konnte. Ist doch „das Heilen das älteste Handwerk und die jüngste Wissenschaft“. (Nuß- baum). Wäre es anders und müßten wir unsere Heilversuche nicht auf rohe Empirik, sondern auf logische Deduktion gründen, so wären wir noch heute nicht so kühn, die schwere Aufgabe des Heilens auch nur zu versuchen. Auch in der Therapie der Psychoneurosen eilte das Handeln dem Denken weit voraus. Nach dem soeben Vorge- tragenen sind wir erst am Änfange des Weges, auf dem wir über das Wesen der Neurosen einen bestimmteren Begriff zu gewinnen hoffen, und doch füllen bereits die Bücher, die sich mit der Therapie der Neurosen beschäftigen, eine ganze Bibliothek. Wie steht nun der auch in der Psychoanalyse bewanderte Nervenarzt den Fragen der Therapie gegenüber? Biegansky’s Buch über die „Logik in der Heilkunde“, der sich natürlich jedes medizinische Spezialfach unter- werien muß, stellt in der Therapie das nicht ganz neue, aber ohne Zweifel richtige Prinzip als Wegweiser auf, daß ein Heilverfahren nur so weit richtig ist, als es die schädlichen Symptome verfolgt und die nützlichen fördert. Diese Auffassung ist die der pathologi- schen Teleologie; sie steht auf der Grundlage einer Zwecklehre, nach der nur ein Teil der Symptome schädlich zu nennen ist, während in einem andern Teil sich eine automatisch reparierende und kom- pensierende Tendenz äußert. Es ist also nicht vernünftig, die Sym- ptome der Krankheit blindlings „heilen“ zu wollen. Wir werden unserer Aufgabe erst gerecht, wenn wir darnach trachten, die Selbstheilungs- versuche des kranken Organismus, soweit es in unserer Macht steht, zu fördern.

Es ist anzunehmen, daß die bisherige rein empirische Neurosen- therapie in jenen Fällen Erfolge erzielte, in denen es dem Arzte, wenn auch nicht klar bewußt, gelang, die automatisch heilenden Ten- denzen der Natur nachzuahmen. Auch die Symptome der Psycho- neurosen sind nämlich vielfach „teleologisch“ verständlich. Der Kranke, der die unangenehmen Vorstellungen verschiebt, in körperliche Sym- ptome konvertiert, in die Außenwelt projiziert oder sich vor ihnen auf sein „Ich“ zurückzieht, strebt damit einen Zustand seelischer Ruhe

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und Reizlosigkeit an. Bei der Paranoia und der Dementia gelingt die Flucht vor den Uhnlustreizen so vollkommen, daß diese zwei Leiden nach unseren heutigen Erfahrungen für die Therapie voll- kommen unzugänglich sind. Das Mißtrauen des Wahnsinnigen, die Interesselosigkeit des Dementen machten jede seelische Beeinflussung unmöglich. Bei der Hysterie und Zwangsneurose hatte aber auch die vor- analytische Therapie manchen, wenn auch meist nicht dauernden Er- folg aufzuweisen. Viele Kranke wurden gesund, wenn sie aus ihrer Umgebung fort, in ein anderes Milieu versetzt wurden, doch meist ‚war die Rezidive wieder da, wenn sie wieder in die alte Umgebung zurückkehren mußten. Bei vielen gelang es, mehr-weniger anhaltende Erfolge durch die Verbesserung der Ernährung, Stärkung der Körper- kräfte zu erreichen. Aber auch bei diesen war stets zu befürchten, daß, wenn die organische Widerstandsfähigkeit später aus irgend einem Grunde wieder abnehmen sollte, die im Keime nicht erstickte Seelenkrankheit von neuem ausbrechen würde. Auch die meist passa- geren Erfolge des Milieuwechsels verstehen wir eigentlich erst, seit- dem die Psychoanalyse feststellen konnte, daß die verdrängten patho- genen Vorstellungen der Neurotiker sich meist auf die Personen der nächsten Umgebung beziehen und der Arzt nur die instinktive Kom- plexscheu des Kranken nachahmt, wenn er ihn aus seinem Heim, in dem die pathogenen Vorstellungsgruppen nicht zur Ruhe kommen können, entfernt.

Unter den Mitteln der Psychotherapie ist das schlechteste Ver- fahren das sogenannte „ermutigende“ und „erklärende“. Ver- gebens sagen wir dem Kranken, sein Leiden sei kein „organisches“, daß er nicht krank sei, sondern nur so fühle, als ob er es wäre; ver- geblich erklären wir, er müsse nur wollen; durch all das bringen wir den Patienten nur noch mehr zur Verzweiflung. Wenn wir Münch- hausen belächeln, der uns da vorlügt, daß er sich selbst samt seinem Pferde bei den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen habe, dann darf man auch vom Neurotiker nicht verlangen, daß er „sich zusammennehmen“ soll. Dieselbe Kritik verdient das Moralisierver- fahren von Dubois. Nur kurz will ich hier die Fragen der Hyp- nose und Suggestion berühren und bemerke sogleich, daß auf die- sem Wege gewisse Erfolge zu erzielen sind. Schon Charcot er- klärte, die Hypnose sei eine Art künstlicher Hysterie, und die Psycho-

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analyse bekräftigt dies, indem sie konstatiert, daß die Suggestion, ob in der Hypnose oder im Wachzustande angewendet, die Sym- ptome nur unterdrückt, also dasselbe Mittel verwendet, das bei den Selbstheilungswünschen des Hysterikers versagte. Im Unbewußten des Neurotikers, bei dem wir die Krankheitssymptome durch Hypnose erstickten, blieb die krankmachende Vorstellungsgruppe durch diese Kur unangetastet. Sie wird sogar im gewissen Sinne noch vergrößert, das heißt, zu den bisherigen Symptomen gesellt sich nun ein neues hinzu, das allerdings die Äußerung der früher vorhandenen Sym- ptome zeitweilig hindern kann. Wenn die Kraft des suggestiven Ver- botes sich abschwächt (und dazu genügt, daß der Kranke sich aus der Umgebung des Arztes entferne), so können sich die Symptome sofort wieder manifestieren. Ich halte die Hypnose und Suggestion für eine meist ungefährliche, unschädliche, aber wenig Erfolg ver- sprechende Heilmethode, deren Anwendung übrigens schon dadurch sehr beschränkt wird, daß nur ein ganz kleiner Bruchteil der Men- schen wirklich hypnotisierbar ist.

Die Sanatoriumbehandlung vereinigt die Vorzüge des Milieu- wechsels mit denen der Suggestion. Das Hauptheilmittel des Sana- toriums ist die angenehme, imponierende Erscheinung, die Liebens- würdigkeit oder Strenge des Arztes. Besonders Frauen hängen oft mit exaltierter Schwärmerei an der Person des Sanatoriumarztes und können ihm zuliebe sogar ihre hysterischen Launen unterdrücken. Sind sie aber zuhause angelangt, verfliegt der Zauber bald. Die Ge- wohnheit, in Sanatorien zu leben, kann selbst zu einer Art Krankheit werden, die man „Sanatoriumskrankheit“ nennen könnte; viele werden durch sie ihrem Heim und ihrer Beschäftigung vollständig entfremdet.

Die Beschäftigungstherapie, die körperliche und seelische Arbeit, ist eine sehr bewährte Heilmethode der Psychoneurosen, auch sie unterstützt die Flucht vor den quälenden Seelenkonflikten. Leider ist in schwereren Fällen der Kranke meist unfähig, die Energie, die er auf Symptome verschwendet, nützlicheren Zielen zuzuwenden.

Elektrizität, Massage, Bäder usw. sind nur Vehikel der Sug-

gestion und verdienen nur als solche bei der Therapie der Psycho- ' neurosen Erwähnung.

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Die antineurotischen Medikamente zerfallen in zwei Gruppen. Die narkotischen Mittel (Brom, Opium etc.) betäuben den Kranken zeitweilig und verringern mit der seelischen Wachsamkeit auch die Kraft der Symptomäußerungen für eine Zeit. Gewöhnt sich der Kranke an sie oder setzt man sie aus, so erneuern sich die Symptome wieder. Man kann also im Prinzip kein Freund der Medizinverab- reichung sein, wenn man auch manchmal genötigt ist, auch zu diesen Mitteln zu greifen. Die sogenannten spezifischen Heilmittel der Neu- rosen sind meist vollständig wirkungslose oder höchstens suggestiv wirkende Arzneien.

Überblicken wir die bis jetzt besprochenen Heilverfahren und Mittel, so sehen wir tatsächlich, daß diejenigen von einiger Wirkung sind, denen es gelingt, die Selbstheilungstendenz, die Verdrängung, zu verstärken. Diese Wirkung kann aber nicht von Dauer sein, weil der krankheitserregende Konflikt weiter unerledigt im Un- bewuößten verborgen bleibt und, so bald sich die äußeren Umstände ungünstiger gestalten, seine Wirkung wieder fühlbar macht.

Die Psychoanalyse dagegen ist ein Verfahren, das die neurotischen Konflikte nicht mit neuerlicher Verschiebung, zeitweiliger Verdrängung, sondern radikal erledigen will. Sie sucht die Wunden der Seele nicht zu verbinden, sondern sie aufzudecken, bewußt-zu machen. Natürlich nicht, ohne daß sie den Kranken „nacherzieht“ und ihn daran gewöhnt, die unlustvollen Vorstellungen zu ertragen, anstatt sich vor ihnen in die Krankheit zu flüchten. Dieses psychische Heilverfahren hat in vielen Fällen Erfolg. Allerdings dauert es meist viele Monate, bis es dazu kommt, selbst wenn sich der Arzt täglich eine Stunde lang mit dem Kranken beschäftigt. Die Deutung der in der „freien Assoziation“ auftauchenden Ideen, die Analyse der Träume und der Symptome selbst, macht den Kranken allmählich mit dem bisher unbewußten Anteil seines Vorstellungslebens, sozusagen mit seinem zweiten „Ich“ vertraut, das, so lange es der bändigenden Macht des Bewußtseins nicht unterlag, die Seelenfunktionen stören konnte.

Das auf dem Wege der Analyse gewonnene, möglichst voll- ständige Erkennen seiner selbst schafft erst die Möglichkeit, die krankheitserregenden Komplexe unschädlich zu machen, das heißt, sie der Herrschaft der. Vernunft zu unterwerfen.

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Das Bloßlegen der verschütteten Schichten der Seele vermehrte nicht nur das Verständnis für das pathologische Wesen der Psycho- neurosen, es eröffnete nicht nur neue gangbare Wege zur Heilung, sondern gestaltet auch die Prophylaxe dieser Leiden hoffnungsvoller. Was man bisher von der Prophylaxe der Neurosen faselte, konnte bei Unkenntnis der wirklichen Pathogenese des Leidens nicht mehr Sinn haben, als die Verordnung des Dorfschulzen, daß die Fässer drei Tage vor jeder Feuersbrunst mit Wasser zu füllen sind. Die wirkliche Prophylaxe der Psychoneurosen ist nur von einer Ände- rung der Erziehungsmethoden und der sozialen Einrichtungen zu erhoffen, die die Verdrängung auf das unvermeidliche Minimum be- schränkt.

All die Tatsachen und Theorien, mit denen ich Sie im heutigen Vortrage bekannt mache, sind noch Gegenstand starker Kontro- versen unter den Gelehrten, doch eigentlich nur die theoretischen Konklusionen, denn die Gegner der Psychologie Freuds beschränken sich meist darauf, die Unwahrscheinlichkeit seiner Behauptungen zu verkünden, meist unterziehen sie sich aber der mühevollen Aufgabe nicht, sie auf ihre Tatsächlichkeit zu untersuchen.

Die Psychoanalyse beschäftigt sich mit der Ausgrabung der in der Seelentiefe verborgenen archaischen Denkmäler, sie entziffert aus ihnen die Hieroglyphen der Neurosen. Das Recht, über diese Forschungen zu urteilen, haben nur die, die diese hieroglyphischen Zeichen lesen lernen, keinesfalls aber die, die ihre Ansicht auf vor- gefaßte Meinungen oder moralische Werturteile gründen.

Die Psychoanalyse der Träume*

Es ist keine seltene Erscheinung in der Entwicklung der Wissen- schaften, daß die berufsmäßigen Arbeiter der Gelehrsamkeit mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln, mit dem ganzen Rüstzeug ihres Wissens und Könnens irgendeinen Grundsatz der Volksweis- heit bekämpfen, der aber vom Volke mit der gleichen Zähigkeit verteidigt wird, und daß am Ende die Wissenschaft bekennen muß, im wesentlichen sei nicht sie, sondern die volkstümliche Auffassung im Rechte. Es wäre besonderer Untersuchungen wert, zu ergründen, warum das Wissen anstatt auf einer allmählich ansteigenden Bahn, auf solch unregelmäßiger Zickzacklinie fortschreitet, die sich eine Weile der naiven Weltanschauung des Volkes nähert, um sich dann ganz von ihr abzuwenden.

Ich erwähne diese eigentümliche Erscheinung, weil die neuesten psychologischen Forschungen über die Träume, diese merkwürdigen und bizarren Kundgebungen des Seelenlebens, Tatsachen ermittelt haben, die uns zwingen, unsere bisherigen Anschauungen von der Natur des Traumes fallen zu lassen und mit gewissen Einschrän- kungen zur volkstümlichen Auffassung zurückzukehren.

Das Volk hat nie aufgehört, an die Bedeutsamkeit der Träume zu glauben. Die ältesten uns erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen, die zum Lobe der altbabylonischen Könige in Stein gehauen wurden, die Mythologie und Geschichte der Inder, Chinesen, Azteken, Griechen, Römer, Juden und Christen stehen, wie der heute lebende Mann

* Vortrag gehalten in der Kgl. Gesellschaft der Ärzte zu Budapest, Okt.

1909, abgedruckt im American Journal of Psychology, April 1910 und in der „Psychiatr. Neurolog. Wochenschrift“, Nr. 11—13, 1910.

42 - Die Psychoanalyse der Träume

aus dem Volke, auf dem Standpunkte, daß der Traum sinn- und bedeutungsvoll ist, daß man Träume deuten kann. Die Traumdeutung war Jahrtausende lang eine eigene Wissenschaft, ein besonderer Kult, dessen Priester und Priesterinnen nicht selten über die Schick- sale von Ländern entschieden und weltgeschichtliche Umwälzungen hervorriefen.

Diese nunmehr veraltete Wissenschaft fußte auf dem .-uner- schütterlichen Glauben, daß der Traum, wenn auch verhüllt und in dunklen Anspielungen, aber für den Eingeweihten wohl verständlich, die Zukunft bedeutet, und daß die höheren Mächte mittels dieser nächtlichen Erscheinungen die Sterblichen auf bevorstehende wichtige Begebenheiten vorbereiten wollen. In den breiten Schichten der Be- völkerung erfreut sich das „Traumbuch“, dieses merkwürdige Über- bleibsel altbabylonischer Sterndeutung, noch heute großer Beliebtheit und kann, obwohl seine Einzelheiten in den verschiedenen Ländern wesentlich voneinander abweichen, als Produkt des allgemeinen Volks- geistes betrachtet werden.

Demgegenüber finden wir bei der überwiegenden Mehrzahl der neueren Seelenforscher eine fast vollkommene Geringschätzung des Traumes als psychischer Leistung und demgemäß auch das Leugnen von jeglicher Bedeutsamkeit des Trauminhalts.

Manche dieser Forscher betrachten den Traum als sinnlosen Halluzinationskomplex, der im Gehirn des schlafenden Menschen regellos aufleuchtet. Nach der Ansicht anderer ist der Traum nichts als die psychische Reaktion auf jene äußeren (objektiven) oder inneren (subjektiven) Reize, die die sensiblen Endorgane des Körpers während des Schlafes aufnehmen und zum Zentrum leiten.

Es fanden sich nur wenige, die sich auf den theoretischen Standpunkt stellten, daß die schlafende Psyche eine verwickelte, nicht wertlose Tätigkeit entfalten könne, oder daß dem Traum irgend- eine symbolische Bedeutung zukomme. Doch auch den letzteren gelang es nicht, die Absonderlichkeiten der Träume verständlich zu machen; ihre Traumerklärungen zwangen den Traum in das Pro- krustesbett eines gekünstelten Spiels mit Allegorien.

Seit Jahrhunderten stand also das Heer der abergläubischen Traumdeuter dem der Ungläubigen gegenüber, bis vor ungefähr zehn Jahren der Wiener Neurologe Prof. Freud Tatsachen ent-

Die Psychoanalyse der Träume 43

deckte, die eine Vermittlung zwischen beiden einander feindlichen Auffassungen ermöglichten, und die zur Entdeckung des wahren Kerns im Jahrtausende alten Äberglauben verhalfen, dabei auch dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach der Kenntnis des Zusammen- hanges zwischen Ursache und Wirkung vollkommen genügen.

Ich bemerke gleich hier, daß Freuds Theorie des Traumes und seine Art der Traumdeutung sich nur insofern der volkstüm- lichen Auffassung nähert, als sie den Träumen Sinn und Bedeutung zuschreibt. Keineswegs aber stützen die neuentdeckten Tatsachen den Glauben jener, die den Traum auf das Eingreifen höherer Mächte zurückführen und in ihnen Prophezeiungen sehen möchten. Auch die Freudsche Theorie betrachtet also den Traum als ein durch das endo- psychische Geschehen bedingtes Geistesprodukt, und ist nicht geeignet, den Glauben jener zu stärken, die den Traum als Äußerung über- natürlicher Kräfte oder des Hellsehens des Schläfers einschätzen.

Die Psychoanalyse, ein neues Verfahren der Untersuchung und Behandlung von Psychoneurosen, setzte Freud in den Stand, die wahre Bedeutung der Träume zu erkennen. Dieses Verfahren geht von der Grundtatsache aus, daß die Kennzeichen dieser Krank- heiten nur die Sinnbilder gewisser, für das Bewußtsein lästiger, darum verdrängter, vergessener, doch im Unbewußten fortlebender, gefühlsschwangerer Gedankengruppen sind, und daß die Ersatz- bildungen für das Verdrängte verschwinden, sobald es gelingt, die unbewußten Gedanken mit Hilfe der freien Assoziation aufzudecken und bewußt zu machen. Im Laufe dieser analytischen Arbeit kamen auch die Träume der Patienten zur Sprache und Freud machte auch deren Inhalt zum Gegenstande psychoanalytischer Forschung. Zu seiner Überraschung fand er in der Traumanalyse nicht nur eine mächtige Stütze der Behandlung von Nervenkrankheiten, sondern er gewann, gleichsam als Nebenprodukt, eine neue und mehr als alle bisherigen einleuchtende Erklärung des Traumes als psychischer Leistung.

In manchen chemischen Gewerben erweisen sich Materialien, die man bei der Herstellung gewisser Chemikalien nebenbei gewann und vielleicht lange Zeit als unbrauchbar weggeworfen hatte, mit der Zeit oft als wertvolle Stoffe, die sogar das frühere „Haupt- produkt“ der Fabrikation an Wert übertreffen. So ungefähr dürfte es der von Freud nebenbei gefundenen Traumerklärung ergehen;

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sie eröffnet solche Aussichten für die Erkenntnis der gesunden und kranken Seele, daß daneben der eigentliche Ausgangspunkt, die Behandlung gewisser nervöser Krankheitserscheinungen, als wissen- schaftliche Frage zweiten Ranges erscheint.

In der mir zu Gebote stehenden kürzen Zeit kann ich Freuds Traumtheorie nicht ausführlich wiedergeben. Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, die grundlegenden Erklärungen und die wich- tigsten Tatsachen der neuen Lehre vorzutragen und durch Beispiele zu belegen. Ich bilde mir auch nicht ein, daß dieser Vortrag die Hörer überzeugen wird. Nach meiner bisherigen Erfahrung kann man sich in Sachen der Psychoanalyse eine Überzeugung nur selber holen. Ich‘ werde also nicht mit den wenigen und recht oberfläch- lichen Kritikern Freuds polemisieren, sondern nur die wichtigsten Punkte der Lehre selbst kurz beleuchten. |

Vor allem einige Worte von der Methodik. Wollen wir einen Traum analysieren, so gehen wir gerade so vor, wie bei der psy- chologischen Erforschung psychoneurotischer Symptome. Hinter jedem scheinbar noch so unlogischen Zwangsgedanken sind sinnvolle aber unbewußte Gedanken versteckt, und diese ausfindig zu machen, ist die Aufgabe der Psychoanalyse. Freud wies aber nach, daß auch die Bilder und Ereignisse, aus denen der Traum besteht, zumeist nur Entstellungen, symbolische Anspielungen verdrängter Gedanken- reihen sind. Hinter dem bewußten Trauminhalt steckt also ein latentes Traummaterial, das seinerseits durch sinnvolle, lo- gische Traumgedanken angeregt wurde. Die Traumdeutung ist nichts anderes als die Übersetzung des Traumes aus der hiero- glyphisch-symbolischen Traumsprache in die Begriffssprache, die Zu- rückführung des offenbaren Trauminhalts durch den Assoziations- knäuel des verborgenen Traummaterials auf die logischen Traum- gedanken. Das Mittel dazu ist die sogenannte freie Assoziation. Wir lassen uns den Traum erzählen, teilen das Erzählte in mehrere Teile oder Sätze und fordern den Träumer auf, alles zu sagen, was ihm einfällt, wenn er seine Aufmerksamkeit nicht auf das Ganze des Traumes, sondern auf einen bestimmten Traumteil, auf eine darin vorkommende Begebenheit oder deren Wortbild richtet. Diese Assoziation muß aber ganz frei sein, das einzig dabei Verbotene ist also das Waltenlassen der kritischen Auswahl unter den Ein-

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fällen. Jeden halbwegs verständigen Menschen kann man dazu bringen, alle sich an die Bruchstücke des Traumes knüpfenden Ge- danken, ob klug oder „dumm“, sinnvoll oder sinnlos, angenehm oder unangenehm, unter Überwindung der damit etwa verbundenen Scham, herauszusagen. Auf diese Art lassen wir dann auch die übrigen Traumbruchstücke bearbeiten und sammeln so das „latente Traummaterial“, das heißt alle Gedanken und Erinnerungen, als deren Verdichtungsprodukt das bewußte Traumbild zu betrachten ist.

Es ist nämlich ein Irrtum zu glauben, daß die freigelassene Assoziationstätigkeit aller Gesetzmäßigkeit bar sei. Sobald wir bei der Analyse die bewußten Zielvorstellungen des Denkens fallen lassen, machen sich bei der Auswahl der Assoziationen die Richt- kräfte der unbewußten Seelentätigkeit geltend, also gerade dieselben seelischen Mächte, die beim Aufbau des Traumes tätig gewesen waren. Wir befreundeten uns längst mit dem Gedanken, daß es in der physischen Welt keinen Zufall gibt, also kein Geschehen ohne zureichenden Grund; auf Grund der psychoanalytischen Erfahrung müssen wir aber eine ebenso strenge Bestimmtheit jeder noch so willkürlich erscheinenden geistigen Tätigkeit annehmen. Es ist eine unberechtigte Befürchtung, daß die von allen Schranken befreite Assoziationstätigkeit bei der Analyse wertlose Ergebnisse liefern wird: Der zu Änalysierende, der anfangs vielleicht selber mit ver- ächtlicher Ungläubigkeit seine scheinbar sinnlosen Einfälle wieder- gibt, merkt bald zur eigenen Überraschung, daß die vom bewußten Willen unbeeinflußte Verkettung zum Erwecken von Gedanken und Erinnerungen führt, die längst vergessen, oder wegen der Uhnlust, die sie hervorbringen würden, verdrängt waren, durch deren Auf- tauchen aber das aus dem Traum herausgegriffene Bruchstück ver- ständlich oder deutbar geworden ist. Wiederholen wir diesen Vor- gang mit allen Teilen des Traumes, so sehen wir, daß die von den einzelnen Brüchstücken ausgehenden Gedankenreihen gegen einen meist wichtigen und am Vortage des Traumes rege gewordenen Gedanken, gegen den eigentlichen Traumgedanken zu konver- gieren, nach deren Erkennung nicht nur die einzelnen Bruchstücke, sondern auch der Traum als Ganzes sinnvoll und verständlich erscheint. Und wenn wir zum Schluß den Ausgangspunkt des Traumes, den Traumgedanken, mit dem Inhalt des naiv erzählten Traumes ver-

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gleichen, so sehen wir, daß der Traum niehts’ anderes ist als die verhüllte Erfüllung eines unterdrückten Wunsches.

Dieser Satz faßt die wichtigsten Ergebnisse der Freudschen Traumforschungen in sich.

Die Auffassung, daß der Traum Wünsche erfüllt, die in der rauhen Wirklichkeit versagt bleiben, scheint die in der Sprache niedergelegte Volksweisheit zu teilen. „Träumen“ wird in den meisten Sprachen metaphorisch für „wünschen“ gebraucht, und das ungarische Sprichwort besagt geradezu, daß „das Schwein von Eicheln, die Gans von Mais träumt“, was nur eine Anspielung auf die gleiche Traumrichtung beim Menschen sein will.

Ein Teil der Träume Erwachsener und die meisten der Kinder sind reine Wunscherfüllungsträume. Das Kind träumt von Lecker- bissen, die ihm bei Tag versagt blieben, vom Spielzeug, um das es seinen kleinen Kameraden beneidete, von sieghaften Kämpfen mit Ältersgenossen, von der guten Mutter oder dem freundlichen Vater, sehr häufig dünkt es sich im Traume „groß“, mit allen Freiheiten und Machtmitteln der Eltern ausgestattet, die es bei Tage so sehnsuchtsvoll gewünscht hat. Auch bei Erwachsenen kommen ähnliche reine Wunschträume vor. Die schwere Prüfüng (um die uns so bange ist) erscheint im Traume als glänzend überstanden; liebe Verwandte erwachen aus ihrer Gruft und versichern uns; sie seien nicht gestorben; wir selber kommen uns reich, mächtig, mit großer Rednergabe ausgestattet vor; die schönsten Frauen bewerben sich um unsere Gunst usw. Zumeist erreichen wir im Traume gerade das, was wir im Wachen schmerzlich vermißen.

Die gleiche Tendenz nach Wunscherfüllung beherrscht nicht nur die nächtlichen, sondern auch die Tagträume, die Phantasien, bei denen wir uns in unbeschäftigten Augenblicken oder bei ein- töniger Tätigkeit ertappen können. Freud hat beobachtet, daß die Frauen zuviel von Dingen phantasieren, die unmittelbar oder mittel- bar zum Geschlechtsleben gehören (Geliebt-, Angebetetwerden, schöne Kleider), die Männer in erster Linie von Macht und Ansehen, aber auch von geschlechtlicher Befriedigung.

‚Auch Phantasien über die Rettung aus einer wirklichen oder

erträumten Gefahr und über das Vernichten wirklicher oder erdichteter Feinde sind sehr häufig.

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Diese einfach wunscherfüllenden Träume und Phantasien ver- stehen sich von selbst, bedürfen also keiner besonderen Deutungs- arbeit.

Das Neue, Überraschende und vielen Unglaubliche an der Traumerklärung Freuds ist aber die Behauptung, daß alle Träume, selbst die scheinbar gleichgültigen oder unangenehmen, auf diese Grundform zurückzuführen sind und sich bei der Analyse als ver- kappte Wunscherfüllungen erweisen. Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit den Mechanismen der psychischen Tätigkeit beim Träumen vertraut machen. |

Die assoziative Analyse eines Traumes ist nur die Umkehrung jener synthetischen Arbeit, die die Seele bei Nacht verrichtet, indem sie die den Schlaf störenden unangenehmen Gedanken und unbefriedigenden Empfindungen in wunscherfüllende Traum- bilder verwandelt. Diese Tätigkeit nennt Freud die Traumarbeit und gibt auf Grund triftiger Erwägungen der Überzeugung Aus- druck, daß diese Arbeit während des Schlafes fast nimmer ruht, auch wenn wir uns etwa beim Erwachen nicht entsinnen können, etwas geträumt zu haben. Die althergebrachte Auffassung, daß der Traum die Ruhe des Schlafes stört, muß eben auf Grund der neu- gewonnenen Erfahrungen fallen gelassen werden; im Gegenteil, indem er die ruhestörenden, unlustvollen, peinlichen oder lästigen Gedanken nicht in ihrem wirklichen Inhalte, sondern zu Wunsch- erfüllungen verzaubert, bewußt werden läßt, müssen wir ihn förm- lich als Hüter des Schlafes anerkennen.

Der psychische Faktor, der über die Ruhe des Schlafes oft auch mit Hilfe der schon erwähnten Traumentstellung wacht, ist die Zensur. Sie ist die Türhüterin an der Bewußtseinsschwelle, die wir auch im wachen Geistesleben, besonders aber bei den Psycho- neurosen, so eifrig an der Arbeit sehen, und die es auch für ihre Aufgabe erachtet, alle in ästhetischer oder ethischer Hinsicht mit dem Bewußtsein unverträglichen Gedankengruppen entweder ganz zu unterdrücken, oder zu harmlos erscheinenden symbolisierenden Symptomhandlungen oder Symptomgedanken zu entstellen. Die Zensur will eben die Ruhe des Bewußtseins sichern und alle unlustentbindenden, ruhestörenden, psychischen Bildungen davon fern- halten. Und wie der Zensor zu Zeiten des politischen Absolutismus,

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setzt die psychische Zensur auch bei Nacht ihre Tätigkeit fort wenn sie auch während des Schlafes den Rotstift bei weitem nicht so streng handhabt wie im Wachen. Wahrscheinlich läßt sie sich durch die Idee einschläfern, daß die Beweglichkeit im Schlafe ge- lähmt ist, also Gedanken nicht zur Tat werden können. So erklärt es sich, daß in den Träumen häufig Bilder und Lagen als Wunsch- erfüllungen auftauchen, mit denen wir bei Tage jede Gemeinsamkeit verleugnen würden.

Wir alle beherbergen in unserem Unbewußten eine Unzahl seit Kindheit verdrängter Wünsche, die, sobald sie bei Nacht das Nach- lassen der Zensur wahrnehmen, die Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer psychischen Intensität benützen.

Es ist kein Zufall, daß unter den im Traume sich enthüllenden

Wünschen die am strengsten überwachten sexuellen Regungen und besonders deren meist verachtete Kundgebungen die größte Rolle spielen, und es ist ein sehr großer Irrtum zu glauben, daß die Psycho- analyse mit Absicht die Geschlechtstätigkeit in den Vordergrund stellt. Niemand kann dafür, daß, wo immer man die Grundlagen des Seelenlebens zerlegend zu erforschen versucht, man immer wieder auf das Geschlechtliche stößt. Findet also jemand die Psycho- analyse anstößig, so erniedrigt er damit die Beschreibung des un- bewußten menschlichen Seelenlebens zu einer Zote.

Die Zensurjerung der Sexualität ist, wie gesagt, im Traum- leben viel milder als im Wachen, darum begeht und erlebt man in seinen Träumen so häufig schrankenlos geschlechtliche, ja an die sogenannten Perversitäten gemahnende Handlungen und Situationen. Ich berufe mich zum Beispiel auf den Traum einer im Leben außer- ordentlich schamhaften Kranken: Sich selbst sah sie in ein antikes Peplon gewickelt, das vorne mit einer Sicherheitsnadel befestigt war. Plötzlich fiel die Nadel heraus, die weiße Hülle öffnete sich vorne und so ließ sie von einer großen Schar von Männer ihre Nacktheit bewundern. Eine andere, gleichfalls sehr zurückhaltende Kranke brachte mir diesen Exhibitionstraum in einer etwas ver- änderten Fassung. Sie war vom Scheitel bis zur Zehe in eine weiße Hülle gewickelt und an eine Säule gebunden; um sie herum standen fremdländische Männer, Türken oder Araber, die um sie feilschten- Die Szene erinnert, wenn man von der Umhüllung absieht, lebhaft

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an einen orientalischen Sklavenmarkt, und tatsächlich brachte es die Analyse heraus, daß die jetzt so schamhafte Dame als junges Mädchen bei der Lektüre der Märchen der „Tausend und einen Nacht“ sich sehr tief in das farbenprächtige Liebesleben des Morgenlandes hinein- phantasiert hatte. Damals stellte sie sich noch vor, daß Sklavinnen nicht verhüllt, sondern nackt zum Verkauf gestellt werden. Heute verwirft sie die Nacktheit sogar im Traume so streng, daß sie ihre darauf zielenden, verdrängten Wünsche nur ins Gegenteil verkehrt verwirklichen kann. Eine dritte Träumerin erlaubte sich nur noch soviel Freiheit in dieser Hinsicht, daß sie unvollkommen bekleidet, in Strümpfen oder mit nackten Füßen sich inmitten der übrigen Traumgestalten bewegte; und doch bewies die Analyse, daß sie als Kind sehr gerne und sehr lange sich möglichst aller Kleidungsstücke entledigte, was ihr damals den Spitznamen einer „nackten Panczi“ (sie heißt Anna, und ungarisch auch Panna) einbrachte. Solche Schaustellungsträume sind so häufig, daß sie Freud unter den typischen Träumen, die nämlich bei den meisten Menschen von Zeit zu Zeit wiederkehren und den gleichen Ursprung haben, anführen konnte. Sie weisen darauf hin, daß in uns allen eine unsterbliche Sehnsucht nach der Wiederkehr der paradiesischen Zustände des Kindesalters fortlebt; dies ist „das goldene Zeitalter“, das Dichter und Utopisten aus der Vergangenheit in die Zukunft projizieren.

Ein recht häufiges Mittel zur Traumentstellung und zur Um- gehung der Zensur ist es, daß der Wunsch nicht als solcher, sondern nur in Form einer Anspielung im Traume dargestellt wird. Wir würden es z. B. nicht verstehen, warum eine meiner Patientinnen so häufig von geschlechtlichen Szenen mit einem ihr ganz indif- ferenten Herrn namens Frater träumt, erführen wir nicht, daß in ihrer Jugend der Bruder (frater) ihr Ideal war, und daß in der Kindheit die Zuneigung des Geschwisterpaares nicht selten rein erotische Formen angenommen hatte und sich in gegenseitigen Berührungen kundgab, vor denen, als inzestuösen, sie jetzt zurück- schrecken würden.

Dieses Zurückschrecken vor dem Verbotenen verschafft sich oft auch in den Traum Eingang, besonders bei Personen, die in-

folge unvollständiger Befriedigung der Libido zu Angstentbindung 4

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neigen (Angstneurotiker nach Freud). Die nächtliche Angst kann so hochgradig werden, daß der Träumer mit Unlustgefühlen erwacht (pavor nocturnus). Die physiologisch begründete Angst bietet in solchen Fällen den tiefst verdrängten, kindlich-perversen Regungen Gelegenheit, sich im Traume zu verwirklichen, in Form fürchterlicher, grausamer, grauenhafter Szenen, die, wie schrecklich sie auch uns vorkommen, in einer gewissen Tiefe des Unbewußten wunschbe- frfiedigend wirken, wie sie auch in dem „prähistorischen“ Zeitalter unserer eigenen geistigen Entwicklung, in der Kindheit, tatsächlich anerkannte Wünsche waren.

Das Vorherrschen der tätigen und erduldenden Grausamkeit in diesen Träumen dürfte in der sadistischen Auffassung des Ge- schlechtsverkehrs durch die Kinder seine Erklärung finden, was uns Freud in seinen „infantilen Sexualtheorien“* so schön gezeigt hat.

Alle grausamen Handlungen solcher Träume erscheinen nach der Analyse als ins Gewalttätige umgesetzte geschlechtliche Be- gebenheiten. Die geschlechtlich unbefriedigten Frauen z. B. träumen immerfort von Einbrechern, Raubattentaten, von Angriffen wilder Tiere; aber irgend eine versteckte, unauffällige Einzelheit des Traumes oder seines sprachlichen Ausdruckes läßt erraten, daß die Atten- tate, denen die Träumenden zum Opfer fallen, eigentlich geschlecht- liche Handlungen symbolisieren. Eine Hysterische meiner Beobachtung träumte einmal, daß sie von einem Stier überrannt wurde, da sie ein rotes Kleid anhatte. Der Traum verwirklichte hier nicht nur den vorhandenen Wunsch nach dem Besitze eines solchen Kleides, sondern auch uneingestandene geschlechtliche Wünsche, die auch ihre Gemütskrankheit verursachten. Der Gedanke des schrecklichen wütenden Stieres, der auch sonst ein allgemein verbreitetes Symbol männlicher Kraft ist, war bei ihr noch speziell durch den Umstand herbeigeführt, daß ein Mann mit einem „Stiernacken“ eine gewisse Rolle in der Entwicklungsgeschichte ihres Geschlechtslebens gespielt hatte.

Beachten wir die stete und immer bedeutungsvolle Mitwirkung kindlicher Erinnerungsbestandteile bei der Traumbildung und be- rücksichtigen wir die durch Freud festgestellte Tatsache, daß das früheste Kindesalter nicht nur nicht frei ist von sexuellen Regungen, daß vielmehr die infantile, von der Erziehung noch unberührte Ge- =... #Siehe Freu d, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905, 4. Auflage, 1920.

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schlechtlichkeit von ausgesprochen perversem Charakter ist, bei der die orale und anal-urethrale erogene Zone, die Partial- triebe der sexuellen Sehbegierde und des Exhibitionismus, sowie sadistische und masochistische Regungen vorherrschen, so kommen wir zur Einsicht, daß Freud im Recht ist, wenn er auch Träume mit solch perversen Regungen als Wunscherfüllungen anspricht, allerdings als Erfüllungen von Wünschen aus der scheinbar längst überwundenen Kindheit.

Es gibt aber auch Träume sehr unangenehmen Inhalts, die eigentümlicherweise unsere Nachtruhe fast gar nicht stören, so daß wir uns beim Erwachen Vorwürfe machen, wie wir so fürchterliche Ereignisse so mitleids- oder gefühllos erleben konnten. So erging es z. B. einer Patientin Freuds, als sie im Traume dem Begräbnisse eines geliebten Neffen beiwohnte. Eine scheinbar unwesentliche Einzelheit des Traumes, ein Konzert-Billet, führte zur Aufklärung ähnlicher Trauminhalte. Die Dame beabsichtigte in allernächster Zeit ein Konzert zu besuchen, wo sie die Aussicht hatte, den einst geliebten und noch immer nicht-vergessenen Mann, dem sie vor längerer Zeit beim Begräbnis eines anderen Neffen zum letzten‘ Male begegnet war, wiederzusehen. Der Traum opferte, um die Be- gegnung zu beschleunigen, auch den anderen Neffen, doch die Zensur scheint gewußt zu haben, daß damit nicht der Wunsch eines Todesfalles, sondern weit harmlosere Wünsche zu erfüllen waren, sie ließ also die Begräbnisszene „passieren“, ohne ihr eine an- gemessene Gemütserregung anzuhängen. Diese Analyse kann als Muster für alle jene gelten, die der Wunschtheorie Freuds scheinbar widersprechend, von sehr unwillkommenen Dingen oder gar von der Nichterfüllung irgendeines Wunsches handeln. Erforschen wir die hinter diesen unlustbetonten Träumen versteckten latenten Traum- gedanken, so wird uns klar, daß, wie Freud sich ausdrückt, die Nichterfüllung eines Wunsches im Traume stets die Er- füllung irgendeines anderen Wunsches bedeutet.

Betrachten wir das an die bewußten Traumelemente sich frei assoziierende Traummaterial, so fällt uns auf, daß es hauptsächlich aus zwei gegensätzlichen Quellen fließt: aus kindlichen Erinnerungen einerseits, aus den unbeachteten, nicht erledigten, oft ganz gering- fügigen Erlebnissen des Traumtages anderseits. Ja, jeder gut gefügte

4*

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Traum steht nach dem Ausdrucke Freuds gleichsam auf zwei Beinen und erscheint nach der Analyse als überderminiert, das heißt als die Erfüllung gegenwärtiger und längst vergangener Wünsche.

Als Beispiel kann ich den Traum einer an nervösen Harn- beschwerden leidenden Patientin anführen: „Glänzender Fußboden. So naß, als wäre ein Tümpel darauf. Zwei Stühle sind an die Wand gelehnt. Wie ich hinsehe, merke ich, daß die zwei vorderen Füße beider Stühle fehlen, wie wenn man einem einen Streich spielen will und ihn auf einen gebrochenen Stuhl setzen läßt, damit er umfällt. Eine Freundin von mir mit ihrem Bräutigam waren auch dabei.“ Zum glänzenden, nassen Fußboden fällt ihr ein, daß ihr Bruder in seiner Wut am Vortage einen Krug zu Boden warf, wobei der Fußboden vom vergossenen Wasser aussah wie der im Traume. Doch ein ganz ähnlicher Fußboden ist ihr auch aus ihrer Kindheit erinnerlich; damals hat sie derselbe noch sehr jugendliche Bruder auf eine Weise zum Lachen gebracht, daß sie den Harn nicht halten konnte. Dieser Teil des Traumes, der sich auch für die Symptombildung der Nervenkrankheit als bedeutungsvoll erwies, war also die Erfüllung infantilerotischer Wünsche, die aber infolge strenger Zensurierung jetzt nur noch in Anspielungen dargestellt werden konnten. Die zwei gebrochenen, an die Wand gelehnten Stühle erwiesen sich bei der Analyse als szenische Darstellung des Sprichwortes: „Zwischen zwei Stühlen auf die Erde fallen“ (d. h. von zwei Aussichten getäuscht zu werden). Die Patientin hatte schon zwei Bewerber gehabt, aber ihre bereits erwähnte familiäre Fixierung (die unbewußte Bruderliebe) verhinderte beide Male die Heirat. Und obzwar ihr unbewußtes Ich, nach ihrer wiederholten Aussage, sich längst mit dem Gedanken der Altjungferschaft ver- söhnt hat, scheint sie doch in ihrem Innern nicht ohne Neid an die jüngst stattgefundene Verlobung einer Freundin gedacht zu haben. Das Brautpaar hatte gerade am Vortage des Traumes ihre Auf- wartung bei ihr gemacht. | |

Nach Freuds Traumlehre können wir uns die Entstehung dieses Traumes folgendermaßen vorstellen: Der Traumarbeit gelang es, zwei Ereignisse des Vortages, das Zerbrechen des Kruges und den Besuch des Brautpaares, mit jenen stets affekterfüllten Gedanken- gruppen zu verknüpfen, die, obzwar schon in der Kindheit verdrängt,

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doch immer geneigt sind, ihre affektive Energie irgendeinem gegen- wärtigen, mit dem Verdrängten noch so entfernt analogen psychischen Gebilde zu leihen. Freud vergleicht den Traum mit der Gründung eines geschäftlichen Unternehmens, zu dem die unbewußten, ver- drängten Komplexe das Kapital, d. h. die affektive Energie bei- stellen, während die rezenten und bewußten Erinnerungsbilder und Wünsche die Rolle des Unternehmers spielen.

Eine andere (Juelle des Traumes fließt von jenen sensorischen und sensiblen Nervenreizen her, von denen der Organismus während des Schlafens getroffen wird. Solche sind z. B.: Haut- reize, der Druck der Unterlage und der Decke, Abkühlung der Haut, akustische oder optische Einwirkungen auf den Schlafenden, Organgefühle: Hunger, Durst, Übersättigung, Reizzustand der Ge- schlechtsteile usw. Die Mehrzahl der Psychologen und Physiologen ist geneigt, diesen Reizen übergroße Bedeutung beizumessen; sie glauben eine allgemein gültige Traumerklärung zu geben, wenn sie behaupten, der Traum sei nichts als die Summe der psychophysischen Reaktionen, die durch solche Nervenreize ausgelöst werden. Dem- gegenüber verweist Freud mit Recht darauf, daß der Traum diese körperlichen Reize nicht als solche zum Bewußtsein gelangen läßt, sondern sie eigentümlich entstellt und verändert. Die Beweggründe und Mittel dieser Entstellung werden aber nicht mehr vom äußeren Reiz, sondern von seelischen Kraftquellen geliefert; die Nervenreize während des Schlafes bieten gleichsam nur die Gelegenheit zur Ent- faltung gewisser immanenter Tendenzen des Seelenlebens. Nach der Analyse erscheinen oft auch die Nervenreizträume als offene oder verhüllte Wunscherfüllungen: der Durstige trinkt viel Wasser im Traume, der Hungernde sättigt sich, der Kranke, dem ein Eisbeutel auf dem Kopfe den Schlaf stört, wirft ihn weg, weil er sich im Traume schon gesund dünkt, das schmerzhafte Pochen eines Furunkels am Damme führt zur Traumvorstellung des Reitens, und so wird es möglich, daß der Hunger, der Durst, der auf dem Kopfe lastende Druck, die schmerzhafte Entzündung, den Schlafenden nicht wecken, sondern durch psychische Kräfte in Wunscherfüllungen umgewandelt werden.

Die unter dem Namen „Alpdrücken“ bekannten ängstlichen Träume, zu denen der überladene Magen, eine Störung der Atmung oder des Blutkreislaufes oder eine Intoxikation Anlaß geben kann,

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können auf dieselbe Art erklärt werden; die unangenehmen Organ- empfindungen bieten sehr tief verdrängten Wünschen Gelegen- heit, sich zu erfüllen, Wünschen, die die kulturelle Zensur nicht passieren ließe und nur in Verbindung mit Angst und Ekelgefühlen zum Bewußtsein vordringen läßt.

Bei der Analyse legen wir, wie schon erwähnt, ungefähr den- selben Weg, den die schlafende Seele bei der Traumbildung ging, in umgekehrter Richtung zurück. Un wenn wir den oft ganz kurzen manifesten Traum mit jenem riesigen Material vergleichen, das während der Analyse zum Vorschein kommt, und wenn wir be- denken, daß trotz dieses quantitativen Unterschiedes alle Elemente des latenten Trauminhalts im Geoffenbarten irgendwie vertreten sind, so müssen wir Freud Recht geben, wenn er diese Traum- verdichtung als den mühsamsten Teil der Traumarbeit betrachtet.

Ich versuche dies durch ein Beispiel zu erläutern. Ein an psycho- sexueller Impotenz leidender Kranker brachte mir einmal einen aus zwei Stücken bestehenden Traum. Im ersten Stück handelte es sich nur darum, daß er anstatt der ungarischen Zeitung „Pesti Hirlap“, die er regelmäßig erhält, die Wiener „Neue Freie Presse“ bekam, auf die eigentlich ein Kollege abonniert ist. Der zweite Teil des Traumes handelt von einer braunen Dame, die um jeden Preis von ihm geheiratet werden will. |

Es stellte sich heraus, daß er sich nicht die ausländische Zeitung, sondern in dieser Verhüllung eine ausländische Dame im Traume er- wirbt, auf die in der Tat ein Kollege „abonniert“ ist, und die schon lange das Interesse des Patienten erregte, da es ihm vorkam, als könnte gerade diese Person seine mit starken Hemmungen kämpfende Sexualität leistungsfähig machen. Die Gedankenverknüpfungen, die sich hieraus ergaben, machten es klar, daß er bei einer anderen Dame, mit der er sich aus der gleichen Absicht in ein dauerndes Verhältnis eingelassen und die er, da sie eine Ungarin ist, im Traum hinter dem Zeitungsnamen „Pesti Hirlap“ versteckt hatte, in seinen Hoffnungen getäuscht wurde und sich darum in letzterer Zeit viel damit beschäftigte, anstatt solcher fester Verhältnisse freiere ge- schlechtliche Verbindungen zu suchen, die zu nichts verpflichten. Wenn wir die große Freiheit, mit der sich der Traum der Symbolik be- dient, kennen, werden wir uns nicht wundern, daß mein Patient

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auch den Ausdruck Presse in sexuellem Sinne verwendet. Der zweite Teil des Traumes weist gleichsam, als wollte er unsere Deutung bestätigen, darauf hin, daß der Patient oft nicht ohne Besorgnis daran denken mußte, daß allzu dauerhafte Verhältnisse wie das zwischen ihm und jener Freundin bestehende, leicht zu einer Mißheirat führen können. Wer nicht weiß, daß, wie Freud in einer Monographie bewiesen hat,“ die psychischen Beweg- gründe und Darstellungsmittel der Witze fast die nämlichen sind wie jene, die sich im Traume kundgeben, könnte es billige Witzelei nennen, wenn wir behaupten, daß es dem Traume gelang, in den drei Worten Neue Freie Presse alle jene Gedanken und Wünsche des Patienten zu verdichten, die sich mit dem deprimierenden Krankheitszustande und seinen vermeintlichen Hilfsmitteln beschäf- tigen, nämlich mit dem Reiz des Neuen und der angestrebten größeren Freiheit. (Neuheit und Zeitung werden im Ungarischen durcn dasselbe Wort „ujsag“ ausgedrückt.)

Sehr charakteristische Produkte der Traumverdichtung sind die Mischbildungen von Personen, Gegenständen und Worten. Diese Monstrositäten der Traumwelt haben viel dazu bei- getragen, daß die Träume bis auf unsere Tage als wert- und sinn- lose Geisteserzeugnisse angesehen wurden. Doch überzeugt uns die Psychoanalyse, daß, wenn der Traum zwei Gestalten oder Begriffe aneinanderklebt oder vermischt, er eigentlich ein minder gelungenes Produkt derselben Verdichtungsarbeit leistet, der auch die übrigen weniger auffallenden Teile des Trauminhalts ihre Entstehung ver- danken. Eine Regel der Traumdeutekunst schreibt vor, daß in Fällen solcher Mischgebilde zunächst das Traummaterial der ein- zelnen Bestandteile gesucht werden muß, dann kann man erst fest- stellen, auf Grund welcher Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit das Zusammenschweißen erfolgen konnte.

Ein lehrreiches Beispiel hiefür verdanke ich einer Patientin. Das Mischgebilde, das in einem ihrer Träume vorkam, war aus der Person eines Arztes und aus einem Pferde zusammengesetzt, das noch dazu ein Nachthemd anhatte. Die Assoziationen führten vom Pferd in die Kindheit der Patientin zurück. Sie litt als Mädchen

* Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Leipzig und Wien, 1905.

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lange Zeit an ausgesprochener Phobie vor Pferden; sie scheute sich vor ihnen besonders ob der auffallenden und offenen Befrie- digung ihrer körperlichen Bedürfnisse. Daraufhin fällt ihr ein, daß sie als kleines Kind öfter von ihrer Kindsfrau in das militärische Gestüt mitgenommen wurde, wo sie Gelegenheit hatte, alle diese Dinge mit damals noch ungehemmter Neugierde zu beobachten. Das Nachthemd erinnerte sie an ihren Vater, den sie, als sie noch im Zimmer der Eltern schlief, nicht nur in solchem Aufzug, sondern auch bei Verrichtung der körperlichen Bedürfnisse zu sehen Gelegen- heit hatte. (Dies ist ein sich sehr oft wiederholender Fall; die Eltern nehmen sich vor drei- bis vierjährigen Kindern, deren Ver- stand und Beobachtungsfähigkeit sie bedeutend unterschätzen, meist gar nicht in Acht.) Der dritte Bestandteil des Mischgebildes, der Arzt, erweckte in mir den sich als begründet erweisenden Ver- dacht, daß die Patientin die geschlechtliche Neugierde unbewußt vom Vater auf den sie behandelnden Arzt übertragen hatte.

Manchmal sind die Bestandteile einer Mischperson an der Bildung dieser in ungleichem Maße beteiligt; von der einen Person ist vielleicht nur eine bezeichnende Bewegung an die zweite Person angelötet. In einem Traume sah ich einmal, wie ich mir mit der rechten Hand ganz so die Stirne rieb, wie mein verehrter Meister Freud es tut, wenn er über eine schwierigere Frage nachdenkt. Es gehörte nicht viel Deutekunst dazu, um zu erraten, daß nur Neid und Ehrgeiz diese Vermischung des Lehrers und Schülers besonders beim Nachdenken dank dem nächtlichen Nachlassen der intellektuellen Zensur verschuldet haben können. Im Wachen muß ich lächeln über das Gewagte dieser Identifizierung, die leb- haft an den Satz erinnert: „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das habt ihr ihm weidlich abgeguckt.“

Als Beispiel eines Wortgemisches führe ich an, daß im Traum eines deutsch redenden Patienten ein gewisser Metzler oder Wetzler vorkam. Personen mit solchen Namen sind aber dem Patienten unbekannt. Sehr stark beschäftigte ihn hingegen am Vortage die bevorstehende Ehe eines Freundes namens Messer, der sich mit dem Patienten gerne hetzte (süddeutsche Bezeichnung für necken). Vom Messer fällt ihm aber auch ein, daß er als kleines Kind große Furcht vor seinem Großvater hatte, als jener

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ihn beim Wetzen seines Taschenmessers scherzweise mit der Kastration bedrohte, welche Drohung nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung seiner Sexualität blieb. Die Namen Metzler-Wetzler sind also nichts als Verdichtungen der Worte: Messer, hetzen und wetzen. |

| Die Traumverdichtung hängt sehr enge mit der Verschie- bungsarbeit des Traumes zusammen. Diese besteht im wesent- lichen darin, daß die psychische Intensität der Traumgedanken von der Hauptsache auf etwas Nebensächliches verschoben wird, der- art, daß der im Mittelpunkte des Interesses stehende Gedanken- komplex entweder gar nicht oder nur mittels einer schwachen An- spielung im bewußten Trauminhalt vertreten bleibt, während das Maximum des Interesses im Traume den bedeutungslosen Bestand- teilen des Traumgedankens zugewandt ist. Verdichtungs- und Ver- schiebungsarbeit gehen Hand in Hand. Der Traum macht einen wichtigen, aber die Seelenruhe des Schlafenden störenden oder ethisch zensurierten Gedanken unschädlich, indem er ihn gleichsam überschreit und an eine nebensächliche Einzelheit des Stören- friedes so lange Erinnerungsbilder knüpft, bis deren verdichtete psychische Intensität die Aufmerksamkeit von dem eigentlich inter- essierenden Gedanken abzulenken vermag. Als Beispiel für die so verschobene Zentrierung des bewußten Traumes im Ver- gleich zur Zentrierung des Traumgedankens erwähne ich den bereits zitierten Traum einer Tante vom Tode des «geliebten Neffen. Die in Wirklichkeit nebensächliche Begräbnisszene nahm den größten Teil des Traumes ein, die für die Traumgedanken eigentlich bedeutungsvolle Persönlichkeit hingegen war nur durch eine entfernte Anspielung im Traume vertreten.

Ich hatte einmal den ganz kurzen Traum einer Dame zu analysieren, sie habe einem bellenden, kleinen, weißen Hunde den Hals umgedreht. Sie war höchlichst verwundert, daß sie, die „nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun könne“, so Grau- sames träumen konnte; sie erinnerte sich nicht, je dergleichen getan zu haben. Doch gab sie zu, daß sie leidenschaftlich gern kocht und manchmal eigenhändig Hühner und Tauben ge- schlachtet habe. Dann fiel ihr ein, daß sie den Hals des Hündchens im Traume gerade in der Art umgedreht habe, wie

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sie es bei den Tauben zu tun pflegte, um dem Tiere weniger Pein zu verursachen. Die daran folgenden Gedankenverknüpfungen bezogen sich schon auf Bilder und Erzählungen über die Hin- richtung von Menschen, besonders darauf, daß der Henker, wenn er den Strick um den Hals des Verbrechers festgezogen habe, auch noch dessen Hals umdrehe, um den Eintritt des Todes zu beschleunigen. Auf die Frage, wem sie denn jetzt sehr feindlich gesinnt sei, nannte sie eine Schwägerin und war schier unerschöpf- lich im Herzählen ihrer schlechten Eigenschaften und der bös- willigen Machenschaften, mit denen sie, nachdem sie sich wie eine zahme Taube in die Gunst ihres späteren Gatten einge- schlichen hatte, den früher so schönen Familienfrieden zerstörte. Unlängst spielte sich zwischen ihr und der Patientin eine sehr heftige Szene ab, die .damit endete, daß die aufgebrachte Patientin der anderen mit den Worten die Türe wies: „Entferne dich, einen bissigen Hund kann ich in meiner Wohnung nicht dulden“. Nun war es klar, wer denn eigentlich der kleine weiße Hund war, dem sie im Traume den Hals umdrehte; ist doch die Schwägerin eine kleine Person von auffallend weißer Gesichtsfarbe. Diese Analyse ermöglicht es, den Traum in seiner verschiebenden und dadurch entstellenden Tätigkeit zu beobachten. Zweifellos hat der Traum den Vergleich mit dem bissigen Hund dazu benutzt, an Stelle des eigentlichen Gegenstandes der Hinrichtungsphantasie, nämlich der Schwägerin, einen kleinen weißen Hund einzuschmuggeln, ähnlich wie der Engel der biblischen Erzählung dem zum Opfern des Sohnes sich vorbereitenden Abraham im letzten Augenblick ein Tier zu schlachten gab. Um dies zu erreichen, mußte der Traum Er- innerungsbilder über die Tötung von Tieren solange anhäufen, bis neben deren verdichteter psychischer Intensität das Bild der gehaßten Person erblaßte und der Schauplatz des offenbaren Traumes in das Tierreich verschoben wurde. Als Verbindungsbrücken der Verschie- bung dienten Erinnerungsbilder über menschliche Hinrichtungen. Dieses Beispiel bietet mir Gelegenheit, wiederholt darauf hin- zuweisen, daß der bewußte Trauminhalt meist nicht die treue Wieder- gabe unserer Traumgedanken, sondern nur ein verschobenes und

verdichtetes Zerrbild ist, aus dem man dieselben nur mit Hilfe der Psychoanalyse wiederherstellen kann.

Die Psychoanalyse der Träume 3%

Eine besondere Erschwerung der Traumarbeit ergibt sich aus dem Umstand, daß uns beim Träumen die Bausteine des abstrakten Denkens, die Begriffe, nicht oder nur unvollkommen zur Verfügung stehen, daß vielmehr der Traum die Gedanken nur in optischen oder akustischen Sinnesbildern, gleichsam dramatisiert, zu Bühnen- szenen verwandelt zur Darstellung bringen kann. Freud kenn- zeichnet sehr treffend die Schwere dieser konkretisierenden Arbeit des Traumes, durch das Beispiel, daß der Traum etwa die Ge- dankengänge eines politischen Leitartikels in Illustrationen versinn- bildlichen sollte.

Mit großer Vorliebe benutzt der Traum die Zweideutigkeit der Worte und die Auslegbarkeit irgendeiner Redensart in konkretem oder metaphorischem Sinne dazu, um abstrakte Begriffe und Ge- danken gleichsam bühnenfähig und dadurch traumfähig zu machen.

Das Gedächtnis jedes halbwegs unterrichteten Menschen ent- hält eine Menge witziger Sprichwörter, Zitate, Redensarten, Parabeln, Versfragmente usw., und der Inhalt dieser bietet ein stets gegen- wärtiges, sehr bequem verwendbares Material zur szenischen Dar- stellung eines Gedankens oder zur Anspielung auf denselben. Ich versuche, dies durch eine Reihe von Beispielen zu erläutern. Eine meiner Patientinnen erzählte mir folgenden Traum: „Ich gehe in einem großen Park auf einem sehr langen Wege spa- zieren; ich sehe das Ende des Weges und den Gartenzaun nicht, doch habe ich dabei den Gedanken, so lange zu gehen, bis ich hinter den Zaun komme.“ * Der Park und der Zaun des Traumes sahen ganz so aus wie der Garten einer ihrer Tanten, bei der sie viele schöne Ferien ihrer Jugendzeit verbracht hatte. Von dieser Tante fällt ihr ein, daß sie gewöhnlich ihr Schlafzimmer mit ihr teilte; doch wurde, wenn der Onkel zu Hause war, der Gast ins Nachbarzimmer „ausgesetzt“. Das Mädchen, das damals von Sexualität nur höchst fragmentarische Begriffe hatte, versuchte es oft, durch Lauschen an der Türe und Gucken durchs Schlüssel- loch zu erfahren, was wohl drin vor sich gehe, doch waren ihre Bemühungen erfolglos. Der Wunsch, hinter den Zaun zu kommen,

* Jede Sprache hat ihre eigenen Redensarten und demgemäß eine eigene

Traumsprache. Ich mußte an diesem Traum, der ungarisch geträumt wurde, einige Worte verändern, um den Traum für Deutsche verständlich zu machen.

60 Die Psychoanalyse der Träume

symbolisierte in diesem Traum den Wunsch, dahinter zukommen, was zwischen den Gatten geschehen ist. Dieser Wunsch war übrigens auch durch ein Ereignis des Vortages determiniert.

Eine andere Patientin träumte vom Korridor des Mädchen- pensionats, in dem sie erzogen wurde. Sie sieht ihren eigenen Schrank dort, will ihn öffnen, findet aber den Schlüssel nicht, so daß sie das Schloß erbrechen muß. Wie sie aber die Türe gewaltsam öffnet, stellt sich heraus, daß nichts darin ist. Der ganze Traum entpuppte sich als symboli- sierte Masturbationsphantasie, eine Erinnerung aus der Pubertäts- zeit; das weibliche Genitale wird, wie so häufig, als Schrank dargestellt. Die dem Traum angehängte „es ist nichts darin“ bedeutet aber in ungarischer Sprache soviel, wie das deutsche „es ist nichts daran“, und ist gleichsam eine Entschuldigung oder Selbstberuhigung der von Gewissensbissen Geplagten.

Ein älteres Mädchen, deren Neurose durch den Tod ihres Bruders, der nach ihrer Ansicht zu früh geheiratet hatte und nicht glücklich in der Ehe gewesen war, ausgelöst wurde, träumt fortwährend vom Ver- storbenen. Einmal sieht sie ihn im Grabe liegend, aber der Kopf ist ihm eigentümlich zur Seite gedreht oder der Schädel ist an einen Äst angewachsen, ein anderes Mal sieht sie ihn in Kinderkleidern auf einer Anhöhe, von welcher er herunter- springen muß. Diese ganze Symbolik will eine Anklage gegen die Frau und den Schwiegervater des Verstorbenen sein, die dem Knaben den Kopf verdrehten, ihn, fast noch ein Kind, in die Ehe hineinspringen ließen (eine ungarische Redewendung) und ihn dabei nicht einmal als ihresgleichen betrachteten, da sie ihn doch einmal, auf seine bescheidene Abstammung anspielend, einen vom Ast Gefallenen nannten, mit welchen Worten der Ungar einen „Dahergelaufenen“ zu bezeichnen pflegt.

Sehr oft versinnbildlicht das Herunterfallen von großer Höhe den drohenden ethischen oder materiellen Nieder- gang; bei Mädchen kann das Sitzen ein Sitzenbleiben, bei Männern kann ein großer Korb das befürchtete Mißlingen der Freiung bedeuten; noch häufiger kommt es vor, daß der mensch- liche Körper Mu ein Haus symbolisiert wird, dessen Fenster, Türen und Tore die natürlichen Körperöffnungen darstellen. Meine

Die Psychoanalyse der Träume 61

an sexueller Impotenz leidenden Patienten machen sich einen trivialen ungarischen Ausdruck für das Koitieren, nämlich das Wort schießen zunutze und träumen sehr oft von Schießereien, Nichtlosgehen- wollen, Einrosten der Flinte usw.

Es wäre eine verlockende Aufgabe, die symbolisch erklärten Traumstücke zu sammeln und ein modernes „Traumbüchel“ zu schreiben, in dem für die einzelnen Traumbruchstücke sofort die Er- klärung zu finden wäre. Dies ist aber nicht möglich, denn wenn auch sehr viel Typisches in den Träumen wiederkehrt und in den meisten Fällen auch ohne Analyse richtig gedeutet werden kann, so können doch die Symbole bei den verschiedenen Individuen, ja beim selben Individuum zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes bedeuten.. Wollen wir also alle Determinanten der einzelnen Traumfragmente für den besonderen Fall eruieren, so. bleibt uns nichts anderes übrig, als die mühevolle Traumanalyse, zu der die Findigkeit und der Witz des Traumdeuters allein nicht ausreicht, sondern die fleißige Mithilfe dessen, der geträumt hat, unumgänglich notwendig ist.

Noch größere Schwierigkeiten, als die Darstellung abstrakter Gedanken sie schafft, erwachsen dem Traume aus dem Bestreben, die Denkrelationen der einzelnen Traumgedanken zu versinn- bildlichen, und es ist Freud hoch anzurechnen, daß es ihm gelang, jene ganz versteckten formalen Eigentümlichkeiten des Traum- gefüges, mit denen der Traum die Darstellung logischer Rela- tionen versucht, ausfindig gemacht zu haben. Gedankliche Zu- sammengehörigkeit zweier Traumelemente (beziehungsweise der dahinter steckenden Traumgedanken) wird am einfachsten durch zeitliche, räumliche Annäherung oder gar Verschmelzung der Traum- gestalten angedeutet. Zur Andeutung des ursächlichen Zu- sammenhanges, des Entweder-OÖder, der Bedingtheit usw. mangelt es aber dem Traume an entsprechenden Darstellungs- mitteln, so daß alle diese Beziehungen sehr dürftig durch ein Nacheinander der Traumelemente zur Darstellung gebracht werden. Daraus erwachsen große Verlegenheiten für den Traumdeuter, aus denen ihn nur die Mitteilungen des Träumers heraushelfen. Manches läßt sich aber doch erraten. Verwandelt sich z. B. ein Traumbild in etwas anderes, so können wir dahinter Ursache und Wirkung vermuten; diesen Zusammenhang stellt aber der Traum oft auch

62 Die Psychoanalyse der Träume

durch zwei vollkommen getrennte Träume dar, deren einer die Ursache, der andere die Folge bedeutet. Selbst die einfache Ver- neinung darzustellen, gelingt dem Traum nur unter den größten Schwierigkeiten, so daß wir wie wir es von Freud wissen niemals im voraus erraten können, ob ein Traumgedanke in posi- tivem oder negativem Sinne zu deuten ist. Bei der Kompliziert- heit unseres seelischen Organismus ist es verständlich, daß Bejahung und WVerneinung desselben Gedanken- und Gefühl- komplexes neben-, richtiger hintereinander in den Traumgedanken anzutreffen sind. |

Als Zeichen des Mißfallens und Hohnes kann es aber aus- gelegt werden, wenn etwas im Traum gestaltlich „verkehrt“ oder der Wahrheit direkt ins Gesicht schlagend dargestellt wird. Das so häufig vorkommende Gefühl des Gehemmtseins im Traume bedeutet einen Willenskonflikt, den Kampf entgegengesetzter Beweggründe.

Wenn trotz der Vernichtung aller logischen Beziehungen beim Übergang der Traumgedanken in den manifesten Traum letzterer dennoch so oft sinnvoll und zusammenhängend erscheint, so kann das zwei Ursachen haben. Es kann sich einmal um eine Traum- phantasie, d.h. um die Wiedergabe von im Wachen gefügten Phantasien, in Büchern, Zeitungen gelesenen Dingen, von Roman- bruchstücken, oder von selbstgesprochener oder gehörter Rede handeln. Eine tiefere und häufiger zutreffende Erklärung für das scheinbar so logische Gefüge mancher Träume ist aber die, daß die rationalisierende Tendenz der Seelentätigkeit, die das Unsinnige in eine sinnvolle Gedankenkette zu verweben sucht, auch bei Nacht nicht ruht. Diese letzte Tätigkeit des Traumes nennt Freud die sekundäre Bearbeitung; ihr ist es zu verdanken, daß die ursprünglich bruchstückartigen Traumbestandteile durch nach- träglich eingefügte Bindewörter und andere kleine Zutaten zu etwas Ganzem abgerundet werden.

Wenn der Traum einen Traumgedanken gründlich verdichtet, verschoben, entstellt, szenisch dargestellt, seiner logischen Beziehungen beraubt und sekundär bearbeitet hat, ist die Mühseligkeit der Deutungsarbeit oft riesengroß. Wir stehen dem bewußten Traum- inhalte wie einer Hieroglypheninschrift oder einem sehr schwer

Die Psychoanalyse der Träume 63

auflösbaren Bilderrätsel gegenüber; die Erklärung vieler Träume erfordert außer der Kenntnis der Regeln der Freudschen Traum- deutung eine besondere Fähigkeit und Neigung zur Beschäftigung mit diesen Fragen des Seelenlebens.

Ein nicht geringeres Rätsel, als der Traum selbst, ist auch sein rasches Erblassen in der Erinnerung. Beim Erwachen stürzt das bei Nacht so mühsam aufgebaute Traumgebilde wie ein Karten- haus zusammen. Während des Schlafens gleicht die Seele einem luftdicht verschlossenen Zimmer, in das von außen weder Licht noch Schall eindringen kann, in dem aber gerade darum das leiseste Geräusch, selbst das Summen einer Fliege, hörbar wird. Das Er- wachen aber ist wie die Lüftung des Zimmers am hellichten Morgen; durch die Tore unserer Sinne dringt der Lärm des Alltagslebens in die Seele, und die durch Wunschphantasien eingewiegten all- täglichen Sorgen werden wieder rege. Auch die Zensur erwacht aus ihrem Schlummer und ihr Erstes ist, den Traum für eine „Dumm- heit“; für Unsinn zu erklären gleichsam wegen Unzurechnungs- fähigkeit unter Vormundschaft zu stellen. Doch begnügt sie sich mit dieser Maßregel nicht immer, sie ergreift auch viel strengere gegen die revolutionären Träume (und es gibt keinen einzigen Traum, der sich an Hand der Analyse nicht als gegen staatliche oder ethische Gesetzesparagraphe verstoßend erwiese). Die strengere Maßregel besteht in der Konfiszierung, der völligen Unterdrückung des Traumbildes. Die seelische Beschlagnahme nennt man gewöhnlich Vergessen und erzählt sich staunend, man hätte so klar geträumt, beim Erwachen noch alles gewußt und in wenigen Minuten alles wieder vergessen. Ändere Male weiß man nur anzugeben, der Traum sei schön, gut, schlecht, verworren, anregend oder dumm gewesen. Selbst in die Fassung dieser Urteile über den Traum verirrt sich noch manchmal ein Rest des Trauminhaltes, dessen Analyse zur späteren Wiedererinnerung an größere Traumbruchstücke führen kann. Hinter solchen nachträglich hervorgeholten Traumstücken trifft man oft gerade den Kern der Traumgedanken.

Eine wichtige Folge der Freudschen Traumlehre ist es, daß man eigentlich fast immer träumt, solange man schläft. Daß man sich daran nicht erinnert, ist kein entscheidender Einwurf gegen diese Behauptung. Meine Patienten zum Beispiel, die am Beginne

64 Die Psychoanalyse der Träume

der Analyse angaben, sie hätten überhaupt keine Träume, gewöhnen sich bei fortschreitender Abschwächung des innerpsychischen Wider- standes durch die Kur allmählich daran, alle ihre Träume zu erinnern. Stößt man aber bei der Analyse auf einen sehr stark widerstehenden unlustbetonten Komplex, so bleiben die Träume scheinbar ganz aus, natürlich werden sie nur ob ihres unerquicklichen Inhalts vergessen, "verdrängt.

Die selbstverständliche Einwendung, daß diese Traumbeobach- tungen und Analysen zumeist von nervenkranken, also abnormen Persönlichkeiten herrühren, von denen der Rückschluß auf Gesunde nicht gestattet sei, braucht nicht mit der Entgegnung abgewiesen zu werden, daß geistige Gesundheit und Psychoneurose sich nur quantitativ unterscheiden; man kann auch erwidern, daß die Analysen Geistesgesunder mit den Traumdeutungen bei Neurotischen voll- kommen übereinstimmen. Die Mitteilung der Analyse eigener Träume stößt aber fast auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Freud ist auch vor diesem Opfer, dem Preisgeben persönlicher Intimitäten, in seiner „Traumdeutung“ nicht zurückgeschreckt, wenn auch Rücksichten auf andere hie und da die Verstümmelung seiner Analysen unvermeidlich machten. Ähnliche Rücksichten nötigten mich, die Prinzipien der. Traumdeutung nicht an eigenen Träumen, sondern an denen meiner Patienten zu erläutern. Übrigens ist die Übung der Selbstanalyse unerläßlich für jeden, der in die unbewußten Vorgänge des Traum- lebens eindringen will.

Die neurotischen Personen, deren Träume ich als -Beispiele vorbrachte, verschafften mir die Gelegenheit, hie und da auch von der pathologischen und der therapeutischen Bedeutung der Träume und der Traumdeutung einige Worte fallen zu lassen. Wir sahen, eine wie bedeutende Beschleunigung die Psychoanalyse eines Neurotikers durch eine gelungene Traumanalyse erfahren kann. Die nur halbwache Traumzensur läßt oft Gedankenkomplexe ins Traumbewußtsein gelangen, die bei den freien Assoziationen im Wachen noch bewußtseinsunfähig wären. Von den Traumbildern führen also unmittelbarere und kürzere Wege zu dem verdrängten, krankheitserregenden seelischen Material, d. h. zur Quelle der neu-

rotischen Symptome. Das Bewußtwerden solcher Komplexe kann einen Schritt zur Besserung bedeuten.

Die Psychoanalyse der Träume 65

Auch die diagnostische Bedeutsamkeit der Träume läßt sich nicht von der Hand weisen und in nicht zu ferner Zeit dürfte neben der physiologischen auch eine pathologische Traum- psychologie entstehen, die die Eigentümlichkeiten der Traum- bildung bei der Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia praecox, Neurasthenie, Angstneurose, dem Alkoholismus, der Epilepsie, Para- lyse, dem Schwachsinn usw. systematisch behandeln wird. Manche pathognostische Eigenheiten der Träume bei diesen Krankheits- zuständen sind schon heute erkennbar.

Doch alle diese mehr praktischen und Einzelfragen werden an Bedeutsamkeit von dem unerwarteten theoretischen Erfolg dieser Traumforschungen überragt. Freud ist es gelungen, den Traum, einen Vorgang auf dem Grenzgebiete physiologischen und patho- logischen Seelenlebens, mitten in seiner Arbeit, gleichsam in flagranti zu überraschen und dadurch auch den Mechanismus der im Wachen sich kundgebenden psychischen Vorgänge bei Normalen wie bei Nerven- und Geisteskranken unserem Verständnis näher zu bringen. Und wenn es das Studium der Psychoneurosen war, das Freud zu seinen Traumforschungen veranlaßt hat, so zahlt die Traumlehre mit Zinseszinsen zurück, was sie der Pathologie zu verdanken hat.

Anders konnte es gar nicht kommen. Sind doch Wachsein, Träumen, Neurose und Psychose nur Variationen desselben psy- chischen Materials unter verschiedenen Arbeitsweisen, und so mußte die fortschreitende Einsicht in einen dieser Vorgänge notwendiger- weise auch die Erkenntnis der übrigen vertiefen und erweitern.

Wer von der neuen Traumlehre etwa prophetischen Blick in die Zukunft erwartete, wird ihr vielleicht enttäuscht den Rücken kehren. Wer aber das ÄAufdecken bisher für "unlösbar gehaltener psycho- logischer Probleme, die Erweiterung des psychologischen Gesichts- kreises auch abgesehen vom unmittelbaren praktischen Nutzen hoch- schätzt und am Fortschritt nicht durch festgewurzelte Schulmeinungen gehindert ist, den wird das hier Mitgeteilte zum gründlichen und ernsten Studium des bedeutendsten Werkes Freuds, der „Iraum-

deutung“,” anspornen.

* Prof. S. Freud, Traumdeutung 1900, Leipzig u. Wien, VI. Aufl. 1921.

Traume der Ahnungslosen*

Wir wissen, welche Mühe es oft kostet, den Traum eines in psychoanalytischer Kur befindlichen Patienten zu deuten. Dieser ist gleichsam „gewarnt“ und hütet sich, Träume zu produzieren, die leicht zu übersetzen sind und die er am Ende auch selber deuten könnte. Nicht so jene große Schar von Menschen, die von Psycho- analyse keine Ahnung haben. Diese erzählen einander beim gedeckten Tisch oder sonst im Geplauder ihre sozusagen primi- tiven, von analytischer Kultur nicht beleckten Träume, und ahnen nicht, daß sie dabei dem sachverständigen Zuhörer ihre intimsten und geheimsten, oft vor sich selbst verheimlichten Wünsche ver- raten. Ich brachte einmal mehrere Wochen in einem Kurorte zu und konnte während der Mahlzeiten eine kleine Serie solcher leicht deutbarer Träume sammeln. |

„Denken Sie, was mir heute geträumt hat“, sagte eine Dame, die mit ihrer Tochter in der Pension weilte, zu ihrer Nachbarin: „Man hat mir heute Nacht die Tochter geraubt; beim Spazier- gang im Wald kamen uns Männer entgegen und schleppten mir die Tochter mit Gewalt weg. Es war fürchterlich!“ Ich teilte dieses Urteil über den Traum nicht und dachte mir, die Dame möchte ihre mehr als mannbare Tochter schon los werden. Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten. Schon Tags darauf beklagte sich die Dame darüber, wie viel lustiger die voraus- gegangene Saison gewesen wäre, da seien eine ganze Menge junger Leute dagewesen, jetzt habe ihre Tochter gar keine passende

* Erschienen in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“, IV. Jahr- gang, 1916.

Träume der Ahnungslosen 67

Gesellschaft, es seien lauter ältere Herren da. Am anderen Tage kündigte sie an, daß sie bald abreisen wollten, und sie taten es auch.

Ein dort weilender Kollege sagt mir eines Morgens: „Heute Nacht habe ich von Dir geträumt. Du kämpftest in einem Kanal mit einem ÄApachen, der dich unters Wasser drücken wollte. Ich lief zur Polizei, um Dir Hilfe zu bringen“. „Was habe ich Dir getan, daß du mir so böse bist?“, konnte ich mich nicht enthalten, den Kollegen zu fragen. „Aber gar nichts! Ich träumte nur so aufgeregt, weil ich die ganze Nacht heftige Kolikschmerzen hatte“. „Das mag seinen Teil an der Traumbildung haben“, entgegnete ich; „der Kanal, in dem ich ersäuft werden sollte, mag» eine Anspielung auf den Darmkanal sein, der also im Traume nicht dir," sondern mir weh tun 'soll. Ich wiederhole, du mußt mir wegen irgend etwas gram sein!“ „Du meinst doch nicht, daß ich dich deswegen er- tränken wollte, weil Du mir gestern jene kleine Gefälligkeit ver- sagen mußtest? Das werde ich Dir nimmer glauben!“ Für mich aber war der Traum als Rachephantasie hiedurch gedeutet.

„Was bedeutet das, wenn man im Traume die Schuhe die ganze Nacht an- und auszieht?“, fragte mich eine auffallend hübsche und junge Kriegswitwe bei Tisch. „Um Gotteswillen, fragen sie mich nicht so laut!“, war meine einzige Antwort und es gelang mir, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Die Träumerin ließ sich aber nicht so leicht abweisen. In der anderen Nacht setzte sie den Traum fort und wollte nunmehr die Bedeutung folgenden Traumes wissen: „Gestern träumte mir, daß ich einen älteren Herrn geheiratet habe, die Mutter hat mich dazu gezwungen. Nach- her hatte ich eine Unmenge von Schuhen in allen Farben, die ich aus- und anzog, schwarze, braune, gelbe Schuhe!“ Sie hatte offen- bar Freude am Besitze dieses Schuhlagers, denn selbst bei der Erzählung lachte sie noch vergnügt. „Wem sah der alte Herr, Ihr Gemahl im Traume, ähnlich“. „Ja, das ist merkwürdig, es war der Mann einer jungen Bekannten von mir, die wirklich einen älteren Mann heiratete. Ich finde solche Ehen unsittlich, sie sind direkt auf den Ehebruch berechnet“. Ich brauchte nicht weiter zu fragen, um die Bedeutung der vielfarbigen Schuhe zu verstehen, dachte mir nur: ältere Junggesellen müssen sich vor dieser Dame in Acht nehmen.

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68 Träume der Ahnungslosen

Inzwischen scheint sich das Gerücht, daß ich mich für Träume interessiere, im Hause doch verbreitet zu haben, denn eines Tages kommt die Krankenwärterin einer dort weilenden Patientin zu mir und erzählt folgenden schauerlichen Traum: „Ich sah in einem Zimmer einen Sack, darin lag die Leiche. meiner verstorbenen Schwester, der Sack selbst befand sich auf einem hölzernen Gefäß, in dem sich schmutziges Wasser, vielleicht von der Verwesung der Leiche stammend, ansammelte; aber es roch gar nicht schlecht. Merk- würdigerweise vergaß ich immer wieder, daß meine Schwester ge- storben war, und fing zu singen an, schlug mir aber dann immer zur Strafe auf den Mund. Als ich den Sack aufmachte, sah ich, daß die Schwester nicht tot? sondern nur sehr blaß war. Neben ihr lag die Leiche eines kleinen Kindes. Auf dem Gesicht der Schwester war ein häßlicher Ausschlag zu sehen.“

Zum Verständnis des Traumes muß man wissen, daß die Träumerin eine wohlgebaute, 38—39jährige Person ist, die trotz aller anscheinenden Eignung zur Mutterschaft ledig blieb und den Pflegerinnenberuf wählte. Die eigenartige Sarggeburtsphantasie, den Zweifel darüber, ob die Schwester tot ist oder lebt, mußte ich mir als die Identifizierung der toten Schwester mit einer lebenden Person deuten. Daß diese Lebende die Träumerin selbst sein mochte, hiefür sprach ihr eigenartig zweideutiges Benehmen der toten Schwester gegenüber: sie freut sich über den Tod, dann straft sie sich für diese Freude. Vielleicht beneidete sie einmal ihre (wie ich erfuhr, verheiratet gewesene) Schwester und hätte sich an ihre Stelle setzen mögen, damit auch sie Kinder bekommen könne. Die Frage nun, die ich an die Träumerin richtete, war folgende: „Haben Sie nach dem Tode der Schwester nicht die Idee gehabt, daß der Schwager, wie das so oft vorkommt, Sie heiraten wird?“ „Das nicht“ antwortete sie „der Schwager hat allerdings um meine Hand angehalten, aber ich schlug seine Bitte aus, weil ich die Sorge um die vier Kinder meiner Schwester nicht auf mich nehmen wollte.“

Ich ließ mich nicht darauf ein, die Einzelheiten dieses Traumes analytisch aufzuklären, soviel wurde mir aber schon aus dem Er- zählten klar, daß die Träumerin die Entschiedenheit, mit der sie damals das Anerbieten des Schwagers zurückwies, innerlich bereut

Träume der Ahnungslosen 69

haben mag. Ob nebstdem nicht auch wirkliche Erlebnisse Anteil an der Traumbildung hatten ich denke an einen Abortus lasse ich dahingestellt sein; ich hütete mich natürlich, diesbezüglich Fragen zu stellen. Wenn wir aber auch die Frage: Phantasie oder Realität, hier vernachlässigen müssen und dazu sind wir bei Problemen des Unbewußten berechtigt so haben wir doch aus der Traum- erzählung allein wichtige Regungen des Seelenlebens der Träumerin erraten. |

Suggestion und Psychoanalyse“

Viele halten die Psychoanalyse aus Unorientiertheit für eine „suggestiv“ wirkende Therapie. Aber auch solche, die vielleicht etwas von der analytischen Literatur gelesen haben, sind, wenn sie nicht über selbständige Erfahrung verfügen, nach oberflächlicher Orientierung geneigt, die wissenschaftlichen und therapeutischen Ergebnisse der Analyse als „Suggestion“ zu qualifizieren. Wer dagegen, wie auch ich, sich praktisch mit Seelenanalyse be- schäftigt, sieht. einen großen Unterschied zwischen den beiden Forschungs- und Heilmethoden, die die Analyse und die Sug- gestion kennzeichnen. Über diese Unterschiede möchte ich jetzt einiges mitteilen.

Es ist vielleicht zu entschuldigen, wenn ich meinen Gefühlen die Konzession mache, mit der Aufklärung der Unorientierten, also noch Unparteiischen zu beginnen, und erst dann versuchen, die lautgewordenen Einwände der zweiten Gruppe zu entkräften.

Den Sinn des Wortes „Suggestion“ zu bestimmen, ist vielleicht schwer, aber jeder weiß, was das Wort bedeutet: die gewollte Einschmuggelung von Empfindungen, Gefühlen, Gedanken und Willensentschließungen in die Seelenwelt eines Anderen, und zwar so, daß der Beeinflußte die suggerierten Gedanken, Gefühle und Regungen aus eigener Kraft nicht verändern, korrigieren kann. Kurz gesagt, die Suggestion ist das Aufdrängen, beziehungsweise die kritiklose Annahme eines fremden seelischen Einflusses. Die Ausschaltung der Kritik ist also die Vorbedingung der erfolgreichen

* Vortrag, gehalten in der „Freien Schule der Sozialen Wissenschaften“ in Budapest.

Suggestion und Psychoanalyse 71

Suggestion; was aber sind die Mittel dazu? Einerseits das Impo- nieren, das Ängstigen, andererseits das Bestechen durch gütiges, liebevolles Zureden. An anderer Stelle versuchte ich nachzuweisen, daß die Suggestion den Menschen geradezu auf das Niveau eines unbeholfenen, zu Widerspruch, zu selbständigem Denken unfähigen Kindes herabdrückt, wobei der Suggerierende sich mit geradezu väterlicher Autorität dem Willen des Mediums aufdrängt, oder sich mit mütterlicher Zärtlichkeit in seine Seele einschmeichelt. Und was ist es, was der Hypnotiseur oder der Suggerierende von seinem Medium beansprucht? Nichts weniger, als daß er nicht fühle, wisse, und wolle, was es natürlicherweise zu wissen, fühlen und wollen genötigt wäre. Es möge den quälenden, physischen oder seelischen Schmerz nicht fühlen, die Zwangsvorstellungen, an denen es leidet, sollen sein Bewußtsein nicht mehr bedrücken, es möge nicht mehr unerreichbaren oder absurden Zielen nachjagen. Oder aber es soll auch solches wissen, fühlen und wollen, wogegen sich etwas in ihm auflehnt: es soll arbeiten, seine Aufmerksamkeit konzentrieren, Projekte ausführen, vergeben, lieben und hassen können, auch dann, wenn äußere und innere Ursachen diese seine Fähigkeiten lähmen. Dem hysterisch Gelähmten sagt der Hypnotiseur wie einstmal Jesus: stehe auf und gehe, und der Patient soll aufstehen und gehen; der Gebärenden sagt er: du wirst ohne Schmerzen entbinden, und das Wunder geschieht.

Wie wir sehen, macht es für die Hypnose und die Suggestion keinen Unterschied, ob sie einen organischen Schmerz, ein reales Wissen und einen motivierten Willensakt aufheben oder aber „irreale“, sogenannte eingebildete Krankheitssymptome.

Das hynotische oder suggestive Heilverfahren wäre herrlich, ein Märchenwunder, stünden nur nicht so viel Hindernisse seiner Anwendung im Wege.

Das erste und größte Hindernis ist, daß nicht jeder Mensch suggestiv beeinflußbar ist. Je selbständiger, reifer, seelisch ent- wickelter die Menschheit wird, um so weniger Menschen kann der ärztliche Wundertäter zu folgsamen Kindlein zähmen.

Der zweite Fehler liegt darin, daß, selbst wenn ein Individuum durch relative Beschränktheit, eventuell durch Einengung des Selbst- bewußtseins, beeinflußbar wird, die Wirkung nur zeitweilig ist, nur

72 Suggestion und Psychoanalyse

solange anhält, als die Autorität des Suggerierenden aufrecht oder das in ihn gesetzte Vertrauen unerschüttert bleibt. Und das Gegenteil davon kann wahrlich sehr schnell eintreten. Sie werden es vielleicht nicht für wichtig halten, aber vom Standpunkte des durch Suggestion Behandelten gesehen, ist auch das als Nachteil zu bewerten, daß die Hypnose oder die Suggestion die Einengung des Bewußtseins gleich- sam künstlich züchtet, also inneren und äußeren Wahrnehmungen gegenüber zur Blindheit erzieht. Wer dem hypnotisierenden Arzt blind vertraut, der glaubt bald auch an die wundertätige Maria von Lourdes und die Quacksalberin von Ö-Buda*.

Die Psychoanalyse dagegen steht auf der festen Grundlage der strengen Determiniertheit des seelischen Geschehens. Sie läßt vor allem die Auffassung fallen, nach der die sogenannten „eingebildeten Krankheiten“ grundlos, der Simulation verwandt, oder absurd sind. Die Patienten brachten mich früher, solange ich die Psychoanalyse noch nicht kannte, oft in Verlegenheit, wenn ich ihnen etwas sug- gerieren wollte. Als ich dem Patienten, der zu systematischer Arbeit unfähig war, sagte: „Es fehlt Ihnen nichts, mein Freund, nehmen Sie sich zusammen, man muß nur wollen“, antwortete er: „Das ist ja gerade mein Leiden, daß ich keinen Willen habe! Tag und Nacht sage ich mir, du mußt, du mußt und ich kann doch nicht. Ich bin eben gekommen, damit Sie mich lehren zu wollen!“ In solchen Fällen macht es wenig oder gar keinen Eindruck auf den

Leidenden, denn, daß er leidet, ist doch außer Zweifel —, wenn der Arzt vielleicht mit erhobener Stimme, oder etwa mit noch ernsterem, strengerem oder selbstgefälligerem Gesicht wieder

nichts anderes tut, als daß er den Patienten anschreit: „Ja, du mußt wollen!“ Der Kranke geht traurig und enttäuscht nach Hause, geht zu einem anderen Arzt, und wenn er sich in Allen getäuscht hat, dann kommt die Verzweiflung oder er gerät in die Hände der Quacksalber. Ich weiß einen Fall, wo ein berühmter Arzt, an den sich eine von Zwangsvorstellungen gequälte junge Frau mit Ver- trauen gewandt hatte, sie mit dem Bedeuten heimschickte, es fehle ihr nichts. Die Patientin ging sofort nach Hause und hängte sich auf. Können wir behaupten, es sei kein tötliches Leiden, durch das so viel Menschen Jahrzehnte hindurch gequält sind, um dessent- * Vorstadt von Budapest.

Suggestion und Psychoanalyse 73

willen sie ihre Beschäftigung, ihre Familie vernachlässigen, und von dem sie sich endlich durch den selbstgesuchten Tod erlösen? Steckt nicht viel Wahrheit in der satirischen Bemerkung des Kranken, der auf die Beruhigung des Arztes, er bilde sich alles doch nur ein, mit der Frage antwortete: „Warum bilden Sie sich nichts ein, Herr Doktor?“

Nun, die Psychoanalyse hat entdeckt, daß hierin nicht die hypnotisierenden Ärzte im Rechte waren, sondern die Kranken. Der eingebildete Kranke, der Willenlose, sie leiden wirklich, nur über den wahren Grund ihres Leidens sind sie im Irrtum. „Grundlos“ ist die Angst des Hypochonders, der fortwährend seine Herzfunk- tion beobachtet und jeden Moment den Tod herannahen sieht: aber es ist nicht zu leugnen, daß in seiner Seele eine verborgene Wunde ist, irgend eine reale oder der realen gleich stark wirkende Angst, aus der die hypochondrische Angst stets neue Nahrung erhält. Der an hysterischer Agoraphobie leidende, der keinen Schritt auf der Gasse zu gehen wagt, hat in der Tat vollständig gesunde Organe, sein Gehirn, sein Rückenmark und seine peripheren Nervenbahnen sind in Ordnung; er hat gesunde Muskeln, Knochen und Gelenke. Aber das bedeutet noch nicht, daß ihm „gar nichts fehlt“. Die Psychoanalyse sucht und findet, wenn auch mit großer Mühe und Geduld, die vergessene, unbewußt gewordene seelische Wunde, deren karikierte, entstellte Äußerung die Agoraphobie ist. Also, während die Hypnose und Suggestion das Übel entweder einfach negiert oder tiefer zu vergraben trachtet, aber in Wahrheit in der Tiefe der Seele fortglimmen läßt wie die Glut unter der Asche, geht die Analyse der Ursache der Krankheit energisch, nach, gräbt gleichsam das Feuer aus der Asche hervor und löscht es an seinem Herde.

Und was sind diese Feuerherde? Anscheinend längst ver- gessene, in Wahrheit lebendig gebliebene Erinnerungen, Wünsche, Selbstbeschuldigungen, schwere Verletzungen des Selbstbewußtseins oder der Eitelkeit, von denen der Mensch sich keine Rechenschaft geben will, und lieber die Krankheit als Lösung wählt; hauptsächlich aber unerledigte Konflikte der zwei Hauptinstinkte des Menschen, des Selbst- und des Arterhaltungstriebes, die durch individuelle Anlage begünstigt oder durch äußere Erlebnisse provoziert sind.

74 Suggestion und Psychoanalyse

Sie könnten fragen: was kann es jemandem nützen, wenn er nach langem Suchen endlich erfährt, was ihm eigentlich fehlt?

Wäre es nicht klüger, ihm seine Zwangsvorstellungen oder seine hysterische Lähmung weiter zu belassen, zu denen er sich instinktiv. flüchtete, als ihn erbarmungslos dazu zu zwingen, daß er gut ver- steckte ästhetische und ethische Defekte seiner Seele bloßstellt?

Die Erfahrung lehrt, daß dem nicht so ist. Denn ein reales Übel läßt sich irgendwie erledigen, ja in vielen Fällen hatte es nicht einmal die ihm zugeschriebene Bedeutung. Die Personen, die: in den verdrängten Vorstellungsgruppen eine Rolle spielten, sind vielleicht längst gestorben, oder für den Patienten bedeutungslos geworden, und doch können diese Vorstellungskomplexe jahrzehnte- langes seelisches Leiden verursachen, wenn jemand, um seine Empfind- lichkeit zu schonen, statt der schmerzhaften bewußitseelischen Er- ledigung, den Weg der Verdrängung, des Selbstbetrugs, der Ver- hüllung vor sich selbst, wählt.

Nicht selten wiederholt sich in unseren Analysen das Drama, das sich in Ibsens „Frau vom Meere“ so erschütternd abspielt. Die Heldin des Stückes ist eine Frau, die, obzwar sie allen äußeren Grund hätte, glücklich zu sein, von schweren Zwangsgefühlen ge- peinigt wird. Das Meer, und immer nur das Meer, fesselt ihre ganze Gefühlswelt; alle Zärtlichkeit ihrer Umgebung, ihrer Familie, prallt wirkungslos von ihr ab. Der bekümmerte Gatte, ein Arzt, zieht mit allen Waffen seines Wissens ins Feld, um das Gemütsleben seiner Frau wieder aufzurichten: Beruhigung, Zerstreuung, Ablenkung jeder Art, doch alles umsonst. Endlich kommt er, man könnte sagen, durch eine Art psychoanalytischen Ausfragens, zur Überzeugung, daß die eingebildete Krankheit seiner Frau einen realen Hinter- grund hat. Die Erinnerung an einen Abenteurer, einen verwegenen Seemann, dem sie noch als junges Mädchen Treue geschworen, stört den Frieden ihrer Seele. Sie quält sich unbewußt immerfort mit dem Gedanken ab, ihren Mann nicht aufrichtig zu lieben, nur aus Interesse sein Weib geworden zu sein, ihr Herz gehöre noch immer jenem Abenteurer. Am Ende des Dramas kehrt dieser einstige Geliebte wirklich zurück und pocht auf seine Rechte. Der Gatte will seine Frau erst mit Gewalt vor ihm schützen, doch sich besinnend, begreift er bald, daß die vier Wände, zwischen die er

Suggestion und Psychoanalyse 75

seine Gattin sperren wollte, wohl den Körper gefangen halten können, die Gefühle aber niemals; er gibt also seiner Frau das Selbstbestimmungsrecht zurück, er läßt sie frei zwischen ihm und dem Abenteurer wählen. Und in dem Moment, wo die Frau die freie Wahl hat, wählt sie wieder nur ihren Mann; und dieser selbständige Ent- schluß befreit sie endlich von der Qual, immer nur ans Meer denken zu müssen, das ja nur ein Symbol ihres Verhältnisses zu jenem See- mann und eine Ersatzvorstellung der verdrängten Idee war, daß nicht Liebe, sondern nur Interesse sie an ihren Mann binde.

Dem Dichter ist es leicht, verschollene Gestalten nach Be- lieben ins Leben zu rufen und wieder verschwinden zu lassen; diese Möglichkeit fehlt natürlich in der Psychoanalyse. Aber auch die durch die Analyse von ihren Fesseln befreite Phantasie kann wunder- bar lebendig und kraftvoll die Erinnerungen aus alter Vergangen- heit heraufbeschwören, und oft stellt es sich dann heraus, daß wie bei der „Frau vom Meere“, die unbewußte Sorge oder Idee, die dem Kranken soviel unnötiges Leid verursachte, die Ruhe der Seele nur solange stören konnte, als sie im Unbewußten verborgen war, während sie in der gespensterbannenden Beleuchtung des Vollbewußtseins von selbst verschwindet.

Doch auch wenn es sich bei der Analyse herausstellt, daß die das Gleichgewicht der Seele störende, aber verdrängte, ge- fürchtete Idee immer noch Daseinsberechtigung hat, auch heute noch Konflikte zu erzeugen geeignet ist, selbst dann ist es vorteil- hafter, dem Kranken die volle reine Wahrheit vorzuhalten.

Es gibt ja reale Übel, denen man abhelfen kann; wie aber wenn man sie vor sich selbst ableugnet? Wir müssen das Übel erkennen, das ist die Vorbedingung der Abhilfe. Fühlt eine „Frau vom Meere“, die frei wählen kann, daß sie ihren Mann nicht liebt, wohlan denn, so mag sie ihn verlassen. Dann kann sie immer noch überlegen, ob sie dem Abenteurer folgen soll und ob es nicht vernünftiger ist, weder dem Braven, aber Ungeliebten noch dem Anziehenden, aber Unzuverlässigen anzugehören, sondern von Beiden getrennt sich neue Ziele zu stecken und in einem neuen Leben Entschädigung zu suchen.

Das aber wäre das Beispiel für eine dritte Möglichkeit, für die nämlich, daß der Konflikt auch nach der Analyse sich als un-

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lösbar erweist. Man könnte meinen, daß in diesem Falle eine un- sinnige Zwangsidee, z. B. die monomanische Liebe zum Meere, denn doch erträglicher ist, als das Wissen um die unerbittliche Wahrheit. Dem ist aber nicht so. Ein Hauptcharakterzug neuro- tischer Symptome ist die Unmöglichkeit ihrer Erledigung und die dadurch bedingte Unverwüstlichkeit. Um den im Unbewußten ver- borgenen Komplex sammeln sich immer frische Energiemengen an, wie im Schosse eines scheinbar erloschenen Vulkans, und wenn die Spannung einen Höhepunkt überschritten hat, kommt es. immer wieder zu Ausbrüchen. Was wir hingegen bewußt überschauen und in all seiner Tiefe durchfühlen, das unterliegt in der Seele dem Prozesse des Abilauens, der Abnützung, es verliert an Gefühls- wert. Der vollen Erkenntnis folgt die „assoziative Zerstreuung“ der Gefühlsspannung auf dem Fusse. Auch die Trauer hat zwei Erscheinungsformen, eine normale und eine pathologische. Bei der ersteren folgt der ersten psychischen Lähmung bald die philo- sophische Resignation, die Sorgen und Aufgaben der Zukunft lassen den Selbsterhaltungstrieb bald zu Worte kommen. Wo aber Jahre, Jahrzehnte vergehen, ohne daß das Gefühl der Trauer nachließe, dort können wir versichert sein, daß der Trauernde nicht nur den eben Verlorenen, nicht nur die Erinnerungen an ihn be- weint, sondern, daß im Unbewußten verborgen, andere frühere, deprimierende Motive die Gelegenheit des aktuellen Falles benützen, um sich geltend zu machen. | Die Analyse verwandelt die pathologische Trauer in eine phy- siologische und macht sie dadurch der gefühlserlösenden Wirkung der Zeit, des Lebens zugänglich, gleichwie das verschüttete antike Kunst- werk nur so lange intakt bleibt, als es in der Tiefe der Erde be- graben liegt; sobald es ans Tageslicht geholt wird, beginnen Regen, Eis, Schnee und Sonnenschein ihre zerstörende Arbeit an ihm. Die Suggestion heilt also palliativ, die Analyse verdient ein „kausales Heilverfahren“ genannt zu werden. Der Suggerierende tut wie jener Hygieniker, der gegen den Alkoholismus und die Tuberkulose fort- während nur von Abstinenz und Desinfektion predigt; die Analyse aber gleicht eher dem Soziologen, der nach den gesellschaftlichen Übeln forscht, die die eigentlichen Urheber der Trunksucht und der Tuberkulose sind, er kämpft gegen diese Grundursachen an.

Suggestion und Psychoanalyse 77

Wie ich schon sagte, fanden sich auch solche, die da behaup- teten, auch die Analyse selbst sei nichts anderes als eine Form der Suggestion. Der Analytiker beschäftige sich viel mit dem Kranken, er „rede ihm ein“, die Ursachen der Symptome wären diese oder jene, und diese Suggestion wirke heilend. Meist sind es dieselben Kritiker, die in einem Atem sagen, daß die tatsächlichen Angaben der Psychoanalyse unwahr seien und daß jene Tatsachen längst bekannt wären; daß die Analyse wirkungslos oder auch schädlich sei, und daß sie nur suggestiv heile.

Nach jener Grundregel der Dialektik, wonach der Behauptende zu beweisen hat, müßte ich mich mit diesen Einwendungen nicht beschäftigen, da sie überall nur als Möglichkeiten und leere Be- hauptungen aufgeworfen wurden und nicht auf persönlichen Erfah- rungen des Kritikers beruhen. Da aber diese Einwände so oft wieder- holt werden und schon infolge der häufigen Wiederholung Ein- druck machen können, will ich einige Fakten anführen, die dagegen sprechen, daß die Suggestion im gewöhnlichen Sinne des Wortes bei der Analyse eine namhafte oder gar die Hauptrolle spielen könnte.

Wie ich sagte, ist bei der Suggestion der Glaube des Pa- tienten die Vorbedingung des Gelingens. Nun, die analytische Kur beginnt damit, daß wir den Patienten auch darüber aufklären, daß die größte Skepsis von seiner Seite erlaubt, ja notwendig ist. Wir gestatten ihm, alle unsere Behauptungen zu kontrollieren; er darf über uns lachen, uns schelten, kritisieren, wenn ihm etwas, was wir behaupten, unglaublich, lächerlich oder grundlos erscheint. Ich könnte nicht behaupten, daß die Patienten am Anfang der Kur viel Ge- brauch von dieser Erlaubnis machen, im Gegenteil, es zeigt sich bei ihnen ein großer Hang dazu, alle unsere Aussprüche für Offen- barungen zu nehmen. In solchen Fällen erkennen wir selbst aus kleinen Fehlleistungen, Versprechen des Patienten, den unterdrückten Zweifel und zwingen ihn, diesen Unglauben sich und uns einzugestehen. Manchen Patienten ergreift schon nach den ersten Aufklärungen eine außerordentlich starke Neigung zum Prophetentum; er predigt iortwährend und überall über die Psychoanalyse, kann über gar- nichts anderes reden, will immerfort neue Anhänger werben. Solchen müssen wir dann selber beweisen, daß der große Lärm nur dazu dient, gewisse eigene Zweifel zu überschreien. Mit einem Wort, im

78 Suggestion und Psychoanalyse

Gegensatz zum Suggerierenden, der nichts will, als daß ihm der Patient glaube, achten wir fortwährend darauf, daß der Kranke nichts glaubt, wovon er sich nicht überzeugt hat.

Der Suggerierende will dem Kranken imponieren. Er nimmt die selbstgefällige Miene der wissenschaftlichen, moralischen Au- torität, der altruistischen Güte an und so sieht er seine Patienten an, gibt ihnen beruhigende Erklärungen oder erteilt ihnen Befehle. Selbst mit seiner äußeren Erscheinung, mit seinem Bartwuchs und seiner feierlichen Kleidung will er auf sie Eindruck machen. |

Wie anders die Psychoanalytiker: Sie zwingen den Patienten, alles was ihm durch den Kopf geht, zu sagen, nichts bei Seite zu schieben, selbst das nicht, wovon er meint, daß es auf den Arzt unangenehm oder beleidigend wirken könnte. So kommt denn auch alles zum Vorschein, was sich an Verdächtigung, Geringschätzung, Hohn, Haß, Zorn, Empfindlichkeit in ihm verbirgt, ohne die es einmal unter Menschen nie zugeht, selbst wo im Allgemeinen Sym- pathiegefühle vorherrschen. Das imponierende Auftreten des sug- gerierenden Arztes, die Güte oder Strenge, die er zur Schau trägt, drängen diese negativen Äffekte schon in statu nascendi zurück. Gibt es aber einen unfruchtbareren Boden für das Zustandekommen der Suggestion als ein Verhältnis, in dem es dem Behandelten anheimgestellt ist, sich über seinen Arzt in jeder möglichen Weise lustig zu machen, ihn wenn es ihm einfällt gering zu schätzen und zu erniedrigen? Ich kann hier nämlich gleich bemerken, daß viele Patienten diese Gelegenheit gerne ausnützen, um allem Haß und Hohn, den sie seit Kindheit gegen jede Autorität in sich hegten und erstickten, endlich einmal Luft zu machen. Mit scharfem Auge beobachten sie den Arzt: Sein Äußeres, seine Gesichtszüge, seine Kleidung, sein Gang werden kritisiert; es kommen Einfälle, in denen er verschiedener Missetaten verdächtigt, an der Lauterkeit seines Charakters gezweifelt wird. Der analysierende Arzt aber, der sein Handwerk versteht, wird sich solchen Einfällen nicht gegenüber verteidigen, sondern ruhig abwarten, bis der Patient selbst zur Einsicht kommt, daß seine Aggressivität eigentlich gegen ganz andere, für ihn bedeutsamere Personen gerichtet ist, und daß er

seine grundlosen oder haarsträubend übertriebenen Beschuldigungen auf den Arzt nur „überträgt“.

Suggestion und Psychoanalyse 79

Bei der suggestiven und hypnotischen Kur sagt der Arzt dem Patienten möglichst nur Angenehmes. Er leugnet, daß er überhaupt krank sei, tröstet ihn, will ihm Kraft und Selbstvertrauen einflößen, mit einem Wort, er suggeriert dem Kranken nur wohltuende Dinge und dies gefällt diesem so gut, daß er wirklich im Stande ist, aus Dankbarkeit hiefür das Produzieren der Symptome für eine Zeit aufzugeben. Im Gegensatz dazu muß der Analytiker seinem Patienten fortwährend unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sagen. Er enthüllt die Schattenseiten seines Charakters, seiner Ästhetik, seiner Intelli- genz, er drückt sein gehobenes Selbstbewußtsein auf ein reales Niveau hinab. Sträubt sich der Patient mit Händen und Füssen gegen solche unangenehme Einsicht, so hütet sich der Analytiker davor, ihn zu überreden, gibt eventuell auch die Möglichkeit eines Irrtums von seiner Seite zu. Erst wenn der Patient selbst Er- innerungen und Einfälle bringt, die den Verdacht des Analytikers bekräftigen, also nach eigener Überzeugung des Kranken kann man auf einen Fortschritt der analytischen Erkenntnis und auch auf die Besserung des Zustandes rechnen.

Wenn jemand diese vorsichtige Art der Aufklärung Suggestion nennen will, so ist gegen solche Namengebung natürlich nichts ein- zuwenden, nur müßen wir dann den Begriff der Suggestion über- haupt anders definieren und auch eine auf induktive Beweise ge- gründete logische Überzeugung unter diesen Begriff subsummieren. Damit verlöre aber das Wort wie auch der Einwand seine Bedeutung.

Dem Suggerierenden stehen außer dem Imponieren auch noch andere Waffen zu Gebote, er kann den Patienten gegenüber In- teresse, Selbstlosigkeit vortäuschen. Natürlich steigert das die Hoch- achtung, manchmal auch die Leidenschaft, die die Person des sug- gerierenden Nervenarztes hervorruft, bis zum höchsten Grad.

Solche Neigung des Patienten zu kritikloser Unterwerfung offenbart sich allerdings auch in der Analyse und insoferne muß das Vorhandensein suggestiver Faktoren auch in der Änalyse zuge- geben werden; doch ist diese „Suggestion“ in der Analyse nur ein Übergangsstadium und kein Kranker kann analytisch für geheilt gelten, bei dem sich die Ernüchterung aus diesem Zustande nicht eingestellt hat. Auch ist dafür gesorgt, daß der Enthusiasmus für den Arzt in der Analyse nicht „in den Himmel‘ wächst“. Der

80 Suggestion und Psychoanalyse

Analytiker schont nämlich mit seinem Seziermesser auch diese Sympathiegefühle nicht, die der Hypnotiseur so eifrig pflegt. Die vom Patienten eingestandene Zuneigung könnte aber nicht ärger beleidigt werden, als indem wir sie, statt sie zu erwidern, für ein in wissenschaftlicher und in therapeutischer Hinsicht wichtiges Sym- ptom erklären und analysieren. Und wahrhaftig, wie die pathologische Trauer, so schwindet diese pathologische Liebe; die Übertragung auf den Arzt verliert am Ende der Analyse allen Zauber.

Der Suggerierende beginnt damit, daß er dem Kranken be- stimmt die Genesung verspricht. Das tut der kunstgerecht arbeitende ÄAnalytiker nicht. Von Anbeginn der Kur an spricht er nur von einer Möglichkeit der Heilung, höchstens von der Wahrscheinlichkeit; anders kann er garnicht, denn die genauere Natur des Übels, seine: Tragweite, die Hemmungen, die sich aus der Persönlichkeit des Kranken ergeben, kommen erst während der Arbeit zum Vorschein und erst dann wird es allmählich klar, ob und in wie weit es möglich ist, die affektiven und intellektuellen Widerstände des Kranken zu bekämpfen. Wenn aber der Patient trotz alledem gesund wird, so kann von Suggestionserfolg nur der reden, der entweder nicht weiß, was Analyse ist, oder sich über die psychoanalytische Technik falsche Vorstellungen macht.

Der analysierende Arzt muß streng darauf achten, daß er sich nicht mit einem nur suggestiven Erfolg zufrieden gibt. Es kommt oft vor, daß der Patient schon mit freudestrahlendem Gesichte erscheint und das Evangelium seiner Genesung verkündet; da ist es die unangenehme Pflicht des Arztes, ihn auf die Zeichen auf- merksam zu machen, die dagegen sprechen. Wer aber solches Vor- gehen immer noch „Suggestion“ nennt, mit dem läßt sich überhaupt nicht weiter diskutieren.

Zu Beginn ihrer historischen Entwicklung war die Psycho- analyse mit der Hypnose kombiniert, sie hat sich aber von ihr längst emanzipiert. Die Entdecker der Methode benützten anfangs das bequeme Mittel der in der Hypnose verfeinerten Erinnerungs- fähigkeit dazu, um verborgene Erinnerungsspuren wachzurufen. Bald stellte es sich jedoch heraus, daß das Verquicken der Analyse mit Suggestion, wenn es auch in manchen Fällen den Beginn der Kur erleichterte, die Beendigung derselben und die Lösung der zu Stande

Suggestion und Psychoanalyse 8

gekommenen Gefühlsübertragungen auf den Arzt umso schwieriger gestalte. Ich stütze mich auf die Meinung aller kompetenten Fach- leute, wenn ich die mit Hilfe der Hypnose ausgeführte analytische Kur für ein minderwertiges Surrogat der wirklichen, ohne Hypnose ausgeführten erkläre. Es ist notwendig, dies zu betonen, denn viele sind der falschen Ansicht, daß die Analyse auch heute noch, wie zu Breuers Zeiten, nichts anderes ist als Erinnerungen-Wachrufen und Affekte-Äbreagieren im hypnotischen Zustand. Davon ist keine Rede, der Patient muß im Gegenteil wach sein, damit seine intellek- tuellen und affektiven Widerstände sich restlos manifestieren und überwunden werden können. |

Mit dem Gesagten wollte ich nur beweisen, daß die Analyse nicht nur keine Suggestion, sondern ein fortwährender Kampf gegen suggestive Einflüsse ist, und daß die Technik der Analyse mehr Schutzmaßregeln gegen blinden Glauben und kritiklose Unterwerfung anwendet als alle Methoden des Unterrichts und der‘ Aufklärung, _ die in der Kinderstube, an der Universität oder im Ordinations- zimmer je in Anwendung gebracht worden sind.

Aber daß der suggestive Einfluß keine große Rolle in unserer Psychoanalyse spielt, dafür sorgt auch die große Unbeliebtheit dieser Methode in offiziellen Kreisen.

Selbst wenn die Analytiker nicht gegen die Suggestion an- kämpfen und die inneren Widerstände des Patienten kein Gegen- gewicht gegen suggestive Einflüsse schaffen würden: die allgemeine

timmung eines bedeutenden Teiles der Ärzte würde genügen, um die Gläubigkeit unserer Patienten zu untergraben. In dieser Hinsicht geschieht oft mehr, als unbedingt nötig ist. Wenn ein analysierter Patient zufällig die Meinung eines anderen Arztes über Psychoanalyse einholt und wir kennen den Hang der Neurotiker, Ärzte zu konsultieren, so kehrt er schwer be- laden mit allerlei Zweifeln gegen unser Heilverfahren heim. Es ist noch nicht arg, wenn er nur zu hören bekommt, die Analyse sei „der Riesenirrtum eines genialen Menschen“, sie sei „Phantasie“ oder „Belletristik“, es geht auch noch an, wenn die Analyse von Ärzten, die keine blasse Ahnung davon haben, kurz und bündig für Unsinn erklärt wird. Es kommt aber vor, daß, Dank dem

Wohlwollen mancher Kollegen, auch gegen die persönliche Ver-

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82 Suggestion und Psychoanalyse

trauenswürdigkeit des Analytikers der Verdacht des Kranken geweckt wird.

Natürlich ahnen diese wohlmeinenden Informatoren nicht, daß in der Analyse der Patient seinem Arzte wirklich alles erzählt, und daß gerade dieser Zwang, alle Gedanken mitzuteilen, etwas von der Schärfe der Gegensuggestion nimmt, die den Kranken in seinem Vertrauen erschüttern möchte. Die Analyse ist heute noch eine Operation, sagt der obengemeinte „geniale Mann“, bei der Familienmitglieder und Ärzte fortwährend ins Operations- feld spucken.

Bei der Analyse ist also nicht von Suggestion die Rede, sondern im Gegenteil von der freien Äußerung jener starken Widerstände, die teils der Unlust des Patienten, unangenehme Wahrheiten zu ertragen, teils dem großen Mißtrauen entstammen, das die Ablehnung der Psychoanalyse durch angesehene Ärzte in offizieller Stellung im Patienten wecken muß. Und wenn es _ unter so schweren Verhältnissen doch gelingt, mittels der Psycho- analyse Kranke zu heilen oder qualvolle Seelenzustände dauernd zu erleichtern, so ist dies einzig und allein das Verdienst der Methode und nur ein Unorientierter kann es der „Suggestion“ zuschreiben.

Zwei Weltanschauungen sind es, die in unseren Tagen beim Krankenbette des Neurotikers miteinander ringen, und sie messen sich nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Gesellschaft längst mit feindlichen Augen. Der einen Zweck ist es, die Übel mittels Vertuschung, Bemäntelung, Verdrängung zu erledigen; ihre Mittel sind: Vortäuschen des Mitgefühls nach Art der Priester und Konservieren der Autoritätsanbetung. Die andere rottet die „Lebenslüge“ überall aus, wo sie sie vorfindet, mißbraucht die Au- torität nicht und das Endziel ihrer Bestrebungen ist, das Licht des Bewußtseins bis zu den verstecktesten Triebfedern des Denkens und Fühlens dringen zu lassen; sie schrickt vor keiner qualvollen, unangenehmen oder ekelhaften Erkenntnis zurück, wenn sie durch sie zu den Quellen des Übels vordringen kann. Gelang es der Psychoanalyse, das Denken und Fühlen eines Menschen von allen Fesseln zu befreien, so kann sie es getrost seiner Vernunft über- lassen, in den Handlungen die eigenen Interessen und Wünsche mit denen der Gesellschaft in Einklang zu bringen.

Suggestion und Psychoanalyse 83

Der Mensch, und zwar sowohl der gesunde als auch der kranke Mensch, ist reif geworden, seine verborgenen Übel bewußt zu bekämpfen, und es ist übertriebene Ängstlichkeit, ihn wie ein Kind mit suggestiver Beruhigung heilen zu wollen, anstatt ihn mit der manchmal bitteren, aber immer heilsamen Pille der Wahrheit fürs Leben zu stärken.

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Die wissenschaftliche Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ *

Die „Drei Abhandlungen“ zeigen uns Freud, den Änalytiker, zum erstenmal in synthetischer Arbeit. Das unermeßlich reiche Er- fahrungsmaterial, das sich aus der zergliedernden Prüfung so vieler tausender Seelen ergab, versucht der Verfasser hier zum ersten- mal derart zusammenzufassen, zu klassifizieren, in Beziehungen zu bringen, daß sich daraus die Klärung eines großen Gebietes der Seelenlehre, der Psychologie des Sexuallebens, ergebe. Daß er gerade die Sexualität zum Gegenstand seiner ersten Synthese wählte, folgte aus der Natur des ihm zu Gebote stehenden Beob- achtungsstoffes. Er analysierte Kranke mit Psychoneurosen und Psychosen und entdeckte als Grundursache dieser Leiden immer irgend eine Störung des Sexuallebens. An die Psychoanalyse an- knüpfende weitere Untersuchungen überzeugten ihn aber, daß die Sexualität auch in der Seelentätigkeit des normalen und gesunden Menschen eine weit größere und mannigfachere Rolle spielt, als man es bisher, solange man nur die manifesten Äußerungen der Erotik würdigen konnte und das Unbewußte nicht kannte, für möglich hielt. Es stellte sich also heraus, daß die Sexualität

* Diese Zeilen schickte der Verfasser seiner ungarischen Übersetzung der dritten Auflage des Freudschen Werkes „Drei Abhandlungen zur Sexual- theorie“ voran; sie wurden auch in der „Internationalen Zeitschrift für

Psychoanalyse“, IH. Jahrgang, 1915, abgedruckt.

R Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie* 85

trotz ihrer großen Literatur ein im Verhältnis zu ihrer Wichtig- keit sehr vernachlässigtes Kapitel des Wissens vom Menschen ist, das also jedenfalls einer von neuen Gesichtspunkten ausgehenden Untersuchung unterworfen zu werden verdient.

Es ist wohl nicht so sehr Bescheidenheit, als vielmehr die Un- genügsamkeit des immer vorwärts strebenden Gelehrten, wenn Freud in seinen letzten Konklusionen auf die Unvollkommenheiten dieses Versuches hinweist. Der Schüler, der sozusagen ohne Kampf und Mühe in den geistigen Besitz der in diesen Abhandlungen nieder- gelegten neuen Erkenntnisse und Perspektiven gelangt, sieht nicht die Unvollkommenheiten, sondern die Vorzüge des Werkes und rät auch dem Äutor, einem französischen Spruche zu folgen und sich zu sagen: „je vaux peu quand je me considere et beaucoup quand je me compare.“ Wer die Reichhaltigkeit des Materials dieser Ab- handlungen, die überraschende Neuheit ihrer Gesichtspunkte mit der Art vergleicht, in der die Sexualität in anderen Werken abgehandelt wird, der wird wohl nicht mit Unzufriedenheit, sondern mit dem Gefühle bewundernder Achtung auf die Lektüre dieser Arbeiten reagieren. Er wird dankbar anerkennen, daß die Libidotheorie, deren Probleme vor Freud nicht einmal aufgeworfen wurden, durch die Tätigkeit eines Einzelnen fest begründet, zum Teil ausgebaut, wenn auch noch nicht ganz vollendet wurde.

Dieser Erfolg, wie auch die Erfolge der F reudschen psychia- trischen Forschung, sind nicht nur dem Scharfblick des Autors, sondern auch der konsequenten Anwendung einer Untersuchungs- methode und dem Festhalten an gewissen wissenschaftlichen Gesichts- punkten zu verdanken. Die psychoanalytische Untersuchungsmethode, die in jedem Sinne des Wortes freie Assoziation, brachte eine bisher ganz unbekannte und unbewußte tiefere Schichte des Seelen- lebens zum Vorschein. Und die bisher nicht gekannte Strenge und Ausnahmslosigkeit, mit der die Psychoanalyse den Grundsatz des psychischen Determinismus und den Entwicklungsgedanken an- wendet, ermöglichte die fruchtbare wissenschaftliche Verwertung dieses neuen Materials.

Der Fortschritt, den wir dieser Arbeitsweise verdanken, ist überraschend groß. Die Psychiatrie vor Freud war ein Raritäten- kabinett sonderbarer und: sinnloser Krankheitsbilder, die Wissen-

86 Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“

schaft der Sexualität bestand in der deskriptiven Gruppierung ab- stoßender Abnormitäten. Die Psychoanalyse, stets treu dem Deter- minismus und der Entwicklungsidee, scheute vor der Aufgabe nicht zurück, auch diese die Logik, Ethik und Ästhetik verletzenden und darum vernachlässigten psychischen Inhalte zu zergliedern und ver- ständlich zu machen. Ihre Selbstüberwindung wurde reichlich be- lohnt; in dem von den Geisteskranken produzierten Unsinn erkannte sie onto- und phylogenetische Urkräfte der menschlichen Psyche, den nährenden Humus aller Kultur- und Sublimierungsbestrebungen, und es gelang ihr besonders in diesen „Drei Abhandlungen“ nachzuweisen, daß von den sexuellen Perversionen der einzige Weg zum Verständnis des normalen Sexuallebens führt.

Ich hoffe, daß es einstmal nicht als Übertreibung klingen wird, was ich von der Bedeutsamkeit dieser „Abhandlungen“ noch sagen muß. Ich stehe nicht an, ihr eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung beizulegen. „Mein Ziel war, zu erkunden, wieviel zur Biologie des menschlichen Sexuallebens mit den Mitteln der psychoanalytischen Erforschung zu erraten ist,“ erklärt der Verfasser im Vorwort zu seinen Abhandlungen. Dieser bescheiden klingende Versuch bedeutet, genau betrachtet, den Umsturz alles Hergebrachten; noch nie hat man bisher an die Möglichkeit gedacht, daß eine psychologische, und zwar eine „intro- spektive“ Methode ein biologisches Problem erklären helfen könnte.

Man muß weit zurückgreifen, will man dieses Bestreben seiner Bedeutung entsprechend würdigen. Wir müssen uns erinnern, daß die Wissenschaft in ihrer Urzeit anthropozentrisch, animistisch war; der Mensch nahm seine eigenen seelischen Funktionen zum Maßstabe des ganzen Weltgeschehens. Es war ein großer Fortschritt, als diese Weltanschauung, der in der Astronomie das geozentrische, ptolo- mäische System entsprach, von der „naturwissenschaftlichen“ man könnte sagen: kopernikanischen Auffassung abgelöst wurde, die dem Menschen die maßgebende Bedeutsamkeit benahm und ihm die bescheidene Stellung eines Mechanismus unter unendlich vielen anderen zuwies. Diese Ansicht schloß stillschweigend auch die An- nahme in sich, daß nicht nur die leiblichen, sondern auch die seelischen Funktionen des Menschen Leistungen von Mechanismen sind. Stillschweigend sage ich —, weil sich die Naturwissenschaft

Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 87

bis auf den heutigen Tag mit dieser ganz allgemeinen Annahme begnügte, ohne uns den geringsten Einblick in die Natur der psychischen Mechanismen zu gewähren; ja, sie leugnete dieses Nichtwissen vor sich selbst ab, indem sie diese Lücke in der Er- kenntnis mit phrasenhaften physiologischen und physikalischen Schein- erklärungen zudeckte.

Von der Psychoanalyse kam der erste Lichtstrahl, der die Mechanismen des Seelenlebens beleuchtete. Mit Hilfe ihrer Kennt- nis konnte sich die Psychologie auch solcher Schichten des Seelen- lebens bemächtigen, die der unmittelbaren Erfahrung entrückt sind; sie getraute sich, den Gesetzen der unbewußten Seelentätigkeit nachzuforschen. Der nächste Schritt wird gerade in diesen Ab- handlungen getan: ein Stück Triebleben wird hier mit der Hyposta- sierung gewisser in der Psyche tätigen Mechanismen unserem Ver- ständnis näher gebracht. Wer weiß, ob wir nicht auch den letzten Schritt erleben werden: die Verwertung der Kenntnisse von den psychischen Mechanismen im organischen und anorganischen Ge- schehen überhaupt.

Indem Freud mittels der psychoanalytischen Erfahrung Probleme der Biologie, zunächst der Sexualtätigkeit, zu erraten versucht, kehrt er gewissermaßen zur Methode der alten, animistischen Wissen- schaft zurück. Es ist aber dafür gesorgt, daß ‘der Psychoanalytiker nicht auch in die Fehler jenes naiven Animismus verfällt. Der naive Animismus übertrug nämlich „en bloc“, ohne Analyse die Cha- raktere des menschlichen Seelenlebens auf die Objekte der Natur; die Psychoanalyse dagegen zergliedert zuvor die menschliche Seelentätigkeit, verfolgt sie bis zur Grenze, wo Psychisches und Physisches sich berühren: bis zu den Trieben, befreit so die Psychologie vom Anthropozentrismus und erst dann getraut sie sich den so gereinigten Animismus biologisch zu verwerten. Diesen Versuch zum erstenmal gemacht zu haben, ist die wissenschafts- geschichtliche Tat Freuds in diesen Abhandlungen.

Ich muß darauf zurückkommen, daß nicht leere Spekulation, sondern die emsige Beobachtung und Untersuchung bisher ganz vernachlässigter psychischer Sonderbarkeiten und geschlechtlicher Verirrungen zu diesen großen Perspektiven geführt hat. Der Ver- fasser selbst begnügt sich in kurzen Notizen, flüchtigen Bemerkungen

83 Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“

auf sie hinzuweisen und beeilt sich, zu den Tatsachen, den Einzel- fällen, zurückzukehren, um die Fühlung mit der Realität ja nicht zu verlieren und für die Theorie eine sichere, breite Grundlage zu bauen.

Der Schüler aber, dem diese Erkenntnisse den Beruf ver- schönen, konnte es sich nicht versagen, sich einmal in die Be- trachtung dieser Perspektiven zu versenken und auch andere darauf aufmerksam zu machen, die sonst vielleicht achtlos bei dem Mark- stein vorbeigegangen wären, den die „Drei Abhandlungen“ Freuds für die Wissenschaft bedeuten. |

Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen*®

Das Interesse der Ärzte für Witz und Komik ist nicht neu. Die Ärzte des klassischen Zeitalters, deren Lehren ein ganzes Jahrtausend lang in Ansehen blieben, empfahlen ganz ernsthaft, die Kranken zum Lachen zu reizen, damit ihr Zwerchfell erschüttert und ihre Verdauung gefördert werde. Im heutigen Vortrag will ich aber meinen Hörern nicht die Mittel und Methoden solcher Unter- haltungskunst beibringen. Im Gegenteil, es ist meine erklärte Ab- sicht, die Wirkung, die der Witz und das Komische auf den naiv Zuhörenden machen, zu zerstören. Ich übernehme die Rolle einer typischen Gestalt des „Borsszem Jank6“,”* die Rolle des gelungen karikierten Professor Tömb, der, anstatt die poetischen Schöpfungen in ihrer ursprünglichen Form auf seine Schüler wirken zu lassen, sie zerstückelt und ihre Schönheit durch die philologische und ästhetische Analyse in Langeweile erstickt. Schon aus diesem Programm können Sie ersehen, daß heute nicht der unterhaltsame und heilenwollende Arzt aus mir spricht, sondern der Psychologe. Ich will Sie mit einem Werke Prof. Freuds über den Witz”** bekannt machen.

‘Wie jede Karikatur, hat auch die des Professor Tömb, einen ernsthaften Kern. Was dieser langweilige Philologe in aller Naivität tut: daß er nämlich das Schöne durch Analyse langweilig macht,

* Vortrag, gehalten in der „Freien Schule der Sozialwissenschaften“ in Budapest.

** Ungarisches humoristisches Wochenblatt.

*** Prof, Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Il. Auflage. Wien 1921.

90 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen

wodurch er auf jeden komisch wirkt, das betreibt Prof. Freud ganz planmäßig und benützt es zur Erlangung überraschender psychologischer Erkenntnisse. Vor Freud befaßten sich schon viele mit dem Problem des Witzes, manche trugen sogar mit wertvollen Bausteinen zu einer Psychologie der Lust am Witze bei, doch sie be- leuchteten immer nur die eine oder die andere Seite des Problems, wo sie die ganze Frage gelöst zu haben wähnten. Freuds Werk umfaßt hingegen den ganzen Komplex und die ganze Tiefe der hier in Betracht kommenden Fragen, so daß wir den Großmeister der Seelenkunde und Seelenheilung auch auf dem Gebiete der Ästhetik als Bahnbrecher bezeichnen können.

Ein genialer Gedanke war schon die Methode allein, mit der er bei der Analyse des Witzes zu Werke ging, und die wir auf Grund des oben gesagten „die Methode des langweiligen Philo- logen“ nennen könnten. Freud dachte sich: wenn wir erfahren wollen, was im Witz dasjenige ist, was die gute Laune auslöst und zum Lachen reizt, so muß man vor allem feststellen, ob im Inhalt oder in der Form, im Gedanken selbst oder in seiner Ausdrucksweise oder aber in beiden das bis jetzt unbestimmbare „Etwas“ steckt, das den Zuhörer mit so unwiderstehlicher Kraft zur Innervation seiner Lachmuskeln zwingt. Er stellte sich also zunächst die Frage, ob man auch den allerbesten Witz „verderben“, das heißt, ihn trotz vollständiger und treuer Wiedergabe seines Inhalts in eine solche Form gießen kann, in der er nicht mehr erheiternd wirkt: Ist dem so, dann wird es zweifellos, daß nicht der Inhalt, sondern nur die Form oder wie Freud es angt, die Technik dem Wiize den Witzcharakter verleiht. Auf diesem Wege kam Freud zu dem überraschenden Resultat, daß man mit diesem Verfahren, welches er die „Reduktion des Witzes“ nennt, wirklich fast jedem Witz seine belustigenden Eigenschaften rauben kann, mit anderen Worten: es gibt keinen noch so guten Witz, den man mit genügender Sachkenntnis nicht verderben könnte.

Hören wir einmal, wie Freud diese „Reduktion“ an einem bekannten Wortspiel demonstriert. In einem der „Reisebilder“ Heines, in den „Bädern von Lucca“, spricht der Dichter auch vom Lotteriekollekteur und Hühneraugenoperateur Hirsch-Hyacinth aus Hamburg, der sich dem Dichter gegenüber seiner Beziehungen

Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 91

zum reichen Baron Rothschild rühmt und zuletzt sagt: „Und so wahr mir Gott alles Gute geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seines Gleichen, ganz famillionär.“ Hätte das Hirsch-Hyacinth so er- zählt: „Rothschild behandelte mich ganz wie seines Gleichen, ganz familiär, obschon er Millionär ist“, die Witzwirkung wäre ohne Zweifel ausgeblieben. Diese Wirkung wurde also nur durch die Verdichtung, die Mischwortbildung erzielt. Um dies zu ver- anschaulichen, schreibe man die zwei Worte untereinander wie zwei Ziffern, die man addieren will, und man führe die Addition aus, indem man die Silben die in beiden Worten vorkommen, im Resultat nur einmal figurieren läßt. Da ergibt sich folgendes Rechenexempel: de

Famili är 4 Milli onär

Famillionär

Was ist hier eigentlich vorgegangen? Nichts weiter, als daß es dem Witze gelang, mit Hilfe einer oberflächlichen, akustischen Assoziation zwei inhaltlich voneinander entfernte Begriffe, den ° der Familie und den des Reichtums, in ein Wort zu verdichten, das heißt, mit einem Worte die Vorstellung beider heraufzu- beschwören. Was ist nun Freuds Erklärung für den Lacheffekt beim Anhören einer solchen Verdichtung? Das Lachen rührt, wie er es an zahlreichen Beispielen beweist, davon her, daß die Ge- dankenarbeit, die wir normalerweise hätten leisten müssen, um die Idee der Familie mit der des Millionärs assoziativ zu verknüpfen, und die wir indem wir dem Erzähler folgten, schon in Gang gesetzt haben, infolge der Verdichtung plötzlich überflüssig wurde, so daß wir die zum Denken bereits aufgespeicherte Inner- vationsspannung, die wir so erspart haben, unwillkürlich als mo- torische Innervation der Lachmuskeln abreagieren, sie als Lachen abführen.

Um einen solchen „guten Witz“ vom „schlechten Witz“ zu unterscheiden, nehmen wir auch ein solches Beispiel vor.

In einer Kindererzählung, die mir zufällig in die Hand geraten ist, las ich ungefähr folgendes: Es gibt ein sonderbares Land, in dem allerlei merkwürdige Tiere leben, Kanarinocerosse

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fliegen in der Luft, Papageidechsen sonnen sich auf den Felsen, ein Elephantast spaziert im Garten herum und die Köchin be- reitet den Kindern eine Kamelspeise. Nun, das sind wohl auch Wortverdichtungen, die weit entfernte Begriffe zusammenknüpfen, aber hinter der oberflächlichen Assoziation verbirgt sich kein tieferer Sinn, wie hinter dem Worte „famillionär“; darum bringen solche Wortwitze den Erwachsenen höchstens zum Lächeln, das befreiende Lachen der Witzwirkung bleibt hier aus.

Prinzipiell wichtig ist immerhin die Tatsache, daß selbst eine solche Verdichtung zweier rein akustisch assoziierter Worte, die sinngemäß nichts miteinander zu tun haben, belustigend wirken kann. Dies ist der unzweifelhafte Beweis dafür, daß die erheiternde Wirkung der Wortspiele nur davon herrührt, daß wir für einen Moment die ernste zielstrebige Gedankenarbeit ersparten und, wie es Kinder zu tun pflegen, sinnlos mit den Worten „spielten“. Gegen solche Witze aber, denen der tiefere Sinn abgeht, wird alsbald die logische Zensur mobilisiert, so daß die Scherzwirkung recht bald einer abfälligen Kritik Platz macht. Diese Zensur ge- stattet nur dann ein herzhaftes Lachen, wenn es dem Spaßmacher gelingt, hinter der oberflächlichen akustischen Verdichtung auch etwas „Tiefsinniges“ zu verstecken. Dieser tiefere Sinn ist es also, der den sonst so wachsamen Hüter der logischen Denkordnung besticht, und während dieser an dem ihm hingeworfenen intellek- -tuellen Knochen nagt, hat das in unserem Unbewußten fortlebende Kind die Situation längst ausgenützt und lacht herzlich darüber, daß es ihm gelang, die Logik, diesen langweiligen und lästigen Kontrolleur der Affekte, zum Besten zu halten.

Denjenigen unter Ihnen, die bereits etwas von der psycho- analytischen Traumdeutung gehört haben, wird ganz gewiß die weitgehende Ähnlichkeit zwischen der Traumarbeit und der Arbeit des Spaßmachers auffallen. Im Traum so wie beim Witz wird das, was das Bewußtsein zu hören bekommt: der manifeste Trauminhalt und der erzählte Witz, nur dann verständlich und erklärlich, wenn man den dahinter verborgenen Sinn erforscht. Beim Traum wie beim Witz wurzelt das Motiv zur Traum- oder Witzarbeit im Infantilen; dementsprechend herrscht sowohl in unseren nächtlichen Phantasiegebilden, als auch bei der Gestaltung oder beim Genießen

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eines Witzes nicht die strenge, logische Ordnung, sondern der durch kindisch-oberflächliche Assoziation charakterisierte sogenannte „Pri- märvorgang“. Nach den Erfahrungen unserer Analysen ist diese Oberilächlichkeit im Traume viel größer als bei der Gestaltung des Witzes, die ja im Wachzustande erfolgt; doch produziert manchmal auch der Traum Wortverkettungen, Verklebungen, die auch als Wortwitze möglich wären.

In einem eigenen Traume z. B. spielte unter anderem das Wort „Hippopolitaine“ eine Rolle, das sich als ein ganz sinn- loses Silbenaggregat anhört, bei der Analyse jedoch sich als die Verdichtung der Worte Hyppolite Taine, Hippopotamus, Metropolitaine entpuppte, somit allen Regeln der verdichtenden Wortspieltechnik entsprach.

Es waren übrigens gerade seine Arbeiten über die Traum- deutung, die Freud zum AÄufwerfen des Witzproblems brachten. Es ist lehrreich zu hören, wie er dazu gekommen ist.

Als Freuds „Traumdeutung“ und die darin angewandte Methode der freien, oberflächlichen Assoziation das Licht der Öffent- lichkeit erblickte, empfing sie zur nicht geringen Überraschung des Verfassers nur mitleidiges Lächeln der zünftigen Gelehrtenwelt. Es gab aber auch rohe Gesellen, die darob Freud offen verlachten und verhöhnten. Sie benahmen sich hierin ganz wie Neurotiker, denen wir den Inhalt ihrer Träume deuten, und die sich lachend der in der Deutung enthaltenen unangenehmen Wahrheiten erwehren.

Hätte einer von uns die in jahrelanger emsiger Arbeit ge- sammelten Erkenntisse*den Fachgelehrten vorgelegt und auf Grund nichtiger Einwände einen solchen Empfang gefunden, wir alle hätten wohl die, die sich über unser Lebenswerk in frivoler Weise lustig machten, zornig zurechtgewiesen, ihre Oberflächlichkeit und Un- wissenheit unbarmherzig enthüllt, mit einem Wort sie tüchtig aus- geschimpft. Anders Freud. Er sah in diesem allgemeinen Gelächter eine der wissenschaftlichen Untersuchung werte seelische Erscheinung, setzte sich also unverweilt an die Arbeit, um die Psychologie des Lachens und des Witzes zu ergründen, und ruhte nicht, bis er ausforschte, warum der Uneingeweihte die meisten der eigenen Träume und alle Traumdeutung verlachen muß. Wohl darum . dies war das Ergebnis seiner Forschung weil Traum und Witz

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aus einer und derselben Seelenquelle, aus den unbewußten Schichten der verdrängten infantilen Gelüste schöpfen und mit denselben seelentechnischen Mitteln und Mechanismen arbeiten. In witzelnder Verdichtung könnte ich also sagen, daß Freud, als man ihn aus- lachte, zuerst das Buch schrieb, das er den ihn Verhöhnenden an den Kopf werfen konnte.

Ich kann hier nicht auf die verschiedenen Abarten des Wort- spiels im einzelnen eingehen. Wer Freuds Buch liest und das kann ich jedem empfehlen, der sich in diesen Fragen gründlich orientieren und sich auch an der Formschönheit eines musterhaft aufgebauten wissenschaftlichen Werkes erfreuen will wird sich davon überzeugen, daß jede Art der als „Wortspiel“ bezeichneten Witzgruppe, also auch die „gleichartigen Stoff zweifach an- wendenden,“ die „auf Doppelsinn aufgebauten“ und die mit „verhüllten Anspielungen“ arbeitenden Wortwitze, denselben Grundregeln gehorchen wie die hier näher beleuchteten Verdichtungs- witze. Bei sämtlichen ist das kindische Spielen mit den Worten die eigentliche Lustquelle, während der hinter den sinnlosen Wort- verknüpfungen und Wiederholungen steckende Sinn teils dazu dient, um die Zensur zu betören, teils dazu, um den Witzeffekt durch die für einen Moment hervorgerufene, aber sich schon im nächsten Augenblick als überflüssig erweisende Denkanspannung die auf diese Art erspart und im Lachen abgeführt wird, künstlich zu steigern. Nur noch ein Beispiel will ich aus Freuds Witzbuch anführen, in dem sowohl die mehrfache Verwendung derselben Worte als auch der Doppelsinn. eine Rolle spielt. In einem der „Wiener Spaziergänge“ David Spitzers heißt es: „Das Ehepaar X. lebt auf ziemlich großem Fuße; nach der Ansicht der einen soll der Mann viel verdient und sich dabei etwas zurück- gelegt haben, nach anderen wieder soll sich die Frau etwas zurückgelegt und dabei viel verdient haben.“ Hätte uns der Feuilletonist einfach von einem Ehepaar erzählt, wo der Mann an- geblich viel verdient und etwas erspart hat, nach der Ansicht anderer aber das Vermögen von der Frau erworben sei, die einen unsittlichen Lebenswandel führt, so wäre die Witzwirkung voll- kommen verloren. Die Wirkung beruht hier also nur auf der doppelsinnigen Verwendung des Wortes „zurückgelegt“, und auf

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der doppelten Verwendung desselben Wortmaterials: viel verdient, etwas zurückgelegt, etwas zurückgelegt, viel verdient. Die lust- volle Wirkung rührt also einesteils davon her, daß im Worte „zurückgelegt“ zwei von einander weit entfernte Begriffe, unsitt- licher Lebenswandel und Sparsamkeit, verdichtet wurden, anderer- seits von der refrainartigen Wiederholung derselben Wortklang- bilder. Allerdings ist diese Art bereits eine Mischung des billigen Wortwitzes mit einer anderen, höheren, bedeutend unterhaltsameren Sorte der Witze, mit dem „Gedankenwitz“.

Hier das Beispiel eines reinen Gedankenwitzes: „Adolf und Moritz geraten in Streit und gehen böse auseinander. Als Moritz später zu Hause anlangt, sieht er, daß Adolf auf seine Wohnungs- tür das Wort ‚Schurke‘ aufschrieb. Darauf eilt er zu Adolfs Wohnung und gibt dort seine Visitkarte ab.“

Worin steckt das Unterhaltende dieses Witzes? Warum halten wir ihn für gut und geistreich? Es ist unsinnig, wenn man auf eine brutale Beleidigung mit einem Höflichkeitsakt, mit dem Abgeben seiner Karte antwortet. Die natürliche Antwort wäre wohl die ge- wesen, daß Moritz auf Adolfs Türe als Antwort geschrieben hätte: „Du bist der Schurke“. Das wäre aber kein Witz, sondern eine geschmacklose Retourkutsche gewesen. Ein Witz ist die unverständ- liche und deplacierte Höflichkeit dadurch geworden, daß Moritz die auf seine Tür geschriebene Beleidigung absichtlich mißver- steht und so tut, als hätte Adolf mit dem Wort „Schurke“ seine Visitkarte abgegeben. Auf diesem Wege gelang es ihm, die Revanche in einen Höflichkeitsakt einzukleiden, also die wirkliche Absicht durch ihr Gegenteil darzustellen. Die Beleidigung „Du bist der Schurke“ wird hier durch die Verwendung gewisser Mittel der Witztechnik in einen gelungenen Witz verwandelt. Worin liegt das Wesen dieser Techniken? Darin, daß es dem Witzigen gelingt, in das verständige Denken eines ernsthaften Erwachsenen etwas Ab- surdes, einen Denkfehler, überhaupt etwas von der kindisch un- logischen Art des Urteilens und des Folgerns einzuschmuggeln.

Doch selbst nachdem wir diesen Witz aller seiner technischen Mittel beraubten, gleichsam hinter seine Kulissen geschaut haben, merken wir, daß er selbst in dieser reduzierten Form noch Lachen erregen kann, zum Zeichen dessen, daß er noch immer nicht ge-

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nügend „verdorben“ ist, daß noch etwas Lustvolles hinter ihm steckt. Dieses Etwas ist aber kein Witz mehr, nicht die Verquickung einer Ungereimtheit mit etwas Sinnvollem, sondern Situations- komik. Wir finden es komisch und müssen darüber lachen, daß Adolf durch die höfliche Kartenabgabe in eine hilflose Situation ge- raten ist; es fehlt ihm ja jede Möglichkeit, den Streit weiterzuführen, obzwar er die hinter der Höflichkeit verborgene, ungemein belei- digende Absicht nur zu gut versteht. Wenn wir zu alldem noch bedenken, daß diese ganze lange Erklärung eigentlich die Analyse einer einzigen Handlung, des Abgebens der Karte ist, können wir nicht in Zweifel darüber sein, daß dieser Witz zugleich ein Meister- werk der Verdichtungstechnik ist. Es bedarf, wie wir sehen, vieler Kunststücke, damit der auf die Wirklichkeiten des Lebens einge- stellte, zum Ernst neigende menschliche Intellekt des Erwachsenen seine hemmende Funktion für einen Moment ausschaltet und wir in die spielerische, törichte, lachende Kinderzeit zurückversetzt werden können.

Die besten Gedankenwitze sind derartige Verschiebungs- witze: das gewollte Mißverstehen einer Frage, die unerwartete Entgleisung auf ein unbemerktes Nebengeleise. Geradeso pflegt die Traumarbeit die psychische Intensität von etwas Wesentlichem auf Nebensächliches zu verschieben. Andere Mittel des Gedanken- witzes: die Darstellung durch das Gegenteil oder durch eine ganz leise Anspielung, das Übertrumpfen, der Aufsitzer mit Hilfe eines Sophismus usw., sie alle wirken darum belustigend, weil sie unser Urteil vorübergehend in die Irre führen und wir somit eine gewisse Menge von Hemmungsarbeit, die wir bereits gewohnheits- gemäß, automatisch in Gang setzten, ersparen und „ablachen“ können.

Es klingt paradox, es ist aber wirklich wahr, was uns Freud sagt, daß wir nämlich beim Anhören eines Witzes eigentlich nie recht wissen, worüber wir lachen, ja die Ablenkung der Aufmerk- samkeit von den technischen Mitteln der eigentlichen Witzwirkung gehört zu den wichtigsten Utensilien des gewandten Witzboldes.

Wenn wir aber die Witze auf diese Art analysieren, erfahren wir, daß es Witze gibt, die sich weder durch ihren Gedankeninhalt noch hinsichtlich der technischen Mittel besonders auszeichnen und doch sehr effektvoll sind. Wenn wir diese Witze genauer betrachten, so

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stellt es sich heraus, daß sie ausnahmslos tendenziöse Witze sind, zu- meist aggressiver, obszöner, zynischer oder skeptischer Natur.

Wir amüsieren uns also über Witze mit aggressiver und sexueller Tendenz besser, als sie es durch ihren Gedankeninhalt und durch ihre Witztechnik verdienen würden. Freud wußte aus anderen Quellen, daß die in uns allen verborgenen, stark affektbetonten, aber meist tief verdrängten Tendenzen, von denen unser bewußtes Denken vielleicht nur mit dem Gefühle des Ekels oder der Scham Kenntnis nehmen würde, gerne die Gelegenheit benützen, sich mit ihrem ursprünglichen ÄAffekt, das heißt mit Lust, besetzen zu lassen. Das ist es aber, was beim Witz geschieht, wenn die Strenge der psychischen Zensur durch die Einschmuggelung eines kindischen Wortspiels oder eines Gedankenfehlers für einen Moment locker läßt. Beim tendenziösen Witz spielen die Mittel der Witztechnik nur die Rolle der Lockspeise, der Vorlust, die die größere Befriedigung, die vorübergehende Suspendierung der mo- ralischen Hemmung, sekundär nach sich zieht. So kann oft ein sexueller oder aggressiver Witz, wenn er auch noch so „schwach“ ist, eine ganze Gesellschaft in gute Laune versetzen.

Je niedriger das Kulturniveau einer Gesellschaft ist, desto roher, ungeschminkter muß die sexuelle Anspielung sein, um eine Lustwirkung zu erzielen. Doch selbst in der besten Gesellschaft kolportiert man mit Vorliebe Witze, die sich von den brutalen Spässen des Volkes im Wesen nicht unterscheiden, nur daß sie das Obszöne hinter eine feine Anspielung verstecken, die Zensur mit ihrer intellektuellen und moralischen Fassade betören.

Nach der Feststellung dieser unerwartet neuen, und unerwartet einfachen Erklärung der Witzwirkung, analysierte Freud den Witz als soziale Erscheinung und auch diese äußerst scharfsinnig. Der Witzbold von Beruf, das kann jeder Nervenarzt bestätigen, ist meist ein nervöser Mensch mit unausgeglichenem Charakter, der in den Witzen eigentlich die eigenen nicht genügend zensurierten intellek- tuellen und moralischen Unvollkommenheiten, die eigenen Infan- tilismen zum Besten gibt. Er lacht auch über die selbstgemachten \Vitze meist nicht, und freut sich nur über die Heiterkeit, die er bei seinen Hörern erweckt. Desto besser unterhält sich dabei der Zuhörer, der den Witz sozusagen geschenkt bekommt.

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Für jene primitive Form der sexuell aggressiven Spässe, die bei den unteren Volksklassen zu Hause ist, genügen nicht mehr zwei Personen; sie braucht deren wenigstens drei: ein Weib als Gegen- stand der Aggression und zwei Männer, von denen der Eine der Angreifende ist, der Andere die Rolle des Zuschauers spielt. Da es sich um sexuelle Aggression handelt, würde man meinen, daß die dritte Person als Zuschauer störend wirkt. In Wirklichkeit ist aber dieser Letztere ein gern gesehener Helfershelfer, den der ÄAngreifende dadurch eniwaffnet und besticht, daß er einem sexuellen Zwiegespräch, dem Ersatz einer sexuellen Handlung, zuhören, die Schamreaktion des Weibes mitansehen kann.

In besseren Kreisen nimmt die Frau an solcher Unterhaltung persönlich nicht mehr Teil, aber die Männer unter sich erhalten die alte Tradition. Teilt sich eine Gesellschaft nach Geschlechtern, so findet sich unter den Männern bald jemand, der den neuesten sexuellen Witz lanziert und damit den Auftakt zu einer endlosen Reihe zweideu- tiger Witze gibt. Die Leute, die gerne solche Witze von sadistischer oder sexueller Tendenz anhören oder erfinden, sind recht oft in ihrem sonstigen Leben sittenstrenge Menschen, die es nicht ahnen, wieviel sie durch ihr Benehmen dem Sachverständigen von ihrer tiefinnersten, ihnen selbst unbewußten Natur verraten.

Nicht nur in solch engem Kreise, auch in größeren Gemein- schaften kommt dem Witz eine gewisse Bedeutung zu. Jeder Redner, jeder Demagoge würzt seinen Vortrag gern mit Witzen, er will damit nicht nur ästhetisches Vergnügen bereiten, sondern scheint auch zu ahnen, daß das Publikum auch ein schwaches Argument leichter akzeptiert, wenn es durch einen guten Witz bestochen wird. Änderseits gibt es keine, noch so ehrfurchtgebietende Persönlich- keit, keine noch so anerkennenswerte wissenschaftliche, politische oder künstlerische Bestrebung, die man mit einem gelungenen Witz nicht herabsetzen könnte. Für die Menge geht das Vergnügen über alles, sie verlangt heute so wie vor zweitausend Jahren nur: Panem et circenses!

Am wirkungsvollsten sind jene tendenziösen Witze, die die in uns allen tätige moralische Hemmungsarbeit für einen Moment ausschalten. Oft entfesseln aber Anspielungen starken Lacheffekt, in denen ein äußeres Hindernis, etwa die Rücksicht auf einen

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Anwesenden, es nötig macht, die Aggression in Witzform zu kleiden. Ich zitiere nach Freud folgenden „Serenissimuswitz“: „Serenissimus macht eine Reise durch seine Staaten und bemerkt in der Menge einen Mann, der seiner eigenen hohen Person auf- fallend ähnlich sieht. Er winkt ihn heran, um ihn zu fragen: „Hat seine Mutter wohl einmal in der Residenz gedient?“ „Nein Durchlaucht“, lautet die Antwort „aber mein Vater“.

Diese unschuldig scheinende Antwort ist die grausamste Replik auf die Verdächtigung, mit der Serenissimus die Ehre der Mutter des Soldaten beleidigte; aber der Witz rettet auch, und zwar gerade durch den harmlosen Anschein, den Soldaten vor den Konsequenzen der Majestätsbeleidigung. Die Zuhörer amüsieren sich dabei jeden- falls köstlich, denn es freut jeden, „Untertan“, zu hören, wie einer Autorität gründlich heimgezahlt wird, ohne daß dafür jemand be- straft werden könnte.

Außer dem Gedankeninhalt, den technischen Kunstgriffen und der Tendenz erhöht auch die Aktualität den Witzeffekt. Zum Beispiel ein Witz über ein Mädchen, das mit Dreyfus verglichen wird, „denn die Armee glaubt nicht an ihre Unschuld“, war zur Zeit des Dreyfusprozesses sicherlich viel effektvoller als heute, wo „Affaire“ die Öffentlichkeit nicht mehr so lebhaft beschäftigt. Die Lustwirkung der Aktualität ist nach Freud gerade so mit der Freude an der Wiederholung zu erklären wie bei der schon erwähnten Art der Wort- und Gedankenwitze.

Wenn ich mich im Folgenden verhältnismäßig viel kürzer mit einer anderen Art der belustigenden seelischen Erlebnisse beschäf- tige, mit der Psychologie des Komischen, so folge ich treu dem Werke Freuds, das sich mit diesem Abschnitt der psycho- logischen Ästhetik viel weniger eingehend befaßt und eigentlich nur die Unterschiede zwischen Witz und Komik ausführlich .behan- delt. Während der tendenziöse Witz drei Personen erfordert, den Spaßmacher, den Ausgelachten und den Zuhörer, begnügt sich die Komik mit Zweien, mit einem der komisch ist, und einem Zweiten der das Komische an ihm bemerkt und sich darüber lustig macht.

Der Witz wird „gemacht“; nach irgend einem Eindruck ent- steht für einen Augenblick eine „Gedankenleere“ in unserem Be-

wußtsein, wobei die Ideenassoziation ins Unbewußte taucht, um 3

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nach gründlicher Bearbeitung, Verdichtung, Verschiebung, mit Ge- dankenfehlern und oberflächlichen Assoziationen „bereichert“, als fertiger Witz zum Vorschein zu kommen. Die psychologische Werk- statt des Witzes liegt also in der Schichte der unbewußten Seelen- funktionen. Dieser Versenkung bedarf es zur Herbeiführung des komischen Effektes nicht; der Schauplatz seiner Entstehung ist in das „vorbewußte“ System zu verlegen, das für das Bewußtsein nicht unzugänglich, wenn es auch nicht gerade im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht.

Ein charakteristisches Beispiel des Komischen ist die Naivität, die wir bei Kindern, bei beschränkten oder unerfahrenen Personen belächeln. Naiv ist zum Beispiel die Frage des kleinen Moritz an seine Mutter: „Sag Mama, ist der Papa so arm, daß er kein Bettzeug mehr hat?“ „Warum,“ frägt die Mutter? „Ja, weil die Nach- barin gesagt hat, er stecke mit dem Fräulein unter einer Decke.“ Wenn man bestimmt weiß, daß das Kind nicht ein verstelltes Wissen absichtlich in witzige Form gekleidet hat, so lacht man eigentlich über die Dummheit, die Unwissenheit des Kindes, richtiger man vergleicht sein eigenes Wissen mit der Unwissenheit des Kindes, mit dem man sich für einen Moment im Gedanken identifizierte. Indem man das tut, wird die intellektuelle Spannungsdifferenz zwischen der normalen und der infantilen intellektuellen Einstellung im Lachen abgeführt. In einer alten ungarischen Posse kommt ein Dorfnotär vor, der zum ersten Mal im Leben im Theater ist, wo gerade Othello gespielt wird. In seiner Naivität hält er die auf der Bühne aufgeführte Szene für wirklich und stürmt auf die Bühne um Desdemona aus den mörderischen Händen Othellos zu be- freien. Das theatergewohnte Publikum kann dabei herzlich lachen, indem es sein Wissen mit der Unwissenheit des Provinzlers ver- gleicht und den großen Unterschied im Äffekt abreagiert. Auf ähn- liche Vergleichung ist die Komik, die in der Ungeschicklichkeit, in der Dummheit, in der abnormen Größe oder Kleinheit von Menschen oder Körperteilen, in der automatischen Bewegung, wie auch im auto- matischen Denken, in der Zerstreutheit u. s. w. liegt, zurückzuführen. in diesen Fällen vergleicht man mittels „Einfühlung“ seine eigenen Eigenschaften mit denen der komischen Person, und es ergibt sich bei dieser Vergleichung eine psychische Aufwandsdifferenz, für die

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momentan keine andere Verwendung da ist, die also abfuhrfähig ist und zur Lustquelle wird. Auch bei der Situationskomik stellt man eine ähnliche Vergleichung an, doch nicht zwischen sich und einem Anderen, sondern zwischen zweierlei Einstellungen einer dritten Person. Komisch ist es z. B., wenn jemand, während er eine preziöse oder hochtrabende Rede hält, plötzlich von einem dringen- den körperlichen Bedürfnis befallen wird. Komisch ist es auch, wenn sich jemand in seiner Erwartung täuscht. „Wie gut“ denkt sich dabei unser Vorbewußtes, „daß wir nicht so dumm, so unüberlegt, so kindisch sind, wie der, der ohne genügende Be- weise bestimmt annahm, daß seine Hoffnungen in Erfüllung gehen werden“. In der Entlarvungskomik spielen bereits aggressive Tendenzen mit eine starke Rolle.

Irgendwo zwischen Witz und ungewollter Komik bewegt sich die Ironie, eigentlich die billigste Art, in der man jemandem ein Lächeln abzwingen kann. Man braucht dazu nichts weiter, als daß man immer das Gegenteil von dem sagt, was man sich denkt und was man mit seiner Mimik, seinen Bewegungen, mit dem Tonfall der Rede recht verständlich zum Ausdruck bringen will. Der ironische Mensch wird nie sagen „Du siehst schlecht aus“ sondern immer so, „Gut siehst Du aus!“ Er sagt nicht „Ich denke nicht, daß Du die Prüfung bestehst“, sondern „Schön wirst Du Deine Prüfung bestehen, wenn Du nicht lernst“, u. s. w.

Ein viel edleres Mittel, die Menschen zum Lachen zu bringer, ist der Humor. Um dieses zu erklären, ging Freud von der Tat- sache aus, daß wir über einen Witz, über etwas Komisches, nicht immer lachen können. Sind wir von Sorgen geplagt oder traurig, ist uns der Gegenstand des Spasses zu sehr ans Herz gewachsen, so können wir über den besten Witz, die allerkomischeste Situation gar nicht oder nur bitter. lachen. Nicht so der Mann von Humor. Er erhebt sich über seine eigenen Kümmernisse, sein Ärger oder seine Rührung, erspart so Äffektaufwand und verwendet diese Energie zum Lachen, während sich der gewöhnliche Mensch seiner traurigen Gemütsbewegung überläßt.

Die höchste Leistung des Humors ist wohl der sogenannte „Galgenhumor“; wer ‘dazu fähig ist, den wird selbst die Nähe des sicheren Todes nicht so herumkriegen, daß er über seine Situation

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nicht lachen oder lächeln könnte. Indem wir uns aber „über die Dinge erheben“, alles was uns im Weg steht, geringschätzen, ver- fallen wir in dieselbe „Großmannssucht“ und größenwahnartige Prahlerei, mit der wir uns als Kinder unsere Winzigkeit und Macht- losigkeit erträglicher erachten.

Auf Infantilismus führt also Freud schließlich sowohl den Witz, als auch die Komik und den Humor zurück.

Der Witzbold spielt mit den Worten und will Dummheit und Ungezogenheit annehmbar machen; der Komische benimmt sich geradezu wie ein ungeschicktes, unwissendes Kind, und auch der Humorist nimmt sich die Größenphantasien der Kinder zum Beispiel.

Wissenschaftlicher ausgedrückt, ist die Lustquelle des Witzes ersparter Hemmungsaufwand, die der Komik ersparter Vor- stellungsaufwand und die des Humors, ersparter Gefühls- aufwand. Alle drei haben aber den einen Zweck, uns für einen Augenblick in die naive Kindheit, in dieses „verlorene Paradies“ zurückzuversetzen.

Mein heutiger Vortrag aber wollte nur Vorlust erwecken, die eigentliche Lust können Sie sich aus der Lektüre des Freudschen Buches holen.

Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte

Jeder Fortschritt der Psychologie bringt Entwicklungen aller Zweige der Geisteswissenschaften mit sich. Macht unser Wissen über die menschliche Seele auch nur einen Schritt vorwärts, so müssen wir alle Disziplinen, deren Gegenstand zum Seelenleben in Beziehung steht, einer Revision unterziehen. Wovon könnte man dies aber mit mehr Berechtigung behaupten, als von der Rechtslehre und der Soziologie? Die Soziologie will uns über die Gesetzmäßigkeiten belehren, die die Lebensverhältnisse der zu größeren Gruppen ver- einigten Menschen beherrschen, und das Recht gießt die Prinzipien, an die sich der Mensch anpassen muß, will er Mitglied der Ge- sellschaft bleiben, in die Form genauer Regeln. Diese An- passung ist in erster Linie ein psychischer Vorgang; von einem höheren, allgemeineren Standpunkt gesehen ist also die Rechts- wie auch die Gesellschaftslehre eigentlich nur angewandte Seelen- kunde und muß als solche jede neuentdeckte Tatsache, jede neue Richtung der Psychologie mit Aufmerksamkeit verfolgen. Ich möchte Sie heute mit bedeutenden Fortschritten der Seelenlehre in den letzten Jahrzehnten bekanntmachen. Diese Fortschritte knüpfen sich an den Namen des Wiener Nervenarztes und Uhniversitätsprofessors Dr. Sigmund Freud, der seine neue Methode der Seelenforschung und das mit ihrer Hilfe entdeckte Wissensgebiet unter dem Namen Psychoanalyse zusammenfaßte. Ä

Fragt man mich, was das größte wissenschaftliche Verdienst der Psychoanalyse war und womit sie frische Bewegung in die toten

* Gehalten im Oktober 1913 im „Reichsverein der Richter und Staatsanwälte“ in Budapest.

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Gewässer der Psychologie bringen konnte, so antworte ich: es war die Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten und der Mechanismen im unbewußten Seelenleben.

Was die die Bedeutung des bewußten Seelenlebens so sehr überschätzenden Philosophen bisher einfach für unmöglich hielten, was einzelne zwar dunkel ahnten, aber für die genaue Erkenntnis eo ipso unzugänglich glaubten, das Seelenleben unter der Bewußt- seinsschwelle: das gerade machten uns die Forschungen Freuds zugänglich. Ich kann hier die Entwicklung dieser jungen, aber an Erfahrungen und Erfolgen schon so reichen Wissenschaft nicht aus- führlich darstellen, ich erwähne nur kurz, daß Freud durch das Studium der seelischen Krankheiten in die Lage kam, die tieferen Schichten der menschlichen Psyche aufzudecken. Gleichwie Er- fahrungen bei körperlichen Erkrankungen Klarheit brachten über gewisse bisher ganz unbekannte Schutz- und Anpassungseinrich- tungen des Organismus, so erwiesen sich Neurosen und Psychosen als Karikaturen der normalen psychischen Funktion, und ließen uns auffallender, schärfer die Vorgänge erschauen, die sich unbe- merkt auch im gesunden Menschen abspielen. Ein satirischer Eng- iänder sagte einmal: „Willst Du die Menschen kennen lernen, so gehe ıns Bedliam“ (ins Irrenhaus). Unsere Irrenärzte aber haben sich diese einzigartige Gelegenheit, die Menschenkenntnis zu ver- mehren, bisher entgehen lassen, sie gingen ganz in humanitären Bestrebungen auf und leisteten wissenschaftlich wenig mehr als unverbindliche Gruppierungen der Symptome auf Grund der ver- schiedensten Prinzipien. Insbesondere haben sie die psychologischen Gesichtspunkte beim Studium der Geisteskrankheiten ganz vernach- lässigt. Das Seziermesser, das Mikroskop und das Experiment er- wiesen sich aber vollkommen unfähig, uns dem Verständnis dieser Krankheiten näherzubringen. Erst Breuer und Freud entdeckten hinter den bizarren, unverständlichen Äußerungen der Hysterie jene großartige Schutzvorrichtung, den Verdrängungsmechanis- mus, der die Seele in den Stand setzt, sich quälenden Vorstellungen, der Einsicht in die schmerzliche Realität, zu entziehen, indem er solche Bewußtseinsinhalte in eine tiefere Seelenschichte, ins Unbewußte, versenkt, aus der er sie nur in verzerrter, auch für den Kranken selbst unverständlicher, daher erträglicherer Form: in

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der Form psychischer Symptome, wieder auftauchen läßt. Nach diesem verdrängten Vorstellungsmaterial forschte Freud anfänglich, indem er hypnotisierten Kranken all die unlustvollen Komplexe in Erinnerung brachte, vor denen jener sich in die Krankheit geflüchtet hatte. Später verzichtete er auf die Hypnose, und bediente sich nur mehr der sogenannten „freien Ideenassoziation“; er ließ. sich von den Kranken ohne Wahl alles erzählen, was ihnen einfiel, ohne Rücksicht auf den logischen, ethischen und ästhetischen Wert der Einfälle; so kamen, meist nach Überwindung großer Widerstände, die bisher verdrängten Vorstellungen oder deren deutliche oder deut- bare Anzeichen zum Vorschein. Die Analyse der Träume, die wissen- schaftliche Traumdeutung, verschafite uns dann den ersten Einblick in die unbewußte Seelenwelt auch des Gesunden. Dann kamen die kleinen Fehlhandlungen des täglichen Lebens an die Reihe, die psychologische Analyse des Vergessens, des Versprechens, Ver- schreibens, der kleineren und größeren Ungeschicklichkeiter, von denen nun erwiesen wurde, wie ungerecht es war, die Verant- wortung für sie immer nur auf den Zufall zu schieben, und um wie viel häufiger sie durch den Willen unseres Unbewußten deter- miniert waren. Mit der Psychoanalyse des Witzes und des Komischen machte dann Freud den ersten Schritt zum tieferen Verständnis ästhetischer Wirkungen. Das überraschende, merkwürdig überein- stimmende Ergebnis all dieser Forschungen war die Feststellung, daß in dem Unbewußten auch des erwachsenen und in jeder Hin- sicht normalen Menschen verdrängt, sämtliche primitiven mensch- lichen, richtiger animalischen Triebe latent fortleben, auf derseiben Stufe, auf der sie noch in der Kindheit bei der Anpassung an die Kultur zum Schweigen verurteilt wurden. Wir erfahren auch, daß diese Triebe nicht inaktiv sind, sie suchen immer noch nach der Gelegenheit, die Schranken von Vernunft und Moral zu durch- brechen und zur Geltung zu kommen. Auch wo solche Schranken mächtig genug sind, äußern sich diese Triebe wenigstens in kindisch absurder oder böswilliger Verkleidung als Witze, oder sie ärgern mit Fehlleistungen unser höheres, logisches Bewußtsein, und wo dies alles nicht genügt, leben sie sich in den Symptomen seelischer Krankheiten aus. Es hat sich dann herausgestellt, daß sämtliche Neurosen und Psychosen aus dem Konflikt der sexuellen

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Triebe mit den Lebensinteressen des Individuums entstehen, das- selbe gilt von den Charaktereigenheiten der Gesunden.

Wer das Seelenleben in seinem wirklichen Wesen erkennen will, muß auch die romantischen Vorstellungen von der „unschul- digen“ Seele des Kindes fallen lassen. Die Seele des Kindes wird einerseits charakterisiert durch die Tendenz nach schranken- und rücksichtslosem Sichgeltendmachen und durch erotische Tendenzen, die man gewöhnlich mit dem Euphemismus „schlimme Gewohn- heiten“ abtut. Man findet bei ihnen Gewalttätigkeit und Grausam- keit, die mit Selbsterniedrigung abwechseln kann, spielerische Be- schäftigung mit den entleerten Exkrementen, die sie auch gerne beriechen oder kosten, Vergnügen an der Schaustellung der eigenen Nacktheit und am Anschauen der Blößen anderer. Zu diesen „Ge- wohnheiten“ gesellt sich schon in frühester Kindheit, oft schon im Säuglingsalter die mechanische Reizung der Genitalien. Das Seelen- leben des Kindes ist also in Bezug auf seine Ichiriebe egoistisch und anarchistisch, in libidinöser Hinsicht aber pervers zu nennen. Wir haben kein Recht, uns hierüber zu beklagen, eher verdienten wir selber die Rüge, die wir unser ganzes Wissen von der anima- lischen Natur des Menschen, von der Wiederholung des ganzen Entwicklungsweges in jedem Individuum vergaßen und das Kind zu einem Wesen idealisieren wollen, das sich vom Anfang an freudig und spontan den höheren, sozialen Zwecken unterordnet. In Wirk- lichkeit ist es Sache der Erziehung, die asozialen Instinkte zu bän- digen, zu besänftigen, die Kinder zu „domestizieren“. Dazu nun stehen uns zweierlei Hilfsmittel zur Verfügung: die Verdrängung und die Sublimierung. Die erstere ist bestrebt, die primitiven Instinkte mittels Strenge und Abschreckungsmitteln vollständig zu lähmen, ihr Durchdringen zum bewußten Denken und Wollen zu verhindern. Die Sublimierung dagegen will die in diesen Trieben tätigen wert- vollen Energiequellen ausnützen, indem sie sie in den Dienst sozial möglicher Zwecke beugt. Beispiele der Sublimierung in der heutigen Erziehung sind die gewißen „Reaktionsbildungen“, die Um- wandlung von Triebregungen in ihr genaues Gegenteil z. B. sexueller Tendenzen in Ekel und Scham, dann die Überleitung primitiver Instinkte in künstlerische Betätigung, der kindlichen Neugierde und des Bemächtigungstriebes auf wissenschaftliches Forschen. Reaktions-

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bildungen und Umwandlungsprodukte primitiver Triebrichtungen können so zu einer sozial nützlichen Rolle gelangen. Von den zwei Arten der kulturellen Anpassung ist die Verdrängung zweifel- los die nachteiligere, da sie ja die Disposition zu Erkrankungen erhöht, dabei auch unökonomisch ist, indem sie wertvolle seelische Energien lahmlegt; in der Erziehung ist sie also. möglichst zu ver- meiden; sie ganz ausschließen geht allerdings nicht an. Eine durch Psychoanalyse belehrte Pädagogik wird sich womöglich der Methode der Sublimierung bedienen, jede überflüssige Strenge und Gewalt . meiden, mit der Erteilung und Entziehung von Liebesprämien, beim Heranwachsenden mit Prämien moralischer Natur auszukommen trachten, und die Triebe in individuell variabler Weise sozial ver- werten. Wir müssen nämlich wissen, daß sogar die humane Tätig- keit gar manchen ausgezeichneten Operateurs auf der in günstige Bahnen gelenkten Anlage zur Grausamkeit beruht, die sich in der Kindheit etwa in Tierquälerei äußerte, und gar viele suchen im selbstaufopfernden Altruismus nur die Entschädigung für einen nicht zu befriedigenden Teil ihres persönlichen Glückes. Die Entwicklung der Triebbefriedigungsarten ist heutzutage natürlich nur selten so günstig wie in den vorgebrachten Fällen. Viel häufiger wird der grausame und leidenschaftliche Mensch ein unglückliches, arbeits- unfähiges Mitglied der Gesellschaft. Der Pädagoge der Zukunft wird aber diese Entwicklung nicht dem Zufall überlassen, sondern auf Grund der Kenntnis der Triebe und ihrer Umwandlungsmöglich- keiten mit kluger Diplomatie selbst die für die Entwicklung gün- stigen Situationen schaffen und dadurch die Charakterbildung in zweckmäßige Bahnen lenken.

Eine so bedeutende Vertiefung unserer Kenntnisse der indivi- duellen Seele konnte die Auffassung über die Äußerungen der Massenseele nicht unberührt lassen. Freud und seine Schüler nahmen auch recht bald die Produkte der Volksseele, vor allem die Mythen und Märchen zum Gegenstand ihrer Forschung und klärten uns darüber auf, daß in diesen gerade so allegorische oder symbolische Äußerungen verdrängter Triebe der Menschheit nach- weisbar sind wie in den Symptomen der Hysterischen und in den Träumen der Gesunden. Der Ödipus-Mythos z. B., dessen Inhalt der inzestuöse Verkehr mit der Mutter und der Vatermord ausmacht

108 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte

und dessen Pendant im mythischen Vorstellungskreise eines jeden Volkes auftaucht, wurde uns erst verständlich, seitdem wir von der Psychoanalyse gelernt hatten, daß diese Tendenzen auch in den jetzt lebenden Menschen, wenn auch unbewußt, als atavistische Reste eines Urzustandes der Menschheit weiter leben. Das Studium der Seele der heute lebenden „Wilden“ ermöglichte der Psychoanalyse, das Anfangsstadium der Anpassung an die Kultur zu rekonstruieren und den Parallelismus zwischen dieser Phase der Menschheitsent- wicklung und der Entwicklung der kindlichen Einzelseele bis ins Detail nachzuweisen. Die primitivste Religion ist der Totemkult, in dem die abergläubische Anbetung eines als Ahne verehrten Tieres mit dessen feierlicher Aufopferung und Zerstückelung ab- wechselt. Dieser merkwürdige Kult wurde erklärlich, seitdem die Psychoanalyse in dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern viele feine Züge dieser „Totemreligion“ nachwies, z. B. in der „scheuen Achtung“, in der ambivalente Gefühlsregungen der Liebe und der Empörung sich mengen. Forscher der vergleichenden Religions- wissenschaft sahen schon vor Freud im Totemkult den Prototyp aller Religionen. Freud ergänzte dies, indem er das Schuld- bewußtsein und das Verlangen nach Sühne, diese wesentlichste Ingredienz jeder Religion, für atavistische Reste einer erschüttern- den Tragödie erklärte, die sich einst in der Urgeschichte der Menschheit abspielte. Es war dies eine Revolution, in der die zu- sammengerottete „Brüder-Horde“ den Vater, der als Kräftigster ‚alles materielle und sexuelle Gut für sich in Anspruch nahm, mit tierischer Brutalität in Stücke zerriß, um in den Besitz jener Güter zu gelangen. Den Brüdern blieb aber, wie wir hören, auch nach der Entfernung des Tyrannen die erhoffte Befriedigung versagt. Keiner der Brüder konnte die väterliche Macht und den Haupibesitz: die Mutter für sich allein in Anspruch nehmen, so daß sich das ganze Blutvergießen als zwecklos erwies. Da bemächtigte sich denn der Mörder tiefe Reue über die blutige Tat: sie sehnten sich nach der über alle gleichmäßig richtenden väterlichen Autorität zurück, er- richteten ein Patriarchat auf noch strengerer Grundlage und ent- wickelten den Begriff eines riesenhaften Vaters und überirdischen Patriarchen, den Gottesbegriff. Die Zeremonie der „Opfer“ bringt aber auch in den heutigen Religionen noch die alten vater-

Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 109

mörderischen und anthropophagen Tendenzen zum verhüllten sym- kolischen Ausdruck.

Wie der Totemismus die erste Religion war, so waren die „Tabus“ die ersten, noch ungeschriebenen Gesetze, die übrigens in Zentralaustralien noch heute die Grundlage der Rechtssprechung sind. Das „Tabu“ verbietet, gewisse Dinge zu berühren: die Person des Königs, die blutsverwandten Frauen, die Kinder und Toten, das fremde Eigentum. Jeder Verletzung des „Tabu“ folgt nach dem Glauben dieser Völker von selbst die Todesstrafe. Der ganze Stamm achtet eifersüchtig darauf, daß die „Tabu“-Verbote nicht übertreten werden. Alle fürchten, sofort sterben zu müssen, wenn sie ihren Blick auf den König zu richten wagen; tut das aber jemand und bleibt dennoch am Leben, so wird er selbst ein gefährliches „Tabu“. Viele versuchten schon die Erklärung dafür zu geben, wie diese primitivste Form des Rechtsgefühls entstehen konnte. Die allzu rationalistische Erklärung, daß es die Häuptlinge selbst waren, die dieses System zu eigenem Nutz und Frommen erfanden und fürs dumme Volk in abergläubische und mystische Form einkleideten, läßt das eigentliche psychologische Problem des Tabuismus un- erklärt: warum sich das Volk trotz seiner zahlenmäßigen Über- legenheit dem Zauber eines einzigen Menschen, dem des Häuptlings oder Königs, so willenlos ausliefert. Wenn wir aber Freud folgen und auch die Loyalität als einen Abkömmling der späten Reue nach jenem urgeschichtlichem Vatermord (der eigentlichen Erbsünde der Menschheit) auffassen, so haben wir mehr Aussicht, die Urquelle der „Achtung vor dem Gesetze“, des Rechtsgefühls, zu entdecken.

Es gibt eine sonderbare Neurose, Zwangsneurose genannt, die durch eine ganze Reihe abergläubischer Selbstbeschränkungen charakterisiert ist, deren Verletzung den Zwang nach sich zieht, allerlei Opfer zu bringen. Die Zwangsneurotiker fürchten immer, jemandem ein Leid angetan zu haben; damit das nicht eintrifft, hüten sie sich ängstlich vor der Berührung jedes Gegenstandes, der, wenn auch noch so mittelbar mit der Person oder Sache in

erührung kommen konnte, auf die sich die eigentliche krankhafte Berührungsangst bezieht. Mußte er gegen seinen Willen einen solchen Gegenstand berühren, so bringt ihm’ nur stundenlanges Händewaschen, vielleicht nur ein empfindliches Geldopfer, ein sich

110 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte

selbst zugefügter Schmerz die Seelenruhe wieder. Die Psychoanalyse solcher Zwangsneurotiker konnte dann nachweisen, daß diese Kranken in ihrem Unbewußten gerade gegen die von ihnen so sehr geschonten Personen Gefühle des Hasses und der Grausam- keit nähren und jede Gelegenheit ängstlich meiden, die die von ihnen bewußt verabscheute Grausamkeit entfachen könnte. Das Benehmen des Wilden und die Analyse des Neurotikers lehrt uns aber auch die Entrüstung verstehen, die sich des Kulturmenschen bemächtigt, wenn er Zeuge einer Rechtsverletzung ist. Wir müssen allmählich einsehen, daß die Strafe des Gesetzes nicht nur als eine zweckmäßige Einrichtung zum Schutze der Gesellschaft anzusehen ist, nicht bloß die Besserung des Sünders oder die Abschreckung von Strafhandlungen bezweckt, sondern zum Teil immer auch unseren Rachedurst befriedigt. Dieses Rachegefühl selbst aber läßt sich nicht anders erklären als dadurch, daß wir uns unbewußt dagegen empören, daß der Verbrecher etwas zu tun wagte, wozu wir alle unbewußterweise die stärkste Neigung hätten. Den Verbrecher ver- achten und meiden wir hauptsächlich darum, weil unser Unbewußtes sich aus guten Gründen vor der ansteckenden Wirkung des schlechten Beispieles fürchtet. Selbstverständlich kann diese Erklärung des Schuldbewußtseins und der willigen Unterwerfung unter die Straf- sanktionen nicht ohne Einfluß auf die Kriminologie und auf die Art der Ahndung der Verbrechen bleiben.

Dies führt uns wie von selbst zur Idee, daß eine Zeit kommen muß, in der man die psychoanalytische Untersuchung und Heilung der Verbrechen an Stelle der heute üblichen automatischen Strafmaß- nahmen wird stellen müssen. Von einer Freiheitsstrafe kann man nur in seltenen Fällen dauernde Besserung erwarten, gleichwie die sug- gestive Beeinflussung eines neurotischen Symptoms nur eine vor- übergehende sein kann. Erst jene tiefe Durchforschung der ganzen Individualität, jene vollständige Selbstkenntnis, die die Psychoanalyse ermöglicht, kann die von Kindheit an einwirkenden Milieueinflüsse paralysieren und die bisher unbewußten und unbeherrschten ange- borenen Triebe unter die Vormundschaft der bewußten Vernunft bringen. Doch selbst wenn sich die Hoffnung, die Verbrecher zu heilen, als trügerisch erwiese, wäre es unsere Pflicht, diese analytischen Forschungen durchzuführen, schon damit wir Einblick in die see-

Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 111

lischen Determinanten der Verbrechen gewinnen. Die bisherigen analytischen Erfahrungen berechtigen übrigens auch zur Annahme, daß z.B. der durch „Unachtsamkeit“, „Sorglosigkeit“ verursachte Schaden in vielen Fällen auf ein unbewußtes „Wollen“ zurückgeführt werden muß, daß sich in der Neigung zum Diebstahl und Mord oft nur libidinöse Triebe in entstellter Form äußern usw.

„Principiis obsta, sero medicina paratur.“ Dieses Prinzip gilt nicht nur in der Heilkunde. Arzt und Richter beschäftigen sich mit der Sysiphusarbeit des Heilens und Flickens des schon ge- schehenen und immer wiederkehrenden Übels; von einem eigent- lichen Fortschritt könnten wir erst reden, wenn es für diese Übel eine soziale Prophylaxe gäbe.

Wenn wir die Gesellschaft, einer geläufigen Analogie folgend, mit einem Organismus vergleichen, so können wir auch die Stre- bungen. dieses Großorganismus ganz gut in zwei Gruppen teilen, in die der libidinösen und in die der egoistischen Triebe. Die For- derung des Pöbels nach Brot und Belustigung erschöpft auch heute wie in alten Zeiten jeden Anspruch der Masse; höchstens in der Qualität änderte oder komplizierte sich die Idee des gewünschten „Brotes“ und der „Lust“. Soll eine Gemeinschaft Bestand haben, so müssen sich die Egoismen und die libidinösen Tendenzen der Einzelindividuen gegenseitig anpassen, d.h. der einzelne muß auf die ganz freie Befriedigung seiner Triebe verzichten. Er tut es in der Hoffnung, daß die Gesellschaft ihn für dieses Opfer wenigstens zum Teil entschädigen wird. Den Fortschritt in der gesellschaft- lichen Entwicklung könnte man in der Sprache der Psychoanalyse als allmählichen Sieg des Realitätsprinzips über das Lustprinzip beschreiben. Aus dem Individualismus und Anarchismus uralter Zeiten, der Tyrannis und Oligarchie der Antike und des Mittelalters entwickelte sich der konstitutionelle Staat und dessen sozialdemo- kratisches Ideal.

Soziologen und Politiker neigen aber allzusehr dazu, zu ver- gessen, daß der Verzicht auf die Individualität, „der Staat“, nicht Selbstzweck, sondern nur eines der Mittel zum Wohle des Indivi- duums sein darf, und daß es keinen Sinn hat, für die Gemeinschaft mehr persönliches Glück zu opfern, als unbedingt notwendig ist. Die übertriebene Askese, die die auf Religion gegründeten Staaten

112 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte

geradeso kennzeichnet wie den sozialdemokratischen, ist das massen- psychologische Pendant jener Affektverdrängung, deren schädliche Folgen für die Gesundheit des Einzelmenschen die Psychoanalyse erwiesen hat. So kommt man zur Fragestellung, ob nicht auch die sozialen Krankheiten auf Triebverdrängung zurückzuführen sind? Die Analogien aus der Neurosenlehre sprechen für die Stichhältig- keit dieser Annahme. Der religiöse Fanatismus ganzer Völker wurde bereits mit der Zwangsneurose im Zusammenhang gebracht. Die Paroxysmen der Revolutionen und der Kriege sind wie hysterische Entladungen aufgespeicherter primitiver Triebe; die oft wie Feuer sich verbreitende geistige Ansteckung durch die Ideen von falschen Propheten und Philosophen könnte man den Wahnsinn der Gesell- schaft heißen usw.

Es muß aber zwischen dem Änarchismus und dem Kommu- nismus, zwischen dem schrankenlos individuellen Ausleben und der sozialen Äskese irgendwo ein vernünftiges individual-soziali- stisches „juste milieu“ geben, das nebst den Interessen der Ge- sellschaft auch für das individuelle Wohl sorgt, statt der Trieb- verdrängung die Triebsublimierung kultiviert und damit dem Fort- schritt einen vor Revolutionen und Reaktionen gesicherten ruhigen Weg bahnt.

Ich muß immer wieder auf die Reform der Erziehung zurück- kommen, wenn ich an die Heilung der sozialen Übel denke. Heute erzieht auch der wildeste Sozialistenführer sein Kind zu einem Sklaven oder Tyrannen, wenn er in seiner Familie, anstatt die sonst lautgeforderte Freiheit gelten zu lassen, als tyrannischer Vater regiert und so seine Umgebung an die blinde Anbetung der Autorität gewöhnt. Der „pater familias“ müßte vom gefährlich wackelnden Thron der vermeintlichen Unfehlbarkeit herabsteigen, seinen Kindern gegenüber auf die bisher genossene beinahe göttliche Allmacht verzichten; er dürfte vor ihnen auch seine Schwächen und mensch- lichen Regungen nicht verbergen. Möglich, daß dadurch ein Teil der Autorität in Verlust geriete, aber nur der Teil, der früher oder später von selbst zusammenstürzt. Der erwachsene, erfahrene Vater behält auch nach Abzug der erlogenen Vorzüge genügend Ansehen, das inm die Erziehung seiner Kinder ermöglicht. Von den „Vätern“ der großen Gemeinschaften der Menschheit gilt dasselbe.

Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 113

Wenn dann an Stelle der von Autoritäten anbefohlenen Dogmen das durch die heutige Erziehung geknechtete selbständige Urteils- vermögen und die freimütige Einsicht in die natürlichen Triebe unseres Seeleninnern zur Herrschaft käme, um die Gesellschafts- ordnung brauchte uns darum noch lange nicht bange zu sein. Allerdings käme so eine Neuordnung zu Stande, die nicht nur auf die Interessen einzelner Mächtiger Rücksicht nimmt.

Psychoanalyse und Kriminologie*

Die „Internationale Psychoanalytische Vereinigung“ und deren Ortsgruppen bemühen sich schon seit 1908 darum, die neue For- schungs- und Untersuchungsmethode der Seelenkunde, die anfäng- lich nur ein ärztliches Heilverfahren war, für alle zugänglich zu machen, die die Wissenschaft Freuds im weiten Kreis der Theorie und Praxis anwenden wollen.

Niemand nahm noch die psychoanalytische Revision der Soziologie in Ängriff; auf diesem Gebiete erschienen bis jetzt nur unbedeutende Versuche und einzelne allgemein gehaltene orientierende Aufsätze. Ich halte es für unaufschiebbar, daß diese Arbeit von dazu berufenen Männern ehestens begonnen wird.”

Man darf aber nicht warten, bis die Fundamente dieser neuen soziologischen Hilfswissenschaft gemächlich niedergelegt und Haus und Dach darüber aufgebaut sind. In erster Reihe sollten jene Arbeiten aufs Programm gesetzt werden, bei denen voraussichtlich praktische Ergebnisse von Belang zu erzielen sind. Solch eine Aufgabe ist meiner Ansicht nach die Ausgestaltung einer psycho- analytischen Kriminologie.

Die Kriminologie hat bis jetzt die Verbrechen theoretisch auf Versuchung und auf Einflüsse des Milieus zurückgeführt, in der Praxis aber empfiehlt sie zu ihrer. Verhütung eugenetische, pädago-

* Aus „A pszichoanalizis haladäsa.“ Budapest 1920, S. 126 ff. (Zuerst ab- gedruckt in „Az Ui Forradalom“ I. Budapest 1919.)

** Seither erschien allerdings Aurel Kolnais Arbeit über „Psychoanalyse und Soziologie“ als Band 9 der Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek.

(Wien 1920.)

Psychoanalyse und Kriminologie 115

gische und wirtschaftliche Reformen. Dieses Programm ist im Grunde richtig und erschöpft grundsätzlich alle Möglichkeiten, war aber in seiner Durchführung oberflächlich und widersprach gerade dem von seinen Vertretern stets propagierten „Determinismus“, indem es unter den seelischen Triebfedern der Verbrechen die allmächtigsten Determinanten, die Tendenzen des unbewußten Seelenlebens, ihre Entstehungsart und die prophylaktischen Maßnahmen gegen sie vollständig außer acht ließ.

Die nur aus dem Bewußten geschöpften Geständnisse der Verbrecher und eine noch so eingehende Feststellung der Um- stände des Verbrechens werden nie zureichend erklären, warum das Individuum in der gegebenen Lage gerade jene Tat begehen mußte. Die äußeren Umstände motivieren die Tat oft überhaupt nicht, und der Täter, wenn er aufrichtig sein wollte, müßte zumeist gestehen, daß er eigentlich selbst nicht genau weiß, was ihn dazu bewogen hat; meistens ist er aber nicht so aufrichtig, auch sich selbst gegenüber nicht, sondern sucht und findet nachträglich Er- klärungen für sein im Grunde vielfach unverständliches und seelisch nur unvollkommen motivierbares Vorgehen, das heißt, er rationa- lisiert etwas, was irrationell ist.

Als Arzt hatte ich manchmal Gelegenheit, das Seelenleben auch solcher Nervenkranker psychoanalytisch zu durchforschen, die nebst anderen Krankheitserscheinungen, hysterischen oder Zwangs- symptomen, den Hang oder den Impuls zu verbrecherischen Hand- lungen zeigten. Bei manchen gelang es dann, die Neigung zur Gewalttätigkeit, zu Diebstahl, Betrug, Brandstiftungen usw. auf unbe- wußte seelische Triebfedern zurückzuführen und die Kraft dieser Tendenzen, gerade mit Hilfe der psychoanalytischen Kur, abzu- schwächen oder auch vollständig unwirksam zu machen.

Auf Grund solcher kleiner Erfolge erstarkte in mir die An- sicht, daß man die Verbrechen nicht nur als Nebenprodukte der Neurosen, sondern auch für sich allein zum Gegenstande eines eingehenden psychoanalytischen Studiums machen müßte. Man müßte also die Psychoanalyse in den Dienst der Kriminalpsycho- logie stellen und eine Kriminalpsychoanalyse schaffen.

Die Ausführung dieses Programmes stößt so denke ich

auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. 8*

116 Psychoanalyse und Kriminologie

In erster Reihe kommt es darauf an, ein reiches kriminal- psychoanalytisches Material zu sammeln.

Ich denke mir die Sache so, daß berufene Psychoanalytiker die Aufgabe übernähmen, rechtskräftig verurteilte, geständige Ver- brecher in den Zuchthäusern aufzusuchen und sie dort einer regel- rechten Analyse zu unterziehen.

Ein solcher Verurteilter hat gar keinen Grund mehr, etwas von den Gedanken und Assoziationen, mit deren Hilfe die un- bewußten Motive seiner Handlungen und Tendenzen ans Tages- licht gefördert werden können, zu verheimlichen. Hat er die Kur einmal begonnen, so wird es ihm die sogenannte ‚„Übertragung“ durch die Gefühlsbindung an die Person des Analytikers sogar erwünscht und angenehm machen, daß man sich mit ihm auf diese Weise beschäftigt. Die vergleichende Untersuchung gleichartiger Verbrechen wird es dann ermöglichen, die klaffenden Lücken des kriminologischen Determinismus mit solidem wissenschaftlichen Material auszufüllen.

Das wäre das zu erwartende theoretische Ergebnis dieser Forschungen. Doch auch praktisch halte ich die Arbeit nicht für aussichtslos. Abgesehen davon, daß man den Weg zur pädago- gischen Prophylaxe der Verbrechen nur auf Grund einer wirklichen Verbrecherpsychologie finden kann, ist es meine Über- zeugung, daß auch die psychoanalytische Behandlung von Verbrechernaturen, also eine analytische Kriminaltherapie nicht unmöglich ist, jedenfalls hat sie mehr Aussicht auf Erfolg als die barbarische Strenge der Gefangenenwächter oder der fromme Zuspruch der Zuchthausgeistlichen.

Diese Möglichkeit einer psychoanalytischen Heilung, beziehungs- weise Nacherziehung der Verbrecher, eröffnet vor uns eine weite Perspektive.

Die „Bestrafung“ wurde bis jetzt vielfach mit dem Be- dürfnis nach „Herstellung der beleidigten Rechtsordnung“ moti- viert, andere erwarteten von der abschreckenden Wirkung die Prophylaxe der Verbrechen; in Wahrheit aber können wir in der heutigen Art der Strafbemessung und des Strafvollzugs mit Leich- tigkeit auch rein libidinöse, den Sadismus der strafenden Organe befriedigende Elemente entdecken. Die psychoanalytische Einsicht

Psychoanalyse und Kriminologie 117

und die darauf basierte Behandlungsmethode müßte bei den die Strafe vollziehenden Organen wie überhaupt in der öffentlichen Meinung dieses so schädliche Element der Straflust neutralisieren, was an und für sich nicht wenig zur Ermöglichung der seelischen „Wiedergeburt“ der Verbrecher und ihrer Anpassung an die gesellschaftliche Ordnung beitrüge.

Philosophie und Psychoanalyse“

(Bemerkungen zu einem Aufsatze des H. Professors Dr. James ]J. Putnam von der Harvard Universität, Boston U. 5. A.**)

In einem von edlen Absichten diktierten und mit der Bered- samkeit ehrlicher Überzeugung verfaßten Aufsatze tritt der hoch- verdiente Professor der Harvard Medical School mit Wärme dafür ein, daß die Psychoanalytik, deren Bedeutsamkeit als psychologische und therapeutische Methode er rückhaltslos anerkennt, in engere Beziehungen zu umfassenderen philosophischen Anschauungen ge- bracht werde.

Ein großer Teil seiner Ausführungen wird gewiß von allen Analytikern als richtig anerkannt und befolgt werden. Der Psycho- loge, der sich zur Aufgabe macht, unsere Kenntnis von der mensch- lichen Seele zu vertiefen, darf sich der Betrachtung jener, von der Menschheit mit Recht hochgeschätzten Systeme, in denen erhabene Geister ihre tiefsten Ansichten über das Wesen und den Sinn der Welt zusammenfaßten, keinesfalls verschließen, und wenn es der . Analyse gelungen ist, selbst in den lange Zeit hindurch gering- geschätzten Produktionen der Volksseele: in den Mythen und Märchen, ewige allerdings symbolisch verkleidete psycho- logische Wahrheiten zu entdecken, so darf man sicher hoffen, daß ihr auch aus dem Studium der Philosophie und der Geschichte neue Gesichtspunkte, neue Erkenntnisse erwachsen werden. Auch

* Erschienen in „Imago“, I. Jahrgang (1912). ** „Über die Bedeutung philosophischer Anschauungen und Ausbildung für die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung.“ („Imaco“, I. Jahr-

gang, 2. Heft.)

Philosophie und Psychoanalyse 119

dem wird kein Psychoanalytiker widersprechen, daß „keine For- schung gut gedeihen kann, ohne daß man ihre naturgemäßen Be- ziehungen zu anderen Forschungsarten sorgfältig in Betracht zieht“. Die Psychoanalyse ist nicht so unbescheiden, alles mit den eigenen Mitteln erklären zu wollen, und obzwar wir noch weit davon entfernt sind, alles erschöpft zu haben, was analytisch erklärt werden kann, so ahnen wir doch schon, wo etwa die Grenzen unserer Wissenschaft ge- steckt sind und wo man die Erklärung der Vorgänge anderen Diszi- plinen (z.B. der Physik, Chemie und Biologie) wird überlassen müssen.

Auch, „daß wir mehr wissen, als wir ausdrücken können“, daß „das Erlernen nichts anderes ist als eine Entdeckungsreise in die eigene Seele“, daß es die Pflicht der Psychoanalytiker ist, „die Ahnungen und Regungen“ (darunter auch die religiösen) „soweit wie möglich, zu entdecken und näher zu prüfen“ muß jeder Analytiker, der einmal mit dem Vorbewußten, d. h. mit der produk- üven Kambiumschicht der Seele, in der jeder geistige Fortschritt vorbereitet wird, Bekanntschaft machte, vollinhaltlich anerkennen. Überhaupt müßten wir einen nicht unbeträchtlichen Teil der Put- namschen Ausführungen neu abdrucken, wollten wir aus seiner Arbeit alles hervorheben, womit wir uns einverstanden erklären dürfen.

Immerhin finden sich in diesem, so anregenden und inter- essanten Aufsatz Bemerkungen, die in mir lebhaften Widerspruch erweckten und über die ich mit meiner gegenteiligen Ansicht nicht zurückhalten will, obzwar mir jede philosophische Schulung abgeht, während Professor Putnam alle Vorteile eines philosophisch ge- schulten Geistes für sich hat.

Professor Putnam fordert von den Psychoanalytikern, daß sie ihre neugewonnenen Kenntnisse einer bestimmten philosophischen Weltanschauung unterordnen oder in diese einordnen sollen.

Ich finde das für die Wissenschaft überhaupt gefährlich, be- sonders aber für die analytische Psychologie, die noch nicht einmal die Zusammenhänge innerhalb des eigenen Wissensgebietes ordent- lich bearbeitet hat. Die Schonzeit, die man selbst dem Jagawild für die Zeit der Entwicklung gewährt, sollte man doch auch einer iungen Wissenschaft nicht versagen und eine geraume Weile zu- warten, bevor man mit den Waffen der Metaphysik an sie heran- tritt. Je länger man die Systembildung hinausschiebt und sich da-

120 Philosophie und Psychoanalyse

mit begnügt, voraussetzungslos die Tatsachen zu sammeln und deren Zusammenhänge untereinander festzustellen, umsomehr Aussicht hat man, Neues und Wahres zu finden. Die allzufrühe Systembildung da- gegen versetzt den Forscher in eine für die Realitätsprüfung ungün- stige Gemütsverfassung, in der er Gefahr läuft, Tatsachen, die in das System nicht passen wollen, zu mißachten oder geringzuschätzen.

Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Psychoanalyse, wie die Psychologie überhaupt, das Recht hat, ja verpflichtet ist, jede Art seelischer Leistung, die philosophischen Systeme nicht aus- genommen, auf ihre Entstehungsbedingungen zu untersuchen und zu trachten, den sonst im Psychischen herrschenden Gesetzmäßigkeiten auch in ihnen Geltung zu verschaffen, richtiger: die Geltung dieser Gesetzmäßigkeiten auch in ihnen nachzuweisen. Wie aber könnte die Psychologie Gesetzgeberin des Philosophierens sein, wenn ihr zu- gemutet wird, daß sie sich a priori einem bestimmten oder über- haupt irgend einem philosophischen System unterordne?*

* Daß es nicht unmöglich und auch nicht ganz unfruchtbar ist, die Entstehungs- bedingungen der philosophischen Systeme psychologisch zu betrachten, möge hier an einem Beispiel gezeigt werden. Psychoanalytische Untersuchungen an Kranken führten zur Unterscheidung zweier gegensätzlicher Mechanismen der Verdrängung (d.h. der Abwendung der bewußten Aufmerksamkeit vom Unlustvollen). Para- noische Patienten neigen dazu, unlusterzeugende subjektive Seelenvorgänge als Einwirkungen der Außenwelt zu fühlen (Projektion); Neurotiker hingegen fühlen auch Vorgänge der Außenwelt (z. B. solche in anderen Menschen) intensiv mit, sie „introjizieren“ einen Teil der Außenwelt, damit sie gewisse Spannungen in ihrer Psyche lindern. Es ist nun merkwürdig, daß es philosophische Systeme gibt, die man mit diesen, doch sicher von Gemütsbedürfnissen abhängigen Me- chanismen in Analogie bringen kann. Den Materialismus, der das Ich leugnet und es ganz in der „Außenwelt“ aufgehen läßt, kann man als die denkbar voil- ständigste Projektion auffassen; der Solipsismus, der die ganze Welt leugnet, d. h. sie ins Ich aufnimmt, ist die höchste Stufe der Introjektion. (S. Ferenczi, Introjektion und Übertragung, „Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen“, I. Band, 1909. Ders., Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, „Zentralblatt für Psychoanalyse“, II. Jahrgang, 4. Heft.) Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß sich am Ende ein großer Teil der Metaphysik psychologisch erklären läßt, oder, wie es Freud sagt, sich als Metapsychologie erweisen wird. (S.Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens.) Auch auf die zwischen philosophischen und paranoischen Systembildungen zum Teil bestehende Analogie hat Freud hin- gewiesen. (Imago, I. Heft 4, Seite 332.) Ein anderer Teil mag sich allerdings später als Vorahnung wissenschaftlicher Erkenntnisse entpuppen.

Philosophie und Psychoanalyse 121

Die Wissenschaft ist einem industriellen Unternehmen zu ver- gleichen, das neue Werte zu schaffen hat; die „Weltanschauung“ dagegen ist die, allerdings nur sehr rohe Bilanz, die man zeitweise vom Stand unseres Wissens ziehen soll, besonders um zu sehen, wo die nächsten Arbeiten einzusetzen haben. Ein fortwährendes Bilanzmachen würde aber den Geschäftsgang stören und Energien verbrauchen, die besser hätten verwertet werden können.

Die philosophischen Systeme sind wie die Religionen: Kunst- werke, Dichtungen, die gewiß eine Menge großartiger Ähnungen in sich bergen; ihr Wert soll und darf nicht gering geschätzt werden. Aber sie gehören in eine andere Kategorie als die Wissenschaft, unter der wir die Summe jener Gesetzmäßigkeiten verstehen, die wir nach möglichster Reinigung von den Phantasieprodukten des Lustprinzips zurzeit als real bestehend annehmen müssen. Wissen- schaft gibt es nur eine, philosophische Systeme und Religionen gibt es aber so viele, als es mit verschiedenen Geistes- und Gemütsrichtungen begabte Menschen gibt.

Es liegt im Interesse beider, verschiedenen Prinzipien ge- horchenden Disziplinen, ihre Thesen nicht miteinander zu vermengen. Die Psychologie muß Richterin auch über die Philosophie sein, sie muß sich dafür natürlich gefallen lassen, in toto in die verschie- denen philosophischen Systeme eingeordnet zu werden. Sie bleibe aber auf ihrem eigenen Gebiete souverän und knüpfe ihr Schicksal an keines dieser Systeme.

Nach der Weltanschauung Prof. Putnams, in die sich seiner Ansicht nach die Psychoanalyse einzuordnen hätte, ist das einzig Wirkliche auf der Welt eine selbsttätige Energie, eine mit den höchsten intellektuellen und sittlichen Fähigkeiten begabte, man kann also wohl sagen: göttliche Persönlichkeit, die zur Äußerung ihrer Tendenzen die „Körperwelt“ aus sich selbst entstehen und entwickeln ließ und läßt. Dieser Geist war schon vor dem Ent- stehen der primitivsten Körper intelligent und moralisch und ist auch im Menschen nicht zur vollen Entfaltung dieser seiner Eigen- schaften gelangt. Das klingt wie die Anpassung der ältesten Schöpfungsmythen an die Biogenetik, von denen es sich nur da- durch unterscheidet, daß hier die Erschaffung der Welt nicht in einem einzelnen Schöpfungsakte, sondern in einer unendlichen Reihe solcher

122 Philosophie und Psychoanalyse

vor sich gegangen, resp. auch zurzeit vor sich gehend gedacht wird. Man kann, wenn man will, dieses System monistisch heißen, da es doch die Körperwelt als eine Manifestation derselben geistigen Energie betrachtet, die den welterschaffenden Geist ausmacht; dieser Monismus ist aber einem Dualismus außerordentlich ähnlich. Dar- aus soll ihm aber durchaus kein Vorwurf erwachsen; die dualistische Welt ist ebensowenig unmöglich wie die monistische, jede monisti- sche und jede dualistische Philosophie ist also existenzberechtigt. Wir sehen nur nicht ein, warum die analytische Psychologie gerade mit der von Prof. Putnam skizzierten Weltanschauung innigere Be- ziehungen anknüpfen sollte? Lassen sich doch die Tatsachen der Psychoanalyse in jedes materialistische oder spiritualistische, monisti- sche oder dualistische System einverleiben, sie vertragen sich z. B. ganz gut auch mit einer Weltanschauung, die in einem nicht intelli- senten und nicht sittlichen blinden Drang, z.B. im Willen Schopen- hauers, das Wesen und den Urgrund der Welt erblickt. Ist es doch nicht denkunmöglich, daß eine an sich sinn- und ziellose, blinde Kraft durch natürliche Auslese die intelligentesten Wesen zustande- bringen könne; unsere psychologischen Erfahrungen stehen auch mit dieser Anschauung in keinem Widerspruche.

Auch die agnostizistische Philosophie, die ihr Unvermögen zur Lösung der letzten Fragen ehrlich einbekennt, die also im Grunde kein ‚abgeschlossenes System ist, ist eine für uns mögliche, ja förderliche Weltanschauung. Denn wenn auch Professor Putnam Recht hat, wo er behauptet, daß man die Vernunft nicht dazu be- nützen darf, das Dasein der Vernunft zu leugnen, so übersieht er anderseits die Gefahr, die in der Versuchung liegt, die Rolle des Bewußtseins im Weltall zu überschätzen und in einen nicht ganz gerechtfertigten Anthropomorphismus zu verfallen. Es ist übrigens beinahe ein Glück für die Wissenschaften, daß keines dieser philo- sophischen Systeme von zwingender Evidenz ist; die endgültige Lösung der letzten Fragen des Lebens würde den Antrieb zum Suchen nach neuen Wahrheiten vernichten.

Prof. Putnam unterscheidet mit Recht die seelischen Inhalte von den Tätigkeitsformen des Geistes. Er fügt aber hinzu, daß der Geist, vom Standpunkte der Tätigkeitsform betrachtet, weder ent- wicklungsfähig, noch auch entwicklungsbedürftig ist und behauptet,

Philosophie und Psychoanalyse 123

daß die kindliche Seele und das Unbewußte (im psychoanalytischen Sinne) sich nur dem Inhalte, nicht aber der Funktionsart nach vom bewußten Geiste des Erwachsenen wesentlich unterscheiden.

Die psychoanalytischen Erfahrungen ergaben demgegenüber, daß die Vorgänge im Unbewußten (und zum Teil auch in der infantilen Seele) nicht nur inhaltlich, sondern auch formal von be- wußten Vorgängen verschieden sind.

Die bewußten psychischen Inhalte des wachen Normalmenschen werden in die Kategorien des Raumes, der Zeit, der Kausalität eingeordnet, sie werden auf ihre Realität geprüft. Das Bewußtsein ist also, insoferne nicht unbewußte Elemente hineinspielen, logisch. Die psychischen Inhalte eines wohlerzogenen Erwachsenen werden auch vom Standpunkte der Ethik und der Ästhetik geordnet sein.

lm Unbewußten finden wir aber die psychischen Inhalte nach ganz anderen Prinzipien geordnet. Der herrschende Grundsatz ist hier der der Unlustverhütung, während die zeitliche und kausale Währung hier wenig gilt. Die aus dem logischen Zusammenhange gerissenen psychischen Inhalte befinden sich hier gleichsam in einem Lustraum, in dem sie sich je nach ihrem spezifischen Lust- gewichte schichten, und zwar so, daß die Unlustvollsten am wei- testen von der Bewußtseinsperipherie ihren Platz finden. So kommen logisch heterogene, aber gleichartig lustbetonte Inhalte dazu, assoziativ hart nebeneinander zu liegen, ja sich miteinander zu ver- mengen; Gegensätze bestehen ruhig nebeneinander; die entfernteste Ähnlichkeit gilt für Identität; das ungemein „leichte Überfließen der Intensitäten“ (Freud) ermöglicht die logisch unsinnigsten Verschie- bungen und Verdichtungen; der Mangel der Abstraktion und der Sprachsymbole gestattet nur ein Denken in dramatisierten Bildern. Daß die ethische und ästhetische Kategorie in dieser Schichte der Seele wenig oder oft gar nicht gilt, steht für jeden, der je Träume, Witze, Symptomhandlungen und Neurosen analysiert hat, außer Zweifel.

Nach alledem wird man doch zumindest nicht ausschließen können, daß eine mit Bewußtseinsorgan ausgestattete Psyche nicht nur dem Inhalte, sondern auch der Tätigkeitsform nach eine „höhere“ Entwicklungsstufe des Geistes darstellt, womit aber zugleich die Möglichkeit der Entwicklung hoher Formen geistiger Tätigkeit aus einfacheren und einfachsten überhaupt gegeben ist.

124 Philosophie und Psychoanalyse

Was in dieser Arbeit Prof. Putnams die Psychoanalyse am empfindlichsten berührt, ist der Angriff gegen den psychischen Determinismus. Ist doch der allergrößte Fortschritt, den wir der Analyse verdanken, gerade die durch sie gegebene Möglichkeit des Nachweises derselben ausnahmslosen Gesetzmäßigkeit und Be- stimmtheit auch im seelischen Geschehen, die sich im physikalischen überall feststellen läßt.

Daß unsere Willensakte bestimmt sind, wird schon lange und von vielen postuliert; doch erst die Psychoanalyse nach Freud gestattete uns, durch Aufdeckung der unbewußten Determinanten auch den vom Bewußtsein als frei empfundenen Willensakt und den sogenannten „freisteigenden Einfall“ als unvermeidliche Resul- tante anderer psychischer Vorgänge, die auch ihrerseits streng determiniert sind, zu erkennen. Der Psychoanalytiker, dem diese Bestimmtheit der Willensvorgänge durch tägliche Erfahrung in Fleisch und Blut übergegangen ist, verdankt gerade dieser Über- zeugung das wohltuende Gefühl, auch auf psychischem Gebiete den festen Boden eherner Gesetzmäßigkeit nicht verlassen zu müssen.

Bei näherem Zusehen stellt sich allerdings heraus, daß der scheinbar so große Unterschied zwischen dieser Auffassung und der Prof. Putnams zum Teil wenigstens nur auf Verschiedenheit in der Terminologie beruht. Dr. Putnam identifiziert stellenweise die Begriffe des Willens und des undeterminierten Willens, die wir scharf voneinander trennen möchten. Die Psychoanalyse leugnet den Willen (den Trieb) durchaus nicht; weit entfernt, eine bio- genetische Deskription zu sein, die sich „damit begnügte, die auf- einander folgenden Erscheinungen eines Entwicklungsvorganges mit genügender Genauigkeit aufzuspüren,“ findet sie überall im Psy- chischen Strebungen, d. h. Seelenvorgänge, die mit unserem be- wußten Willen in Analogie zu bringen sind. Die psychoanalytische Psychologie ist also keine einfache Beschreibung, sondern ein Versuch der dynamischen Erklärung der Seelenvorgänge. Die Psychoanalytik hat nie behauptet, daß „die Person Hamlets als willenlos anzusehen ist“, sondern, daß Hamlets Persönlichkeit in- folge seiner angeborenen und erworbenen Eigenschaften dazu be- stimmt war, seinen Willen in der schwankenden und schließlich tragischen Weise zu betätigen.

Philosophie und Psychoanalyse 125

Auch das „Laissez-faire“-Prinzip wird von Dr. Putnam mit Unrecht dem Determinismus gleichgesetzt. Die modernen National- ökonomen handeln sehr richtig, wenn sie lehren, daß „Ideologien“, d. h. Willens- und Bewußtseinsvorgänge, auch in der Entwicklung der Staatswirtschaft sehr wichtige Faktoren sind; damit ist aber durchaus nicht gesagt, daß diese Willens- und Geistesvorgänge frei, d. h. undeterminiert sein müssen. Determinismus darf doch mit Fatalismus nicht verwechselt werden. Die Lehre von der Bestimmt- heit des Willens besagt ja nicht, daß man nichts tun, nichts wollen kann (laisser-faire), und daß man zuwarten kann, bis die „Deter- minanten“ das Werk statt unser vollführen. Sie besagt nur, daß, wenn wir unseren subjektiv als frei gefühlten Willen betätigen, wir uns von der Richtkraft der Determinanten nicht emanzipieren können. Daß wir uns nicht dem „Laissez-faire“-Prinzip überlassen, sondern aktiv die Lenkung unseres Schicksals in die Hand nehmen, ist nicht ein Akt freier Willensentschließung, sondern das Resultat phylo- und ontogener Determinanten, die uns davor schützen, in ein für die Selbst- und Arterhaltung deletäres Nichtstun zu verfallen.

Über das Wesen des Willensvorganges selbst sagt die Psycho- analyse allerdings nichts aus, und das ist der Punkt, an dem ihre Kompetenz einstweilen aufhört und der Platz vor philosophischen und biologischen Erklärungsversuchen geräumt werden muß.

Prof. Putnam kann der Analyse den Vorwurf nicht ersparen, daß sie sich zu einseitig um die Psychologie des Unbewußten, um die Psyche der Kinder, der Wilden, der Künstler, der Neurotiker und Psychopathen kümmert und die bei ihnen gefundenen Resul- tate zur Erkenntnis der gesunden und sublimierten Seelentätigkeit des normalen Erwachsenen verwertet, den umgekehrten Weg aber, der von den höchstmöglichen seelischen Leistungen des Menschen ausgeht und von hier aus das Verständnis des Psychischen über- haupt erlangen will, vernachlässigt. |

_ Die Tatsächlichkeit dieses Sachverhaltes soll nicht geleugnet werden, es fragt sich nur, ob die Umkehrung des Standpunktes, der die Psychoanalyse charakterisiert, wirklich als etwas Nachteiliges, und nicht vielmehr als eine der fruchtbarsten und rühmlichsten Fortschritte der psychologischen Methodik zu betrachten ist.

126 Philosophie und Psychoanalyse

Jahrhundertelang war man bestrebt, die Seelenvorgänge von der Bewußtseinsseite her verstehen zu lernen, indem man sie in die Kategorien der bewußten und kultivierten Menschenseele (Logik, Ethik, Ästhetik) einzuzwängen versuchte. Man kann nicht sagen, daß man damit viel erreicht habe. Die alltäglichsten Kundgebungen des Seelenlebens blieben ungelöste Komplexe und man blieb trotz gegenteiliger doktrinärer Versicherungen stets im Banne einer unfruchtbaren „Vermögenspsychologie“. Die Reaktion dagegen war der physikalisch-physiologische Erklärungsversuch, dem es aber nicht gelang, die gähnende Kluft zwischen den verhältnismäßig einfachen physiologischen Vorgängen und den verwickelten seelischen Leistungen des Kulturmenschen zu überbrücken. Die Psychophysik versagte, sobald sie das Gebiet der deskriptiven Sinnesphysiologie verlassen wollte, oder sie mußte in schärfstem Gegensatz zur vielgerühmten Exaktheit ihrer Methoden zu den gewagtesten Hypothesen ihre Zuflucht nehmen..

Da kamen die überraschenden Entdeckungen Freuds über unbewußte Seelenvorgänge und über die Methodik, die uns ge- stattet, Inhalt und Tätigkeitsformen des Unbewußten zu erforschen. Die Entdeckungen wurden zunächst an Kranken gemacht. Als aber Freud versuchte, die bei Neurotikern demaskierten latenten Seelen- vorgänge auch bei der Betrachtung der seelischen Leistungen „Normaler“ in die Lücke zwischen dem Biologischen und Bewußt- Psychischem zu interpolieren: da lösten sich wie von selbst, ohne Schwierigkeit Probleme, bei denen die Bewußtseinspsychologie immer versagte und an die die Psychophysik sich nicht einmal herangewagt hat.

Der Traum, der Witz, die Fehlhandlungen des Normal- menschen, konnten nunmehr als sinnvolle und derselben Gesetz- mäßigkeit gehorchende psychische Bildungen erkannt werden; es schwand der Anschein ihrer Zufälligkeit oder Willkürlichkeit; in der Psychologie des Künstlers und des Dichters, im Tatsachen- material der Mytholoeie und Religion, der Völkerpsycho- logie und Soziologie beginnt sich um die Kenntnis vom Un- bewußten herum das tiefere Verständnis der Zusammenhänge her- auszukristallisieren; es gelang, mit ihrer Hilfe die Geltung des bio- genetischen Grundgesetzes auch im Seelischen nachzuweisen.

Philosophie und Psychoanalyse 127

Die überraschenden Erfolge der Freudschen Interpolation sprechen dächt ich dafür, daß wir diese so fruchtbare Arbeits- methode nicht aufgeben, sondern ihre Erfolge im pragmatistischen Sinne als Evidenz ihrer Richtigkeit auffassend, ihr Anwendungs- gebiet eher noch weiter ausdehnen sollten. Es ist also nach unserer Auffassung eine näherliegende, weil viel mehr Erfolg versprechende Aufgabe, auch die Bewußtseinsvorgänge und ihre Tätigkeitsformen unter Zugrundelegung der Tiefenpsychologie erklären zu wollen, als dem Ratschlage Professor Putnams folgend, wieder von der Bewußtseinsseite her in den wegen ihrer Unergiebigkeit verlassenen Schächten zu graben.

Es ist ja möglich, daß der jetzt so überreiche Strom an Er- kenntnis, zu der uns das Forschen im Unbewußten verhilft, einmal versiegt, und daß dann die psychologische Arbeit wieder von der Seite des Bewußtseins her oder etwa auf physikalischer Grundlage aufgenommen werden muß. Was ich betonen wollte, ist nur, daß unsere nächste Aufgabe die ist, die Psychoanalytik, unabhängig von philosophischen Systemen, weiter auszubauen.

Zur Psychogenese der Mechanik

(Kritische Bemerkungen über eine Studie von Ernst Mach.*)

Der Psychoanalytiker, der der fast einmütigen Ablehnung seiner Erkenntnisse durch die in ihrer Seelenruhe gestörte Mensch- heit einen gewissen Fatalismus entgegenzubringen gelernt hat, wird in großen Zeitabständen von gewissen Erfahrungen vorübergehend aus dieser Stimmung aufgerüttelt. Während die tonangebenden Gelehrten unausgesetzt damit beschäftigt sind, unsere Wissenschaft zum soundsovielten Male zu vernichten und zu begraben, meldet sich bald aus dem fernsten Indien, bald aus Mexiko, Peru oder Australien ein einsamer Denker, Arzt oder Menschenbeobachter, ‘und erklärt sich als Anhänger Freuds. Noch überraschender ist es, wenn es sich herausstellt, daß in unserer nächster Nähe im stillen ein Psychoanalytiker gearbeitet hat und mit dem jahrelang gesammelten psychoanalytischen Wissen plötzlich vor die Öffent- lichkeit tritt. Am allerseltensten kommt man aber in die Lage, in den Werken der anerkannten Größen der heutigen Wissenschaft Spuren des psychoanalytischen Einflusses oder einen Parallelismus ihrer Denkrichtung mit jener der Psychoanalytiker zu entdecken.

Bei diesem Stande der Dinge wird es wohl jeder verzeihlich und verständlich finden, daß ich bei der Lektüre des Vorwortes von Ernst Machs Arbeit: „Kultur und Mechanik“** die, natür- lich immer nur notgedrungene und schwer zu ertragende resignierte Einstellung für einen Moment wieder fallen ließ und mich der op- timistischen Idee hingab, in einem der bedeutendsten der jetzt

* Erschienen in der „Imago“, V. Band. 1917—19. ** Stuttgart, 1915.

Zur Psychogenese der Mechanik a Er,

lebenden Denker und Gelehrten“ einen Gleichgesinnten begrüßen und verehren zu können.

Meine wie sich bald herausstellte irrige Erwartung wird mir jeder Psychoanalytiker nachempfinden, der dieses Vorwort, dessen Inhalt ich hier zum Teile wiedergebe, liest.

„In der Einleitung der 1883 erschienenen ‚Mechanik‘ des Verfassers ist die Anschauung vertreten“ heißt es am Änfange des Vorwortes „daß sich die Lehren der Mechanik aus den Erfahrungsschätzen des Handwerks durch intellektuelle Läuterung ergeben haben.“ |

„Es bot sich nın die Möglichkeit, noch einen Schritt weiter zu gehen, indem es meinem in frühester Kindheit mechanisch sehr veranlagten Sohne Ludwig auf meine Veranlassung ge- lang, durch immer neu einsetzende Erinnerungsversuche seine damalige Entwicklung mit vielen Einzelheiten im wesentlichen zu reproduzieren, wobei es sich zeigte, daß die gewaltigen, unauslöschlichen dynamischen Empfindungs- erfahrungen jener Zeit uns mit einem Male auch dem instink- tiven Ursprunge aller Behelfe, wie Werkzeuge, Waffen und Maschinen, naherücken.“

„Von der Überzeugung geleitet, daß ein weiteres Verfolgen solcher Erfahrungen eine unvergleichliche Vertiefung der Ur- geschichte der Mechanik ermöglichen, außerdem aber auch noch zur Begründung einer allgemeinen genetischen Tech- nologie führen könnte, habe ich diese Studie als bescheidenen Schritt in dieser Richtung unternommen . . .“**

In diesen Sätzen findet der Psychoanalytiker ihm längst ver- traute Ideen und geläufige Arbeitsweisen wieder.

Die eigentlichen Grundlagen eines hochzusammengesetzten psychischen Gebildes mittels „immer neu einsetzender Erinnerungs- versuche“ aus primitiven abzuleiten und ihre Wurzel schließlich im infantilen Erleben zu finden, ist das Wesentliche an der psycho- analytischen Methode und ihr wichtigstes Ergebnis. Seit mehr als zwanzig Jahren wurde Freud nicht müde, diese Methode mit dem gleichen Ergebnis an den verschiedenartigsten psychischen Gebilden:

* Seit der Niederschrift dieser Zeilen ist Ernst Mach gestorben. * Die Hervorhebungen stammen vom Referenten.

130 Zur Psychogenese der Mechanik

an neurotischen Symptomen der Kranken, an komplizierten psy- chischen Leistungen des Gesunden, ja auch an gewissen sozialen und künstlerischen Schöpfungen der Menschheit zu erproben. Einige Schüler Freuds veröffentlichten bereits sogar psychogenetische Theorien und Erfahrungssätze, die auf das Spezialgebiet Machs, die Entwicklung der Mechanik, einiges Licht werfen.

In den einleitenden Sätzen Machs sind aber auch andere, bisher fast nur von der Psychoanalyse befürwortete oder zuerst von ihr ausdrücklich betonte Anschauungen subsumiert. Die Worte „un- auslöschliche Empfindungserfahrungen der ersten Kindheit“ klingen wie der Freudsche Satz von der Unzerstörbarkeit und: Zeitlosig- keit des Infantilen und Unbewußten. Der Plan, die Urgeschichte der Mechanik statt durch Ausgrabungen durch methodische gene- alogische Untersuchungen des individuellen Seelenlebens zu fördern, ‘wiederholt nur die psychoanalytische These, wonach im Unbewußten des Erwachsenen nicht nur psychische Tendenzen und Inhalte der eigenen Kindheit, sondern auch solche der stammesgeschichtlichen Vorfahren nachzuweisen sind. Die Machsche Idee, die Kultur- geschichte der Menschheit auf der Grundlage des biogenetischen Grundgesetzes individualpsychologisch zu fördern, ist in der Psychoanalyse gang und gäbe. Ich verweise nur auf die epoche- machende Arbeit Freuds „Totem und Tabu“ (1913), in der das Wesen dieser bisher unerklärten sozialen Institutionen mit Hilie individueller, bis auf die Kindheit zurückreichender Seelenanalysen dem Verständnis näher gebracht wurde.”

Ich muß es gleich vorwegnehmen, daß meine Annahme, Mach hätte bei seinen Untersuchungen die Ergebnisse der Psychoanalyse benützt oder berücksichtigt, sich nicht bewahrheitet hat. Es wird zwar nirgends gesagt, welcher Art jene „immer neu einsetzenden Er- innerungsversuche“ waren, deren sich der Autor bediente; weder

* Siehe auch die Arbeiten von Storfer („Zur Sonderstellung des Vater- mordes“), die Arbeiten Sperbers über die Psychogenese der Sprache, Gieses Untersuchungen über die der Werkzeuge, Abrahams, Ranks Arbeiten über die Genese von Mythen und Dichterwerken und die noch nicht publizierten Unter- suchungen von Sachs über die Pflugkultur und ihren symbolischen Niederschlag im Seelenleben des Menschen. Einen Versuch, das besondere Interesse der

Menschen am Gelde ontogenetisch zu erklären, habe ich selbst unternommen.

(Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, I, 1914, S. 506 ff.)

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Zur Psychogenese der Mechanik 131

der Hergang noch das Ergebnis dieses psychologischen Experi- mentes wird uns mitgeteilt, nur die Schlüsse, die daraus gezogen werden konnten. Aber schon diese Schlüsse gestatten uns den Rückschluß, daß es sich einfach um wiederholte Anstrengungen handelte, das Vergangene durch bewußtes Hinlenken der Auf- merksamkeit zu erinnern. Ob und inwieweit dabei die hier gewiß nicht unwirksame, weil väterliche Suggestion die Erinnerungs- widerstände überwinden half etwa im Sinne der ersten analy- tischen Versuche Freuds erfahren wir nicht. Keineswegs scheint aber die freie Assoziation angewendet worden zu sein, das heißt die einzige Methode, die über alle affektiven Widerstände, welche die infantile Amnesie verschulden, hinweghilft und die Vergangenheit fast restlos zu reproduzieren gestattet. Dementsprechend ist die affektive Determinierung der infantilen (und archaischen) mechanischen Ent- deckungen in dieser Arbeit Machs nicht hinreichend gewürdigt und die Fortschritte der Technik fast nur vom rationalistischen Stand- punkte, als fortschreitende Entwicklung der Intelligenz beschrieben. Machs Auffassung über die Genese der ersten kindlichen und urzeitlichen Entdeckungen ist folgenden Sätzen zu entnehmen: „Rückblickend (auf die Kindheit, auf die Urzeiten) sehen wir mit Staunen, daß unser ganzes weiteres Leben nur eine Fortsetzung unseres damaligen Verhaltens ist; wir bemühten uns, mit unserer Umgebung fertig zu werden, sie zu verstehen und dadurch unseren Willen zu erreichen“ ... „Mit einem Male ist uns nahegerückt, wie ungezählte Generationen, manchmal durch Klima und Boden etwas begünstigt, im dunklen Drange, besser zu leben, aber all- gemein unter Verhältnissen, deren Härte wir gar nicht mehr ein- zuschätzen vermögen, sich durch lange Jahrhunderte bemühten und Werke schufen, deren heutige Endglieder wir in den Händen haben“... „Denken und träumen wir aber über diesen Dingen längst verschwundener Zeiten, so steigen gleich einer Illusion alte Erinnerungen an Erlebtes und Gefühltes auf, und in unsere der- einstige kindliche Empfindungswelt zurückversinkend, ahnen und erwarten wir die mannigfachen Entstehungsweisen und Wege für iene Funde von so unermeßlicher Tragweite.“ Dieses, wie gesagt auch von unserem Standpunkte, durchaus richtige Programm wird aber. von Mach nur unvollkommen aus- 9*

132 Zur Psychogenese der Mechanik

geführt. Da er es verschmäht, die psychoanalytische Methode an- zuwenden, die bewußten Träume und Gedanken, die infantilen Deckerinnerungen durch Aufdeckung ihres unbewußten Hinter- grundes zu ergänzen, ihre Entstellungen rückgängig zu machen, mußten seine Erkenntnisse oberflächlich bleiben, und da die libidi- nösen Motive zumeist verdrängt und unbewußt sind konnten seine Versuche fast überall nur rationalistische Erklärungen für die technischen Fortschritte ergeben, richtiger gesagt: nur die rationelle Seite der Motivierung beleuchten.

Die Tonschalen entstanden zuerst vielleicht „als Ersatz der Hohlhand beim Trinken“, indem etwa „das in hohlen Steinfragmenten sich sammelnde Wasser den Anstoß zur Herstellung von Gefäßen bildete, bloßen Tonklumpen, in die mit der Hand Höhlungen gedrückt wurden.“ Warum aber „der zutage liegende feinplastische Ton immer ein sehr anregendes Material gewesen sein muß“, wird nicht weiter untersucht. Und doch liefert die Psychoanalyse diesen fehlenden Teil der Erklärung, indem sie diese sonderbare „An- regung“ auf ganz bestimmte erotische Komponenten der Libido zurückzuführen gestattet.”

Ebensowenig wird bei Mach danach geforscht, warum zum Beispiel „das Flechten und Drehen textiler Substanzen ein starker Anreiz für den Beschäftigungstrieb ein ständiges Vergnügen“ ist. Mach begnügt sich mit der Annahme eines primären Beschäf- tigungstriebes, dessen Erinnerungsspuren in Zeiten des Bedürfnisses blitzartig auftauchen und verwertet werden. | „Das Glätten vorhandener Rotationskörper, wie das runder Aststäbchen, gehörte wohl mit zu den Spielen primitivster Zeiten. Als Kinder haben wir es unzählige Male ausgeübt und ein solches Stäbchen einmal in irgend einer Rinne ohne axiale Verschiebung mit der Hand hin- und hergerollt, wobei irgend eine Rauhigkeit eine schöne Rinne zog .. .. usw.“ (Urform der Drehbank.)

. „Unsere eigenen spielenden Finger in der frühesten Kind- heit haben uns die Schraube vermittelt; irgend etwas von schrauben- förmiger Struktur war uns in die Hände geraten ... ., es im Spiele drehend, fühlten wir, wie es sich in die Handfläche einbohrte

* S. Freud, Charakter und Änalerotik, sowie die schon zitierte Arbeit des Referenten „Zur Ontogenese des Geldinteresses“.

Zur Psychogenese der Mechanik 133

ein für uns damals besonders rätselhaftes Gefühl, das stets zur Wiederholung lockte . . .“

In ähnlicher Weise erklärt uns Mach das Entstehen der Feuerbohr- und -reibmaschinen, der Wasserschöpf- und Pumpwerkzeuge etc. Immer und überall sieht er das Walten eines Betätigungstriebes, der durch den glücklichen Zufall begünstigt, zu einer Erfindung führt. „Erfindungen werden da gemacht, wo die. Verhältnisse am günstigsten, die Schwierigkeiten am kleinsten sind.“ Nach Mach können sich also Erfindungen „im Laufe riesiger Zeiträume in das Leben unserer Vorfahren ganz ohne das Hinzu- tun besonderer Persönlichkeiten und Individualitäten eingeschlichen haben.“

Die Psychoanalyse lehrt es anders. In einer mehr programma- tischen Arbeit über die Entwicklung des Realitätssinnes” mußte ich auf Grund psychoanalytischer Erfahrungen annehmen, daß sowohl in der individuellen als in der Artentwicklung, also auch in der Entwicklung der Kultur des Menschen, die Not als treibendes Motiv gewirkt haben mag. Ich wies besonders auf die Entbehrungen der Eiszeiten hin, die einen bedeutenden Entwicklungsschub veranlaßt haben mögen. Wenn nach Machs Mitteilung „der Erfindungs- geist des Eskimos nach übereinstimmenden Aussagen uner- schöpflich sein soll“, ist es schwer, eine besondere Begünstigung seitens des Klimas und Bodens als zufällige Ursache der Erfin- dungen anzunehmen. Viel plausibler ist es, besonders anpassungs- fähige Individuen, also Persönlichkeiten zu postulieren, die, den nie fehlenden „Zufall“ in ihren Dienst zwingend, zu. Entdeckern wurden. |

Mit der Anpassung an die Realität sieht aber die Psycho- analyse nur die eine Seite des Problems beleuchtet. Sie lehrt, daß Entdeckungen außer der egoistischen fast immer auch eine libidi- nöse Wurzel im Seelenleben haben. Die Bewegungs- und Beschäf- _ tigungslust des Kindes beim Kneten, Bohren, Wasserschöpfen, Spritzen etc. fließt aus dem Erotismus der Organbetätigung, deren eine Sublimierungsform das „symbolische“ Reproduzieren dieser Tätigkeiten in der Außenwelt darstellt. Gewisse Einzelheiten besonders die Benennungen der Werkzeuge des Menschen

* Internationale Zeitschrift f. ärztl. Psychoanalyse, I. Jahrg. 1913.

134 Zur Psychogenese der Mechanik

zeigen uns noch die Spuren ihrer zum Teile libidinösen Her- kunft.“

Solche Anschauungen liegen aber Mach, der die analytische Psychologie des Menschen nicht kennt, ganz fern. Er nennt sogar die Anschauungen des Hegelianers E. Kapp, „der die mechanischen Konstruktionen als unbewußte Organprojektionen auffaßt“, Witze, die ernst zu nehmen man sich hüten muß, da „durch Mystik in der Wissenschaft nichts klarer“ wird. Die Spencersche Idee aber, wonach die mechanischen Konstruktionen Organ-Verlängerungen sind, sei unverfänglich.

Unserer psychoanalytischen Auffassung widerspricht keine dieser Erklärungen, ja, meiner Anschauung nach widersprechen sie auch einander nicht. Es gibt wirklich primitive Maschinen, die noch nicht Projektionen der Organe, sondern Introjektionen eines Teiles der Außenwelt bedeuten, durch die der Wirkungskreis des Ich ver- srößert wird, so der Stock oder der Hammer.

Die selbsttätige Maschine dagegen ist schon fast reine Organ- projektion: ein Stück der Außenwelt wird mit Menschenwillen „beseeli“ und arbeitet statt unserer Hände. Die Introjektions- und die Projektionsmaschinen wie ich sie nennen möchte schließen einander also nicht aus, sie entsprechen .nur zwei psychischen Ent- wicklungsstufen der Realitätsbewältigung. Der ins Auge springenden Analogie gewisser Maschinen mit Organen”* kann sich übrigens auch Mach nicht ganz entziehen.

Mit all diesen Bemerkungen will ich den großen Wert und die Bedeutsamkeit der Machschen Arbeit durchaus nicht schmälern, mein Zweck war nur, an einem Beispiel zu zeigen, welch reiche Erkenntnis- quellen unsere Gelehrten durch die Nichtberücksichtigung der Psycho-

* Machs Anschauung über diesen Gegenstand, die die libidinösen Triebe gar nicht berücksichtigt, ist ebenso unvollkommen wie die gegenteilige Über- treibung Jungs, nach dem die Werkzeuge nur verdrängte erotische Neigungen reproduzieren wollen, zum Beispiel die Feuerbohrer die unterdrückte Genital- betätigung. Nach unserer Ansicht stammen, wie gesagt, die Entdeckungen aus zwei Quellen, einer egoistischen und einer erotischen. Zuzugeben ist aber, daß für die schließliche Gestaltung des Werkzeuges sehr oft eine libidinöse Organ- funktion vorbildlich ist.

** Vergleiche dazu das instruktive Buch „Die Maschine in der Karikatur,

von Ing. H. Wettich (mit 260 Bildern). Berlin 1916.

Zur Psychogenese der Mechanik 135

analytik vor sich verschließen. Auch wir Psychoanalytiker wünschen nichts sehnlicher als die von Mach in diesem Werke geforderte Zusammenarbeit der Psychologie mit den exakten Wissenschaften, verlangen aber, daß die exakten Wissenschaften in Fragen der Psychogenetik auch unsere psychologischen Untersuchungsmethoden anwenden und die sie interessierenden psychologischen Probleme vom übrigen seelischen Material nicht künstlich isolieren sollen. Mach selbst erachtet es für einen Fehler, „aus der Fülle der auf das Individuum einwirkenden Eindrücke ... gerade die mechanischen zu verfolgen, während in der Natur, im Leben, die verschieden- artigsten instinktiven und empirischen Einblicke sich zweifellos mit- und auseinander dereinst entwickelt haben“ (und darum gibt es in dieser Arbeit Beispiele nicht nur mechanischer, sondern auch metallurgischer, chemisch-technologischer, ja sogar biologischer und toxikologischer Entdeckungen.)

An anderer Stelle des Buches betont er, daß die ganze Mechanik eine Idealisierung ist, eine Abstraktion, die die nicht um- kehrbaren (thermodynamischen) Prozesse exakt darzustellen nicht imstande ist. Mit derselben Uhnparieilichkeit aber, mit der Mach die Grenzen seines Spezialgebietes absteckt, könnte er sich auch eingestehen, daß die aus dem übrigen seelischen Zusammenhange gelöste Betrachtung der Entwicklung unserer mechanischen Fähig- keiten, wie er sich ausdrücken würde, „durch Außerachtlassung und Übersehen notwendig an Wahrscheinlichkeit verlieren“ und eine der Realität entrückte Idealisierung bleiben muß.

Nur noch zu einer Anregung Machs möchten wir Stellung nehmen. „Ein hervorragend wichtiges Hilfsmittel einer experimen- tellen Ethnographie“, meint Mach, „wäre die Beobachtung isolierter, ihrer Umgebung schon in allerersten Anfängen entzogeener und mög- lichst sich selbst überlassener Kinder. Da erfahrungsgemäß Ele- mentarkenntnisse auch von älteren Individuen in kürzester Zeit nach- geholt werden, würde dies keinesfalls einen Eingriff in das Leben des einzelnen bedeuten; anderseits steht bei dem ausschlaggebenden und richtungsbestimmenden Einfluß des Charakters der ersten Entwick- lungsperiode auf das ganze Leben zu erwarten, daß durch ein solches Verfahren gegenteilig hervorragende Qualitäten des einzelnen geweckt und hiedurch neue Werte von großer Tragweite geschaffen würden.“

136 Zur Psychogenese der Mechanik

Ich glaube endlich das entscheidende Argument gegen die Realisierbarkeit dieses, bei Poeten und Philosophen immer und immer wiederkehrenden (weil einem tiefen, eigenen, unbewußten Wunsche entspringenden) Planes der Züchtung von solchen un- kultivierten „Naturkindern“ gefunden zu haben. Einen kleinen Ur- menschen zu erziehen ist darum unmöglich, weil wir den Neu- geborenen soll er von der Kultur absolut nicht berührt werden sofort nach der Geburt in ein Urmenschenmilieu versetzen müßten, etwa in eine Urmenschenfamilie vor der Erfindung der ersten mechanischen Werkzeuge. Daß dies undurchführbar ist, wird wohl jeder ohneweiters einsehen. Höchstens könnte man ihn von einer Draviden- oder Südseeinsulanerfamilie adoptieren lassen; das ist aber durchaus überflüssig, es gibt ja ohnehin Kinder bei den Draviden und Insulanern, der Ethnograph braucht nur hinzureisen, um sie beobachten zu können. Die Idee aber, ein Kind „ohne Milieu“ sich selbst zu überlassen, ist widersinnig; nie noch hat es ein menschliches, auch kein urmenschliches Wesen ohne ent- sprechendes Milieu gegeben, das ihm die schon gewonnene, wenn auch noch so bescheidene Kultur übermittelte. Die Anfänge der Kultur findet man schon bei unseren tierischen Vorfahren, Mach selbst schreibt ja den Affen mechanische Begabung zu. Die vor- geschlagene Art experimenteller Ethnographie wird also niemals zur Tat werden können; auch bin ich nicht sicher, ob aus dem Kinde, das „ohne Milieu“ sich selbst überlassen bliebe, nicht ein Imbeciler würde. Auch die Begabung bedarf ja der Anregung von außen. Die Junglebook-Phantasie bleibt also besser den Poeten überlassen.

Trotz diesen, zum Teil übrigens unwesentlichen Einwendungen muß ich auch nach der Lektüre des Buches Mach für einen Psycho- analytiker erklären, mag sich der kritische Verfasser des Werkes „Erkenntnis und Irrtum“ dagegen noch so scharf verwahren und die Psychoanalyse als „Mystik“ abweisen.

„Wohl unbewußt fußen Empfindung und Verständnis in unserer oder unserer Ahnen Erinnerung“ ... „Kindheits- und Ahnengefühle lassen uns die archaisch angehauchten Kunstwerke so tief ergreifend finden.“ Dies sind Sätze, die ebensowohl in einem psychoanalytischen Aufsatze vorkommen könnten sicher

Zur Psychogenese der Mechanik 137

auch schon vorgekommen sind; auch ist es die Psychoanalyse allein, die für die Tatsächlichkeit dieser Behauptungen exakte Beweise anzuführen imstande ist.

„Von dem Kulturstadium, in das wir hineingeboren sind, auf- genommen, durcheilen wir in einer kurzen Lernzeit (ähnlich wie im fötalen Zustande) ungeheure Arbeits- und Entwicklungszeiten . . .“ Ginge die Kultur plötzlich verloren, so müßten die Maschinen, von den einfachsten Fertigkeiten des Naturmenschen ausgehend, wieder in der alten Reihenfolge aufgebaut werden. Mach scheint hier den unerbittlichen Instanzenzug, der im Psychischen (vielleicht im Organischen überhaupt) herrscht und den Freud zuerst demon- strieren konnte, genial erfaßt zu haben. Er beschreibt die kompli- zierte mechanische (und anderweitige) Kultur als höchste Blüte menschlichen Könnens, die aber auch heute noch in einfachsten Be- tätigungstrieben wurzelt und nur aus fhnen regeneriert werden kann.

Darum macht auch Mach den bisher nur jene Gedanken- arbeit beschäftigte, die sich in der wissenschaftlichen Literatur der Mechanik vollzieht nunmehr den einfachen Arbeiter, das Kind, den Urmenschen zum Objekte seiner Untersuchung; er hat ein- gesehen, daß die Kenntnis einfacherer Verhältnisse „die notwendig vorausgehende Grundlage und Bedingung“ für das Verständnis des Komplizierteren ist. Auch hierin möchten wir einen Parallelismus mit dem Arbeitsplane der Psychoanalytiker erblicken, die ja: über- haupt aus dem kindlichen oder in Traum und Krankheit zur Kind- heit regredierten Seelenleben das Verständnis für die verwickel- testen Kulturleistungen des wachen Normalmenschen holen wollen.

Nicht unerwähnt darf ich den freien animistischen Geist lassen, der dieses Werk eines’ so hervorragenden Kenners der physischen Welt durchweht. Er scheut sich nicht einzubekennen, daß ein Mechanismus für sich unbeweglich sein müßte, da „erst durch die Kraft Bewegung in ein mechanisches System kommt“; Leibnitz aber sprach das glückliche Wort aus: „die Kraft sei etwas der Seele Analoges.“

Wann werden der Physiker, der im Mechanismus die Seele findet, und der Psychoanalytiker, der in der Seele Mechanismen sieht, ein- ander die Hände reichen und an einer von Einseitigkeiten und „Ideali- sierungen“ freien Weltanschauung mit vereinten Kräften arbeiten?

Nachtrag zur „Psychogenese der Miechanik“*

In einer Arbeit über die „Psychogenese der Mechanik“ (Imago, V. Jahrg., Heft 5/6, 1919) underzog ich die letzte Publikation des verstorbenen - Wiener Physikers und Philosophen Ernst Mach: „Kultur und Mechanik“ (Stuttgart 1915) vom Standpunkte der Psychoanalyse einer Kritik. Ich hob unter anderem hervor, daß das Büchlein im Leser den Eindruck erweckt, als hätten dem Autor bei seiner Idee, die infantilen Elemente des Sinnes für Mechanik bei seinem erwachsenen Sohne mittels methodischer Erinnerungs- Anstrengungen aufzudecken, die Freudschen Forschungen vor- geschwebt. Aus der Tatsache, daß Freud bei Mach nirgends zitiert wird und aus der einseitig intellektualistischen Betrachtungs- weise des Werkchens schloß ich aber, daß Mach vielleicht unab- hängig von Freud auf diese Idee verfiel. Nun macht mich aber Herr Ingenieur Dr. Patai darauf aufmerksam, daß sich schon in den 1896 verfaßten „Prinzipien der Wärmelehre“ (auf S. 443, 444 der II. Auflage) eine Notiz findet, die uns beweist, daß Mach mit der Grundidee der Psychoanalyse längst vertraut war, als er sein Buch von den psychologischen Bedingungen der Entwicklung _ des Sinnes für Mechanik schrieb, und wenn er deren dort keine Erwähnung tut, wir es mit einem Falle von kryptomnestischer Wiederentdeckung einer Idee zu tun haben.

Es ist bezeichnend, daß die von Mach vergessene Stelle sich gerade mit dem Unbewußtwerden und Fortwirken gewisser Vor-

* Aus „Imago“, VI. Jahrgang, 1920.

Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“ 139

stellungen beschäftigt. Er spricht dort von der „merkwürdigen Tatsache, daß eine Vorstellung sozusagen fortlebt und fortwirkt, ohne daß sie im Bewußtsein ist“... „In dieser Beziehung dürften die vortrefflichen Beobachtungen von W. Robert über den Traum (Hamburg 1886) aufklärend wirken. Robert hat beobachtet, daß die bei Tage gestörten, unterbrochenen ÄAssoziationsreihen bei Nacht sich als Träume fortspinnen“ ... „Ich habe Roberts Be- obachtungen in unzähligen Fällen an mir bestätigt gefunden und kann auch hinzufügen, daß man sich unangenehme Träume erspart, wenn man unangenehme Gedanken, die sich durch zufällige Anlässe ergeben, bei Tage vollkommen ausdenkt, sich darüber ausspricht oder ausschreibt, welches Verfahren auch allen zu düsteren Gedanken nei- genden Personen angelegentlichst zu empfehlen ist. Den Robertschen Erscheinungen verwandte kann man auch im wachen Zustande beobachten. Ich pflege mich zu waschen, wenn ich einen Händedruck von feuchter, schwitzender Hand erhalten habe. Werde ich durch einen zufälligen Umstand daran verhindert, so verbleibt mir ein unbehagliches Gefühl, dessen Grund ich zuweilen ganz ver- gesse, von dem ich aber erst befreit bin, wenn es mir einfällt, daß ich mich waschen wollte und wenn dies geschehen ist. Es ist also wohl wahrscheinlich, daß einmal gesetzte Vorstellungen, auch wenn sie nicht mehr im Bewußtsein sind, ihr Leben fort- setzen. Dasselbe scheint dann besonders intensiv zu sein, wenn dieselben beim Eintritt ins Bewußtsein verhindert wurden, die assoziierten Vorstellungen, Bewegungen usw. auszulösen. Sie scheinen dann wie eine Art Ladung zu wirken... Einigermaßen ver- wandte Phänomene sind jene, welche Breuer und Freud in ihrem Buche über Hysterie beschrieben haben.“

Daß es sich hier wirklich um eine kryptomnestische Entdeckung handelt, wird durch den Umstand bestärkt, daß der Anlaß, der Mach zu dieser psychologischen Abschweifung verleitete, gerade eine Arbeit war, in der der Autor über die wissenschaftliche Entdeckungen begünstigenden oder behindernden Bedingungen schrieb. („Korrektur wissenschaftlicher Ansichten durch zufällige Umstände“, S. 441.) Er spricht unter anderem von der Bedeutung des Zufalls auch im technischen Leben; „sie kann durch die

140 Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“

Erfindung des Fernrohres, der Dampfmaschine, der Lithographie, der Daguerrotypie usw. erläutert werden. Analoge Prozesse lassen sich endlich bis in die Anfänge der menschlichen Kultur zurück- verfolgen. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die wich- tigsten Kulturfortschritte ... . nicht mit Plan und Absicht, sondern durch zufällige Umstände eingeleitet worden sind... .“ Dieser Gedankengang wird nun in dem von mir referierten letzten Werke Machs (Kultur und Mechanik) mit aller Ausführlichkeit wiederholt, dann werden die Resultate der erwähnten Erinnerungsversuche mit seinem technisch begabten Sohne mitgeteilt, nur das in den „Prinzipien“ zitierte Werk von Breuer und Freud, das bekanntlich gerade in methodischen Versuchen zur Auffrischung längstver- gessener Erinnerungen gipfelte, also Mach als Vorbild zu seiner Theorie und Methodik gedient haben muß, bleibt unerwähnt; die Erinnerung daran a offenbar der Verdrängung.

Der Psychoanalytiker darf den Versuch wagen, auch die Motive solcher Verdrängung aus gewissen Anzeichen zu erraten. Wo Mach die Wirksamkeit unerledigter, unbewußter Vorstellungs- komplexe mit einem selbsterlebten Beispiele illustrieren will, verrät er uns ein Stück seiner Hemmung, die vielleicht mehr als über- triebene Reinlichkeit und Pedanterie war“. Solche Überempfind- lichkeit gegen die Berührung von Körperfeuchtigkeit und die Phobie vor der Feuchtigkeit der Hand findet laut anderen Analysen in der Abwehr bestimmter sexueller Vorstellungen und Erinnerungen ihre letzte Quelle. Solche Personen pflegen auch vor der gei- stigen Berührung mit sexuellen Dingen zurückzuschrecken.

Nun waren die ersten Mitteilungen von Breuer und Freud beinahe „asexuell“. Erst die spätere Erfahrung zwang Freud zur Ergänzung der Neurosenlehre durch die Sexualtheorie. Es scheint, daß Mach diese Forschungen des (an derselben Universität leh- renden) Prof. Freud nicht ganz unbekannt und höchst unsympathisch gewesen sind und als solche abgelehnt und vergessen wurden. Die

* Über die unbewußte Bedeutung angeführter Beispiele überhaupt siehe

meinen Aufsatz „Zur psychoanalytischen Technik“, 3. Abschnitt: Das „Zum Bei- spiel“ in der Analyse. (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, V., 1919, S. 187.) ..

Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“ 141

mit der Sexualtheorie verknüpfte Unlust riß aber auch die Er- innerungen-an die noch „harmlosen“ Breuer-Freudschen „Hysterie- Analysen“ mit in die Verdrängung. Darum werden sie in der „Kultur und Mechanik“ nicht zitiert, obzwar sie in-den „Prinzipien“ als weit entfernte Änalogien noch erwähnt werden, und darum mußte Mach die ihm von Breuer und Freud eingegebene Idee von den methodischen Erinnerungs-Änstrengungen (kryptomnestisch) wiederentdecken.

Nun verstehen wir auch, warum Mach die Psychogenese des Sinnes für Mechanik nur als fortschreitende Entfaltung der Intelligenz auffaßt, und wo er aufs Triebhafte zu sprechen kommt, sich mit der Annahme eines „Betätigungstriebes“ begnügt, der sich des günstigen Zufalls bedienend, zu Entdeckungen führt, während die psychoanalytische Betrachtung, der er sich aus ihm unbewußten Motiven entzog, die weitere Zerlegung jenes Betätigungstriebes und den Nachweis der sexuellen Elemente darin gestattet hätte.”

* Ich entdeckte nachträglich auch in den Breuer-Freud’schen Studien Über Hysterie (II. Auflage 184) eine Notiz, die die Mach’schen „Bewegungsempfin- dungen“ mit hysterischen Phänomenen in Parallele bringt. Umso wahrscheinlicher, daß sich Mach mit den „Studien“ eingehender beschäftigte.

Symbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Odipus-Mythos*

(Gedeutet durch Schopenhauer)

„Jedes Werk hat seinen Ursprung in einem glücklichen Ein- - fall, und dieser gibt die Wollust der Konzeption: die Geburt aber, die Ausführung, ist, wenigstens bei mir, nicht ohne Pein: denn als- dann stehe ich vor meinem eigenen Geist, wie ein unerbittlicher Richter vor einem Gefangenen, der auf der Folter liegt, und lasse ihn antworten, bis nichts mehr zu fragen übrig ist. Einzig aus dem Mangel an jener Redlichkeit scheinen mir fast alle Irrtümer und unsäglichen Verkehrtheiten entsprungen zu sein, davon die Theorien und Philosophien so voll sind. Man fand die Wahrheit nicht, bloß darum, daß man sie nicht suchte, sondern statt ihrer immer nur irgendeine vorgefaßte Meinung wiederzufinden beabsichtigte, oder wenigstens eine Lieblingsidee durchaus nicht verletzen wollte, zu diesem Zwecke aber Winkelzüge gegen andere und sich selbst an- wenden mußte. Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den Philosophen macht. Dieser muß dem Ödipus des Sophokles gleichen, der, Aufklärung über sein eigenes schreckliches Schicksal suchend, rast- los weiter forscht, selbst wenn er schon ahndet, daß sich aus den Äntworten das Entsetzlichste für ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den Ödipus um aller Götter willen bittet, nicht weiter zu forschen: und sie gaben ihr nach, und darum

* „Imago“, I. Jahrgang 1912.

Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 143

steht es auch mit der Philosophie noch immer wie es steht.“ Wie Odin am Höllentor die alte Seherin in ihrem Grabe immer weiter ausfrägt, ihres Sträubens und Weigerns und Bittens um Ruhe ohngeachtet, so muß der Philosoph unerbittlich sich selbst ausfragen. Dieser philosophische Mut aber, der eins ist mit der Treue und Redlichkeit des Forschens, die Sie mir zuerkennen, entspringt nicht aus der Reflexion, läßt sich, nicht durch Vorsätze erzwingen, sondern ist angeborene Richtung des Geistes . . .“

(Aus einem Briefe Schopenhauers an Goethe, nach Über- sendung des Manuskripts „Über das Sehen und die Farben“; datiert vom 11. November 1815.)

Die tiefe und gedrängte Weisheit dieser Sätze verdient etwas auseinandergelegt und mit den Ergebnissen der Psychoanalyse zu- sammengehalten zu werden.

Was Schopenhauer über die zur wissenschaftlichen (philosophi- schen) Produktion erforderliche psychische Einstellung sagt, klingt wie die Anwendung der Freudschen Formel über die Prinzipien des psychischen Geschehens”* auf die Wissenschaftslehre. Freud unterscheidet zwei solcher Prinzipien: Das Lustprinzip, das bei primitiven Wesen (Tieren, Kindern, Wilden) sowie in primitiveren seelischen Zuständen (in Traum, Witz, Phantasie, Neurose, Psychose) die führende Rolle spielt und Vorgänge zustandekommen läßt, die nur danach streben, auf dem kürzesten Wege Lust zu gewinnen, während sich die psychische Tätigkeit von solchen Akten, welche Unlust erzeugen könnten, zurückzieht (Verdrängung). Sodann das Realitätsprinzip, das höhere Entwicklung und Wachsein des psychischen Apparates voraussetzt und dadurch charakteri- siert ist, daß „an Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der auftauchenden Vorstellungen als unlusterzeugend von der Be- setzung ausschloß, die unparteiische Urteilsfällung tritt, welche, entscheiden soll, ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch, das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht, und durch Vergleichung mit den Erinnerungsspuren der Realität darüber entscheidet.“

* Vom Ref. gesperrt.

** Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, IN. Band, S. 1.

144 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos

Nur eine Art der Denktätigkeit bleibt auch nach Einsetzung des höheren Prinzips von der Realitätsprüfung frei gehalten und allein dem Lustprinzip unterworfen: das Phantasieren, während die Überwin- dung des Lustprinzips am gründlichsten der Wissenschaft gelingt.*

Die eingangs zitierte Ansicht Schopenhauers über die zur wissenschaftlichen Tätigkeit erforderliche Geistesverfassung würde also in Freuds Terminologie umgegossen etwa so lauten: der Gelehrte darf (und soll) seine Phantasie spielen lassen, um so die „Wollust der Konzeption“ genießen zu können (neue Einfälle sind eben auf andere Art nicht zu haben”*); aber damit aus den phantastischen Einfällen Wissenschaft wird, müssen diese erst einer mühevollen Realitätsprüfung unterworfen werden.

Schopenhauer hat es mit Scharfblick erkannt, daß die größten Widerstände, die sich selbst beim Gelehrten gegen die vorurteils- lose Prüfung der Realität erheben, nicht verstandesmäßiger, sondern affektiver Natur sind. Auch der Gelehrte hat menschliche Schwächen und Leidenschaften: Eitelkeit, Eifersucht, moralische und religiöse Parteistellung wollen ihn blind machen einer Wahrheit gegenüber, die ihm unangenehm ist, und allzu geneigt, einen Irrtum, der in sein persönliches System paßt, für wahr zu halten.

Die Psychoanalyse kann die Forderung Schopenhauers nur an einem einzigen Punkte vervollständigen. Sie fand, daß die inneren Widerstände in der frühesten Kindheit fixiert und vollkommen un- bewußt sein können, verlangt also von jedem Psychologen, der an das Studium der Menschenseele herantritt, zuvor seine eigene angeborene und erworbene seelische Verfassung bis in die tiefsten Schichten und mit allen Hilfsmitteln der analytischen Technik zu durchforschen. |

Unbewußte Affekte können aber nicht nur in der Psychologie, sondern auch in allen anderen Wissenschaften die Wahrheit ver- fälschen. Die Forderung Schopenhauers müßten wir also so formu- lieren: Jedermann, der wissenschaftlich arbeitet, sollte sich zuerst einer methodischen Psychoanalyse unterziehen.

* Freud, I. c., $. 4..

* Siehe dazu Alfr. Robitsek „Symbolisches Denken in der chemischen Forschung“, „Imago“ (Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften), I. Jahrgang, Heft 1.

Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 145

Die Vorteile, die der Wissenschaft aus dieser vertieften Selbst- erkenntnis der Gelehrten erwüchsen, liegen auf der Hand. Eine ungeheure Menge von Arbeitskraft, die jetzt auf infantil anmutende Streitigkeiten und Prioritätskämpfe vergeudet wird, könnte in den Dienst ernsterer Zwecke gestellt werden. Die Gefahr, daß man „Eigentümlichkeiten seiner Person als allgemeingültige Theorie in die Wissenschaft hinausprojiziert“ (Freud*), würde viel geringer werden. Auch die feindselige Tendenz, mit der auch heutzutage neue, un- gewohnte Ideen oder wissenschaftliche Vorschläge unbekannter, durch keine Autorität gestützter Persönlichkeiten empfangen werden, könnte einer vorurteilsfreieren Realitätsprüfung weichen. Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß durch die Einhaltung dieser Maßregel der Selbstanalyse die Entwicklung der Wissenschaften, heute eine endlose Kette von kräftevergeudenden Revolutionen und Reaktionen, einen viel ruhigeren und doch ersprießlicheren, wohl auch be- schleunigteren, Gang nehmen könnte.

Es ist nun durchaus kein Zufall, daß Schopenhauer, als er die richtige psychische Einstellung des Gelehrten bei der geistigen Produktion und die inneren Widerstände, die sich gegen diese richtige Arbeitsweise erheben, durch ein Bild verdeutlichen wollte, sofort der Ödipus-Mythus eingefallen ist. Wäre er wie wir’ Analytiker von der strengen Determinierbarkeit jedes psy- chischen Aktes überzeugt gewesen, so hätte ihn dieser Einfall zum Nachdenken anregen müssen. Uns, die wir uns im glücklichen Be- sitze der Freudschen Psychologie befinden (welche wie ein geistiger Dietrich so manches bisher für üunaufschließbar gehaltene Schloß mit Leichtigkeit öffnet), fällt es gar nicht schwer, dieses Stück Analyse nachzuholen. Dieser Einfall Schopenhauers deutet an, es sei ihm unbewußt gegenwärtig gewesen, daß von allen inneren Widerständen der Widerstand gegen die infantile Fixierung. an feindselige Tendenzen dem Vater und an inzestuöse der Mutter gegenüber die allerbedeutsamsten sind.

Diese durch die kulturelle Erziehung der Rasse und des Einzelwesens für das Bewußtsein höchst unlustvoll gewordenen, daher verdrängten Tendenzen ziehen eine große Menge anderer,

* Freud, Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung.

(Zentralblatt für Psychoanalyse, II. Jahrgang.) 10

146 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos

mit diesen Komplexen assoziierter Vorstellungen und Tendenzen mit sich in die Verdrängung und schalten sie aus dem freien Gedankenverkehre aus oder lassen sie zumindest nicht mehr mit wissenschaftlicher Sachlichkeit behandeln.

Der „Ödipus-Komplex“ ist nicht nur der Kernkomplex der Neurose (Freud); die Art der Stellungnahme zu ihm bestimmt auch die wichtigsten Charakterzüge des normalen Menschen und z. T. auch die größere oder geringere Objektivität eines Gelehrten. Ein Mann der Wissenschaft, den die Inzestschranke daran hindert, die in ihm etwa auch Blutverwandten gegenüber aufkeimenden Liebes- und unehrerbietigen Neigungen sich einzugestehen, wird um die Verdrängung dieser Neigungen zu sichern auch die Taten, Werke und Gedanken anderer als elterlicher Autoritäten nicht mit der von der Wissenschaft geforderten Uhnparteilichkeit auf ihre Realität prüfen wollen und können.

Den unbewußten Gefühls- und Gedankeninhalt, der sich hinter dem Wortlaut des Ödipus-Mythos versteckt, konnte also selbst der sonst so scharfblickende Schopenhauer nicht enträtseln. Er wie die ganze Kulturmenschheit bis Freud übersah, dab dieser Mythos eine entstellte Wunschphantasie ist, die Projektion verdrängter Wunschregungen (Vaterhaß, Mutterliebe) mit ver- ändertem Lustvorzeichen (Abscheu, Grausen) auf eine äußere Macht, das „Schicksal“. Diese Rekonstruktion des eigentlichen Sinnes des Mythos, die Deutung desselben als „materialen Phänomens“ (Silberer) lag also dem Philosophen ferne. Er stand ja selber wie ich glaube beim Schreiben dieses Briefes gerade unter der Herrschaft von Affekten, die ihm diese Einsicht verwehrt hätten.

Der aktuelle Anlaß, der Schopenhauer gerade den Vergleich seiner selbst mit Ödipus wählen ließ, läßt sich nämlich aus den übrigen Teilen des Briefes erraten. Der verkannt gewesene Philosoph sieht sich zum ersten Male von einem Manne von der Größe und vom Ansehen Goethes anerkannt. Er antwortet ihm in Ausdrücken der Dankbarkeit, wie wir sie vom stolzen, selbstbewußten Scho- penhauer nicht gewohnt sind. „Ew. Excellenz haben mir durch Ihr gütiges Schreiben eine große Freude gemacht, weil alles, was von Ihnen kommt, für mich von unschätzbarem Wert, ja mir ein Heilig-

Darstellung des Lust- und Realitatsprinzips im Oedipus-Mythos 147

tum ist. Überdies enthält Ihr Brief das Lob meiner Arbeit, und Ihr Beifall überwiegt in meiner Schätzung jeden anderen . . .“

Das klingt förmlich wie die enthusiastische Danksagung eines Menschen an einen älteren angesehenen Mann, in dem er den lange gesuchten Gönner zu finden, d. h. den Vater wiederzufinden hofft. Nebst Gott, König und Nationalhelden sind eben auch Geistes- heroen wie Goethe „revenants“ des Vaters für zahllose Menschen, die alle Gefühle der Dankbarkeit und Achtung, die sie einstmal

ihrem leiblichen Vater zollten, auf diese übertragen. Das Zitieren des Odipus-Mythos nachher könnte aber sehr wohl eine unbewußte Reaktion gegen diese vielleicht etwas zu überschwänglich

geratene Danksagung an den Vater sein, die die feindseligen Tendenzen der im Grunde .ambivalenten Gefühlseinstellung des Sohnes dem Vater gegenüber zu Worte kommen läßt.

Vielleicht gerade mit Zuhilfenahme der von der materialen Bedeutung abgelenkten Aufmerksamkeit gelang es Schopenhauer in diesem Briefe, die selbst den Psychoanalytikern bislang ent- gangene funktionale Symbolik gewisser Einzelheiten des Ödipus-

Mythos zu entziffern.

Funktionale Symbolphänomene nennt Silberer solche in Träumen, Phantasien, Mythen etc. vorkommende Bilder, in denen nicht das Inhaltliche des Denkens und Vorstellens, sondern die Funktionsweise der Psyche, z. B. deren Leichtigkeit, Be- schwerlichkeit, Gehemmtsein etc. indirekt dargestellt wird*.

Wenn wir Schopenhauers Vergleich gutheißen und ihn in die analytisch-wissenschaftliche Sprache übersetzen, so müssen wir sagen, daß die zwei Hauptpersonen der Sophokleischen Tragödie auch die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens symbolisieren. Ödipus, der, „Aufklärung über sein schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht, selbst wenn er schon ahndet, daß sich aus den Antworten das Entsetzlichste für ihn ergeben wird,“ stellt das Realitätsprinzip im Menschengeiste dar, das keine der auftauchen-

* Vol. dazu Silberers durchaus originelle und inhaltsı . ‘he Arbeiten über Symbolik, besonders: „Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Hallu- zinations-Erscheinungen hervorzurufen.“ (Jahrbuch für Psychoanalyse, I. Band, 2. Hälfte.) „Phantasie und Mythos.“ (Jahrbuch, II. Band, 2. Hälfte.) „Symbolik des Erwachens etc.“ (Jahrbuch, II. Band, 2. Hälfte.) „Über ne (Ibidem).

- 10*

148 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Dede Methös.

den Vorstellungen, auch die Unlust erzeugenden nicht, zu ver- drängen gestattet, sondern alle gleichmäßig auf ihren Wahrheits- gehalt zu prüfen gebietet. Jokaste, „welche den Ödipus um aller Götter willen bittet, nicht weiter zu forschen“, ist die Personi- fizierung des Lustprinzips, das, unbekümmert um objektive Wahrheit, nichts anderes anstrebt, als dem Ich Unlust zu ersparen, womöglich Lust zu gewinnen, und das, um dieses Ziel zu erreichen, alle Vor- stellungen und Gedanken, die Unlust zu entbinden drohen, wo- möglich ins Unbewußte verbannt.

Durch die Deutung Schopenhauers und deren schlagende analytische Bestätigung ermutigt, wage ich es, einen Schritt weiter zu gehen und die Frage aufzuwerfen, ob es denn reiner Zufall ist, daß im Ödipus-Mythos sowohl, als auch in der von unserem Philosophen gleichfalls zitierten Edda-Sage das Realitätsprinzip durch Männer (Ödipus, Wotan), das Lustprinzip durch Weiber (Jokaste, Erda) dargestellt wird? Der Psychoanalytiker ist nicht gewohnt, voreilig beim „Zufälligen“ Zuflucht zu nehmen, und wird eher geneigt sein, dem Griechen- und Germanenvolke sowohl, als Sophokles und Schopenhauer die unbewußte Kenntnis von der psychischen Bisexualität eines jeden Menschen zuzumuten. Scho- penhauer sagt ja geradezu, daß die meisten Menschen den Ödipus und die Jokaste in sich tragen. Nicht schlecht würde zu dieser Deutung stimmen, daß nach alltäglicher Erfahrung die Verdrängungs- neigung, also das Lustprinzip, tatsächlich beim Weibe, die Fähig- keit zu objektiver Urteilsfällung und zum Ertragen schmerzlicher Einsichten, d. h. das Realitätsprinzip, im allgemeinen beim Manne vorherrscht.

Der durch individualpsychologische Erfahrungen geschärfte Blick wird in der Tragödie des Sophokles gewiß noch zahlreiche bedeut- same Symbole entdecken und lösen können. Ich will nur noch auf zwei sehr auffallende hinweisen, beide von der Kategorie der „somatischen Symbolphänomene“ Silberers, in denen sich also körperliche Zustände widerspiegeln. Da ist gleich der Name des tragischen Helden Ödipus, der im Griechischen (oideo = schwellen, pous=Fuß) Schwellfuß bedeutet. Diese anscheinend sinnlose, ja befremdende Namengebung verliert sofort diesen Charakter, wenn wir wissen, daß in Träumen und Witzen sowohl, als auch in der

Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 149

fetischistischen Verehrung des Fußes oder in der neurotischen Angst vor diesem Glied, ihm symbolisch die Bedeutung des männlichen Genitales zukommt.

Daß dieses Glied im Namen des Helden als geschwellt vor- gestellt wird, wird durch dessen Erektilität genügend erklärt. Übrigens kann es uns nicht Wunder nehmen, daß der Mythos den Menschen, der die als ungeheuerlich, aber gewiß auch als übermenschlich ge- dachte Leistung des Geschlechtsverkehrs mit der Mutter vollführte, ganz und gar mit einem Phallus identifizierte.

Das andere somatische Symbolphänomen ist die Selbst- blendung des Ödipus zur Strafe seiner unbewußt begangenen Sünden. Der Tragöde gibt zwar die Erklärung für diese Strafe: „Was noch sollt’ ich sehen“, „was ist mir noch Blickes, noch Wun- sches wert“, läßt er den Ödipus (nicht ganz unzweideutig) aus- rufen. Gewisse psychoanalytische Erfahrungen aber, bei denen die Augen regelmäßig als Symbole der Geschlechtswerkzeuge gedeutet werden mußten, gestatten es, daß ich die Selbstblendung als Ver- schiebung der eigentlich gemeinten Selbstentmannung des Ödipus, also der hier viel verständlicheren Talionstrafe deute. Auf die entsetzte Frage des Chors aber: „Wie vermochst du dein Gesicht So auszulöschen ? Welcher Gott empörte Dich,“ ant- wortet der Held:

„Es war Phöbos, teurer Mann, Phöbos war’s Der all dieses mir, dies Leid all vollbracht.“

Also der Sonne, dem typischesten Vatersymbol*, durfte der Held nicht mehr in die Augen sehen, was eine zweite Deter- minante der Entstellung der Kastrationsstrafe zur Blendung abge- geben haben mag**. |

* Freud, Nachtrag zur Analyse Schrebers (Jahrbuch f. Psychoanal. III. Bd.).

** Dem praktisch geübten Psychoanalytiker werden diese Symboldeutungen sofort einleuchten, da er sie in seinen Traumanalysen ungezählte Male bestätigt finden kann. Während der Durchsicht dieser Arbeit erhielt ich aber von Herrn O. Rank die Mitteilung, daß die Richtigkeit sowohl der hier versuchten Deutung des Namens Ödipus wie auch der sexualsymbolischen Erklärung der Selbst- blendung sich auch aus vergleichend-mythologischen Studien mit Sicherheit ergibt. In seinem soeben erschienenen Werke „Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage (Wien, Leipzig 1912) werden diese Deutungen mit reichem Tatsachen- material belegt, das deren Annahme auch dem Nichtanalytiker ermöglicht.

150 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos

Haben wir uns einmal diese Deutungen zu eigen gemacht, so muß in uns die Verwunderung darüber aufsteigen, daß es der Volksseele gelungen sein soll, in diesem Mythos die allerdings entstellte Erkenntnis vom bedeutsamsten Inhalte, dem Kern- Komplexe des Unbewußten (d. h. dem Elternkomplex) mit der allgemeinsten und umfassendsten, zwar nur symbolisch ausgedrückten Formel des psychischen Geschehens zu verdichten. Unsere Ver- wunderung macht aber dem Verständnis Platz, wenn wir erst aus den grundlegenden mytho-psychologischen Arbeiten Otto Ranks die Arbeitsweise der dichtenden Volksseele erfassen gelernt haben. Rank zeigt uns an einem schönen Beispiele*, daß der einzelne Dichter „vermöge seiner eigenen Komplexbetonung zur Verdeut- lichung und Uhnterstreichung gewisser Züge eines überlieferten Stoffes gelangt“, daß aber auch die sogenannten Volksproduktionen als das Werk zahlreicher oder zahlloser Einzelindividuen zu be- trachten sind, die als Urheber, Fortpflanzer und Ausschmücker einer Überlieferung zu denken sind. „Nur geht hier“ sagt Rank weiter „die Erzählung durch eine Reihe, offenbar in ähnlicher Weise eingestellter Individualpsychen hindurch, von denen jede in der gleichen Richtung an der Hervorbringung der allgemein- menschlichen Motive und ‘der Abschleifung manches sie störenden Beiwerks oft generationenlang arbeitet“.

Nach der doppelten Deutung des Ödipus-Mythos können wir uns den von Rank geschilderten Kristallisierungsprozeß unseres Mythos etwa so vorstellen:

Bedeutsame aber unbewußte psychische Inhalte (agressive Phantasien gegen den Vater, Libido zur Mutter mit Erektions- neigung, Angst, daß der Vater die sündhafte Absicht mit der Kastrationsstrafe ahnden würde) verschafften sich, jeder für sich, indirekte symbolische Vertretungen im Bewußtsein aller Männer. Menschen mit besonderen schöpferischen Fähigkeiten, die Dichter, verliehen diesen universellen Symbolen Ausdruck. So dürften zunächst einzeln, von einander unabhängig, die mythischen Motive der Aussetzung durch die Eltern, des Sieges über den Vater, des unbewußten Verkehrs mit der Mutter, der Selbstblendung ent-

* O. Rank „Der Sinn der Griselda-Fabel“. (Imago, Zeitschrift für An- wendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. I. Jahrgang, Heft 1).

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Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 151

standen sein. Im Laufe der von Rank wahrscheinlich gemachten Wan- derung der Mythen durch unzählige dichterische Individualpsychen kam es sekundär zur Verdichtung der Einzelmotive, zu einer größeren Einheit, die sich dann als dauerhaft erwies und die sich ziemlich gleichartig bei allen Völkern und zu allen Zeiten neu bildete.*

Es ist aber wahrscheinlich, daß, wie in diesem, so auch in jedem anderen Mythos, ja vielleicht bei der geistigen Produktion überhaupt, der Tendenz, psychischen Inhalten Ausdruck zu ver- leihen, auch die unbewußte Absicht parallel läuft, die bei der Be- wältigung dieser Inhalte betätigte seelische Funktionsweise zur Darstellung zu bringen**. Erst diese letzte Verschmelzung ergäbe dann den fertigen Mythos, der, ohne an seiner Wirkung auf die Menschen je etwas einzubüßen, jahrhundertelang unverändert über- liefert wird. |

So der Ödipus-Mythos, in dem nicht nur die tiefstverdrängten Gefühl- und Gedankenkomplexe des Menschen, sondern auch das Spiel der seelischen Kräfte bildlich dargestellt wird, die sich beim bewußten Bewältigenwollen solcher Inhalte, und zwar nach Ge- schlecht und Individualität verschieden, betätigen.

Für die Richtigkeit dieser Deutung mögen einige Stellen der Tragödie selbst Zeugenschaft ablegen””*:

ÖDIPUS: Wie? Muß der Mutter Bette mich nicht ängstigen?

JOKASTE: Was soll der Mensch doch fürchten, den das Ohngefähr

Beherrscht und nirgends klares Vorgefühl regiert?

Er lebt am Besten leicht dahin, wie er’s vermag.f Und du erschrick nicht vor der Mutter Brautgemach.

Wohl viele schon der Menschen sah’n in Träumen sich

Der Mutter zugelagert. Doch wer alles dies

Für nichtig achtet, trägt allein das Leben leicht.

* S, dazu: Rank, Mythus von der Geburt des Helden. (Schriften zur angew. Seelenkunde, V. Heft).

* Silberer, dem die Begriffsbestimmung der funktionalen Symbolik zu verdanken ist, zitiert eine lange Reihe von Mythen und Märchen, die sich in materielle und funktionale Symbolphänomene auflösen lassen. („Phantasie und Mythos“, Jahrbuch für Psychoanalyse, II. Band, 2. Heft).

*** Sophokles. Übersetzt von G. Thudichum. (Leipzig. Reclam).

+ Die typographischen Hervorhebungen sind vom Ref.

152 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos JOKASTE (zu Ödipus, der, nach der schrecklichen Wahrheit forschend,

den einzigen Zeugen des Frevels zu sich bescheidet) :

... Merke nicht darauf und dem

Was sie gesprochen, sinne nicht vergebens nach. ÖDIPUS: Das sei mir ferne, daß ich nicht, nach diesen mir

Gebot’nen Zeichen, mein Geschlecht enthüllen soll! JOKASTE: Nein, bei den Göttern, so gewiß dein Leben dir

Lieb ist, ergründ’ es nicht! Genug ist meine Qual!

000 A A A A

JOKASTE: Und dennoch folg’ mir! Tu’ es nicht! Ich bitte dich. ÖDIPUS: Ich folge nicht dir, eh’ ich klar das alles weiß. JOKASTE: Und wohl es meinend, nur das Beste rat’ ich dir. ÖDIPUS: Doch eben dieses Beste quält mich lange schon. JOKASTE: Unsel’ger, daß du nie erkenntest wer du bist.

ÖDIPUS: Es breche, was da brechen mag; ich aber will Auch wenn es klein ist, mein Geschlecht ergründet sehen.

m EEE EEE EEE EEE

DER HIRT (der mit der Tötung des neugeborenen Ödipus betraut war, ihn aber seinerzeit aussetzen ließ): Weh’ mir, nun soll ich sagen das Entsetzliche!

ÖDIPUS: Und ich es hören. Doch es muß gehöret sein!

„Die Jokaste in uns“, wie Schopenhauser sagt, das Lust- prinzip, wie wir es ausdrücken, will also, daß der Mensch „leicht dahinleben soll, wie er vermag“, daß er die Dinge, die ihn ängsti- gen, „für nichtig achte“ (unterdrücke), z. B. Phantasien und Träume vom Tode des Vaters und vom Geschlechtsverkehr mit der Mutter mit der oberflächlichsten Motivierung alle Bedeutsamkeit abspreche, auf unangenehme und gefährliche Reden nicht achte, dem Ur- sprunge der Dinge nicht nachgehe, besonders aber warnt es davor, daß der Mensch erkenne, wer er ist.

Das Realitätsprinzip aber, der Ödipus in der Menschenseele, läßt sich durch die Lockungen der Lust nicht davon abhalten, auch der zunächst bitteren oder gar entsetzlich wirkenden Wahrheit auf den Grund zu gehen; es schätzt nichts so gering, daß es einer

n

Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 153

Prüfung nicht wert wäre; es schämt sich nicht, selbst in den aber- gläubischen Vorhersagen und Träumen den wahren psychologischen Kern zu suchen, und lernt es ertragen, daß im Innersten der Seele aggressive und sexuelle Instinkte hausen, die selbst vor den Schran- ken nicht halt machen, die die Kultur zwischen dem Sohne und

seinen Eltern errichtet hat.

Cornelia, die Mutter der Gracchen*

Cornelia war viele Jahre lang die Frau des Tiberius Sem- pronius, dem sie zwölf Kinder schenkte. Zwei Söhne, Tiberius und Cajus, und eine Tochter, Sempronia (die dann Scipio Africanus Junior heiratete), blieben ihr erhalten. Nach dem Tode ihres Gatten schlug sie die Hand des ägyptischen Königs Ptolo- mäus aus, um sich ausschließlich ihren Kindern zu widmen. Über ihr Geschmeide befragt, antwortete sie einmal, auf ihre Kinder zeigend: „Dies sind meine Schätze, meine Juwelen.“ Das traurige Los ihrer beiden Söhne ertrug sie standhaft in der größten Zurückgezogenheit. Cornelia war eine der edelsten Frauen Roms, die man auch ob ihrer großen Bildung verehrte; die Sprach- schönheit ihrer Briefe wurde viel bewundert. Das römische Volk verewigte das Andenken der „Mutter der Gracchen“ in einer ehernen Statue.”*

. Soviel erfahren wir über diese- edle Römerin von Plutar- chos; die Nachrichten über ihre Person stammen aber durchwegs aus zweiter Hand und auch die in den Schriften des Cornelius Nepos erhaltenen zwei Brieffragmente werden von Sachverständigen nicht für echt gehalten.

Man darf es gewiß für eine Verwegenheit halten, wenn ich mich getraue, nach mehr als zwei Jahrtausenden einen neuen Bei- trag zum Verständnis des Charakters der Cornelia zu liefern. Seine Veröffentlichung in dieser Zeitschrift läßt es aber erraten,

* Erschienen in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, V. Jahrgang (1919).

** Aus dem Artikel „Cornelia“ des ung. „Pallas“-Lexikons.

Cornelia, die Mutter der Gracchen 155

daß ich ihn nicht frischen Ausgrabungen, sondern psychoanalytischer Erfahrung und Überlegung verdanke.

Es leben nämlich auch heute Frauen vom Typus der edlen Cornelia, Frauen, die, selbst bescheiden, zurückhaltend, oft etwas herb, mit ihren Kindern wirklich wie andere mit ihrem Ge- schmeide prangen. Es kommt auch vor, daß solche Frauen an einer Psychoneurose erkranken, und da bietet sich dem Seelenarzte die Gelegenheit, unter anderem auch diesen Charakterzug der Analyse zu unterziehen. Er gewinnt dabei einen tieferen Einblick in die Eigenart ihres Vorbildes Cornelia und lernt das universelle In- teresse, das der über sie erzählten Anekdote entgegengebracht wird, besser verstehen.

Ich verfüge über die zu einer Verallgemeinerung als Minimum erforderliche Zweizahl, habe wirklich zwei solche Frauen eingehend analysiert und dabei merkwürdige Übereinstimmungen ihrer äußeren und inneren Schicksale festgestellt.

Die erste, eine seit vielen Jahren verheiratete Frau, begann lange Zeit hindurch fast jede Analysenstunde mit Lobeserhebungen über ihr ältestes und ihr jüngstes Kind, oder aber mit Klagen über eines der mittleren, deren Betragen manches zu wünschen übrig ließ; doch gab ihr die geistige Begabung auch dieser Kinder sehr oft Anlaß zu liebevollen Erzählungen. Ihre äußerliche Er- scheinung und ihr Betragen war einer Cornelia würdig. Unnahbar entzog sie sich den Blicken der Männer, die ihre Schönheit mit Begierde anzuschauen wagten, sie betrug sich dabei nicht nur reserviert, sondern ausgesprochen ablehnend. Sie lebte einzig ihrer Pflicht als Gattin und Mutter. Leider war diese schöne Har- monie bei ihr durch eine hysterische Neurose getrübt, die sich einesteils in lästigen körperlichen Erscheinungen und zeitweiligen Gemütsalterationen äußerte, anderenteils wie die Analyse bald aufdeckte darin, daß ihr die Fähigkeit zur Genitalbefriedigung sozusagen abging. Im Laufe der Analyse nahm die Art, in der sie sich ihrem jüngsten Kinde gegenüber betrug, allmählich sonderbare Formen an. Sie bemerkte zu ihrem Schreck, daß sie bei der Lieb- kosung dieses Kindes ausgesprochene erotische Anwandlungen, ja förmliche Genitalsensationen verspürte, Sensationen, die sie beim ehelichen Verkehr vermissen mußte. In Form der Übertragung auf

156 Cornelia, die Mutter der Gracchen

den Arzt kamen dann ihr selbst ganz unerwartete Züge zum Vor- schein; hinter der etwas prüden und abweisenden Haltung zeigte sich allmählich eine ganz ausgesprochene, man möchte sagen: ganz normal frauenhafte Gefallsucht, die sich aller Mittel zu bedienen verstand, welche die Aufmerksamkeit auf ihre Reize zu lenken geeignet waren. Aus ihren Träumen ließ sich dann mit Hilfe einer uns sehr geläufigen Symbolik leicht erraten, daß für sie das Kind eigent- lich das Genitale bedeutete. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, einen Schritt weiter zu gehen und zu erraten, daß ihre Nei- gung, die Vorzüge der Kinder Änderen zu zeigen, ein Ersatz für die normale Exhibitionslust war. Es kam denn auch her- aus, daß dieser Partialtrieb bei ihr sowohl konstitutionell, als auch infolge von Erlebnissen recht prominent war, und daß dessen Ver- drängung einen erheblichen Anteil an der Motivierung ihrer Neu- rose hatte. Einen besonders starken Verdrängungsschub erfuhr dieser Trieb, als sie in recht jugendlichem Alter eine kleine Operation an der Genitalgegend erdulden mußte. Von da an fühlte sie sich anderen Mädchen gegenüber entwertet, verlegte ihr Interesse aufs Geistige, begann wie die Cornelia schöne Briefe, sogar kleine Gedichte zu schreiben, entwickelte aber sonst den schon beschriebenen, etwas prüden Charakter.

Ihr Verhältnis zu Schmucksachen verhilft uns zum Ver- ständnis jenes Vergleiches, dessen sich die edle Cornelia bediente. Sie war, was Kleidung und Juwelen anbelangt, recht bescheiden. Sie kündigte aber die Erinnerung an ihr peinliche Genitalerlebnisse der Kinderzeit jedesmal mit dem Verlieren eines Schmuckgegen- standes an, so daß sie allmählich fast um ihr ganzes Geschmeide kam.

In dem Maße, als sie die Fähigkeit zum Sexualgenuß und das Bewußtsein ihrer Exhibitionslust erlangte, milderte sich ihre Überschwänglichkeit im Zurschautragen der Vorzüge ihrer Kinder, wobei aber ihr Verhältnis zu den Kindern natürlicher und inniger wurde. Sie schämte sich auch nicht mehr, sich ihr Vergnügen an Frauenschmuck aller Art einzugestehen, und ließ von der übertrie- benen Hochschätzung des Geistigen im Menschen wesentlich ab.

Die die Patientin zuletzt so erschreckende erotische Sensation beim Berühren ihres jüngsten Kindes fand in den tiefsten Schichten ihrer Persönlichkeit und in der Erinnerung an die früheste Periode

Cornelia, die Mutter der Gracchen 157

ihrer Entwicklung ihre Erklärung. Diese Wollust war eine Repro- duktion von Gefühlen, die sie vor der gewaltsamen Unterdrückung ihrer infantilen Selbstbefriedigung reichlich genossen, die sich aber in Angst verwandelt hatte und sie beim unerwarteten Durch- dringen zum Bewußtsein erschrecken mußte.

Wer wird sich angesichts solcher Erfahrungen noch von der „Als ob“-Natur, von der Irrealität der Symbole etwas vorfaseln lassen?! Für diese Frau waren die Kinder und die Juwelen sicher- lich Symbole, die an Realität und Wertigkeit keinem anderen psy- chischen Inhalte nachstanden.

Die andere Patientin, von der ich berichten will, verriet ihr - Verhältnis zum Schmuck und zu den Kindern viel auffälliger. Sie wurde Diamantschleiferin, liebte es, ihr Kind in persona mitzu- bringen, um es mir zu zeigen, und hatte im schärfsten Gegen- satz zu ihrer überaus dezenten, wie sie selbst sagte ge haften“ Kleidung typische Nacktheitsträume.

Ich fühle mich nach diesen Beobachtungen ehe auch den Fall der berühmten Cornelia, trotz seiner Antiquität, ebenso zu beurteilen wie den einer heute lebenden Frau, und anzu- nehmen, daß ihre schönen Charakterzüge die Sublimierungs- produkte derselben „perversen“ Exhibitionsneigung waren, die wir hinter den nämlichen Eigenschaften unserer Patientinnen nach- weisen konnten. |

In der Reihe: Genitale Kind Schmuck ist letzterer sicherlich das uneigentlichste, das abgeschwächteste Symbol. Es war also sehr angebracht, daß Cornelia ihre Mitbürgerinnen auf das Unnatürliche in der Anbetung jenes Symbols aufmerksam machte und mit ihrem Beispiel auf naturgemäßere Liebesobjekte hinwies. Wir können uns aber die Fiktion einer noch viel älteren, einer urmenschlichen Cornelia gestatten, die noch weiter ging, und wenn sie merkte, daß ihre Genossinnen mit ihrer Verehrung des Symbols „Kind“ allzuweit gehen, auf ihr Genitale hinwies, als wollte sie sagen: Hier sind meine Schätze, meine Juwelen und auch die Urquelle des Kultes, den ihr mit euren Kindern treibt.

Übrigens braucht man sich um ein solches Beispiel nicht erst an die Urzeit zu wenden. Die nächstbeste Neurotikerin oder Ex-

158 Cornelia, die Mutter der Gracchen

hibitionistin kann uns ein solches Zurückgreifen auf das Eigentliche dieser Symbolik „ad oculos“ demonstrieren.

In einem Aufsatze „Analyse von Gleichnissen“ (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse III, 1915, 5.270) hatte ich behauptet, daß im Wortlaute achtlos hingeworfener Vergleiche oft dem unbewußten Wissen entnommene tiefe Erkenntnisse enthalten sind. Das Gleichnis der Cornelia wäre den dort angeführten Beispielen anzureihen.

Anatole France als Analytiker*

Ibsen und Änatole France haben die auch durch die Analyse aufgedeckten Grundlagen unseres Seelenlebens auf dem Wege der Eingebung erfasst. A. France hat seine psychologischen Erkennt- nisse den Helden seiner Erzählungen in den Mund gelegt. Sie sind in den salbungsvollen, alles wissenden und alles verzeihenden Reden des Abbe Coignard, in den tiefsinnigen Gedanken des Monsieur Bergeret und anderwärts in seinen Werken zerstreut und verdienten gesammelt zu werden.

Nur an einer Stelle nimmt der große französische Schrift- steller zu den Fragen der Psychiatrie unmittelbar Stellung, in einem Feuilleton, das im Jahrgange 1887 des „Temps“ unter dem Titel: „Les fous dans la litt&rature“ erschien und im ersten Band der Sammlung Francescher publizistischer REN \,La vie litt&raire“ abgedruckt ist.

Ich gebe hier einige bezeichnende Stellen dieses Aufsatzes wieder und glaube, daß es keinem Leser des Zentralblattes schwer fallen wird, nach Übersetzung der Franceschen Ansichten in die psychoanalytische Kunstsprache die grundsätzliche Übereinstimmung seiner und unserer Auffassung über funktionelle Psychosen fest- zustellen.

„Ein Franzose“ schreibt A. France „der nach London reiste, besuchte eines Tages den großen Charles Dickens. Er wurde empfangen und entschuldigte sich dafür, daß er es wage, einige Minuten eines so kostbaren Daseins in Anspruch zu nehmen.“

* Erschienen im „Zentralblatt für Psychoanalyse“, I. Jahrgang (1911), Seite 461.

160 Anatole France als Analytiker

„Ihr Ruhm,“ fügte er hinzu, „und die allgemeine Zuneigung, die Sie erwecken, mag Sie unzähligen solchen Belästigungen aus- setzen. Ihre Türe ist unausgesetzt belagert. Sie müssen tagtäglich Fürsten, Staatsmänner, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler, sogar Narren empfangen.“

„Ja, Narren, Narren,“ rief Dickens, indem er sich in großer Erregung, wie sie ihn an seinem Lebensende oft befiel, erhob, „Narren! nur die machen mir Vergnügen.“

Sprachs, faßte den erstaunten Besucher bei den Schultern und schob ihn zur Türe hinaus.

„Die Narren, die liebte Charles Dickens immer. Mit welch’ zarter Anmut beschrieb er die Unschuld des guten Mr. Dick. Jedermann kennt Mr. Dick, da doch jedermann David Copper- field gelesen hat. Jeder Franzose zumindest, da es in England heutzutage Mode ist, den besten englischen Erzähler zu vernach- lässigen. Ein junger Kunstgelehrter gestand mir unlängst, daß „Dombey and Son“ nur in der Übersetzung lesbar sei. Er sagte mir auch, daß Lord Byron ein ziemlich flacher Dichter sei, etwa wie unser Ponsard. Ich glaube es nicht. Ich glaube, daß Byron einer der größten Dichter des Jahrhunderts ist, und daß Dickens mehr Gefühl besaß und erweckte als irgend ein anderer Schrift- steller. Ich glaube, daß seine Romane schön sind, wie die Liebe und die Barmherzigkeit, die sie einflößen. Ich glaube, daß „David. Copperfield“ ein neues Evangelium ist. Ich glaube endlich, daß Mr. Dick, mit dem allein ich es hier zu tun habe, ein wohl- beratener Narr ist, da die einzige Art Vernunft, die ihm verblieb, die Vernunft des Herzens ist, und diese nie betrügt.

Was schadet es, daß er Papierdrachen fliegen läßt, die er mit weiß Gott welchen Träumereien über den Tod Karls des Ersten bekritzelt hat! Er ist wohlwollend, er will Niemandem weh tun, und das ist eine Weisheit, in der es viele vernünftige Menschen nicht so weit gebracht haben wie er. Es ist ein Glück für Mr. Dick, in England geboren zu sein. Die persönliche Freiheit ist dort größer als in Frankreich. Eigenart wird dort mit mehr Wohlwollen be- trachtet und mehr geachtet als bei uns. Und was ist am Ende der Irrsinn anderes als geistige Eigenart? Ich rede vom Irrsinn und nicht von der Demenz. Demenz ist Verlust der intellektuellen Fähig-

Anatole France als Änalytiker 161

xeiten, der Irrsinn aber nur eine absonderliche und eigenartige Verwendung derselben.“

Diese wunderbar klare Definition France’s übertrifft an Rich- tigkeit so ziemlich alle ähnlichen Versuche der berufsmäßigen Psy- chiater, die auch die unzweifelhaft funktionellen, psychogenen Neu- rosen und Psychosen anatomisch erklären und womöglich zur De- menz brandmarken wollen. |

„In meiner Kindheit setzt Änatole France fort kannte ich einen Greis, der bei der Nachricht vom Tode seines einzigen, zwanzig Jahre alten Sohnes, den eine Lawine des Rigi verschüttet hatte, irrsinnig wurde. Seine Narrheit war die, daß er Kleider aus IMatratzenleinwand trug. Abgesehen davon war er vollkommen vernünftig. Alle Straßenjungen der Umgebung liefen ihm mit In- dianergeheul nach. Da sich aber in ihm die Milde eines Kindes mit der Kraft eines Riesen paarte, hielt er sie in respektvoller Ferne, indem er ihnen genügend Furcht einjagte, ohne ihnen ie wehe zu tun. Er hätte einer guten Polizei als Vorbild dienen können. |

Trat er in ein befreundetes Haus, so war es sein erstes, diesen lächerlich großkarrierten groben Leinwandkittel abzulegen. Er legte ihn auf einem Lehnstuhle in der Weise zurecht, daß er möglichst ausschaue, als bekleidete er einen menschlichen Körper. Seinen Spazierstock steckte er als Rückgrat in den Rock, dann setzte er seinen großen Filzhut auf den kugeligen Knopf seines Stockes und krämpte den Hutrand nach abwärts, wodurch die Figur ein gar phantastisches Aussehen bekam. Nachdem das getan war, betrachtete er einen Augenblick sein Werk, wie man einen alten kranken Freund ansieht, und unvermittelt verwandelte er sich in den vernünftigsten Menschen der Welt, als wäre es in Wirk- lichkeit der eigene Irrsinn, der im Faschingsaufzug vor ihm schlummerte.

Wie oft und wie gerne sah und hörte ich ihm zu. Er sprach über alle Gegenstände mit viel Einsicht und’ Scharfsinn. Er war ein Gelehrter, voll aller möglichen Kenntnisse über die Welt und die Menschen. Namentlich über Reisen hatte er eine reiche Bibliothek im Kopfe und war unvergleichlich im Erzählen des Schiffbruchs

der Meduse oder gewisser Matrosenabenteuer in Ozeanien. 11

"162 Anatole France als Analytiker

Es wäre unverzeihlich von mir, wenn ich zu erwähnen ver- gässe, daß er ein vollendeter Humanist war. Er gab mir ja, rein aus Wohlwollen, mehrere Lektionen in Griechisch und Latein, die meinen Studien sehr zugute kamen. Seine Dienstfertigkeit zeigte sich bei jeder Gelegenheit. Ich sah einmal, wie er verwickelie Rechnungen, mit denen ihn ein Astronom betraut hatte, unter- brach, um einer alten Dienerin beim Holzspalten behilflich zu sein. Sein Gedächtnis war verläßlich; er behielt die Erinnerungen an alle Ereignisse seines Lebens ausgenommen das eine, das ihn zerrüttet hatte. Der Tod seines Sohnes schien ihm aus dem Ge- dächtnis ausgelöscht zu sein. Nie hörte man von ihm auch nur ein Wort, aus dem man därauf hätte schließen können, daß er sich an irgend etwas von diesem schrecklichen Unglück erinnerte“.

Seine Stimmung war sonst ausgeglichen, fast heiter. Er liebte es, seinem Geiste milde lachende, liebliche Bilder vorzuführen. Er suchte die Gesellschaft junger Leute und seine Geistesrichtung wurde im Verkehr mit ihnen ausgesprochen lebhaft.

Er drang nicht recht in die Gedankenwelt dieser jungen Leute ein; er verfolgte seine eigenen Gedanken mit einer Hartnäckigkeit, die allen Versuchen, ihn aus dem Geleise zu bringen, widerstand.“

Hätten wir auf Grund dieser Beschreibung Frances die Diagnose des Falles zu stellen, so müßten wir aus den Stereo- typien, aus dem Erhaltenbleiben der Intelligenz, aus der Abge- schlossenheit der Außenwelt gegenüber, welche Symptome der Dichter auf ein erlittenes psychisches Trauma zurückführt, auf eine funktionelle Psychose folgern. Wir finden in diesem Erklärungs- versuche ÄAnatole Frances unsere eigenen Anschauungen wieder. Das weitere Schicksal des Kranken erzählt der Dichter in folgendem:

„Nachdem er sich 'zwanzig Jahre lang Sommer wie Winter mit einem Rock aus Matratzenleinwand bekleidet hatte, erschien er eines Tages in einer kleinkarrierten Weste, die gar nicht lächer- lich war. Aber auch seine Laune war wie sein Anzug, leider aber sehr zu ihrem Nachteil, verändert. Der Arme war traurig, schweig- sam und still. Er ließ nur hie und da einige Worte fallen, die Unruhe und Erschütterung verrieten. An seinem Antlitz, früher so

* A. France ahnte' also schon 1887 den Mechanismus der Verdrängung und deren Zusammenhang mit zirkumskripten Amnesien.

Anatole Frunce als Analytiker 163

rot, erschienen bläuliche Flecken. Seine Lippen wurden schwärzlich und hängend. Er wies jede Nahrung von sich. Eines Tages sprach ' er vom Tode seines Sohnes. Am Morgen des darauffolgenden Tages fand man ihn in seinem Zimmer erhängt*.“

Das Ende des Mannes mit dem Matratzenrock, der aller Wahr- scheinlichkeit keine freie Erfindung Frances ist, erinnert an Fälle von Dementia praecox, in denen unter dem Einfluß schwerer körperlicher Erkrankungen oder auch ohne sichtbaren Grund merk- würdig plötzliche Änderungen des Zustandsbildes vor sich gehen. Ich weiß von Dr. Riklin, daß er in der Züricher Irrenanstalt häufig Gelegenheit hatte, bei dementen Frauen Geburtshelferdienste zu leisten und konstatieren konnte, daß die mit dem Gebären einher- gchende Erschütterung auch die ungebärdigsten Patientinnen vor- übergehend gefügig, ruhig und intelligent machte.

„Ich kann mich setzt A. France fort einer ausge- sprochenen Sympathie für die Irrsinnigen, die anderen wenig zu Leide tun, nicht erwehren. Anderen gar nicht wehe zu tun, ist niemandem gegeben, Vernünftigen so wenig wie Irrsinnigen.

Die Irren verdienen keinen Haß. Sind sie denn nicht unseres- gleichen? Wer kann von sich behaupten, daß er in keiner Hinsicht närrisch ist ?

Ich habe soeben in Littre und de Robins „Dictionnaire“ die Begriffsbestimmung des Irrsinns gesucht, aber nicht gefunden. Die dort gegebene Erklärung zumindest ist ganz unsinnig. Ich war darauf gefaßt; denn der Irrsinn, wenn er durch .keine anatomische Veränderung gekennzeichnet ist, bleibt undefinierbar. Wir nennen einen Menschen einen Narren, wenn er anders denkt als wir. Voilä tout. Philosophisch betrachtet, sind die Gedanken der Narren ebenso berechtigt wie die unseren. Sie stellen sich die Außenwelt nach den Eindrücken vor, die sie davon empfangen. Wir, die wir für Vernünftige gelten, tun auch nichts anderes. Die Welt spiegelt sich in ihnen auf andere Weise als in uns. Wir sagen das Bild, das wir uns davon bilden, sei das richtige und das ihrige sei falsch. In Wirklichkeit ist keines der beiden völlig wahr oder völlig falsch. Ihr Bild gilt für sie als wahr, wie das unsere für uns.“ ne re sagen: das Auftauchen der bewußten Erinnerung verwandelte

die Krankheit in „gemeines Unglück“, das der Patient nicht ertragen konnte. 172

164 Anatole France als Änalytiker

Sodann erzählt uns ÄAnatole France eine Fabel vom Streit zwischen einem Plan- und einem Konvexspiegel, die beide aus- schließlich das auf der eigenen Spiegelfläche erscheinende Bild für richtig erklären, und schließt mit der Warnung:

„Lernen Sie doch, meine Herren Spiegel, sich nicht gegen- seitig Narren zu schimpfen, weil sie von den Dingen nicht dasselbe Bild erhalten.“

Diese Fabel empfiehlt France den Irrenärzten, „die alle Leute, deren Leidenschaften und Gefühle stark von den ihrigen abweichen, einsperren lassen. Sie erklären einen verschwenderischen Mann und eine verliebte Frau für blödsinnig. Als wäre im Ver- schwenden und im Verliebtsein nicht mindestens soviel Sinn als im Geiz und im Eigennutz.“

In diesem Satze finden wir unsere Ansicht, wonach funktio- nelle Geisteskrankheit sich nur quantitativ von der Normalität unterscheidet, wieder.

„Die Irrenärzte sagt weiter France sind der Änsicht, daß ein Mensch, der hört, wenn die anderen Menschen nicht hören, irsinnig sei. Und doch pflegte Sokrates bei seinem Schutzgeiste Rat zu holen und hörte Jeanne d’Arc Stimmen. Sind wir denn nicht allesamt Geisterseher und Halluzinanten? Wissen wir denn überhaupt etwas vom Wesen der Außenwelt? Und erfahren wir Zeit unseres Lebens etwas anderes als leuchtende oder schallende Schwingungen unserer Empfindungsnerven ?“

Auf dieses erkenntnistheoretische Gebiet folgen wir Psycho- analytiker dem philosophierenden Schriftsteller nicht. Uns gibt die Sammlung und Sichtung der Tatsachen der empirischen Psycho- logie noch für lange Zeit genug zu schaffen.

Wie gut sich aber France in das Wahnsystem eines Paranoikers ' einzufühlen versteht, ersehen wir aus einer anderen Stelle seiner Abhandlung über die Narren in der Literatur. Er spricht dort von der bekannten Novelle „Le Horla“ von Guy de Maupassant, „dem Fürsten der Erzähler“. In dieser Novelle wird einer von einem unsichtbaren Dämon, einem Vampyr gepeinigt, der ihm den Schlaf raubt und die Milch von seinem Nachtkasten stiehlt.

„In der Tat ist nichts schrecklicher, setzt A. France hinzu als sich in den Krallen eines unsichtbaren Feindes zu fühlen.

de Anatole France als Analytiker 165

Will ich aber ganz ehrlich sein, so muß ich gestehen, daß dieser Irre Maupassant's weniger feinfühlig ist, als Verrückte zu sein pflegen. Ich an seiner Stelle würde den Vampyr so viel Milch saufen lassen, als ihm beliebt, und mir sagen: ‚Das freut mich! Indem die Bestie diese alkalische Flüssigkeit verschlingt, assimiliert sie auch deren für Licht undurchgängige Elemente und muß so am Ende sichtbar werden. Wenn sie wollen, beschränke ich mich nicht auf die Milch: ich werde versuchen, den Vampir auch Karmin schlucken zu lassen, um ihn vom Scheitel bis zur Zehe rot zu färben.“

Allerdings entspricht dieser launige Vorschlag nicht ganz der Tendenz der „Horla“, in der der so tragisch dahingegangene Dichter nicht die Ideen eines Paranoikers, sondern nach dem Gut- achten seiner Biographen die Krankheitszeichen seiner eigenen, mit Angsterscheinungen einsetzenden Paralyse beschreiben wollte.

Ich kann es mir nicht versagen, hier eine weitere Stelle aus den Werken Anatole France’s wiederzugeben, die als ausgezeich- nete psychoanalytische Deutung eines vielfach vorkommenden vorüber- gehenden abnormen psychischen Zustandes gelten kann. In seiner Novelle „Le manuscrit d’un medecin de village“, abgedruckt in der Sammlung „Etui de nacre“ (Paris, Calm. Levy Editeurs, p. 161) ıneditiert ein Landarzt ungemein tiefsinnig und geistvoll über das Thema der Barmherzigkeit. France stellt diesen Arzt als einen alten Praktiker dar, der inmitten seines schwerfälligen, hartherzigen Bauernvolkes allmählich auch selbst das Gefühl des Mitleids mit den Pflegebefohlenen verlor. Er blieb unverheiratet und widmet alles Interesse, das ihm die Medizin übrig ließ, seiner wunder- schönen Weinpflanzung. Eines Morgens wird er, während er sich gerade mit seinen geliebten Weinreben beschäftigt, zum kleinen Eloi gerufen, dem Söhnlein eines benachbarten Landwirts, das ihm durch seine ungewöhnliche Begabung aufgefallen war und dessen geistige Entwickelung er oft mit Staunen beobachtet hatte. Er untersucht den kleinen Patienten, stellt die Diagnose auf Meningitis, konsta- tiert aber zu gleicher Zeit eine eigentümliche psychische Veränderung an sich selbst, die er folgendermaßen beschreibt und analysiert:

„Es ging nun in mir etwas ganz Ungewöhnliches vor. Obzwar ich meine Kaltblütigkeit vollkommen bewahrte, sah ich den Kranken

166 . Anatole France als Änalytiker

wie durch einen Schleier hindurch und so weit von mir entfernt, daß er mir ganz winzig klein erschien. Dieser Störung in der räum- lichen Orientierung folgte sofort eine ganz analoge in der zeitlichen. Obzwar mein Krankenbesuch keine fünf Minuten in Anspruch nahm, kam es mir vor, als stünde ich schon seit langer, seit sehr langer Zeit in jener niedrigen Stube vor dem kattunüberzogenen Bette und als vergingen Monate, Jahre, während ich regungslos dastand.

„Ich zwang mich, wie gewöhnlich, diese sonderbaren Eindrücke sofort zu analysieren und hatte auch bald heraus, um was es sich handelte. Diese Sache ist sehr einfach. Ich hatte den kleinen Eloi lieb. Ihn so unerwartet schwerkrank daliegen zu sehen: „je n’en revenais pas!“ Das ist der treffende und populäre Ausdruck dafür. Peinliche Momente erscheinen uns furchtbar lang. Darum machten die fünf oder sechs Minuten bei Eloi den Eindruck des Endlosen auf mich. Was die Vision anbelangt, die mir das Kind so weit entfernt zeigte, so kam sie von der Idee, daß ich ihn verlieren muß. Diese Idee, die sich in mir ohne meine Zustimmung gebildet hat, hatte von der ersten Sekunde an den Charakter absoluter Sicherheit.“

Auch eine methodische Seelenanalyse hätte für diese Erschei- nungen nur solche oder ähnliche Erklärungen finden können. A. France scheint zu wissen, daß unerklärliche Seelenvorgänge erklärlich wer- den, wenn man durch Nachdenken die bisher unbewußten Motive findet. Auch wir würden sagen, daß der Arzt, der sich rühmte, die Barmherzigkeit abgestreift zu haben, beim Bette des kleinen Patienten diese Schwachheit wohl vom Bewußtsein verdrängen, es aber nicht verhindern konnte, daß sich diese unterdrükten Gefühle zu Störungen des Gesichts- und des Zeitsinnes konvertieren”.

Es wird uns aus diesen Beispielen zweifellos, daß A. France ein großes Stück Analysenarbeit unabhängig von jeder Fachpsy- chologie mit ähnlichen Ergebnissen geleistet hat, wie wir mit den verfeinerten Methoden der Freud’schen Psychoanalytik. Wir finden auch bei ihm überall die gebührende Würdigung des Unbewußten, des Infantilen und Sexuellen wieder, so daß wir ihn für einen der

* Die Psychoanalyse würde übrigens diese räumliche und zeitliche Ent- fernung des Uhnlustvollen als Fluchtversuch deuten. |

Anatole France als Analyliker 167

bedeutendsten Vorläufer der analytischen Psychologie ansehen müssen.

Ich fand aber eine Stelle in Anatole France’s „Histoire Con- temporaine“, die uns zeigt, daß dieser liebenswürdige Philosoph nicht nur mit dem unklaren Mechanismus der Einfühlung arbeitet, sondern daß ihm eine vorurteilslose, in keiner Hinsicht beschränkte, wirklich freie Assoziation zu Gebote steht, und er diese dazu be- nützt, um die Tiefen des eigenen Seelenlebens und dadurch auch die der anderen Menschen zu ergründen. Diese Stelle befindet sich auf S. 223 des „Mannequin d’Osier“. Der Verfasser legt hier seine Gedanken dem Professor Bergeret in den Mund, diesem an- ziehendsten aller Denker, dem keine Lüge, kein Selbstbetrug der Menschheit verborgen bleibt, und der dennoch nie zum moralisie- renden Prediger oder weltschmerzlichen Pessimisten wird, sondern das Treiben der Mitmenschen heiter, barmherzig, wenn auch mit feiner Ironie beurteilt. Monsieur Bergeret findet auf einer Bank unter den Ulmen des Mail ein „grafitto“, eine jener mit Kreide geschriebenen Mitteilungen, in denen die Kinder ihre ersten sexuellen Entdeckungen ausposaunen. Bergeret knüpft daran tiefsinnige Be- trachtungen über das Mitteilungsbedürfnis der Menschen, das schon Phidias bestimmt hat, den Namen seiner Geliebten in die große Zehe des olympischen Jupiters einzuritzen.

„Und doch dachte Bergeret weiter ist die Versteliung die höchste Tugend des wohlerzogenen Menschen, der Eckstein der Gesellschaft. Es ist für uns ebenso unvermeidlich, unsere Ge- danken zu verbergen, wie Kleider zu tragen. Ein Mensch, der alles sagt, was er denkt und wie er es denkt, ist in einer Stadt ebenso unmöglich wie einer, der ganz nackt herumgeht. Erzählte ich z. B. bei Paillot*, wo doch das Gespräch ziemlich frei ist, die Bilder, die mir in diesem Moment vorschweben, die Ideen, die mir wie ein Schwarm von besenreitenden Hexen durch den Kopf huschen; beschriebe ich, wie ich mir soeben Madame de Gromance”” vor- stelle, die unziemlichen Stellungen, in die ich sie bringe, und die unsinniger, seltsamer, chimärischer, fremdartiger, ungeheuerlicher,

* Der Buchhändler, in dessen Laden sich die Intelligenz der Provinzstadt

zu versammeln pflegte. ** Eine sehr schöne und nicht sehr tugendhafte Dame der Gesellschaft.

168 Anatole France als Änalytiker

perverser und tausendmal böswilliger und unsittlicher sind als jene berüchtigte Figur des jüngsten Gerichtes über dem Nordportal der Kirche St. Exupere, in der ein phantasiebegabter Maler, der wohl durch das Kellerloch der Hölle geguckt hat, die Sünde in Person erblickt und dargestellt hat; zeigte ich genau die Merkwürdigkeiten meiner Tagträume: man hielte mich für das Opfer einer entsetzlichen Geisteskrankheit. Und doch weiß ich sicher, daß ich ein ehrenhaiter Mensch und von Natur aus zu anständigen Gedanken geneigt bin; daß mich Lebenserfahrung und Nachdenken Maß halten lehrten; daß ich bescheiden und ganz und gar den friedlichen Genüssen des Geistes ergeben bin, ein Feind jeder Ausschweifung, dem das Laster wie alles Abnorme verhaßt ist“.

Es ist tröstlich für uns Anhänger der Psychoanalyse, die wir bei uns selbst wie bei unseren Kranken eine ähnliche Mischung von „Tugend“ und „Perversität“ als Bestandteile des Seelenlebens entdecken, Bergeret und mit ihm ÄAnatole France zu den unseren rechnen zu können. Eine solche Gemeinschaft entschädigt uns reich- lich für die Mißachtung jener Neurologen und Psychiater, die weder im eigenen Busen noch in dem ihrer Patienten derlei Un- geheuerlichkeiten finden, und geneigt sind, sie unserer verderbten Einbildungskraft zuzuschreiben.

Zähmung eines wilden Pferdes”

Mit der Erlaubnis des Leiters der Budapester berittenen Polizei wohnte ich am 29. April 1912 den Produktionen des Tol- naer Hufschmiedes Joseph Ezer bei, der sich bereit erklärte, jedes, auch das wildeste Pferd in einem Zuge zu zähmen und eigenhändig zu beschlagen. Die Zeitungen brachten schon seit längerer Zeit sonderbare Gerüchte über die unerklärliche Macht dieses Mannes; man schrieb von ihm, er sei imstande, einzig durch die Über- tragung seines Willens, also suggestiv, das ungebärdigste Pferd gefügig zu machen. Die Kommission, die sich im Hofe der Polizei- kaserne versammelte und die aus höheren Kavallerie-Offizieren und Polizeibeamten bestand, stellte es sich zur Aufgabe, die Kunst des Pferdebändigers an einem besonders wilden Tiere zu erproben. Es war dies „Czicza“, die prächtige 4'/sjährige Vollblutstute eines Husarenoberleutnants, die man —- trotz ihrer sonstigen hervor- ragenden Eigenschaften zu nichts gebrauchen konnte, da es noch niemandem gelungen war, sie zu beschlagen. Das Tier war so wild, daß sich ihm kein Fremder nahen durfte, es schlug sofort aus. Ja selbst sein ständiger Pfleger konnte sich ihm nur vorsichtig nähern und brachte es mit Mühe höchstens so weit, daß es sich von ihm den Oberkörper bürsten ließ. Machte er aber Miene, ein Bein des Tieres nur zu berühren, so gebärdete sich dieses wie toll und wieherte fürchterlich. Da das Tier sonst vollkommen gesund war und sich im Gestüt lebhaft herumtummelte, erklärte man seinen Zustand für „Nervosität“ oder „Wildheit“, gab es für Renn- und nie 2 verloren und wollte sich nun überzeugen, ob es —® Erschienen im Zentralblatt für Psychoanalyse, 3. Jahrgang (1912).

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170 Zähmung eines wilden Pferdes

der geheimnisvollen Kunst des Ezer gelingen werde, die Wider- spenstige zu zähmen, an die noch immer jungfräulichen Hufe der „Czieza“ das eiserne Schuhwerk zu befestigen und ihren Stolz zu beugen.

Alsbald erscheint der Pferdebändiger, ein etwa dreißigjähriger untersetzter Mann von bäuerischem Äußeren; er scheint ziemlich selbstbewußt zu sein und unterhält sich mit all den hohen Herr- schaften recht unbefangen. Dann wird das Pferd, das alle Kenner als hervorragendes Rassenpferd mit bestem Stammbaum anerkennen (Vater: Kisbe&röccse [berühmter Sieger am Turf], Mutter: Gerjer), von seinem gewohnten Wärter, einem Stallburschen, vorgeführt. Den Burschen läßt das Pferd an sich heran, nähert er aber cie Hand scheu einem Beine des Tieres, so wiehert es schrecklich und schlägt nach allen Seiten aus.

Daß Ezer zumindest nicht ausschließlich mit außerordentlichen geistigen Kräften arbeitet, wurde mir sofort klar, als er die Vor- führung damit begann, daß er das gewöhnliche Zaumzeug des Pferdes mit einem mitgebrachten vertauschte, an dem gerade über der Nase mehrere schwere Kettenringe angebracht waren und das in einer längeren Longe endigte. Da ich dem Versuch mit gewissen theoretisch begründeten Erwartungen (die ich am Schluß mitteilen will) zusah, ziehe ich es vor, dessen Verlauf in der Beschreibung eines unvoreingenommenen Zeitungsberichterstatters wiederzugeben.“

„Der Hufschmied nähert sich dem Pferde, wobei er schon von weitem laut vernehmbar, aber mit unendlicher Zärtlichkeit, seine Stimme erklingen läßt. Er girrt förmlich; zugleich nimmt er die Longe dem Stallburschen aus der Hand. „... Hooh mein wunderliebes, schönes Pferdchen“, lockt der Schmied, „.. . hab’ keine Angst, ich hab’ dich ja lieb... . Hoh du Närrchen, du, hoooh.“ Er will die Brust des Tieres streicheln, dieses aber wiehert, springt hoch und schlägt aus. Doch seine Beine sind noch in der Luft, da hockt schon der Schmied vor ihm und brüllt mit so fürchterlicher Stimme, daß uns allen bange wird: „Hah, du Elender!“ Zugleich zerrt er kräftie an der Longe.”* Das Pferd fährt

*L. Fenyes im Abendblatt des „Az Est“ vom 30. April 1912. ** Wobei die Kettenringe heftig auf die Nase des Pferdes anschlagen. (Meine Anmerkung.)

Zähmung eines wilden Pferdes 171

erschreckt zusammen und versucht noch einmal auszuschlagen und zu springen, doch schon beim Versuch bekommt es die furchtbare Stimme und den schrecklichen Blick des Meisters zu spüren.“ Im nächsten Augenblicke plaudert mit ihm Joseph Ezer schon wieder in einem Tone, als spräche eine Mutter zu ihrem Säugling: „Ho- ho-hoh hab’ keine Angst, ich liebe dich, kleines Pferdchen, o du zuckersüßes ... .“ Dabei glänzt Ezer’s Gesicht vor Glückselig- keit und Liebe. Langsam, aber sicher doch mit keinen Äugen- blick zaudernder Bewegung legt er seine flache Hand an den Hals des Pferdes, von dort läßt er sie auf die Brust niedergleiten. Das Pferd schlägt wieder aus, bäumt sich pfeilgerade auf, so daß man glaubt, sein Vorderhuf muß dem Schmied den Schädel ein- schlagen. Doch dieser springt mit dem Pferde selber in die Luft, brüllt es an, reißt an der Longe und das Pferd wird wieder ruhig. Der erste Erfolg war der, daß das Pferd von nun an nicht mehr wieherte, es merkte, offenbar, daß sein Gebrüll von dem Manne, der vor ihm stand, überschrien werde. Nach einer Viertel- stunde zitterte „Czieza“ in allen Gliedern, es schwitzte, seine blit- zenden Augen wurden allmählich, aber zusehends matter. Nach einer halben Stunde ließ es sich die Beine anfassen und der Schmied konnte mit ruhiger Kraft, aber zärtlich, die Gelenke biegen und streicheln. Das Pferd stand vor ihm wie bezaubert auf drei Beinen, das vierte behielt wie wächsern die Beugestellung, die ihm der Hufschmied gab. So ging es eine Stunde lang. So oft das Pferd ungebärdig zu werden drohte, schrie es der Schmied aus Leibeskräften an, verhielt es sich aber ruhig, so streichelte er ihm den Nacken und girrte: „O du mein armes Pferdchen, du schwit- zest? Wir schwitzen ja beide. Nur keine Angst, für dieses kriegst du keine Strafe,** ich weiß, du meinst es gut, o wie gut ist das goldene Pferdchen. . . .“

Eine Stunde später klopfte schon der Schmied mit seinem Hammer an einem Hufe des Pferdes, nach weiteren 50 Minuten war es regel- vecht beschlagen, zwar etwas erschöpft, aber schön ruhig und folg- sam, ließ seine Beine überall streicheln und sich in den Stall führen.

* Auch den Schlag der Kettenringe auf der Nase. (Meine Anmerkung.) “* Der Schmied strafte das Pferd nur für die mutwilligen Bewegungen; unvermeidliche Reflexbewegungen sah er ihm nach. (Meine Anmerkung.)

172 Zähmung eines wilden Pferdes

Laut amtlicher Zeugnisse, die Ezer vorwies, gaben die von ihm in dieser Art behandelten Pferde nicht nur vorübergehend, sondern dauernd ihre Ungebärdigkeit auf oder wurden zumindest bedeutend zugänglicher.

*

Nach der Vorführung, deren Verlauf der scharfsichtige Jour- nalist treffend geschildert hat, richtete man die Frage an mich, ob bei dieser Zähmung Gedankenübertragung, Hypnose oder Sug- gestion eine Rolle gespielt habe? Meine Antwort lautete dahin, daß von irgend welchen außergewöhnlichen Erscheinungen nicht gesprochen werden darf, solange sich der Fall den uns bekannten naturwissenschaftlichen und psychologischen Gesetzen unterordnen läßt. Und daß letzteres der Fall ist, glaubte ich mit folgenden Darlegungen beweisen zu können:

Die Art, wie die psychoanalytische Forschung die Wirkung und das Verfahren der Hypnose und der Suggestion erklärt, ermög- lichte mir alle Vorgänge dieser Art darauf zurückzuführen, daß dem Menschen der kindliche Gehorsam auf Lebenszeit in Fleisch und Blut übergeht.“ Ich konnte feststellen, daß es’ zwei Verfahren des Hypnotisierens gibt: die Liebe und die Strenge. Das Gefügig- machen durch Liebe (zärtliches Streicheln, Bitten, eintönig- einlullendes Zureden) nannte ich die Mutterhypnose; die Hypnose oder Suggestion durch Strenge (Anrufen, Anschreien, Befehlen, Überrumpeln): die Vaterhypnose.

Es hängt von den Schicksalen der ersten vier Lebensjahre, besonders von dem Verhältnis zu den Eltern, ab, ob der Mensch für diese oder jene, oder für beide Arten der Beeinflussung zeit- lebens empfänglich bleibt.

Das Gelingen der Hypnose eines Erwachsenen hängt also nicht von einer besonderen Fähigkeit des Hypnotiseurs ab, sondern von der angeborenen und anerzogenen (d. h. phylo- und onto- genetisch erworbenen) Neigung des „Mediums“, durch Liebe oder Furcht, also durch die in der Kindheit angewöhnten Erziehungs-

* Introjektion und Übertragune. (ll. Die Rolle der Übertragung in

der Hypnose und Suggestion.) Jahrbuch f. psychoanalyt. und psychopathol. For- schungen. I. Band.

Zähmung eines wilden Pferdes 173

mittel der Eltern, willenlos gemacht zu werden. Clapar£&de findet, daß diese Theorie. viel tiefer reicht als andere Erklärungen.* Er erwähnt in seinem zusammenfassenden Bericht u. a. zahlreiche Beispiele aus der Tierwelt, die dafür sprechen, daß manche Tiere, die wahrscheinlich durch die Abstammungslehre erklärbare Fähig- keit besitzen, bei plötzlichem Schreck in Hypnose zu verfallen (Frösche, Meerschweinchen, Hühner etc.).

Demselben Verfasser gelang es, durch starres Ansehen und durch zärtliches Streicheln der Brust und der Arme eine wilde, ungebärdige Äffin von der Art der Hundeaffen in den Zustand völliger Willenlosigkeit und kataleptischer Starre zu versetzen.

Er glaubt diese plötzliche Gefügigkeit als reflektorische Ein- stellung, vielleicht als eine Einstellung zur Wollust, erklären zu können und findet darin eine Stütze der von Freud und von mir ceäußerten Anschauung, nach der die Suggerierbarkeit sexuelle Abhängigkeit vom Suggerierenden erfordert.”*

Auch Morichau-Beauchant“”* und E. Jonesf konnten gestützt auf ihre Erfahrungen beim Menschen dieser meiner Auf- fassung zustimmen.

Es liegt kein Grund vor, die hier mitgeteilten Erfahrungen auf das Suggerierverfahren des Hufschmiedes Ezer nicht anzu- wenden. Dieser scheint aus eigenem Antriebe die zwei möglichen Arten des Gefügigmachens: das Verzärteln und das Ängstigen, ceschickt miteinander verbunden und durch diese kombinierte Vater- und Muttersuggestion das sonst unbezähmbare Tier

* Cette theorie va bien plus profond que les autres, en cherchant & expliguer, comment cette hypersuggestibilite du sujet est declanchee, par quels me&canismes particuliers des actions aussi puissantes que celles que l’on rencontre dans l’hypnose peuvent se realiser, quel est le vehicule affectif qui va faire zccepter au sujet la pilule de la suggestion donnee.“ (Prof. Dr. Ed. Claparede, Interpretation psychologique de l’Hypnose. Journal f. Psychologie u. Neurologie. 1911. Bd. XVIIL, H. 4).

* C]aparede: Etat hypnoide chez un singe. (Archives des sciences physiques et naturelles. Tome XXXIl. Geneve.

®< R, Morichau-Beauchant. Prof. ä l’Ecole de med. de Poitiers: Le „rapport affeetif“ dans la cure des Psychoneuroses. (Gazette des höpitaux du 14 novembre 1911.)

+ Prof. E. Jones (University of Toronto): The action of suggestion in

psychotherapy. (The Journal of Abnorm. Psychology. Boston. Dec. 1910).

174 Zähmung eines wilden Pferdes

gebändigt zu haben. Diese Kombination machte durch die psycho- logische Wirkung der Gegensätze einen besonders tiefen Eindruck auf das Pferd, und es ist glaubhaft, daß die Nachwirkung eines so tiefgreifenden seelischen Erlebnisses dauernd sein kann, gleichwie beim Menschen gewisse Erlebnisse der Kindheit fürs Leben fest- gelegt bleiben können.

Freilich ist diese Art Dressur höchstens bei Haustieren an- gebracht, deren erste Tugend die Folgsamkeit ist. Ein Mensch aber, der in der Kindheit ähnliches Übermaß des Geliebt- und Gezüchtigtwerdens durchmachen muß, läuft Gefahr, die Fähigkeit zum selbständigen Handeln für immer zu verlieren. Aus der Reihe der so „gezähmten“ Kinder rekrutieren sich die der übertragenen Vater- oder Muttersuggestion zeitlebens leicht zugänglichen Menschen und ein großer Teil der Neurotiker.

Ob diese gewaltsame Dressur nicht auch dem Charakter oder der Gesundheit des Pferdes nachteilig ist, läßt sich von vorn- ' herein nicht entscheiden.

Glaube, Unglaube und Überzeugung”

Neuartige wissenschaftliche Auffassungen pflegen mit einem Maß von Mißtrauen und Unglauben empfangen zu werden, das die Grenzen der Objektivität weit übersteigt und ausgesprochene Feindseligkeit verrät. Viele gehen der Überprüfung der vor- gebrachten, dem Althergebrachten besonders in methodologischer Hinsicht allzu schroff widersprechenden Tatsachen überhaupt aus dem Wege, indem sie diese a priori für unwahrscheinlich erklären; andere sind sichtlich bestrebt, die unvermeidlichen Schwächen und Unvollkommenheiten einer neuen Einsicht hervor- zuneben, um auf Grund dieser das Ganze fallen zu lassen, anstatt ihre Vorzüge und Mängel mit der gleichen Unparteilichkeit zu prüfen oder sogar mit einem gewissen Wohlwollen auf das Vorgebrachte einzugehen und die Kritik erst nachträglich walten zu lassen.

In schroffem Gegensatz zu diesem „blinden Unglauben“ steht jener blinde Glaube, der anderen an sich vielleicht viel weniger wahrscheinlichen Mitteilungen entgegengebracht wird, sobald die Persönlichkeit, die sie vorbringt, oder die Methodik, auf die sie sich stützt, im wissenschaftlichen Publikum sich großer Achtung und Autorität erfreut.

Es sind dies affektive Momente, die also auch das wissen- schaftliche Urteil zu trüben vermögen.

In der Psychoanalyse, die die zu Änalysierenden allmählich dazu bringt, ihre Auffassung über viele Dinge wesentlich zu ver- ändern, bietet sich reichliche Gelegenheit, dieses widerspruchsvolle

* Vortrag gehalten auf dem Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in München, 1913.

176 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung

Verhalten der Menschen neuartigen Behauptungen gegenüber zu beobachten, in seine Elemente zu zerlegen und seinen Entstehungs- bedingungen nachzuforschen.

Mancher Patient z. B. viele Hysterische beginnen die Kur mit übertriebener Glaubensseligkeit; sie nehmen alle unsere Erklärungen unterschiedslos an und werden nicht müde, die neue Methode öffentlich zu verherrlichen. Es sind dies die Fälle, die den Anfänger zu falschen Vorstellungen über die Raschheit und Promptheit der Wirkung der Psychoanalyse verleiten können. Erst die tieferreichende Analyse, in der auch die Widerstände zu Worte kommen, zeigt uns, daß diese Patienten von: der Rich- tigkeit der psychoanalytischen Erklärungen nicht eigentlich über- zeugt waren, sondern sie blind (dogmatisch, doktrinär) geglaubt haben; sie benahmen sich wie Kinder überwältigenden Autoritäten gegenüber: sie verdrängten mit Erfolg alle ihre Bedenken und Einwände, nur um sich die auf den Arzt übertragene Vaterliebe zu sichern.

Andere Patienten besonders Zwangsneurotiker bringen allem, was vom Arzte behauptet wird, sofort den größten intellek- tuellen Widerstand entgegen.“ Die Analyse läßt dann diese feind- selige Einstellung auf die Enttäuschung an der Wahrheit der Aus- sagen (resp. Wirklichkeit der Liebe) von Autoritätspersonen zurück- führen, die zur Folge hat, daß so viele ihren Glauben zu ver- drängen geneigt sind und nur den Unglauben zur Schau tragen. Eine besondere Art der Zwangsneurose, die Zweifelsucht, ist durch die Hemmung der Urteilsfunktion charakterisiert: Glaube und Un- glaube kommen hier gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander mit gleicher Intensität zur Geltung und verhindern das Zustande- kommen sowohl der Überzeugung als auch der Ablehnung einer Behauptung, also die Urteilsbildung überhaupt.

Der Paranoische gar geht gar nicht in die Prüfung eines ihm vorgebrachten Erklärungsversuches ein, sondern bleibt bei der Frage stecken: welches Motiv, welches Interesse mag der Arzt an

* „Bei männlichen Patienten scheinen die bedeutsamsten Kurwiderstände vom Vaterkomplex auszugehen und sich in Furcht vor dem Vater, Trotz und Un- glauben gegen den Vater aufzulösen!“ (Freud „Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie“, Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. 1.) |

Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 177

der Vorbringung jener Behauptung haben, welchen Zweck verfolgt er damit; und da er solche Motive leicht finden oder erfinden kann, läßt er sich gar nicht tiefer in die Analyse ein.“ Es: muß also wenigstens eine Spur von Übertragungs- (Glaubens-) fähigkeit, d. h. Vertrauen bei der Person, der man etwas beweisen will, vorhanden sein; sie darf zumindest die Möglichkeit, daß ich Recht habe, nicht von vorneherein ausschließen.

Im allgemeinen fließt der logisch nicht zureichend begrün- dete Unglaube aus zwei ÄAffektquellen: aus der vorausgegangenen Enttäuschung an der Fähigkeit autoritärer Persönlichkeiten zur Erklärung von Dingen und Vorgängen, oder aus der Enttäuschung an ihrem guten Willen zu richtigen Aufklärungen. Die erstere Art ist eine Reaktion auf das ursprüngliche Vertrauen zum Alles- wissen und Alleskönnen der Eltern, das der späteren Erfahrung nicht standhält, die letztere ist die Reaktionsbildung auf die ur- sprünglich vorausgesetzte und auch wirklich erfahrene elterliche Allgüte. Den Namen „Unglaube“ verdient also eigentlich nur die erstere Art des intellektuellen Negativismus, bei dem die Au- torität überhaupt verloren gegangen ist, während die zweite Art besser mit dem Worte „Mißtrauen“ bezeichnet wird. Im ersteren Falle werden die Autoritäten gleichsam entgöttert, im zweiten allerdings negativistisch weiter verehrt: nur wird der Gottesglaube durch eine Art Teufelsglauben abgelöst, den Glauben an eine Allmächtigkeit, die ausschließlich in den Dienst böswilliger Absichten gestellt ist. Am allerdeutlichsten äußerst sich dies beim Verfolgungswahnsinnigen, der dem Verfolger, rich- tiger: der negativ gefaßten Vaterimago, übermenschliche Macht und übernatürliche Fähigkeiten zuschreibt, z. B. Verfügung über alle anderen Menschen, über alle physikalischen und okkulten Kräfte (Elektrizität, Magnetismus, Telepathie etc.), die alle nur dazu dienen, ihn (den Verfolgten) umso sicherer zu verderben. Es gibt übrigens kaum eine Analyse, in der der Patient den an Stelle des Vaters stehenden Arzt nicht vorübergehend oder auch für längere

* Ähnlich benehmen sich zeitweise auch die Neurotiker; zu dieser Kategorie gehören auch jene „wissenschaftlichen“ Einwände gegen die Psychoanalyse, daß der Analytiker nur Geld verdienen, zu Macht gelangen, die Moral der Patienten

verderben will, etc.

12

178 Glaube, Unglaube und-Ueberzeugung

Zeit mit dem Teufel in Person identifizierte; mancher sieht im Arzt abwechselnd seinen hilfreichen, allmächtigen Gott, dem man alles blind glauben muß, und seinen gleichfalls allmächtigen, aber teuflisch böswilligen Verderber, dem man sogar das scheinbar Evidente nicht glauben darf.

Alle diese Tatsachen weisen darauf hin und unsere Analysen bringen dazu täglich Bestätigungen, daß die Abnormitäten des Glaubens: die übermäßige Glaubensseligkeit, die Zweifelsucht, wie auch der prinzipielle Unglaube und das Mißtrauen, Symptome der Regression oder des Steckenbleibens auf jenen infantilen Stufen der Realitätsentwicklung sind, die ich als die magische und die Projektionsphase des Wirklichkeitssinnes benannt habe.”

Nachdem das Kind, durch die Erfahrung gewitzigt, den Glauben an die eigene ÄAllmacht, die ihm die Befriedigung aller Wünsche einfach durch lebhaftes Wünschen, später durch Gebärden- und Wortsignale verschaffte, zu verlieren beginnt, fängt es allmählich zu ahnen an, daß es „höhere, göttliche“ Mächte gibt (Mutter oder Amme), deren Gunst es besitzen muß, soll der magischen Gebärde die Befriedigung auf dem Fusse folgen.”“ Es entspricht diesem Stadium völkergeschichtlich die religiöse Phase der Menschheit.””” Der Mensch hat auf die Allmacht der eigenen Wünsche zu ver- zichten gelernt, nicht aber auf die Idee der Allmacht überhaupt. Letztere wurde einfach auf andere, „höhere“, Wesen (Götter) über- tragen, die dem Menschen allgütig alles gewähren, insoferne man gewisse, ihnen gefällige Zeremonien pünktlich befolgt, (z. B. ge- wisse Forderungen der Amme bezüglich der Reinlichkeit und des sonstigen Betragens, resp. gewisse Gebetsformeln, die Gott gefällig sind.) Die Neigung vieler Menschen zum blinden Autoritäts- glauben kann als eine Fixierung an dieses Stadium der Wirk- lichkeitsauffassung angesehen werden.

* Siehe dazu meinen Aufsatz über „Entwicklungsstufen des Wirklichkeits- sinnes“. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, I. Jahrgang, S. 132 und S. 135.

= Ar RO.

*** Siehe dazu: Freud „Über gewisse Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und.der Neurotiker.“ „Animismus, Magie und Ällmacht der Gedanken.“ Imago, II. Jahrgang, 1. Heft.

Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 179

Der Enttäuschung hinsichtlich der eigenen Macht folgt aber bald auch die hinsichtlich der Macht und dem Wohwollen jener höheren Mächte (Eltern, Götter). Es wird erkannt, daß es mit dem guten Willen und der Macht jener Autoritäten nicht so weit her ist; daß jene selber anderen, noch höheren Gewalten gehorchen müssen (die Eltern den Vorgesetzten, dem Landesfürsten), daß jene vergötterten Gestalten sich oft als kleinlich-egoistische Wesen erweisen, die auch auf Kosten fremden Wohles auf das eigene bedacht sind; schließlich verflüchtigt sich die Illusion der Existenz einer göttlichen Allmacht und Allgüte überhaupt, um der Einsicht in die alles gleichmäßig und gefühllos beherrschende Gesetzmäßig- keit im Weltgeschehen Platz zu machen.

Das Produkt dieser letzten Enttäuschung ist die Projektions-, nach Freud die wissenschaftliche, Phase des Realitätssinnes. Aber jeder überwundene Standpunkt auf dem schmerzlichen Wege dieser Entwicklung kann durch seinen überwältigenden Eindruck gleichsam traumatisch eine vulnerable Stelle, einen „Fixierungs- punkt“ im Seelenleben schaffen, zu dem die Libido immer zu regredieren geneigt bleibt, der also in gewissen Äußerungen auch des späteren Lebens wiederkehrt. Als Formen dieser „Wieder- kehr“ des (scheinbar) Überwundenen erachte ich aber auch die verschiedenen Äußerungen des blinden Glaubens, der Zweifelsucht, des prinzipiellen Unglaubens und des Mißtrauens.

Die allererste Enttäuschung, die an der eigenen Allmacht, erfährt das Kind bekanntlich, wenn in ihm Bedürfnisse erwachen, die durch einfaches Wünschen nicht mehr, sondern nur durch „Ver- änderung der Außenwelt“ zu befriedigen sind. Diese zwingen den Menschen, die Außenwelt überhaupt zu objektivieren, sie als solche wahrzunehmen und anzuerkennen; die sinnliche Wahrnehmung ist also zunächst die einzige Gewähr der Objektivität, der Rea- lität eines psychischen Inhaltes. Das ist die „Ur-Projektion“, die Teilung der psychischen Inhalte zwischen dem „Ich“ und dem „Nicht-Ich“.* Man hält nur solche Dinge für „wirklich“ (d. h. auch unabhängig von unserer Einbildung existierend), die unabhängig von unserem Willen, ja ihm oft den Weg vertretend,

* Ferenczi: „Introjektion und Übertragung,“ Jahrbuch für psychoanalytische

Forschungen, 1. S. 430. 12*

180 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung

sich uns in den Sinneswahrnehmungen „aufdrängen“. „Seeing is believing.“*

Der erste Glaubensartikel des Kindes am Beginne der Rea- litätserkenntnis heißt also: Wirklich, d. h. außer mir wirkend ist alles, was sich mir, auch wenn ich es nicht will, als Sinneswahr- nehmung aufdrängt. Die „Handgreiflichkeit“, „Augenscheinlichkeit“ bleibt denn auch zeitlebens die Grundlage jeder „Evidenz“. Aller- dings lehrt die spätere Erfahrung, daß auch Sinneswahrnehmungen täuschen können, und erst die simultane und sukzessive gegen- seitige Kontrolle der Sinneseindrücke [die natürlich schon die Ent- wicklung eines E-(Erinnerungs-)-Systems neben dem ursprünglichen W-(Wahrnehmungs-)-System voraussetzt””] verschafft dann jene „unmittelbare Gewißheit des Anschaulichen“, die wir kurz Evidenz heißen. Im Laufe der fortschreitenden Entwicklung des Realitäts- sinnes kommt es dann zur Ausbildung der logischen Denkformen, d. h. jener Arten der die Vorstellungen aufeinander beziehenden Geistestätigkeit, mit deren Hilfe man stets „richtig“ (d. h. der Erfahrung niemals widersprechend) urteilen, folgern, Ereignisse voraussagen und zweckmäßig handeln kann. Nebst der Sinnfällig- keit kommt also auch den logischen Denkgesetzen (und der Ma- thematik) unbestrittene Evidenz zu; da aber letztere eigentlich ein Niederschlag der Erfahrung sind, so bleibt in letzter Linie doch die Ansicht Lockes zurecht bestehen, wonach alle Evidenz auf Anschauung beruht.

Unter den „Objekten“ der Außenwelt, die dem Willen des Kindes entgegentreten, deren Existenz es also anerkennen muß, spielen die anderen Menschen eine ganz besondere und immer bedeutender werdende Rolle. Mit den übrigen Objekten der Außen- welt wird das Kind allmählich fertig; sie legen ihm immer und unabänderlich dieselben Hindernisse, d. h. ihre unveränderlichen oder sich gesetzmäßig verändernden Eigenschaften in den Weg, mit denen es rechnen und mittels deren Kenntnis es sie mehr

* „The ground of all certainty is obiective, in the sense, that is, of being something directly and immediately determined for the subiect and not by it“ (Artikel „Belief“ in der Encyclopedia Britannica, 10. Bd., p. 597.)

** Über diese Terminologie siehe dic letzten Abschnitte in Freuds „Traum- deutung“.

Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 181

oder minder beherrschen kann. Die anderen Lebewesen, besonders die anderen Menschen dagegen sind für das Kind unberechen- bare, eigenwillige Objekte, die seinem Willen nicht nur pas- siven, sondern aktiven Widerstand entgegenstellen, und gerade diese anscheinende Schrankenlosigkeit mag das Kind veranlassen, Allmachtsphantasien auf besonders imponierende Mitmenschen: auf die Erwachsenen zu übertragen. Der andere große Unterschied zwischen den Menschen und den übrigen Objekten der Außenwelt ist, daß die anderen Objekte niemals lügen; irrt man sich in dieser oder jener Eigenschaft eines Objekts, so stellt sich am Ende immer heraus, daß der Fehler an uns lag. Das Kind behandelt die Worte zunächst wie Gegenstände (Freud), d. h. es glaubt ihnen, es nimmt sie nicht nur wahr, sondern auch für wahr. Während es aber seinen Irrtum in Bezug auf andere Objekte allmählich korri- gieren lernt, wird ihm diese Möglichkeit bezüglich der Aussagen der Eltern benommen; nicht nur weil diese ihm mit ihrer wirklichen und vermeintlichen Allmacht schon von vorneherein derart impo- nieren, daß es an ihnen nicht zu zweifeln wagt, sondern auch, weil es ihm oft unter Androhung von Strafen und Entziehung der Liebe verboten wird, sich von der Richtigkeit der Aussagen der Erwachsenen zu überzeugen. Angeborene Neigung und Erziehungs- einflüsse wirken also zusammen, um das Kind blindgläubig gegen- über den Aussagen imponierender Persönlichkeiten zu machen. Dieses Glauben unterscheidet sich von der Überzeugung da- durch, daß das Glauben ein Akt der Verdrängung, die Über- zeugung dagegen unparteiische Urteilsfällung ist.

Als komplizierender Umstand, der die Anpassung noch mehr erschwert, erweist sich besonders der, daß die Erwachsenen die eigene Urteilsbildung des Kindes nicht gleichmäßig hemmen. Über gewisse, sogenannte „harmlose“ Dinge dürfen, ja sollen sie richtig urteilen; Äußerungen der Intelligenz des Kindes werden sogar mit Jubel aufgenommen und mit besonderen Liebesprämien belohnt, solange sie nicht sexuelle und religiöse Fragen oder die autoritäre Stellung der Erwachsenen betreffen; in den letztgenannten Dingen aber fordert man von ihnen, daß sie sich entgegen aller Evidenz blind stellen und allen Zweifel, jede Neugierde unterdrücken, man kann also sagen, auf jede selbständige Denkarbeit verzichten. Wie

.182 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung

das Freud öfters hervorgehoben hat“, bringt nicht jedes Kind diese partielle Entsagung auf eigenes Urteilen zustande, sondern sie reagieren darauf mit allgemeiner Denkhemmung, man kann sagen: mit einer Art von affektivem Schwachsinn. Aus denen, die auf dieser Stufe stecken bleiben, rekrutieren sich die Leute, die dem Einflusse jeder energischen Persönlichkeit unterliegen oder, gewissen, besonders energischen Suggestionen zeitlebens unterworfen, sich niemals über den beschränkten Kreis dieser Eingebungen hinaus- wagen. Etwas von dieser Disposition muß auch in den leicht hyp- notisierbaren Personen vorhanden sein; ist doch die Hypnose nichts anderes als der temporäre Rückfall in diese Phase infantiler Selbst- entäußerung, Gläubigkeit und Unterwerfung.” Die Analyse solcher Fälle deckt allerdings meist versteckten Spott und Hohn hinter dem blinden Glauben auf. Der Satz: „Credo, quia absurdum“ ist eigentlich die bitterste Selbstironie.

Kinder mit frühzeitig entwickeltem Realitätssinne kommen der Forderung der partiellen Verdrängung ihrer Urteilsfähigkeit nur teilweise nach. Ihr Zweifel kehrt oft auf andere Vorstellungen verschoben aus der Verdrängung leicht wieder. Der Spruch Lichtenbergs, daß „der Unglaube in einer Sache bei den meisten Menschen sich auf blinden Glauben in einer anderen gründet“, bewahrheitet sich bei diesen. Sie nehmen gewisse Dogmen kritik- los an, rächen sich aber durch übertriebenes Mißtrauen allen sonstigen Behauptungen gegenüber.

Die stärkste Belastung seiner Glaubensfähigkeit erfährt das Kind in Bezug auf seine eigenen subjektiven Gefühle. Die Er- wachsenen fordern von ihm, daß es Dinge, die ihm angenehm sind, für „schlimm“ hält; die ıhm lästigen Entsagungen dagegen für „schön“ und „gut“. Der Doppelsinn in den Worten „gut“ und „schlecht“ (die sowohl gut- und schlecht-schmeckend, als auch artig und unartig bedeuten), trägt nicht zum wenigsten dazu bei, die Aussage dritter Personen über die eigenen Gefühle zweifelhaft zu machen. Hierin dürften wir mindestens eine Quelle des besonderen Mißtrauens gegenüber psychologischen Aus-

* Siehe besonders: Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.

** Siehe dazu meine Arbeit: Introjektion und Übertragung. Jahrbuch für Psychoanalyse 1.

Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 183

sagen zu suchen haben, während sogenannten „exakten“, mathe- matisch formulierten oder auf technisch-mechanische Beweisverfahren gestützten Aussagen oft ungerechtfertigtes Vertrauen entgegen- gebracht wird. Das Steckenbleiben im Stadium des Zweifels zieht oft eine dauernde Lähmung der Urteilsfähigkeit nach sich, am deutlichsten sehen wir diesen psychischen Zustand in der Zwangs- neurose ausgeprägt.” Der Zwangsneurotische ist durch Hypnose oder Suggestion nicht zu beeinflussen, anderseits vermag er sich auch zu selbständigen Schlußfolgerungen nie aufzuschwingen.”“

Nun können wir es besser verstehen, warum die heutige Gesellschaft auch wissenschaftlichen Behauptungen gegenüber zum Teil ungläubig und zweifelsüchtig, zum Teil dogmatisch gläubig geworden ist. Die übertriebene und oft ungerechtfertigte Hoch- achtung vor technisch-mathematischen, graphischen, statistischen Beweisverfahren und die große Skepsis besonders psychologischen Dingen, z. B. den psychoanalytischen Lehren gegenüber wird jetzt verständlicher. | |

Es scheint sich das alte Sprichwort zu bewahrheiten: wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Die Enttäuschung, die man in gewissen psychologischen

* Siehe Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. (Kleine Schriften zur Neurosenlehre, III. Bd.)

** In diesem Zusammenhange darf man die auffallende Tatsache hervor- heben, daß von den Neurosen die Hysterie, der es gelingt, den Zweifel und überhaupt den bewußtseinsfeindlichen Affekt aus der psychischen Sphäre voll- ständig ins Körperliche zu verdrängen, anscheinend seltener wird; es mag damit zusammenhängen, daß neuere Beobachtungen auch über die Hypnotisierbarkeit der Menschen viel niedrigere Zahlen ergeben. Dagegen scheint die Zahl der Zwangsneurotiker in Zunahme begriffen zu sein, ja man kann behaupten, daß es heute wenige sogenannte Normalmenschen ohne gewisse Zwangserscheinungen gibt. Man ist versucht, die Ursache dieser Verschiebung auf den unverkennbaren Nachlaß der Religiosität in der Gesellschaft zurückzuführen. Auch wer den sozi«len Wert der Religiosität hochschätzt, muß übrigens zugeben, daß die den Kindern frühzeitig eingeprägten starren religiösen Dogmen die Selbständigkeit ihres Urteils dauernd schädigen können. Schon Schopenhauer hat auf den Zusammen- hang zwischen der Denkunfreihelt der Erwachsenen und der religiösen Erziehung der Kinder hingewiesen. Er sagte: „Nicht nur das Aussprechen, die Mit- teilung der Wahrheit, nein, selbst das Denken und Auffinden derselben wird unmöglich zu machen gesucht, dadurch, daß man ın frühester Kindheit die Köpfe den Priestern zum Bearbeiten in die Hände gab.“ (Parerga und Paralipomena.)

184 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung

(sexuellen und religiösen) Dingen bezüglich der Wahrheitsliebe der Eltern und Lehrer erfahren hat, machte die Menschen psycho- logischen Aussagen gegenüber übermäßig skeptisch; darum fordern sie besondere Sicherheiten, um nicht nochmals getäuscht zu werden.

Diese Forderung ist nur zu gerechtfertigt; unlogisch wird sie nur, wenn diejenigen, die die Forderung nach der „Evidenz“ er- heben, der einzigen Möglichkeit, sie zu holen, aus dem Wege gehen.

Diese einzige Möglichkeit ist in psychischen Dingen das eigene Erleben.

Der Patient, der sich der Mühe der analytischen Behandlung unterzieht und der im Anfang alle unsere Behauptungen mit spöt- telndem Unglauben aufnimmt, kann sich nur durch Auffrischung alter Erinnerungen, und wo diese nicht mehr zu erreichen sind, „auf dem schmerzhaften Wege der Übertragung“ (auf Aktuelles, besonders auf den behandelnden Arzt) von der Wahrheit unserer Aussagen überzeugen. Ja: er muß es beinahe vergessen, daß wir es waren, die ihn auf die richtige Spur wiesen, und die Wahrheit selbst finden. So weit geht das instinktive Mißtrauen gegen alles Lehrhafte, Autoritäre, daß eine bereits gewonnene Einsicht des Patienten wieder schwankend werden kann, wenn man ihn daran erinnert, daß er sie von uns hat.

Nicht geringer ist sein Mißtrauen gegen jede merkbare Tendenz bei seinem Arzie; sobald er bei ihm eine „Absicht“ merkt, wird er verstimmt, d. h. ungläubig. Darum muß der Arzt, der mit Zweifelsüchtigen zu tun hat, alle Erklärungen ohne Affekt und mit gleichmäßiger Betonung vorbringen und darf nie merken lassen, woran ihm am meisten gelegen ist: er muß auch das Aui- finden der verschiedenen Wichtigkeitsgrade dem Zweifler selbst überlassen. Jeder, der einem etwas erklären, beibringen will, wird zu einem Vertreter der Vater- und Lehrer-Imago und lädt alien Unglauben, den diese Persönlichkeiten einstmals im Kinde erweckt haben, auf sich. Die weitverbreitete Abneigung gegen sogenannte Tendenz-Stücke und Romane, in denen die moralisierende Absicht des Verfassers allzu dick aufgetragen. ist, läßt sich gleichfalis aus dieser Quelle ableiten. Dieselben Tendenzen nimmt aber der Leser gerne, ja mit Vergnügen an, wenn sie in einem belletristischen Werke .gleichsam versteckt sind und von dem Leser selbst ge-

Glaube, Ungiaube und Ueberzeugung 185

funden werden müssen. Es ist auch bekannt, daß beinahe alle Lehren der Psychoanalyse —-sogar von den Psychiatern angenommen und mit freudiger Anerkennung quittiert werden, wenn sie in die Form des Witzes gekleidet oder als Einzelschicksale dargestellt sind.

Daraus folgt, daß aus poetischen Werken die psychologische Evidenz nur auf dem Wege der Exemplifizierung (d. h. wieder des im Detail Erlebens), nicht aber direkt auf Grund logischer Fol- gerungen zu holen ist. Für psychologische Dinge gilt der eingangs zitierte Satz in der Modifikation: Feeling is believing. Alles, was man auf anderem Wege von der Psychologie lernt, erreicht nie den Sicherheitsgrad des Selbsterlebten und bleibt auf irgend einer Stufe der Plausibilität stecken. Sonst „hört man die Bot- schaft“, allein es fehlt einem der Glaube.

Diese Einsichten über die Bedingungen, unter denen man sich psychologische Überzeugungen holen kann, setzen uns in den Stand, die bisher vorgeschlagenen psychotherapeutischen Methoden kritisch zu prüfen und ihren Wert zu vergleichen. Als die unbrauchbarste von allen scheidet die Dubois’sche „Überredungs“- und „morali- sierende“ Methode von selbst aus. Solange sie ihrem Programm entsprechend wirklich nur „dialektisch“ und „demonstrierend“ ist und die Patienten „oft durch einfache Syllogismen“ dazu bringen will einzusehen, daß ihre Symptome seelischer Natur sind, daß sie „nichts sind, als die natürliche Folge einer Gemüts- bewegung“ muß diese Therapie unwirksam bleiben; insoferne sie aber wirksam ist, verdankt sie dies versteckten oder offenen Einflüssen auf das Gemüt des Patienten, womit sie aber auch aufhört ‚rationell“ zu sein (d. h. nur mit logischen Mitteln auf die Vernunft zu wirken); sie wird dadurch einfach eine nicht einmal geschickte Abart der suggestiven (emotiven) Beeinflussung. Der Versuch des Moralisierens und logischen Überredens muß ja aus den oben mitgeteilten Gründen sofort allen Widerstand der Patienten wecken. Sie stellen sich auf den Kriegsfuß zum be- handelnden Arzt, kümmern sich nicht mehr darum, was in seinen Aussagen Wahres enthalten ist, sondern suchen (und finden) nur die schwachen Punkte in seiner Argumentation; haben sie am Ende keine Ausflucht, so mögen sie sich zwar für besiegt erklären,

haben aber dabei .nicht die Empfindung, daß der Arzt recht hat,

186 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung

sondern nur, daß er recht behielt. In der Seele der so Über- führten lauert nach wie vor der Zweifel, ob er nicht nur der dialektischen Geschicklichkeit des Arztes unterlegen ist und nur seine Trugschlüsse nicht entlarven konnte.

Die Wirkungsfähigkeit der bewußt auf Gemütsbeeinflussung hinzielenden suggestiven und hypnotischen Therapie steht außer Zweifel. Ihrer Anwendung stehen aber mehrere Bedenken im Wege. Das eine ist der oft hervorgehobene Mangel wirklicher Hypnotisier- und Suggerierbarkeit bei den meisten Menschen. (Ich halte es für unerlaubt, gewisse ganz unwirksame Prozeduren, bei denen der Patient, trotz mystischer Dunkelheit und Stirn- streichelns, alle seine Zweifel gegenüber den Aussagen des Arztes beibehält, für „hypnotische“ auszugeben. Hinter dem Ausdruck „Wachsuggestion“. steckt sehr viel Selbstbetrug; man erkundige sich nur, wie viel Spott die Patienten, die solche Kuren durch- machten, auf die von ihnen dupierten Ärzte ausschütten.) Doch auch die zweifellos gelungene suggestive (resp. hypnotische) Be- einflussung hat keine Aussicht, dem Patienten dauernd ein Ge- fühl der Überzeugung von der Wahrheit der Aussagen des Arztes und einen so tiefen Glauben einzuprägen, daß er stark genug wäre, selbst der Evidenz zum Trotz das Gefühl des Nichtvorhanden- seins der Symptome (d. h. eine negative Halluzination) aufrecht- zuerhalten. Diese „Selbstverleugnung“ bringt der Kranke, wie be- kannt, nur zustande, wenn und solange der Arzt für ihn als eiter- liche Autorität gilt und diese seine Eigenschaft durch zeitweise wieder- holte Liebesbeweise oder Strafandrohungen (d. h. Strenge) bezeugt. („Vater-“ und „Mutterhypnose“.) Ein dritter mehr praktischer Einwand ist der, ob es gerechtfertigt ist, einen Menschen mit Ab- sicht auf jene kindliche Stufe der Gläubigkeit, über die er sich, wie die Symptome bezeugen, erheben möchte, wieder hinabzudrücken. Beschränkt sich doch diese Selbsterniedrigung, soll sie wirksam sein, niemals auf einen ganz speziellen Komplex, sondern erstreckt sich auf die ganze Individualität. Wie dem auch sei, soviel steht außer Zweifel, daß der Kranke sich auf dem Wege der Suggestion niemals wirkliche „Überzeugungen“ verschaffen kann, die geeignet wären, ihm als Basis einer dauernd symptomfreien, d. h. ökono- mischeren und erträglicheren psychischen Existenz zu dienen.

Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 187

Während die „rationelle“ (richtiger: rationalisierende) und die suggestiv-hypnotische Psychotherapie ohne Rücksicht auf die, ihren Vertretern übrigens unbekannten, Bedingungen für das Zu- standekommen wichtiger, die bisherige psychische Einstellung ver- ändernder Überzeugungen und Einsichten einseitig intellektuell oder emotiv auf die Patienten einwirken wollen, fordert die Freudsche Psychoanalyse die volle Berücksichtigung sowohl des Vernunfts- als auch des Gemütslebens. Sie geht von der Tat- sache aus, daß wirkliche Überzeugungen nur aus affektbetonten Erlebnissen zu holen sind und daß ihr Zustandekommen durch verdrängte Affekte des Hasses und des Unglaubens gehindert wird. Mit Hilfe der freien Assoziation setzt sie den Patienten in den Stand, verdrängte Erinnerungen und Phantasien, die einstmals falsch d. h. auf dem Verdrängungswege erledigt wurden, wieder zu erleben und mit deren Hilfe das eigene Seelenleben selbständig und unbeeinflußt kritisch zu revidieren. Indem aber die Analyse die (positiven und negativen) Affekte des Patienten auch in der Form der Übertragung auf den Arzt zu Worte kommen läßt (und ‘es muß hier betont werden, daß dieser Prozeß das Werk des Patienten selbst und fast nie vom Arzt provoziert ist), er- ermöglicht sie, daß der Patient auch Komplexe, deren bewußte Spuren schon verlöscht und nicht mehr aufzufrischen sind, die ihm also am fremdartigsten vorkamen, in Wirklichkeit dramatisch erlebt und sich von deren Existenz in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise überzeugt. Die Psychoanalyse erweckt das Vertrauen des Patienten durch ein einfaches Mittel: sie drängt nichts dem Patienten auf, weder ihre Autorität noch mit deren Hilfe ihre Lehren. Im Gegenteil: sie gestattet dem Analysierten jede Art und jedes Maß des Unglaubens, des Spottes und des Hohns gegen die eigene Methode und deren Vertreter, den Arzt, und wo sie deren versteckte oder verdrängte Spuren bemerkt, bringt sie sie schonungslos ans Tageslicht. Wenn der Patient sieht, daß er auch mißtrauen darf, daß er in keiner Weise in seinen Gedanken und Gefühlen beeinträchtigt wird, fängt er an, auch an die Möglichkeit zu denken, ob nicht vielleicht doch etwas Richtiges aus den Behauptungen des Arztes zu holen ist.

Die sogenannte Breuer-Freud'sche kathartische Behand- lungsmethode, bei der einzelne Ärzte, wie z. B. Frank, Bezzola,

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stecken geblieben sind, weist noch zu viele Spuren der historischen Entwicklung der Psychoanalytik aus der Hypnose auf. Die Autorität des Arztes bleibt in dieser Behandlungsmethode infolge der Nichtberücksichtigung der Übertragung unangetastet, die Pa- tienten erlangen also dabei nicht die zur selbständigen Urteils- bildung nötige volle Unabhängigkeit.

Die Adler’sche Psychotherapie, die das ganze neurotische Seelenleben in das Prokrustesbett einer einzigen Formel (Minder- wertigkeit und deren Kompensation) zwingen will, mag durch charakterologische Feinheiten bei manchem Neurotiker Interesse und Verständnis erwecken; sie finden eben in der Adler’schen Lehre ihre eigenen (falschen) Ansichten über ihren Zustand wieder und sind darüber entzückt. Therapeutisch ist aber damit nichts gewonnen, da hier nicht einmal der Versuch gemacht wird, dem Patienten zu neuartigen, seine bisherige Einstellung wesentlich verändernden Überzeugungen zu verhelfen.

Eine therapeutische Modifikation, wie z. B. die Jung’s, die keinen besonderen Wert darauf legt, daß die Patienten die infan- tilen traumatischen Erlebnisse im Einzelnen wiedererleben, und sich mit dem allgemeinen Hinweise auf den archaischen Charakter der . Symptome oder mit wenigen Beispielen, die dies dem Patienten bestätigen sollen, begnügt, verzichtet durch diese Abkürzung der Behandlung auf den Vorteil, das dem Patienten Unbewußte mit Hilfe einer genauen Lokalisation in das feste Gebäude der psy- chischen Determination einzufügen. Allgemeines Belehren und Mo- ralisieren mag den Patienten für den Moment hinreißen; diese Art Einsicht ist aber da sie nur suggestiv oder dialektisch aufgedrängt sein kann mit allen oben auseinandergesetzten Mängeln der autoritären und der sogenannten „rationalen“ Therapie behaftet; auch diese Modifikation benimmt also dem Patienten die Möglichkeit, sich seine Überzeugungen selbst zu verschaffen, d.h. die einzige Art, in der in psychologischen Dingen Evidenz überhaupt zu holen ist.

Die Freud’sche Methode, die Psychoanalyse, ist es also, die zu jenem Grad von innerer Sicherheit verhelfen kann, die „Überzeugung“ genannt zu werden verdient.

Inhaltsverzeichnis

Seite

Über Aktual- und Psychoneurosen im Lichte der Freud’schen Forschungen und über Psychoanalyse + 4-12. „m Sara BE Re 1 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen » » "vr... 25 Die Psychoanalyse der Träume - »- »- - » een 41 Träume der Ähnungslosen - » »- «ever nenn 66 Suggestion und Psychoanalyse Er RR er an Be See a a A EE

Die wissenschaftliche Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexual- theorie“ - » se Su ee es at er N 84 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen : » » » » Kl: 26 50 Zur 89 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte - - ee. re. 103 Psychoanalyse und Kriminologie - - : » rennen en 114 Philosophie und Psychoanalyse » » » - «een 118 Zur Psychogenese der Mechanik » - » » » «ne een er ee. 128 138

Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“ : - » » « + rer... Symbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythos 142

Cornelia, die Mutter der Gracchen - - - » * een er 154 Anatole France als Änalytiker - - - - un tue ne 159 Zaähmung eines wilden Pferdes - » » » + TE ET Fe ee 169

175

Glaube, Unglaube und Überzeugung re 16: 2 Er

Von Dr. S. Ferenczi sind bisher erschienen:

Introjektion und Übertragung. Eine psychoanalytische Studie. Leipzig u. Wien 1910. F. Deuticke. (Vergriffen.)

Hysterie und Pathoneurosen. Internationale Psychoanalyti- sche Bibliothek Nr. II.) Leipzig, Wien u. ‚Carich 1912. Internationaler Psycho- analytischer Verlag.

Contributions to Psychoanalysis. Authorised translation by Dr. Ernest Jones (London). Boston 1916. R. G. Badger.

Lelekelemze&s (3. Aufl. 1919. M. Dick, Budapest). Lelki Probl&mäk (2. Aufl. 1919," ebendort). Ideges tünetek (2. Aufl. 1919, ebendort).

A Pszichoanalizis Haladäsa (1919, ebendort). A hiszteria (1919, ebendort).

Über die Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung informieren fortlaufend unsere beiden Zeitschriften:

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Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud

Redigiert von Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs

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(Ständige Rubriken: Originalarbeiten. Mitteilungen. Aus der Praxis. Kritiken und Referate. Zur psychoanalytischen Bewegung. Korrespondenzblatt der Internationalen ok eg nie. Ver- einigung. Mitteilungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages

4 Hefte jährlich im Gesamtumfang von mindestens 32 Bogen Im Jahr 1922 erscheinen in den beiden Zeitschriften u. a. folgende Beiträge:

Prof. Freud: Traum und Telepathie Dr. Ernest Jones (London): Über funktionale Dr. Karl Abraham (Berlin): Vaterrettung und Symbolik Vatermord in den neurotischen Phantasien | Prof. Dr. Hans Kelsen (Wien): Freuds Massen-

psychologie und der Begriff des Staates

Doz. Dr. Johann Kinkel (Sofia): Zur Frage der psychologischen Grundlagen des Ursprunges

Die Spinne als Traumsymbol

Dr. F. Alexander (Berlin): Kastrastionskom- plex und Charakterbildung

; ER der Religion Dr. S. Bernfeld Kuien): Über SURHBRERDE Aurel Kolnai (Wien): Zur psychoanalytischen Dr. F. Boehm (Berlin): Beobachtungen über den ® | Soziologie erot. Verkleidungstrieb (Transvestitismus) z er i Wr: Dr. F. Künkel (Oberndorf): Eine hynopause Dr. Ren rer. ERPRORRED, Vorstellung. Zum Problem des Erwachens | teen Ar Alexander en Gro ter | Dr. Monroe Meyer (New-York): Die Traum- Dr. Helene Deutsch (Wien): Über die patho- form als Inhaltsdarstellung togische Lüge Ar oendpEngin PENKERERN Dr. Emil Oberholzer (Zürich): Eine Deck- Dr. S. Feldmann (Budapest): Über Erröten erinnerung (Bee u, ERFSURMOgIe er a, Dr.C.Oberndorf (New-York): Die Rolle einer Dr Ferenezi (Budapest): Die Psyche als organischen Ueberwertigkeit bei einer Neurose emmungsorgan ar Fr ; i Siegfried Peine (Hamburg): Von den neuro- Einige soziale Gesichtspunkte der Psycho- Euiat Wurzeln des gesteigerten Variations- analyse bedürfnisses, insbesondere der vita sexualis Albert Furrer (Zürich): Tagphantasien eines Pfarrer Dr. Oskar Pfister (Zürich): Die Reli- sechseinhalbjährigen Mädchens gionspsychologie am Scheidewege Dr. ‚Georg Groddeck (Baden-Baden) :. Der | Die primären Gefühle als Bedingungen der Symbolisierungszwang | höchsten Geistesfunktionen Dr. , Hermann (Budapest): Randbemerkungen Doz. Dr. Paul Schilder (Wien): Über eine zum Wiederholungszwang Psychose nach Staroperation ZurPsychogeneseder zeichnerischen Begabung Dr. Arnold Stocker (Jassy): Ödipustraum eines Dr. R.H. Jokl (Wien): Über den Schreibkrampf | Schizophrenen

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ÜBER DAS VORBEWUSSTE PHANTASIERENDE DENKEN

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DER SEELE LENSUÜCHER EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN

Der Stil erinnert etwas an die „Pick- wickier“, wenn auch der Inhalt durchaus nicht so harmlos ist; für Kinder ist diese

Lektüre nicht. Frankfurter Zeitung

Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat

unter deutschen Büchern, ein Buch von eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was sonst als erzählende deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser neben dieser Quintessenz... So was Freches, Ungeniertes, raffiniert Ge- scheit-Verrücktes ist von Erzählern unserer Sprache noch nicht gewagt worden. Man muß zu den Großen satirischer Dichtung, will man die Patrone dieser Schrift nennen. Von Jonathan Swifts unsterblicher Galle kreist ein Tropfen in des Seelensuchers

Bitterkeit; an Cervantes erinnert der

Ritus, nach dem hier einer zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit abgibt, erinnert die Durchsetzung dieser Narrheit mit Idee und Idealität; in der Rabies ihrer Witzigkeit aber gespenstert das Überdimensionierte der Gargantua- Komik.

/ Die Figuren haben beiläufige Kontur. | Auch der Held Thomas, der als Don Qui- xote Sigmund Freudscher Weltauschau- ung seiner fürsorglichen Schwester Agathe durchbrennt, streitbar durch die deutschen Lande zieht, in die wunderlichsten Händel und skurrilsten Abenteuer gerät, als Ritter seiner Dulcinea Psychoanalyse die erbit- tertsten Reden und andere Schlachten schlägt, aller Orten wie der de la Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein aller Orten Symbole, insbesonders ero- tische Symbole sieht, erfüllt von der hei- ligen Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle Körpers und Geistes.

Dieser Thomas ist ein urgemütliches Gespenst, das seine Hirnschale in Händen hält und aus dem muntren Qualm, der ihr entsteigt, die Welt deutet... Eine Figur, so voll der kostbarsten Narrheit

die keine Narrheit, sondern Ernst- Clownerie ist noch durch keinen deut- schen Roman gewandelt... Sie hat ein Format und eine Funktion; der Rest ist Ulk. Aber Ulk von der hellsten Sorte. Hier lehrt einer, zum Gaudium des Lesers, die Welt über den psychoanaly- tischen Stock springen. drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst, Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine drolligste demonstratio ad rem et homi- nem von der Unfreiheit der Erscheinungen. Wie sich hier Sinn zu Hanswurstiaden übersteigert, Geist in närrische Aktion umsetzt, Dogma possenreißerisch sich be- hauptet, Erkenntnis, ihrer Unverletzbar- keit hochmütig gewiß, ins dichteste Ge- lächter stürzt solche lustige ÄAbenteuer- fahrt des Gedankens hat noch kein deut- scher Mann gewagt. | Alfred Polgar im Berliner Tageblatt

Es kann kein schlechtes Buch sein, dem es wie diesem gelingt, den Leser vom Anfang bis zum Ende zu fesseln, schwere biologische und psychologische Probleme in witziger, ja belustigender Form dar- zustellen, und das es zustande bringt, derbzynische, groteske und tief- tragische Szenen, die in ihrer Nackt- heit abstoßend wirken mußten, mit seinem guten Humor wie mit einem Kleide zu behängen.

Der erziehliche Wert des Buches liegt darin, daß Groddeck, wie einst Swift, Rabelais und Balzac, dem pietistisch- hypokritischen Zeitgeist die Maske vom Gesichte reißt und die dahinter versteckte Grausamkeit und Lüsternheit, wenn auch mit dem Verständnis für deren Selbst- verständlichkeit, offen zur Schau stellt.

Die Symbolik, die die Psychoanalyse zaghaft als eine der gedankenbildenden Faktoren einstellt, ist für Weltlein tief im Organischen, vielleicht im Kosmischen begründet und die Sexualität ist das Zentrum, um das sich die ganze Symbol- welt bewegt. Dr. Ferenczi in Imago

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Der Stil erinnert etwas an die „Pick- wickier“, wenn auch der Inhalt durchaus nicht so harmlos ist; für Kinder ist diese

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Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büchern, ein Buch von eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was sonst als erzählende deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser

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