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Imago-Bücher/Nr. M/J

Tolstoi

Kindheitserinnerungen . Ein Beitrag zu a Libidotheorie 4

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Auf der gigantischen Persönlichkeit dieses sohn | Russen, erschütternd entgegenschimmernd aus seinem | künstlerischen Schaffen. fast. nacktgeschürft . be & | Autobiographischen, ruht hier zum erstenmal. ER: ge schärfte und geläuterte Blick psychoanalytischer. Er # kenninis. Der Mensch und Künstler, selbst ein Zerglir derer, selbst ein Träger genialischer Tiefenpsychologie, 3 tritt hier. in den ae a wissenschaft. :

denen ge feat lachen. Biosiähre‘ Die ae des Dr. Ossipow. darf beanspruchen, sowohl von

den Geniessern Tolstoischer. Kunst willkommen ge heißen ZU. werden. ‚als. auch bei dem n wissenschaftlich

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Internationaler Psychoanalytischer Vene | Leipzig » Wien / Zürich . Zar

Internationaler Psychoanalytischer Verlag

Leipzig, Hospitalstrasse 10 Wien, VI. Andreasgasse 3

TAGEBUCH

EINES

HALBWÜCHSIGEN MÄDCHENS

HERAUSGEGEBEN VON DR. HERMINE HUG-HELLMUTH

Dritte Auflage (6.—10. Tausend)

Das Tagebuch ist ae Noch niemals hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelen- regungen hineinblicken können, welche die Entwick- lung des Mädchens unserer Gesellschafts- und Kul- turstufe in den Jahren der Vorpubertät kennzeichnen.

(Prof. Freud)

„LiterarischesEcho“ : Weibliche Wesen der bür-

erlichen Welt werden sich beim Tagebuch Seite um Seite zurückversetzt fühlen in ihr Einst: männliche Wesen wird es statt dessen manche Kleinigkeit Gere, die sie nöch nicht wußten.

(Lou Andreas-Salome)

; Venstiche Zeitung“: Denkt euch Wedekinds Kleine Wenda, die am Fahlinsg Erwachen so tra- gisch_ zugrundegeht, habe -ihre. Erlebnisse aufge- . zeichnet, denkt sie euch in Geheimratskreise und

ı auf Wiener Boden versetzt. (Monty Jacobs) EN | „Frankfurter Zeitung“: Der Londoner Zensor

war sicher der Meinung, es komme ausschließlich in

. Wien, oder höchstens noch bei sonstigen Hunnen vor,

daß das Denkeri und Fühlen j Pr ger Mädchen durch.

bevorstehende 1 In dor Konti rscheinungen lebhaft beschäftigt wird.

Schweinerei.

„Neue Freie Presse Mic ücheiat dien Hacbe „eines ’der köstbarsten, das je die Wissenschaft Hand

in ‚Hand mit Be Zufall dargeboten. a

(Stefan Zweig)

Gesch für Gekinlrisinschäfter ai

> betrachten hier einmal wertvollerweise die seelischen

"Wirkungen des Erwachens und Erkennens geschlecht-

. licher Dinge und Beziehungen vom ass rag |

2 der Kinderseele aus.

3er „IheNew Statesman“ : Gretel ine (the a: | haben by the psycho-analytical society) belongs to

the Casanova type of autobiographer rather than

to that of Rousseau and Bashkirtseff, She is

singularly little troubled’with her own „Personality. She: writes from a breathless interest in the world

- around rather than from any morbid taste for intro- spection or self explanation . . But it is difficult

to understand why any class of grown-up people

should be warned off it. Nothing could be more healthy minded, less indecent or morbid than Greta’s

. interest in sex TION,

n der Kontinentalrasse steckt die. |

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BRITISH PSYCHO-

ANALYTICAL SOCIETY

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IMAGO-BÜCHER | | | L . DERKÜNSTLER ANSATZE ZU EINER SEXUALPSYCHOLO GIE

‘VON DR. OTTO RANK

Wohl eines der interessantesten der Probleme, denen die Psychoanalytiker sich

zugewandt haben, ist das der Künstlerps ychologie. Es ist viel auf diesem Gebiete

esündigt worden, und die Psychoanalytiker tun gut daran, eine historische oder innere

2: neiverhat mit den Sansculottes des Materialismus, mit der Etikettenkleberei allzu: h* Fi „unbefangener“ Psychiater abzulehnen . . . Es ehrt den Psychoanalytiker, daß er sich

dessen bewußt ist, hier nicht nur die vornehmste, sondern auch komplizierteste Aufgabe .

der Seelenkunde vor sich zu haben. „Prankfurter Zeitung.“

Das Werk Ranks behandelt in komprimiertester und doch lichtvoller Darstellung entscheidende Fragen . . . Der Weg zur Lösung dieser Fragen ist kühn, aber er ist und das erhöht den Wert dieses Buches kein Marsch auf der Straße. „Die Zeit.“

Rank hat über die Seele der „Intuitiven“ viele sehr verdienstvolle, wenn auch

harte und beinahe rücksichtslose Meinungen ausgesprochen‘. .. Es gehört eine große Freiheit des Geistes und eine sehr schätzbare Unbefangenheit dazu, das Sexuelle offen als den Anfang und Ausgangspunkt dessen zu bezeichnen, womit abgerechnet werden soll. Otto Rank hat den Vorwurf der zynischen Brutalität, der bei solchen Dingen niemandem erspart bleibt, nicht gescheut, Zu philosophischer Propädeutik an Mädchen-Gymnasien ist die Schrift nicht zu verwenden. Rank sieht in der gesamten Kulturentwicklung ein sexuelles Problem, Einer der konzentriertesten Gedanken, der seine Schrift charakterisiert, ist dieser: „Die Kulturentwicklung der großen, historisch bekannten Völker bewegte sich, als Ganzes betrachtet, vom ‚Urzustand‘ bis zur Hysterie: von der Allsexualität bis zur 5 Antisexualität, bis zur stärksten Sexualablehnung, Zwischen diesen beiden Polen lag bisher die gesamte kulturelle Tätigkeit des Menschengeschlechtes .. . Die Kunst nun Philo- sophie und Religion mitinbegriffen entwickelt sich vom kindlichen Traum bis zur überweiblichen Neurose und erreicht ihren Höhepunkt in den Zeiten der höchsten psychischen Not, wo das Volk über dem Abgrund der Hysterie mit der bewunderns-

j werten Virtuosität eines Nachtwandlers balanciert .. .“ -Übrigens hat Rank auf dem Wege zur Seelenschau des Künstlers eine ganze Menge psychologischer Faktoren auf

ihren sexuellen Gehalt hin geprüft und mit schöner Prägnanz demonstriert.

N e Karl Borromäus Heinrich in der „Allgemeinen Zeitung“,

a ale ; TOLSTOIS KINDHEITSERINNERUNGEN - EIN BEITRAG ZU FREUDS LIBIDOTHEORIE

VON DR. N. OSSIPOW

5 ET I. Bu DER EIGENE UNDDERFREMDEGOTT

ZUR PSYCHOANALYSE DER RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG VON DR. THEODOR REIK

"Inhalt: Über kollektives Vergessen. Jesus und Maria im Talmud. Der heilige Epi-

hanius verschreibt sich. Die wiederauferstandenen Götter. Das Evangelium des Judas

chkariot. Die psychoanalytische Deutung des Judasproblems. Gott und Teufel, Die

| Unheimlichkeit fremder Götter und Kulte. Das Unheimliche aus infantilen Komplexen, 2 Die Aquivalenz der Triebgegensatzpaare, Über Differenzierung.

LEIPZIG, Hospitalstraße 10 WIEN VII, Andreasgasse 3

INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG

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EIN BEITRAG ZU FREUDS LIBIDOTHEORIE

VON

DR. N. OSSIPOW

INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH 1925

I VORBEMERKUNGEN

Alle Werke Leo Tolstois die dichterischen, publi- zıstischen, philosophischen und religiösen stellen eine Selbstanalyse und in mancher Beziehung sogar eine Psychoanalyse im Freud’schen Sinne dar.

In der Beschreibung der Seelenerlebnisse von Dimitri Nechljudow, im ı4. Kapitel des Romanes „Auferstehung“, hat Tolstoi seine eigenen Erlebnisse in folgende Formel zu-

sammengefaßt:

„In Nechljudow lebten, wie schließlich in allen Menschen, zwei Menschen: der eine, der geistige Mensch, der für sich nur solche Güter anstrebt, die zugleich auch für andere Güter sind, und der andere, der tierische Mensch, der nur sein eigenes Wohl sucht und bereit ist, diesem die ganze Welt zu opfern.“ (In Nechljudow geht zwischen diesen beiden Menschen ein echter innerer Kampf vor sich, der ihm bald bewußt, bald unbewußt ist.)

„Nur ein Schurke, ein Lump konnte so handeln! Und ich, ich bin dieser Schurke und dieser Lump? sagte er laut. Ist es denn wirklich

wahr, bin ich wirklich ein Schurke? Ja, wer denn sonst? antwortete

1

er sich selbst... .

ı) Die Sperrungen in allen Zitaten aus Tolstois Werken stammen vom Verfasser.

ı Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

2 Ossipow: Tolstois K indheitserinnerungen

„In Bechludews Leben war schon mehrmals geschehen, was er „seiner Seele Säuberung“ nannte. Die Säuberung seiner Seele nannte er den Seelenzustand, in dem er plötzlich, manchmal nach großen Inter- vallen, die Verlangsamung des inneren Lebens gewahr wurde und all den inneren Kehricht auszufegen begann, der, in seiner Seele ange sammelt, die Ursache dieses Stillstandes bildete. Jedesmal nach solchem Aufwachen stellte sich Nechljudow Lebensregeln zusammen, denen er für immer folgen wollte: er schrieb sein Tagebuch und begann ein neues Leben, das er nie mehr zu ändern hoffte, turning a new leaf wie er sich sagte. Aber die Verlockungen der Welt umgarnten ihn wieder, ohne daß er dessen gewahr wurde, und er sank hinab, oft tiefer noch als früher.“ [In den Momenten des Aufwachens seines „geistigen Menschen“ betet Nechljudow zu Gott wie ein Kind:| „Er betete, bat Gott, ihm zu helfen, in ihm zu wohnen und ihn zu reinigen, und unterdessen war das, worum er flehte, schon geschehen. Gott, der in ihm lebte, erwachte in seinem Bewußtsein. Er fühlte sich als Ihn!!]! und empfand darum nicht nur Freiheit, Wachsamkeit und Lebensfreude, sondern fühlte die ganze Macht des Guten. Alles, alles, das Allerbeste, was nur ein Mensch tun kann, fühlte er sich jetzt imstande zu voll- bringen. In seinen Augen waren Tränen wenn er dies sagte, gute und schlechte Tränen: gute Tränen, weil es Freudetränen über das Erwachen des geistigen Menschen in ihm waren, und schlechte, weil sie Tränen der Rührung über sich selbst, über seine Tugend, waren.“

Der Gedanke, daß der Mensch eine Einheit von mehreren Wesen darstellt, hat von jeher die Dichter, Philosophen und Gelehrten beschäftigt, aber eine befriedigende

wissenschaftliche Bearbeitung hat dieser Gedanke noch nicht

ı) Im russischen Text steht eben: „er fühlte sich als Ihn“, nicht „er fühlte Ihn d. h. Gott in sich“. Das findet seine Erklärung darin, wie Tolsto: damals Gott verstand. Zu der Zeit, als die „Auferstehung“ geschrieben wurde, steht in seinem Tagebuche folgendes: ,„... Dieses innere Gesetz ist dasselbe, was wir Vernunft, Gewissen, Liebe, das Gute, Gott, nennen. Diese Worte haben verschiedene Bedeutungen, doch bestimmen sie alle ein und dasselbe von ver- schiedenen Seiten.“ (Leo Tolstoi, Tagebuch, ı. Band, München, 1917, S. 5.) Gräfin A. A. Tolstoi, seine Tante schrieb ihm: „Mir scheint es, daß Sie sich einer schon bekannten Lehre hingeben, welche den Gottmenschen leugnet, aber den Menschengott erkennt.“ (Leo Tolstois Briefwechsel mit der Gräfin A. A. Tolstoi. St. Petersburg, ıgıı. Russisch).

Vorbemerkungen 7

gefunden. Das Seelenleben des Menschen kann man als eine ununterbrochene Kette von Strebungen zu lustbrin- senden Zielen betrachten. Einige von diesen Zielen steckt sich der Mensch selbst, und darum erscheinen ihm die Strebungen, die auf diese Ziele gerichtet sind, aus seinem Ich im: engeren: Sinne des)! VWWortest\ zu enistenen „meine Strebungen“ nach Lossky'. So stellt sich Nechljudow als Ziel die Säuberung seiner Seele, darum analysiert er seine Seelenerlebnisse, stellt Lebensregeln zu- sammen, schreibt sein Tagebuch u. s. w. das sind alles Ich-Tätigkeiten. Dieses Ich ist eben das menschliche, aber weder das geistige noch das tierische Ich. Wir können es als das Individual-Ich bezeichnen, weil es für den Menschen, als einmaliges, unwiederholbares Individuum, am meisten charakteristisch ist.

Die anderen Ziele sind dem Menschen gegeben, er fühlt sich gezwungen, zu ihnen zu streben, oft sogar gegen die Wünsche und Absichten seines Individual-Ichs. „Ich tue nicht das, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich“, sagt der Apostel Paulus”. Dementsprechend werden die Strebungen, die auf diese „gegebenen“ Ziele gerichtet sind, mit dem Gefühl der Gegebenheit und der Gezwungenheit erlebt es sind „die mir gegebenen Strebungen“ nach Lossky.

Von den „mir gegebenen“ Strebungen ist bei jedem Menschen eine unzählige Menge vorhanden. Hierher gehören alle Strebungen, die als Quelle den Leib des Individuums haben somatogene Strebungen, die in zwei große

ı) Die Grundlehren der Psychologie vom voluntaristischen Standpunkte. St. Petersburg, 2. Aufl., ıgıı. (Russisch).

2) An die Römer, VII, ı5.

4 Össipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

Gruppen geteilt werden können: ı.) die Gruppe der Strebungen, deren Ziel die Erhaltung des individuellen Lebens ist (die Strebung zur Nahrungsaufnahme, zur

Wärme u. s. w.) die individuellen, „mir gegebenen“ Strebungen d. h. die Ichtriebe; und 2.) die Gruppe der Strebungen, deren Endziel die Arterhaltung ist die Genital-

resp. die Sexualtriebe.

Weil jede Strebung, wie auch jedes psychische Erlebnis überhaupt, jemandes Strebung ist, irgend einem Subjekt, irgend einem Ich angehört, so gehören auch die sexuellen Strebungen einem bestimmten Ich, dem Sexual-Ich an; dieses kann in der Beziehung zum Individual-Ich das Sub-Ich genannt werden. Dementsprechend können die Individual- triebe (Ichtriebe) als dem individuellen Sub-Ich zugehörig aufgefaßt werden. Da die Individualtriebe mit den Ich- Tätigkeiten in der gemeinsamen Strebung zu demselben Ziel der Selbstbehauptung (Egoismus, Wille zur Macht) zusammenfließen, so sind die Konflikte zwischen dem Indi- vidual-Ich und dem Individual-Sub-Ich verhältnismäßig selten und bei weitem nicht so wesentlich, wie die Konflikte zwischen dem Ich und dem Sexual-Ich.

Außer den somatogen gegebenen Strebungen erlebt jeder Mensch noch viele andere Strebungen, die denselben Charakter der Gegebenheit und der Gezwungenheit besitzen, deren Quelle aber nicht im Leibe des Menschen liegt: dieser Art sind z. B. die ethischen Forderungen resp. Verbote. Der bekannte Professor des Staatsrechtes an der Universität St. Petersburg Petraschitzky schreibt:

Die ethischen Forderungen „haben einen besonderen mystisch-

autoritativen Charakter: sie stehen unseren anderen emotiven Be-

wegungen, den Appetiten, Strebungen, Begierden gegenüber und wider-

Vorbemerkungen 5

streben ihnen, als Impulse, die mit der Aureole des Höchsten und der Autorität umgeben sind; diese Impulse scheinen aus einer unbekannten, von unserem gewöhnlichen Ich verschiedenen, geheimnis- vollen Quelle zu stammen .... Die menschliche Sprache, die Poesie, Mythologie, Religion, die metaphysischen Systeme sind Abbildungen, Interpretationen und Übersetzungen dieser charakteristischen Eigenschaften der ethischen Emotionen in die Sprache der Vorstellungen und zwar in der Richtung und in dem Sinne, daß neben unserem Ich in diesen Fällen noch ein anderes Wesen vorhanden ist, irgend eine Stimme zu uns spricht (conscientia, Gewissen!, die Stimme des Gewissens, dem Gewissen gehorchen, das Gewissen fürchten usw., der „Dämon“ des Sokrates, „das metaphysische Ich” nach Kant.) Diese zu unserem Ich sprechende Stimme scheint von einem höheren Wesen auszugehen; die religiöse Psychik der Völker schreibt diese Stimme den Göttern zu, die monotheistischen Religionen Gott, die metaphysische Philosophie schafft ihr metaphysische Personifizierungen (‚die Natur‘, ‚die Vernunft‘, ‚der Wille‘ als metaphysische Wesen; ‚der objektive Geist‘ usw.); die posi- tivistische und skeptische Psychik derjenigen, die jedem Mystizismus fremd bleiben wollen, schaffen dieser Stimme dennoch mystische Personi-

fizierungen: ‚der Volksgeist‘, der gemeinsame Wille... .“?

Während Petraschitzky im Menschen das Vorhanden- sein der höheren ihm gegebenen Strebungen anerkennt, verneint er jedes reale Substrat dieser Strebungen. Dennoch haben wir ein reales Substrat für die ethischen Strebungen und das ist die Menschheit in ihrem Ganzen. Der Mensch existiert nicht allein und hat nie allein existiert. Der Mensch ıst ein Teil des Ganzen: seiner Familie, seiner Volksklasse, seines Volkes, seines Staates, der ganzen Menschheit. Die Menschheit als Ganzes, gewissermaßen als organische Ein- heit, stellt eben dieses Substrat, dieses Supra-Ich, dar, dem

ı) In Ge-wissen entspricht die Vorsilbe ge den lateinischen Vorsilben cum-, con-, co-. Das entsprechende russische Wort sso-vjest hat dieselbe Struktur.

2) Das Zitat ist dem Buche von N. O. Lossky entnommen: „Die Be- gründung des Intuitivismus“. 2. Auflage. St. Petersburg ı908. (Russisch).

6 Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

als ihrer nächsten Quelle, die höheren Strebungen des Indi- viduums entstammen. Als die allernächste Quelle der ethischen oder, genauer zu sagen, der sozial-ethischen Strebungen, ist im Anschluß an Freud „der kritische Einfluß der Eltern“ zu betrachten, „an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus (die Mitmenschen, die öffentliche Meinung) anschließen.“! Die sozial-ethischen Forderungen, die vom Individual-Ich assimiliert sind, bilden in seiner Seele eine mehr oder minder autonome Gruppe von Strebungen (Forderungen), die auch als Su pra- Ich bezeichnet werden kann. Dieses innerseelische Supra-Ich ist ein Repräsentant der höheren Mächte in der Menschen- seele. In diesem letzten, psychologischen Sinne werden wir die Bezeichnung Supra-Ich hier weiter gebrauchen ; ebenso wie wir unter Sub-Ich nicht den Leib, sondern seine Kepräsentanz in der Seele verstehen werden.

Das Individual-Ich kann sich den sittlichen Strebungen widersetzen. Ein Seelenkonflikt ist nicht nur zwischen dem Ich und dem Sexual-Ich, sondern auch zwischen dem Ich und dem Supra-Ich möglich. Das sittliche Verbot lautet: „töte nicht!“, aber das Ich Raskolnikows („Schuld und Sühne“ von Dostojewsky) sagt, daß man die alte Wucherin zum Wohl der Menschen töten darf. Und Raskolnikow führt einen dauernden schweren Kampf mit seinen ethischen Strebungen. s

Das Bereich der höheren „gegebenen“ Strebungen enthält nicht allein ethische F orderungen; hierher gehören auch die

wissenschaftlichen, ästhetischen, religiösen Strebungen u. a. m. Be nt

’r) Zur Einführung des Narzißmus 11). Samml klei ft zur Neurosenlehre. Vierte Folge. Leipzig. ind Wien re Ps er

Vorbemerkungen 7

Wir unterscheiden also in der Menschenseele drei Gruppen von Strebungen: „meine“ Strebungen, die soma- togenen „mir gegebenen“ Strebungen und die ethischen „mir gegebenen“ Strebungen.' Dementsprechend unter- scheiden wir drei Ich: das Individual-Ich, das (Sexual-) Sub-Ich und das (ethische) Supra-Ich. Diese Unterscheidung entspricht Tolstois Formel: Nechljudow, der tierische Mensch, der geistige Mensch. |

Man muß beachten, daß ein und dieselbe Aktion bei verschiedenen Individuen durch verschiedene Strebungen, bezw. verschiedene Ich hervorgerufen werden kann. So ist z. B. für den einen die Eheschließung eine Aktion des Indi- vidual-Ichs, Vernunftheirat; für den andern ist sie eine Aktion des Sexual-Ichs, Liebesheirat. Der eine stiehlt nicht, mit Rücksicht auf unangenehme Folgen, Strafe usw., der andere kann überhaupt nicht stehlen, weil sein Supra- Ich zu gebieterisch ist und jede Überlegung und jeden Zweifel ausschließt. | Um möglichst scharf den Begriff des Individual-Ichs zu präzisieren, achten wir darauf, daß wir unter der Per- sönlichkeit im weitesten Sinne des Wortes, im Anschluß an James, all das verstehen können, was die betreffende Person als ihr angehörend betrachtet: sich selbst, ihr Kleid, ihr Haus, ihr Gut, ihr Geld, ihre Werke, Frau und Kind, Vorfahren und Freunde usw. Wenn wir aus diesem Zusammen- hang all das, was die Ausstrahlungen des Individuums dar- stellt, wegnehmen, so bleibt das Individuum selbst übrig, in dem wir Leib und Seele unterscheiden. Von dem Indi-

ı) Lossky stellt drei charakterologische Gruppen fest: a) sinnliche Menschen (mit Überwiegen der somatogenen Strebungen); b) egozentrische Menschen; c) überpersönliche Menschen (mit Überwiegen der höheren Strebungen),.

Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

00

viduum können wir den Leib wegdenken, dann bleibt die Seele übrig. Aber im Bereiche der Seele selbst können wir „meine“ und „mir gegebene“ Strebungen unterscheiden. Sub-

Strebungen, so bleiben

trahieren wir die „mir gegebenen‘ „meine“ Strebungen und das dazu gehörende Subjekt das Individual-Ich übrig. Das Individual-Ich, das Sub-Ich und das Supra-Ich zusammen bilden das Gesamt-Ich.!

Wenn wir nun von der Seelenstatik zur Seelen- dynamik übergehen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Begriffe der Form und der Materie lenken. „Korm und Materie“ das ist der Grunddualismus jedes Organismus.

„Aus der winzigen Eizelle, die nur unter dem Mikroskop gut sichtbar ist, erwächst ein W esen, das vierzig und mehr Kilogramm wiegt. Die Eizelle der Mutter selbst hat ihren Anfang zugleich mit vielen Millionen anderer Zellen von einer ebensolchen Eizelle der Großmutter genommen, die der Großmutter ihrerseits von der Urgroßmutter, usw. Indem wir das Schicksal der Teile, aus denen wie das Ei, so auch der aus ihm erwachsende Organismus besteht, in Gedanken verfolgen und die Tatsache des Stoffwechsels be- rücksichtigen, kommen wir leicht zu dem Schlusse, daß alle Substanzen, alle chemischen Verbindungen, die im gegebenen Moment vorhanden sind, verhältnismäßig wenige Jahre vorher an verschiedenen Orten der Natur zerstreut waren und von

ı) Im gewöhnlichen Sprachgebrauche unterscheidet man auch zwischen dem Individuum im Ganzen genommen und dem Individual-Ich. So könnte man meinen, daß im Ausdrucke „ich selbst“ „ich“ das Individual-Ich be- zeichnet, und „selbst“ die anderen Ich deckt, so daß d selbst‘‘ dem Gesamt-Ich entspricht. Dennoch muß man liche Sprachgebrauch diesen Ausdruck nicht eindeutio- bekannten Ausrufe Montaigres: Que Dieu me 5 .

Montaigne unter moi-meme das Sub-Ich. Und an „das mache ich selbst“ unter „selbst‘“ das Individual-Ich.

Vorbemerkungen 3)

dort entnommen wurden, so daß es kein einziges Teilchen gibt, welches das unentreißbare Eigentum des menschlichen ÖOrganısmus darstellte. Der Körper des Menschen wird aus ıhm fremdem Material gebildet... Dasjenige Material, aus dem der Organismus gebaut wird, kann seine Materie genannt werden. An und für sich kann es ein selbständiges eigenes Leben besitzen, aber für unseren Körper ist es nur Materie. In dieser Weise ist der Begriff der Materie relativ. . Wie schon gezeigt wurde, ıst für deu gegebenen Körper die gegebene Materie fremd, zufällig. Es ist evident, daß irgend eine für sie äußerliche Kraft die zerstreuten Teile anzieht, sie verbindet und in gewisser Weise verteilt. Dies verbindende Etwas, das den Organismus zum Körper, zu einer Einheit und dazu zu einer Einheit ganz bestimmter Art macht, diese Ursache des gegebenen Seins, altov Tod eivan nach dem Ausdruck des Aristoteles, können wir, im Anschluß an ıhn Form nennen .... Also ist der Organismus ein zu- sammengesetztes Ganzes, in welchem wir die materiellen Teile und die Form unterscheiden.“' | Was ist denn eine Form? Selbstaktivität. Einer- seits ist der Organismus die Form, die die Materie organisiert, andererseits ist er für sich selbst das Ich, das die zu ihm gelangenden Reize organisiert. „Am ehesten kann man das Ich als etwas Aktives charakterisieren: als Kraft, Streben, Wollen, das seine Aktivität aus sich selbst schöpft, aber in seiner Tätigkeit durch fremde Elemente, durch die Gegenkraft, nach L. Lopatin’s bildlichem Ausdruck, bestimmt wird.“” Das Individual-Ich ist, wie ein jedes Ich,

ı) Wl. Karpow. Die Grundzüge der organischen Naturauffassung. Russisch.

2) W1. Karpow.a.a.O.

10 ÖOssipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

selbstaktiv. Selbstaktiv sind auch das Sub-Ich, das Supra- Ich und die fremden Ich. Für jedes Ich ist die Tendenz charakteristisch, sich des ganzen Körpers und der ganzen Seele des Individuums bemächtigen zu wollen. In Beziehung zum Individual-Ich stellen alle anderen Ich das transsubjektive

Milieu dar: und zwar Sub-Ich und Supra-Ich das inner- seelische transsubjektive Milieu, die fremden Ich das

außerseelische .transsubjektive Milieu. Die Reizungen, die von dem innerseelischen Milieu ausgehen, unterscheiden sıch von jenen des außerseelischen Milieus dadurch, daß das Individual-Ich vor ihnen nicht einfach davonlaufen kann, wie Freud feinsinnig bemerkt.' Die gegenseitigen Verhält- nisse aller eben genannten Ich bilden ein System von Kraftzentren, innerhalb dessen der Ablauf des Seelen- lebens stattfindet. Solange das Individual-Ich die Antriebe des Sub-Ichs, die Forderungen des Supra-Ichs, sowie die Keizungen seitens der fremden Ich beherrscht, heißen wir den psychischen Zustand des Individuums nor mal; dabei spielt das Individual-Ich die Rolle der F orm und die “anderen Ich die der Materie, Wenn diese Rolle der Form dem Individual-Ich miBlingt, so entsteht ein Seelen- konflikt, d. h. das Leben des Individuums unterliegt ent- weder dem Supra-Ich oder dem Sub-Ich und das Individuum führt dann ein einseitiges Leben: ein asketisches, be- ziehungsweise ein ausschweifendes. In diesen letzten Fällen ist nicht wie in der Norm das Individual-Ich die Form im Aristoteles-Karpow’schen Sinne, sondern das Supra-Ich, bezw. das Sub-Ich, während das Individual-Ich in die Lage

N

der Materie versetzt wird. Solche Änderungen im Seelen-

ı) Triebe und

Ichre. Vierte Folge. Triebschicksale. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen-

Vorbemerkungen 11

leben sınd durchaus möglich, denn wir wissen, daß „Form und Materie“ relative Begriffe sind.

Soviel über die Seelendynamik.

Beachten wir nun weiter, daß das Individual-Ich eine

zweifache Verbindung mit seinen Erlebnissen besitzt, wie

5 Lossky, besonders in seinen letzten Arbeiten, hervorhebt.

ı) Das Ich erlebt den einen oder anderen Zustand die Erlebensbindung.

2) Das Ich kennt diese Erlebnisse teilweise die Wıssensbindung.

Die Fähigkeit des Ichs, Stoffe und Eindrücke zu assımilieren, Reize, Antriebe, Forderungen zu verglei- chen und zu kombinieren, Ziele zu stellen und Impulse zu ihrer Realisierung zu geben all das erwächst in der Seele von selbst wie eine Urkraft. Das ist die Erlebens- bindung des Ichs. „Das Wissen erscheint post factum, nimmt den Niederschlag des Lebens, der schon in die Ewigkeit getaucht ist, entrollt ihn, zergliedert, vergleicht. Und diese sekundäre Tätigkeit ist auch ein Akt unseres Ichs, in dem es sich mittelbar wahrnimmt, wie etwas Vergangenes, wie die Form, welche das Leben dem Schöpfungsprodukt gegeben, während es sich mit ihm zusammen abgesondert hat.“' Mit anderen Worten, das Seelenleben als solches verläuft un- bewußt,” einerlei ob es die Betätigungen des Individual- Ichs, des Sub-Ichs oder des Supra-Ichs darstellt, und nur im sekundären seelischen Prozesse des Bewußtmachens seitens des Individual-Ichs wird das Seelenleben zum bewußten

ı) Wl. Karpow, a.a.0.

2) Über die Rechtfertigang des Unbewußten siehe Freud: „Das Unbewußte‘“ und „Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten‘‘. Sammlung kleiner Schriften, Vierte Folge.

12 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Leben. In diesem letzten Falle lebt das Individual-Ich nicht nur, sondern stellt sich auch das Erlebte vor; aus dem sich einfach erlebenden Leben wird ein vorgestelltes Leben. Das vorgestellte, bezw. das bewußte, Leben deckt bei weitem nicht das unbewußte Leben. Das Wissen und das Erleben sind zwei nach ihrer psychologischen Natur ganz verschiedene Dinge, auch wenn sie den nämlichen Inhalt haben.

Wenn wir das von uns Ausgeführte auf die zu Anfang des Kapitels wiedergegebene Formel Tolstois über seine Seelenerlebnisse anwenden, so können wir sagen, daß Tolstoi sich nicht liebt, im Gegenteil sich beschimpft, sich haßt, d. h. daß seine Libido (die Sexualenergie) gegen sein Individual-Ich gerichtet ist. Als Resultat dieses Selbsthasses erscheint die Strebung des Individual-Ichs zur Veränderung. Das Individual-Ich stellt sich als Ziel seine Selbstreinigung und nimmt deswegen eine Reihe von Handlungen vor, stellt sich als Ziel ein Leben nach bestimmten Idealen; folglich liebt zu dieser Zeit das Sexual-Ich die idealen Forderungen, bezw. liebt nicht das wirkliche Ich, sondern das Ideal-Ich. Aber da ziehen die Verlockungen des Lebens, eigentlich die fremden Ich (die Frauen) die Libido an sich. Tolstois Leben wird durch das Sexual-Ich, durch dessen Besetzungen mit fremden Objekten, geformt. Nach einiger Zeit verurteilt das Individual-Ich, unter dem Einflusse des Supra-Ichs, dieses Leben. Die Libido wendet sich von ihrem aktuellen Ich weg und richtet sich wieder auf das Ideal-Ich und insofern das aktuelle Ich den Idealen folgt, ‚bewundert das Sexual-Ich das Gesamt-Ich des Individuums (NarziBmus). So bildet also die Libidoverteilung auf das System des Ichs das Hauptmoment für die Charakteristik der Persönlichkeit,

nn

Forbemerkungen 13

Das erste dichterische Werk von Leo Tolstöi die Erzählung „Kindheit“ wurde im Jahre 1852 geschrieben. Damals war der Autor 24 Jahre alt. Zuerst betitelte Tolstoi dieses Werk: „Die Geschichte meiner Kindheit.“ Und wirklich trägt diese Erzählung in selır hohem Grade autobiographischen Charakter; wenigstens im psychologischen Sinne ist dieses Werk einer Autobiographie gleichwertig. Der bekannte Tolstoi-Biograph Birjukow schreibt: „Was die Beschreibung des Innenlebens seines kindlichen Helden anbelangt, so können wir getrost behaupten, daß der Dichter, in dieser oder jener Art alle Erlebnisse seines Helden durchlebte, was uns wohl das Recht verleihen dürfte, sie als Anhaltspunkte für unsere Biographie zu benützen.“' Der 24jährige Autor wollte sich in seinem Leben umsehen und sich die Erlebnisse seiner stürmischen Seele in ihren ewigen Übergängen von Selbst- entzücken zur Selbstenttäuschung klarmachen. Die Erzählung „Kindheit“ beginnt so: „Am ı2. August 1ı8.., genau am dritten Tag nach meinem Geburtstag, an welchem ich ı0 Jahre alt geworden war .....“ Warum beginnt Tolstois Erzählung mit dem zehnten Lebensjahr? Freud hat unsere Aufmerksamkeit auf eine interessante psychologische Tatsache gelenkt, auf das Fehlen der Erinnerungen an die ersten Jahre unseres Lebens. Freud schreibt: „... die eigentüm- liche Amnesie, welche den meisten Menschen (nicht allen!) die ersten Jahre ihrer Kindheit bis zum 6. oder 8. Lebens- jahre verhüllt. Es ist uns bisher noch nicht eingefallen, uns über die Tatsache dieser Amnesie zu verwundern; aber wir

Leo N. Tolstois Biographie und Memoiren. Autobiographische Mein en, Briefe und biographisches Material. Herausgegebenvon PaulBirjukow und durchgesehen von Leo Tolstoi. I. Bd., Kindheit und frühes Mannesalter. Wien, ı906, II. Bd. 1909.

14 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerunge'

hätten guten Grund dazu. Denn man berichtet uns, Br wir in diesen Jahren, von denen wir später nichts ım Gedächtnis behalten haben als einige unverständliche Er- innerungsbrocken, lebhaft auf Eindrücke reagiert hätten, dal ‘wir Schmerz und Freude in menschlicher Weise zu äußern verstanden, Liebe, Eifersucht und andere Leidenschaften gezeigt, die uns damals heftig bewegten, ja, daß wir Aussprüche getan, die von den Erwachsenen als gute Beweise für Einsicht und beginnende Urteilsfähigkeit gemerkt wurden. Und von alle- ‘dem wissen wir als Erwachsene aus eigenem nichts. Warum bleibt unser Gedächtnis so sehr hinter unseren anderen seelischen Tätigkeiten zurück? Wir haben doch Grund zu glauben, daß es zu keiner anderen Lebenszeit aufnahms- und reproduktionsfähiger ist als gerade in den Jahren der Kind- heit.“ Leo Tolstoi suchte immer eine klare, genau formulierte Antwort auf alle bei ihm entstehenden Fragen, und da er kein genügendes Material für bestimmte Antworten auf seine Erlebnisse vor seinem zehnten Lebensjahre fand, läßt er seine Erzählung; erst mit diesem Zeitpunkt einsetzen. Und dennoch beschäftigte Tolstoi die Frage der Erinnerungen aus früherer Zeit. In der „Kindheit“ gibt es ein Kapitel, welches einer früheren Periode, etwa dem Alter von 3—4 Jahren, gewidmet ist und in der letzten Zeit sind autobiographische Notizen Tolstois veröffentlicht worden, welche den ersten Lebens- erinnerungen gewidmet sind und in denen Tolstoi die in- fantile Amnesie gleich Freud feststellt. Diese Skizzen sind für die Persönlichkeit und die Tätigkeit Tolstois so inter- essant und im allgemein-psychologischen Sinne so wichtig, daß es sich lohnt, sie vollständig und in wörtlicher Über-

En dl da

ı) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 4. Aufl., Leipzig und Wien, 1920, $. 40.

Vorbemerkungen 15

setzung anzuführen.' Die „Ersten Erinnerungen“ waren zuerst in P. Birjukows Tolstoi-Biographie veröffentlicht worden. Von zwei Bänden dieser Biographie besteht eine deutsche Übersetzung, die, zum Lesen ganz geeignet, für die psycho- logische Analyse aber einiger Korrekturen (in der Richtung getreuerer Anpassungen an den Originaltext) bedarf. Die von Birjukow geschriebene Biographie hat unter anderem eine wichtige positive Seite: der Autor stand in persönlichen Beziehungen zu Leo Tolsto. Wie es ım Titel heißt, ist Birjukows Arbeit von Tolstoi selbst durchgesehen. Aber dieser Umstand verursacht auch den wesentlichen Defekt der ganzen Arbeit. Birjukow ıst Tolstois Nachfolger, teilt alle seine Ansichten der nachkritischen Periode und darum betrachtet er die vorkritische Periode mit den Augen des Tolstoismus. Kurz gesagt, Birjukow fühlt sich als Besitzer der Wahrheit und darum fällt er Lob und Tadel einzig vom Standpunkte dieser Wahrheit aus.

Noch eine Bemerkung über die Einteilung von Tolstois Leben in Perioden. „In meinem Entwurfe (der Biographie)

erläuterte ich den Plan,“

schreibt Birjukow, „das menschliche Leben in Zeiträume von je 7 Jahren einzuteilen. Ich hatte einst von Tolstoi selbst gehört, er glaube daran, daß wie die Physiologen das menschliche Leben in Perioden von je 7 Jahren einteilen auch das psychische Leben dieselben Perioden des Wachstums habe und daß jede Periode von je 7 Jahren ihren eigenen physiognomischen Charakter trage.“

Dennoch teilte Tolstoi selbst sein Leben anders ein:

ı) Die Übersetzung dieser Erinnerungen sowie aller anderen Zitate aus dem Russischen, stammt von Frau V. Riabow, der ich auch hier meinen herzlichen Dank dafür ausspreche.

2) Birjukow, I, 6.

16 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

„Indem ich meinem Leben diesen Spiegel vorhielt, das heißt, indem ich es vom Standpunkte des Guten und des Übels, das ich getan hatte, prüfte, sah ich, daß sich mein ganzes langes Leben in vier Perioden auflöst. In jene besonders im Vergleiche zu den darauf folgenden herrliche, jene unschuldige, frohe, poetische Zeit der Kindheit bis zum vierzehnten Jahre. Dann die zweite, jene furchtbaren zwanzig Jahre, die Periode roher Ausschweifung, der Frondienste des Ehrgeizes und der Eitelkeit, und vor allem der Sinnlichkeit. Dann die dritte, achtzehn Jahre umfassende Periode, von meiner Heirat an bis zu meiner geistigen Geburt, eine Periode, die man vom weltlichen Gesichts- punkte aus moralisch nennen könnte; ich will sagen, daß ich während dieser achtzehn Jahre ein geregeltes, anständiges Familienleben lebte, ohne mich irgendwelchen von der öffentlichen Meinung verdammten Lastern hinzugeben, nichts destoweniger war dies eine Periode, in der sämtliche Interessen auf egoistische Familiensorgen gerichtet waren, auf die Vermehrung des Vermögens, literarische Erfolge und auf Genuß jeder Art. Und dann, dem Ende zu, gestaltet sich noch eine vierte Periode von zwanzig Jahren, in welcher ich jetzt lebe und in welcher ich zu sterben hoffe, und von deren Gesichtspunkten aus ich all die Bedeutung meines vergangenen Lebens abmesse, und die ich in nichts zu ändern wünschen würde, es sei denn in jenen Gewohnheiten des Übels, die mir aus früheren Jahren anhaften.“ I

Diese Einteilung Kindheit Sturm- und Drangperiode —— Familienleben nachkritische Periode werden auch wir in unserer Arbeit benutzen, natürlich ohne Stellungnahme

zu Tolstois Werturteilen über diese Perioden.

ı) Geschrieben am 6. Jänner 1905. Birjukow, I, ı7z.

II DIE „ERSTEN ERINNERUNGEN“:

Ich bin im Dorfe Jassnaja Poljana geboren und habe dort meine erste Kindheit zugebracht. Da sind meine ersten Erinnerungen (die ich der Reihe nach zu ordnen nicht vermag, weil ich nicht weiß, was früher, was später war; von manchem weiß ich sogar nicht, ob es im Traume oder im Wachen geschah). Da sind die Erinnerungen: Ich bin zusammengebunden; ich möchte meine Arme freimachen und ich kann es nicht tun und ich schreie und weine und mein Geschrei ist mir selbst unangenehm; aber ich kann nicht aufhören. Jemand steht über mich gebückt, ich erinnere mich nicht, wer es ist. Und das alles im Halbdunkel. Aber ich erinnere mich, daß es zwei sind. Mein Geschrei wirkt auf sie, sie beunruhigen sich wegen meines Schreiens, aber binden mich nicht los, was ich möchte, und ich schreie noch lauter. Ihnen scheint es, daß es so nötig ist (nämlich daß ich zusammengebunden sei), während ich weiß, daß es nicht nötig ist und ihnen dies beweisen will; und ich vergehe in lautem Geschrei, das mir selbst zuwider, aber unaufhaltsam ist. Ich fühle die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit nicht der Menschen, weil sie mich bedauern?, aber des Schicksals, und habe

ı) „Erste Erinnerungen“. (Aus autobiographischen Skizzen 1878. Ge- sammelte Werke von Leo Tolstoi. Band I. Berlin 1921.) (Russ.)

2) Das russische Zeitwort jaljet („j* soll vor „a“ wie im französischen journal lauten) hat nicht nur den Sinn „bedauern“, „Mitleid haben“, sondern auch „lieben“.

2 Ossipow: Tolstois Kindheitserinn erungen

18 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Mitleid mit mir selbst. Ich weiß nicht und werde es nie erfahren, was es eigentlich war: wickelte man mich, als ich eip Säugling war und be- freite ich meinen Arm oder war es, daß man mich wickelte, als ich schon älter, ein Jahr alt war, damit ich meine Flechten nicht kratze; habe ich viele Eindrücke, wie es im Traume geschieht, in diese eine Erinnerung gesammelt: jedenfalls ist das eine wahr, dal es mein erster und stärkster Lebenseindruck war. Und erinnerlich ist mir nicht mein Geschrei, nicht das Leiden, sondern die Kompliziertheit und die Gegen- sätzlichkeit des Eindruckes. Ich will Freiheit, sie stört niemanden und ich, der Kraft braucht, ich bin schwach und sie sind stark.

Ein anderer Eindruck ist ein fröhlicher. Ich sitze im Trog und mich umgibt ein neuer, nicht unangenehmer Geruch von irgend einem Stoff, mit welchem man meinen kleinen Körper reibt. Wahrscheinlich war es Kleie und sie war im Wasser und im Trog, aber die Neuheit der Eindrücke von der Kleie weckte mich, und ich bemerkte zum erstenmal meinen kleinen Körper und fing an, ihn mit seinen mir an der Brust sichtbaren Rippen zu lieben und auch den glatten, dunklen Trog, die entblößten Arme meiner Njanja, das warme, laue, schreckliche Wasser, sein Geräusch und besonders die Empfindung der Glattheit der nassen Ränder des Trogs, wenn ich mit den Händchen über sie fuhr.

Es ist sonderbar und schauderhaft zu denken, daß ich von meiner Geburt bis zum Alter von drei Jahren, in der Zeit, als ich an der Brust saugte, als man mich von der Brust abnahm, als ich zu kriechen, zu gehen, zu sprechen anfıng, wieviel ich auch in meinem Gedächtnis suche, keinen einzigen Eindruck außer jenen beiden finden kann. Wann habe ich denn angefangen? Wann fing ich zu leben an? Und warum ist es mir fröhlich, mir mein damaliges Ich vorzustellen, es war mir doch schrecklich, wie es auch jetzt vielen schrecklich ist, mich mir selbst in der Zeit vorzustellen, in der ich wieder in diesen Zustand des Todes eintreten werde, von dem es keine in Worten auszudrückenden Er- innerungen gibt? Lebte ich denn damals nicht, als ich sehen, hören, verstehen, sprechen lernte, als ich schlief, an der Brust saugte, die Brust küßte und lachte und meine Mutter erfreute? Ich lebte und lebte glück- selig! War es nicht damals, daß ich all dasjenige erwarb, wodurch ich jetzt lebe, und so viel und so schnell erwarb, daß ich im ganzen

übrigen Leben auch nicht den ‚hundertsten Teil davon erworben habe?

Die „Ersten Erinnerungen“ ı9

Vom fünfjährigen Knaben bis zu mir ist nur ein Schritt; vom Neu- geborenen bis zum fünfjährigen eine riesige Entfernung; vom Embryo bis zum Neugeborenen ein Abgrund. Aber die Nichtexistenz und den Embryo trennt schon kein Abgrund, sondern Unfaßbarkeit. Es be- deutet wenig, wenn man sagt, daß Raum, Zeit und Kausalität Denk- formen sind und daß das Wesen des Lebens außerhalb dieser Formen liegt, sondern unser ganzes Leben ist eine immer mehr und mehr ge- steigerte Unterwerfung unter diese Formen und dann wieder eine Be- freiung von ihnen.

Meine nächsten Erinnerungen gehören schon ins Alter von 4—35 Jahren, aber deren sind auch sehr wenige und keine von ihnen bezieht sich auf das Leben außerhalb der Hauswände. Die Natur existierte bis zu meinem z. Jahre für mich nicht. Alles, woran ich mich erinnere, alles geschieht im Bettchen, im Zimmer. Das Gras, die Blätter, der Himmel, die Sonne existierten nicht für mich. Es ist unmöglich anzu- nehmen, daß man mich nicht mit Blumen, mit Blättern hatte spielen lassen, daß ich kein Gras gesehen, daß man mich nicht vor der Sonne geschützt hätte, aber bis zu meinem fünften, sechsten Jahre habe ich keine einzige Erinnerung an das, was wir Natur nennen. Wahrscheinlich muß man sich von ihr entfernen, um sie zu sehen, und ich war selbst die Natur.

Die nächste Erinnerung nach dem Trögchen ist die Erinnerung an „Jeremejewna“. „Jeremejewna“ war ein Wort, mit welchem man uns Kinder schreckte, aber meine Erinnerung an sie ist folgende: ich bin im Bettchen und mir ist froh und wohl zu Mute, wie immer, und ich würde mich dessen nicht erinnern, aber plötzlich sagt Njanja oder jemand von denen, die mein Leben ausmachen, etwas mit einer für mich neuen Stimme und geht fort, und es wird mir nicht nur fröhlich, sondern auch ängstlich zu Mut. Und ich erinnere mich, daß ich nicht allein bin, sondern mit noch jemandem, solch einem Wesen wie ich. (Es ist wahrscheinlich meine um ein Jahr jüngere Schwester Maschenka, deren Bettchen in unserem Zimmer stand.) Und ich erinnere mich, daß es einen Vorhang bei meinem Bette gibt und zusammen mit meiner Schwester freue und ängstige ich mich über das Ungewöhnliche, das uns geschehen ist, und ich verstecke mich im Kissen, verstecke mich und gucke zur Tür, aus welcher ich etwas Neues und Lustiges erwarte. Und wir lachen und verstecken uns und warten. Und da erscheint

9*

oo Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

jemand in Kleid und Haube, so wie ich es nie gesehen habe, aber ich erkenne, dal) es dieselbe Person ist, die immer mit mir ist (ob Njanja oder meine Tante, weiß ich nicht), und diese Person spricht mit einer groben Stimme, die ich kenne, etwas Schreckliches über böse Kinder und über Jeremejewna. Ich heule vor Schrecken und Freude und er- schrecke und freue mich wirklich zugleich, daß mir graut, und ich will, daß diejenige, welche mich erschreckt, nicht erfahre, daß ich sie erkannt habe. Wir werden still, aber fangen später absichtlich wieder zu flüstern an, um wieder Jeremejewna herbeizurufen.

Ich habe eine andere Erinnerung, die der an Jeremejewna gleich ist, wahrscheinlich eine spätere, weil sie klarer ist; aber für mich blieb sie immer unbegreiflich, In dieser Erinnerung spielt der Deutsche Fedor Iwanowitsch, unser Lehrer, die Hauptrolle, aber ich weiß bestimmt, daß ich mich noch nicht unter seiner Aufsicht befand, also geschah ‘es vor meinem fünften Jahre. Und das ist mein erster Eindruck von Fedor Iwanowitsch, und er erfolgte so früh, daß ich mich noch an niemanden, weder Brüder noch Vater erinnere. Wenn ich auch eine Vorstellung von einer einzelnen Person habe so ist es nur die meiner Schwester, und auch nur darum, weil sie ebenfalls wie ich sich vor Jeremejewna fürchtete. Mit dieser Erinnerung verbindet sich bei mir auch die erste Vorstellung davon, daß unser Haus einen oberen Stock besitzt. Wie ich dahin geriet, ob ich selbst hinaufgestiegen bin, oder ob mich Jemand hingebracht hat, ich weiß gar nichts, ich erinnere mich ‘aber, daß unser viele sind, wir halten uns alle im Reigen, Hand in Hand, unter uns sind fremde Frauen (ich weiß nicht, warum es mir erinnerlich ist, daß es Wäscherinnen sind), und wir fangen alle an, uns zu drehen, zu hüpfen und Fedor Iwanowitsch springt, die Beine zu hoch hebend, und zu geräuschvoll und laut und in einem und demselben Augenblick fühle ich, daß es nicht gut, dal) es unsittlich ist, und ich be- merke ihn und fange wie mir scheint zu weinen.an, und alles nimmt ein Ende.

Das ist alles, woran ich mich bis zum Alter von ; Jahren erinne

re. Weder von meinen Njanjas,

Tanten, Geschwistern, noch von meinem Vater, von den Zimmern und Spielzeugen von nichts weiß mein Gedächtnis. Mehr bestimmte Erinnerungen beginnen bei mir von der

Zeit an, wo man mich nach unten zu Fedor Iwanowitsch und den älteren Knaben übersiedelte.

. . ‘“ Die „Ersten Erinnerungen 21

Bei meiner Versetzung nach unten zu Fedor Iwanowitsch und den Knaben empfand ich zum erstenmal, und darum stärker als jemals später, das Gefühl, das man das Pflichtgefühl, das Gefühl des Kreuzes nennt, das zu tragen jeder Mensch berufen ist. Mir tat es leid, das Bekannte (das seit Ewigkeit Bekannte) zu verlassen, traurig war es, poetisch traurig, nicht so sehr von den Leuten der Schwester, der Njanja, der Tante zu scheiden, wie von dem Bettchen, dem kleinen Vor- hang, den Kissen, und furchtbar war das neue Leben, in welches ich eintrat. Ich bemühte mich, Lustiges in dem neuen Leben, welches mich erwartete, zu finden; ich bemühte mich, den freundlichen Reden, mit denen Fedor Iwanowitsch mich zu sich lockte, zu glauben, bemühte mich, die Verachtung, mit der die Knaben mich, den jüngsten zu sich nahmen, nicht zu sehen; bemühte mich zu denken, daß es eine Schande sei für einen großen Knaben, mit Mädchen zu wohnen, daß es nichts Gutes in dem Leben oben mit der Njanja gab; aber in meiner Seele war es furchtbar traurig, und ich wußte, daß ich unwiederbringlich die Unschuld und das Glück verlor, und nur das Gefühl der Selbstwürde, das Bewußtsein, daß ich meine Pflicht erfülle, stützte mich. Später im Leben geschah es mir oftmals, daß ich solche Augenblicke an Kreuzwegen des Lebens, neue Pfade antretend, erlebte. Ich empfand stille Trauer über die Un- wiederbringlichkeit des Verlorenen. Ich glaubte immer nicht, daß es geschehen werde, obgleich man mir davon gesagt hatte, daß man mich zu den Knaben bringen würde; aber ich erinnere mich, daß der Schlafrock mit den am Rücken angenähten Hosenträgern, den man mir anzog, mich wie auf immer von oben abgeschnitten hatte, und ich bemerkte hier zum. erstenmal nicht alle diejenigen, mit denen ich oben wohnte, aber die Hauptperson, mit der ich lebte und welche ich früher nicht ver- standen hatte. Das war meine Tante Tatjana Alexandrowna. Ich erinnere mich ihrer, der nicht hochgewachsenen, starken, schwarzhaarigen, guten, zarten, mitleidigen Frau. Sie zog mir den Schlafrock an, um- gürtete mich und ich sah, daß sie dasselbe fühlte wie ich, daß es ihr leid, furchtbar leid tat, aber so sein sollte. Zum erstenmal fühlte ich, daß das Leben keine Spielsache, sondern eine schwere Sache sei werde ich nicht, wenn ich sterben werde, dasselbe fühlen, verstehen, daß der Tod oder das zukünftige Leben kein Spielzeug, sondern eine

schwere Sache ist?

22 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Diese autobiographischen Skizzen haben für den Psycho- logen, besonders aber für den Psychoanalytiker einen besonderen Wert dadurch, daß sie ohne jede Tendenz geschrieben sind. Sie stellen eine Reihe von freisteigenden Erinnerungen dar.

Der 5ojährige Tolstoi bemüht sich, sein Leben vom ersten Anfang an zu erinnern. Es scheint ihm, daß es der Erinnerungen genug geben wird, nur ist es schwer, sie in der Zeit zu lokalisieren, und er ist nicht ganz sicher, ob sie im Traum oder im Wachen erlebt worden seien. Aber es ergibt sich, daß bis ins Alter von 3 Jahren sich nur zwei Eır- innerungen finden: die Wickelerinnerung und die Trog- erinnerung. Der Autor bleibt mit Bewunderung vor der Tatsache der infantilen Amnesie stehen und spricht später den Gedanken aus, das Leben des Menschen unter- liege den Formen von Zeit, Raum und Kausalität, wobei er diese im Sinne Kants versteht. Ferner spricht Tolstoi darüber, daß er sich bis ins Alter von 5 Jahren nicht an die. Natur erinnert und erläutert diese Amnesie: „Wahrscheinlich muß man sich von ihr entfernen, um sie zu sehen, und ich war selbst die Natur.“ Endlich bemüht sich Tolstoi, sein weiteres Leben zu erinnern wieder mit demselben Mißerfolg. Im Gedächtnis entstehen nur drei Erinnerungen: J eremejewna, der Reigen und der Umzug.

Ill ZWEI ALLERERSTE ERINNERUNGEN

(Das Individual-Ich und die Ich-Libido.)

Betrachten wir die erste, die Wickelerinnerung. Wir haben da: ı) das Bild; 2) den Seelenzustand; 3) die Be- schreibung des Seelenzustandes; 4) die Reduzierung dieses Seelenzustandes auf eine Formel.

Es ist evident, daß die Frage über die Wahrhaftigkeit dieser Erinnerung das Bild und den Seelenzustand betreffen soll, während die Beschreibung des letzteren selbstverständlich eine Übersetzung des damaligen Zustandes in die Sprache des zojährigen Autors ist. Selbstverständlich gehört auch die Reduzierung der Seelenerlebnisse auf eine Formel: „Kompli- ziertheit und Gegensätzlichkeit der Eindrücke“ dem 5ojährigen Autor an.

Die Wahrhaftigkeit des Bildes ruft keinen Zweifel hervor. Es bleibt nur die Frage offen, ob ein einjähriges Kind einen so komplizierten Seelenzustand erleben kann? Nach allen seinen Zweifeln sagt Tolstoi doch ganz bestimmt: „Es ist wahr, daß es mein erster und stärkster Lebenseindruck ge- wesen ist.“ Die Kompliziertheit und die Gegensätzlichkeit der

24 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Eindrücke, bezw. der Strebungen ist ein charakteristischer Zug von Tolstois Persönlichkeit. Der Seelenzustand beim Gewickeltwerden: „ich möchte meine Arme freimachen und ich kann es nicht tun und ich schreie und weine und mein Geschrei ist mir selbst unangenehm .... Jemand steht über mich gebückt.... ich erinnere mich, daß es zwei sind. Mein Geschrei wirkt auf sie, sie beunruhigen sich wegen meines Schreiens, aber binden mich nicht los... Ihnen scheint es, daB es so nötig ist, während ich weiß, daß es nicht nötig ist... Ich fühle die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit —— nicht der Menschen, weil sie mich bedauern (lieben), aber des Schicksals und habe Mitleid mit mir selbst“ dieser Seelenzustand entspricht gänzlich den Zuständen, die Tolstoi in seinem Leben oft zu erleben hatte.

Greifen wir zwei Beispiele heraus.

Tolstoi wollte seinem Reichtum entsagen (in der nach- kritischen Periode), wollte sich von der materiellen Seite des Lebens befreien. Diese Strebung entstammte hauptsächlich seinen Überlegungen, seinem Individual-Ich (nicht seinem Supra-Ich), er hielt es für recht zu tun es war „meine“, aber keine „mir gegebene“ Strebung. Der Verzicht auf seinen Reichtum war für Tolstoi die Folge seiner rationalistischen Auffassung des Christentums: „Man soll glauben, ohne Glaube ist das Dasein unmöglich; aber man muß nicht daran glauben, was uns die anderen sagen, sondern daran, woran zu glauhen Sie selbst durch Ihren eigenen Gedankengang, Ihre eigene Vernunft gebracht werden. “! Das jst aber kein Glaube, sondern ein Vernunftschluß. So ein Vernunftschuß an des Individual-Ichs war auch sein Wunsch,

e Aktion

sein Vermögen

1) „Und das Licht leuchtet in der Finsternis“, Drama aus dem Nachlasse.

%

Zwei allererste Erinnerungen 25

zu verteilen. Aber er war durch seine Nächsten „gebunden“, und „weinte und schrie“ und war mit seinen Betätigungen unzufrieden, aber konnte sich von ihnen nicht freimachen. Und er, der Kraft brauchte, war schwach. Was eigentlich hielt Tolstoi zurück, seinen Reichtum zu verteilen? Die Liebe zu seinen Angehörigen und das Bewußtsein ihrer Liebe zu ihm. „Ich fühlte die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit nicht der Menschen, weil sie mich lieben ... .“

Wenden wir uns dem zweiten Beispiele zu.

Im Jahre 1886 beschreibt Tolstoi seine Beobachtungen, Überlegungen und Qualen, verursacht durch die schreckliche Not und das Elend in Moskau, wie in allen Großstädten. Nach seinem Besuch in einem Nachtasyl streitet Tolstoi zu Hause mit seinem Freund, welcher ihm zu beweisen sucht, daß das Elend eine natürliche Erscheinung des Stadtlebens ist. „Ich, fing meinem Freunde zu erwidern an, aber mit solcher Hitze und solcher Bosheit, daß meine Frau aus dem anderen Zimmer herbeilief und fragte, was geschehen sei? Es zeigte sich, daß ich, es selbst nicht bemerkend, mit Tränen in der Stimme schrie und auf meinen Freund mit den Händen losging. Ich schrie: so kann man nicht leben, man kann und darf nicht so leben, man darf nicht! Man sagte mir, daß ich mich wegen meiner unnötigen Hitze schämen solle, daß ich von nichts ruhig sprechen könne, daß ich in meinem Ärger unangenehm würde, und bewies mir hauptsächlich, daß die Existenz solcher Un- glücklichen gar nicht die Ursache dazu sein könnte, das Leben seiner Angehörigen zu verderben. Ich fühlte, daß es ganz richtig war und schwieg, aber in meiner Seelentiefe fühlte ich, | daß ich auch recht hatte, und konnte mich nicht beruhigen.“ '

ı) „Was sollen wir tun?“ Verlag J. Ladyschnikow, Berlin, ı920. (Russ.)

26 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Vergleichen wir die drei Erlebnisse: beim Wickeln, beim Versuche, sein Vermögen zu verteilen und beim Streit wegen der Bettler. In allen drei Fällen haben wir die Forderung seines Individual-Ichs und die Gegenkraft der Umgebenden. Im ersten Falle wünscht das Individual-Ich, die Arme zu befreien, aber es ist von seinen Verwandten physisch gebunden; im zweiten Falle will das Individual- Ich seinen Plan ausführen, aber es ist von der Liebe zu seinen Verwandten gebunden, folglich psychisch gebunden, was nicht minder real ist; im dritten Falle ist das Individual-Ich durch die Gegenkraft der Verwandten und der ganzen Ge- sellschaft gebunden. In allen drei Fällen unterliegt das Individual-Ich, aber mit „Schreien und Weinen“, Hier wurzelt der Konflikt: im ersten Falle ein äußerer, im zweiten und dritten ein äußerer und innerer (innerseelischer).

Wir haben keinen Grund, an der Wahrhaftigkeit der Er- innerung an den äußeren Konflikt zu zweifeln. „Daß ein Mensch eine Erinnerung an seine Säuglingszeit bewahren könne, ist vielleicht nicht unmöglich, kann aber keineswegs als gesichert gelten,“ schreibt Freud.! Und Havelock Ellis behauptet, daß Kindererinnerungen oft sehr viel weiter zurück- reichen, als man gewöhnlich glaubt. Was aber die Wahrhaftig- keit des innerseelischen Konflikts, wie er in dieser allerersten Erinnerung beschrieben ist, betrifft, so ist sie ‘mehr als zweifelhaft.

Die Übereinstimmung dieser Erinnerung mit Tolstois ganzer Persönlichkeit ihre innere Wahrhaftigkeit kann

zum Beweis zweier entgegengesetzter Behauptungen benützt werden.

1) Vgl. dazu: „Eine Kindheitserinnerun des L do da Vin“ v Sigm. Freud, 2. Aufl., Leipzig und Wien, we S. ER ron

Zwei allererste Erinnerungen 27

ı) Diese Erinnerung stimmt in so hohem Grade mit der ganzen Persönlichkeit des Autors überein, daß man sie als Künstlerbild, welches beim s5ojährigen Autor entstanden ist, als das Resultat seiner Introspektion im gegebenen Augenblick betrachten kann; dieses Künstlerbild ist fälschlich in die Säuglingszeit versetzt. „Es kann wohl keine Erinnerung sein, sondern eine Phantasie, die er sich später gebildet und in seine Kindheit versetzt hat.“' Aber auch in diesem Falle soll man auf das achten, was Freud über die Phantasien sagt: „Die spät geschaffenen Phantasien der Menschen über ihre Kindheit lehnen sich sogar in der Regel an kleine Wirklichkeiten dieser sonst vergessenen Vorzeit an.“

2) Die Übereinstimmung der Erinnerung’ mit der ganzen Persönlichkeit ist der Beweis für ihre Wahrhaftigkeit.

Es scheint mir, dal diese Behauptungen einander nicht widersprechen. Das, woran sich Tolstoi erinnert, hat er wirklich erlebt, aber nur im unbewußten psychischen Prozeß, ohne Übergang zur Vorstellung. Aber da dieser unbewußte psychische Prozeß das Wesen der Persönlichkeit Tolstois darstellt, so ist es natürlich, daß er sich in verschiedenen Variationen un- zählige Male in Tolstois Leben wiederholte, von ihm bewußt- gemacht und in die Sprache der Vorstellungen übersetzt wurde. Nachher wurde diese Übertragung in die Vorstellungs- sprache auch auf das erste, elementare, aber dem Wesen nach gleiche Erlebnis angewandt.

Man kann glauben, daß der äußere Konflikt beim Gewickeltwerden eine wirkliche Erinnerung ist und die Beschreibung des innerseelischen Konflikts vom 5ojährigen Autor hinzugefügt wurde. Aber der innerseelische Konflikt

ı) Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. L. c. S. 22.

28 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

ist bei der oben angeführten Ich-Auffassung eigentlich nur die Fortsetzung, resp. die Weiterentwicklung des äußeren Konflikts. Für das Individual-Ich stellen die Supra- und Sub-Ichs in gewisser Beziehung die Außenwelt das trans- subjektive innerseelische Milieu dar. Also können wir behaupten, daß Tolstois erste Erinnerung der Wahrheit ent- spricht, nur ist die Wahrheit in einer schärfer ausgeprägten Form dargelegt, als sie damals erlebt worden war. Und die Wahrheit ist die, daß Tolstoi sein ganzes Leben lang im Zustande des Konfliktes wie mit der Um- gebung, so auch mit sich selbst lebte.

Achten wir darauf, daß Tolstoi in der ersten Erinnerung bemerkt, daß er „Mitleid mit sich selbst“ fühlte (russisch auch als „Liebe zu sich selbst“ zu verstehen), ein Nar- zıBmus, der uns noch speziell beschäftigen wird.

Da für den Psychoanalytiker nach Freuds Ausdruck nichts „zu geringfügig“ ist, so ist es an Tolstois erster Er- innerung nicht zufällig, daß zwei Personen im Halbdunkel neben ihm standen. Das kann man als Hinweis nehmen, daB er eigentlich zwei Mütter hatte: die eine, die ihm das Leben geschenkt hatte, und die er im Alter von ı'/ Jahren verlor, und die andere, die Tante Tatjana Alexandrowna, die ihm seine verstorbene Mutter ersetzte.

Die zweite Erinnerung, die zur selben Zeit gehört, ergänzt die erste wesentlich. Die erste Erinnerung gibt nur die formale Seite, die Form des Seelenlebens, die. Seelen- stimmung. In dieser ersten Erinnerung sehen wir den Wunsch, sich von Hindernissen zu befreien: was mit der Freiheit anzufangen sei, wozu sie zu verwenden sei, das erfahren wir aus der zweiten freudigen Erinnerung. Es scheint, daB es angenehm ist, mit den freien Händchen die feuchten

Zwei allererste Erinnerungen 29

2:

Ränder des Trogs zu betasten und dabei sinnlichen Genuß zu emplinden. Das Fehlen von Zusammengebundenheit er- laubt auch, andere sinnliche Genüsse unbehindert zu genießen, denn die Aufmerksamkeit wird nicht vom Gegenstande des Genusses abgelenkt: man kann Genuß am Geruch (Kleie), an Tönen (Wassergeplätscher) und am Sehen (die entblößten Arme der Njanja und sein eigener kleiner Körper) empfinden. Auf diese Weise gibt uns die zweite Erinnerung den Inhalt des Seelenlebens.

Ergänzen wir die angeführten sinnlichen Genüsse durch den sinnlichen Genuß an der Muskeltätigkeit (aus der ersten Erinnerung) und fügen wir außerdem die folgenden Über- eungen Tolstois hinzu: „Lebte ich denn damals nicht,

5 als ich sehen, hören, verstehen, sprechen lernte, als ich schlief,

le

an der Brust saugte, die Brust küßte und lachte und meine Mutter erfreute? Ich lebte und lebte glückselig !“ Dann erhalten wir das Vollbild des sinnlichen Lebens des Säuglings: Schau-, Hör-, Tast-, Riech-,' Geschmacks-, Bewegungslust all das lauter sinnliche Genüsse, resp. partiell-sexuelle Be- tätigungen. |

„Es ist nicht gleichgültig, was ein Mensch aus seiner Kindheit zu erinnern glaubt; in der Regel sind hinter den von ihm selbst nicht verstandenen Erinnerungsresten unschätz- bare Zeugnisse für die bedeutsamsten Züge seiner seelischen Entwicklung verborgen.“ In dieser Hinsicht zeigt uns Tolstois zweite Erinnerung starke Sinnlichkeit und besonders ist der Hinweis auf narzißtische Schaulust interessant. „Ich

bemerkte zum ersten Male meinen kleinen Körper und fing

ı) Tolstoi verzeichnet in seinen Schriften auffallend häufig Geruchseindrücke.

2) Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. 2. Aufl., 1919. 5. 24.

30 # Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

an, ihn mit seinen an der Brust mir sichtbaren Rippen zu lieben.“ Dieselbe narzißtische Schaulust notiert Tolstoi in seiner Erzählung „Kindheit“ in dem Kapitel „Etwas in der Art einer ersten Liebe“: Der ıojährige Nikolenka (Tolstoi selbst) küßte Katinkas nackte Schulter. „Dieses Lustgefühl war für mich ganz neu; nur einmal, alsich meinen bloßen Arm betrachtete, hatte ich etwas ähnliches empfunden.“!

Über Tolstois Sinnlichkeit überhaupt werden wir in einem der weiteren Kapitel sprechen, jetzt aber lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf seinen Narzißmus.

Jeder Mensch liebt sich selbst. Die Selbstliebe ist eine gesetzmäßige normale Erscheinung. Tolstoi notiert in seinem Tagebuch folgendes: „Beim Eintritt in das Leben liebt der Mensch nur sich selbst und sondert sich von den anderen Wesen dadurch ab, daß er unverbrüchlich nur das liebt, was sein eigenes Leben ausmacht. Aber sobald er sich seiner selbst bewußt wird, kommt er auch zum Bewußtsein seiner Liebe, er begnügt sich nicht mehr mit der Liebe zu sich selbst und beginnt andere Wesen zu lieben. Und je länger er ein bewußtes Leben lebt, umso mehr andere Wesen beginnt er zu lieben, und ist diese Liebe auch nicht die unverbrüch- liche und stetige, mit der er sich selbst liebt, so ist sie doch so, daß er allen Wesen, die er liebt, von Herzen wohl will, sich ihres Wohlseins freut und durch jedes Ungemach, das den geliebten Wesen widerfährt, leidet.“? Aus diesen Worten folgt, daß die Liebe zu sich selbst ein unbewußter, primärer Prozeß ist, die Liebe zu den anderen Menschen aber durch

ı) Diese Stelle wurde seinerzeit von der Zensur gestrichen und erschien nur in der letzten Auflage. (Deutsch in Reclams Universal Bibliothek.)

2) Leo Tolstoi, Tagebuch, I. Band. 1895-1890). Tolstoi-Bihl; von L. Berndl, München, 1917, 9. 13. © 38 1099]. Toletoi Bibliothek, herausg.

Zwei allererste Erinnerungen 31

das Stadium des Denkens durchgeht. Das ist aber ein über- mäßiger Rationalismus! Man hat gar keinen Grund, solch einen Unterschied zwischen den Prozessen dieser beiden Libidobesetzungen zu behaupten. Aber für Tolstois Persönlich- keit ist diese Unterscheidung: charakteristisch.

„Der Mensch hat zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib,“ schreibt Freud.' „Die individuellen Differenzen betreffen nur den Unterschied in der Energie der beiden Libidoströmungen. Es ist evident, daß ein in einer Richtung starker Libidostrom den Strom in einer anderen Richtung herabsetzt. Die Libidobesetzungen des eigenen Ichs und der fremden Ich verhalten sich zu einander, wie der Körper eines Protoplasmatierchens zu den von ihm ausgeschickten Pseudopodien.“’

Wir müssen den normalen, primären, sozusagen physio- logischen Narzißmus, der bei allen Individuen in der Periode des Intrauterinlebens normalerweise die ausschließliche Libido- anwendung darstellt, und als Rest das ganze Leben lang existiert, von den anderen Arten des Narzißmus unterscheiden. Bald nach der Geburt besetzt die Libido auch fremde Objekte und von dieser Zeit an besetzt sie lebenslang gleichzeitig das Individual-Ich und die fremden Ich, resp. die fremden Objekte. Wenn im Laufe der weiteren Entwicklung die Ichbesetzung anormal stark und die Objektbesetzung umgekehrt äußerst schwach ausfällt, dann sprechen wir vom charakterologi- schen Narzißmus. Und wenn endlich die Libido die fremden Objekte gar nicht besetzt, dann handelt es sich um den pathologischen Narzißmus (Dementia praecox, bezw. Para-

phrenien).

ı) „Zur Einführung des Narzißmus“. A. a. O. S. 95. 2) Ebenda. S. 8ı. |

32 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Aber der quantitative Hinweis ist für das Kennzeichen des charakterologischen Narzißmus nicht genügend. Der Narziß- mus wird in der Normbreite dadurch charakterisiert, daß die Libido zu den fremden Wesen nur durch das eigene Ich gelangt. Genauer gesagt, liebt der Narziß die anderen Wesen nur wegen ihrer Liebe zu ihm, er liebt ihre Liebe. Das ist die „Liebe zur Liebe“, die Tolstoi selbst notiert. „Ich fühlte das Bedürfnis, von jedermann gekannt und geliebt zu sein. Ich fühlte das Bedürfnis, meinen Namen zu nennen, und alle sollten von dieser Mitteilung großen Eindruck empfangen, sich um mich scharen und mir für etwas danken.“! Die „Liebe zur Liebe“ ist eine narzißtische Objektliebe. Wer an „Liebe zur Liebe“ leidet, der muß beständig die fremde Meinung beachten. Tolstoi sagt: „Mitenka (Tolstois Bruder) muß jene wertvolle Veranlagung besessen haben, von der ich glaube, daß sie meine Mutter, und weiß, daß sie Nikolenka (Tolstois Bruder) besessen hat, die mir hingegen stets gänzlich gefehlt hat ich meine die völlige Gleich- gültigkeit dem Urteil anderer gegenüber. Ich war noch bis vor ganz Kurzem beinahe nie imstande, mich über das Urteil der Menschen hinwegzusetzen.“? Tolstoi besuchte ein Nachtasyl und da umringten ihn die Armen; unter ihnen befand sich eine Frau, die mehrere Tage nichts gegessen hatte. „Ich gab ihr einen Rubel und erinnere mich, daß ich sehr froh war, daß die anderen es gesehen hatten. Eine Alte, die es sah, bat mich auch um Geld. Es war mir so an- genehm zu geben, daß ich ‚schon ohne zu untersuchen, ob es nötig war, zu geben ader nicht, auch der Alten gab...

ı) Birjukow, I, 142. 2) Birjukow, I, 138, geschrieben in den Jahren 1903-1906.

Zwei allererste Erinnerungen 33

Als ich das Geld verteilte, näherten sich noch mehr Leute... Ich empfand .... Unruhe vor dem, was die Krämer und die Hausknechte von mir denken mochten.“

Am ı2. Mai 1856 schreibt Tolstoi in sein Tagebuch: „Ein überaus wirksames Mittel, sich mehr Lebensglück zu sichern, besteht darin, daß man ausnahmslos nach allen Richtungen, wie eine Spinne, ein ganzes Gewebe der Liebe spinnt und darin fängt, was sich nur fangen läßt, alte Weiber, Kinder, Frauen und Polizeisoldaten.“” Das ist wieder keine echte Objektliebe, weil sie eigenes Lebensglück verfolgt.

Sich selbst bis zur Vergötterung liebend, verstand es Tolstoi, diese Vergötterung und Liebe auf andere Menschen zu übertragen. Er verstand es, geniale Einfühlung in fremdes Seelenleben zu offenbaren. Die ganze Libido, die, wie ın einem Brennpunkt, im Ich konzentriert ist, wird auf ein fremdes Ich übertragen und dann lebt das eigene Ich im fremden Ich. Das eigene Ich identifiziert sich mit dem fremden Ich. Aber die Mechanismen der Übertragung und der Identifizierung machen noch keine Differentialdiagnose zwischen der Selbstliebe und der echt altruistischen Objekt- liebe aus. Die Hauptsache ist, ob das eigene Ich bei der Identifikation dem fremden Ich unterliegt oder nicht. Im Falle der narzißtischen Identifizierung strebt das eigene Ich danach, das fremde Ich dennoch nach seinem Muster zu formen. Das eigene Ich sucht weiter die Rolle der „Form“ zu spielen. Bei der altruistischen Übertragung unterliegt das eigene Ich dem fremden Ich, es wird zur „Materie“. Tolstois Fähigkeit zur narzißtischen Identifizierung wird durch seine

EEE ER a ı) Was sollen wir tun? S. 53, 54

2) Birjukow, I.

3 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

——————— 34 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen BE nn N RN I a

Heldengestalten in den dichterischen Werken bewiesen. Tolstoı bildet seine Helden vorwiegend nach dem narzißtischen Aus- wahltypus. Nämlich er bildet ab: ı. sich selbst (z. B. Lewin in „Anna Karenina“); 2. was er selbst war (z. B. Nikolenka in der „Kindheit“); 3. was er selbst sein möchte (z. B. Andrei Bolkonski in „Krieg und Frieden“); 4. die Personen, die ein Teil der eigenen Persönlichkeit sind (die Vorfahren, die in „Krieg und Frieden“ abgebildet werden). '

Kannte Tolstoi eine echt altruistische Objektliebe? Darüber sprechen wir später.

Die narzißtische Einstellung bringt in inter-individuellen g und die Unterschätzung der anderen mit sich. Daraus resultieren aber Stolz und Eitelkeit. Birjukow sagt: „Tolstoi (in den Jahren ı851— 1858) verkehrte mit Männern, die auf

seiner eigenen Erziehungsstufe standen und war selbst ihnen

Beziehungen notwendigerweise die Selbstüberschätzun

gegenüber sehr reserviert, unabhängig, ja stets in Opposition und von dem Wunsche beseelt, die anderen zu beeinflussen, während er selbst äußeren Einflüssen nur schwer zugänglich war.“” Seine Eitelkeit notiert Tolstoi in seinem Tagebuche (1852). „Eitelkeit: es ist dies die Leidenschaft, durch welche

ı) Siehe Freud, Zur Einführung des Narzißmus a. a. OÖ. über die Objekt- wahltypen. Die Fragen, die Tolstois dichterisches Schaffen betreffen und zu deren Erforschung in sehr bedeutendem Maße die Arbeiten von Dr. Otto Rank verhelfen, ebenso wie die Erläuterung der pathologischen Angst vor dem Tode, an der Tolstoi litt und auf die als den wichtigsten Faktor zum Ver- ständnis von Tolstois Wandlung und Persönlichkeit Mereschkowski hingewiesen hat, behalten wir unseren weiteren Arbeiten vor. Es sei hier nur bemerkt, daß O. Rank ganz recht hat, wenn er in seiner Studie über das Doppelgänger- motiv (Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. Leipzig und Wien, 1919) Todesangst und Narzißmus in nahe Beziehungen bringt. Der „ewige Narziß“ Leo Tolstoi schreibt in seinem Tagebuche (Oktober 1863): "Ich schwanke unter der Last des Todes, ich schwanke und habe nicht die Kraft, stehen zu bleiben.

Und ; : : i 5 n ; en Tod nicht, ich will und liebe die Unsterblichkeit.“

2) Birjukow, I, 272.

Zwei allererste Erinnerungen 35

wir anderen den geringsten und uns selbst den größten Schaden zufügen.“' Birjukow erzählt: Als sie (Leo Tolstoi und sein Bruder Nikolaus, im Jahre 1851) in der Stadt gingen, fuhr ein Herr an ihnen vorüber, der mit unbehandschuhten Händen einen Stock vor sich hin hielt. „Dieser Mensch scheint offenbar irgend ein Spitzbube zu sein,“ rief Leo Tolstoi seinem Bruder zu. „Warum?“ fragte Nikolaus. „Nun, weil er keine Handschuhe trägt.“

In der „Jugend“ widmet Tolstoi ein ganzes Kapitel der Beschreibung seiner Bemühungen, comme ıl faut zu sein.

Der Narziß ist selbstgenügsam und unzugäng- lich.” Folglich hat er kein Bedürfnis, Freunde zu haben. „Im Leben Leo Tolstois fällt eine besondere Einsamkeit auf, nicht jene, die dem Genie eigen ist, sondern eine andere, eine irdische, alltägliche, menschliche. Er hat fast alles, was der Mensch auf der Erde erreichen kann, für sich gewonnen, nur keinen Freund... Sein langes Leben lang umgeben ıhn nur Verwandte, Verehrer, Beobachter und Beobachtete und endlich Schüler diese aber scheinen ihm am fernsten zu stehen.“ (Mereschkowski.)’

Es versteht sich von selbst, daß Tolstoi kein gewöhnlicher Narziß war. Es gibt ebenso Narzisse von höchster Begabung, als auch solche, die mit Gaben karg bemessen sind. Die Konstatierung des Narzidmus gibt uns noch keine Vorstellung von dem Diapason der Persönlichkeit. Wie umfangreich aber

dieses Diapason bei Tolstoi gewesen, braucht man nicht zu sagen.

ı) Birjukow, I, 206. 2) Ebenda, I, 174. 3) Freud. Zur Einf.d.N.a.a.O.

4) „Tolstoi und Dostojewski“. S. 76. Erster Band, 2. Auflage, Berlin. Voegels Verlag, 1919. Deutsch von K. v. Gutschow.

3*

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36 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Die Selbstliebe, der Narzißmus, war bei Tolstoi ambi- valent, wie wires im Anfang des ersten Kapitels im Benehmen Nechljudows gegenüber sich selbst gesehen haben, wo er sich als Schurke u. dgl. beschimpft und sich später als Gott fühlt. Das ist die „Verkehrung ins Gegenteil“: der Liebe in den Haß und umgekehrt (Freud'), wieder einer der charakteristischen Züge von Tolstois Persönlichkeit. Diese Ambivalenz ist auch in der ersten Erinnerung notiert: „ich schreie und weine und mein Geschrei ist mir selbst un- angenehm“ „ich fühle Mitleid mit mir selbst“ (d. h. Liebe zu sich selbst). In seiner geistreichen Arbeit „Tolstoi und Dostojewski“ schreibt D. S. Mereschkowski?: „Hier wie dort ist die erste Ursache und die Vereinigung dieser anscheinend so entgegengesetzten Gefühle das eigene Ich, entweder das aufs äußerste gesteigerte oder das aufs äußerste verneinte. Aller Anfang und das Ende ist das Ich; weder Liebe noch Haß können diesen Kreis zerreißen.“ Dementsprechend war auch das Verhältnis Tolstois zu den anderen Menschen wechselnd.

Außer der Ambivalenz ist für Tolstois Narzißmus noch seine Kenntnis seiner selbst charakteristisch. Leo Tolstoi schreibt über seinen Bruder Sergei: „Serjoscha aber bewunderte ich enthusiastisch und ahmte ihn nach . . . Ich bewunderte ... insbesondere, so seltsam dies auch klingen mag, die Un- bewußtheit seines Egoismus. Ich war stets meiner selbst gewahr, hatte stets Klarheit über mich selbst und wußte auch, ob die Gedanken und Empfindungen anderer über mich gerecht waren oder ungerecht, und dies störte

ı) Triebe und Triebschicksale. Samml. kl. Schr. 1. ec. S. 2 52. 2) a.a.0.

Zwei allererste Erinnerungen 37

meine Lebensfreude. Darum wohl liebte ich an anderen nichts so sehr als das gerade Gegenteil unbewußten Egoismus. “'

Der gewöhnliche Narziß leidet an keinen Seelenkonflikten, er geht in seiner Selbstliebe auf. Er hat nur äußere Konflikte mit der Umgebung, welche‘ nicht einfach die Rolle der „Materie“ für seine Majestät, das narzißtische Ich, spielen will. Ein geistreicherer Narziß leidet an Seelenkonflikten, eben an den Konflikten zwischen der Selbstliebe und der narzißtischen Objektliebe (Liebe zur Liebe). Er will geliebt werden, deshalb fühlt er sich manchmal gezwungen, etwas zu tun, was seiner Selbstliebe widerstrebt. Der Tolstoische Nar- ziBmus wird durch die Ambivalenz, das Selbstbewußtsein, die geniale Übertragung und Identifizierung charakterisiert. Beim Vorhandensein dieser Eigeyschaften ist es evident, daß Tolstoi an innerseelischen Konflikten leiden mußte.

Die erste Erinnerung gibt uns, wie wir oben gesagt haben, die Vorstellung von der formalen Seite von Tolstois Seelenleben. Außerdem finden wir daselbst auch ein inhalt- liches Merkmal: eben einen Hinweis auf die aktionsstarke, bezw. aktionslustige Muskulatur. Die aktionsstarke Muskulatur ist im Körperbereiche dasselbe, was die Selbstbehauptung des Individuums im Seelenbereiche ist. Tolstoi war sein ganzes Leben lang ein tatkräftiger, temperamentvoller Mann. Eine „heiße, impulsive Natur“, bemerkt Birjukow.” $. A. Behrs, der Brüder von Tolstois Frau erzählt in seinen „Er- innerungen an Graf L. N. Tolstoi“: „Meine Mutter sagte

ı) Birjukow, I, 88.

2) 1, 50%.

38 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

mir, daß er bei der Schilderung seiner ersten Liebe in dem Romane ‚Kindheit‘ zu erzählen unterließ, wie er aus Eifer- sucht den Gegenstand seiner Liebe vom Balkon gestoßen habe. Es war dies meine damals gjährige Mutter, die dann lange hinkte.“' Nicht das Kontemplative, sondern die Aktion war Tolstois Sphäre. Auch die gewöhnliche Narzisse (wenigstens die Männer unter ihnen) haben gewöhnlich ein aktionsstarkes Individual-Ich.

Opposition bis zum Unsinn getrieben das ist Tolstois Einstellung. Und dieses Merkmal hat nahe Beziehung zum Narzißmus. Der gewöhnliche Narziß sagt immer auf alle Ge- danken, Vorschläge, Unternehmungen anderer Leute: „Nein“? Die innere Verbindung dieses stumpfsinnigen Neins mit dem Narzißmus ist evident: „Was nicht Meine Majestät Ich ist ist nicht nur wertlos, sondern sogar ekelhaft.“ Da aber die von unzähligen fremden Ich ausgehenden Äußerungen natur- semäß äußerst mannigfaltig und einander widersprechend sind, wobei die narzißtische Reaktion immer dasselbe „Nein“ bleibt, so muß der Narziß fortwährend in Gegensätzlichkeit mit sich selbst verfallen. Der Narziß, der an Ambivalenz der Gefühle leidet, hat in dieser Ambivalenz noch eine zweite Wurzel für die Gegensätzlichkeit zu sich selbst. Und Tolstoi verfällt fortwährend in den Gegensatz zu sich selbst. „Aber wahr ist das, daß es mein erster und stärkster Lebenseindruck war. Und erinnerlich sind mir nicht mein Geschrei, nicht das Leiden, sondern die Kompliziertheit und die Gegensätzlichkeit des Eindruckes.“ Der berühmte Dichter

Fet, der sein ganzes Leben lang in freundschaftlichem

2) Vergl. den Negativismus der Schizophrenen.

Zwei allererste Erinnerungen 39

Verhältnis zu Tolstoi stand, schreibt über seinen Eindruck aus der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Tolstoi: „Ich ge- wahrte jedoch von allem Anfang an beim jungen Tolstoi eine Art unbewußter Feindseligkeit allen im Reiche des Denkens angenommenen Gesetzen gegenüber.“' Diese Zeit Tolstois erster Bekanntschaft mit dem Kreise der berühmten Schriftsteller wiederholt das Bild des Wickelns, nur bemühten sich statt der Njanja und der Tante Turgeniew, Nekrassow, Fet, Grigorowitsch und andere literarische Größen, Tolstoi zu bändigen.” Grigorowitsch erzählt in seinen „Literarischen Erinnerungen“, wie er Tolstoi zum Mittagessen mit den Redaktionsmitgliedern der damals hochangesehenen und sehr einflußreichen Zeitschrift „Zeitgenosse“ begleitete. „Ich empfahl ihm unterwegs, vorsichtig zu sein und gewisse Gesprächsstoffe zu meiden, vor allem nicht George Sand anzugreifen, die damals der Abgott der meisten Mitglieder war... Als jemand einen neuen Roman der George Sand lobte, erklärte er plötzlich, daß er sie hasse, und fügte hinzu, daß ihre Heldinnen, wenn sie in Wirklichkeit existierten, verdienten, an einen Henkerkarren angeschnallt und als abschreckendes Beispiel durch die Straßen Petersburgs getrieben zu werden .. . Gleich- viel welche Meinung ausgesprochen wurde und je größer die Autorität desSprechers war, umsomehr er bestand darauf, seinen gegnerischen Standpunkt zu betonen und schroff zu erwidern.“* Tolstoi erwähnt auch selbst seinen Hang zum Widerspruch. So z. B. in einem Briefe an Tatjana Alexandrowna: „weil ich dir

. r R P x : 4 nicht, wie es sonst meine Art ist, ‚widersprechen kann.

ı) Birjukow, I, 274. 2) Birjukow, I, Neuntes Kapitel. 3) Birjukow, I, 277. 4) Birjukow, I, 166.

40 Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Tolstoi widerspricht sich selbst auf Schritt und Tritt. Anstatt vieler Beispiele nur ein einziges: Tolstoi schätzt die geistige Arbeit seh hoch, wie man aus dem folgenden Zitat ersieht: „Nur diejenigen, denen die ethischen Wahrheiten wichtig und teuer sind, wissen, wie wichtig und kostbar die Erklärung, die Vereinfachung der sittlichen Wahrheit ist und durch welch lange Arbeit man sie erlangt, nämlich ihren Übergang aus der nebelhaften, unbestimmt bewußten Voraus- setzung, aus dem Wunsche, aus unbestimmten inkohärenten Ausdrücken in einen festen, bestimmten Ausdruck, welcher unvermeidliche, ihm entsprechende Handlungen fordert.“' Gleichzeitig mit dieser hohen Schätzung der geistigen Arbeit schreibt Tolstoi sein Volksmärchen „Über den dummen Iwan und seine zwei Brüder: Semen, den Krieger und Taraß, den Dickbäuchigen, und die stumme Schwester Malanja und den alten Teufel und die drei Teufelchen.“! In derbem Stil (das sieht man schon aus dem Titel), in verschrobenen Worten, beschreibt Tolstoi ein für ihn ideales Reich, wo es kein Geld gibt und alle nur mit den Händen arbeiten. In dieses Reich kam der Teufel in der Gestalt eines schneidigen Herrn und sollte dort vor Hunger sterben. Der Teufel beschloß, das Volk des dummen Zaren Iwan über die geistige Arbeit zu belehren. „Im Reiche Iwans war ein hoher Turm erbaut und es führte nach oben eine Treppe, oben gab es einen Erker. Dahin führte Iwan den Herrn, damit er zu sehen sei. Der Herr stellte sich auf den Turm und begann von dort aus zu

EEE

1) „Was sollen wir tun?“ $. 65. Hier ist der Mechanismus des zeistieen Schaffens überhaupt angedeutet: ı) Nebelhafte, unbestimmt bewußte ee ne- setzung, das ist Strebung zu bewußt gestelltem Ziele, aber nur in nebelhaften Umrissen; >) Unbewußte Tätigkeit gleich Wunsch, Eros: 3) Erste Anfänge der bewußten Bearbeitung (sekundäre Bearbeitung) des unbewußten Wunsches.

2) Leo Tolstoi. Volkserzählungen. Prag, 1888, (Ruuss.)

Zwei allererste Erinnerungen 41

reden. Und die Narren versammelten sich, um zu schauen. Die Narren dachten, daß der Herr in der Tat zeigen würde, wie man ohne Hände mit dem Kopfe arbeiten könne. Aber der alte Teufel belehrte nur mit Worten, wie man, ohne zu arbeiten, leben könne. Die Narren verstanden nichts. Sie schauten, schauten noch und gingen auseinander, jeder zu seiner Beschäftigung. Der alte Teufel stand auf dem Turm einen ganzen Tag, stand einen zweiten hindurch und sprach fortwährend. Er bekam Hunger. Und die Narren kamen nicht auf den Gedanken, ihm Brot auf den Turm zu bringen. Der alte Teufel stand im Erker noch einen "Tag und wurde schwach er wankte einmal und stieß mit dem Kopfe an eine Säule. Das sah ein Narr, sagte es der Frau von Iwan und die Frau lief zu ihrem Manne aufs Feld. Iwan kam zum "Turm, aber der alte Teufel war schon ganz schwach vor Hunger, fing zu wanken an, mit dem Kopf an die Säulen zu stoßen. Als sich Iwan ihm näherte, stolperte der Teufel, fiel und rutschte die Treppe hinunter, zählte alle Stufen mit dem Kopfe. Nun, sagte Iwan, der schneidige Herr hatte Recht, daß ein anderes Mal auch der Kopf platzt, es ist was anderes als Hühneraugen auf den Händen, von solcher Arbeit kriegt man Geschwülste, auf dem Kopf.“ Das ist also die zweite Stellungnahme des- selben Tolstoi zur geistigen Arbeit.

In der zweiten Erinnerung ist die autoerotische Schaulust eine auffällige Tatsache. „Ich bemerkte zum erstenmal meinen kleinen Körper und fing an, ihn mit seinen mir an der Brust sichtbaren Rippen zu lieben.“' Die narzißtische Schaulust”

ı) Schon Mereschkowski und Rank haben diese Stelle beachtet. Nur irrt Mereschkowski, wenn er diese Erinnerung ins Alter von 3—4 Jahren versetzt. Nach dem Texte der „Erinnerungen“, sowie nach der Birjukow’schen Biographie war Tolstoi damals ungefähr ein Jahr alt.

2) Zwischen Narzißmus und Autoerotismus macht Freud folgenden Unterschied: „Es ist eine notwendige Annahme, daß eine dem Ich vergleichbare

42 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen LE a ae Wr

macht nach der scharfsinnigen Feststellung von Freud drei Phasen durch. „Der Schautrieb ist nämlich zu Anfang seiner Betätigung autoerotisch, er hat wohl ein Objekt, aber er findet es am eigenen Körper. Erst späterhin wird er dazu geleitet (auf dem Wege der Vergleichung), dieses Objekt mit einem analogen des fremden Körpers zu vertauschen. Diese (d. h. narzißtische) Vorstufe ist nun dadurch interessant, daß aus ihr die beiden Situationen des resultierenden Gegensatzpaares hervorgehen, je nachdem der Wechsel an der einen oder anderen Stelle vorgenommen wird.“' Das Schema für den Schautrieb könnte lauten (Freud):

ce) Ich beschaue mich selbst >= Ich werde von mir beschaut B) Ich beschaue ein fremdes Objekt y) Ich werde von einer fremden Person beschaut (Aktive Schaulust) (Zeigelust, Exhibitionismus)

Tolstoi betrachtete seinen bloßen Arm (a), auch die ent- blößten Arme der Njanja (B) mit Lustgefühl; er liebte es immer,

die Situation so auszuwählen (Y), daß man ihn beschaute,

Einheit nicht von Anfang an im Individuum vorhanden ist; das Ich muß ent- wickelt werden. Die autoerotischen Triebe sind aber uranfänglich; es muß also irgend etwas zum Autoerotismus hinzukommen, eine neue psychische Aktion, um den Narzißmus zu gestalten.“ (Zur Einführung des Narzißmus. A.a. O.S. 82). Es scheint, daß Freud in seinen späteren Arbeiten seine Bestimmung des Nar- zıBmus etwas geändert hat. „Das Ich findet sich ursprünglich, zu allem Anfang des Seelenlebens, triebbesetzt und zum Teil fähig, seine Triebe an sich selbst zu befriedigen. Wir heißen diesen Zustand den des Narzißmus, die Be- friedigungsmöglichkeit die autoerotische“ (Triebe und Triebschicksale. A. a. O. S. 272.). Mir scheint es, daß das Ich, welches einfach erlebt wird, (vergl. oben Kap. I) uranfänglich und immer zugegen ist, was selbstverständlich seine weitere Entwicklung nicht ausschließt; im Laufe dieser Entwicklung entsteht die Vorstellung von Ich, d.h. das vorgestellte Ich. Mit anderen Worten: das Ich ist ursprünglich und numeral identisch, was seine qualitative Veränderungen nicht ausschließt. Der Narzißmus ist die Libidobesetzung der ganzen eigenen Persönlichkeit (des Gesamt-Ichs), er ist also uranfänglich. Der Autoerotismus ist ein einzelner narzißtischer Akt; gemäß dem eingebürgerten Sprachgebrauch ist nämlich der Autoerotismus ein auf den Leib des Individuums gerichteter Akt. Der Narzißmus schließt in sich den Autoerotismus ein. Es sei noch bemerkt, daß den üblich gewordenen und in mancher Beziehung sehr bequemen Terminis „Ichlibido“

und „Objektlibido‘“ insoferne ein M l Ba auch ein Objekt ist. n Mangel anhaftet, als das Ich in diesem Falle

ı) Triebe und Triebschicksale. A. a. O. S. 266.

Zwei allererste Erinnerungen 43

bewunderte, sich mit ihm beschäftigte, er liebte immer, Auf- sehen hervorzurufen Exhibitionismus im weitesten Sinne des Wortes.! Ausführliche Tagebücher, Beichten, Geständ- nisse ist das nicht narzißtischer Exhibitionismus? Exhibi- tionismus ist eine komplizierte Erscheinung. Narzißtischer Exhibitionismus ist die Einladung seitens des Narziß zur Bewunderung seiner ganzen Erscheinung. „In der Literatur aller Zeiten und aller Völker wird sich wohl kaum ein zweiter Schriftsteller finden, der sein persönliches Privatleben, ja oft die intimsten Seiten desselben, mit einer so großherzigen oder ungenierten Aufrichtigkeit enthüllt, wie Tolstoi.” (Meresch- kowski.)”

Betrachten wir jetzt einige Abkömmlinge der narzißtischen Schaulust und der narzißtischen Zeigelust. Der Narziß sieht sich sehr gerne im Spiegel. Dal) wir diese Eigenschaft beı Tolstoi nicht finden, erklärt sich daraus, daß er von seiner Häßlichkeit überzeugt war. „Ich bildete mir ein, dab es kein irdisches Glück für einen Menschen geben könne, der eine so breite Nase, so dicke Lippen und kleine Augen habe wie ich. Ich bat Gott, ein Wunder zu wirken und mich in einen hübschen Knaben zu verwandeln. Und ich hätte alles, was ich damals besaß und je in künftigen Zeiten besitzen würde, für ein hübsches Gesicht hingegeben.“°® Tolstoi liebte das Körperliche, das Fleischliche, heiß. In seinen dichterischen Werken beschreibt er meisterhaft und mit auffallender Liebe körperliche Eigenschaften seiner Helden und sogar der Neben- personen. „Ich glaube nicht,“ schreibt Mereschkowski, „daß

ı) Der Zeigesucht ungeachtet, litt Tolstoi an Schüchternheit. Zur Frage über die Herkunft dieser Schüchternheit kehren wir noch zurück.

2) A. 8,0), 8.10,

3) Birjukow, ], 103.

44 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

es in der ganzen Weltliteratur einen Schriftsteller gibt, der Leo Tolstoi in der Schilderung des menschlichen Körpers durch das Wort gleichkommt ... Diese ihm allein in so hohem Grade eigene Gabe, die'man vielleicht das Hellsehen des Flei- sches nennen könnte... Es ist ihm so leicht und angenehm, lebende Körper und ihre Bewegungen zu schildern, daß er von Zeit zu Zeit wie spielend damit Mißbrauch treibt.“!

Im Zusammenhange mit dem Narzißmus steht der Rationalismus.” Der Narziß liebt sich in seiner ganzen Erscheinung, folglich liebt er auch seine Gedanken. Für Tolstois Rationalismus ist seine Ansicht über die Wirksamkeit des Verstandes in den Sexualangelegenheiten beweisend. Tolstoi meint, daß die „mir gegebenen“ Zustände, wenn sie dem Ich unerwünscht sind, von der Vernunfttätigkeit des Ichs besiegt werden können. Wenn unser Ich denkt, daß der oder jener Trieb ihm nötig ist, so wird er wirklich nötig.

„Eugen [in der Erzählung „der Teufel“] wohnte den zweiten Monat auf dem Lande und wußte entschieden nicht, was er tun sollte Die unwillkürliche Enthaltsamkeit fing an, auf ihn schlecht zu wirken, und da er überzeugt war, daß es ihm unbedingt nötig sei, so wurde es ihm wirklich nötig und er fühlte, daß er nicht frei war und daß er gegen seinen Willen jede junge Frau mit den Augen be- gleitete.“ Und doch beweist die ganze Erzählung gerade das Gegenteil. Eugen unterliegt dem Triebe, ungeachtet allen Verstandesanstrengungen. Tolstoi, der geniale Künstler, widerspricht dem moralisierenden Tolstoi.

1) A.a. 0.8. 155, 157.

2) Der Rationalismus ist „die Meinune, es stecke im V und Erklärbaren das W A

Tübingen 1920, S. 28.

erstandesmäßigen

esen der Dinge.“ H. Rickert, Die Philosophie des Lebens.

Zwei allererste Erinnerungen 45

Ein anderes Beispiel für den Rationalismus: Der Wohl- tätigkeitsversuch zeigte Tolstoi, daß Not und Elend durch äußere Mittel nicht zu bewältigen sind. „Ich verstand es nicht, daß einem solchen Menschen (d. h. einem tief ge- sunkenen) zu helfen nur dadurch möglich ist, daß man seine Weltanschauung ändert... .. Aber dazu mul3 man seine

! Und Tolstoi ändert seine

eigene Weltanschauung ändern.“ Weltanschauung und begeht dabei den Fehler, dal3 er die Kraft des Sub-Ichs, nämlich des Sexual-Sub-Ichs, das durch die Verstandestätigkeit nicht bezwungen werden kann, nicht in Rechnung zieht. Das ist der Glaube an „die Allmacht der Gedanken.“ (Freud.) Und der Glaube an die Allmacht der Gedanken steht in der nächsten Be- ziehung zum Narzißmus, wie wir aus Freuds Forschungen wissen.

Wir finden bei Tolstoi sogar den Glauben an die magische Bedeutung der Worte: „Tolstoi pflegte einer Tagebuch- Aufzeichnung oft das Datum des folgenden Tages hinzuzu- fügen, gewöhnlich mit der nur in Anfangsbuchstaben geschriebenen formelhaften Wendung: „wenn ich am Leben sein werde“.”

Im Zusammenhang mit dem Rationalismus und dem Glauben an die Allmacht der Gedanken steht Tolstois Leiden- schaft für Wortstreite. *Diese Leidenschaft in nuce ist in der ersten Erinnerung notiert: „Ihnen scheint es, daß es so nötig ist (d. h. daß ich zusammengebunden sei), während ich weiß, daß es nicht nötig ist, und es ihnen beweisen

will, und ich vergehe in lautem Geschrei, das mir selbst

1) „Was sollen wir tun?“

2) Tagebuch-Anmerkungen. $. 263.

4.6 Össipow: Tolstors Kindheitserinnerungen

zuwider, aber unaufhaltsam ist.“ Tolstoi gab immer sich selbst und allen Menschen die Schuld am ganzen Welt- elend, während die Menschen daran bei weitem nicht schuld sind. Für vieles ist das Schicksal, d. h. die Existenz von höheren als menschlichen Kräften in der Welt verantwort- lich. Tolstoi spricht in der ersten Erinnerung auch diesen Gedanken aus: „Ich fühle die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit nicht der Menschen, weil sie mich bedauern (lieben), aber des Schicksals und habe Mitleid mit mir selbst.“ Dieses Anerkennen einer höheren Macht ist eine seltene Erscheinung in Tolstois Leben und Gedankengang. Tolstoi erkennt gewöhnlich, daß alles Böse in der Welt von den falschen Überzeugungen der Menschen stammt. Folglich muß man nur die eigenen und fremden Ansichten ändern, um das Böse zu vernichten. Tolstoi war in gewisser Be- ziehung ein sokratischer Mensch. Bei einer solchen Voraus- setzung ist es nur natürlich, daß man seinen Gegner mit allen seinen Kräften zur eigenen Überzeugung zu zwingen sucht.

Tolstoi war ein großer Mensch, dennoch dürfen wir über Tolstois Größenwahn sprechen, und eben nicht nur über den Größenwahn in der Phantasie, weil ja in der Phantasie jeder von seiner außerordentlichen Größe träumt. Nikolenkas Phantasien („Kindheit“ tısw.) über den Ruhm

EZ RR LE

der Erzählung „Der Teufel“ Eu " Ay 7 „De gens Schwiegermutter die sexuelle Ätiol der Leidenschaft für Wortstreitereien in den and legt. er an en

war. Aber die Schwiegermutter „versicherte,

hatte. Das war klar zu seh 2 en, als er „ge u Varianten Bewahrt. strıtt.“ Diesen Satz hat Tolstoi in beiden

Zwei allererste Erinnerungen 47

stehen sogar hinter der Wirklichkeit, die Tolstoi ungeheueren Ruhm gebracht hat, zurück. Aber hier ist ein Beispiel des Größenwahns im Wachzustande. Als junger Leutnant trägt Tolstoi am 5. März 1855 in sein Tagebuch folgendes ein: „Ein Gespräch über Gottheit und Glaube rief in mir eine große, eine erstaunliche Idee wach, der mein Leben zu weihen ich mich fähig fühle. Diese Idee ist die Gründung einer neuen Religion, die der augenblicklichen Entwicklungs- stufe der Menschheit entspräche die Religion Jesu, jedoch vom Dogma und Mystizismus gereinigt, eine praktische Religion, die nicht künftiges Glück verheißt, sondern Glück auf Erden schenkt.“ '

eine Religion mit der Vernunft zu gründen glaubt, zeigt

Schon dieses Eine, daß der Mensch

nicht nur Größenwahn, sondern die ganze Unerfüllbarkeit dieses Wunsches. Keine einzige Religion wurde willkürlich geschaffen. Ein anderes Beispiel: Tolstoi stellte einen Wohl- tätigkeitsprospekt zusammen. „Ich stellte mir schon vor, daß, von den Bettlern abgesehen, es sogar keine Notdürftigen in der Stadt geben würde, und daß alles das ich voll- bringen werde.“

Der Narzißmus ist eine Verstärkung des Individual-Ichs durch die Energie des Sexual-Ichs, „die libidinöse Er- gänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes.“ (Freud.) Durch die Sexualenergie gestärkt, strebt das Individual-Ich nicht nur zur Selbsterhaltung, resp. Selbstbehauptung, sondern auch dazu, daß alles durch das eigene Ich bestimmt wird. Diese Strebung, das Leben der ganzen Welt durch sich selbst zu bestimmen, ist eine teuflische Strebung. Wenn

TEN EEE En ln 2 ee Re ee ee ı) Birjukow, I, 251.

2) „Was sollen wir tun?“ L. c.

48 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

ein großer Narziß, wie Tolstoi, Satan gleicht, so gleichen die gewöhnlichen Narzisse den kleinen Teufelchen.

Wenn der Zusammenhang des Rationalismus mit der autoerotischen Schaulust nicht klar genug erscheint, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache der mehr- fachen Determinierung lenken. Die autoerotische Schaulust erweitert sich zur Selbstbewunderung überhaupt und zur Bewunderung der eigenen Gedankengänge im besonderen. Es gesellt sich noch eine andere determinierende Ursache hinzu, nämlich die Liebe zum Nachdenken. Mit dieser Liebe zum Nachdenken bei Tolstoi werden wir uns im Kap. V beschäftigen. (Auch sie ist libidinösen Ursprungs.) Auf solche Weise wird die überwiegende Zahl der Seelenerscheinungen mehrfach determiniert.

Gehen wir jetzt zu den Zeigelusterscheinungen über. Die Gräfin A. A. Tolstoi, Tante von Leo Tolstoi, eine hochgebildete Dame, sagte von ihrem berühmten Neffen, daß seine ganze Tätigkeit darauf gerichtet sei, Staunen her- vorzurufen. Wenn Jemand aber Staunen zu erregen strebt, so heißt es, daß er seine Mitmenschen einlädt, an seiner Selbstbewunderung teilzunehmen. Das ist Tolstois Grund- strebung, insofern er ein Narziß ist. Die ganze Persönlich- keit und Tätigkeit Tolstois werden uns unbegreiflich bleiben, wenn wir nicht auf diese seine Zeigelust und die daraus entspringenden Extravaganzen achten. Ein Beispiel aus der Kinderzeit: „Einmal kam er in den Salon und machte vor jedem rücklings eine Verbeugung, den Kopf neigend und grüßend.“' (Solche Streiche, wenn sie unmotiviert gehäuft

vorkommen, sind imstande, einen Verdacht auf Dementia

a Re en ı) Birjukow, ], ıı7.

Zwei allererste Erinnerungen 49

praecox hervorzurufen.) „Einmal kam er auf die Idee, sich die Augenbrauen wegzurasieren; und er führte es aus, ent- stellte damit nur noch ein Gesicht, das niemals besonders schön gewesen war, und bereitete sich selbst dadurch viel Leid.“' „Aus unbekannten Gründen (er behauptet nun selbst, er habe es einfach getan, um etwas Ungewöhnliches zu tun, und die anderen zu überraschen,) war Lewotschka auf die Idee gekommen, aus einem Fenster des zweiten Stockwerkes ‘“ Und er hat diese ‚Absicht ausgeführt. „Zum Glück waren keine Knochen ge-

mehrere Ellen tief hinab zu springen.‘

brochen und die schädlichen Folgen auf eine leichte Gehirn-

erschütterung beschränkt.“ ,

Möglicherweise war es ein Flug- versuch? „Tolstoi selbst erzählte im Familienkreise in meiner Gegenwart, daß er als sieben- oder achtjähriges Kind nur einen Wunsch hatte, den zu fliegen. Er bildete sich ein, daß man es könne, wenn man auf den Fersen kauere und mit den Armen die Knie umschließe, und daß man umso höher fliege, je fester man die Knie hielte.“®

Fet erzählt von Leo Tolstoi als jungem Gutsbesitzer: „Auf unsere Nachfrage gab uns der Graf (Nikolaus Tolstoi) mit unverhohlenem Vergnügen folgende Auskunft über seinen geliebten Bruder: Lewotschka, sagte er, tut sein Bestes, um mit dem Leben und der Arbeitsweise der Bauern, von denen wir alle sehr wenig wissen, vertraut zu werden ..... Turn- übungen stehen in keinem Widerspruche zur Landwirtschaft. Sein Verwalter sieht die Sache jedoch anders an. Ich wollte

mir Befehle holen, sagte er, doch der Herr hängt in seiner

ı) Birjukow, I, 116. 2) Ebenda. (Aus Erzählungen von Tolstois Schwester Maria Nikolajewna.) 3) Birjukow, ], 118.

4 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

50 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

roten Hose mit einem Knie an der Stange, den Kopf nach unten schwingend, wobei sein Haar wild flattert und sein Gesicht ganz purpurrot ist. Ich wußte wirklich nicht, ob ich seine Befehle entgegennehmen oder dastehen und mich über ihn wundern solle.“ '

Dem amerikanischen Schriftsteller Schyler erzählt Tolstoi: „Als ich zum zweitenmal ins Ausland ging, besuchte ich Auerbach, ohne meinen Namen zu nennen. Als ich ins Zimmer trat, sagte ich bloß: ‚Ich bin Eugen Baumann. (Der Held einer Auerbachschen Geschichte.) Und als er Er- staunen zeigte, beeilte ich mich, rasch hinzuzusetzen: ‚Nicht gerade dem Namen, aber dem Charakter nach.“ Auerbach erinnerte sich an diesen Vorfall und sagte Schyler: „Ja, ich erinnere mich des Schreckens, den mir der wunderlich aus- sehende Herr verursachte, als er mir sagte, er wäre Eugen Baumann; fürchtete ich doch, daß er mir mit einer Ver- leumdungs- oder Ehrenbeleidigungsklage drohen würde.“

Solche Beispiele von Extravaganzen kann man in Tolstois Biographie massenhaft finden. Turgeniew sagte von Tolstoi: „Nicht ein Wort, nicht eine Bewegung ist natürlich an ihm. Er posiert beständig und es ist mir rätselhaft, wie ein so kluger Mann diesen kindlichen Stolz auf seinen dummen Grafentitel haben kann.“® Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß Turgeniew Tolstois künstlerisches Genie außer- ordentlich hoch schätzte.” Über die nachkritische Periode berichtet S. A. Behrs, daß schon am Tage seiner Ankunft

2) Birjukow, 1, 374:

3) Ebenda, 28ı.

4) Ebenda, 283.

Zwei allererste Erinnerungen 51

Leo Nikolajewitsch „seinen ernsten Ton“, seine neue, fast „mönchische Stille“ nicht aufrecht zu erhalten vermochte, „sicherlich meinen Kummer über den Eindruck, den er auf mich hervorgebracht, erratend, scherzte er zu unser aller Freude mit mir und sprang plötzlich auf meinen Rücken, als ich im Saale auf und ab ging.“'

Die Neigung zu Extravaganzen, von denen wir Beispiele soeben in Tolstois Handlungen beobachtet haben, durchdringt sein Wesen bis zum höchsten Gipfel seiner Gedanken. Zum Beispiel, in seinem Briefe an die Gräfin A. A. Tolstoi lesen wir: „diese Laufbahn (d. h. die Annäherung an Gott) ist freudig, erstens darum, weil je näher zum Licht, desto besser; zweitens dadurch, daß man bei jedem neuen Schritte sieht, wie wenig man getan hat und wie viel noch von diesem freudigen Wege übrig bleibt.“ Ganz richtig meint Bulgakow,” daß im Vergleich mit der feurigen Sprache des Künstlers Tolstoi alle Versicherungen des räsonierenden Predigers wie kindliches Lallen klingen. Alle Leute meinen, daß das Er- reichen des gestellten Zieles freudig sei, und freudig ist auch die Annäherung an das Ziel. Tolstoi zeigt auch hier seine oppositionelle Einstellung und die beständige Strebung, Staunen zu erregen: erfreuend ist nicht das Bewußtsein der An- näherung, also der Verkürzung des Weges, sondern seine Länge! So manifestiert sich auch in diesem verschrobenen Denken seine Neigung zur Extravaganz.

Der Grundakt jedes Lebewesens ist die Organisation der zu ihm gelangenden Eindrücke. Dieser Grundakt hat

EEE a le ae NR Te a RT ı) Mereschkowski, a. a. OÖ. S. 64.

2) Menschengott und Menschentier. (Über Tolstois Werke „Der Teufel“ und „Vater Sergius“.) Russ. 1912.

4*

52 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

als Ziel die Selbsterhaltung, bezw. die Selbstbehauptung. Mit anderen Worten, der Grundakt ist: die Formgebung aller anderen Ichs durch das Individual-Ich. Das momentan- statische Resultat dieser Formgebung nennen wir „Zu- stand“. Die Art und "Weise des Überganges eines Seelen- zustandes in einen anderen nennen wir Temperament. Tolstois Grundakt wird dadurch charakterisiert, daß die Energie seines Individual-Ichs durch die Sexualenergie ge- stärkt wird. Sein Individual-Ich ist narzißtisch. Das narzißtische Ich wird durch die Schätzungsakte die Selbstüber- schätzung und die Unterschätzung der Anderen charak- terisiert. Im inter-individuellen Milieu führt die Selbst- überschätzung zu den Zuständen des Stolzes und der Eitel- keit. Aus Selbstüberschätzung, Stolz, Eitelkeit usw. folgen der Oppositionszustand, das Streiten, die „teuflischen“ Akte (d. h. das Streben, selbst die Ursache alles Geschehens zu sein), die narzißtische Identifizierung, die Einsamkeit. Falls die narzißtischen Akte mißlingen, haben wir die Eifer- sucht. Anderseits führt die Selbstüberschätzung zu der Liebes- provozierung der Mitmenschen. Diese Liebesprovozierung bedingt die beständige Beachtung der fremden Meinung, staunen- erregende Akte, Extravaganzen, Zeigelustakte, Posierungsakte. Im innerseelischen Milieu hat die narzißtische Einstellung die Selbstgenügsamkeit zu Folge (was seinerseits die Un- zugänglichkeit in inter-individuellen Verhältnissen bedingt). Die Selbstüberschätzung führt zur Selbstbewunderung, unter anderem zur Bewunderung des eigenen Gedankenganges, zum Glauben an die Allmacht der Gedanken, zu magischen Akten, zu Größenwahn, zu Rationalismus (eine der Wurzeln!). Andererseits beeinflußt die Neigung zu Fxtravaganzen auch das Innenleben des Individuums und führt zur Verschrobenheit

Zwei allererste Erinnerungen 53

des Gedankenganges, während die oppositionelle Einstellung zum Sich-selbst-Widersprechen führt."

Alle diese Erscheinungen stellen eine komplizierte Weiterentwicklung zweier Grundphänomene dar: ı. des stark angelegten Individual-Ichs, was seinen Ausdruck in der aktionsstarken Muskulatur findet, und 2. der Libidobesetzung dieses Individual-Ichs, was seinen Ausdruck in der auto- erotischen Schaulust findet.

Nehmen wir ein beliebiges Seelenerlebnis Tolstois, so finden wir da immer die Elemente des Narzißmus, der seinen ersten und prägnantesten Ausdruck eben in der autoerotischen Schaulust noch während der Säuglingszeit bekommen hat. Jedes Erlebnis, dynamisch betrachtet, kann man mit einem Flusse vergleichen, der seine Wasser aus verschiedenen Nebenflüssen erhält. Zwar ist es, schwer, im großen Flusse die Gewässer seiner Nebenflüsse zu unter- scheiden, aber dennoch müssen wir bei der Analyse diese Unterscheidung machen. Ebenso finden wir in den kom- plizierten Seelenerlebnissen Elemente verschiedenen Ur- sprungs, die, dieser Verschiedenheit ungeachtet, ein einziges Ganzes bilden.

Die zweite Erinnerung erhebt eine sehr wichtige Frage: „Die Neuheit der Eindrücke von der Kleie weckte mich und ich bemerkte zum ersten Mal meinen kleinen Körper und ‚fing ante ihn zu lieben.“ Man kann sich folgende

ı) Bei der in Kap. ı angeführten Auffassung des Individual-Ichs und bei der Feststellung des innerseelischen Milieus verliert der Gegensatz zwischen Individuum und Milieu seine Schärfe, wie es für den Gegensatz von Individual- und Sozialpsychologie von Freud festgestellt ist. („Massenpsychologie und Ich-Analyse.“ Leipzig und Wien 1921.) Freud sagt: In der Individualpsycho- logie kommt man nur selten in die Lage, von den Beziehungen des Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Wir können aber noch hinzufügen, daß das Individuum „mit sich selbst allein“ in der Gesellschaft (der Sub- und Supra- Ich) verbleibt. | |

54. Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

sukzessive Reihe der Entwicklung vorstellen: ı. Der Säugling leidet an Flechten; 2. man reibt ihn mit Kleie; 3. dieses Ereignis lenkt die Aufmerksamkeit des Säuglings auf seinen eigenen Körper und auf die entblößten Arme der Njanja usw.; 4. beim Säugling entwickelt sich Sinnlichkeit mit überwiegender Richtung auf seinen eigenen Leib; 5. der sinnliche Genuß am eigenen Leib geht in Selbstbewun- derung, resp. Selbstliebe überhaupt über. In Form einer Karikatur könnte man sagen: Hätte der Säugling Tolstoi keine Flechten, würde man ihn nicht mit Kleie reiben, dann hätte er seinen Leib nicht zu lieben angefangen, usw. Mit einem Wort, gäbe es keine Flechten und keine Kleie- kur, hätten wir keinen „Tolstoi“. Wie jede Karikatur einen Teil Wahrheit, so auch hier. Wenn wir Tolstoi als eine historische Erscheinung, als ein einmaliges, unwiederholbares, unersetzbares Individuum betrachten, so müssen wir sagen, daß die oben angeführte Entwicklungsreihe tatsächlich statt- gefunden hatte. Zweifellos hatten die Flechten und die Kleie- kur auch ihre Bedeutung." Aber selbstverständlich kann man ihnen keine die Persönlichkeit determinierende Kraft zu- schreiben. Nicht jeder Säugling, den man mit Kleie reibt, wird zu einem Tolstoi. Die Persönlichkeit ist selbstaktiv und ihre Entwicklung wird durch ihre eigene Energie bestimmt, trotz des beständigen Vorhandenseins von Gegenkräften der Umgebung. Wenn es keine Flechten und keine Kleiekur geben würde, so würde das narzißtische Gepräge der Persönlichkeit

LERNTEN VER ER A SEE

1) „Die bei der Analyse nicht selten ermittelte Bedeutung der Exantheme in Traum und Neurose geht nach |

seiner Umgebung und träge zur Mythenforschung. 1919, S. 2ıı.

Zwei allererste Erinnerungen 55

bei einem anderen Anlasse erwachen. Aber tatsächlich offenbarte es sich bei Tolstoi eben bei der Kleiekur. So sehen wir im Akzidentellen das Gesetzmäßige.

Bevor wir zu den heteroerotischen Erlebnissen bei Tolstoi übergehen, wollen wir Tolstois Erzählung „Vater Sergius“ analysieren, in der er in künstlerischer Form die Entwicklung des Narzißmus darstellt. Wie in jedem wahr- haft künstlerischen Werke, so ist auch in „Vater Sergius“ der organische Charakter der 'Themaentwicklung klar aus-

geprägt.

IV

ÜBER DEN NARZISSMUS

„Die zwei entgegengesetztesten Ideen, die es überhaupt auf Erden geben kann, sind aufeinander gestoßen: der Menschengott steht dem Gottmenschen gegenüber, der Apollo von

Belvedere und Christus.“ DOSTOJEWSKI.

Tolstoi selbst kannte und beobachtete fortwährend den Narzißmus in sich. Diese Beobachtungen verwertete er in künstlerischer Form in der Erzählung „Vater Sergius“.'

(Geschrieben in den Jahren 1890, ı8g91, 1809. Gedruckt nach seinem Tode.)

Der Fürst Stephan Kassatsky „schien äußerlich ein ganz gewöhn- licher junger, glänzender Garde-Offizier zu sein, der seine Karriere machte, aber in seinem Innern ging eine komplizierte und gespannte Arbeit vor sich. Die Arbeit ging von seiner Kindheit an vor sich, scheinbar die allermannigfaltigste, aber im Grunde immer ein und dieselbe; und sie bestand darin, in allen Geschäften, die sich auf seinem Wege vorfanden, Vollkommenheit und Erfolge zu erreichen, die das Lob und das Staunen der Menschen hervorrufen sollten. Handelte es sich um Lernen, um Wissenschaften so machte er sich daran und arbeitete so lange, bis man ihn lobte und den anderen als Beispiel hinstellte. Wenn er etwas erreicht hatte, so nahm er etwas anderes vor. So errang er

den ersten Platz im Lernen; so geschah es, daß er, noch in der

ı) Leo Tolstoi. Vater Sergius. Prag. ı920. (Russ.)

Ueber den Narzißmus 57

Kadettenschule, als er seine Ungeschicklichkeit in der französischen Sprache bemerkt hatte, es dahinbrachte, das Französische ebensogut zu beherrschen wie das Russische; und so geschah es später, als er sich mit dem Schach- spiele beschäftigte, daß er, noch in der Kadettenschule, ausgezeichnet zu spielen begann .... Er hatte immer ein Ziel vorgesteckt und, wie un- bedeutend es auch war, er ergab sich ihm ganz und lebte nur für dieses Ziel, bis er es erreichte... . Eben diese Strebung, sich auszuzeichnen und, um sich auszuzeichnen, das gesteckte Ziel zu erringen, erfüllte sein Leben..... Er wurde sehr bald ein musterhafter Offizier.“

Woher entsteht beim Menschen das Streben nach Vollkommenheit? Das kleine Kind ist immer mehr oder weniger ein Narziß, „Der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit.“ (Freud') Das Kind überschätzt seine Kräfte, leidet an Größenwahn. Es wünscht nicht nur „groß und erwachsen“ zu sein, sondern hält sich : zeitweise schon dafür. Die Vorstellung vom eigenen Ich, die sich beim Kinde entwickelt, entspricht der Wirklichkeit nicht, es spiegelt sich eben das wirkliche Ich in dieser Vorstellung in übertriebener Form. Der Zusammenstoß mit der realen Welt zeigt dem Kinde diese Überschätzung des eigenen Ichs. Dann be- kommt das Kind eine der Wirklichkeit mehr entsprechende Vorstellung seines Ichs und die überschätzte Vorstellung wird zum Ideal-Ich. „Diesem Ideal-Ich gilt nun die Selbst- liebe, welche das wirkliche Ich genoß. Der Narzißmus er- scheint auf dieses neue, ideale Ziel verschoben, welches sich, wie das infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommen- heiten befindet. Der Mensch hat sich hier, wie jedesmal auf dem Gebiete der Libido, unfähig erwiesen, auf die ein-

mal genossene Befriedigung zu verzichten. Er will die

ı) Zur Einführung des Narzißmus. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Vierte Folge. Leipzig und Wien ı918. S. 96.

58 Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

narzißtische Vollkommenheit seiner Kindheit nicht entbehren, und wenner diese nicht festhalten konnte, durch die Mahnungen während seiner Entwicklungszeit gestört und in seinem Ur- teile geweckt, sucht er sie in der neuen Form des Ichideals wieder zu gewinnen. Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist nur der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.“ (Freud)

So sehen wir beim heranwachsenden Kinde die Libido auf das Ideal-Ich gerichtet. Die Strebung, daß das wirkliche Ich dem Ideal-Ich entspreche, ist die Strebung zur Voll- kommenheit, und diese Strebung zur Vollkommenheit ist libidinösen, bezw. narzißtischen Ursprungs.

Das Streben nach Vollkommenheit kann auch ein Selbst- ziel sein, als Ausdruck der Entfaltung, der Machtentwicklung des Individual-Ichs. Jeder natürliche Prozeß strebt, das Tätigkeitsmaximum zu erreichen (Karpow). Aber Stephans Streben nach Vollkommenheit war eben ein narzißtisches, weil es keinen Selbstzweck darstellt, sondern nur ein Mittel, sich auszuzeichnen und das Lob und die Bewunderung der Menschen auszulösen.

Es entsteht nun die Frage, ob das Streben nach Voll- kommenheit von dem Supra-Ich auszugehen vermag. Auf diese Frage müssen wir bejahend antworten, aber das vom Supra-Ich ausgehende Streben nach Vollkommenheit trägt ein besonderes Gepräge: es ist immer einseitig, d. h. es ist das Streben nach einer speziellen Vollkommenheit, z. B. nach Vollkommenheit in der Wissenschaft,! nach religiöser Vollkommenheit usw. Das ergibt sich aus der Natur des Supra-Ichs, das, als Ganzes, das menschliche Individuum als EN N

2) Der berühmte humoristische Philosoph Kusma Prutkow sagt: „Der Spezialist ist einer Zahngeschwulst ähnlich seine Fülle ist einseitig.“

Ueber den Narzißmus 59

einen Teil betrachtet und es dementsprechend zum speziellen Zweck benutzt. Die Strebung zur mannigfaltigen Voll- kommenheit kann nur individualistisch, resp. narzißtisch sein.

Nun wollen wir die Analyse der Erzählung „Vater Sergius“ fortsetzen.

Der Garde-Offizier Fürst Stephan „faßte den Gedanken, eine glänzende Stellung in der höchsten Welt zu erringen.... Er war ge- wohnt der Erste zu sein, und in dieser Beziehung war er es bei weitem nicht. Dazu mußte man entweder Flügel-Adjutant sein und er er- wartete diese Ernennung oder in diese Kreise heiraten. Und das beschloß er zu tun.“

Mit dieser Absicht machte er einer jungen Gräfin, die sehr an- ziehend war, den Hof und verliebte sich in sie. Sein Antrag wurde angenommen. „Er war über die Leichtigkeit erstaunt, mit welcher er solch ein Glück erlangte... .. Er war sehr verliebt und blind und darum bemerkte er das nicht, was fast alle in der Stadt wußten: daß seine Braut vor einem Jahre die Geliebte von Nikolai Pawlowitsch [Kaiser Nikolaus I.] gewesen war.“

Als seine Braut es ihm eingestanden hatte, lief Fürst Stephan er- schrocken und beleidigt davon. „Wenn der Geliebte seiner Braut ein sewöhnlicher Mensch gewesen wäre, hätte er ihn getötet, aber er war der angebetete Zar.“ Und „da geschah in Petersburg... . ein Ereignis, das alle erstaunte: der schöne Fürst, der Hauptmann der Leib-Eskadron des Kürassier-Regiments, dem alle die Ernennung zum Flügel-Adjutanten und eine glänzeede Karriere bei dem Kaiser Nikolaus I. prophezeiten, bat um seinen Abschied, einen Monat vor seiner Hochzeit mit einem schönen Hoffräulein, das sich der besonderen Gunst der Kaiserin erfreute, brach mit seiner Braut, gab sein Gut seiner Schwester und begab sich in ein Kloster mit der Absicht, dort als Mönch einzutreten.

Fürst Stephan wurde Mönch unter dem Namen Sergius. „Einzig seine Schwester, die ebenso stolz und ehrgeizig wie ihr Bruder war, verstand ihn. Sie verstand es, daß er Mönch wurde, um über den- jenigen zu stehen, die ihm zeigen wollten, daß sie über ihm stehen. Und sie verstand ihn richtig. Indem er Mönch wurde, zeigte

er, daß er alles dasjenige verachte, was den anderen und ihm selbst so

\

60 Ossipow: T’olstois Kindheitserinnerungen

wichtig schien zu der Zeit, als er diente, und daß er auf eine solche neue Höhe steige, daß er von oben herab auf die Leute sehen könne, die er früher beneidete. Aber nicht allein dieses Gefühl, wie es seine Schwester sich vorstellte, leitete ihn... . In ihm war auch ein anderes: ein echt religiöses Gefühl, welches seine Schwester nicht kannte, welches sich mit dem Gefühl des Stolzes und dem Wunsch, Erster zu

. sein, zusammenflocht.

Hier ist die Einkleidung des Fürsten Stephan präzis als ein narzißtischer Akt erklärt. Der Stolz und der Ehrgeiz waren dabei als Hauptmotive tätig. Die Beteiligung des Supra-Ichs (das Vorhandensein des echt religiösen Gefühls) hilft nur der Realisierung des Strebens, ohne eine bedeutende Rolle dabei zu spielen, gerade so, wie der Heiratsantrag des Fürsten Stephan auch unter der Beihilfe des Sexual-Ichs (der Objekt- libido), als einer Nebenursache, stattfand. Sergius ergab sich einem „Greise“., |

„Auch im Kloster fand er Freude im Erringen der größten, so- wohl äußeren wie auch inneren Vollkommenheit. Wie im Regiment tat er mehr, als gefordert wurde... , Aber es gab Augenblicke, wo die Reue über seine Bekehrung ihn ergriff .... Und das dauerte einen Tag, manchmal zwei, und verging dann von selbst .. . . So verlebte Sergius im ersten Kloster, wohin er eingetreten war, sieben Jahre ... . . Im siebenten Jahre seines Klosterlebens wurde es Sergius langweilig. Alles, was man erlernen sollte, alles was zu erreichen war, hatte er erreicht, und weiter gab es nichts zu tun.“ Sergius bekam 'eine Ernennung in ein bei der Hauptstadt gelegenes Kloster. „Im früheren Kloster quälte die Sexualverführung Sergius wenig, hier aber erhob sich diese Verführung mit furchtbarer Kraft. Aber Sergius überwand sie. Dagegen konnte er seine Antipathie gegen den Abt des neuen Klosters nicht beherrschen. Er bemühte sich, hörte aber nicht auf, in seiner Seelentiefe den Abt zu verurteilen.” Nach einem Inzidente mit dem Abte bat Sergius seinen Greis um Überführung zurück in sein früheres Kloster. Der Greis antwortete ihm: „Man

braucht Einsamkeit, um den Stolz zu demütigen, und gab ihm seinen

Ueber den Narzißmus 61

Segen dazu, in ein drittes Kloster zu fahren und dort Einsiedler zu werden.

Sergius wurde Einsiedler und wohnte in einer Höhle, die in einen Berg gegraben war. „Sein Leben war schwer nicht durch die Last des Fastens und des Betens: das war keine Arbeit sondern durch den inneren Kampf, den er gar nicht erwartet hatte. Der Quellen des Kampfes waren zwei: Zweifel und sexuelle Begierde, und beide Feinde erhoben sich immer zusammen.“

„Du Niederträchtiger, Niederträchtiger! Willst ein Heiliger sein, begann er sich zu schelten. Und er fing an zu beten. Aber wie er nun zu beten anfing, stellte er sich lebhaft vor, wie er selbst im Kloster ausgesehen: in hoher Mönchskappe, im Ordensmantel, eine imposante Gestalt. Er schüttelte den Kopf. Nein, es ist nicht recht. Es ist ein Betrug. Andere werde ich betrügen, aber mich selbst und Gott nicht. Ich bin kein großer Mensch, sondern ein armseliger, lächerlicher! Und er schlug den Rand seiner Mönchskleidung zurück und schaute auf

seine kläglichen ! Beine in Unterhosen und lächelte.“

Hier ist kurz und präzis der ambivalente Charakter von Vaters Sergius’, bezw. Tolstois Narzißmus ausgedrückt.

Der Narziß liebt sich selbst! Wie kann denn der Narziß sich hassen? Liebe und Haß sind ein Gegensatzpaar. Wie ist solch eine Gegensätzlichkeit in einem Individuum im Ver- hältnis zu ein und demselben Gegenstande zu verstehen und zu erklären? Halten wir uns als Beispiel eben an Sergius' Charakter.

Das Individual-Ich strebt zum Maximum seiner Macht-- entwicklung hin. Das Sexual-Ich bewundert diese Tätigkeit und besetzt das Individual-Ich mit seiner Energie. Unter- dessen zeigt das Realleben die Schwäche des Individual-Ichs. In seiner sekundären, bewußtmachenden Tätigkeit überzeugt

ı) Im russischen Text steht das Wort „jalky“ (,„j* ist zu lesen, wie ım Französischen „journal“) Adjektiv vom Z@twort „jaljet“, was zugleich „be- dauern“ und „lieben“ bedeutet. Also, kann man den Ausdruck „klägliche Beine“ auch als „liebe Beine“ verstehen Regression zur autoerotischen Schaulust \

62° Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

sich das Individual-Ich von der Inkongruenz zwischen seiner Vorstellung seines eigenen Selbst und seinem Realwesen. Die überschätzte Vorstellung vom eigenen Selbst wird zum Ideal- Ich. Das Sexual-Ich nimmt seine Libido vom aktuellen Ich und überträgt dieselbe auf das Ideal-Ich.

Woher kommt aber der Haß? Betrachten wir zuerst das Wesen des Egoismus, die Ichhaftigkeit.

In seinem Streben nach Allmacht verschlingt und assimiliert das Ich die anorganische Natur, die Pflanzenwelt. Das Ich tötet und verschlingt die Tierwelt. Wenn das Ich die Pflanzen- und Tierwelt nicht ganz vernichtet, so ver- ändert es sie nach seinem Willen, indem es Getreide und Vieh züchtet. Das Ich verwandelt die Tiere in Instrumente. Es geht in seinem Streben nach Allmacht noch weiter: es verwandelt seine Mitmenschen in Sklaven, das heißt, es be- trachtet sie als Arbeitsvieh oder sogar als Maschinen (Früher gab es sogar Menschenfresser). Auch hier macht die Gier des Ichs zur Allmacht nicht halt; es strebt, sich die Seelenwelt unterzuordnen, indem es die Geisteskraft, die Talente und Fertigkeiten anderer Menschen zwingt, seinem Aufblühen zu dienen. Das Ich strebt, sich auch der Urkräfte zu bemächtigen : es verschlingt den Raum mit seinen Automobilen, bezwingt das Wasser mit seinen Unterseebooten und besiegt die Luft mit den Aeroplanen. Was für einen Charakter hat denn die Aktivität des Ichs im Allgemeinen? Aus dem Baum macht es Holz, aus dem Ochsen Beefsteak, aus dem Menschen eine Maschine, das heißt, es depersonalisiert alles.' So sieht der Ichtrieb aus, überhaupt die Ichhaftigkeit.

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ı) Der Gedanke von der Depersonalisation der Welt durch den Menschen stammt aus dem Buche Herschensohns: „Das dreifache Bild der Vollendung‘, (Russ.), das ich leider nicht bei der Hand habe.

Ueber den Narzifßmus 63

Das Ich begegnet nicht nur in der Natur, den Pflanzen, Tieren und den anderen Menschen einer Gegenmacht, das Ich findet eine Gegenmacht auch im Bereiche des Individuums selbst. Die gesamte Aktivität des Individuums ist nicht nur egoistisch, sondern auch altruistisch., Den Altruismus vertritt in erster Linie die Genitalfunktion. Der Genital- trieb ist seinem Charakter nach dem Ichtriebe gerade ent- gegengeseizt. Das Ziel der Genitalfunktion ist die Zeugung und die Ernährung des Kindes; das Kind kann in der ersten Zeit nicht ohne die Mutter existieren. Und diese Bindung „Mutter-Kind“ liegt allen sozialen Organismen zu Grunde. Die Mutterschaft zeichnet sich durch Zärtlichkeit, Angst um die Existenz des Kindes, Zorn über diejenigen, die es beleidigen, aus. Folglich ist hier die Achtung der Persön- lichkeit gegeben; hier ist keine Depersonalisation, sondern im Gegenteil Verehrung der Person. So sieht der Genital- bezw. der Sexualtrieb aus, überhaupt die Geschlecht- lichkeit.

Wir haben also den Ichtrieb, bezw. das individuelle Sub-Ich als Vertreter des Egoismus, des Strebens zur Allmacht, zum Weltherrschen, zur Depersonalisation des Weltalls kennen gelernt. Für das Individual-Ich zerfällt die Welt in zwei Teile: den einen Teil verleibt sich das Individual-Sub-Ich ein, den andern betrachtet es als seinen Feind, haßt diesen Teil der Welt oder ist ihm gegenüber gleichgültig, Der Haß stammt von den Ichtrieben. „Man kann behaupten, daß die richtigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem Ringen des Ichs um seine

Erhaltung und Behauptung stammen (F reud').

ı) Triebe und Triebschicksale. A. a. O.'

64 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Bern)! Individuelles Sub-Ich Außenwelt

Hassen b

Dagegen haben wir den Genital-, resp. Sexualtrieb das sexuelle Sub-Ich als Vertreter des Altruismus, des Strebens zur Selbstopferung, zur Verehrung der Person kennen gelernt. Das Wesen der Ichhaftigkeit ist die Depersonalisation, das Wesen der Geschlechtlichkeit ist die Persönlichkeitsachtung. Vom Sexualtriebe stammt die Liebe. Für das Sexual-Sub-Ich zerfällt die Welt auch in zwei Teile: den einen Teil liebt das Sexual-Ich, den anderen betrachtet es als Feind, der eventuell dem Geliebten Schaden bringen kann, und diesen Teil der Welt haßt es oder ist ihm gegenüber gleichgültig.

a ı Sexuelles Sub-Ich RAN | Außenwelt assen

Das Sexual-Ich kann hassen, eben dank seiner Ich-Natur, seiner Ichhaftigkeit. Eine Mutter, die ihr Kind liebt, haßt alle diejenigen, welche gegen ihr Kind feindlich gesinnt sind Familienegoismus.

„Liebe und Haß, die sich uns als volle materielle Gegen- sätze vorstellen, stehen also doch in keiner einfachen Beziehung zueinander. Sie sind nicht aus der Spaltung eines Urgemein- samen hervorgegangen, sondern haben verschiedene Ursprünge.“ (Freud).

Wollen wir jetzt diese Verhältnisse auf das Seelenleben des Individuums anwenden, d. h. auf das innerseelische Milieu, so können wir sagen: Das Sexual-Ich haßt das aktuelle Ich

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Ueber den Narzißmus 65

(— das Individual-Sub-Ich), wenn es das Ideal-Ich liebt, weil das aktuelle Ich die Realisation des Ideals stört.

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Die Verhältnisse können sich aber ändern: das Individual- Ich kann sich in seinen Idealen täuschen, diese sogar hassen; dann wendet das Sexüual-Ich seine Liebe dem aktuellen Ich,

resp. einem fremden Ich zu.

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Eee Das Ind.-Sub-Ich, resp. ein fremdes Ich

Sexuelles Sub-Ich | Hasen Das Ideal-Ich

Infolge dieser Art der Libidoverteilung besteht die Ambivalenz von Sergius’ (oder Tolstois) NarziBmus darin, daß sein Sexual-Ich bald das ideale, bald das aktuelle Ich liebt. Ob sich Sergius (Tolstoi) vergöttere oder hasse, er bleibt immer im Bereiche des Narzißmus. Zugleich verstehen wir, daß lieben und hassen sich immer auf verschiedene Gegen- stände beziehen, obgleich diese Gegenstände, dank der Viel- seitigkeit der Menschennatur, sich in ein und demselben Individuum befinden können.

Die gewöhnlichen Narzisse unterscheiden ihr aktuelles Ich vom Ideal-Ich nicht, resp. haben keine Ideale. Sie sind ganz mit ihrem aktuellen Ich zufrieden und ungestört gehen sie in ihrer Selbstliebe, in der Vergötterung ihres Gesamt-Ichs, auf.

Es ist interessant, daß Sergius in der zitierten Beschrei- bung der Seelenerlebnisse sukzessiv zu Genüssen des Säuglings- alters, resp. der ersten Kindheit regrediert. Zuerst betet er sein Ideal-Ich an, haßt also alles, was der Realisierung des- selben im Wege steht, d. h. sein wirkliches Ich. (Du Nieder- trächtiger, Niederträchtiger! usw.) Dann bewundert er seine

5 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

66 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Erscheinung im ganzen (er stellt sich lebhaft vor, wie er selbst im Kloster ausgesehen: „in hoher Mönchskappe, im Ordensmantel, eine imposante Gestalt“), um nachher zur autoerotischen Schaulust zurückzukehren („Die lieben, kläg- lichen Beine“).

Am selben Tage (das war im sechsten Jahre von Sergius’ Einsiedler- leben), als Vater Sergius diesen inneren Kampf zu bestehen hatte, geschah folgendes: eine lustige Gesellschaft aus der neben dem Kloster gelegenen Provinzstadt wettete mit einer schönen jungen Strohwitwe Makowkina, die behauptete, daß sie die Nacht bei Vater Sergius zubringen würde. Makowkina klopfte bei Vater Sergius an, als er eben in einem Zustande von schwankendem Seelengleichgewicht eingeschlafen war. Weiter folgt das wunderbar dargestellte Bild der Verführung des Vaters Sergius durch Makowkina. Sergius erlebte schwere Augenblicke der Sexualerregung. Am Ende war er durch Makowkina gezwungen, sich ihr zu nähern. Da er seiner Begierde nicht unterliegen wollte, hieb er sich den Zeige- finger (Penissymbol!) der linken Hand mit einer Axt ab. Das übrig gebliebene Gelenk des Fingers mit dem Saume seines Gewandes haltend, näherte er sich der Dame. Nur auf diese Art blieb Sergius Sieger. Makowkina ließ sich nach diesem Vorfall in einem Frauenkloster ein- kleiden.

Alle diese Ereignisse wurden überall bekannt und der Ruhm von Vater Sergius vermehrte sich. „Der Besucher begannen mehr und mehr zu kommen, neben seiner Zelle ließen sich Mönche nieder und es wurde eine Kirche und ein Gasthaus gebaut. Der Ruhm Vater Sergius’, seiner Taten, wie immer übertrieben, verbreitete sich weiter und weiter. Man strömte von weit bei ihm zusammen und fing an, ihm Kranke zu bringen, da man behauptete, daß er sie heile.‘‘ Anfangs „suchte Vater Sergius nicht einmal der Gedanke heim, daß er jemanden heilen könnte, aber dennoch geschahen viele solche Ereignisse nach seinem Segen, und der Abt und die Mönche sorgten um ihn sehr, da er ihnen nützlich war und sein Ruhm ihrem Kloster großes Ansehen und materielle Vor- teile brachte.

Innerlich war Sergius trübe gestimmt. „Vater Sergius lebte schon mehrere Wochen mit einem beständigen Gedanken: ob er gut tat,

Ueber den Narzißmus 67

sich der Lage hinzugeben, in welche er nicht so sehr durch sich selbst, als durch den Vorsteher und den Abt versetzt worden war...... Er fühlte, daß er immer mehr und mehr für die Menschen und nicht für Gott arbeitete... . er konnte sich nicht enthalten, sich dessen zu freuen, sich mit den Folgen seiner Tätigkeit, ihrem Einfluß auf die Menschen zu beschäftigen .... Er fühlte in seiner Seelentiefe, daß er sich ihrer freute, sich des Entzückens freute, welches ihn umgab..... Es gab freilich eine Zeit, wo er sich entschloß, wegzugehen, sich zu verstecken. .... Aber sein gewöhnlicher Zustand war Ermüdung und Rührung über diese Ermüdung.“

Vater Sergius erreichte äußerlich den höchsten Punkt der Karriere eines „Greises“: er wurde zum angebeteten Heiler der menschlichen Körper und Seelen. Aber sein innerer Zustand war damals so un- befriedigend, daß er daran dachte, mit seiner Tätigkeit aufzuhören und sich zu verbergen. Was eigentlich verursachte seine Unbefriedigung ? „Er fühlte in seiner Seelentiefe, daß der Teufel seine ganze Tätigkeit für Gott mit der Tätigkeit für Menschen vertauscht hatte.” Vater Sergius macht hier einen auffälligen Fehler: der Teufel hatte nichts vertauscht, aber wie seine ganze Tätigkeit von Anfang an weder Gott noch den Menschen gewidmet war und nur ausschließlich seinem Selbst diente, so blieb sie auch jetzt dieselbe. Vater Sergius besaß keine Menschen- liebe. Anstatt zu fragen: für Gott oder für die Menschen, müßte man eine andere Frage stellen: für die Menschen oder für sich selbst? Die Antwort darauf ist leicht: für sich selbst. „Das alles (d. h. die ihn erwartende Besucherschar) war Vater Sergius längst bekannt und nicht interessant. Er wußte, daß er von diesen Leuten nichts Neues erfahren würde, daß diese Leute in ihm kein religiöses Gefühl hervorrufen konnten, aber er liebte es, sie zu sehen, als eine Menschenmenge, der er selbst, sein Segen, nötig und teuer waren, und darum war sie ihm gleichzeitig lästig und doch angenehm.”

Finst fühlte sich Vater Sergius während des Gottesdienstes schlecht, überwand es aber und setzte den Gottesdienst fort. „Ja, so machen es die Heiligen“, dachte er. Nach dem Gottesdienste segnete er das Volk und „beantwortete die Fragen mit einer Stimme, deren schwacher Ton ihn selbst rührte.“ [Narzißmus.] Am selben Tage wandte sich ein Kaufmann, der eine 22jährige Tochter hatte, mit einer Bitte an Vater

5r

68 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Te szene

Sergius: „Besondere Schwäche hat sie keine, leidet nur an Neurasthenie, !

wie der Doktor sagte... .. Heiliger Vater! Beleben Sie das Vaterherz, stellen Sie seinen Stamm wieder her! Durch Ihre Gebete retten Sie seine kranke Tochter! .,.. Am Tage geht sie nicht aus, hat Lichtangst, und kann nur nach Sonnenuntergang herauskommen. Vater Sergius erlaubte ihm, mit der Kranken am Abend zu kommen.

Es war ein wunderschöner Maiabend .... Sergius las ein Gebet, in welchem er von seiner Weltentsagung sprach und eilte, es durchzu- lesen, um nach dem Kaufmann ’'mit der kranken Tochter zu schicken: sie interessierte ihn dadurch, daß auch ihr Vater und sie selbst ihn für einen Heiligen hielten, einen solchen, dessen Gebet erfüllt wird.

Man kommt tausende Werst gefahren, man schreibt in den Zeitungen, dem Kaiser bin ich bekannt, in Europa, im ungläubigen Europa kennt man mich, dachte er. Und plötzlich schämte er sich seiner Eitelkeit und er fing wieder zu beten an ....... Er erinnerte sich seiner Gebete während der ersten Zeit seiner Einsiedelei, als er um die Gabe der Reinheit, der Demut und Liebe hetete, und wie es, ihm damals geschienen, daß Gott seine Gebete erhört hätte, wie er rein war und sich den Finger abgehauen hatte. Und er erhob den in Falten gerunzelten Fingerstummel und küßte ihn ..... (!) Jetzt aber hatte er keine Liebe, keine Demut und auch keine Reinheit. Er fragte sich, ob er jemanden lieb habe... : ob er das Gefühl der Liebe zu all diesen Leuten, die heute bei ihm gewesen, empfunden hatte .... Die Liebe, die von ihnen ausging, war ihm angenehm und nötig, aber er fühlte keine Liebe zu ihnen. Es war ihm angenehm gewesen zu erfahren, daß die Kaufmannstochter 22 Jahre alt war, und er wünschte zu wissen, ob sie schön sei. Und nach ihrer Krankheit fragend, wollte er eben wissen, ob sie Frauenreiz hatte oder nicht .... Der Kaufmann kam mit seiner Tochter, führte sie in die Zelle und ging sogleich weg.

Als das Mädchen vorüberging und neben ihm stehen blieb, erschrak er selbst über die Art, wie er ihren Körper betrachtete .... Vater Sergius sah an ihrem Gesicht, daß sie sinnlich und schwachsinnig war... et a RAR) BETEN RER SESÄIEN RN SET RA

53) Im Text steht „Neurasthenikerin“, eine interessante Entstellung, die ein russisches Wortspiel darstellt, indem das Wort „Nichtgutwachsende“

er ein gutes Beispiel der Volksetymologie, d. h. der Sinngebung des

Ueber den Narzißmus 69

.

Er sagte: Wo hast du Schmerz? Alles schmerzt mich, sagte sie und ihr Gesicht erhellte sich plötzlich durch ein Lächeln. Du wirst gesund sein, sagte er, bete! Wozu beten, ich habe gebetet, hilft nichts! Und sie lächelte fortwährend. Beten Sie und legen Sie Ihre Hände auf mich. Ich habe Sie im Traum gesehen, daß Sie mir so das Händchen auf die Brust gelegt haben. Sie nahm seine Hand und drückte sie auf ihre Brust. Da hierher. Er gab ihr seine rechte Hand. Wie heißt du? fragte er, am ganzen Körper bebend und fühlend, daß er besiegt war, daß die Begierde schon seiner Beherrschung entzogen war. Marie. Sie nahm seine Hand und küßte sie und dann faßte sie ihn mit einer Hand um die Hüfte und drückte ihn an sich. Was machst du? sagte er. Marie, du bist der 'Teufel. Nun, macht nichts. Und sie setzte sich, ihn umarmend, mit ihm auf das Bett. ....

Vater Sergius sündigte. [Hier beginnt ein neuer Teil der Erzählung, der vom Autor nach 7 Jahren hinzugeschrieben wurde.| Bei Tages- anbruch, während Marie schlief, schnitt sich Vater Sergius das Haar ab, zog ein Bauernkleid an, welches er schon früher in einem Augenblick des

Zweifels besorgt hatte, und ging fort, seine Zelle auf immer verlassend.

Wenn wir jetzt die ganze Laufbahn des Sergius über- blicken, so sehen wir, daß sie die sukzessive Entwicklung des Individual-Ichs, welches durch starke Sexualenergie besetzt ist, darstellt, d. h. die sukzessive Entwicklung eines mächtigen Narzißmus. Das Individual-Ich des Knaben bemüht sich, sich seiner Umgebung zu bemächtigen, nicht nur, um der Erste zu sein, sondern auch, um sich selbst zu bewundern und als Gegenstand des Staunens und der Bewunderung für andere zu dienen. (Narziömus und narzißtischer Exhibitionismus.) Dem Knaben gelingt es, dem Offizier anfänglich auch. Aber hier tritt ein tragisches Er- eignis ein. Worin liegt die Tragödie? Tolstoi gibt gegen seine Gewohnheit, keine ausführliche Erklärung, weil sie ohnehin auf der Hand liegt. Es ist die beleidigte Eigenliebe: Fürst Stephan fürchtet sich vor dem Verdacht, daß er die Geliebte

70 Össipow: Toolstois Kindheitserinnerungen

des Kaisers absichtlich heirate, um die Gunst des Zaren zu genießen, außerdem spielt hier Eifersucht eine Rolle; aber sexuelle Eifersucht, obgleich sie eine komplizierte Fr- scheinung darstellt, ist im Grund genommen ein gestörtes Eigentumsgefühl, sie entsteht aus Ichtrieben, nämlich aus der Tendenz zur Einverleibung und tritt erst später in den Zusammenhang der Sexualerlebnisse ein, wo sie wieder der Ausdruck der Ichhaftigkeit ist. Mit einem Worte, Fürst Stephan kann seine so glänzend angefangene Karriere nicht fortsetzen. Er beginnt eine andere, eine solche, die sogar höher ist, als die vorhergehende, weil sie schon den Be- reich der nur irdischen Macht verläßt. Wenn Fürst Stephan vorher davon schwärmte, dem Kaiser möglichst nah zu stehen, so verwandelt sich jetzt dieser Wunsch in den, die Nähe Gottes zu erringen. Folglich ist seine Einkleidung nur eine Fortsetzung der narzißtischen Entwicklung. Im Kloster verläuft Sergius’ Leben in derselben Art, wie in der Kadettenschule und im Regiment; er erreicht bald alles, was zu erreichen möglich ist. Dann wird er in ein anderes Kloster versetzt, wo er eine hühere Ernennung bekommt, aber hier mißlinst ihm die weitere Karriere wegen seines Charakters seines Stolzes und ob- gleich er noch viele Stufen zu durchlaufen hat, um den höchsten Punkt in der Mönchskarriere zu erreichen, unter- bricht er diese Karriere, um eine noch höhere zu be- ginnen und wird Einsiedler. Auch diese Karriere gelingt ihm glänzend. Dessen ungeachtet bleibt Sergius unbefriedigt. Logisch konsequent wäre es für Sergius, eine neue, noch höhere Karriere zu beginnen, aber welche könnte das sein?

Hier fällt er durch seine Sexualität.

Ueber den Narzißßmus 71

Verweilen wir zuerst dabei, warum Sergius eigentlich kein echter Greis gewesen. Den wirklich heiligen Greis zeigt uns Dostojewski in seinem Vater Sossima („Die Brüder Karamasow“). Auch Sossima ist in seiner Jugend ein reicher Offizier gewesen, aber seine Bekehrung, sein Eintritt ins Kloster war durch kein äußerliches Ereignis, sondern durch ein inneres Erlebnis hervorgerufen. Er war hitzig und auf- brausend (dasselbe wird von Sergius berichtet) und da schlug er einmal wegen einer Kleinigkeit seine Ordonnanz

‘“ erzählt Greis Sossima,

ins Gesicht. „Ich legte mich schlafen,‘ „schlief etwa drei Stunden, stehe auf, der Tag bricht schon an. Ich erhob mich plötzlich, wollte nicht mehr schlafen, näherte mich dem Fenster, öffnete es es ging auf den Garten ich sehe, die Sonne geht auf, es ist warm, schön, die Vögelchen fangen zu zwitschern an. Was ist es denn, denke ich, daß ich in meiner Seele gleichsam etwas Schändliches und Niedriges empfinde? .... Und da kam ich plötzlich auf den Gedanken, was es ist: ich habe gestern Abend Athanasius (die Ordonnanz) geschlagen! Alles stellte sich mir wieder dar, als ob es sich nochmals wieder- holte: da steht er vor mir und ich schlage ihn aus voller Kraft ins Gesicht; er aber hält die Hände in strammer militärischer Haltung, den Kopf gerade, glotzt mich an, wie in der Front, zuckt zuerst bei jedem Schlag zusammen und darf nicht einmal die Hände aufheben, um sich zu schützen, dahin ist der Mensch gebracht, und es ist ein Mensch, der den anderen Menschen schlägt. Solch ein Verbrechen! Wie eine scharfe Nadel ging es mir durch die Seele. Ich stehe wie verrückt, und die Sonne, sie scheint, die Blättchen, sie freuen sich, glänzen und die Vögelchen, die Vögelchen, sie loben Gott ..... .. Ich bedeckte das

72 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Gesicht mit beiden Händen, fiel auf das Bett und weinte bitterlich.“

Die Aktivität des Supra-Ichs wurde in dem Offiziere wach, ein rein innerliches Erlebnis zwang ihn, seine Karriere zu ändern. Die Erforschung von Sossimas Charakter und Leben, seiner Menschenliebe, wäre sehr interessant, aber hier begnügen wir uns mit dem Hinweis auf die Tat- sache, dal Sossima seine Sexualenergie sublimierte, was Sergius nicht gelingt, weil dieser sein Ich idealisiert. „Es liegt nahe, die Beziehungen dieser Idealisierung zur Sublimierung zu untersuchen. Die Sublimierung ist ein Prozeß an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft, der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen.“' Ebenso ist auch Sossima nach seinem sadistischen Akte nicht den weiteren Weg der Entwicklung des Sadismus zur Selbstquälerei’ gegangen, sondern er gab seine ganze sexuelle Energie an den Dienst des Supra-Ichs ab. Das Supra-Ich wurde zu jener Form, die Sossimas Leben organisierte.

„Die Idealisierung ist“ setzt Freud in seiner angelührten Arbeit über den Narzißmus auseinander „ein Vorgang mit dem Objekt, durch welchen dieses ohne Änderung seiner Natur vergrößert und psychisch erhöht wird. Die Idealisierung ist sowohl auf dem Gebiete der Ichlibido, wie auch der Objektlibido möglich. So ist z. B. die Sexualüber- schätzung des Objektes eine Idealisierung desselben. Insofern also Sublimierung etwas beschreibt, was mit dem Trieb,

Idealisierung etwas, was am Objekt vorgeht, sind die beiden STETTEN ST ee Eee 0 EEE ı) Freud. Zur Einführung des Narzißmus. A. a. O. ıoa. 2) Freud. Triebe und Triebschicksale. A. a. O.

Ueber den Narzißmus 73

begrifflich auseinander zu halten.“ Folglich bleibt der Sexual- trieb bei der Idealisierung gänzlich oder nur teils unverändert auf das Ideal-Ich gerichtet. Und da der Sexualtrieb als solcher unsublimiert bleibt, so kann er immer den Ideal- gegenstand verlassen und sich auf einen realen richten, wie es auch bei Vater Sergius geschah (Sein Sündenfall). „Wer seinen Narzißmus lehrt uns Freud gegen die Ver- ehrung eines hohen Ich-Ideals eingetauscht hat, dem braucht darum die Sublimierung seiner libidinösen Triebe nicht ge- lungen zu sein. Das Ich-Ideal fordert zwar solche Subli- mierung, aber es kann sie nicht erzwingen, die Sublimierung bleibt ein besonderer Prozeß, dessen Einleitung vom Ideal angeregt werden mag, dessen Durchführung durchaus unab- hängig von solcher Anregung bleibt. Man findet gerade bei Neurotikern die höchsten Spannungsdifferenzen zwischen der Ausbildung des Ich-Ideals und dem Maß von Sublimierung ihrer primitiven libidinösen Triebe und es fällt im All- gemeinen viel schwerer, den Idealisten von dem unzweck- mäßigen Verbleib seiner Libido zu überzeugen als den simplen in seinen Ansprüchen genügsam gebliebenen Menschen.“ Freuds geniale Differenzierung zwischen Sublimierung und Idealisierung zeigt uns, daß Sergius noch der Weg der Sublimierung übrig blieb, aber wie wir eben gelesen haben, gelingt die Sublimierung dem Simplen leichter als dem Menschen mit hohen Idealen. Das Supra-Ich war bei Vater Sergius zu schwach oder richtiger sein Individual-Ich und sein Sexual-Ich waren zu stark, zu selbständig, zu eigensinnig. Der Narzißmus des Vaters Sergius war so stark, daß er aus seinem Sündenfalle nicht die Schwäche seines aktuellen Ichs ersah,* welches nicht imstande war, dem Ideal-Ich zu folgen, sondern Gott und seine Existenz

74. Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

verneinte. „Ja, ich muß mit mir endigen. Es gibt keinen Gott. Wie endigen? Mich ins Wasser werfen? Ich kann schwimmen werde nicht ertrinken. Mich hängen? Ja, da ist mein Gürtel, am Ast.“ Aber Vater Sergius vollbringt diesen Entschluß nicht und das ist selbstverständ- lich. Da Vater Sergius sich in seinem Ideal-Ich enttäuscht hatte, so konnte er sein Individual-Ich nicht genug hassen, um es zu töten. Jeder Selbstmord ist jedenfalls ein Sexual- akt, nach der Formel: „Ich töte den, der meinem Liebling weh tut.“ Das Ideal-Ich besitzt keine eigene Triebkraft und erhält eine solche nur durch die Libidobesetzung. Wie kann man den Seelenzustand des Vaters Sergius nach dem Sünden- falle in einigen Worten zusammen fassen? Das Sexual-Ich, welches früher das aktuelle Ich und später das Ideal-Ich mit Libido besetzte, behauptet jetzt seine Selbstexistenz, resp. Sonderexistenz und verläßt damit das Bereich des Individuums, das innerseelische Milieu, und richtet seine Libido auf fremde Ich. Folglich mußte des Vaters Sergius weiterer Lebensweg durch das Sexual-Ich bestimmt werden. Der Verkehr mit Marie ist als der erste Schritt auf dem Wege der Menschen- liebe zu betrachten. Das ist keine Paradoxie: das Wesent-

liche ist das Durchbrechen des geschlossenen Narzißmus- kreises.

Vater Sergius schlief ein: „Aber dieser Schlaf dauerte nur einen Augenblick, er erwachte sogleich und fing entweder zu träumen oder sich zu erinnern an. Und da sieht er sich, fast noch als Kind, im Mutterhause auf dem Lande. .... Und da führt man in ihre Knaben- gesellschaft ein Mädchen Paschenka ein. Man muß mit ihr spielen, aber es ist langweilig. Sie ist dumm; es endigt damit, daß man sie aus- lacht, man zwingt sie zu zeigen, wie sie schwimmen kann. Sie legt

sich auf die Diele und zeigt es auf trockenem Boden. Und alle lachen und machen sie zur Närrin.“

Ueber den Narzißmus 75

Hier fällt die geniale künstlerische Intuition Tolstois mit der genialen wissenschaftlichen Intuition Freuds zusammen. Freud behauptet, daß jedes rezente traumatische Ereignis auf Wegen mannigfaltiger Assoziationen die Erinnerung an ein mehr oder weniger gleiches Ereignis aus der ersten Kindheit erweckt. Als Sergius alles verloren hatte und ratlos wurde, kehrte sein Gedanke unbewußt in die Zeiten der ersten Kindheit, in das „Mutterhaus“ zurück. Vater Sergius hatte ein Verhältnis mit einem einfältigen Mädchen, dessen Dummheit er zu seinem egoistischen Genuß benutzte und das demütig seinen Wunsch erfüllte. Es ist selbstverständlich, daB Vater Sergius nicht gefallen wäre, wenn er den entsprechenden Wunsch nicht gehabt hätte, und daß das einfältige Mädchen nicht imstande gewesen wäre, ihn zu verführen. Die assozia- tiven Wege, mittels deren Vater Sergius von der einfältigen Marie zu Paschenka hinüberging, sind folgende: „Man muß mit ihr spielen, aber es ist langweilig.“ Man muß Marie heilen, aber es ist langweilig, und man möchte etwas ganz anderes. „Die ist einfältig“ Marie ist einfältig. „Sie legt sich auf die Diele und zeigt, wie man schwimmt, auf trockenem Boden.“ Die schwimmenden Bewegungen auf trockenem Boden erinnern an Koitusbewegungen usw.

In der angeführten Szene mit Paschenka erscheint die gewöhnliche kindliche Grausamkeit, d. h. Sadismus ın nuce. Also sehen wir, daß Vater Sergius’ Erinnerungen von einem

sadistischen Akte ausgehen.

Dann erinnerte sich Sergius, schon im Wachen, daß er mehrmals Paschenka getroffen hatte, die unglücklich verheiratet war, ihren Sohn verloren, ihre Tochter unglücklich verheiratet hatte, und jetzt ihre Enkel pflegte. Endlich schlief er ein und träumte von einem Engel, der zu ihm kam und sagte: „Geh’ zu Paschenka hin und erfahre von ihr,

76 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen 2 mm er en nn m rm ne a ri en ao To te Pneu 1 Ta Te ee Ts u m m Te Te ET TEE mn 77

was du zu tun hast, worin deine Sünde besteht und worin deine Rettung liegt. Er erwachte und beschließend, es sei eine Offenbarung Gottes... . ging er dahin.“

Paschenka ist ein prägnantes Beispiel der tätigen Menschen- liebe bei vollständiger Selbstvergessenheit. „Böse Beziehungen zwischen den Menschen zu ertragen, war ihr fast physisch unmöglich. . . . . Sie litt einfach durch den Anblick der Bosheit, wie durch einen schlechten Geruch, ein grelles Geräusch, durch Schläge auf den Leib.“ Sie war ein Mensch, dessen Leben das Supra-Ich formte. Diesen Weg sollte Sergius einschlagen. Die Engelserscheinung war eben eine Aktion des Supra-Ichs. Hier erhebt sich eine außerordentlich wichtige Frage über die Verhältnisse zwischen dem Supra-Ich und dem Sexual-Ich. Es scheint, daß dem Supra-Ich nur das Individual-Ich und besonders der Narzißmus gerade entgegengesetzt sind, während das Sexual-Ich und seine außerseelischen Besetzungen im Gegenteil für die nach- folgende Sublimierung eher günstig sind. Zu dieser Frage kehren wir noch zurück.

Jetzt wollen wir die Analyse der Erzählung fortsetzen. Die erste Begegnung mit Paschenka trägt den uns wohl- bekannten Charakter narzißtischer Selbstbewunderung.

„Praskowja Michajlowna (d. h. Paschenka) erkannte ihn nicht . .... Entschuldigen Sie, Vater. Vielleicht sind Sie hungrig? Er nahm das Brot und das Geld und Praskowja Michajlowna wundert sich, daß er nicht weggeht, sondern sie anschaut. ‚Paschenka, ich bin zu dir ge- kommen, empfange mich!‘.... Paschenka faßte sich an der aus- getrockneten Brust, öffnete den Mund und erstarrte. ‚Aber, ist es möglich! Stjepa, Sergius, Vater Sergius!" ‚Ja, er selbst‘ sagte Sergius leise. ‚Nur kein Sergius, kein Vater Sergius, sondern der große Sünder Stephan Kassatsky, ein verlorener, großer Sünder. Empfange

mich, hilf mir!“ ‚Aber ist es möglich! Wie haben Sie sich denn so gedemütigt? Aber so kommen Sie doch!“

Ueber den Narzißmus , 77

Wieder der altbekannte Wunsch, Staunen zu erregen, verbunden mit Selbstquälerei. Aber jetzt vergeht endlich der Wunsch, Staunen zu erregen. Auf diesem Wege ist ja schon alles erreicht, die Selbstquälerei aber gibt noch Möglichkeit zu weiterer Entwicklung. Vom Sadismus ausgehend kann die Selbstquälerei in Masochismus übergehen. Tolstoi schreibt folgendes:

„Paschenka, ich bin kein heiliger, nicht einmal ein einfacher, gewöhnlicher Mensch: ich bin ein Sünder, ein schmutziger, nieder- trächtiger, irrender, stolzer Sünder, schlechter ich weiß nicht, ob als alle, aber schlechter als alle schlechten Leute.“ Dann bittet Sergius Paschenka, ihm ihr Leben zu erzählen. Als sie ihm ihr Leben voller Entbehrungen und schwerer Arbeit erzählt, erinnert sich Kassatsky, wie er vom Hörensagen wußte, daß Paschenkas Mann sie schlug, und Kassatsky sah jetzt. .... sah fast anschaulich, wie es vor sich ging.

So erlebt Sergius sadistisch-masochistische Bilder. Aus Tolstois Tagebuch wissen wir, daß ihn selbst zu der Zeit masochistische Bilder verfolgten.

„Ich wünschte oft zu leiden, Verfolgung zu erdulden. Das be- deutet, daß ich faul war und nicht selbst arbeiten, sondern andere für mich arbeiten lassen wollte dadurch, daß sie mich quälten, während ich

nur zu leiden hätte,“ !

Aber Tolstoi ging diesen Weg nicht.

Während ihrer Erzählung wird Paschenka fortwährend von ihrer Tochter oder ihrem Schwiegersohn unterbrochen, um ihnen verschiedene Dienste zu leisten. Paschenka erfüllt alles ohne Murren: „Also das ist es, was mein Traum bedeutete. Paschenka ist eben das, was ich sein sollte und was ich nicht war. Ich lebte für die Menschen unter dem Vorwand, es sei für Gott, sie lebt für Gott, sich einbildend, daß sie für die Menschen lebt... .. Ja, es gibt keinen Gott für denjenigen, der so lebte wie ich, für den Ruhm unter den Menschen. Ich werde ihn suchen.“ | In ee EEE EEE

ı) Leo Tolstoi. Tagebuch. Erster Band. 1895— 1899. München. 1917. 5. 11.

78 Össipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

Kassatsky wird ein Wanderer. Nach acht Monaten verhaftet man ihn als einen heimatlosen .Landstreicher ohne Pal und verbannt ihn nach Sibirien. „In Sibirien ließ er sich bei einem reichen Bauern nieder und lebt jetzt dort. Er arbeitet bei seinem Hausherrn im Gemüsegarten, unterrichtet Kinder und pflegt Kranke.“

Diese Erzählung blieb ohne endgiltige Bearbeitung. Der eben angeführte Schluß scheint nur darum geschrieben zu sein, um einen Punkt zu setzen. Jedenfalls ist es unklar, wo Sergius Gott gefunden hat. Sergius erlebte die narzißtischen, die egoistisch-idealen Strebungen, das objektsexuelle Leben, es blieb ihm nur das durch das Supra-Ich organisierte Leben, aber dieses Leben war Tolstoi unzugänglich und er konnte es nicht abbilden. Dem Sergius war sogar die Menschen- liebe unzugänglich.

Vor dem oben angeführten Schluß, der in farblosen

Worten abgefaßt ist, befindet sich eine malerisch gezeichnete Szene.

Einst wanderte Sergius mit zwei alten Frauen und einem Soldaten und traf eine vornehme Gesellschaft von Herren und Damen, in der sich ein reisender Franzose befand. Die Herrschaften hielten sich auf, um dem Franzosen russische Pilger zu zeigen. „Sie sprachen französisch, glaubend, daß man sie nicht verstehe. Demandez leur, sagte der Franzose, s’ils sont bien sürs de ce que leur pelerinage est agreable ä Dieu. Man fragte sie. Die alten Frauen antworteten: ‚Wie es Gott an- nehmen wird. Mit den Füßen waren wir ja dort, aber ob wir mit dem Herzen auch da sein werden?‘ Man fragte den Soldaten. Er sagte, er sei allein, und wüßte nicht, was mit sich zu tun. Man fragte Kassatsky, wer er sei. ‚Gottes Diener‘. Qu’est ce quil dit? Il ne repond Pas 7 Ilrdit, qwil est un. serviteur de Dieu,. Cela doit £tre un Js de prötre. Ila de la race. Avez-vous de la petite monnaie? Der Franzose hatte Kleingeld und gab jedem 20 Kopeken. Mais dites leur, que ce n’est pas pour les cierges que je leur donne, mais pour qu'ils se regalent de the; tschat, tschai sagte er lächelnd; pour vous,

mon wvıieuxr, Kassatsky mit seiner gantierten Hand auf die Schulter

Ueber den Narzißmus 79

klopfend. ‚Vergelt es dir Christus‘, antwortete Kassatsky, die Mütze nicht aufsetzend und mit seinem Kahlkopf grüßend. Und Kassatsky war diese Begegnung besonders erfreuend, weil er die Meinung der Menschen nicht geachtet hatte.“

Und es ist wirklich wunderbar, daß Sergius sich ent- halten hatte, französisch zu antworten und die ganze Ge- sellschaft in größtes Staunen zu setzen, was doch seinem Charakter so sehr entsprechen würde. Es war aber keine Demut, sondern wieder die alte Selbstbewunderung, die ihn dazu brachte. Es war eine Introversion, d. h. er bewun- derte sich innerlich. Sergius hatte wirklich seinen Wunsch, andere zu erstaunen, besiegt, d. h. er hatte seine Zeigelust besiegt, aber daß dieser Sieg über die Zeigelust ihm wieder Gelegenheit gab, über sich selbst in Rührung zu geraten, zeigt, daß er doch ein Narziß geblieben war. „Wie (d. h. mit welchen Eigenschaften) man in der Wiege liegt, so geht man ins Grab,“ sagt das russische Sprichwort.

Fassen wir jetzt Sergius’ ganze Laufbahn in den präzisen Ausdrücken der Libidotheorie zusammen. Man findet die zwei ursprünglichen Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib. Mit anderen Worten, es gibt zwei Wege: den des Narzißmus und den der Objektliebe. Sergius ging den narziß- tischen Weg der Idealisierung ad ultimum und als er auf diesem Wege Fiasko erlitt, weil er den höchsten Punkt er- reicht und dennoch keine Befriedigung empfunden hatte, blieb ihm noch der zweite Weg: offen. Sergius tritt auf diesen Weg dank seinem Sündenfall wie mit einem Schlage über. Auf diesen Weg geraten, rekapituliert er zuerst in Gedanken den regelrechten Gang der Sexualität vom Sadismus durch Autosadismus (Selbstquälerei) zum Masochismus. Vom Maso- chismus wäre der nächste Weg zur asexuellen Menschenliebe,

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80 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

resp. zur Sublimierung. Diesen Weg zeigt uns Tolstoi nicht. Der Autor deutet ihn nur in banalen Worten an.

Es ist zweifellos, .daß die Erzählung „Vater Sergius“ in psychologischer Beziehung einen autobiographischen Charakter trägt. „Hier ist kein Kloster, sondern Jassnaja Poljana (Tolstois Gut) und durch den Mönchskittel scheint zu sehr die allen bekannte Bluse durch“, wie Bulgakow' ganz richtig bemerkt. „VVelche bunte Menge von Besuchern hat nicht in Jassnaja Poljana vorgesprochen! Söhne des malaischen Archipels, Australier, Japaner und Amerikaner, sibirische Flüchtlinge und Vertreter sämtlicher europäischer Nationen haben dieses Dorf besucht und daheim dann erzählt, wie groß die Worte und Gedanken des greisen Sehers waren, der darin wohnt.“ ?

Obgleich Tolstoi den Ruhm sehr liebte, empfand er ihn dennoch manchmal als lästig. In der Erzählung finden wir die folgende Stelle:

„Manchmal in seinen hellen Augenblicken dachte er, daß er einem Orte gleich geworden sei, wo früher eine Quelle gewesen. ‚Es gab eine schwache Quelle lebendigen Wassers, welche ruhig aus mir, durch mich quoll. Das war das echte Leben..... aber nun ehe das Wasser Zeit hat, sich zu sammeln, kommen schon die Durstenden, drängen sich, einander stoßend. Und sie haben alles zertreten, der Schmutz allein ist geblieben.‘ So dachte er in seltenen Augenblicken ;*aber sein gewöhnlicher Zustand war Ermüdung und Rührung über sich selbst wegen dieser Ermüdung.

Es fehlte Tolstoi an einer echten altruistischen Menschen-

liebe; wie das aber zu verstehen ist, darüber: sprechen wir im nächsten Kapitel.

Zweifel an seinem Glauben, beständige Qualen darüber,

zu hohe Ideale, schwerer Kampf mit sich selbst, seinen Nächsten RE RE RR EL 2ER

1) „Menschengott und Menschentier.“ (Ruuss.) 2) Birjukow, I], 6ı.

Ueber den Narzißmus | 81

und der ganzen Welt, Durst nach der Wahrheit, Skeptizismus, das ist der Seelenzustand von Leo Tolstoi, dem großen Narzißten, in seiner nachkritischen Periode. Es gibt nicht nur keine Harmonie, wie es Birjukow' meint, sogar das seelische Gleichgewicht erreichte Tolstoi selten.

Das wird klar bewiesen durch die Erzählung „Vater Sergius“, zu der die Worte Turgenjews gut passen, daß „in ein literarisches Werk doch mehr von jenem Teile der Seele überströmt, den man nicht gern zeigt.“”

Mereschkowski sagt von Tolstoi: „Er hat nie jemanden geliebt, ja auch sich selbst wagte er nicht mit der letzten leidenschaftslosen und furchtlosen Liebe zu lieben. Wer aber hat mit größeren Qualen nach Liebe verlangt als er? Er hat nie an etwas geglaubt. Wer aber hat unersättlicher nach Glauben gedürstet als er? Das ist nicht alles aber ist es etwa wenig ?“®

ı) Birjukow, I, ı10. „Es ist klar... daß alle diese Eigenschaften...

das Urelement gebildet haben, aus dem sich allmählich die harmonische Seele des Künstlerphilosophen herausgebildet hat.“

2) Birjukow, II, 305. Aus einem Briefe von Turgenjew an Tolstoi. Diese Worte von Turgenjew entsprechen denen von Jean Paul, die Rank als Motto zu seinem Buche (Das Inzestmotiv usw.) gewählt hat.

3) Mereschkowski, Tolstoi und Dostojewski. I. Aufl. Berlin. 1919. Bd, 1,8, 8

6 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

V

DREI WEITERE ERINNERUNGEN (Objektlibido)

„Der Mensch hat zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib.“ (Freud'). Die beiden ersten Erinnerungen Tolstois haben uns den narzißtischen Weg der Libido gezeigt. Drei weitere sollen uns den Grund zur Erforschung des zweiten Libidoweges der Fremd- objektlibido geben.

Die hier folgende, besonders charakteristische Erinnerung an Jeremejewna ist nichts anderes als die Erinnerung an ein Spiel. Sie bietet ein besonderes psychologisches Interesse, weil sie uns das charakteristische Merkmal des Spieles (Proprium)

verrät.

„Ich bin im Bettchen und mir ist froh und wohl zu Mute, wie immer und ich würde mich dessen nicht erinnern, aber plötzlich sagt Njanja oder jemand von denen, die mein Leben ausmachen, etwas mit einer für mich neuen Stimme und geht fort; und es wird mir nicht nur fröhlich, sondern auch ängstlich zu Mut.“

Das kleine Kind fühlt sich vor dem Einschlafen froh und wohl im Bettchen. „Das Schlafen ist somatisch eine Reaktivierung des Aufenthaltes im Mutterleibe mit der Er- füllung der Bedingungen von Ruhelage, Wi ärme und Reız- abhaltung; ja viele Menschen nehmen im Schlafe die fötale

ı) Zur Einführung des Narzißmus. A. a.’O. 95.

Drei weitere Erinnerungen 83

Körperhaltung wieder ein. Der psychische Zustand der Schlafenden charakterisiert sich durch nahezu völlige Zurück- ziehung aus der Welt der Umgebung und Einstellung alles Interesses für sie.“ Die Regression der Libidoentwicklung „reicht beim Schlafzustand bis zur Herstellung des primitiven Narzißmus.“' Der narzißtische Zustand ist lustvoll. In unserem Falle kann das Kind noch nicht einschlafen, d. h. seine Libido besetzt noch die Fremdobjekte. Dieser Zustand, wenn die Kinder sich nicht gleich von den Reizungen der Außen- welt abwenden, d. h. ihre Objektbesetzungen nicht gleich auf ihr Ich zurückziehen können, ist allen wohl bekannt. Die Libido ist noch auf ein fremdes Ich hier auf die Njanja gerichtet. Dann amüsiert Njanja die Kinder, um der Objektlibido eine Katharsis zu ermöglichen und sie von den Objekten frei zu machen. Wenn Njanja fort geht, wird die Objektlibido frei. Frei gewordene Libido verursacht aber Angst. „Die Aufklärung über die Herkunft der kindlichen Angst“ schreibt Freud, „verdanke ich einem dreijährigen Knaben, den ich einmal aus seinem dunklen Zimmer bitten hörte:, Tante, sprich mit mir; ich fürchte mich, weil es so dunkel ist.‘ Die Tante rief ihn an: ‚Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht.‘ ‚Das macht nichts‘, antwortete das Kind, ‚wenn jemand spricht, wird es hell.“ Er fürchtete sich also nicht vor der Dunkelheit, sondern weil er eine geliebte Person vermißte.“? Der kleine Tolstoi empfindet jetzt also gleichzeitig Lust und Angst. Nur ist diese Angst nicht ernst,

ı) Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre. (Freud, Sammlung kleiner Schriften. Vierte Folge. S. 340).

2) Freud. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. A. a. 0.8

Vergl. die Erzählung „Kosaken‘“ von Leo Tolstoi. Der Kosak Lukaschka hielt Wache und erwartete einen möglichen Angriff der Feinde. Er lauerte auf den Feind und war in einer gespannten Stimmung. Er stand allein und wußte nicht, daß Onkel Jeroschka in der Nähe nach dem Wilde herumirrte. „Der

6*

84 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

weil der Knabe ihr baldiges Ende voraussieht. Wir haben hier ein Erlebnis mit der Antizipation des guten Endes. Die Antizipation des guten Endes ist die Libidobesetzung eines angenehmen vorgestellten (imaginierten) Bildes.

„Und ich erinnere mich, daß ich nicht allein bin, sondern mit noch jemandem, solch einem Wesen wie ich. Es ist wahrscheinlich meine um ein Jahr jüngere Schwester Maschenka, deren Bettchen in unserem Zimmer stand.! Und ich erinnere mich, daß es einen Vorhang bei meinem Bette gibt und zusammen mit meiner Schwester freue und ängstige ich mich über das Ungewöhnliche, das uns geschehen ist und ich verstecke mich im Kissen, verstecke mich und gucke zur Tür, aus welcher ich etwas Neues und Lustiges erwarte. Und wir lachen, verstecken uns und warten.“

Dieses „sich verstecken, gucken und warten“ ist auch eın wohlbekanntes Phänomen, das man als lustig-ängstliche Erwartung bezeichnen kann. Gewiß spielt hier auch die Neugier eine Rolle. „Ich verstecke mich im Kissen“ lustvoller narzißtischer Akt. „Gucken“ eine Bewegung der Libido vom Ich zum Fremdobjekt Angst, aber mit der Antizipation des guten Endes. Das Phänomen kann man als oszillierende Libidobewegungen bezeichnen.

„Und da erscheint jemand in Kleid und Haube, so wie ich es nie gesehen habe, aber ich erkenne, daß es dieselbe Person ist, die immer mit mir ist (ob Njanja oder meine Tante, weiß ich nicht), und diese Person spricht mit einer groben Stimme, die ich kenne, etwas Schreckliches über böse Kinder und über Jeremejewna. Ich heule vor Schrecken und Freude und erschrecke und freue mich wirklich zugleich,

daß mir graut, und ich will, daß diejenige, welche mich erschreckt, nicht erfahre, daß ich sie erkannt habe.“

Tag graute schon .... . Die klingende Stimme des Alten, die im Walde er- tönte, vernichtete plötzlich die nächtliche Stille und Unheimlichkeit, welche den Kosaken umgaben. Als ob es plötzlich heller und lichter würde.“

ı) Maria Nikolaewna, Tolstois Schwester, erzählt: „Drei von uns schliefen in demselben Zimmer ich, Lewotschka und Dunetschka (die Pflegetochter _ der Familie Tolstoi, von gleichem Alter wie Lewotschka). Wir spielten oft miteinander und bildeten eine Gesellschaft für uns, ganz von unseren älteren Brüdern getrennt.“ Birjukow I, 68. Liegt da eine Verdrängung vor?

Drei weitere Erinnerungen 85

Den Zustand des Knaben vor dem Erscheinen von Jeremejewna können wir mit gutem Recht als Vorlust be- trachten. Mit dem Erscheinen der Jeremejewna kommt die Endlust zustande.

„Ich heule vor Schrecken und Freude und erschrecke und freue mich wirklich zugleich.“

Der Seelenzustand des Kindes ist hier mit der Tolstoi eigentümlichen Präzision beschrieben, Für den Endlust-Zustand ist der schnellere Rhythmus der Libidooszillationen charak- teristisch. Die Libido besetzt erst die geliebte Person, dann die imaginierte feindliche Person, dann wieder die geliebte usw., um endlich in ihre stabile Position der Fixierung an das pflegende Weib zurückzukehren. Bei der Vorlust fanden die Libidoschwingungen unter Beibehalten der narzißtischen Fixierung statt. Bei der Endlust schwingt die ganze Libido zwischen der geliebten Person und der feindlichen hin und her, daher wächst die Angst; sie verliert aber dennoch ihren Lustcharakter nicht, weil das gute Ende antizipiert wird. Vorlust ist ein autoerotisches Erlebnis, Endlust ist hetero- erotisch.

„Wir werden still, aber fangen später absichtlich wieder zu flüstern

an, um Jeremejewna wieder herbeizurufen.“

Aus diesem Beispiel können wir folgende Kennzeichen des Spieles feststellen:

ı) Das Spiel ist immer lustvoll.

2) Im Spiele werden mannigfaltige Affekte ausgelebt, Katharsıs.

») Der wesentlichste Affekt ist die lustvolle Angst, d. h. Angst (frei gewordene Libido) mit der Antizipation des guten Ausgangs des Erlebnisses.

4) Wiederholung.

86 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

5) Das Spiel hat zwei verschiedenartige Lustmomente: die autoerotische Vorlust und die heteroerotische Endlust.

Verweilen wir ein wenig bei dieser Unterscheidung zwischen Vorlust und Endlust. Freud hat diese Unterscheidung beim Sexualakte scharfsinnig und endgültig gezogen." Vor- lust wird beim Beschauen, Betasten u. dgl. erlebt, das ist also Lust, die bei der Erreichung vorläufiger Sexualziele erlangt wird. Endlust wird bei Entleerung der Sexualstoffe erlebt. „Die Vorlust ist dann dasselbe, was bereits der infantile Sexualtrieb, wenngleich in verjüngtem Maße er- geben konnte; die Endlust ist neu, also wahrscheinlich an Bedingungen geknüpft, die erst mit der Pubertät eingetreten sind. Die Formel für die neue Funktion der erogenen Zonen lautete nun: Sie werden dazu verwendet, um mittels der von ihnen wie im infantilen Leben zu gewinnenden Vor- lust die Herbeiführuug der größeren Befriedigungslust zu ermöglichen.“ Wir können also sagen, daß die Vorlust eine partielle Libidobetätigung und die Endlust eine totale Libido- betätigung begleitet.

Wenden wir uns nun zu dem zweiten mächtigen Trieb, dem Nahrungstrieb, dem Hun ger. Gewöhnlich betrachtet man den Hunger als einen qualvollen Zustand. Aber Petra- schitzki hat ganz richtig ein Hunger-Leiden vom Hunger- Appetit unterschieden. Der Appetit (ad-petitus, Strebung nach) ist Justvoll, Leo Tolstoi erinnert sich in der „Jugend“ an

feierliche Mittagessen, die in seiner Kinderzeit, zu Lebzeiten der Großmutter, stattfanden.

„Das Mittagessen war nicht mehr wie zu Mamas oder Großmamas Zeiten eine Art Feierlichkeit ..... . Wie anders war es in Moskau ... . Plötzlich öffnete sich die Tür... . . die Großmutter wogte aus ihrem

WR ER RE NE ı) Freud. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 72—76.

Drei weitere Erinnerungen 87

Zimmer hervor . ... .. Gawrilo stürzt auf ihren Sessel zu, die Stühle klappern, ich fühle wie mir ein Schauer über den Rücken läuft, die Ankündigung des Appetits, und greife nach der feuchten, gestärkten Serviette, kaue eine Brotrinde und betrachte mit ungeduldigem, freudigem Begehren, unter dem Tisch die Hände reibend, die dampfenden Suppen- teller, die der Kammerdiener nach Rang, Alter und nach dem Ermessen der Großmutter jedem von uns vollgießt.“

Wäre Appetit nicht etwas Lustvolles, so könnte der Gebrauch „guten Appetit“ zu wünschen nicht existieren. Guter Appetit ist ein Zeichen von Gesundheit. Appetit ist Vorlust, die entsprechende Endlust entsteht beim Essen. Der Prozeß der Appetitsteigerung ist lustvoll, wenn man weiß, daß man zu essen bekommen wird, wenn also das gute Ende antizipiert wird. Andernfalls verwandelt sich dıe Hunger- Lust in das Hunger-Leiden. Auf solche Weise erhalten wir eine mehr oder weniger nahe Analogie im Ablauf zweier mächtiger Triebe. Die sexuellen Vorlusterlebnisse unter- scheiden sich von den alimentären nur dadurch, daß die ersteren eher autonom, d. h. eher selbständig, für sich, existieren können als die letzteren. Der Grund dafür ist ın der höheren Zusammengesetztheit des Sexualtriebes im Ver- gleich mit dem Nahrungstriebe zu suchen. Aber wenn wir als Parallele zum hungrigen Menschen den gesunden Durch- schnittsmenschen in seinem Sexualleben nehmen, so wird die Analogie vollkommen. Menschen, die ein Verweilen bei vorläufigen Sexualakten nicht kennen, genießen die sexuelle Vorlust nur, wenn sie wissen, daß ihnen die Endlust zu- gänglich sein wird. Im andern Falle verwandelt sich die Vorlust in Unlust. Andererseits können auch, wie z. B. in unserer kulturellen Gesellschaft, die Vorstadien der Nahrungs- aufnahme eine besondere Ausbildung erfahren. Zu diesen Vorstadien gehört das Umkleiden der Engländer, „das

88 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

Gläschen Wodka“ vor dem Mittagessen der Russen, die Suppe der Deutschen (Pawlow). |

Es entsteht jetzt die Frage, was eigentlich der Kern des Spieles ist und ob sich alle Spiele notwendigerweise aus Vorlust und Endlust zusammensetzen müssen.

Ich meine, wir können Pfeifer nur zustimmen, wenn er sagt, daß den Kern des Spieles „die infantilerotische Be- tätigung der Partialtriebe der Sexualität bildet.“ '

“® Leo Tolstois

finden wir ein interessantes individuelles Spiel, an dem zwar

In den „Kindheitserinnerungen

Lewotschka selbst nicht teilnahm, das man aber dennoch hier erwähnen darf.

„Dann erinnere ich mich noch ihrer verzweifelten Tränen (d. h. Dunetschkas, der Pflegetochter der Familie Tolstoi), als sie und mein Bruder Mitenka ein Spiel ersonnen hatten, das darin bestand, daß sie einander abwechselnd ein kleines Kupferkettchen in den Mund spuckten, und sie so stark spuckte, während wieder Mitenka den Mund so weit aufriß, daß er die Kette schluckte. Sie weinte untröstlich, bis der Arzt kam und alle beruhigte.*

Wir haben hier ein interessantes Spiel, bei dem die „Verlegung nach oben“ eine Rolle spielt.

Maria Nikolaewna, Tolstois Schwester, erzählt auch noch folgendes Spiel:

„Milaschki (Liebling) war eines unserer Lieblingsspiele. Einer von uns spielte den Milaschki, das ist ein Kind, das von den anderen ganz besonders verzogen wurde, das man ins Bettchen leste, fütterte, unter ärztliche Behandlung stellte, kurzum aus dem man viel Wesens machte. Von diesem Milaschki verlangte die Spielregel, daß er sich ohne Klagen in alle Streiche füge, die man ihm spielt, und seine Rolle ergebungsvoll I E TETTERE TE RE RE INNE EN ER EEE

ı) Sigm. Pfeifer. Äußerungen infantilerotischer Triebe im. Spiele. Imago ıgı4 H. A

2) Von diesen „Kindheitserinnerungen“ wird später die Rede sein. 3) Birjukow, I. 8o.

Drei weitere Erinnerungen 89

durchführte. Ich weiß noch, wie sehr wir uns während des Spieles kränkten und ärgerten, wenn unser Milaschki (gewöhnlich Lewotschka) tatsächlich einschlief, sobald wir ihn ins Bett gelegt hatten. Die Spiel- regel verlangte von ihm, daß er weine, Medizin einnehme, untersucht, frottiert werde usw. Und sein Schlaf machte unserem Spiele ein Ende und rief uns aus dem Reiche der Phantasie in die Wirklichkeit zurück.”

Man darf annehmen, daß Lewotschka nicht jedesmal einschlief, und daß bei solchem Spiele ein so stark sinnlich veranlagter Knabe (siehe die zweite Erinnerung) oft die Gelegenheit zu infantil-erotischen Betätigungen fand. Sonst aber ist dieses Spiel „Milaschki“ mit den Puppenspielen identisch und gehört in die Gruppe der Phantasiespiele. Die Phantasiespiele sind genetisch komplizierter als die Bewegungs- spiele, sie haben mindestens zwei andersartige Wurzeln: ı) Das introvertierte, d. h. die Phantasien besetzende 'Trieb- leben; 2) die Selbstbehauptung des Individual-Ichs; die Kinder erleben die lustvolle Überzeugung, selbst die Ursache der Geschehnisse zu sein. Insofern die Phantasiespiele intro- vertiertes Triebleben repräsentieren, besitzen sie alle Charakter- züge der Bewegungsspiele. Jedenfalls bieten sie zahlreiche Gelegenheiten, verschiedenartige Affekte auszuleben, unter anderem auch die lustvolle Angst.

Die dritte Erinnerung ist ebenso wie die beiden ersten für Tolstois Charakteristik bedeutungsvoll, nicht nur darum, weil sie uns den psychischen Kern zweier seiner starken Leidenschaften der Vorliebe zum Kartenspiel und zur Jagd zeigt, sondern auch darum, weil die Strebung, lust- volle Angst zu erleben, Tolstois ganze Persönlichkeit aus- zeichnet. Mereschkowski sagt von Tolstoi: „ein großer, end-

los vielseitiger Jäger.“

ER ee ı) A.a.O. zı. Birjukow (II. 25) schreibt: „Trotz seiner starken leiden- schaftlichen Begeisterung für seine Familie und die Landwirtschaft, hatte Tolstoi

m 90 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Noch als zwanzigjähriger Jüngling, vor seinem Ein- treten ins Militär und der Reise in den Kaukasus, spielte Tolstoi viel und leidenschaftlich Karten. Zu dieser Zeit ge- hört Birjukows Bemerkung: „Das Kartenspiel muß wohl ne. "Tolstoi

spielte viel Karten, als er Offizier war. „Eines Tages setzte

eine seiner stärksten Leidenschaften gewesen sein.

ich zum Scherz eine kleine Summe ein: ich verlor. Ich wiederholte es: und verlor wieder. Das Glück war mir nicht hold; die Leidenschaft für das Spiel war erwacht und binnen zwei Tagen hatte ich mein ganzes Geld und das, welches mir Nikolaus gegeben hatte (gegen 250 Rubel) verloren und obendrein noch 5300 Rubel, für die ich einen Wechsel aus- stellte. “” Im Jahre ı852 zeichnete Tolstoi in sein Tage- buch ein: „Die Spielwut ist eine schmutzige (sic!) Leiden- schaft, die langsam in eine Begierde nach stärkerer Aufl- regung übergeht. Es ist jedoch möglich, ihr zu widerstreben.“ Wie scharf Tolstoi sich selbst auch später über seine Leiden- schaft für das Kartenspiel äußerte, so müssen wir doch sagen, daß er nie ein Spieler im echten Sinne des Wortes gewesen war, der alles um des Kartenspieles willen vergibt. Tolstoi rechnet immer sorgfältig seinen Verlust zusammen (z. B. in demselben Brief, den wir oben zitiert haben) und bei der Beschreibung eines seiner Verluste lesen wir:

damals noch eine andere Leidenschaft, die mitunter sogar die beiden ersten verdrängte. Diese Leidenschaft war die Jagd. Er gesteht es selbst seiner Frau, wahrscheinlich nachdem sie ihm wegen der langen Trennung Vorwürfe gemacht hat. Im August ı864, also im zweiten Jahr ihrer Ehe, heißt es in einem Brief an sie: ,..... Du sagst, ich werde Dich vergessen. Nicht einen Augenblick, namentlich nicht, wenn ich mit Menschen zusammen bin. Auf der Jagd vergesse ich Dich, dann denke ich nur an mein Doppelgewehr, aber unter Menschen denke ich an Dicn bei jeder Begegnung, bei jedem Wort und möchte Dir immer Dinge sagen, die ich niemand außer Dir sagen kann.‘“

ı) Birjukow, I, 164.

2) A. A. OÖ. 197.

3) Birjukow, ], 205.

Drei weitere Erinnerungen 91

„Gestern abends beschäftigte ich mich damit, meine Geldangelegen- heiten und meine Schulden zu überdenken. Ich sann darüber nach, wie ich sie zahlen sollte. Nachdem ich alles genau überlegt hatte, wurde

es mir klar, daß mir meine Schulden keine allzu große Last sein

würden, wenn ich jetzt nicht allzu viel verausgabte.....!

Tolstoi ist fortwährend seit seiner frühesten Jugend mit dem Zusammenzählen seiner Ausgaben beschäftigt. Es ist wahr, daß er mehr ausgab, als er konnte, aber er strebte beständig, seinen materiellen Wohlstand herzustellen. Und er verstand es, sich am Rande des Abgrundes zu halten und in späteren Zeiten nicht nur sein Vermögen zu be- wahren, sondern es auch zu vermehren. Wir können folgendes schließen: Tolstoi hatte eine große Neigung zum Spiel, aber zur selben Zeit besaß er das Streben zu ordentlichem Leben. Da sehen wir noch eine Wurzel zu Konflikten in Tolstois Seele. Tolstoi war ordentlich, sparsam und eigensinnig. Über den Eigensinn ‘haben wir schon im Kapitel III viel gesprochen. Von seiner Sparsamkeit liefert uns Tolstois Bio- graphie viele Beweise. Hier einer von ihnen: Tolstoi schreibt von seiner zweiten Mutter Tatjana Alexandrowna: „Tantchen bewahrte gerne Näschereien allerlei Art in ihrem Zimmer auf: getrocknete Feigen, Lebkuchen, Datteln. Sie kaufte der- gleichen gerne und bewirtete mich damit. Ich werde nie vergessen und kann mich nie ohne grausame Selbstvorwürfe daran erinnern, wie ich ihr wiederholt Geld für diese Näscherei verweigerte und wie sie traurig seufzend davon abstand.“ °

Was die Ordentlichkeit betrifft, so haben wir auch

von ihr zahlreiche Beweise. „Nikolaus hat entdeckt, daß ich ohne meinen Reinlichkeitstrieb

ein sehr angenehmer Reisegefährte wäre. Er ärgert sich darüber, EERREEEEEEERNEET N ee ı) Birjukow, I, 197. 2) Ebendort 74.

92 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

daß ich meine Wäsche, wie er behauptet, dutzendmal im Tage wechsle.“ !

Tolstois ganzes Leben ist von Strebungen voll, bald sein Äußeres in Ordnung zu bringen („comme il faut“), bald seine Seele. Dieser Strebung entspringt das beständige Aufschreiben von Tagesordnungen, Lebensregeln, Programmen und dergleichen. Wir erhalten so die drei Charaktereigen- tümlichkeiten, deren Zusammentreffen den Analcharakter (Freud)” ausmacht.

Mereschkowski hat ganz recht, wenn er die Auto- charakteristik, die Tolstoi in seiner „Beichte“ gibt, korrigiert. °

Tolstoi schreibt:

„Ich trieb Unzucht, ich betrog. Lüge, Diebstahl, Buhlerei aller

Art, Trunkenheit, Gewalttaten, Mord es gab kein Verbrechen, das ich nicht begangen hätte.“

Mereschkowski meint, „daß Tolstoi kein ‚Dieb‘, nur ein sparsamer Hausvater und Haushalter gewesen sei, kein ‚gewalttätiger‘, sondern ein guter Herr seiner Diener und Hausgenossen, kein ‚Mörder‘, sondern ein tapferer Krieger, kein ‚Trunkenbold‘, sondern ein weiser und nüchterner Epikureer, der sich an der unschuldigsten Freude des Lebens berauschte, kein ‚Buhler‘, sondern ein treuer Ehegatte, der das eheliche Lager in unbefleckter Reinheit erhalten hat, ein kinderliebender Vater, wie die Väter des Alten Testamentes Abraham, Isaak und Jakob, es gewesen .... Wenn er sich über etwas zu schämen nötig hätte, so wäre es nicht über seine Handlungen und Gefühle, sondern nur über seine Worte und Gedanken.“

N ı) Birjukow, I, 172.

2) Charakter und Analerotik. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen- lehre. Zweite Folge.

3) A. a. ©. 128, 129.

Drei weitere Erinnerungen 93

Auf Grund von Freuds Forschungen können wir auf die große Bedeutung der Analerotik in Tolstois Kindheit schließen. Als direkten Beweis dafür können wir vielleicht folgende Erinnerung anführen: |

„Praskowja Issaewna war eine ehrwürdige Person, die Haus- hälterin, dessen ungeachtet stand bei ihr, in ihrem kleinen Zimmerchen, unser Kindertopf. Ich erinnere mich, daß es eine der angenehmsten Empfindungen war, nach der Unterrichtsstunde oder in ihrer Mitte sich in ihrem Zimmerchen zu setzen und mit ihr zu plaudern und sie anzuhören. Wahrscheinlich liebte sie es, uns in diesen Zeiten besonders glücklicher und rührender Aufrichtigkeit zu sehen. ‚Praskowja Issaewna, wie kämpfte Großpapa? Zu Pferde? fragte man sie ächzend, um nur zu plaudern und zu hören.“ !

Die vierte Erinnerung unterscheidet sich von den anderen schon durch die Art, wie sie erzählt wird. Der Autor übergeht lange nicht zum Sachverhalt der Erinnerung, sondern verweilt bei der Beschreibung von Nebentatsachen. Hier gibt es eine Stockung. Zerteilen wir diese Erinnerung in mehrere Teile, wie man es bei einer 'Traumanalyse zu tun pfllegt.

ı. „Ich habe eine andere Erinnerung, die der an Jeremejewna gleich ist, wahrscheinlich eine spätere, weil sie klarer ist; aber für mich blieb sie immer unbegreiflich.“

2. „In dieser Erinnerung spielt der Deutsche Fedor Iwanowitsch, unser Lehrer, die Hauptrolle, aber ich weiß bestimmt, daß ich mich noch nicht unter seiner Aufsicht befand, also geschah es vor meinem fünften Jahre. Und das ist mein erster Eindruck von Fedor Iwanowitsch.““

Wir erwarten, daß jetzt die Erzählung selbst folgen

wird, aber der Autor weicht dem "Thema noch aus. 3. Und er erfolgte so früh, daß ich mich noch an niemanden

weder Brüder noch Vater —- erinnere. Wenn ich auch eine I en re BEER ERBE EIER

1) „Kindheitserinnerungen“. Tolstois Gesamte Werke. B. I. Verlag „Slowo“. Berlin, 1921. In der deutschen Ausgabe von Tolstois Biographie ist diese Stelle unvollständig und nicht genau übersetzt. B. I, 8ı. .

94 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Vorstellung von einer einzelnen Person habe, so ist es nur die meiner Schwester und auch nur darum, weil sie sich ebenfalls, wie ich, vor Jeremejewna fürchtete.“

Aus den psychoanalytischen Forschungen wissen wir, daß alle Einfälle einen Sinn und eine nahe Beziehung zum Hauptthema haben. Folglich erscheint hier die Erinnerung an die Schwester nicht zufällig, die Schwester wird hier als die Mitgespielin erinnert. Wir wissen auch, daß außer Jeremejewna die Kinder noch „Milaschki“ spielten, und die beiden Spiele sollten notwendigerweise vielfachen Anlaß zu partiell-sexuellen Betätigungen geben. Wir können vermuten, daß der vierjährige Lewotschka irgend welche partiell-sexuelle Erlebnisse mit seiner Schwester oder Dunetschka hatte, die er in der vorigen Erinnerung wie auch hier verdrängt. Dunetschka nahm zweifellos teil an allen Erlebnissen dieser Zeit.

IV. „Mit dieser Erinnerung verbindet sich auch bei mir die erste

Vorstellung, daß unser Haus einen oberen Stock besitzt. Wie ich dahin geriet, ob ich selbst hinaufgestiegen war oder mich jemand hingebracht hat, ich weiß gar nichts.“

Die Erinnerung an den oberen Stock dürfte hier irgend eine symbolische Bedeutung haben, aber der Mangel an

Material erlaubt uns keine Vermutungen. Endlich kommt jetzt die Erzählung:

V. „Ich erinnere mich aber, daß unserer viele sind, wir halten uns alle im Reigen, Hand in Hand, in der Zahl der sich Haltenden sind fremde Frauen (ich weiß nicht, warum es mir erinnerlich ist, daß es Wäscherinnen sind) und wir fangen alle an, uns zu drehen, zu hüpfen.

VI. „Fedor Iwanowitsch springt, die Beine zu hoch hebend und zu geräuschvoll und laut, und in ein und demselben Augenblick fühle ich, daß es nicht gut, unsittlich ist und ich bemerke ihn und, wie mir scheint, fange ich zu weinen an, und alles nimmt ein Ende.“

Der Knabe freut sich wie wir unter V sehen

beim Spiele mit den Dienstboten. Es ist ein großes Vergnügen.

Drei weitere Erinnerungen 95

Wenn Tolstoi sich an Maskenbälle erinnert, wo die mas- kierten Gutsbesitzer ankamen, so sagt er: „Alles dies war höchst ungewöhnlich und für die Erwachsenen wahrschein- lich unterhaltlich. Uns Kindern aber ging nichts über die Dienerschaft.“! Und daß die Sitten der Dienstboten da- mals grob waren, ist unbestreitbar. Nehmen wir jetzt Ab- schnitt VI. Fedor Iwanowitsch, ein guter und gutherziger Mensch, trank manchmal sehr viel, wie wir aus dem Kapitel erfahren werden, das in den früheren Ausgaben von der Zensur unterdrückt wurde. Fedor Iwanowitsch war gewiß auch kein Asket. Es ist möglich, daß er sich allerleı Frivoli- täten mit den Dienstmädchen erlaubte. Dies weckte ım Knaben die Assoziation an seine eigenen Handlungen, die er mit seiner Schwester oder Dunetschka getrieben und ver- drängt hatte (Abschnitt IH). Jetzt tut Fedor Iwanowitsch das gleiche. Das Kind sieht das Verdrängte und darum erschrickt es und weint (Abschnitt VI).

Die fünfte Erinnerung ist ebenso bedeutungsvoll, wie

die vier ersten.

„Bei meiner Versetzung nach unten, zu Fedor Iwanowitsch und | dem Knaben empfand ich zum erstenmal und darum stärker als jemals später das Gefühl, welches man das Pflichtgefühl, das Gefühl des Kreuzes nennt, welches zu tragen jeder Mensch berufen ist.... und ich be- merkte hier zum erstenmal nicht alle diejenigen, mit denen ich oben wohnte, aber die Hauptperson, mit der ich lebte und welche ich früher nicht verstanden hatte. Das war meine Tante Tatjana Alexandrowna. Ich erinnere mich ihrer, der nicht hoch gewachsenen, starken, schwarz- haarigen, guten, zarten, mitleidigen. Sie zog mir den Schlafrock an, umgürtete mich, mich umarmend und küßte mich und ich sah, daß sie dasselbe fühlte, wie ich, daß es ihr leid, furchtbar leid tat, aber so

sein sollte.“ FI

ı) Birjukow, I, 84.

96 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Die Tante Tatjana Alexandrowna war Tolstois zweite Mutter. Von seiner ersten Mutter, die ihm das Leben gab, schreibt Tolstoi folgendes:

„An meine Mutter erinnere ich mich ganz und gär nicht. Ich war eineinhalb Jahre alt, als sie starb. Durch einen seltsamen Zufall blieb kein einziges Bild von ihr bewahrt, so daß ich sie mir als ein wirkliches, körperliches Wesen nicht vorzustellen vermag. In gewisser Beziehung ist mir dies lieb, weil dadurch in der Vorstellung, die ich mir von ihr mache, nur ihre geistige Gestalt lebt und alles schön ist, was ich von ihr weiß, und ich glaube, dem ist so, nicht nur, weil alle, die mit mir über meine Mutter sprachen, trachteten, gut von ihr zu sprechen, sondern auch, weil wirklich viel des Guten in ihr war.“ !

Weiter schreibt Tolstoi in seinen Erinnerungen über seine Mutter und seinen ältesten Bruder Nikolenka (Nikolenka war 6 Jahre alt, als die Mutter starb):

Sie hatten beide einen mir teueren Zug gemeinsam, auf den ich aus den Briefen meiner Mutter schließe und den ich an meinem Bruder selbst wahrgenommen habe: eine schöne Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Welt und Bescheidenheit, die sie die Vorzüge des Geistes, der Seele und der Erziehung verstecken ließ, durch welche sie sich vor anderen auszeichneten. Sie schienen sich gleichsam dieser Vorzüge zu schämen .... Sie verdammten nie jemand.“ ?

Durch eben diese Eigenschaften zeichnete sich Leo Tolstoi nie aus. Er wußte von ihrer Existenz nur aus den Erzählungen über seine Mutter und durch die Beobachtung seines Bruders. Diese Eigenschaften wurden zu Leo Tolstois Ideal. Von Kindheit an hatte Tolstoi das Idealbild seiner Mutter vor Augen.

Wenn wir darauf achten, daß die beiden allerersten Erinnerungen, welche seine auffallende Sinnlichkeit verraten,

AREA En BE DA En

1) Birjukow, I, 43. Tolstois Mutter ist in „Krieg und Frieden“ in der Prinzessin Maria Bolkonski naturgetreu abgebildet. Der Autor bewahrt sogar

ihren Namen und hat nur den ersten Buchstaben in ihrem Familiennamen aus W in B verwandelt.

2) Ebenda, 44.

Drei weitere Erinnerungen 97

in die Säuglingszeit gehören, und weiter, wenn Tolstoi sich auch nicht erinnert, so doch vermutet, daß er damals „die Brust küßte und lachte und seine Mutter erfreute“, so weist uns diese Vermutung auf die Fixierung seiner Libido an die Mutter hin.

Die Mutter starb und nach ihrem Tode besetzte die Libido ihr Idealbild. Es ist wohl möglich, daß die Differen- zierung zwischen der idealen und der realen Welt, eben in- folge des Todes der Mutter, bei Tolstoi als ganz kleinem Kind vorhanden war. Dementsprechend wurde das Verhältnis zur Wirklichkeit ambivalent. Die Wirklichkeit, die an das Ideal erinnerte, wurde hochgepriesen und die vom Ideal abweichende verachtet. Möglicherweise wurde diese Ambivalenz nachher auf die eigene Person übertragen. Die Differenzierungen im Be- reiche der Außenwelt gehen gewöhnlich denjenigen der Innen- welt voran. Jedenfalls ist dem so in der Bewußtseinssphäre, im Unbewußten kann es anders sein. Auf diese Weise ist die narzißtische Ambivalenz als sekundäre zu betrachten. Weiter erinnert Tolstoi über seine Mutter: „Sie erschien mir als ein so hohes, reines, durchgeistigtes Geschöpf, daß ich oft während meines Kampfes mit überstarken Versuchungen zu ihrer Seele betete und sie bat, mir beizustehen. Dieses Gebet hat mir auch stets geholfen.“

Wie stark Tolstois Fixierung an die Mutter-Imago und seine Sehnsucht nach ihr war, ersieht man aus dem folgenden poetischen Bilde in der „Beichte“: „Ich bin vielleicht nur ein aus dem Neste gefallenes Vögelchen, das auf dem Rücken liegend im hohen Grase piepst, aber ich piepse, weil ich weiß, daß meine Mutter mich in sich getragen, ausgebrütet, erwärmt, gefüttert und geliebt hat. Wo ist sie, diese meine Mutter? Wenn ich ausgesetzt worden bin, wer hat mich denn

7 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

98 Ossipow:: Tolstois Kindheitserinnerungen

ausgesetzt? Ich kanns mir nicht verheimlichen, daß mich jemand liebend geboren hat. Wer ist denn dieser Jemand?“

Das Schicksal war indessen Tolstoi sehr günstig, weil Tatjana Alexandrowna wirklich die Mutter zu ersetzen im- stande war. Tolstoi schreibt:

„Was Einfluß auf mein Leben anbelangt, so steht an dritter Stelle “gleich nach meinem Vater und meiner Mutter mein ‚Tantchen‘, wie wir sie nannten: Tatjana Alexandrowna Jergolski. Sie war eine sehr entfernte Verwandte meiner Großmutter Gortschakow.“ !

„In der Zeit, an die ich mich erinnere, war sie über 40 Jahre _ alt und ich habe niemals darüber nachgedacht, ob sie hübsch oder nicht hübsch sei. Ich liebte sie einfach, liebte ihre Augen, ihr Lächeln und ihre dunkle, breite, kleine Hand, auf welcher sich die blauen Adern deutlich abzeichneten. Sie liebte wahrscheinlich meinen Vater und mein Vater liebte sie. Allein sie heiratete ihn nicht, als sie noch jung waren, ‚damit er meine reiche Mutter heiraten könne, und sie heiratete ihn späterhin nicht, weil sie ihre reine, stille Zärtlichkeit für ihn und uns nicht trüben wollte... . Ihr Hauptcharakterzug war Liebe. Ich wünschte nur, es wäre dies nicht einzig und allein die Liebe zu einem einzigen Menschen zu meinem Vater gewesen. Doch wenn auch, ihre Liebe erstreckte sich von diesem einen Punkt aus auf alle rundum. Wir fühlten, daß sie uns um seinetwillen liebe, daß sie durch ihn jeden liebe, weil ihr ganzes Leben Liebe war... . Ich erwähnte bereits, daß ‚Tantchen‘ den größten Einfluß auf mein Leben hatte. Dieser Einfluß bestand vor allem darin, daß sie mich von Kindheit an die geistige Wonne der Liebe gelehrt. Sie lehrte sie mich nicht in Worten, sondern durch ihr ganzes Leben, durch ihr ganzes Wesen, das mich mit Liebe erfüllte. Ich sah, ich fühlte, wie sie in Liebe lebte, und ich verstand, das Glück der Liebe und zwar von allem Anfang an.“ ?

Die systematische Beschreibung seiner Kindheit beginnt Tolstoi, wie wir oben gesagt haben, mit ı0 Jahren, aber in

ı) Birjukow, I, 70. 2) Birjukow, I, 72, 73, 74 75-

Drei weitere Erinnerungen 99

einem Kapitel erinnert er sich einer früheren Zeit, zu der er etwa 3—4 Jahre alt war.

„Nachdem ich mich müde gelaufen, saß ich gerne am Teetisch, auf meinem hohen Stühlchen; es war schon spät, ich hatte längst meine Tasse Milch mit Zucker ausgetrunken, die Augen wollten mir vor Müdig- keit zufallen, aber ich rührte mich nicht von der Stelle, ich saß und lauschte. Und wie sollte ich nicht lauschen? Maman spricht mit jemandem und der Klang ihrer Stimme ist so süß, so freundlich. Der bloße Klang sagt meinem Herzen so viel! .... Ich stehe auf, ziehe beide Beine in die Höhe und lege mich behaglich im Lehnstuhl zurecht. ... Es kam vor, daß mich im Halbschlummer eine zärtliche Hand berührte; an der bloßen Berührung erkannte ich sie und noch im Schlafe und unwill- kürlich ergriff ich diese Hand und drückte sie fest, fest an meine Lippen. Es waren schon alle weggegangen, eine Kerze brannte im Gastzimmer; Maman hatte gesagt, sie wollte mich selbst wecken; dann setzte sie sich auf den Lehnstuhl, auf dem ich schlief, fuhr mit ihrer wunderbaren, zarten Hand über meine Haare und in mein Ohr klang die liebe, be- kannte Stimme. ‚Steh auf, mein Herzchen, es ist Zeit, schlafen zu gehen.‘ Niemandes gleichgültige Blicke stören sie, sie scheut sich nicht, all ihre Zärtlichkeit und Liebe über mich auszugießen. Ich rühre mich nicht, sondern küsse nur noch inniger ihre Hand. ,‚Steh’ auf, mein Engel.‘ Sie faßt mit der anderen Hand meinen Hals und kitzelt mich. Im Zimmer ist es still, halbdunkel; ich bin vom Kitzeln und vom Er- wachen aufgeregt. Mamachen sitzt dicht neben mir, sie berührt mich, ich fühle ihren Geruch! und höre ihre Stimme. Dies alles zusammen wirkt so auf mich, daß ich aufspringe, mit meinen Armen ihren Hals umfange, mich an ihren Busen drücke und atemlos ausrufe: Ach, liebe, liebe Mama, wie hab’ ich dich lieb! Auf ihrem Antlitz spielt ihr trauriges, bezauberndes Lächeln, sie nimmt meinen Kopf in beide Hände, küßt mich auf die Stirn und setzt mich auf ihren Schoß. Wenn ich nachher nach oben ging, und in meinem wattierten Schlaf- röckchen vor den Heiligenbildern stand welch wunderbares Gefühl

durchzog mich, wenn ich sprach: „Lieber Gott, nimm Papa und Mama

2 ln I 5 a RE IE Er Ed a

ı) „Ich fühle ihren Geruch“ ist willkürlich durch: „ich empfinde ihre

Nähe“ übersetzt. Die Übersetzung von Raphael Löwenfeld ist zum Lesen gut geeignet, aber für die Psychoanalyse bedarf sie einiger Korrekturen.

7*

100 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

in deine Hut!“ Wenn ich die ersten Gebete stammelte, welche meien Kinderlippen nach der geliebten Mutter wiederholten, floß die Liebe zu ihr und meine Liebe zu Gott eigentümlicherweise in ein Gefühl zusammen.“

Irrtümlich behauptet Birjukow, daß die Gestalt der Mutter in der Erzählung „Kindheit“ frei erfunden sei.‘ Wir können im Gegenteil feststellen, daß diese Mutter-Imago nicht nur nicht frei erfunden ist, sondern den Bildern der beiden Mütter von Tolstoi entspricht. Die Mutter der „Kindheit“ stellt eine Verdichtung der ersten und der zweiten Mutter dar. Die hochpoetischen Züge, das unirdische Kolorit, das Zusammen- fließen der Liebe zur Mutter und zu Gott, das gehört der ersten Mutter-Imago, die Sinnlichkeit und die Zärtlichkeit, die früher auch der ersten Mutter zuteil wurden, gehören jetzt der zweiten, sind auf die zweite Mutter übertragen. Daß in der angeführten Szene Tatjana Alexandrowna gemeint wird, beweist unzweideutig folgende Stelle aus Tolstois Memoiren: ?

„Ich hatte Ausbrüche zärtlicher, leidenschaftlicher Liebe für sie.

Ich erinnere mich, wie sie einst auf dem Diwan im Salon saß und ich mich hinter sie stahl. Ich war damals ungefähr fünf Jahre alt. Sie be- rührte mich liebkosend mit der Hand. Da haschte ich nach dieser Hand und küßte sie ab und weinte aus lauter Zärtlichkeit.“

Das angeführte Bild des typischen sinnlich -zärtlichen Verhältnisses zwischen Mutter und Sohn ist geradezu voll- ständig. Die Sinnlichkeit ist hier durch sinnlichen Genuß an Gesichts-, Gehörs-, Geruchs- und Tastempfindungen vertreten, ebenso wie in der zweiten Erinnerung. Für Tolstoi ist es charakteristisch, daß er keine besondere Prädominierung eines

der Sinne zeigt. Wie in seinem Leben, so auch in seinem

ı) Birjukow, I], 57. 2) Birjukow, I], 72.

Drei weitere Erinnerungen 101

dichterischen Schaffen nützt er alle sinnlichen Empfindungen aus, sogar die Geruchsempfindungen spielen bei Tolstoi eine bedeutende Rolle.

Wie stark die Fixierung an Tatjana Alexandrowna war, sehen wir unter anderem an folgenden Beispielen. Im Briefe vom 6. I. 1852 schreibt Tolstoi:' „Ich schrieb Dir unlängst, daß ich Tränen über deinen Brief vergossen .. .. .. Früher schämte ich mich dieser Schwäche, doch sind die Tränen, die ich. bei dem Gedanken an Dich und Deine Lieben (d. h. an Tolstois Eltern) vergieße, so süß, daß ich sie nun ohne Skrupel und falsche Scham fließen lasse ..... Wenn Du sagst, daß die Reihe nun an Dir sei, uns zu verlassen, und zu jenen zu gehen, die nicht mehr sind und die Du so sehr geliebt, wenn Du sagst, daß Du zu Gott betest, er möge Deinem Dasein, das Dir so unerträglich und einsam scheint, ein Ende bereiten, wenn Du dies sagst, dann ist mir, teuerste Tante, als beleidigtest Du Gott und mich und uns alle, die Du so liebst. Du. bittest Gott um Deinen Tod, das heißt um das größte Unglück, das mich treffen könnte. Dies ist keine Phrase; Gott ist mein Zeuge, daß die zwei größten Schicksals- schläge, die mich treffen könnten, Dein Tod wäre oder der Nikolaus’ der beiden Menschen, die ich mehr liebe als mich selbst..... Freilich bin ich mir bewußt, daß es eine häßliche Empfindung ist, die mir diese Worte diktierte; ich bin eifersüchtig auf Deinen Kummer.“ Wie wir wissen, liebte Tatjana Alexandrowna Tolstois Vater. Folglich ist hier Tolstoi auf diese Liebe eifersüchtig. Weiter phantasiert Tolstoi:

„Jahre sind vergangen, ich bin weder jung noch alt, lebe in Jassnaja und meine Angelegenheiten sind in Ordnung. Ich habe keinen Kummer, keine Sorgen. Du lebst gleichfalls in Jassnaja. Du bist ein

a Ra al er EB EEE BU ER en Be ı) Birjukow, I, 195.

102 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

wenig älter geworden, bist aber noch frisch und bei guter Gesundheit. Wir führen das Leben, das wir stets geführt... .“

Weiter beschreibt Tolstoi sein zukünftiges Leben, das seinem kindlichen Leben mutatis mutandis genau entsprechen soll.

„Ich bin verheiratet. Meine Frau ist ein süßes, sanftes, zärtliches Weib; sie liebt Dich ebensosehr wie ich Dich liebe; wir haben Kinder, die Dich Großmama nennen .... Nun sollte freilich auch jemand den Platz ausfüllen, den Du in unserer Familie ausgefüllt hast doch wird sich wohl nie eine so wundervolle Seele finden, die zu lieben versteht wie Du. Für Dich gibt es keinen Ersatz....! Wollte mich jemand zum Kaiser von Rußland machen oder mir Peru sehenken mit einem Worte, käme eine Fee mit einer Wünschelrute und fragte mich, was ich mir wünsche, so wollte ich, die Hand auf dem Herzen, ihr zur Antwort geben, ich wünsche nichts, als daß dieser Traum je Wirklich- keit werde.“

Dieser Traum ging in Erfüllung. Aber noch vor seiner Heirat lebte Tolstoi mit Tatjana Alexandrowna zusammen und da gab es Stunden, wo Tolstoi mit ihr wieder die Bezie- hungen „Mutter-Sohn“ erlebte, sogar mit Anspielungen auf das Verhältnis von „Mann und Frau“.

„Außer beim Tedeum und Requiem habe ich sie nie beten gesehen. Nur aus einer ganz besonderen Milde, mit welcher sie mir begegnete, wenn ich manchmal spät nachts, nachdem ich mich schon von ihr verabschiedet hatte, nochmals zu ihr zurückkehrte, erriet ich, daß ich sie im Gebete unterbrochen hatte. ‚Komm’ herein, komm’ herein!‘ sagte sie dann. ‚Gerade habe ich zu Natalja Petrowna gesagt, daß Nikolaus noch einmal hereinschauen würde.‘ Sie gab mir oft den Namen meines Vaters und dies tat mir besonders wohl, da es mir zeigte, daß mein Vater und ich in ihrer großen Liebe in eins verschmolzen.

Um diese späte Nachtstunde war sie bereits in ihrem Nachtkleid, hatte BE Ra URAN ni Baba ne Map eng Bra ra

ı) Wie sehr die Träume vom zukünftigen Leben das kindliche Leben wiedergeben, beweist unter anderem ein Beispiel aus meiner eigenen Kindheit; als 5jähriger Knabe pflegte ich zu sagen, daß ich nicht heiraten kann, denn wer soll dann der Onkel sein. Ich war der einzige Sohn, und hatte nur Schwestern. In unserer Familie wohnte aber immer der unverheiratete Bruder meiner Mutter.

Drei weitere Erinnerungen 103

einen Schal um die Schultern, während ihre kleinen spindelartigen Beine in Pantoffeln staken. Natalja Petrowna war in einem ähnlichen Neglige. ‚Setze dich, setze dich‘, pflegte sie zu sagen, wenn sie sah, daß ich nicht schlafen konnte oder unter der Einsamkeit litt. Und die Erinnerungen an diese unregelmäßigen langen Stunden des Wachens sind mir besonders teuer.“ !

Über Tolstois Verhältnis zu seinem Vater wie zu den Geschwistern werden wir nicht sprechen, weil wir zu diesem Zweck alle drei Erzählungen „Kindheit“, „Knabenalter“ und „Jugend“ analysieren müßten. Aus Tolstois „Familienroman“ (Freud) entnehmen wir nur die Fixierung an die ideale Mutter-Imago und an die zweite Mutter.

Die sexuelle Entwicklung auf dem Wege der Objekt- libido können wir folgendermaßen skizzieren: Im Intrauterin- leben wird die Libido auf das eigene Ich gerichtet. Dieses Ich ist aber mit der Mutter unzertrennlich verbunden. Die ur- sprüngliche Ichlibido hat also zwei zusammengelötete Objekte: das-eigene Ich des Individuums und die Mutter.

Libido Ich (— das Indiv.-Ich + die Mutter).

Nach der Geburt manifestieren sich die Sinnlichkeit und die Zärtlichkeit, die auf die Mutter gerichtet sind, zu- gleich kann die Sinnlichkeit auch auf die eigene Person gerichtet sein der Weg des (charakterologischen) Narzißmus, den wir in den Kapiteln III und IV erläutert haben.

Fee: Ichlibido 1D1AO > Objektlibido g

Sinnlichkeit

Mutter.

Zärtlichkeit

Von der Ichlibido stammt auch die Jagdleidenschaft.

ı) Birjukow, I, 345:

104 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Von den Ichtrieben stammen die Gewalt (Sadismus) und der Haß (die Eifersucht), die in den Zusammenhang der Sexualität eintreten.

Auf das (kannibalische) Stadium der Sexualität finden wir bei Tolstoi keinen Hinweis außer der Jagdleidenschaft. Die zweite Phase die analerotische ist aber, wie oben gezeigt wurde, bei Tolstoi deutlich ausgeprägt.

Dann werden die seelischen Mächte aufgebaut, die dem Sexualtriebe als Hemmnisse in den Weg treten und gleich wie Dämme seine Richtung beengen (der Ekel, das Scham- gefühl, die ästhetischen und moralischen Idealanforderungen).' Die Sinnlichkeit und die Zärtlichkeit die inzestuösen und auch alle anderen werden verdrängt (siehe die vierte Erinnerung). Trotzdem kommen Durchbrüche von Sinnlich- keit und Zärtlichkeit vor.

Wir finden folgende interessante Seiten in der „Kindheit“:

Die Kinder spielen im Wald. Die Erzählung wird in Nikolenkas (Tolstois eigenem) Namen geführt. „Als Ljubotschka im Spiel von einem Baum amerikanische Früchte pflückte, riß sie ein Blatt mit einer großen grünen Raupe ab. Erschreckt schleuderte sie es auf den Boden .... Das Spiel hörte auf und wir bückten uns alle und steckten die Köpfe zusammen, um dieses Wundertier zu betrachten.... Der Wind hob das Busentuch von ihrem (d. h. Katinka-Dunetschkas, die oben erwähnt wurde) weißen Halse. Ich blickte schon nicht mehr auf die Raupe, sondern auf die nur zwei Finger breit von meinen Lippen entfernte nackte Schulter. Ich sah und sah, und preßte dann meine Lippen so heftig darauf, daß Katinka zurückwich, und empfand dabei solchen Genuß, daß ich am liebsten nie aufgehört hätte. Katinka wandte sich nicht einmal um; aber ich bemerkte, daß nicht nur die Stelle, die ich geküßt, sondern ihr ganzer Hals rot wurde. Wolodja sagte verächtlich, ohne den Kopf zu heben: „Was sind das für Zärtlichkeiten!“ und beschäftigte ERROR SE

ı) Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. A. a. O.

Drei weitere Erinnerungen 105

sich weiter mit der Raupe (Verdrängende Kräfte!). Mir aber traten vor Lust und Scham Tränen in die Augen. Dieses Lustgefühl war für mich ganz neu; nur einmal, als ich meinen bloßen Arm betrachtete, hatte ich etwas Ähnliches empfunden. Obgleich ich mich sehr schämte, ver- wandte ich von jetzt ab kein Auge von Katinka.“ (Das Kapitel, aus dem wir dieses Zitat entnommen hahen, ist „Etwas wie eine erste Liebe“ betitelt).!

Die Kinder sitzen in einer dunklen Kammer und schauen, wie der blödsinnige Grischa betet. Nikolenka ist ganz in seine Betrachtung vertieft. „... . Jemand faßte meine Hand und flüsterte: wessen Hand ist das? In dem Verschlage war es ganz finster, aber an der Berührung allein und an der Stimme, welche mir direkt ins Ohr flüsterte, erkannte ich Katinka sofort. Ganz unwillkürlich ergriff ich den nackten Arm am

Ellbogen und drückte meine Lippen darauf.”

Katinka ist also das erste Liebesobjekt Tolstois. Katinka ist die Pflegetochter von Tolstois Eltern (Dunetschka). Die eben zitierte Szene ähnelt außerordentlich der früher an- geführten Szene mit Tatjana Alexandrowna. Tatjana Alexan- drowna war auch Pflegetochter von Tolstois Großeltern. Auf diese Weise ist die erste Objektwahl Tolstois nach dem Mutter-Vorbilde geschehen.

Wir haben die Szene mit Katinka nach der klassischen Ausgabe zitiert. Die Zensur hatte seinerzeit die folgende Seite gestrichen:

„In demselben Augenblick (als Nikolenka Katinka an der Berührung erkannte) empfand ich ein süßes Zittern und dachte an die Stelle unter dem Busentuch, die ich heute im Walde geküßt hatte. Ich erwiderte nichts auf die Frage, sondern ergriff mit beiden Händen ihren Arm, preßte ihn gegen meine Lippen und küßte ihn heftig. Aber damit be-

gnügte ich mich nicht; ohne ihren Arm loszulassen, knöpfte ich vor- ‚sichtig den Ärmel auf und bedeckte den Arm von der Handwurzel bis

m nn

ı) Leo Tolstoi. Kindheit. Übertragen und eingeleitet von Adolf Heß. Reclam.

106 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

zum Ellbogen an der Stelle, an der zur Ader gelassen wird, mit leiden- schaftlichen Küssen. Als ich die Lippen in dieses Grübchen schmiegte, . empfand ich einen unbeschreiblichen Genuß und dachte nur an eins nämlich mit den Lippen nicht zu viel Geräusch zu machen, um mich nicht zu verraten. Katinka zog ihre Hände nicht zurück, sondern suchte mit der anderen meinen Kopf, streichelte mein Gesicht und das Haar und suchte mich fortzudrängen. Dann zog sie, als ob sie sich schämte, schnell ihren Arm zurück und streifte den Ärmel herunter; ich packte ihn aber wieder und preßte ihn noch stärker, bis mir Tränen aus den Augen rannen. Ich tat ihr leid, sie beugte sich über mich und berührte mein Haar. Jetzt war mir so wohl wie nie im Leben; ich wünschte nur, dieser selige Zustand möchte nie aufhören. Wie soll ich den Genuß beschreiben, den ich empfand. Es kam hinzu, daß die Haut auf dem Arm, den ich küßte, so zart und so weich war, und der Gedanke, dal dieser Arm Katinka gehörte, die ich stets geliebt hatte, und von der ich mich morgen, vielleicht auf immer trennen sollte. Aber was bedeutete dieses süße Weh, das ich empfand und das mir Tränen in die Augen trieb?“

Nikolenka verliebte sich noch in demselben Jahr in Sserjoscha Iwin, der fast im gleichen Alter war. „.... Seine originelle Schönheit frappierte mich beim ersten Anblick ganz. Ich fühlte mich unwider- stehlich zu ihm hingezogen; ihn sehen war für mich Glücks genug und eine Zeit lang vereinigten sich alle Kräfte meiner Seele in diesem Wunsche; wenn es vorkam, daß ich drei oder vier Tage verbringen mußte, ohne ihn zu sehen, so grämte ich mich und mir wurde ganz weinerlich zu Mute. Alle meine Gedanken, im Wachen und im Träumen, waren bei ihm; wenn ich mich schlafen legte, wünschte ich, von ihm zu träumen; schloß ich die Augen, so sah ich ihn vor mir und letzte mich an diesem Trugbild, wie an dem höchsten Genusse. Keinem auf der Welt hätte ich dieses Gefühl anvertrauen mögen, so wert hielt ich es.... Ich wünschte nichts, beanspruchte nichts und war bereit, für ihn alles zu opfern. Außer der leidenschaftlichen Zuneigung, die er mir zu sich einflößte, rief seine Anwesenheit in mir noch ein anderes, nicht, minder starkes Gefühl wach die Furcht, ihn zu erzürnen, durch irgend etwas zu beleidigen, ihm zu mißfallen, vielleicht weil sein Gesicht einen hochfahrenden Ausdruck hatte oder weil ich, mein ungünstiges

*

Drei weitere Erinnerungen 107

Äußere verachtend, bei anderen die Vorzüge der Schönheit zu sehr schätzte, oder, was wahrscheinlicher ist, weil das ein sicheres Anzeichen der Liebe ist: ich fürchtete ihn ebenso sehr wie ich ihn liebte. Beim ersten Mal, als Sserjoscha mit mir sprach, wurde ich von dem unerwarteten Glücke so verwirrt, daß ich abwechselnd bleich und rot wurde, und ihm gar nicht antworten konnte.... Zuweilen erschien mir sein Einfluß drückend, unerträglich, aber mich demselben zu ent- ziehen, lag nicht in meiner Macht... . Ich wagte nicht nur nicht, ihn zu küssen, was ich häufig lebhaft wünschte, oder ihn bei der Hand zu nehmen und zu sagen, wie»froh ich sei, ihn zu sehen, sondern ich wagte nicht einmal ihn Sserjoscha (Diminutivum) zu nennen, sondern unbedingt Ssergei, das war nun. einmal bei uns so abgemacht. Jeder Ausdruck von Gefühl bezeugte Kinderei, und wer sich derartiges er-

laubte, war noch ein kleiner Bub.”

Die erste Objektwahl Katinka war nach dem Anlehnungstypus vollzogen worden." Die zweite Sserjoscha erfolgte auf komplizierten Wegen: ı) Auch nach dem Anlehnungstypus, weil Sserjoscha den Vater ersetzte; 2) nach dem narzißtischen Typus, weil Sserjoscha das war, was Tolstoi selbst sein wollte (ein hübscher Knabe usw.). Der Übergang zur Wahl des zweiten Objektes ist klar: Tolstoi zeigte die Fixierung an die Mutter, er identifizierte sich mit ihr; die Mutter liebte den Vater, also liebte auch Tolstoi den Vater, resp. eine ihm ähnliche Person.” Daß im Ver- hältnisse zu Sserjoscha die Gefühle des Sohnes zum Vater hervortreten, ist aus der typischen ambivalenten Einstellung zu Sserjoscha ersichtlich:

„Ich fürchtete ihn ebenso sehr wie ich ihn liebte.” a Ja EEE FEDER BEE BREI EEE ı) Zur Einführung des Narzißmus. L. c. S. 98.

2) Die ausführliche Besprechung des Ödipuskomplexes (Freud, Traum- deutung und Rank, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage) behalten wir uns für die Analyse der Erzählungen „Kindheit, Knabenalter und Jugend‘ vor.

108 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Und weiter: „Zuweilen erschien mir sein Einfluß drückend, unerträglich, aber

mich demselben zu entziehen, lag nicht in meiner Macht.“

Wir sehen auch aus dem oben angeführten Zitat, daß die Zärtlichkeit in der Gemeinschaft der Knaben stark ver- drängt wurde.

Im selben Jahre wurde Nikolenka Sserjoscha untreu er verliebte sich in Sonitschka, ein ı2jähriges Mädchen. „Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich untreu in der Liebe und zum erstenmal empfand ich die SüBigkeit dieses Gefühls.“ Es ist interessant zu beobachten, daß Tolstoi seine Verliebtheit in Sserjoscha, einen Knaben, ganz gleich schätzt wie seine Verliebtheit in das Mädchen, aber es ist sonderbar, daß er seine Untreue gegen Sserjoscha für die erste hält und Katinka vergißt. Das kann man wahrscheinlich dadurch erklären, daß sein Verhältnis zu Katinka, welche mit ihm zusammen wohnte, fortdauerte und ihm kein Hindernis zu neuen Verliebtheiten bot. Das bemerkt man auch bei Erwachsenen häufig! Andererseits ist es wohl möglich, daß Tolstoi seine Verliebtheit in Sserjoscha (Vater) und in Katinka (Mutter) als Ödipuskomplex unbewußt in Eins zusammenfaßte und jetzt seine Untreue gegen diese Odipus-Einstellung als die erste Untreue bezeichnete.

Beide Brüder waren in Sonitschka verliebt. Nach einem Kinderball bei ihrer Großmutter, wo sie das Mädchen zum erstenmal gesehen hatten, lagen sie nachts in ihren Betten und führten folgendes Gespräch miteinander:

„— Nur eines wünschte ich mir, fuhr ich fort, und das wäre,

immer bei ihr zu sein, sie immer zu sehen und weiter nichts. Und a EI ET ERINNERN

.’3) Katinka war ein Familienmitglied und unter dem Bilde von Sserjoscha verbirgt sich nicht nur Tolstois Vater, sondern auch Tolstois Bruder. Katinka und Sserjoscha gehören also dem Familienkreise an.

Drei weitere Erinnerungen 109

du bist du auch verliebt? Gestehe nur die Wahrheit, Wolodja. Seltsam, ich wollte, daß alle in Sonitschka verliebt seien und das auch äußerten. Was geht das dich an? sagte Wolodja, sich mit dem Gesicht zu mir wendend, vielleicht.

Du wolltest nicht schlafen, du hast dich nur so gestellt? rief ich, als ich an seinen glänzenden Augen sah, daß er gar nicht an Schlaf dachte, und warf die Decke zurück. Komm, sprechen wir lieber von ihr, nicht wahr, sie ist entzückend?.... so entzückend, daß, wenn sie mir sagen würde: Nikolenka, springe aus dem Fenster oder stürze dich ins Feuer, ich mich bestimmt keinen Augenblick besinnen würde ich spränge sofort und mit Freuden. Ach, wie reizend sie ist! fügte ich hinzu; meine Phantasie zauberte sie mir ganz lebhaft vor, und um dieses Bild recht zu genießen, warf ich mich mit einem Ruck auf die andere Seite und steckte meinen Kopf unter die Kissen. Ich möchte gleich losweinen, Wolodja. Du bist dumm! sagte er lächelnd und nach kurzer Pause. Ich bin gar nicht so wie du, ich denke mir, wenn es möglich wäre, möchte ich zunächst neben ihr sitzen und mit ihr sprechen... .. Ah! also du bist auch verliebt? unterbrach ich ihn. Dann, fuhr Wolodja mit einem zärtlichen Lächeln fort, möchte ich ihre Fingerchen, ihre Augen, ihr Mündchen, ihr Näschen, ihr Füßchen, mit einem Worte, alles an ihr küssen. Dummheiten! rief ich unter den Kissen her. Du verstehst gar nichts! sagte Wolodja verächtlich. Nein, ich verstehe wohl, aber du verstehst nichts und schwatzest dummes Zeug, sagte ich unter Tränen. Na, zum Weinen ist da gar kein Grund. Ein rechtes Weib!“

Nikolenka verstand gut, wie angenehm alles war, wo- von Wolodja schwärmte, aber er verdrängte die sinnlichen Wünsche. Die Aktivität des Triebes war bei Nikolenka sehr stark: vgl. die Bereitschaft aus dem Fenster zu springen, sich ins Feuer zu stürzen. Aber die Verdrängung war auch mächtig: er setzt selbst seinen Begehrungen die Grenze: immer bei ihr zu sein, sie immer zu sehen und weiter nichts. Darum ärgern ihn Wolodjas Worte, die an seiner

Verdrängung rütteln, so sehr.

110 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Wenn wir die Liebe zu Katinka mit der zu Sonitschka _ vergleichen, so sehen wir, daß der organische Entwicklungs- prozeß selbst zu demselben Resultate geführt hat, welches die Zensur verlangte, indem sie die Beschreibung der sinn- lichen Betätigungen in der Szene mit Katinka strich. Für Sonitschka blieb nur die Zärtlichkeit übrig.

Das verschiedene Verhältnis Nikolenkas und Wolodjas zur sexuellen Frage kann man nicht durch den Altersunterschied erklären: der Unterschied von 2 Jahren kann hier keine Rolle spielen. Die Verschiedenheit der Brüder in sexueller Beziehung wurde noch deutlicher beim Eintritt in die Pubertät.

„Aber auch nicht eine von den Veränderungen, die sich in meinen Anschauungen vollzogen, war von so großem Eindruck auf mich selbst, wie die, welche mich in einem unserer Mädchen nicht mehr den weib- lichen Dienstboten sehen ließ, sondern das Weib, von welchem bis zu einem gewissen Grade meine Ruhe und mein Glück abhängen konnte. ... Mascha! war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, als ich vierzehn zählte.“ Nikolenka hört zufällig Wolodjas und Maschas Treiben im Mädchen- zimmer. Mascha sagt: „— O, wo wollen Sie mit ihren Händen hin? Schämen Sie sich! und Mascha lief in ihrem Tuch, das nach der Seite gezerrt war und unter welchem ihr weißer voller Nacken hervor- glänzte, an mir vorüber. Ich kann kaum sagen, wie sehr mich diese Entdeckung in Erstaunen setzte, aber das Gefühl des Erstaunens machte sogleich einem Mitempfinden mit Wolodja Platz. Mich wunderte nicht mehr seine Handlungsweise selbst, sondern wie er dazu gekommen war, diese Handlung für einen Genuß zu halten. Unwillkürlich wandelte mich die Lust an, ihn nachzuahmen. Ganze Stunden brachte ich bis- weilen im Treppenflur zu, ohne etwas Bestimmtes zu denken und horchte mit angespannter Aufmerksamkeit auf die leisesten Bewegungen, die sich oben vernehmen ließen; aber ich konnte es nie über mich gewinnen,

, 1) Es ist interessant zu bemerken, daß die Mehrzahl der Frauengestalten in den dichterischen Werken Tolstois, welche ihn, resp. den Helden sinnlich anziehen, den Namen seiner Mutter tragen: Mascha im „Knabenalter“, Marianka

in den „Kosaken“, Maria in „Vater Sergius“, die Zigeunerin Mascha im Drama „Der lebende Leichnam“.

Drei weitere Erinnerungen 111

Wolodja nachzuahmen, obgleich ich zu nichts auf der Welt solche Lust verspürte. Bisweilen horchte ich, das Ohr an die Tür gelegt, mit einem drückenden Gefühl des Neides und der Eifersucht auf das Treiben im Mädchenzimmer...... Ich hatte manchmal gehört, wie Mascha zu Wolodja sagte: Eine Strafe Gottes! Was in aller Welt wollen Sie von mir, machen Sie, daß Sie fortkommen, Sie ausgelassener Mensch.... Warum kommt Nikolai Petrowitsch (Nikolenkas voller Name) nie hierher, Dumm- heiten machen?.... Sie wußte nicht, daß Nikolai Petrowitsch unter der Treppe kauerte und alles auf der Welt hergegeben hätte, um an der Stelle des ausgelassenen Menschen zu sein. Ich war schamhaft von Natur, aber meine Schamhaftigkeit wuchs noch durch die Überzeugung von meiner Häßlichkeit.... Ich war zu stolz, um mich an meine Lage zu gewöhnen, ich tröstete mich, wie der Fuchs, der sich einredete, daß die Trauben noch grün seien, d. h. ich bemühte mich, alle Annehm- lichkeiten zu verachten, die ein angenehmes Äußeres verschaffen kann, die in meinen Augen Wolodja genoß und um die ich ihn von ganzer Seele beneidete, und ich spannte alle Kräfte meines Verstandes und meiner

Einbildung an, um in einer stolzen Zurückgezogenheit Genuß zu finden.“

Der Eintritt in die Pubertät wird bei Tolstoi durch die starke, aber zugleich mächtig verdrängte Sinnlichkeit gekennzeichnet. Wir wissen schon aus dem oben skizzierten Entwicklungsgang von Tolstois Sexualleben, daß die Sinn- lichkeit verdrängt wurde. Zur Zeit der Geschlechtsreife ver- mochte das neue, schon genitale Ansteigen der Sinnlich- keit die Verdrängung nicht zu beseitigen. Der Sexualdrang rief auch die Verstärkung des Schamgefühls hervor, welches noch „durch die Überzeugung von seiner Häßlichkeit“ ge- stärkt wurde. Zugleich führten die realen Ereignisse dazu, daß das Erwachen der genitalen Sinnlichkeit an einem Objekte geschah, das gerade nur die Sinnlichkeit, nicht aber die Zärtlichkeit zu, erwecken imstande war. So wird der Eintritt in die Pubertät durch das Auseinandergehen der sinnlichen und der zärtlichen Strömungen charakterisiert.

112 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

„Die Normalität des Geschlechtslebens wird nur durch das exakte Zusammentreffen der beiden auf Sexualobjekt und Sexualziel gerichteten Strömungen, der zärtlichen und sinn- lichen, gewährleistet, von denen die erstere in sich fallt, was

von der infantilen Frühblüte der Sexualität erübrigt. Es ist

wie der Durchschlag eines Tunnels von beiden Seiten her.“!

Bei Tolstoi blieben aber die zärtlichen und die sinnlichen Strömungen auf immer getrennt.

Tolstois Seelenkonflikt bestand im Kampfe dreier sexueller Strömungen miteinander: der narzißtischen, der zärtlichen und der sinnlichen.

Das nächste Resultat seines Mißerfolges mit Mascha war das folgende:

„Ich fühlte mich mehr und mehr einsam und meine Haupt- vergnügen waren einsame Meditationen und Beobachtungen . ... . - Kaum wird man mir glauben, welches die beständigen und die Lieblings- gegenstände meiner Meditationen in meinem Knabenalter waren, so sehr waren sie für mein Alter und meinen Zustand unpassend ... . - Diese Gedanken stellten sich meinem Verstand mit solcher Klarheit und Wunderlichkeit vor, daß ich mich sogar bemühte, sie im Leben anzu- wenden, dabei bildete ich mir ein, der erste zu sein, der große und nützliche Wahrheiten entdecke. Einst kam mir der Gedanke, daß das Glück nicht von äußerlichen Ursachen abhänge, sondern von unserem Verhalten gegen sie, daß der Mensch, der gewohnt ist, Leiden zu er tragen, nicht unglücklich sein könne, und um mich an die Arbeit zu gewöhnen, hielt ich auf den ausgestreckten Armen, des schrecklichen Schmerzes ungeachtet, Tatiischews Wörterbücher fünf Minuten lang, oder ging in eine dunkle Kammer und geißelte mich mit einem Strick auf den nackten Rücken so stark, daß mir die Tränen unwillkürlich

in die Augen traten. Ein anderes Mal, mich plötzlich erinnernd, daß

ı) Freud. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie a. a. O. S. 7ı. Siehe

auch „Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens“. I. und II. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Vierte Folge. L. c.

Drei weitere Erinnerungen 113

der Tod mich jede Stunde, jede Minute erwarte, entschied ich, ohne zu verstehen, wie es bis jetzt die Leute nicht verstanden hatten, daß der Mensch nicht anders glücklich sein könne, als wenn er die Gegen- wart ausnütze ohne an die Zukunft zu denken, und unter dem Ein- flusse dieses Gedankens vernachlässigte ich drei Tage lang meine Auf- gaben und beschäftigte mich nur damit, im Bette liegend, das Lesen irgend eines Romans und das Essen von Honigkuchen zu genießen, die ich für mein letztes Geld kaufte.... Aber ich schwärmte für keine philosophische Richtung so sehr wie für den Skeptizismus,! welcher mich einst in einen Zustand nahe der Verrücktheit brachte. Ich stellte mir vor, daß außer mir niemand und nichts in der ganzen Welt existiere, daß die Gegenstände keine Gegenstände, sondern Bilder seien, welche nur dann erscheinen, wenn ich auf sie achtgebe, und sobald ich auf- hörte, an sie zu denken, verschwänden diese Bilder sogleich. Mit einem Worte, ich kam zum selben Resultat wie Schelling, in der Überzeugung, daß nicht die Gegenstände existierten, sondern mein Verhältnis zu ihnen. Es gab Augenblicke, wo ich unter dem Einflusse dieser beständigen Idee solch einen Grad der Verrücktheit erlangte, daß ich mich manch- mal schnell auf die entgegengesetzte Seite umkehrte, in der Hoffnung, unerwartet die Leere (neant) dort zu treffen, wo ich nicht war.... Aus dieser ganzen schweren geistigen Arbeit erwarb ich nichts außer der Geschicklichkeit des Verstandes, die meine Willenskraft schwächte, und der Gewohnheit an fortwährende geistige Analyse, welche die Frische der Gefühle und die Klarheit der Vernunft vernichtete.... Meine Neigung zu abstraktem Nachdenken entwickelte in mir so unnatürlich das Bewußtsein, daß ich oft, wenn ich an die einfachste Sache zu denken anfing, in den endlosen Kreis der Analyse meiner Gedanken geriet; ich dachte schon nicht mehr an die Frage, die mich beschäftigte, sondern dachte daran, woran ich dachte. Ich fragte mich: woran denke ich? Ich antwortete: ich denke daran, woran ich denke. Und jetzt worüber denke ich? Ich denke, daß ich darüber denke, worüber ich denke usw. Fast verlor ich den Verstand ..... Und dennoch schmeichelten die philosophischen Entdeckungen, die ich machte, meiner Eigenliebe sehr: ich bildete mir oft ein, ein großer Mann zu sein, der zum Wohl

ı) Solipsismus.

8 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

114 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Sterblichen im stolzen Bewußtsein meiner eigenen Würde herunter, aber sonderbar: wenn ich mit diesen Sterblichen in Zusammenstoß kam, so bangte mir vor jedem und je höher ich mich in meiner eigenen Meinung stellte, desto weniger war ich den anderen gegenüber imstande, nicht nur das Bewußtsein der eigenen Würde zu zeigen, sondern konnte mich sogar nicht gewöhnen, mich nicht jedes meiner einfachsten Worte oder Be- wegungen zu schämen.“

So sehen wir, dal Tolstoi selbst seinen Forschertrieb in Zusammenhang mit Sexualerlebnissen stellt. Das weitere Schicksal von Tolstois Forschertrieb lassen wir beiseite und kehren zu seinem Sexualleben zurück.

Im Alter von ıg Jahren gab Tolstoi sich selbst den folgenden Rat: „Betrachte die Gesellschaft der Frauen wie ein notwendiges Übel des gesellschaftlichen Lebens und halte. dich von ihnen soviel als möglich fern.“' Von der Winter- saison 1844/1845 erinnert Sagoskin: „Tolstoi war bei allen Bällen, Soireen und adeligen Gesellschaften anwesend, überall ein gerne gesehener Gast, der immer tanzte, dabei im Gegen- satze zu seinen adeligen Mitstudenten alles andere, nur ‚kein Frauenjäger. Eine seltsame Scheuheit und Schüchtern- heit zeichneten ihn stets aus.““ Im Jahre 1851 „traf Tolstoi eine.... $S. N. und entbrannte für sie in sentimentaler Liebe, die er, zufolge seiner gewohnten Schüchternheit, nicht zu bekennen wagte und mit sich fort nach dem Kaukasus nahm.“ * (Zärtliche Strömung). Im Kaukasus ver- liebte sich Tolstoi in ein einfaches Kosakenmädchen. Hier wiederholten sich fast dieselben Verhältnisse wie mit Mascha. (Gehemmte sinnliche Strömung)).*

2) Birjukow, I, ı27.

3) Birjukow, ], 172:

4) Siehe die Erzählung „Kosaken“.

Drei weitere Erinnerungen 115

Gewiß hatte Tolstoi Verkehr mit gemeinen Frauen, aber seine Selbstbeschuldigungen in der „Beichte“ über die Ausschweifungen seiner Jugendjahre sind jedenfalls über- trieben. |

Über Tolstois Romane schreibt Birjukow: „In Tolstois Leben hatte bis dahin (1856) bereits die eine oder andere Liebesaffaire zu spielen begonnen, aber die hatten zu nichts geführt. Der ernsteste Fall war seine knabenhafte Liebe für Sonitschka Kaloschin. Auf diese folgte das Abenteuer mit S. N., während er noch an der Universität war: diese Liebe bestand jedoch nur in seiner eigenen Phantasie, da SS. N. selbst kaum etwas davon wußte. Von dem Kosaken- mädchen haben wir bereits gesprochen. Nach ıhr kam eine Schwärmerei für Frau S., deren diese selbst sich wahr- scheinlich kaum bewußt wurde; Tolstoi war stets schüchtern und zurückhaltend in solchen Dingen.

Seine Liebe für W. A. war ein mächtigeres und ernsteres Gefühl. Sie hatten einander ihre Empfindungen eingestanden und galten vor Verwandten und Bekannten als Brautleute.“" W.A. war die Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers. Im August begab sich das Fräulein mit ihrer Tante nach Moskau, um bei den Festlichkeiten aus Anlaß der Krönung Alexanders II. am 26. August 1856 anwesend zu sein. Die junge Dame vergnügte sich während dieser Festlichkeiten außerordentlich. Dieser Umstand war Tolstois erste Enttäuschung. Er schreibt ihr Briefe, in denen er ihr eine ernstere Lebensauffassung beizubringen sucht. Nach der Krönung kehrte die Dame nach ihrem Gut zurück, wo Tolstoi oft im Hause verkehrte. Die gegenseitige Neigung steigerte sich. Doch beschloß Tolstoi _

ı) Birjukow, I, 308.

116 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

unterwerfen, und ging für zwei Monate nach Petersburg. Von Moskau aus schrieb er einen Brief, in dem er eine Art Erziehung der jungen Dame versuchte, einen Brief, aus dem es klar hervorgeht, daß, was man Leidenschaft der Liebe nennt, zwischen ihnen nicht bestand. Während seines Aufenthaltes in Petersburg erfuhr Tolstoi aus glaubwürdiger Quelle, daß dieses „reizende Mädchen“ ihrem Klavierlehrer, Mortier, gestattete, ihr Liebeserklärungen zu machen und daß sie sich tatsächlich in ihn verliebt hatte.. Und all dies spielte sich während jener unglückseligen Krönungsfeierlich- keiten ab. Es ist wahr, daß sie ihr Bestes tat, dieses Gefühl zu töten, und sogar jeden Verkehr mit Mortier abbrach, doch war schon die Tatsache dieser jähen Liebesgeschichte ein fürchterlicher Schlag für Tolstoi. Noch einige Zeit dauerte ihr Briefwechsel und dann endeten ihre Beziehungen von selbst."

Im Jahre ı862 verliebte sich Tolstoi in Sophia Andre- jewna Behrs. Die beiden Familien Behrs und’ Tolstoi waren schon längst miteinander bekannt: die Güter der Großeltern lagen unweit voneinander. Tolstoi beschrieb seine Verliebt- heit in „Anna Karenina“ (Lewin-Tolstoi; Kitty-Sophia Andre- jewna). Doch diese Verliebtheit war nicht besonders dauer- haft. Tatsächlich litt Tolstoi an Zweifeln vor der Heirat ebenso wie nach der Heirat. Einen Monat vor seinem Heirats- antrag schrieb er in sein Tagebuch: „Ich habe Angst vor mir selbst. Wie wenn es nur der Wunsch zu lieben und nicht Liebe ist? Ich versuche mir ihre Schwächen vorzu- halten, und dennoch liebe ich.“* Das gegenseitige Verhält-

nis von Leo Tolstoi und Sophia Andrejewna werden wir

ı) Birjukow, I, ıo. Kapitel. „Ein Roman“. 2) Birjukow, I, 486.

Drei weitere Erinnerungen 117

nicht in seiner historischen Wahrheit diskutieren. Es ist aber interessant, wie Tolstoi sein Verhältnis zum Eheleben schon in der nachkritischen Periode auffaßte In der Er- zählung „Der Teufel“ ist Tolstois Seelenkonflikt mit der- selben psychologischen Wahrheit (von äußeren Geschehnissen abgesehen) wie der Narzißmus in „Vater Sergius“ abgebildet.

Auf dem transsubjektiven Libidoweg zeigte Tolstoı ver- drängte Sinnlichkeit und intensive Zärtlichkeit zu seiner zweiten Mutter und zu einer Reihe von Muttersurrogaten. Aber außerhalb seiner Familie vermochte Tolstoi nie irgend eine Person mit Libido zu besetzen.

Tolstoi war ein großer Narziß mit starker Ambivalenz

der Gefühle.

vI

(Das Sexual-Ich)

„Das Liebesleben solcher - Menschen bleibt in die zwei Richtungen gespalten, die von der Kunst als himmlische und irdische (oder tierische) Liebe personifiziert werden. Wo sie lieben, begehren sie nicht und wo sie begehren, können sie nicht lieben.“

DER SEELENKONFLIKT

„Jedem wahren Künstler geht es wie dem Bileam, der verfluchte, was er segnen wollte, und segnete, was er verfluchte, und beide Male das segnete und verfluchte, was wirklich Segen und Fluch verdiente. Denn er tat nicht das, was er wollte, sondern was er mußte.“

RE TOLSTOI

„Gerade so wie mit Bileam, ist es auch mit Leo Tolstoi, dem Dichter: sein ganzes Leben hindurch fluchte er, wo er segnen, und segnete, wo er fluchen wollte. Er tat nicht das, was er wollte, sondern das, was er mußte. In dem, worin er seine Schande und seine Sünde sieht liegt sein ewiger Ruhm und seine Rechtfertigung.“ Der Moralist Tolstoi verflucht seine literarischen Werke, aber sein Fluch wirkt nicht, seine Erzählungen und Romane werden gelesen, entzücken die Leser und bringen ihnen nicht nur Genuß, sondern auch Nutzen. Der Moralist Tolstoi hält seine philo- sophischen und religiösen Werke für sehr wichtig, und trotz- dem widersprechen sie seinem Künstlerschaffen. Der Ver- gleich des Künstlers Tolstois mit dem Moralisten Tolstoi kann nicht zweifelhaft ausfallen. Während der Erste groß,

ı) Mereschkowski, L. c. S. 230.

Der Seelenkonflikt 119

originell, genial-scharfsinnig, feurig ist, ist der Zweite kalt, besser gesagt lauwarm und banal. Und nur soweit der Künstler in Tolstois moralischen Werken durchschimmert, sind diese Werke imstande, Einfluß auf die Leser auszuüben. Und im Gegensatz dazu: wo der Moralist sich tendenziös in das Tun des Künstlers mischt, befinden sich in den ge- nialen Kunstwerken falsche Striche, die dem ganzen Werk widersprechen. Besonders deutlich wird der Gegensatz zwischen dem Künstler und dem Moralisten in der sexuellen Frage.

Nehmen wir eine Analyse der in der nachkritischen Periode (1889) geschriebenen Erzählung Tolstois „Der Teufel“ vor.

Eugen Irtenjew, 26 Jahre alt, ist genötigt, wegen der Verwickelt- heit der Geschäfte auf dem Gute, das.er von seinem Vater geerbt hat, seinen Dienst in Petersburg aufzugeben und sich auf dem Lande nieder- zulassen. „Da wohnte er nun den zweiten Monat auf dem Lande und wußte gar nicht, was er tun sollte. Die gezwungene Abstinenz fing an, schlecht auf ihn zu wirken.... und da er überzeugt war, daß es ihm unbedingt nötig sei, so wurde es ihm wirklich nötig, und er begann zu fühlen, daß er nicht frei war und daß er gegen seinen Willen

jede junge Frau mit den Augen begleitete.“

[Und doch beweist die ganze Erzählung gerade das Gegenteil: Eugen unterliegt dem Triebe, ungeachtet aller Verstandes- anstrengungen.]

Nach langem Zagen und Bedenken wendet sich Eugen an den Wächter Danila, der ihm die Bekanntschaft mit einem jungen Weibe, Stepanida, deren Mann in der Stadt wohnt, verschafft. Zum ersten Mal treffen sie sich im Walde. „Er näherte sich ihr und, sich umschauend, berührte er sie. Nach einer Viertelstunde gingen sie auseinander; er fand sein Pince-nez, besuchte im Vorbeigehen Danila, gab ihm auf seine Frage: Sind Sie zufrieden, mein Herr? einen Rubel und ging nach Hause. Er war zufrieden. Die Scham war nur anfangs, dann verging sie und alles war gut. Hauptsächlich war es gut, daß ihm jetzt leicht, ruhig und frisch zu Mute war. Dabei hatte er Stepanida nicht einmal

120 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

ordentlich angesehen. Er erinnerte sich nur, daß sie rein, frisch, nicht häßlich und einfach, ohne Grimassen, war.“

Wir haben hier ein klares Beispiel für die Selbst- aktivität des Geschlechtstriebes und seine von den Reizen des Objektes unabhängige Entstehung. Stepanida war für Eugen nur ein „pot de chambre“. Der Anfang seines Verhältnisses zu Stepanida ist für ihn eine reine Aktion der genitalen Sexualität. In seinen nachkritischen Werken stellt Tolstoi das Sexualproblem eben in dieser vereinfachten Form dar, in einer Art von „erotischem Materialismus“, welcher jede „Romantik der Liebe“ ausschließt.‘ Es ist ein künstlerisches Experiment. Sehen wir zu, welches Resultat es zeitigte.

Eugens Mutter hat den Wunsch, ihren Sohn zu verheiraten. „Eugen träumte selbst vom Heiraten, nur nicht so, wie seine Mutter: der Ge- danke, aus der Heirat ein Mittel zur Verbesserung seiner finanziellen Lage zu machen, war ihm abscheulich. Er wollte ehrlich eine Liebes- heirat eingehen. Unterdessen dauerte, was er gar nicht erwartet hatte, sein Verkehr mit Stepanida fort und bekam sogar den Charakter von etwas Beständigem. Eugen lagen Ausschweifungen so fern, diese heimliche und, wie er fühlte, schlechte Tat, fiel ihm so schwer, daß er sich gar nicht darauf einrichtete und sogar nach dem ersten Rendez-vous hoffte, Stepanida gar nicht mehr zu sehen, aber es geschah, daß nach einiger Zeit ihn wieder die Unruhe packte, welche er ‚diesem‘? zu- schrieb. Und die Unruhe war diesmal nicht mehr unpersönlich; denn vor seiner Vorstellung standen eben ihre schwarzen, glänzenden Augen, ihre tiefe Stimme... . ihr Geruch nach etwas Frischem und Kräftigem, ihre hohe Brust, die das Hemd hob, und alles dies in demselben Nuß- bäum- und Ahorndickicht, das von hellem Licht überflutet war .... Wie sehr es ihn auch beschämte, wandte er sich doch wieder an Danila.

Und wieder wurde ein Rendez-vous um Mittag im Walde bestimmt.

N EN EN ı) Bulgakow.L. c.

2) Für Eugen war der Verkehr mit Stepanida gewissermaßen „tabu“, deshalb enthielt er sich, das Sexuelle mit vollem Namen zu nennen.

Der Seelenkon flikt 121

Dieses Mal sah Eugen sie näher an, und alles an ihr schien ihm an- ziehend. Aber er bestimmte ihr doch selbst kein Rendez-vous.... Er hoffte, dieses Rendez-vous würde das letzte sein. Sie gefiel ihm. Er dachte, daß ihm solch ein Verkehr nötig war, und daß dabei nichts Schlechtes wäre; aber in seiner Seelentiefe hatte er einen strengeren Richter, der es nicht gut hieß. $o hoffte er, es sei zum letzten Mal, oder wenn er es auch nicht hoffte, so wollte er wenigstens nicht selbst an dieser Tat teilnehmen und sie sich fürs nächste Mal vorbereiten.“

Eugen hat drei Strebungen: ı. Er strebt danach, eine Liebesheirat zu schließen; 2. er strebt nach dem Verkehr mit Stepanida; 3. er strebt danach, diesen Verkehr abzu- brechen. Wie kann man solchen Widerspruch der Strebungen, den Seelenkonflikt in einer Persönlichkeit, verstehen? Die einzige Antwort kann nur lauten, daß die menschliche Persönlichkeit etwas Kompliziertes ist und daß man das Ich des Individuums nicht mit der Persönlichkeit im Ganzen identifizieren darf, wie im ı. Kapitel ausgeführt wurde. Jede Strebung, wie jede psychische Erscheinung überhaupt, gehört jemandem, einem Subjekt, einem „Ich“ an. Aber ein und dasselbe Subjekt kann nicht widersprechende Ziele verfolgen. Folglich bleibt uns nur die Annahme übrig, daß die Persön- lichkeit des Menschen eine organische Einheit von vielen Ichs darstellt. Das eine Ich Eugens das Ich im engeren Sinne des Wortes, welches wir das Individual- Ich genannt haben strebt nach der Liebesheirat. Das andere Ich das sexuelle Ich, oder das Sub-Ich strebt nach Stepanida. Das dritte Ich das sittliche Ich oder das Supra-Ich strebt danach, den Verkehr mit Stepanida abzubrechen. Das Individual-Ich Eugens denkt, „daß ihm solch ein Verkehr nötig und daß dabei nichts Schlechtes wäre“, aber in seiner Seelentiefe verurteilt ein strengerer Richter das Supra-Ich den Verkehr mit Stepanida.

122 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Dessen ungeachtet bringt das Sub-Ich Eugen zum Verkehr mit Stepanida. Aber das Wiedersehen kommt nicht durch die Tätigkeit sämtlicher Kräfte des Individuums zustande, sondern ausschließlich durch die Aktivität des Sub-Ichs (des

Sexual-Ichs). „Im Herbst fuhr Eugen oft in die Stadt und befreundete sich dort

mit der Familie Annenski. Die Annenskis hatten eine Tochter, die eben das Institut verlassen hatte. Und hier geschah es zum größten Bedauern von Eugens Mutter, daß er sich, wie sie sagte, zu niedrig einschätzte, sich in Lisa Annenski verliebte und ihr einen Heiratsantrag machte. Von da an hört das Verhältnis mit Stepanida auf.... Warum Eugen Lisa wählte, kann man nicht erklären, wie man überhaupt niemals er- klären kann, warum ein Mann eben diese und keine andere Frau wählt. Der Gründe waren eine Menge —- positive, wie auch negative.... Die Hauptsache war aber, daß die Annäherung in einer Zeit begann, zu der Eugen zur Heirat reif war. Er verliebte sich, weil er wußte, daß er heiraten würde. Anfangs gefiel Lisa Eugen nur, aber als er be stimmte, daß sie seine Frau sein würde, empfand er für sie ein viel stärkeres Gefühl. Er fühlte, daß er verliebt war... . Ihre Verliebtheit gab

ihren Augen einen besonderen Ausdruck, welcher Eugen so stark fesselte.

Eugens Heirat war rationell begründet: das war das Werk seines Individual-Ichs, die sexuellen Strebungen folgten nur nach und das Supra-Ich willigte ein. Lisa, die seit ihrem Institutsleben zur Verliebtheit neigte, verliebt sich in Eugen und ihr Verhältnis zu ihm ist ein vollwertiges, d. h. sinnliches und zärtliches. Sie heiraten.

„Je mehr er sie kannte, desto mehr liebte er sie. Er hatte gar

nicht erwartet, so eine Liebe zu treffen und diese Liebe vergrößerte noch sein Gefühl.“

[Liebe zur Liebe, Narzißmus.]

„Die Rührungen und Entzückungen des Verliebten gelangen ihm schlecht, obgleich er sich sehr bemühte, sie zu empfinden; aber es gelang etwas ganz anderes, nämlich daß das Leben nicht nur fröhlicher und angenehmer, sondern leichter wurde. Er wußte nicht, woher es kam,

Der Seelenkonflikt 123

aber es war so. Der Grund war wohl, daß für sie gleich nach der Ver- lobung feststand, daß niemand auf der Welt sich mit Eugen Irtenjew vergleichen könne, daß er höher, klüger, reiner, edler als alle wäre, und daß es darum aller Menschen Pflicht sei, diesem Irtenjew zu dienen und ihm Angenehmes zu erweisen; da man aber nicht alle zwingen könne, es zu tun, so solle man es nach Kräften selbst vollziehen. So tat sie auch; alle ihre Seelenkräfte waren darauf gerichtet zu erfahren, zu erraten, was er liebte und es dann zu vollbringen, einerlei was und wie schwer es auch sei. Sie besaß dasjenige, was den Hauptreiz des Verkehrs mit einer liebenden Frau ausmacht, sie besaß dank der Liebe zu ihrem Manne ein Hellsehen für seine Seele. Sie ahnte, so schien ihm oft, besser als er selbst jeden Zustand seiner Seele, jede Nuance seines Gefühls und handelte demgemäß; so verletzte sie nie seine Gefühle, mäßigte immer seine trüben Stimmungen und verstärkte die freudigen. Aber sie verstand nicht nur seine Gefühle, sondern auch seine Gedanken. Dinge, die ihr am fremdesten gewesen waren, in der Landwirtschaft, in der Zuckerfabrik, beim Urteilen über Menschen, verstand sie plötzlich und konnte ihm nicht nur eine Mitsprechende, sondern oft, wie er ihr selbst sagte, eine nützliche, unersetzliche Ratgeberin sein. Alles auf der Welt sah sie nur mit seinen Augen. Sie liebte ihre Mutter, aber als sie sah, daß die Einmischung der Schwiegermutter Eugen unangenehm war, stellte sie sich sogleich auf die Seite ihres Mannes und zwar mit solcher

Entschlossenheit, daß er sie bezähmen mußte.”

An Lisa haben wir ein Beispiel von echter Verliebt- heit, während Eugen die narzißtische Position behält. Eugen war die Form und Lisa die Materie.

„Das Einzige, das ihr Glück zwar nicht vergiitete, aber bedrohte, war ihre Eifersucht; eine Eifersucht, die sie zurückhielt, nicht zeigte, aber an der sie oft litt.“ Aber Lisa hat gar keine äußeren Gründe für ihre Eifersucht, bis das folgende geschieht: sie sind das zweite Jahr ver- heiratet; Lisa ist im fünften Monat ihrer zweiten Schwangerschaft. (Die erste endigte aus traumatischen Gründen in einen Abortus).. An dem Tag vor Pfingsten ist auf dem Gutshause große Reinigung; unter den Frauen, die daran Teil nehmen, befindet sich auch Stepanida. Seit seiner

Heirat hat Eugen Stepanida gänzlich ‚vergessen‘, hier trifft er sie.

124 | Ossipow: Toolstois Kindheitserinnerungen

„Mit den Augen lächelnd schaute sie ihn lustig an und ihren Rock zurückziehend, ging sie zur Tür hinaus. ‚Was ist das für ein Unsinn?...... Was ist das?.... Es kann nicht sein‘, sagte sich Eugen, sich ver- finsternd und den Eindruck wie eine lästige Fliege abwehrend, unzufrieden damit, daß er sie bemerkt hatte und konnte dabei seine Augen nicht von ihr wenden, von ihrem Körper, der sich beim kräftigen, behenden Gang ihrer nackten Füße wiegte, von ihren Armen, Schultern, den schönen Falten ihres Hemdes und ihres roten Rocks, den sie hoch über ihre weißen Waden aufgeschürzt hatte.... Er kehrte in sein Zimmer zurück, aber kaum hatte er fünf Schritte getan, als er, selbst unwissend wie und auf wessen Befehl, sich wieder umwandte, um sie noch einmal zu sehen.... Als er in sein Zimmer trat, verließ es eine alte Frau, eine andere Taglöhnerin. ‚Diese ist hinausgegangen und jetzt kommt die andere, Stepanida, alleine herein,‘ begann plötzlich jemand in ihm zu überlegen.“

Eugen ging auf die Terrasse.

„Mein Gott! Wenn sie, die mich für so ehrlich, rein und un- schuldig hält, wenn sie wüßte! dachte er. Lisa empfing ihn, wie immer, mit einem leuchtenden Gesicht. Aber heute erschien sie ihm besonders blaß, gelb, lang und mager.“

Eugen beginnt einen Kampf mit seiner Leidenschaft zu Stepanida. Diesen Kampf zu verfolgen, wäre sehr interessant, besonders vom psychotherapeutischen Standpunkt aus, aber das würde uns zu sehr von unserem Thema ablenken. Ebenso wollen wir nicht analysieren, warum dieser Kampf für Eugen unglücklich ausfällt, und was für einen Gedanken Tolstoi in dieser Erzählung ausdrücken wollte. Wir wollen nur jene Seite dieser Erzählung betrachten, die das Sexual- beziehungsweise das Eheleben Tolstois charakterisiert.

Der neu erwachte sexuelle (sinnliche) Trieb zu Stepanida ist Eugen so fremd, daß er ihn wie eine lästige Fliege ab- wehrt und Eugens Ich die Überlegungen über Stepanida („jetzt kommt die andere, Stepanida,..... begann plötzlich

Der Seelenkonflikt 125

jemand in ihm zu überlegen“) nicht einmal als. ihm angehörend erkennt.

„Aber die Hauptsache war, daß er fühlte, daß er besiegt war, daß er keinen eigenen Willen hatte und es eine fremde Kraft war, die ihn trieb; daß er sich heute nur durch glücklichen Zufall gerettet hatte, aber wenn nicht heute, so doch morgen oder übermorgen zu Grunde gehen würde. ‚Aber ich soll doch etwas tun. Nicht an sie denken‘, be- fahl er sich. ‚Nicht denken‘, und sogleich begann er zu denken und

sah sie vor sich und sah den Schatten der Ahornbäume.“

Das Sexual-Ich beginnt die Oberhand zu gewinnen, wird die Form, welche das Individual-Ich und das Supra- Ich Eugens zu organisieren beginnt.

„Er konnte nicht zu Hause sitzen, sondern wo er auch war, auf dem Felde, im Walde, im Garten, auf der Dreschtenne, überall ver- folgte ihn nicht nur der Gedanke, sondern auch Stepanidas lebendiges Bild, so daß er sie nur selten vergessen konnte. Das war nicht das Ärgste; vielleicht hätte er dieses Gefühl zu überwinden verstanden, ärger war, daß er, der früher ganze Monate gelebt hatte, ohne sie zu sehen, sie jetzt fortwährend sah und traf. Sie verstand augenscheinlich, daß er sein Verhältnis mit ihr aufs neue anknüpfen wollte, und bemühte sich, ihm zu begegnen. Weder von ihm noch von ihr war etwas gesagt worden; aber wenn er und sie auch nicht gerade zu einem Rendez-vous

gingen, so bemühten sie sich doch zusammenzukommen. Das heißt, daß Eugens Individual-Ich diese Reendez-vous nicht wollte, aber das Sexual-Ich nach ihnen strebte.

„Er fühlte, daß er die Macht über sich verlor, fast verrückt wurde. Seine Strenge gegen sich selbst verringerte sich nicht um ein Haar; im Gegenteil, er sah die ganze Abscheulichkeit seiner Wünsche, sogar seiner Handlungen, denn sein Spazieren im Walde war eine Handlung. Er wußte, sollte er ihr nur irgendwo im Dunkel begegnen, würde er sie, wenn möglich, berühren, wenigstens wenn er seinem Gefühl nach- geben sollte. Er wußte, daß nur die Scham vor den Leuten, vor ihr, wahrscheinlich vor sich selbst, ihn abhielt.”

[Kein einziges Wort von Lisa also!)

126 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

„Und er wußte, daß er Möglichkeiten aufsuchte, diese Scham zu umgehen, die Dunkelheit oder eine Berührung, bei der diese Scham von tierischer Leidenschaft erstickt würde... ..”

„In solch einem halbverrückten Zustande befand sich Eugen, als, wie es oft geschieht, nach den Junigewittern die Juliplatzregen aus- brachen. Eugen saß zu Hause mit seiner Frau, die heute besonders langweilig war.... Ja, ich soll ausgehen, die Reibeisen besehen, man hat sie gestern gebracht, sagte er. Er stand auf und ging.... Aber kaum hatte er zwanzig Schritte gemacht, als sie ihm begegnete, mit ihrem hoch über die weißen Waden gezogenen Rocke.... Was willst du? fragte er sie, sie im ersten Augenblick nicht erkennend. Als er sie erkannte, war es schon zu spät. Sie blieb stehen und sah ihn lächelnd lange an. Ich suche mein Kalb. Wohin gehen Sie denn ins Ungewitter ? sagte sie, als ob sie ihn jeden Tag gesehen hätte. Komm in die Hütte, sagte er, plötzlich selbst nicht wissend wie, als ob jemand anderer aus ihm diese Worte spräche.“

Eugen erkennt im ersten Augenblick Stepanida nicht, obgleich er gerade zu ihr geht. Er geht aber vom Sexual- Ich getrieben, was ihm in diesem Augenblick nicht ganz bewußt ist. Sein Ich maskiert diese Sexualbetätigungen und spielt ihm vor, er ginge die Reibeisen besehen. Darum eben erkennt Eugen Stepanida nicht augenblicklich und fragt sie ratlos: was willst du? Stepanida aber, die keinen solchen Seelenzwiespalt hat, antwortet ihm so, als ob sie ihn jeden

Tag gesehen hätte.

Das Rendez-vous in der Hütte findet nicht statt, weil Eugens Frau ihm einen Dienstboten nachschickt, um ihn zu erinnern, daß er ver- sprochen hat, einer kranken Frau mittags eine Arznei zu bringen. Eugens Frau, Lisa, ist eifersüchtig und diese Eifersucht gibt ihr den Antrieb, in diesem Falle nach ihrem Manne zu schicken.

In seinen Leiden bittet Eugen sogar seinen Onkel, den er gar nicht achtet, um Hilfe: „Retten Sie mich vor mir selbst!“

Eugen reist mit seiner Frau in die Krim ab, ohne daß er ein

einziges Mal nach jenem Regentage Stepanida wiedergesehen hätte. In

Der Seelenkonflikt 127

der Krim bringen sie zwei Monate sehr angenehm zu und kehren dann auf ihr Gut zurück.

„An die Leiden der Verführung und des Kampfes hatte er sogar zu denken vergessen und konnte sie nur mit Schwierigkeit in seiner Vorstellung reproduzieren. Es stellte sich ihm wie ein Wahnsinnsanfall vor, den er durchgemacht hatte. Er fühlte sich von ‚dem‘ bis zu einem solchen Grade frei, daß er sich nicht fürchtete, den Verwalter bei der

ersten Gelegenheit nach Stepanida zu fragen.“ Dieses Fragen ist schon ein Durchbruch der Verdrängung.

Eugen begegnet Stepanida, „er schaute sie an, erkannte sie und fühlte mit Freude, daß er ganz ruhig blieb.“ Später trifft er Stepanida noch einmal, wie sie Stroh trägt. „Ein paarmal schielte er nach ihr hinüber, und fühlte wieder etwas, konnte sich aber keine Rechenschaft geben. Erst am anderen Tage als er wieder auf die Dreschtenne der Meierei fuhr und dort zwei Stunden blieb, was gar nicht nötig war, mit den Augen unaufhörlich

die bekannte schöne Erscheinung der jungen Frau liebkosend, fühlte er, daß er verloren war, ganz rücksichtslos verloren ... R

Tolstoi hat zwei Varianten vom Ende der Erzählung hinterlassen: nach der einen tötet Eugen sich selbst, nach der anderen tötet er Stepanida.

Wollen wir jetzt die Verhältnisse zwischen Eugen und Stepanida einerseits und Eugen und Lisa andererseits analy- sieren, so müssen wir sagen:

Infolge der übergroßen Scham und des Widerstandes von Eugens Supra-Ich und teilweise auch seinem Individual- Ich beginnt sein Roman mit Stepanida sozusagen vom Ende, vom Genitalakte. Aber bald kommt die gesetzmäßige Ent- wicklung: die Vorlusterlebnisse fangen an zu erscheinen, aber noch vor ihrer ganzen Entwicklung bricht der Roman ab. Die Tatsache, daß dieser Roman aufhört, ohne seinen Entwicklungszyklus durchzumachen, gibt die Möglichkeit zu seiner Wiederaufnahme. Und doch ist es zweifellos, daß seine Entwicklung nie eine vollwertige werden konnte, weil die Zärtlichkeit kaum imstande wäre sich zu entwickeln.

128 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Das Objekt ist unpassend dazu. Eben darum bricht dieser Roman ab und es kann ein neuer Roman mit Lisa an- fangen. Die Begegnung mit Lisa erlaubt Eugens Individual- Ich, Aktivität zu offenbaren und das Sub-Ich zu besiegen. Eugens Heirat mit Lisa, wenn auch nicht aus materiellen Rücksichten geschlossen, ist doch keine Liebesheirat. Lisa verliebt sich in Eugen und diese Verliebtheit zieht ihn zu ihr hin, weil er selbst in sich verliebt und stark narzißtisch ist. Lisas Verliebtheit findet bei ihm volles Entgegenkommen, in Lisa findet er einen Genossen für seine Selbstbewunderung. Außerdem ist seine Heirat mit Lisa auch eine ehrgeizige. Eugens Ehrgeiz besteht nicht darin, eine reiche Frau zu heiraten, wie seine Mutter wollte, sondern gerade darin, mit Hintansetzung aller materiellen Rücksichten ein junges Mädchen aus seinem Stande zu wählen, damit alle mit ihm gemeinsam bewundern könnten, was für ein musterhafter junger Mann er sei. Eugens Selbstverliebtheit zwingt ihn, seinen Verkehr mit Stepanida aufzugeben, weil er in seinem Verhältnis mit ihr nicht genug Anlaß zur Selbstbewunderung findet. Eugens Ehe ist glücklich, aber die echte Sexualität (irdische, sinnliche Liebe) fehlt ihr. „Die Rührungen und Entzückungen des Verliebten gelangen ihm schlecht, ob- gleich er sich sehr bemühte, sie zu empfinden.“ Lisa gehört die Zärtlichkeit, aber keine Sinnlichkeit.!

3) Tolstois Drama ‚Der lebende Leichnam“ ist dem Leben entnommen und gibt ein wahres Geschehnis wieder. Trotzdem hat Tolstoi seinem Helden viele von seinen eigenen Charakterzügen verliehen. In diesem Drama finden wır wieder das Nichtzusammentreffen der sinnlichen und zärtlichen Strömungen, ebenso wie den Narzißmus. Die Zärtlichkeit gehört der Frau und die Sinnlich- keit der Zigeunerin. Der Held des Dramas äußert sich über sein Familien- leben folgendermaßen: „Das Familienleben? Ja. Meine Frau war eine ideale Frau! Sie lebt auch jetzt. Doch, was soll ich dir sagen? Es fehlte die Rosine. Weißt du, was in dem Quaß die Rosine bedeutet? (Die Rosine im Quaß ist ein Gärmittel). Es gab kein moussierendes Spiel in unserem Leben.“

Der Seelenkonflikt | 129

Die neue Begegnung mit Stepanida zwingt das Sub-Ich sich zu erheben.

Eugen spricht vor seinem Selbstmord mit sich selbst in folgender Weise:

„Ja, zwei Lebensweisen sind für mich möglich: die eine, die, welche ich mit Lisa angefangen habe. Der Dienst, die Wirtschaft, das Kind, die Achtung der Menschen. Wenn diese Lebensweise.... Dann soll es sein, daß sie, Stepanida, nicht existiert. Man soll sie wegschicken, wie ich sagte, oder sie vernichten, damit sie nicht sei.“

Es ist klar, daß Lisa als Persönlichkeit, als Individuum, keine Rolle in diesem Lebensbilde spielt, sie ist nur ein Mittel zur Realisierung von FEugens egoistischen Plänen. Dieses Lebensbild ist der Wunschtraum von Eugens Individual-Ich.

„Und die andere Lebensweise ist auch hier. Sie (Stepanida) von ihrem Manne fortnehmen, ihm Geld geben, Scham und Schande ver- gessen und mit ihr leben. Aber dann soll es sein, daß Lisa und Mimi (das Kind) nicht seien. Nein, was denn, das Kind stört nicht, aber daß Lisa nicht sei, daß sie fortfahre. Daß sie erfahre, verfluche und wegfahre.“ =

Das ist der Wunschtraum des Sexual-Ichs.

Aber hier hebt gleich der Narziß sein Haupt:

„Daß sie erfahre, daß ich sie für ein Frauenzimmer vertauscht habe, daß ich ein Betrüger, ein Niederträchtiger bin, nein, das ist zu schrecklich! Das darf nicht sein.“

Wieder kein Wort von Lisa, von ihren wahrscheinlichen Leiden. Nur das eine tut ihm leid, daß er ihre Anbetung verlieren werde.

Nun kommt der Kompromiß: „Ja, aber es kann auch so werden, setzte er zu denken fort, es kann so werden: Lisa wird erkranken und sterben. Sie wird sterben, und alles wird schön sein. Schön?! Oh, Niederträchtiger! Nein, wenn schon jemand sterben soll, so muß sie es.... Wenn sie stürbe, Stepanida, wie gut wäre es.... Ja, nur zwei Ausgänge, meine Frau zu töten oder sie. Denn so weiter zu leben,

ist unmöglich. Unmöglich! Man muß nachdenken und vorsehen. Wenn

9 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

130 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

es so bleibt wie es ist, was wird daraus? Es wird wieder, daß ich mir sagen werde, daß ich nicht will, daß ich abbreche, aber ich sage es nur und werde abends auf den Hinterhöfen sein, und sie weiß es und sie wird kommen. Und entweder erfahren es die Leute und sagen es meiner Frau, oder ich sage es ihr selbst, weil ich doch nicht lügen kann, ich kann nicht so leben.“

Zum ersten Mal hören wir hier die Stimme des Supra-Ichs Eugens. Sein Sub-Ich wünschte so ein Leben und sein Individual- Ich willigte ein, aber das Supra-Ich verbot es. Dieses Verbot ist ein „mir gegebener“ Zustand: „Ich kann doch nicht lügen, ich kann nicht so leben, obgleich ich es wünsche.“

Jetzt kommt wieder der Narziß an die Reihe:

„Ich kann nicht. Alle werden es erfahren, auch Parascha und der Schmied.“ Parascha und der Schmied sind keine Persönlichkeiten aus der Erzählung, es sind die ersten besten, die die Dorfbewohner repräsen- tieren... . „Nur zwei Ausgänge: meine Frau töten, oder sie... . Ach, ja, es gibt einen dritten: sich selbst, sagte er mit leiser Stimme.“

Mord und Selbstmord sind Akte. Zum Vollbringen eines Aktes genügt ein negatives Ziel nicht, es muß unbedingt ein positives geben.

Die Ermordung der Gemahlin ist ein Lustakt des Sub- Ichs. Die Ermordung Stepanidas ein Lustakt des Narziß- mus. Der Selbstmord ist ein Lustakt des Ideal-Ichs, das mit Libido besetzt ist. Die Selbstverliebtheit Eugens verwandelt sich unter dem Einfluß des Ideal-Ichs in Selbstabscheu. Eugens Libido besetzt mit ihrer Energie das Ideal-Ich und das aktuelle Ich ruft den Haß gegen sich hervor.

Rekapitulieren wir noch einmal die einzelnen Momente in Eugens Seelenkonflikt. ı.) Eugen hat hohe Ideale in Betreff des Familienlebens. „Für mich ist mein zukünftiges Familienleben ein Heiligtum, das ich in keinem Falle ver- letzen werde.“ Diese Ideale fordern ein bestimmtes Benehmen.

Der Seelenkonflikt 131

Die Vorstellung von diesem Benehmen ist die Vorstellung vom Ideal-Ich. Dieses Ideal-Ich wird mit Libido besetzt und dank dieser Libidobesetzung kann das Ideal-Ich wirksam sein. Das Vorhandensein des Ideal-Ichs schließt selbstverständlich die Anwesenheit des wirklichen Ichs nicht aus. Manchmal entspricht das wirkliche Ich den Idealforderungen, manch- mal nicht. In diesem letzten Falle entsteht eben ein Seelen- konflikt, Konflikt zwischen dem Ideal-Ich und dem wirklichen Ich, Konflikt auf narzißtischem Boden. 2.) Dieser narzißtische Konflikt wird noch durch die sinnliche Neigung zu Stepanida und die narzißtisch-zärtliche Neigung zu Lisa verstärkt und verschärft, es entsteht ein Konflikt auf heteroerotischem Boden, welcher auf Grund des narzißtischen Konflikts ent- standen ist. Betrachten wir die Entwicklung des heteroerotischen Konfliktes. Im Verhältnis zu Lisa gab es sehr wenig Sinn- liches, nur „Liebe zur Liebe“ und Zärtlichkeit. Aber auch die Zärtlichkeit tritt bald zurück. Der Konflikt nimmt den Charakter eines Konfliktes zwischen Sinnlichkeit (Stepanida) und Narzißmus (Lisa) an. 3.) Dieser Konflikt könnte beseitigt werden, wenn Eugen zu lügen imstande wäre. Da er es nicht ist, bleibt der Konflikt ungelöst. Das Individual-Ich ist nicht imstande, den drei Strebungen (der Strebung nach sinnlichen Genüssen mit Stepanida, der Strebung nach Selbst- bewunderung, der Strebung nach Wahrhaftigkeit) eine ein- heitliche Form zu geben. Folglich ist der Grundkern von Eugens Seelenkonflikt der narzißtische Konflikt: die Un- möglichkeit, hohe Ideale mit ausgeprägter Sinnlich- keit zu vereinigen.

Im „Teufel“ ist die Sinnlichkeit in klarem Licht ge- schildert. Eugen kämpft mit ihr, sieht aber seinen Feind oder, genauer gesagt, den Feind seines Ideal-Ichs in seiner

9*

132 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

ganzen Kraft und sogar in der Gesetzmäßigkeit seiner Existenz. Um die Erforschung von Tolstois psychosexueller Konstitution weiter durchzuführen, ist es ferner notwendig, sich mit der „Kreutzer-Sonate“ zu beschäftigen, ' die Tolstoi in demselben

Jahre (1889) schrieb.

Der Held der Geschichte, Posdnyschew, erzählt eine erlebte „Episode“ den Mord seiner Frau. Posdnyschew verneint die Möglichkeit einer idealen Liebe. „Im Leben dauert diese Vorliebe des einen für den andern manchmal, aber sehr selten jahrelang, öfters dauert sie nur Monate oder sogar nur Wochen, Tage oder Stunden, sagte er, augen- scheinlich wissend, daß er alle durch seine Meinung erstaunte und damit sehr zufrieden.“ (Narzißtische Bewunderung.) „Seelenverwandtschaft! Ein- heit der Ideale! wiederholte er.... aber warum schläft man in diesem Falle zusammen? (Verzeihen Sie die Grobheit!) Sonst legen sich die Leute infolge der Idealeinheit zusammen schlafen, sagte er und lachte nervös... . Bei uns heiraten die Leute, indem sie in der Ehe nichts als den Koitus sehen und es entsteht entweder Betrug oder Gewalt.... Mann und Frau täuschen den Menschen nur vor, daß sie monogam sind, aber in Wirklichkeit leben sie in Polygamie. Das ist schlimm, aber es geht noch; aber wenn, wie am häufigsten geschieht, Mann und Frau die äußere Verpflichtung auf sich genommen haben, das ganze Leben mit- einander zu verbringen, wenn sie dann schon nach dem zweiten Monat einander hassen, sich scheiden wollen und doch zusammen bleiben, dann wird es zu dieser schrecklichen Hölle, in der man zum Trunken- bold wird, sich erschießt oder einander vergiftet.“

Indem Posdnyschew den gegenwärtigen Zustand des Ehelebens so charakterisiert, behauptet er, daß alle Ehen ein einziges Ziel, den Koitus, verfolgen, jede Idealisierung sei Heuchelei. In Wirklichkeit aber finden Sinnlichkeit und Idealisierung ihren ganz natürlichen Platz im Zusammen- hange des vollständigen Ablaufs eines Liebesromans.

ı) Die Kreutzer-Sonate. Berlin. Verlag „Mysl.““ ıg21. (Russ.) Deutsch: Die Kreutzer-Sonate. Übersetzt von E. A. Hauff. Berlin. Verlag von Otto Janke. 17. Auflage.

PEN EEINIEBELDEFENENRTERRRRNEARRTSE AUS SERESHNEUN ERTL A WEo ASSART URS: 5. Der Seelenkonflikt 152

Ja, noch mehr. Die Idealisierung ist ja ein gesetz- mäßiges Sexualphänomen die Sexualüberschätzung. Die Frage ist nur, wie oft ein Roman vollwertig abläuft. Jedenfalls ist die echte Monogamie möglich und trägt keine inneren Widersprüche in sich.

Posdnyschew geht zu seiner Erzählung über.

„Bis zu meiner Heirat lebte ich, wie alle leben, d. h. liederlich, und war überzeugt, daß ich so lebe, wie es nötig ist. Ich war kein Verführer, hatte keine unnatürliche Liebhaberei, machte nicht daraus das Hauptziel meines Lebens, wie es viele von meinen Altersgenossen taten, sondern überließ mich der Ausschweifung anständig, um der Gesund- heit willen. Ich vermied solche Frauen, die mich durch die Geburt eines Kindes oder durch ihre Anhänglichkeit an mich fesseln könnten .... Aber darin ist ja der Hauptschmutz, rief er. Die Sittenlosigkeit besteht ja nicht in etwas Physischem, keine physische Aus- schweifung ist eine Unsittlichkeit, sondern die Unsittlichkeit, die echte Unsittlichkeit liegt eben in der Selbstbefreiung von den sittlichen Beziehungen zu der Frau, mit der man in physischen Verkehr tritt.“

Jeder Verkehr mit einer Frau müßte also eine vollwertige Liebes- beziehung sein. Inwiefern das erfüllbar ist, ist eine andere Frage.

Posdnyschew erzählt ferner die gewöhnliche Geschichte seines ersten Koitus: ein Kamerad verlockt ihn, in ein Toleranzhaus mitzufahren. „Es geschah das Schreckliche, daß ich nicht darum fiel, weil ich der natür- lichen Verführung durch den Reiz einer bestimmten Frau unterlag ... 1

Bis jetzt ist alles konsequent; im vollwertigen Liebesroman darf die Sinnlichkeit vorhanden sein, aber sie muß frei entstehen und nicht von Kameraden, Wein usw. hervorgerufen werden.

„Ich entsinne mich, daß mir sogleich, noch dort, ehe ich das Zimmer verlassen hatte, traurig zu Mute wurde, so traurig, daß ich weinen wollte. Über meine verlorene Unschuld, über das auf ewig verdorbene Verhältnis zur Frau wollte ich weinen. Ja, das natürliche, einfache Verhältnis zur Frau war auf ewig verdorben; ein reines Ver- hältnis zur Frau hatte ich von damals angefangen nie mehr und konnte es nicht haben. Ich war das geworden, was man einen Wüstling

nennt.

134 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Vorläufig kommen wir zu folgendem Schlusse: ein un- persönliches Verhältnis zur Frau macht den Menschen zum Wüstling, d. h. es drängt aus allen manigfaltigen Beziehungen zu sehr die Sinnlichkeit auf Kosten der Zärtlichkeit hervor. Später ergibt sich, daß im Vergleich mit anderen Kameraden Posdnyschew kein Wüstling im vollen Sinne dieses Wortes war.

„So lebte ich bis zu 30 Jahren, keinen Augenblick verließ mich

die Absicht, zu heiraten und mir das höchste, reine Familienleben ein- zurichten, und darum suchte ich ein zu diesem Ziel passendes Mädchen.“

Hier ist schon eine erste Inkonsequenz: die Auswahl des Mädchens zur Ehe wird rationalistisch begründet, ob- gleich man aus den früheren Worten Posdnyschews den Schluß ziehen könnte, daß diese Wahl einer „zufälligen“ Wirkung des Mädchens auf die Sinnlichkeit überlassen werden soll.

„Endlich fand ich ein Mädchen, das ich meiner würdig schätzte ..... Eines Abends saß ich neben ihr und bewunderte ihre schlanke Gestalt im enganliegenden Jersey, ihre Locken, und entschied plötzlich, sie sei es.... Nach einem in ihrer Nähe zugebrachten Tag sehnte ich mich nach noch größerer Annäherung.“

Von diesem Augenblicke an basiert Posdnyschews Fr- zählung auf der Überzeugung, daß die Wahl seiner Braut auf Grund der Sinnlichkeit geschehen sei. Wie wir uns überzeugen konnten, spielten aber bei dieser Wahl auch rationalistische Rücksichten mit.

Mit der ganzen Kraft der Tolstoischen Sprache wendet sich Posdnyschew gegen die Mütter und Mädchen, welche Bräutigame fangen. Er vergleicht diese Tätigkeit mit Auf- stellen von Fallen, in denen die Verführungen, die die Sinnlichkeit der Männer erregen, als Lockung dienen:

„Die Frauen wissen sehr gut, daß die allerhöchste, die poetische Liebe, wie wir sie nennen, nicht von inneren Vorzügen abhängt sondern

Der Seelenkonflikt 135

von der physischen Annäherung und dabei von der Frisur, von der Farbe, dem Schnitt des Kleides.... Die Kokette hat es in ihrem klaren Bewußtsein, jedes unschuldige Mädchen weiß es unbewußt, wie es die Tiere wissen. Davon kommen diese Jersey, diese Tournüren, diese nackten Schultern, Arme, fast die Brüste.... Lauter Toleranz- häuser... .. Sie sagen, daß die Frauen in unserer Gesellschaft andere Interessen haben als die Mädchen in den Toleranzhäusern, ich aber sage nein, und werde es beweisen. Wenn die Menschen verschiedene Lebensziele verfolgen und ein anderes inneres Leben führen, so muß sich dieser Unterschied jedenfalls auch im Äußeren ausdrücken, auch ihr Äußeres muß verschieden sein. Nun aber sehen Sie jene unglück- lichen Verlorenen an und dann die Weltdamen der höchsten Stände. Es sind dieselben Gewohnheiten und Gebärden, dieselben Parfums, die- selbe Entblößung der Arme, der Schultern, der Busen, dieselben glatt anschließenden Kleider, die das Hinterteil hervortreten lassen, dieselbe Leidenschaft für Edelsteine, für glänzende Schmucksachen, dieselbe Gier nach Unterhaltung, Tanz, Musik und Gesang. Die einen wie die anderen suchen mit allen Mitteln zu verführen. Es ist kein Unterschied vor- handen. Will man strenge Worte gebrauchen, so muß man sagen, daß die Prostituierte für den Augenblick gewöhnlich verachtet, die Pro- stituierie auf Lebenszeit dagegen verehrt wird.“

„Die Frauen haben aus sich solch ein Werkzeug für die Einwir- kung auf die Sinnlichkeit zusammengestellt, daß kein Mann ruhig mit einer Frau verkehren kann... Wie nur der Mann sich einer Frau nähert, sogleich verfällt er ihrem Gift und wird wie verrückt. Und früher wurde mir immer unheimlich, seltsam zu Mute, wenn ich eine aufgeputzte Frau mit rotem Kopftuch und aufgebauschten Unterröcken oder unsere Damen im Ballstaat sah. Jetzt aber ist mir der Anblick geradezu schrecklich, ich sehe etwas Gefährliches und Gesetzwidriges darin und fühle das Verlangen, die Polizei zu rufen, um die Ursache

der Gefahr entfernen zu lassen.“

Wenn Tolstoi auf seinen schwachen Punkt, die Ver-

drängung der Sinnlichkeit gelangt, so läßt ihn sein Künstler- genie im Stich und er wird zum Moralisten, dessen Fehler

evident sind. So geschieht es auch hier.

136 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Posdnyschew beschreibt seine sinnliche Reizung beim Verkehr mit seiner Braut und plötzlich fängt er an, sie durch Quantität und Qualität der Bestandteile der Speisen zu erklären. Nach langweiligen Berechnungen, welche Speisen der Bauer braucht, sagt Tolstoi, daß dies für den arbeitenden Bauer ganz natürlich sei. Die gleiche oder sogar noch reichere Nahrung, ruft aber beim Müßigen Sexualerregungen hervor.

„Im Wesen war diese meine Liebe das Werk einerseits der Tätig- keit der Mama und der Schneider, anderseits des Überschusses der von

mir verschlungenen Nahrung bei müßigem Leben .... Wozu führt das? Zu sinnlichen Exzessen. Und wenn es dazu kommt wird das Sicher- heitsventil geöffnet und alles ist in Ordnung. Aber schließen Sie

einmal das Ventil, wie ich es vor meiner Heirat zuweilen versuchte, und sogleich entsteht eine Aufregung, welche, angefacht durch Romane, Gedichte, Lieder, durch unser müßiges, luxuriöses Leben, eine Verliebt- heit erster Sorte hervorruft.“

Also verneint Posdnyschew die ideale Liebe, indem er behauptet, es sei alles nur Sinnlichkeit. So wird die ideale Liebe zur sinnlichen reduziert und die sinnliche zur Nahrung. Am Ende könnte man denken, daß Fleisch, Kaffee usw. eine Selbstaktivität besitzen, während unser Ich ganz passiv und unser ganzes Leben und Treiben nur ein Spiel der Speisen ist.

Posdnyschew heiratet in folgender Gemütsstimmung: 1.) Seine Frau muß eine Vollkommenheit sein. „Meine Frau sollte ein Inbegriff aller Vollkommenheiten sein, unsere gegen- seitige Liebe sollte erhaben und die Reinheit unseres Familien- lebens so fleckenlos wie das der Tauben sein.“ 2.) Seine Braut reizte ihn sinnlich. 3.) Die Sinnlichkeit ist etwas Abscheu- liches. Darauf könnte man erwidern, daß Posdnyschew die Grundbedeutung der Sinnlichkeit und ihre Abscheulichkeit erst nach dem Mord verstanden hat. Dem ist aber nicht so, wie gleich evident sein wird.

Der Seelenkonflikt 137

„Nun, so haben sie mich gefangen. Ich war verliebt, wie man sagt... . Die Zeit der Brautschaft dauerte nicht lange, ich kann jetzt nicht ohne Beschämung an dieselbe zurückdenken! Welche Abscheulich- keit! Man versteht unter der Liebe etwas Geistiges, nicht etwas Sinn- liches. Aber wenn die Liebe geistig ist, so muß sich in Worten und Gesprächen diese geistige Gemeinschaft äußern. Doch nichts davon war bei uns zu finden. Wenn wir allein waren, fiel es uns entsetzlich schwer zu sprechen. Was für eine Sisyphusarbeit! Kaum hatte man etwas er- dacht, was man sagen wollte, so war es schon ausgesprochen, und wir schwiegen wieder, um etwas neues zu erdenken. Wir hatten nichts zu sprechen ....... Und dabei noch diese widerliche Naschhaftigkeit, Konfekte, diese grobe Gier nach Süßigkeiten und die Vorbereitungen zur Hochzeit.”

Wir finden hier keine Ahnung von Zärtlichkeit, vollständiges Fehlen von Gefühlen des Naheseins, des Teuerseins u. dgl.

„So heiraten alle, so heiratete auch ich und es begann der so viel gerühmte Honigmonat. Der Name allein, wie gemein er schon ist!.... Der Honigmonat bietet nicht das geringste Entzücken, im Gegenteil, er ist unangenehm, beschämend, häßlich, kümmerlich und vor allem langweilig, ganz unglaublich langweilig. Das ist etwas der Art, was ich fühlte, als ich rauchen lernte, wenn ich den Reiz empfand, mich zu erbrechen, den Speichel hinabschluckte und mich anstellte, als ob es sehr angenehm sei. Der Genuß beim Rauchen ist ganz ebenso wie dabei wenn er wirklich kommt, so kommt er erst später, vor- her müssen die Ehegatten sich zu diesem Laster erziehen, um später Genuß daran zu finden. ‚Wieso Laster?‘ sagte ich. ‚Sie sprechen ja von der allernatürlichsten Sache.‘ ‚Von der natürlichsten,‘ sagte er, ‚natür- lichsten? Nein, ich sage Ihnen, ich bin im Gegenteil zur Überzeugung gekommen, daß das widernatürlich ist.‘“

Da Posdnyschew die Sinnlichkeit so energisch verneint, sollte er natürlich die Vernichtung des Menschengeschlechtes predigen. So ist es auch.

„Was für ein Geschreil Daß nicht das Menschengeschlecht auf- höre zu existieren, wenn ein paar Dutzend aufhören wollen, Schweine zu sein.... Warum soll es sich fortpflanzen, das Menschengeschlecht? .... Das Ziel des einzelnen Menschen, wie der Menschheit überhaupt, ist das Glück. Zur Erreichung des Glückes ist den Menschen das Gesetz

138 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

gegeben, das sie befolgen sollen. Das Gesetz verfolgt die Einigung der Menschheit. Diese Eintracht wird jedoch durch die Leidenschaften ver- hindert. Die stärkste aller Leidenschaften aber ist die sinnliche Liebe. Wenn also die Leidenschaften, und besonders die stärkste derselben, die sinnliche Liebe, vernichtet werden, so vollzieht sich die Einigung, die Menschheit hat das Gesetz erfüllt und hat keinen Grund mehr zu leben. ... Alle Religionen sagen ein Ende der Welt voraus und auch nach den Lehren der Wissenschaft ist dasselbe unvermeidlich. Was liegt also Sonder- bares darin, daß auch die Lehren der Moral zu demselben Ende führen ?

„Wenn aber der Mensch wie in unserer Gesellschaft nur nach sinnlicher Liebe strebt, und wenn er sie auch einhüllt in die schein- bar moralische Form der Ehe, so ist diese doch nichts anderes als die Erlaubnis zur Ausschweifung mit einer und derselben Frau sie ist doch nur ein sittenloses Leben, in welchem ich versank und in welches ich auch sie hinabzog und das wir moralisches Familienleben nennen .„... Ich begriff nicht, daß die Worte des Evangeliums, daß derjenige, der eine Frau mit Begierde ansieht, schon mit ihr die Ehe gebrochen hat, sich nicht nur auf fremde Frauen beziehen, sondern hauptsächlich auch auf die eigene Frau.“

Also erkennt Tolstoi als Ideal die vollständige Enthaltsam- keit, die Keuschheit an. Und nur der Unmöglichkeit, die Keuschheit im Leben durchzuführen, nachgebend, willigt er in eine gefühllose Verbindung mit der Ehefrau ein. Mit anderen Worten, er verbannt die extra-genitale Sinnlichkeit gänzlich und läßt nur das Minimum der genitalen Sinnlichkeit übrig, indem er letztere auf einen fast mechanischen Akt herabsetzt. Das ist aber eine Reductio ad absurdum! Begehren ohne Begierde. Tolstoi hat nicht Mut genug, die Vernichtung der Menschheit aufrichtig zu predigen.

Einen schönen Honigmonat von einem Menschen zu erwarten, der an Sinnlichkeitsverdrängung leidet, ist kaum möglich! „Wie sehr ich mich auch bemühte einen Honigmonat zu verleben, es mißlang ....

Je mehr ich mich bemühte, desto weniger gelang es. Die ganze Zeit war häßlich, beschämend und langweilig, bald aber wurde es auch

Der Seelenkonflikt 139

peinlich und unerträglich. Ich glaube, am dritten oder vierten Tag traf ich meine Frau in tiefer Betrübnis. Ich fragte sie nach dem Grunde, umarmte sie, was nach meiner Überzeugung alles war, was sie wünschen konnte, aber sie machte sich los und brach in Tränen aus. Worüber ? Sie wußte es nicht zu sagen, aber sie war betrübt und schwermütig.... Ich bestürmte sie mit Fragen, und sie antwortete, sie sehne sich nach ihrer Mutter. Dies schien mir nicht die Wahrheit zu sein. Ich suchte sie zu trösten, sprach aber kein Wort von ihren Eltern. Ich begriff nicht, daß sie ganz einfach betrübt und die Erwähnung ihrer Mutter nur ein Vorwand war. Sie hörte mich nicht an. Dann nannte ich sie launisch und spottete über ihre Schwermut. Da plötzlich versiegten ihre Tränen und sie warf mir mit den heftigsten Worten grausamen Egoismus vor. Ich blickte sie erstaunt an, ihre Miene drückte nur Zorn aus und dieser Zorn galt mir. Ich kann das Entsetzen nicht beschreiben, das ich bei diesem Anblick empfand. Wie? Was ist das? dachte ich. Liebe ein Herzensbund und dabei dieser Abscheu vor mir! Was ist das? Warum? Das ist nicht möglich! Sie ist nicht mehr dieselbe. Ich versuchte, sie zu besänftigen, aber ich stieß auf eine so unerschütterliche Mauer, auf kalte, giftige Feindschaft, daß mich plötzlich ein Grimm er- faßte, und wir warfen uns eine Menge Bosheiten an den Kopf. Der Eindruck dieses ersten Streites war entsetzlich. Ich nenne das einen Streit, es war nur die Offenbarung jenes Abgrundes, welcher in Wirklichkeit zwischen uns lag. Mit der Befriedigung der Sinnlichkeit verschwand die Liebe, und wir beide standen einander gegenüber in unserer wahren Gestalt, das heißt als zwei einander vollkommen fremde Egoisten, welche so viel Vergnügen als möglich sich durch den anderen verschaffen wollten, zwei Menschen, welche sich gegenseitig auszubeuten suchten. Was ich Streit genannt habe, war unsere wirkliche Stellung zueinander, wie sie sich bei dem Schwinden der Sinnlichkeit zeigte.”

Die beschriebenen Szenen deuten auf vollständiges Fehlen von zärtlichen Regungen. Die Sexualität, der keine zärtliche Strömung zugänglich ist, erreicht dadurch starke Steigerung der Sinnlichkeit (nach der Analogie zweier 'kommuni- zierender Röhren) und regrediert hier zu ihrer Urquelle:

dem primären Sadısmus resp. dem Kannibalismus.

140 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Es folgen neue Zänke. „Ich wurde zornig, warf ihr Mangel an Zartgefühl vor. Sie antwortete mit gleichen Vorwürfen, und so begann die Geschichte von neuem. In ihren Worten, in dem Ausdruck ihres Gesichtes und in ihren Blicken sah ich wieder denselben Haß, der mich früher schon so sehr in Erstaunen versetzt hatte. Es war früher vor- gekommen, daß ich mit meinem Bruder, mit meinen Freunden, sogar mit meinem Vater gestritten hatte, aber niemals hatte sich zwischen uns diese giftige Bosheit gezeigt, welche ich jetzt bemerkte.“

„Unsere Streitigkeiten entstanden aus so nichtigen Veranlassungen, daß es nachher, wenn sie wieder beigelest waren, unmöglich war, sich darauf zu besinnen. Der Verstand war nicht imstande, der be- ständig zwischen uns schwebenden Feindschaft genug Gründe zu liefern. Wie es bei der heiter lachenden Jugend vorkommt, daß sie sich nichts Lächerliches zu erdenken weiß, um darüber zu lachen und daher über ihr eigenes Gelächter lacht, so vermochten auch wir keine Gründe für unseren Haß zu finden und verabscheuten einander ganz einfach deshalb, weil wir in unseren Herzen Abscheu gegeneinander hegten. Aber noch erstaunlicher waren die Nichtigkeiten, welche den

Vorwand zur Versöhnung lieferten. Zuweilen waren es Worte, Auf-

klärungen, sogar Tränen, zuweilen aber und ich erinnere mich immer mit Abscheu daran trat nach den heftigsten Reden plötzlich Schweigen ein, es folgten Blicke, Lächeln, Küsse, Umarmungen. Pfui,

wie erbärmlich! Wie ist es möglich, daß ich diese ganze Kläglichkeit nicht einsah ?“

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Posdnyschews Sinn- lichkeit ausgeprägt sadistische Züge trägt."

ı) Einen ähnlichen sexuellen Haß beschreibt Tolstoi im „‚Knabenalter“. „Ja, das war ein echtes Haßgefühl, nicht derjenige Haß, über den man nur in Romanen schreibt und an den ich nicht glaube, der Haß, der Genuß findet im Verursachen von Übel. Es war ein Haß, der unüberwindlichen Abscheu gegen den Menschen einflößt, welcher dennoch Ihre Achtung verdient, Ihnen sein Haar, seinen Hals, seinen Gang, den Klang seiner Stimme, alle seine Glieder, seine Bewegungen widrig macht; zugleich zieht er Sie mit einer un- erklärlichen Kraft an und zwingt Sie mit unruhiger Aufmerksamkeit seinen geringsten Handlungen zu folgen.“ Noch bestimmter drückt den libidinösen Charakter des Hasses Lermontow aus: „Ich liebe meine Feinde, obgleich nicht nach christlicher Art. Sie belustigen mich, regen mir das Blut auf. Immer auf der Wache stehen, jeden Blick fangen, den Sinn jedes Wortes, die Absichten erraten....‘“ Diese anziehende Wirkung des Haßobjektes stellt eben das sexuelle Stigma des Hasses dar.

Der Seelenkonflikt 141

Posdnyschew betrachtet es auch als Verbrechen, daß der ehe- liche Verkehr fortdauerte, als die Frau schwanger wurde. „Man braucht nur zu denken, was für ein Wunder in einer Frau vorgeht, wenn sie Mutter wird.“ Posdnyschew meint, daß alles Unheil davon kommt, daß man die Frau als Genußmittel betrachtet. Er fordert, daß diese Ansicht über die Frau geändert werde. Die ganze Frauenfrage liege nur darin, meint er. Er spricht ferner von der Eifersucht. „Ich will nicht von jener wirklichen Eifersucht sprechen, welche mehr oder weniger berechtigt ist.... Aber ich spreche von jener unbestimmten Eifersucht, welche die unvermeidliche Begleiterin jener unmoralischen Ehen ist und welche keine Ursache und daher auch kein Ende hat.... Diese Eifersucht ist entsetzlich, ganz entsetzlich!.... während der ganzen Zeit meiner Ehe habe ich fortwährend daran gelitten.“

So verläuft das Familienleben in ewigen Streitigkeiten, Szenen, Eifersucht. In 8 Jahren hat die Frau 5 Kinder. Die Kinder belästigen Posdnyschew sehr.

„Sie erkrankte und die schurkischen Ärzte verboten ihr zu ge- bären und gaben ihr ein Mittel dagegen .... Die letzte Entschuldigung für unser schweinisches Leben die Kinder verschwand, und unser Dasein wurde noch häßlicher..... Das Mittel der schurkischen Ärzte begann augenscheinlich zu wirken, sie erholte sich und verschönerte sich wie ein freundlicher Nachsommer. Sie bemerkte das und beschäftigte sich mehr mit ihrer Person .... Sie stand in der vollen Kraft einer dreißigjährigen, nicht gebärenden, wohlgenährten, sinnlichen Frau. Ihre Erscheinung flößte eine Art von Unruhe ein, wie ein feuriges Pferd,

welches lange gestanden hat und eingespannt wird, und welchem man .., Wenn sie an Männern vorüberging,

-, Mehr und mehr beschäftigte sie sich mit ihrer eigenen Person .... Sie spielte wieder mit Vergnügen Klavier, das sie bisher ganz vernachlässigt hatte. Damit fing die ganze Geschichte an. Dann erschien dieser Mensch .... Er war ein Musiker, ein Geiger,

halb Musiker von Profession, halb ein Mitglied der Gesellschaft.

e Streitigkeiten hatten in letzter Zeit eine schreckliche Heftig- r, sie wechselten

Vor jener Kata-

die Zügel abgenommen hat..

zog sie deren Blicke auf sich...

„Unser keit angenommen und, was besonders erstaunlich wa ab mit ebenso heftiger, tierischer Leidenschaft... » strophe, mit der ich ein Ende machte, war ich mehrmals dem Selbstmord

142 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

nahe, und sie machte auch einen Versuch, sich zu vergiften.... Als dieser Herr nach Moskau kam, sein Name war Truchatschewsky besuchte er mich eines Vormittags .... Aber seltsam, eine merk- würdige, unheimliche Kraft veranlaßte mich, ihn nicht abzustoßen, sondern im Gegenteil ihn anzuziehen .... Ich litt entsetzlich unter der Eifersucht, obgleich oder vielleicht gerade weil eine unbekannte Gewalt mich gegen meinen Willen veranlaßte, nicht nur höflich sondern sogar besonders liebenswürdig gegen ihn zu sein.... Ich mußte ihm schmeicheln, um nicht von dem Verlangen überwältigt zu werden, ihn zu ermorden.“

Posdnyschews Verhältnis zu Truchatschewsky war ambi- valent. Woher kommt aber die positive Seite dieses Ver- hältnisses? Wahrscheinlich hatte Posdnyschew den unbewußten Wunsch, daß Truchatschewsky mit seiner Frau in intime Beziehung trete, damit sein Familienleben auf die übliche polygame Bahn gelange. Zugleich wird die sadistische Stre- bung bei Posdnyschew wach.

„Ich empfand ein heftiges Verlangen, sie (d. h. die Frau) zu schlagen, zu erwürgen....“

Posdnyschews Frau und Truchatschewsky musizieren miteinander; unter anderem die Kreutzer-Sonate von Beethoven. „Die Sonate ist schrecklich ./... Überhaupt die Musik ist etwas Schreckliches.. Warum ? Das weiß ich nicht. Was ist die Musik? Was bewirkt sie? Und wozu bringt sie hervor, was sie bewirkt? Man sagt, die Musik wirke erhebend auf die Seele. Unsinn! Lüge! Sie wirkt schrecklich ich spreche von mir selbst aber durchaus nicht erhebend. Sie wirkt nicht erhebend und nicht erniedrigend sondern erschütternd auf das Herz .... Die Musik versetzt mich unmittelbar in jenen Seelenzustand, in dem sich derjenige befand, der sie komponierte, meine Seele vereinigt sich mit der seinigen und gemeinsam mit ihr schwebt sie aus einer Stimmung in die andere. Warum aber? Das weiß ich nicht. Der Komponist der Kreutzer-Sonate, Beethoven, wußte, warum er sich in dieser Stimmung befand. Diese Stimmung lenkte seine Tätigkeit und darum hatte sie für ihn einen Sinn, für mich aber ganz und gar nicht. Und darum bringt

‚die Musik nur eine Aufregung ohne bestimmtes Ziel hervor. Wird ein

Der Seelenkonflikt 143

Marsch gespielt, so marschieren die Soldaten im Schritt, bei den Klängen eines Tanzes wird getanzt, wird eine Messe gesungen, so verrichtet man seine Andacht, in jedem Falle hat die Musik einen bestimmten Zweck erfüllt.... Hier aber entsteht nur Aufregung, welche keinem Zweck entspricht, und deshalb ist die Musik so schrecklich und hat oft so ge- fährliche Wirkungen .... Nehmen wir zum Beispiel diese Kreutzer- Sonate, das erste Presto! und es gibt noch viele solcher Stücke. Darf man etwa solche in einem Salon, inmitten von dekolletierten Damen, oder in Konzerten spielen, und dann nach dem Beifallklatschen ein anderes Stück folgen lassen? Solche Stücke darf man nur unter ge- wissen, bedeutsamen Umständen spielen, wenn es sich darum handelt, eine wichtige, dieser Musik entsprechende Tat zu vollbringen. Aber einen Sturm von Gefühlen hervorzurufen, welche weder dem Ort noch den Zeitumständen entsprechen und in nichts ihre Betätigung finden können, das kann nur verderblich wirken.“

Posdnyschew verreist in Dienstangelegenheiten in seinen Verwaltungs- bezirk. Dort erhält er einen Brief, in dem seine Frau erwähnt, daß Truchatschewsky sie in seiner Abwesenheit einmal besuchte. Posdnyschew ist überzeugt gewesen, daß Truchatschewsky in seiner Abwesenheit sein Haus nicht besuchen werde. Diese Nachricht ruft einen starken Eifer- suchtsanfall hervor. Posdnyschew schiebt alle seine Beschäftigungen bei- seite und fährt nach Hause. Er kommt um ein Uhr nachts nach Hause und trifft seine Frau mit Truchatschewsky beim Abendessen. Posdnyschew tritt in das Zimmer mit der Absicht, die beiden zu töten. Zu diesem Zweck hält er hinter seinem Rücken einen Dolch verborgen. „Ich erinnere mich nur des Ausdrucks ihrer Gesichter, als ich die Tür öffnete. Ich erinnere mich deshalb daran, weil mir dieser eine schmerzhafte Freude gewährte. Es war der Ausdruck des Schreckens, wie ich ihn gewünscht hatte... .. Wieder empfand ich das Bedürfnis nach einer Gewalttat und gab mich dem Entzücken der Wut hin... .“ Truchatschewsky ver-

schwindet und Posdnyschew tötet seine Frau. Wir müssen in der Kreutzer-Sonate zwei Seiten unter-

scheiden: 1.) Die künstlerische Seite. Da haben wir eine

psychologisch scharfsinnige und malerische Beschreibung des

144 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

dramatischen Erlebnisses eines Menschen, der außerordentlich sinnlich veranlagt ist, mit Neigung zu Sadismus, der aber zugleich seine Sinnlichkeit verdrängt. Es ist ein Drama der mißlungenen Verdrängung. Die verdrängte Sinnlich- keit hat in der Mordtat die Befriedigung gefunden.

2.) Die moralisierende Seite. Hier finden wir auch wichtige und interessante Fragestellungen, da sich das ganze Drama auf der Basis des gegenwärtigen, verfallenden Familien- lebens abspielt. Der Hauptgedanke der Erzählung aber, näm- lich daß die absolute Keuschheit oder mindestens die Askese im Eheleben als Ideal der Menschheit gelten soll, ist aus der Handlung nicht abzuleiten. Posdnyschews Drama ist ein Verdrängungsdrama, ein Sonderfall des Sexuallebens. Aus diesem Sonderfall einen allgemein-gültigen Schluß zu ziehen, ist unerlaubt. Nicht jeder, nicht einmal die Mehrzahl hat Ekelgefühle beim Gedanken an die Flitterwochen. Diese Er- zählung rechtfertigt keineswegs die Askese, sondern im Ge- genteil die Sinnlichkeit. Wenn Posdnyschew keinen so starken Kampf gegen seine Sinnlichkeit geführt hätte, so hätte sein ganzes Leben einen anderen Charakter und es fände kein Mord statt.

Tolstoi, der Moralist, verneint, haßt und verdrängt die Sexualität. Tolstoi, der Künstler, zeigt uns die volle Macht der Sexualität, die keine echte Verdrängung ohne Suhbli- mierung zuläßt. Tolstois Helden kämpfen gegen die Sexuali- tät zu Gunsten des Ichideals, nicht wegen der überpersön- lichen Ziele. Das verbirgt aber einen inneren nicht zu über- windenden Widerspruch: Jedes Ideal hat Anspruch auf Voll- kommenheit, aber der Mensch ohne Sexualität in direkter oder sublimierter Form ist kein Mensch mehr, sondern ein Krüppel.

Der Seelenkonflikt 145

Die Kreutzer-Sonate ist in gewisser Beziehung eine Psycho- analyse, da alle Erlebnisse auf das elementare Triebleben, im besonderen auf das Sexualleben reduziert werden. Nur ist die Psychoanalyse tendenzfrei, hält sich von jeder Wertung fern. „Die Psychoanalyse will nichts anderes als Zusammenhänge aul- decken, indem sie Offenkundiges auf Verborgenes zurückführt.“' Die Tatsache, daß die ideale Liebe ihrer Herkunft nach sinnliche Liebe ist, sagt noch absolut nicht, daß die ideale Liebe deshalb jeden Wert verliert. Die Herkunft als solche entwertet die Er- scheinung nicht. Wir können nur sagen, daß die Sexualität als solche kein Wertphänomen darstellt, sondern einfach ein Faktum ist. Diese Meinung spricht auch Posdnyschew im Anfange seiner Erzählung aus, dann aber vergißt er sie gänzlich. Diese Ansicht wurde schon von Plato” ausgesprochen und neuerdings von Rickert? erläutert. Die Instinkte sind wertindifferent, wir können nicht sagen, ob es gut oder schlecht ist, sich zu ernähren, das ist conditio sine qua non des Lebens und nichts weiter.

Tolstoi kommt in seinem Verdrängungseifer zu einem evident absurden Schluß, indem er behauptet, daß die Natur selbst das Sexuelle als etwas Schweinisches brandmarkt. Jede Sexualitätsverneinung ist eine Kulturerscheinung. Die Ver- drängung der Sinnlichkeit ist ein allgemeines Kulturleiden, sie charakterisiert das Liebesleben des Kulturmenschen.“

Es ist noch zu bemerken, daß Tolstoi sehr oft den Kampf mit den Naturgesetzen mit dem Kampf um die hygienischen Regeln verwechselt.

Soviel über die Kreutzer-Sonate. re

ı) Freud, Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebesleben. Vierte Folge. L. c. S. 224

2) „Gastmahl.‘“ Die Rede des Pausanias.

3) „Lebenswerte und Kulturwerte.‘“ Logos.

4) Freud, Über die allgemeinste Erniedrigung

U L —— nn

des Liebeslebens. L. c.

10 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

146 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Welche Hinweise auf Tolstois psychosexuelle Konsti- tution sind nun in den Erzählungen „Der Teufel“ und die „Kreutzer-Sonate“ enthalten.

1.) Die Kreutzer-Sonate belehrt uns, daß Tolstoi sadistische Neigungen hat. Das fügt sich ganz gut zu unserer Ver- mutung, daß bei Tolstoi die anal-sadistische Phase in der Kinderzeit stark ausgeprägt war. Im weiteren Leben mani- festierte sich der Sadismus in Selbstquälerei. Wie Meresch- kowski ganz richtig bemerkt, ist Tolstois „Beichte“ eine moralische Selbstgeißelung.

2.) Tolstois Familienleben entsprach, seinem psycholo- gischen Charakter nach, dem Verhältnis Eugens zu Lisa. Es fehlte die eigentliche Sinnlichkeit. Es fehlte die Rosine. Es versteht sich von selbst, daß die Tatsache, daß die Familie Tolstoi ı3 Kinder erzeugte, nicht dagegen spricht. Die Sinnlichkeit war, wenigstens in Phantasien, auf Objekte von niederem Stande gerichtet. Vielleicht war dieser Umstand eine der Ursachen von Tolstois Neigung zur Verein- fachung, zum Volke? Tolstois heteroerotische Libido war zu stark an die Mutter-Imago (und Schwester?) fixiert, darum stellte er große Forderungen an seine Frau. „Meine Frau sollte ein Inbegriff aller Vollkommenheiten sein.“ (Kreutzer- Sonate). Ähnliche Forderungen finden wir in den anderen dichterischen Werken Tolstois, wie auch in seiner Biographie. Die Fixierung an zwei Mutter-Imagines hatte zur Folge, da Tolstoi immer zwei Lebensweisen hochschätzte. Die zweite Mutter ist etwas sehr gutes, aber die erste ist viel- leicht noch besser. Und Tolstoi hatte immer zwei Lebens- ansichten: gut ist ein unmittelbares, unreflexiertes, sinnliches Leben, das Naturleben, aber gut ist auch ein ideales, alle Sinnlichkeit verdrängendes Leben.

Der Seelenkonflikt | 147

5.) Starke Verdrängung der Sinnlichkeit führte dazu, daß auch die Musik, die Poesie, die Dichtung verdrängt wurden. Von der Musikverdrängung war schon oben die Rede. Posdnyschews Ansichten können wir auch Tolstoi selbst zuschreiben, weil Tolstoi sie in seinem Nachworte zu der Kreutzer-Sonate in seinem eigenen Namen wiederholt.

„Wein, Weib und Gesang! sagen die Poeten. Betrachten Sie einmal die ganze Poesie, die ganze Malerei und Skulptur mit diesen nackten Statuen der Venus und Phryne, und Sie sehen, daß die Frau ein Genußmittel ist.“ Tolstoi verneint die Dichtung, weil sie dank ihrer Fähigkeit, die Sinnlich- keit hervorzurufen, gefährlich sei. Die verneinende Beziehung zur Wissenschaft hat auch in der Sinnlichkeitsverdrängung eine ihrer Wurzeln. Kurz und gut, alles unterliegt der Ver- drängung, was die Sinnlichkeit erregen kann: Konfekt, zu reiche Nahrung, Tanz, Musik, Dichtung. Tolstois Verdrängung trägt den Charakter der Angsthysterie. Zuerst besetzt er ebenso wie seinen eigenen Körper, so auch den fremder Per- sonen mit Libido. Siehe die erotische Schaulust in der zweiten Erinnerung. Und nicht nur das Körperliche, sondern sogar die Damenkleider ziehen sein Interesse an. Tolstois Verwandter, Fürst D. D. Obolenskii, erzählt: Ich erinnere mich seiner als „homme du monde“, als ich ihn noch auf Bällen sah, und ich erinnere mich einer Bemerkung von ihm: „Sehen Sie doch, wieviel Poesie in der Ballrobe einer Frau liegt,

wieviel feiner Geschmack, wieviel Denken und Herrlich-

keit schon allein in den Blumen, die ans Kleid gesteckt sind.“! Nachher unterliegt das Körperliche der Verdrängung. Der Verdrängung unterliegt nämlich der Affektbetrag, die

ı) Birjukow, II, 289.

148 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

Affekt verwandelt sich in Angst. Die Angst bezieht sich auf das Körperliche, wie wir das in der Kreutzer-Sonate sehen (ähnliche Erlebnisse finden wir auch in der „Auferstehung‘“). So eine Verdrängung können wir als eine wirklich miß- glückte betrachten. In weiterer Entwicklung kommt es „zur Bildung eines Fluchtversuches, der eigentlichen Phobie, einer Anzahl von Vermeidungen, welche die Angstentbindung aus- schließen sollen“)." Man kann sagen, daß aller moralisierenden Tätigkeit Tolstois eine echte Phobie vor dem Sinnlichen zugrunde liegt.

So verwandelt sich der Liebling in den Feind. In seinen dichterischen Phantasien tötet Tolstoi seinen Feind die Sinnlichkeit in der Person von Stepanida und Posdny- schews Frau, im Leben strebt er in seinen Moralschriften gleichfalls die Ausrottung der Sinnlichkeit an.

Wir wollen jetzt in groben Zügen den Entwicklungs- gang der heteroerotischen Libido Tolstois skizzieren.

1.) Zuerst herrscht die mannigfaltige Sinnlichkeit (zweite Erinnerung) und Zärtlichkeit, die an die erste Mutter fixiert ist.

2.) Die Libido besetzt zugleich das Idealbild der ersten Mutter und die zweite Mutter.

3.) Es etabliert sich die anal-sadistische Organisation.

4.) Es findet die Verdrängung der Sinnlichkeit statt (vierte Erinnerung). Als Resultat dieser Verdrängung bildet sich der Analcharakter aus. (Ordentlich, sparsam, eigensinnig.)

5.) In der Beziehung zu Katinka haben wir den ersten Durchbruch der Sinnlichkeit. („Die Verdrängung ist mobil“ Freud) und die erste Aufwendung von Zärtlichkeit für ein fremdes Objekt (d. h. nicht die Mutter).

ı) Freud, Die Verdrängung. Vierte Auflage. L. c.

Der Seelenkonflikt 149

6.) Die Sexualität wird gespalten: die sinnliche Strömung verdrängt, die zärtliche auf Sonitschka gerichtet.

7) Zur Zeit der Pubertätsreife wird die Verdrängung besonders evident: die Sinnlichkeit gehört Mascha, wird aber verdrängt. Auf ihre Kosten entwickelt sich die Neigung zum Philosophieren, die Grübelsucht.

8.) Die Spaltung tritt klar zu Tage: die Sinnlichkeit gehört teilweise den niederen Objekten (Marianka in der autobiographischen Erzählung „Kosaken“ und etliche Weiber überhaupt), teilweise in gehemmter Form den Gesellschafts- damen (Siehe die im Kap. V erwähnten Romane). Die Zärt- lichkeit bleibt an die Mutter fixiert. Und doch wird die Sinnlichkeit nicht in den Verhältnissen mit niederen Objekten erschöpft. Sie wird teilweise sublimiert und ihre Energie auf dichterisches Schaffen resp. mannigfaltige Tätigkeit (landwirt- schaftliche, militärische, pädagogische), die mit großem Eifer ausgeführt wird, verbraucht. Zugleich aber wird die ver- drängte Sinnlichkeit als ätiologisches Moment der neurotischen Erscheinungen wirksam (Grübelsucht, Reinlichkeitstrieb, Angst, Schüchternheit und anderes).

9.) Durchbruch der Sinnlichkeit und das nicht lange dauernde Zusammentreffen der sinnlichen und zärtlichen Strömungen in der Beziehung zu Sophia Andrejewna.

10.) Neuerliche Spaltung. Unmittelbare Sinnlichkeit wird nur im Verhältnis zur Frau als genitale Sinnlichkeit manifest. Die extra-genitale wird definitiv und gänzlich verdrängt.

ı1.) Eine Unterbrechung des glücklichen Familienlebens

durch stark ausgeprägte Angstneurose. So schreibt Tolstoi

während der Reise ins Pensensker Gouvernement an Sophia quält mich eine entsetzliche

Andrejewna: „Seit zwei Tagen Arsamas und mir

Unruhe! Vorgestern übernachtete ich in

150 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

passierte etwas ganz Ungewohntes.... Plötzlich überfiel mich eine furchtbare Trauer, Schrecken, ein furchtbares Ent- setzen, wie ich es noch nie verspürt habe.... möge Gott jeden davor behüten.... Ich kann allein sein, wenn ich fortwährend beschäftigt bin, aber ohne Arbeit, wie jetzt, fühle ich, daß ich nicht mehr einsam sein kann.“'

12.) Die Krise. „In einem seiner autobiographischen Werke erklärt Tolstoi selbst, daß es eine eigentliche Krise, eine Umwälzung in seinem Leben gar nicht gegeben habe.“ Das war nur eine starke Aufwallung der Sinnlichkeit und eine dementsprechend starke Verdrängung derselben.

13.) Nachkritische Periode. Die Verdrängung alles Sinn- lichen als ein phobisches Phänomen.

Tolstoi erlebte das Schicksal Eugens und Posdnyschews

darum nicht, weil er seine Sinnlichkeit im Schaffen sublimierte.

ı) Birjukow, II, 93. Die Angstzustände sind außerordentlich scharf- sinnig und malerisch in den „Aufzeichnungen eines Geisteskranken‘“ (aus dem Nachlasse) geschildert.

2) Birjukow, II, zıı.

vu

„DIE AMEISENBRÜDER“ (Das Supra-Ich)

Außer den „Ersten Erinnerungen“ hat Tolstoi noch die „Kindheitserinnerungen“ geschrieben. Dieses Werk ist (1905—1906) den Bitten Birjukows, Tolstois Biographen, zufolge entstanden. Schon aus der Einleitung zu diesen „Kind- heitserinnerungen“ sehen wir, daß sie bei weitem nicht den- selben psychologischen Wert haben, wie die von uns ana- lysierten „Ersten Erinnerungen“. Tolstoi schreibt: „Indem ich meinem Leben diesen Spiegel vorhielt, das heißt, indem ich es vom Standpunkte des Guten und des Übeln, das ich getan hatte, prüfte, sah ich ....“' Das sind keine frei- steigenden Erinnerungen mehr, sondern tendenziöse. „Ich glaube, daß eine solche Autobiographie, wenn auch sehr mangelhaft, den Menschen nützlicher wäre, als all das künst- lerische Geschwätz, mit dem die zwölf Bände meiner Werke erfüllt sind und welchem die Menschen unserer Zeit eine unverdiente Bedeutung beimessen.“” Tolstoi gelang es nicht, seine Absicht auszuführen, er hat nur einige Skizzen niedergeschrieben. Diese Skizzen sind aber dadurch bedeutungs-

2) Birjukow, I, 18.

152 Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

voll, daß sie uns bestimmte Tatsachen vermitteln; auch in psychologischer Beziehung enthalten sie manche wichtige Aufzeichnungen. Ihnen haben wir die Erinnerungen an die Mutter, an Tatjana Alexandrowna und andere entnommen. Außerdem finden sich hier auch Tolstois Erinnerungen an das grüne Stäbchen.

„Ja, der Fanfaronow-Hügel ist eine meiner frühesten, liebsten und wichtigsten Erinnerungen. Mein ältester Bruder, Nikolenka, war sechs Jahre älter als ich. Er war also zehn oder elf, als ich vier oder fünf Jahre alt war. Damals nämlich, als er uns auf den Fanfaronow- Hügel führte. .... Seine Phantasie war so reich, daß er stundenlang Geistergeschichten oder Humoresken nach Art der Mrs. Radcliffe er- zählen konnte, ohne zu stocken oder zu zögern in einem Tone der Wahrhaftigkeit, der ganz vergessen ließ, daß, was er erzählte, Erfindung war.... Eines Tages, als ich fünf, Mitenka sechs und Serjoscha sieben . Jahre alt war, verkündete er uns, er wisse ein Geheimnis, dessen Ent- hüllung alle Menschen glücklich machen würde; es sollte dann weder Krankheit noch Sorgen mehr geben; keiner würde mehr dem andern zürnen; alle würden einander lieben, alle würden ‚Ameisenbrüder‘ werden. Er meinte wahrscheinlich ‚Mährische Brüder‘, von denen er gehört und über die er gelesen hatte. In unserer Sprache aber blieben sie die Ameisenbrüder. [Der russische Ausdruck für Ameise ist Murawei; Mähren = Morawja; daher die Verwechslung.] Und ich entsinne mich, daß uns das Wort Ameise besonders gefiel, weil es uns an die Ameisen in einem Ameisenhaufen erinnerte, Wir erfanden sogar ein Ameisen- brüderspiel, das darin bestand, daß wir unter Stühlen kauerten, hinter Schachteln Schutz suchten, uns hinter Tüchern verbargen und so im Dunkeln, dicht aneinander gedrückt, herumkrochen. Ich weiß noch, daß ich dabei ein besonderes Gefühl der Liebe und Ergriffenheit ver- spürte und dieses Spiel sehr gerne hatte. In die Ameisenbrüderschaft waren wir somit aufgenommen; doch das Hauptgeheimnis, das die Tilgung aller menschlichen Leiden in sich barg, das Ende von Zank und Zorn bringen sollte und das Mittel, unveränderlich glücklich zu werden, dies Geheimnis hatte er, wie er uns sagte, auf ein grünes Stäbchen geschrieben und dieses Stäbchen an der Straße, am Rande eines

a re RES DOSE TREE BE TER EN ERETEE cl Die Ameisenbrüder 153

Abhanges, vergraben. An dieser Stelle möchte ich, da mein Leichnam doch irgendwo ruhen muß, begraben werden in Erinnerung an Nikolenka. Außer diesem kleinen Stäbchen gab es ein anderes Mysterium, einen gewissen ‚Fanfaronow-Hügel‘, auf welchen er uns zu führen versprach, sobald wir die erforderlichen Prüfungen bestanden haben würden. Diese Prüfungen waren: erstens, in einer Ecke zu stehen und nicht an einen weißen Bären zu denken. Ich erinnere mich, wie ich mich in eine Ecke stellte und es versuchte, aber unmöglich vermeiden konnte, an den weißen Bären zu denken. Die zweite Bedingung war, ohne Schwanken eine Bretterfuge am Fußboden entlang zu gehen; und die dritte, leichteste, ein ganzes Jahr lang weder einen lebenden noch einen toten oder ge- bratenen Hasen anzuschauen; außerdem mußten wir uns verpflichten, dieses Geheimnis keinem zu verraten. Wer diese Bedingungen und andere noch schwierigere, die uns Nikolenka später enthüllen wollte, bestand, dessen Wunsch sollte in Erfüllung gehen, was es auch wäre. .... Den tiefsten Eindruck aber hat mir die ‚Ameisenbrüderschaft‘ hinterlassen und das damit zusammenhängende geheimnisvolle grüne Stäbchen, das alle Menschen glücklich machen sollte. Heute nehme ich an, daß Niko- lenka wahrscheinlich von den Freimaurern gelesen oder gehört hatte, von ihren Bestrebungen für das Glück der Menschheit und den geheimnis- vollen Einweihungsriten bei Eintritt in den Orden; er hatte wahr- scheinlich auch von den ‚Mährischen Brüdern‘ gehört und all dies in seiner eifrigen Phantasie, seiner Menschenliebe und Herzensgüte mit- einander vermengt und daraus die Geschichten erdichtet, die ihm selber Freude bereiteten und uns mystifizierten. Das Ideal der Ameisenbrüder, die sich liebend aneinander schmiegen wenn auch nicht unter zwei Lehnstühlen, hinter Vorhängen und Tüchern nein, die ganze Mensch- heit Hand in Hand unter der weiten Himmelskuppel eng vereint, ist für mich stets dasselbe geblieben.!

Zu den „Ameisenbrüdern“ kehrt Tolstoi am Schlusse seiner unvollendeten Skizzen noch einmal zurück:

„Ich will nur von einem Seelenzustand erzählen, den ich mehr- mals in der ersten Kindheit erlebt hatte, und welcher, glaube ich, wichtig,

nn FD EEE EEE Be ı) Tolstois Werke. B. I. Kindheitserinnerungen. Verlag ,„Slowo‘“ (Russ.) Birjukow, I, 85—88.

154 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

wichtiger als viele später erlebten Gefühle war. Es war die erste Liebes- erfahrung, nicht Liebe zu einer Person, sondern Liebe zur Liebe. Liebe zu Gott ein Gefühl, das ich später nur selten aber dennoch empfand, dank der Spur, glaube ich, die in erster Kindheit gebahnt war. Damals war dieses Gefühl folgendermaßen entstanden: wir, besonders ich mit Mitenka und den Mädchen, setzten uns unter Stühle, so dicht wie möglich zu- einander. Diese Stühle verhängten wir mit Tüchern, umzäunten sie mit Kissen und sagten, wir seien Ameisenbrüder, und dabei fühlten wir eine besondere Zärtlichkeit zueinander. Manchmal ging diese Zärtlichkeit in Liebkosungen, in Einanderstreicheln, sich Aneinanderschmiegen über, aber das geschah selten und wir fühlten selbst, daß es nicht das Rechte war und hörten gleich wieder damit auf. Ameisenbrüder zu sein, wie wir es nannten (wahrscheinlich waren es irgend welche Geschichten über die Mährischen Brüder, die durch Nikolenkas Fanfaronow-Hügel zu uns gelangten), bedeutete nur, sich von allen und allem abzusondern und einander zu lieben. Manchmal redeten wir unter den Stühlen dar- über, was und wen ein jeder liebte, was für das Glück nötig wäre, wie wir leben und alle lieben wollten. So weit ich mich entsinne, pflegte dieses Spiel aus dem NReisespiel zu entstehen. Man setzte sich auf Stühle, spannte Stühle an, richtete einen gedeckten Wagen oder ein Kabriolet ein, und eben die im Wagen Sitzenden gingen aus Reisenden in Ameisenbrüder über. Zu ihnen gesellten sich die übrigen. Es war sehr, sehr gut und ich danke Gott dafür, daß ich spielen konnte. Wir nannten es Spiel und dennoch ist alles in der Welt Spiel außer diesem.“! Betrachten wir diese letzte Erzählung von den Ameisen- brüdern etwas näher. Wir finden hier wie in der ersten Erinnerung das Bild, den Seelenzustand, die Beschreibung desselben, und seine Reduzierung auf eine Formel. Außer- dem haben wir hier noch ein Moment mehr, nämlich die Hinweisung auf die Psychogenese dieses Seelenzustandes. Das Spiel selbst gehört in die Gruppe der Phantasie- spiele, denen die introvertierte (d. h. auf die Phantasiebilder

gerichtete) Libido zu Grunde liegt. Außerdem hat an dem

ı) Tolstois Werke. L. c.

Die Urnziienknsier ale a rcEr ee

Reisespiel auch die Muskelerotik Anteil. Das Ganze ist folg- lich ein Sexualerlebnis.

In der Beschreibung des Spieles haben wir vier sukzes- sive Seelenzustände zu unterscheiden. ı.) Ein zärtlich-sinnlicher Sexualzustand. 2.) Der Zustand der Sinnlichkeitsverdrängung. >.) Der Zärtlichkeitszustand. Dieser letztere ruft einen Ver- gleich mit dem Haufen von Hündchen im Uterus der Hündin hervor. Das ist ein primär-narzißtischer Seelenzustand. Das ist kein Spiel mehr oder, richtiger gesagt, noch kein Spiel (Vgl. Kap. V), sondern ein reines Sexualphänomen. Das ist die zeitliche Regression. Dieser Zustand bereitet Genuß, weil er „die sicherste Libidoposition“, den Narzißmus, wieder herstellt. 4.) Dann kommt eine neue Änderung des Seelen- zustandes. Die Zärtlichkeit bekommt ein neues Objekt: ein Idealbild der allgemeinen Menschenliebe, das von Nikolenka den anderen Kindern eingegeben ist. Die verdrängte Sinn- lichkeit wird sublimiert, d. h. ihre Energie wird auf dieses Idealbild gerichtet. Dieses Idealbild ist von außen (von Nikolenka) aufgenötigt.'

Das weitere Schicksal dieses letzten Seelenzustandes, der als Keim zu betrachten ist, kann verschieden sein, je nach- dem, was in der weiteren Entwicklung bevorzugt wird: die Idealisierung oder die Sublimierung. Lenken wir unsere Auf- merksamkeit auf Lewotschka. Wenn wir an dem oben ge- brauchten Vergleich mit den Hündchen im Uterus festhalten, so ist sein Zustand der des Narzißmus. Alle Geschwister

werden dabei in seinem Ich aufgelöst. Das von außen auf- tschka als ein Ideal, das er

genötigte Ideal wird von Lewo | t, es wird zum Ichideal

allein zu realisieren hat, aufgefaß He resp. Ideal-Ich, und die Entwicklung bleibt auf narzißtischem

ı) Vgl. Freud, Zur Einführung des Narzißmus. L. c.

150... Össipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Wege geschlossen. Anderseits hätte ein anderes Moment mehr Eindruck auf Lewotschkas Seele machen können, nämlich die allen Kindern gemeinsame Strebung zur Verwirklichung des allgemeinen Glücks, die Selbstvergessenheit zu Gunsten des Allgemeinwohls, eine echte Sublimierung, also keine Ver- drängung der Sexualität, sondern ihre Anwendung auf höhere Ziele. Wir wissen schon, daß Leo Tolstoi den ersten Weg gegangen ist. Der Hauptunterschied liegt darin, ob die Mehr- zahl der Kinder als eine solche aufgefaßt wird, oder ob sie im eigenen Ich verschwindet.

Fragen wir nun, was oder wer die Sinnlichkeit ver- drängt hat; ob die Ideale immer von außen aufgenötigt werden; und was eigentlich die Sublimierung bedeutet. Wenn wir auf diese Fragen antworten, daß die Verdrängung eine Leistung des Supra-Ichs ist, daß die Ideale auch vom Supra-Ich ausgehen können und die Sublimierung eine Libido- besetzung des Supra-Ichs darstellt, dann entsteht eine neue Reihe von Fragen: was ist unter dem Supra-Ich zu ver- stehen? Wie ist das gegenseitige Verhältnis zwischen Supra- Ich und Ideal-Ich aufzufassen, und welche Verbindung be- steht zwischen Sittlichkeit und Sexualität?

Wie bereits im ı. Kapitel angekündigt, befassen wir uns hier nur mit dem sittlichen Supra-Ich.

In erster Linie müssen wir hervorheben, daß die herr- schenden wissenschaftlichen Moralsysteme die Lehren von der autonomen Moral nur eine Seite des Gegenstandes berühren, nämlich die bewußte Sittlichkeit. „Sittlich ist noch nicht der Mensch, der tut, was alle für wichtig oder für ‚gute Sitte‘ halten. Sondern sittlich ist erst der Mensch, der die Sitten seiner Gemeinschaft anerkennt, nicht weil sie Sitten sind, die von allen befolgt werden und die man

Die Ameisenbrüder 157

darum achtet, sondern weil er in ihnen objektiv giltige Normen sieht, denen er Gehorsam schuldet.“ Das ist die bewußte Moral, die vom topischen Gesichtspunkte aus dem System Bw angehört. Uns interessiert aber hier die unbe- wußte Sittlichkeit, die dem System Ubw angehört. Als Reprä- sentanten dieser Sittlichkeit können wir die Scham betrachten. „Man gewinnt bei dem Kulturkinde den Eindruck, daß der Aufbau dieser Dämme (Ekel, Scham, Ästhetik, Moral) ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine organisch bedingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ohne Mithilfe der Erziehung herstellen. Die Erziehung verbleibt durchaus in dem ihr angewiesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf einschränkt, das organisch Vorgezeichnete nachzuziehen und es etwas sauberer und tiefer auszuprägen.“ ! „Organisch be- dingte Entwicklung“ heißt aber, daß die Scham sich auf Kosten der Selbstaktivität des Organismus entwickelt. Die Aktivität des Organismus zeigt von Anfang an zwei Rich- tungen: die eine zur Selbsterhaltung resp. Selbstbehauptung des Individuums, die andere zur Arterhaltung. Die eine ist die Aktivität des Individual-Ichs, die andere die Aktivität des Sexual-Ichs.. Wohin gehört nun die Scham? Weder zum Individual- noch zum Sexual-Ich, da beide durch sie in ihren Betätigungen nur gehindert werden. Es muß also im Indi- viduum eine dritte Quelle der Selbstaktivität vorhanden sein. Diese Quelle nennen wir eben das Supra-Ich.

Der Mensch nimmt eine Mittelstellung ein. Einerseits ist er ein organisches Ganzes, das aus Teilen aus Zellen besteht; andererseits ist er selbst ein Teil der ganzen Menschheit.

ı) Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. L. c.

158 | Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

„Die Zellen, die einen zusammengesetzten Organismus bilden, leben ein zweifaches Leben. Einerseits lebt die Zelle, als eine elementare Lebenseinheit, für sich: sie strebt sich zu erhalten, ernährt sich, wächst, pflanzt sich fort. Andererseits dient die Zelle dem ganzen. Organismus, eine gewisse Arbeit in ihm erfüllend: die Drüsenzelle sondert die dem ganzen Organismus nötigen Stoffe ab, die Muskelzelle kontrahiert sich, um den ganzen Organismus in Bewegung zu setzen usw.; zu diesem Zweck spezialisiert sich die Zelle. Eine beliebige Seite der Zellentätigkeit kann sich verstärken, sich zum Übermaß entwickeln und als Resultat solcher ein- seitigen Entwicklung entstehen die kontraktilen, die reiz- leitenden und die secernierenden Zellen.“ '

Wie jede Zelle des menschlichen Organismus ein zwei- faches Leben führt, so führt auch der Mensch als ein Ganzes ein zweifaches Leben: einerseits ist er ein sich selbst genügendes Individuum, andererseits ist er ein Teil des Ganzen: der Familie, des Volkes, des Staates, der Kirche, der ganzen Menschheit. „Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist. Es hält selbst die Sexualität für eine seiner Absichten, während eine andere Betrachtung zeigt, daß es nur ein Anhängsel an. sein Keimplasma ist, dem es seine Kräfte gegen eine Lustprämie zur Verfügung stellt, der sterbliche Träger einer vielleicht unsterblichen Substanz, wie ein Majoratsherr nur der jeweilige Inhaber einer ihn überdauernden Institution.“” Nun steigt der Zweifel auf, ob

ı) Wl. Karpow, Lehrbuch der Histologie. (Russ.) 2) Freud, Zur Einführung des Narzißmus. L. c. $. 84.

Die Ameisenbrüder 159

wir nicht ohne Supra-Ich auskommen könnten? Jede über- flüssige Annahme stört ja die weitere Arbeit.

Darin kann uns noch folgende Beobachtung bestärken. Die Scham arbeitet zu Gunsten der Sexualität. In der ersten Kindheit verdrängt die Scham die Sinnlichkeit (besonders die genitale), weil zu starke Entwicklung der Sinnlichkeit in dieser Lebensperiode der zeitgemäßen Betätigung in der Pubertätsperiode schaden könnte. Im Knabenalter verdrängt die Scham die Zärtlichkeit (Siehe Wolodjas Benehmen gegen Nikolenka), weil wiederum die intensive Zärtlichkeit in der Pubertätsreife den Sexualverkehr stören würde. Weiter sei noch bemerkt, daß es keine Scham in den Mutterkindverhält- nissen gibt und in allem, was sich an ihnen betätigt, mit Ausnahme der inzestuösen Regungen.

Im Gegensatz dazu beobachten wir im Leben, daß die schamhaftesten Menschen die stark sexuell veranlagten sind, was der Verwertung einer gemeinsamen Quelle von Scham und Sexualität widerspricht; in diesem letzten Falle sollte eine umgekehrte Proportionalität bestehen.

Wenn wir die weitere Betätigung der Scham verfolgen, so sehen wir, daß die Scham gegen den Familienegoismus gerichtet ist.

Folglich wirkt die Scham manchmal zu Gunsten, manch- mal zu Ungunsten der Sexualität. Oft wird die Scham auch gegen das Individual-Ich, gegen den Egoismus gerichtet. Mit einem Wort, die Scham verfolgt ihre eigenen Ziele. Dem- entsprechend markieren wir die Quelle dieser Aktivität als Supra-Ich. Das Supra-Ich, das als autonome Gruppe der „mir gegebenen“ Strebungen in der Seele der Menschen vorhanden ist, ist als Repräsentanz der Menschheit zu be-

trachten (siehe Kapitel ]).

160 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Die Scham hilft der Sexualität und reguliert sie in den Entwicklungsjahren, damit sich die Menschheit fortpflanzen kann; sie hindert die ausschweifenden Sexualbetätigungen im Mannesalter, damit nicht die ganze Energie des Individuums auf sexuelle Genüsse verbraucht werde. Auf solche Weise ent- stehen die zielgehemmten Triebe, d. h. die „Abschnü- rungen“, auf deren Basis die ganze Kulturentwicklung ruht. So viel über die Berechtigung der Annahme des Supra-Ichs.

Wir wollen nur noch eine Frage aus diesem Gebiete berühren. Die Idealvorstellungen, die das eigene Ich zum Objekt nehmen, bilden das Ideal-Ich. Das Ideal-Ich unter- scheidet sich von anderen Ichs dadurch, daß es keine selbst- aktive Quelle darstellt, sondern nur insofern wirksam ist, als es vom Sexual-Ich resp. vom Supra-Ich und von fremden Ichs aktiviert wird. Und wie immer im Seelenleben, geht die stärkste Aktivierung vom Sexual-Ich aus. Das beweist die alltägliche Beobachtung: die Ideale sind wirksam, wenn sie geliebt werden. Es entsteht nun die Frage, warum bei der Idealisierung das sexuelle Gepräge des Erlebnisses fort- besteht, während es bei der Sublimierung verschwindet? Freud schreibt: „Die Sublimierung ist ein Prozeß an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen. Die Idealisierung ist ein Vorgang mit dem Objekt.... In- sotern also Sublimierung etwas beschreibt, was mit dem Trieb, Idealisierung etwas, was am Objekt vorgeht, sind die beiden begrifflich auseinanderzuhalten.“' Warum verändert sich der Trieb selbst, wenn er auf das Supra-Ich gerichtet ist, während er ohne Veränderung bleibt, wenn er auf die

ı) Zur Einführung des Narzißmus. Vierte Folge, $. 102.

Die Ameisenbrüder 161

Ideale gerichtet ist? Der Unterschied liegt darin, daß das Supra-Ich selbstaktiv ist und dadurch (in verhältnismäßig seltenen Fällen) sich des Triebes zu bemächtigen imstande ist. Das geschieht aber nur auf der höchsten Stufe der Subli- mierung, wie es im Beispiel von Sossima ersichtlich ist. (Siehe Kapitel IV). Die ersten Grade der Sublimierung be- halten noch Züge der sexuellen Erlebnisse, wovon man sich aus den folgenden Worten von Mereschkowski' überzeugen kann: „Wir sind gewohnt zu glauben, daß je abstrakter ein Gedanke ist, er um so kälter und leidenschaftsloser sein müsse. Aber das ist nicht der Fall, wenigstens nicht mehr für uns. Bei den Helden Dostojewskis sieht man, wie ab- strakte Gedanken leidenschaftlich sein können, wie meta- physische Sätze und Folgerungen nicht allen in unserem Verstande, sondern auch im Herzen, im Gefühl, im Willen wurzeln. Es gibt Gedanken, die mehr Öl in das Feuer der Leidenschaften gießen, die menschliches Fleisch und Blut stärker erregen als die unbändigsten Lüste. Es gibt eine Logik der Leidenschaften; aber es gibt auch Leidenschaften der Logik. Dies sind vorzugsweise unsere besonderen, neuen, den Menschen früherer Kulturperioden unbekannten Leiden- schaften. Die Berührung eines nackten Körpers mit etwas sehr Kaltem verursacht zuweilen das Gefühl der Verbrennung, die Berührung des Herzens mit der abstraktesten Metaphysik ruft zuweilen die Wirkung einer glühenden Leidenschaft hervor.“

Das ist die Schilderung einer Libidobesetzung yon Ge- danken, bezw. Idealen. Eine derartige Sublimierung trägt noch die unzweifelhaften Züge der Libidobesetzung. I E

ı) L. c. S. 240.

11 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

ı60 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Die Scham hilft der Sexualität und reguliert sie in den Entwicklungsjahren, damit sich die Menschheit fortpflanzen kann; sie hindert die ausschweifenden Sexualbetätigungen im Mannesalter, damit nicht die ganze Energie des Individuums auf sexuelle Genüsse verbraucht werde. Auf solche Weise ent- stehen die zielgehemmten Triebe, d. h. die „Abschnü- rungen“, auf deren Basis die ganze Kulturentwicklung ruht. So viel über die Berechtigung der Annahme des Supra-Ichs.

Wir wollen nur noch eine Frage aus diesem Gebiete berühren. Die Idealvorstellungen, die das eigene Ich zum Objekt nehmen, bilden das Ideal-Ich. Das Ideal-Ich unter- scheidet sich von anderen Ichs dadurch, daß es keine selbst- aktive Quelle darstellt, sondern nur insofern wirksam ist, als es vom Sexual-Ich resp. vom Supra-Ich und von fremden Ichs aktiviert wird. Und wie immer im Seelenleben, geht die stärkste Aktivierung vom Sexual-Ich aus. Das beweist die alltägliche Beobachtung: die Ideale sind wirksam, wenn sie geliebt werden. Es entsteht nun die Frage, warum bei der Idealisierung das sexuelle Gepräge des Erlebnisses fort- besteht, während es bei der Sublimierung verschwindet? Freud schreibt: „Die Sublimierung ist ein Prozeß an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen. Die Idealisierung ist ein Vorgang mit dem Objekt.... In- sofern also Sublimierung etwas beschreibt, was mit dem Trieb, Idealisierung etwas, was am Objekt vorgeht, sind die beiden begrifflich auseinanderzuhalten.“' Warum verändert sich der Trieb selbst, wenn er auf das Supra-Ich gerichtet ist, während er ohne Veränderung bleibt, wenn er auf die

ı) Zur Einführung des Narzißmus. Vierte Folge, S. ıo02.

Die Ameisenbrüder 161

Ideale gerichtet ist? Der Unterschied liegt darin, daß das Supra-Ich selbstaktiv ist und dadurch (in verhältnismäßig seltenen Fällen) sich des Triebes zu bemächtigen imstande ist. Das geschieht aber nur auf der höchsten Stufe der Subli- mierung, wie es im Beispiel von Sossima ersichtlich ist. (Siehe Kapitel IV). Die ersten Grade der Sublimierung be- halten noch Züge der sexuellen Erlebnisse, wovon man sich aus den folgenden Worten von Mereschkowski' überzeugen kann: „Wir sind gewohnt zu glauben, daß je abstrakter ein Gedanke ist, er um so kälter und leidenschaftsloser sein müsse. Aber das ist nicht der Fall, wenigstens nicht mehr für uns. Bei den Helden Dostojewskis sieht man, wie ab- strakte Gedanken leidenschaftlich sein können, wie meta- physische Sätze und Folgerungen nicht allein in unserem Verstande, sondern auch im Herzen, im Gefühl, im Willen wurzeln. Es gibt Gedanken, die mehr Öl in das Feuer der Leidenschaften gießen, die menschliches Fleisch und Blut stärker erregen als die unbändigsten Lüste. Es gibt eine Logik der Leidenschaften; aber es gibt auch Leidenschaften der Logik. Dies sind vorzugsweise unsere besonderen, neuen, den Menschen früherer Kulturperioden unbekannten Leiden- schaften. Die Berührung eines nackten Körpers mit etwas sehr Kaltem verursacht zuweilen das Gefühl der Verbrennung, die Berührung des Herzens mit der abstraktesten Metaphysik ruft zuweilen die Wirkung einer glühenden Leidenschaft hervor.“

Das ist die Schilderung einer Libidobesetzung von Ge- danken, bezw. Idealen. Eine derartige Sublimierung trägt noch die unzweifelhaften Züge der Libidobesetzung. | ne all a RE FeEEEF ir EapTe FIRE A ee

ı) L. c. S. 240.

11 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

vil ÜBER DIE INFANTILE AMNESIE

„Auf geheimnisvolle, dem menschlichen Verstande unerfaßbare Art werden die Eindrücke früher Kindheit im Gedächt- nisse bewahrt und sie werden nicht nur bewahrt, sondern verwachsen auch in un- ergründlicher Tiefe mit dem Innersten der Seele, gleich Samen, der auf guten Boden fällt, und strecken dann nach vielen Jahren plötzlich ihre Frühlingstriebe in Gottes Welt empor.“

LEO TOLSTOF!

Die Tatsache der infantilen Amnesie, ihre Erstaunlich- keit und Unbegreiflichkeit wird von Tolstoi und Freud fast in denselben Ausdrücken vermerkt. (Siehe Kapitel II). „Es ist sonderbar und schauderhaft zu denken, daß ich von meiner Geburt bis zum Alter von 3 Jahren .... wieviel ich auch in meinem Gedächtnis suche, keinen einzigen Ein- druck außer jenen beiden finden kann“ usw. Weiter sagt Tolstoi, daß für ihn die Natur bis zum Alter von 5 Jahren nicht existierte. „Es ist unmöglich anzunehmen, daß man mich nicht mit Blumen, mit Blättern hatte spielen lassen, daß ich kein Gras gesehen, daß man mich nicht vor der Sonne geschützt hätte, aber bis zu meinem fünften, sechsten Jahre habe ich keine einzige Erinnerung an das, was wir

ı) Birjukow, I, 8>.

Über die infantile Amnesie 163

Natur nennen. Wahrscheinlich muß man sich von ihr ent- fernen, um sie zu sehen und ich war selbst die Natur.“ Diesen Erklärungsversuch könnte man so auffassen, daß wir in den ersten Jahren unseres Lebens gänzlich instinktiv leben, d. h. daß die bewußtmachende Funktion des Ichs noch un- tätig ist. Wenn wir aber unbewußt gelebt haben, so ist es nur zu verständlich, daß wir auch keine bewußte Erinnerung behalten. Dem widerspricht aber die direkte Beobachtung: kleine Kinder sind nicht nur instinktive Wesen, sondern urteilen auch und sind zu streng logischen Operationen fähig, welche in der Sphäre des klaren Bewußtseins vor sich gehen. So z. B. sagte mir einst ein kleiner Freund, der noch nicht volle 4 Jahre alt war, daß er ein Arzt sei. Ich ant- wortete ihm, das sei unmöglich, er wäre noch ein kleiner Knabe und wisse selbst sehr gut, daß die Ärzte immer Er- wachsene seien. Auf diesen meinen Zweifel sagte er mit ruhiger Überzeugung: „Du bist mein Freund (russ. drug d.h. wörtlich „alter ego“) und bist ein Arzt, also bin ich auch ein Arzt.“

Nur Freud allein konnte auf Grund seiner psycho- analytischen Untersuchungen die infantile Amnesie erklären. „Es kann sich also um gar keinen wirklichen Untergang der Kindheitseindrücke handeln, sondern um eine Amnesie, ähnlich jener, die wir bei den Neurotikern für spätere Er- lebnisse beobachten, und deren Wesen in einer bloßen Ab- haltung vom Bewußtsein (Verdrängung) besteht.“ '

Um den Charakter der infantilen Amnesie anschau- licher zu machen, muß man sie mit einigen anderen Amnesien der Erwachsenen vergleichen. Freud vergleicht die infantile Amnesie mit der hysterischen. Es gibt noch eine andere

ı) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 40.

11”

164 Ossipow: Teolstois Kindheitserinnerungen

Möglichkeit: die infantile Amnesie mit der „Amnesie der Unglücklichen“ zu vergleichen. Wir finden ein Beispiel einer solchen im Roman „Auferstehung“.

Katjuscha, ein junges Mädchen, halb Magd, halb Fräulein, wohnt bei zwei Schwestern Gutsbesitzerinnen, alten Jungfern. Wie Katjuscha ı6 Jahre alt ist, kommt zu den beiden Damen Nechljudow, ihr Neffe, ein reicher Fürst. „Und Katjuscha, ohne es ihm oder sogar sich selbst gestehen zu dürfen, verliebte sich in ihn.“ Später, nach zwei Jahren, kommt derselbe Neffe, als er in den Krieg zieht, wieder zu seinen Tanten, bleibt vier Tage bei ihnen und am Tage vor seiner Abreise verführt er Katjuscha, steckt ihr am letzten Tag einen Hundertrubel- schein in die Hand und fährt weg. Fünf Monate nach seiner Abreise erhält sie die Sicherheit, daß sie schwanger ist.... Sie bittet um ihre Entlassung und die Damen, die sehr unzufrieden mit ihr waren, lassen sie gehen. „Ein schweres Leben begann für Katjuscha, sie wechselte Stelle auf Stelle, gebar ein Kind, welches im Findelhause starb, litt an sexuellen Verfolgungen der Männer und endete damit, daß sie eine Prostituierte wurde und in einem Toleranzhause wohnte.“ Später wird sie der Vergiftung eines betrunkenen Kaufmannes beschuldigt und zu Zwangsarbeit verurteilt, obgleich sie unschuldig ist. Unter den Geschworenen befindet sich Nechljudow. Dieses Zusammentreffen macht auf ihn einen so tiefen Eindruck, daß er sich vornimmt, sein ganzes Leben zu ändern, weil er sich für Katjuschas Unglück verantwortlich fühlt. Er beschließt sogar, sie zu heiraten. Katjuscha war damals 27 Jahre alt.

So können wir in Katjuschas Leben zwei Perioden unterscheiden: eine verhältnismäßig glückliche Periode bis zum Alter von 18 Jahren und eine unglückliche von 18—27.

Im Gefängnis, in der Nacht der Verurteilung kann Katjuscha lange nicht einschlafen. „Sie erinnerte sich an viele Leute, nur nicht an Nechljudow. Von ihrer Kindheit, ihrer Jugend und besonders von ihrer Liebe zu Nechljudow erinnerte sie gar nichts. Es war zu schmerzhaft. Diese Erinnerungen lagen irgendwo

weit, unangerührt in ihrer Seele. Selbst im Traume sah sie Nechljudow nie.“

Über die infantile Amnesie 165

Warum kann aber die Erinnerung an ein glückliches Leben schmerzhaft sein?

Nechljudow besucht Katjuscha im Gefängnis.

„— Katjuscha, ich bin zu dir gekommen, um Verzeihung zu bitten .... ‚Es ist sonderbar, was Sie reden‘, sagte sie, wie es ihm schien, verächtlich lächelnd.“ |

„Nechljudow fühlte, daß in ihr etwas geradezu Feindseliges gegen ihn war, das sie in ihrem jetzigen Wesen festhielt, und ihn hinderte, bis in ihr Herz zu dringen.... Nechljudow wünschte nur das Eine, daß sie aufhöre, diejenige zu sein, die sie jetzt war, daß sie aufwache und die werde, die sie früher gewesen.... Aber sie er- gab sich nicht, wollte sich nicht ergeben. ‚Wozu des Vergangenen gedenken?‘, sagte sie trocken, sich noch mehr verfinsternd.”

Das ist Widerstand im Freud’schen Sinne, die Kehrseite der Verdrängung.

„Zumeist wunderte sich Nechljudow darüber, daß Katjuscha das Schmachvolle ihrer Lage nicht empfand, sondern zufrieden, ja stolz darauf zu sein schien.“ Katjuscha schämt sich, eine Arrestantin zu sein, aber sie fühlt keine Scham, eine Prostituierte zu sein. „Das war jedoch nicht gar so verwunderlich, denn jeder Mensch hält ja die Ausübung seiner Beschäftigung für gut und wichtig.“

„Ihre Weltanschauung bestand darin, daß das Glück aller Männer ohne Ausnahme alter und junger, gebildeter und ungebildeter im intimen Verkehr mit anziehenden Frauen bestehe, und daher alle Männer, wenn sie auch den Schein annehmen, mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, im wesentlichen doch nur das eine begehren. Sie, die eine anziehende Persönlichkeit war, konnte dieses Begehren be- friedigen oder unbefriedigt lassen, darum war sie ein wichtiges und notwendiges Wesen .. .. Daher stellte sich ihr die ganze Welt als eine Versammlung von Männern dar, die vom sexuellen Begehren getrieben werden..... Und Masslowa schätzte diese Lebensanschauung höher als alles in der Welt und konnte nicht anders, als sie so zu schätzen, denn wenn sie ihre Meinung änderte, verlor sie die Bedeutung, welche diese Ansicht ihr unter den Menschen gab. Um ihre Bedeutung im Leben aber nicht zu verlieren, hatte sie sich instinktiv Leuten angeschlossen,

166 ÖOssipow: Toolstois Kindheitserinnerungen

welche das Leben von demselben Gesichtspunkte aus betrachteten. Eine Ahnung sagte ihr, daß Nechljudow sie in eine andere Welt versetzen wollte; dem widersetzte sie sich, denn sie sah voraus, daß sie in ver- änderter Lebenslage ihren Wert verlieren mußte, dessen Bewußtsein ihr Sicherheit und Selbstachtung verlieh. Aus diesem Grund wies sie auch die Erinnerung an ihre Jugend und ihre ersten Beziehungen zu Nechljudow von sich. Sie waren nicht mit ihrer jetzigen Weltanschauung zu vereinigen, und deshalb ganz aus ihrem Gedächtnis verbannt, oder ruhten unberührt in einem verborgenen Winkel desselben, so verschlossen und verklebt waren sie, wie die Bienen die Nester der Filz- raupen verkleben, welche die Arbeit eines ganzen Bienen- stocks zu zerstören vermögen."

Beim nächsten Zusammentreffen mit Katjuscha, als Nechljudow die Kassationsbittschriftse zur Unterzeichnung ins Gefängnis bringt, findet er sie leicht betrunken; darauf beginnt zwischen ihnen der folgende Dialog:

„Ich sagte, ich sei gekommen, um Sie um Vergebung zu bitten. —— Ach, was soll dieses fortwährende Vergebung und Vergebung, das ist ganz unnütz .... lieber sollten Sie .... Ich will meine Schuld suühnen, fuhr Nechljudow fort, und zwar nicht mit Worten, sondern mit der Tat. Ich bin entschlossen, Sie zu heiraten.

Ihr Gesicht drückte plötzlich Schrecken aus; die schielenden Augen blieben stehen und starrten ins Leere.

Wozu denn das? sagte sie endlich und runzelte ärgerlich die Stirn. Ich fühle mich vor Gott dazu verpflichtet. Was für einen Gott haben Sie denn entdeckt? Sie reden lauter sonderbares Zeug. Gott? Was für einen Gott? Damals hätten Sie an Gott denken sollen, sagte sie und hielt mit offenem Munde an.

Erst jetzt bemerkte Nechljudow, daß ihrem Munde ein starker Branntweingeruch entströmte, und er verstand plötzlich den Grund ihrer Erregung.... Ich bin zur Zwangsarbeit verurteilt. Ich bin eine Dirne, Sie aber sind ein vornehmer Herr, ein Fürst, und der braucht sich mit mir nicht zu besudeln. Bleib du nur bei deinen Fürstinnen. Mein Preis ist zehn Rubel.... Wie hart deine Worte auch sind, du kannst doch nicht aussprechen, was ich empfinde, sagte Nechljudow zitternd und mit leiser Stimme. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer ich meine Schuld gegen dich empfinde. ‚Wie schwer ich

Über die infantile Amnesie 167

meine Schuld empfinde‘ höhnte sie ihm mit Bitterkeit nach; damals hast du sie nicht empfunden und stecktest mir hundert Rubel zu. Das ist dein Preis... . Ich weiß, ich weiß. Was soll aber jetzt geschehen ? sprach Nechljudow. Jetzt habe ich mich entschlossen, dich nicht zu verlassen. Was ich gesagt, werde ich ausführen. Ich aber sage, daß nichts daraus wird, erwiderte sie und lachte laut. Katjuscha, begann er. Geh! Ich bin zu Zwangsarbeit verurteilt und du bist ein Fürst und hast hier nichts zu suchen, rief sie in zorniger Aufwallung und entriß ihm ihre Hand. Du willst jetzt nur deine Seele erretten, fuhr sie fort, sich beeilend, alles herauszusagen, was in ihr aufstieg. Durch mich hast du dir in diesem Leben Genuß verschafft, durch mich willst du dich von deiner Sündenschuld loskaufen. Du bist mir zuwider, du, deine Brille, dein ganzes feistes, verruchtes Gesicht! Geh fort! Verlasse mich! rief sie laut und sprang mit einer energischen Bewegung auf.“ Als Katjuscha in ihre Zelle zurückkehrte, „legte sie sich auf die Pritsche, wo sie bis zum Abend blieb, und ‘unverwandt in die Ecke starrte. Qualvolle Gedanken wälzten sich in ihrem Hirn. Das, was Nechljudow ihr gesagt, rief sie in jene Welt zurück, in der sie gelitten und der sie voll Haß den Rücken gewandt hatte, weil sie sie nicht verstand. Jetzt war sie aufgerüttelt aus der Vergessenheit, in der sie gelebt; aber mit der deutlichen Erinnerung an das,

was einst gewesen, weiter zu leben das war allzu qualvoll.

Am Abend kaufte sie wieder Branntwein und berauschte sich mit ihren

Gefährtinnen.“

Katjuscha erinnert sich gar nicht an ihre glückliche Lebensperiode und widersteht dem Vorschlage Nechljudows, ihre Profession zu verlassen, aus ein und demselben Grunde; diese beiden Gedanken an Vergangenheit und Zukunft müßten sie um ihr seelisches Gleichgewicht bringen. Die Strebung nach Gleichgewicht kann man als eines der Grundprinzipien des Seelenlebens ansehen. Wenn sich ein Mensch nach langem Leiden mit irgendeiner Lage versöhnt hat, so ist ihm jeder Reiz unangenehm, der ihn aus dieser Lage zu bringen droht, selbst wenn dieser Reiz ihm etwas Gutes vorspiegelt.

168 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

Am leichtesten geschieht das, wenn keine Sicherheit gegeben ist, daß die neue Veränderung dauerhaft sein werde. In diesem Falle wird das Gleichgewicht wenn auch in schlechter Lage vorgezogen. „Aus der Wechselwirkung der Individuen aufeinander entsteht der Impuls, welcher das einzelne Indi- viduum aus dem Gleichgewichtszustand bringt; das Grund- prinzip, das die Tätigkeit des Individuums leitet, ist die Strebung zum Behalten des Gleichgewichts, zur Standhaftigkeit, zur Selbsterhaltung. Das aus dem Gleichgewicht gebrachte Individuum, wie jeder Körper über- haupt, kehrt auf dem kürzesten Weg zu ihm zurück.“ „Jeder natürliche Prozeß, welcher im Ganzen das Maxi- mum seiner Tätigkeit zu vollbringen strebt, wird in seiner Arbeit vom Prinzip des Minimum geleitet; mit anderen Worten: er ist durch und durch teleologisch. Natura nıhıl agıt frustra. Die Gleichgewichtslehre findet ihre Anwendung auch im psychischen Leben des Menschen“ (Karpow). Masslowa hatte sich eine bestimmte Weltanschauung zu- rechtgelegt, die ihr erlaubte, leidlich gut zu existieren und sich eine gewisse Befriedigung bezw. Genuß zu verschaffen. Nechljudows Vorschlag droht, ihr Gleichgewicht zu stören und die Antwort auf diese Drohung ist die möglichst schnelle Beseitigung dieses Vorschlages. Wenn sie frei wäre, könnte sie davonlaufen, die erste einfachste Reaktion gegen die Gleichgewichtsstörung. Das kann sie nicht. So bemüht sie sich, ihn von sich abzuweisen, ihn zur Flucht zu zwingen. Darum macht sie, als ob sie seinen Vorschlag nicht hörte, nicht bemerkte, ihn ablehnte. Die nächste Stufe der Selbst- rettung vor einem das Gleichgewicht störenden Reiz ist die Verdrängung, d. h. das Verstoßen ins Unbewußte. Die letzte Stufe endlich wäre eine klar bewußte, logisch

Über die infantile Amnesie 169

konsequente Verurteilung. Auf diese Weise haben wir die folgende Reihe von Reaktionen zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes:

ı. Flucht bezw. Mord;

2. Verdrängung;

3. Verurteilung.

Für die innerseelischen Erlebnisse gelten nur die zwei letzten Stufen.

Die infantile Amnesie dürfen wir, ihrem Wesen nach, in eine Parallele mit Katjuschas Amnesie stellen. Sie ist eine Verdrängung der Erinnerung an die glückselige Lebens- periode. Das gewöhnlichste Verhältnis der Erwachsenen zur Kindheit ist ja eine hohe Schätzung derselben.

„Glückliche, selige, unwiderbringliche Tage der Kindheit! Wie soll man die Erinnerung an euch nicht hegen und pflegen!“ [So beginnt

Tolstoi das Kapitel „Die Kindheit“.] „Man hat sich müde gelaufen und sitzt matt auf seinem hohen Kinder-

stuhl am Teetisch; es ist schon spät, die Tasse Milch mit Zucker ist längst geleert, Schlaf fällt auf die Augen, aber man rührt sich nicht von der Stelle sitzt da und hört und sieht. Wie soll man nicht hören! Mama spricht mit jemandem, ihre Stimme klingt so lieb, so unbeschreiblich freundlich. Der bloße Klang sagt meinem Herzen so unendlich viel!“ usw.

Da haben wir den unmittelbaren Genuß an Geschmacks-

empfindungen und dann an Gehörsempfindungen. Weiter werden die sinnlichen Genüsse an Gesichts-, Tastempfindungen

beschrieben. 2 „Kein gleichgültiger Blick stört sie [die Mutter], ohne Scheu gießt sie all ihre Zärtlichkeit und Liebe über mich aus.“ Und sogar die Geruchsempfindungen nehmen an den

sinnlichen Genüssen teil. | „Ich spüre ihren Duft.“ „Kommt man dann nach oben und steht

in seinem wattierten Schlafrock vor dem Heiligenbild, weleh wunder- bares Gefühl empfindet man bei den Worten: Lieber Gott, beschütze

170 Ossipow: Tolstois Kindheitserinnerungen

meine Eltern, Papa, Mama und Großmama, den Lehrer Karl Iwano- witsch, meinen Bruder und meine Schwester. Wenn ich diese Worte sprach, die meine Lippen zuerst der lieben Mutter nachstammelten, floß die Liebe zu Gott und den Eltern sonderbar in ein Gefühl zusammen .... Kein Zweifel störte damals meine Ruhe. Nach dem Gebet wickelte ich mich, leicht und fröhlich im Herzen, in meine Decke ein. Ein schöner Traum folgte dem anderen.... Dann stopfte ich mein liebstes Spielzeug, ein Häschen oder Hündchen aus Porzellan in eine Ecke des Federkissens und freute mich, wie gut, warm und behaglich es dort liegen könne.“

Wenn wir diesen Seelenzustand in eine Formel fassen, so können wir sagen, dal die ganze Libido auf ein Objekt gerichtet ist: auf die Mutter. Dabei wird die Mutter mit der eigenen Person, mit Gott, mit den anderen Menschen zusammengefaßt. Das ist der selige Zustand, wo das Welt- ganze im eigenen Ich konzentriert wird. Keine Differenz zwischen Ichlibido und Objektlibido, zwischen der Selbstliebe und der Liebe zu Gott, kein Konflikt, keine Verdrängung. Das ist der allumfassende Narzißmus und die selbstvergessende Fremdliebe, der selige Zustand, der dabei noch von ver- schiedenartigen sinnlichen Genüssen und Zärtlichkeitserleb- nissen voll ist.

Wir sind gern bereit zuzustimmen, daß das Bild dieses seligen Zustandes, das von Tolstoi gezeichnet ist, etwas poetisiert ist. Aber wenn wir uns die Entwicklung der Erlebnisse etwas primitiver vorstellen und die Zeit des Erlebens in eine noch frühere Periode in die Säuglingszeit verlegen, so ent- spricht, aller Wahrscheinlichkeit nach, das beschriebene Bild dem wirklichen Seelenzustand des Säuglings vollkommen. Diesen Zustand können wir als primären Narzißmus, „die sicherste Libidoposition“ (Freud) bezeichnen.

Der Ablauf der seelischen Vorgänge wird, wie Freud annimmt, automatisch durch das Lustprinzip reguliert. Das

Über die infantile Amnesie 171

Streben nach Gleichgewicht, das Prinzip von „Maximum- Minimum“ usw. können wir leicht dieser Lustregulierung bezw. dem ökonomischen Prinzip unterordnen. Aber mit dem ökonomischen Prinzip allein kommen wir doch nicht aus. In diese Frage, die neuerdings von Freud in seiner Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ aufgeworfen ist, werden wir hier nicht eingehen.

Es sei noch über Tolstois „Erste Erinnerungen“ be- merkt, daß sie merkwürdigerweise gar nicht entstellt sind. Die erste Erinnerung gibt uns den Hinweis auf. den Seelen- konflikt, die zweite auf die überaus starke und reichverzweigte Sinnlichkeit, im Besonderen auf den Narzißmus, die dritte auf die Neigung zu starken Empfindungen, die vierte auf die Verdrängung und auf allerlei Leiden Tolstois auf dem transsubjektiven Libidoweg, die hauptsächlich in Folge der zu starken Fixierung an die Mutter (fünfte Erinnerung) ent- standen sind. Alle diese Erinnerungen stellen den „Kern“ dar, aus dem sich im weiteren Leben die reiche Pflanze entwickelt. Das Fehlen der Entstellungen, die gewöhnlich in Kindheitserinnerungen beobachtet werden, findet seine Er- klärung in der genialen Fähigkeit Tolstois, unbewußtes Seelen- leben bewußt zu machen. Diese Fähigkeit ist gleichzeitig die Ursache, warum Tolstoi in seinen psychologischen Schil- derungen den Ergebnissen der Freud’schen Schule so

nahe steht.

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INHALTSVERZEICHNIS

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1. Vorbemerkungen ‚7. N mra nz Ai...

II. Die „Ersten Erinnerungen“ N RE N Ne Na N... III. Zwei allererste Erinnerungen (Das Individual-Ich und die

Ich-Libido) . . 2.2.» 0b a a

IV. Über den Narzißmus u. 2 2a nn a

V. Drei weitere Erinnerungen (Objektlibido) . . » 2... .. 82

VI. Der Seelenkonflikt . + 04 Ark 2 el er

VII. „Die Ameisenbrüder“ (Das Supra-Ich) . . . .....151

VII.

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Über die infantile Amnesie .

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Lee

DER KÜNSTLER ANSÄTZE ZU EINER SEXUALPSYCHOLOGIE VON DR. OTTO RANK

I

TOLSTOIS KINDHEITSERINNERUNGEN EIN BEITRAG ZU FREUDS LIBIDOTHEORIE VON DR. N. OSSIPOW

III

DER EIGENE UND DER FREMDE GOTT ZUR PSYCHOANALYSE DER RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG

VON DR. THEODOR REIK

IV

DOSTOJEWSKI SKIZZE ZU SEINER PSYCHOANALYSE VON JOLAN NEUFELD

INTERNATIONALER PSYCHOANALEZETISCHERN I ERNTETIE WIEN, VI: ANDREASGASSE3

WERBRBL TON EROR SIGM EREUD

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. (Fehlleistungen, Traum, Allgemeine Neurosenlehre.) Drei Teile in einem Band.

Großoktavausgabe, 4. Auflage (5.—11. Tausend) 1922. Taschenausgabe, 2. Auflage (3.—7. Tausend) 1923.

Die Traumdeutung. 7. Auflage, mit Beiträgen von Dr. Otto Rank. 1922. Über den Traum. 3. Auflage. München 1921.

Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Ver- sprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. 9. Auflage. 1923.

Totem und Tabu. Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der

Wilden und der Neurotiker. 3. Auflage. 1922.

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. 3. Auflage. Leipzig und Wien 1921.

Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jähr. Gründungs- feier der Clark University in Worcester, Mass. 6. Auflage. 1922.

Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 5. Auflage. 1922.

Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Erste Folge. 4. Auflage. 1922. Zweite Folge. 3. Auflage. 1921. Dritte Folge. 2. Auflage. 1921. Vierte Folge. 2. Auflage. 1922. Fünfte Folge. 1922.

Studien über Hysterie (mit Dr. Josef Breuer). 3. Auflage. 1922.

* Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. (Schriften zur angewandten Seelenkunde, 1. Heft.) 2. Auflage. 1912.

Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. (Schriften zur

angewandten Seelenkunde, 7. Heft.) 3. Auflage. 1923. Jenseits des Lustprinzips. 3. Auflage (5.—9. Tausend) 1923. Massenpsychologie und Ich-Analyse. 2. Aufl. (6.—10. Tausend) 1923. Das Ich und das Es. 1923.

Zu beziehen durch den INTERNATIONALEN PSYCHO- ANALYTISCHEN VERLAG, Wien, VII. Andreasgasse 3

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INTERNATIONALE PSYCHOA NALYTISCHE BIBLIOTHEK

I. Zur Perchbanalyie der Kriegs- neurosen. (Diskussion, gehalten auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest, 28.und 29. September 1918.) 1919.

Inhalt: I. Einleitung von Prof. Dr. SIGM. FREUD. II. Diskussionsbeiträge von Dr. S. FERENCZI (Buda- pest), Dr. KARL ABRAHAM (Berlin) uad Dr. ERNST SIMMEL (Berlin). III. Dr. ERNEST JONES (London): Die Kriegsneurosen und die Freudsche Theorie.

11. Dr.S.FERENCZI:HysterieundPatho- neurosen. 1919.

Inhalt: I. Über Pathoneurosen. II. Hysterische Ma- terialisationsphänomene. -III, Erklärungsversuch einiger hysterischer Stigmata. —IV.Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse. V. Die Psychoanalyse eines Falles von hysterischer Hypochondrie, VI, Über zwei Typen der Kriegshysterie.

IV.Dr. OTTORANK:Psychoanalytische Beiträge zur Mytlıenforschung, (Aus den Jahren 1912 bis 1914.) 2., veränderte Auf- lage. 1922. |

Inhalt: Vorwort. Mythologie und Psychoanalyse. Die Symbolik. Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien, Zur Deutung der Sintflut- sage. Männeken-Piß und Dukaten-Scheißer. Ds Brüdermärchen. Mythus und Märchen.

V. Dr. THEODOR REIK: Probleme der Religionspsychologie, I. Teil: Das Ri- tual. Mit einer Vorrede von Prof. Dr. SIGM. FREUD. 1919.

Inhalt: I. Einleitung, II, Die Couvadeund die Psycho. genese der Vergeltungsfurcht. III. Die Pubertätsriten

der Wilden. IV. Kolnidre (Stimme des EHE _ V. Das Schofar (Das Widderhorn),

VI. Dr. GEZA ROHEIM: Spiegelzauber.

1919.

VII. Dr. EDUARD HITSCHMANN: Gott- fried Keller. Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten und Motive. 1919.

VII. Dr. OSKAR PFISTER: Zum Kampf um die Psychoanalyse. (Mit einer Kunst- beilage und ı5 Textabbildungen:.) 1920.

Inhalt: I. Die Psychoanalyse als psychologische Me- thode. Apologetisches, Der erfahrungswissenschaftliche

_ Charakterder Psychoanalyse.Proben psychoanalytischer

Arbeit. (Nachtwandeln, Unbezwingliche Abneigung gegen eine Speise. Hypnopompischer Einfall. Ein Fall von kommunisierenderreligiöser undirdischer Liebe usw.) Einige Ergebnisse und Ausblicke. II. Die Entstehung

der künstlerischen Inspiration, III. Zur Psychologie _

desKriegesund des Friedens. Die Tiefenmächte des Krie- ges. Die psychologischen Voraussetzungen des Völker- friedens, IV. Zur Psychologie des hysterischen Ma- donnenkultus. V, Hysterie und Lebensgang bei Mar- gareta Ebner. —VI. Psychoanalyse und Weltanschauung. (Positivismus, Metaphysik, Ethik.) VI. Gefährdete

Kinder und ihre Paychoanalytische Behandlung. VII.

" Wahnvorstellung und Schülerselbstmord. IX, Das

Kinderspiel als Frühsymptom krankhafter Entwicklung, zugleich ein Beitrag zur Wissenschaftspsychologie,

IX. AUREL KOLNAI: :Psychoanalyseund

Soziologie. Zur Psychologie von Masse und Gesellschaft. 1920.

X. Dr. KARL ABRAHAM: Klinische Bei- träge zur Psychoanalyse aus den Jahren 1907—1920.. 1921. Inhalt: Über die Bedeutung sexueller Jugendträume für die Symptomatologie der Dementia praecox. Die

psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der De- mentia praecox. Die psychologischen Beziehungen

zwischen Sexualität und Alkoholismus, Die Stellung

der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen,

Über hysterische Traumzustände. Bemerkungen zur

Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korsettfetischis- mus, Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und ver- wandter Zustände. Über die determinierende Kraft des Namens, Über ein kompliziertes Zeremoniell neu- rotischer Frauen. Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone, Zur Psychogenese der Straßenangstim Kindesalter. Sollen wir die Patienten ihre Träume aufschreiben lassen? Einige Bemerkungen über die Rolle der Großeltern in der Psychologie der Neurosen,

- —Eine Deckerinnerung, betreffend ein 'Kindheitserlebnis

von scheinbar ätiologischer Bedeutung. Psychische Nachwirkungen der Beobachtung des elterlichen Ge- schlechtsverkehrsbei einem neunjährigen Kinde. —Kritik

zu C. G. Jung: Versuch einer Darstellung der psychoana-

lytischen Theorie. —Über einekonstitutionelle Grundlage der lokomotorischen Angst. Über Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust bei den Psychoneu- rotikern.-Über neurotische Exogamie. - Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe derLLibi-

_ do.— Über ejaculatio praecox. Einige Belege zur Ge-

fühlsstellung weiblicher Kinder gegenüber den Eltern, Das Geldausgeben im Angstzustand, Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik, Bemerkungen zu Ferenczis Mitteilungen über Sonntagsneurosen. Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen im vorge- schrittenen Lebensalter.

XI. Dr. ERNEST JONES: A RSEa EN der Neurosen, 1921.

XII. J. VARENDONCK: Über das vor-

bewußte phantasierende Denken. Mit Geleitwort von Prof. Dr. Sigm. Freud. 1922.

XIH. Dr. S. FERENCZI: Populäre Vor-

träge über Psychoanalyse. 1922. Inhalt: Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen. Träume der Ahnungslosen. Suggestion und Psycho- analyse. Die Psychoanalyse des Witzes und des Ko- mischen, Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte, Psychoanalyse und Kriminologie, Philosophie und Psychoanalyse. Zur Psychogenese der Mechanik, Cornelia, die Mutter der Graechen. —, Anatol France als Analytiker. Glaube, Unglaube, Überzeugung. .

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INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VERLAG

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ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN RR

Herausgegeben von PROF. SIGM. FREUD E ER Be Arab von Dr. OTTO RANK und Dr.HANNS SACHS ae gr Su E

sind RS u.a. töhenda Kıbeiten aus dem Bereiche der Psychologen a! |

künstlerischen Schaffens, der Literaturforschung und verwandter Ge- biete erschienen:

'- Bardas: Zur Problematik der Musik

Blüher: Niels Lyhne von J.P, Jacobsen und das Problem der Bisexualität Brill: Psychopathologie der neuen Tänze

tung und Wahrheit“ Das Unheimliche ' Goya: Das Zersingen der Volkslieder Härnik: Anatole France über die Seele des Kindes Hermann: Zur Psychogenese der zeichne- rischen Begabung Hitschmann: Ein Dichter und sein Vater Zum Werden des Romandichters Schopenhauer Jekels: Shakespeares Macbeth

Jones: Andrea del Sartos Kunst: und der

Einfluß seiner Gattin

Kaplan: Zur Psychologie dass Teplaekiäi

Der tragische Held und der Verbrecher Kolnai: Über das Mystische

Landguist: Das künstlerische Symbol Lorenz: Der Bergmann von Falun

Ödipus auf Kolonos

Das Titanenmotiv in der Mythologie

.— Die Kindheitserinnerungen des Baron

de la Motte-Fouque

Mac Curdy: Allmacht der Gelankei and

Mutterleibsphantasie in den Hephaistos- Mythen und einem Roman von Bulwer Pfeifer: Äußerungen infantil-erotischer

Triebe im Spiel Pfister: ro des Apostels Paulus

I e a . . £ 7 £ - eg ul AH Fe a E 0 oc en

Freud: Eine Kindheitserinnerung aus ee |

Ödipus und die Sphinx.

ORBERF: Über das Unbewußte und die. ; w

Dre rt E’r# N m. BR;

Pfister: Entstehung der künstlerischen Tnepie | ration Ve Protze: Der Baum als totentinbee Symbal‘ v Rank: Die Nacktheit in Sage und Dichtung Homer. Zur Entstehung des Volksepos Hr Das „Schauspiel“ in „Hamlet RRRRT: Der Doppelgänger 2 re SE Die Don Juan-Gestalt & Eh Reik: Über den zynischen Witz EN Aus dem Leben Guy de Manpusants |

Sachs: Carl Spitteler

Die Motivgestaltung bei Schnitzler Der „Sturm“

Schillers Geisterseher

Homers jüngster Enkel

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Träume beiHebbel ©0000... Vonder Pathographie : zur Poychographie Silberer: Über Märchensymbolik Der Homunkulus RE Sperber: Über den Einfluß sexuelle Meise aufEntstehungu, Entwicklung der Sprache _ Von Dantes unbewußtem Seelenleben Teller: Psychischer Konflikt und Eure = Leiden bei Schiller Re I = Musikgenuß und Phantasie = | Bu | Weiß: Von Reim undBefain Winterstein: Die Nausikaaepisode a en Der Sammler nn z = KE Zur Geschichte der Philosophie . 2 en = 2 Zur Entstehungsgeschichte der ie + chischen Tragödie

Br u In 2 P u ? Ih IR, 2 . , } Alte - . R j& Li Pr . B 7 x . 4, r un #74 Y 4 * i k be 1 . # u ' A a . 12 R I. v Y 7 k Nie o

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Internationaler Psychoanalytischer Verlag

Leipzig, Hospitalstrasse 10 Wien, VI. Andreasgasse 3

Der Seelensucher

Ein psychoanalytischer Roman

von Georg Groddeck

aa! Le,

Contra:

„Neue Freie Presse“: ... Unappetitliche Masse . ... die Psychoanalyse durch Ordinärheit zu dis- kreditieren. (Herbert Silberer)

„Bücherei und Bildungspflege“: . . . Wegen seines Übermaßes an Zynismus in erotischen und religiösen Dingen unbrauchbar.

Pro:

„Frankfurter Zeitung“: ..... ein ungewöhnlich

Ber Kerl, der sehr amüsant zu reden weiß, er Stil erinnert etwas an die Pickwickier, wenn

auch der Inhalt durchaus nicht so harmlos ist.

(Dr. Drill)

„Imago“: .. . Der erziehliche Wert liegt darin, daß Groddeck, wie einst Swift, Rabelais, Balzac, dem ietistisch-hypokritischen Zeitgeist die Maske vom

esicht reißt. (Dr. Ferenczi)

„Die Wage“: Das Buch ist von einer imponieren- den Rücksichtslosigkeit.

„Wiener Freimaurer-Zeitung“: Ein Schalk, der lustig, ausgelassen und frivol ist und doch zum Denken reizt... . Prüde Flachköpfe, Philister, laßt die Hände davon, aber Ihr, die Ihr lachen könnt,

bis die Augen tränen, macht Euch in Eurer stillen Ecke über dieses Buch. AN

„Berliner Tageblatt“:. .. Ein Buch von eigen- tümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins _ Hirn des Lesers ätzt. Was sonst alserzählende ‘Prosa Humor übt, scheint Wasser neben dieser Quintessenz. So was Freches, Unge- niertes, raffiniert Gescheit-Verrücktes ist von Er- zählern unserer Sprache noch nicht gewagt worden. Der Held Thomas, der als Don Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung streitbar durch die deutschen Lande zieht, in die wunderlichsten Händel und skurrilsten Abenteuer ne ein urgemüt- ‚liches Gespenst, das seine Hirnschale in Händen hält und aus dem muntren Qualm, der ihr entsteigt, die Welt deutet ... . Eine Figur, so voll der kost- barsten Narrheit, ist noch durch keinen deutschen Roman gewandelt ... . Hier lehrt einer, zum Gau- . dium des Lesers, die Welt über den er „analytischen Stock springen. Solche lustige _ -- Abenteuerfahrt des Ge ankens hat noch ken deutscher Mann gewagt. (Alfred 'Polgar) Ex

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| Über die psychoanalytischen Forschungen informieren unsere. WE beiden von Prof. Freud herausgegebenen Zeitschriften:

IMAGO

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE

AUF DIE ae

INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT | FÜR PSYCHOANALYSE.

Gm Jahre 1923 sollen in ders beiden Zeitschriften u: a. folgende Beiträge erscheinen:

Prof. Freud: Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung.

Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert. Zur infantilen Genitalorganisation.

Dr. Karl Abraham (Berlin): Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter.

Neue Untersuchungen zur Psychologie der manisch-depres- . siven Zustände. -

August Aichhorn (Wien): Über die Erziehung in Besserungs- - anstalten.

Dr. F. Alexander (Berlin): Über den biologischen. Sinh “psychischer Vorgänge (Über Buddhas Versenkungslehre).

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6. Ber er (Wageningen): Zur Theorie, der menschlichen " Feindseligkeit. %

Di. Siegfried Bernfeld (Wien): Über « eine typische Form . ‚männlicher Pubertät.

Dr. A. van’der Chijs (Amsterdam); Versuch zur Anwendung

Infantilismus in der Malerei.

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Dr. Otto! Fenichel (Berlin): Psychoanalyse und Metaplyaik

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DR Hanns Sac hs (Berlin): Zur Genese der Perverslonen, : Dr.H. v.Hatti ngberg (München): Zur Analyse der pays R

.Dr.l, ‚Hermann (Budapest): Zr Prychelosie FR Schimpan. sen. 8

Dr.Ea. Hitschmann (Wien): Telepathie und es Dr ae SF ielrein (Genf): Ein Zuschauertypus.

Dr. ‚St. Hollös (Budapest): Psychoanalytische Spuren i in ‚der %,

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Dr. Karen Horney (Berlin):

Kastrationskomplexes.

Zur Genese des weiblichen

Dr. Ernest Jones (London): Einige Probleme des jugend- lichen Alters.

Kälte, Krankheit und Geburt. Psychoanalytische Studie über den Heiligen Geist.

Dr. A. Kielholz (Königsfelden): Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahnes.

Melanie Klein (Berlin): Zur Frühanalyse (Über Entwicklung

und Hemmung von Begabungen). Die Bedeutung der Schule für die Entwicklung des Kindes.

Aurel Kolnai (Wien): Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse.

Rud.Löwenstein (Berlin): Zur Besen der schwarzen

Messen.

Dr. F. Lowtzky (Berlin): Eine okkultistische ng der Psychoanalyse.

Dr. H.Nunberg (Wien): "Über Depersonalisationszustände im Lichte der Libidotheorie.

Dr. S. Pfeifer (Budapest): Königin Mab. u .Musikpsychologische Probleme.

„Dr. S. Radö (Budapest): Eine Traumanalyse. (Zur Psycho- logie des revolutionären Führers.)

- Dr. Elisabeth Radsö-Revesz (+): Der Globus Ayaterien 6 Egenolf Röder: :Das Ding an sich.

Dr. Otto Rank (Wien): Zum Verständoid Re -Libidoent-

wicklung im Heilungsvorgang. Dr. Geza Röheim (Budapest): Nach de As des Urvaters. -— Heiliges Geld in Melanesien.

"Doz. Dr. Paul Schilder (Wien); Zur Lehre vom Persön- + -lichkeitsbewußtsein.

“Dr. Emil Simonson (Berlin): Schleichs Paychophyaik und Bi:

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Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben. Dr. Geza Szilägyi (Budapest): Der j junge Spiftiee

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Über die psychoanalytischen Forschungen informieren unsere.

beiden von Prof. Freud herausgegebenen Zeitschriften:

IMAGO

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN

INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYSE

Im Jahre 1923 sollen Dedab Baklen Zeitschriften u. a. folgende Beiträge erscheinen:

Prof. Freud: Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Dr. Karen Horney (Berlin): Zur Genese des weiblichen Traumdeutung. Kastrationskomplexes.

Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert. Dr. Ernest Jones (London): Einige Probleme des ap Zur infantilen Genitalorganisation. lichen Alters. Dr. Karl Abraham (Berlin): Ergänzungen zur Lehre vom Kälte, Krankheit und Geburt.

Analcharakter. Psychoanalytische Studie über den Keilcen Geist.

—_ Neue Untersuchungen zur Psychologie der manisch-depres- Dr. A. Kielholz (Königsfelden): Zur Genese und Dynamik siven Zustände. - des Erfinderwahnes.

' August Aichhorn (Wien): Über die Erziehung in Besserungs- Melanie Klein (Berlin): Zur Frühanalyse (Über Entwicklung

anstalten. und Hemmung von Begabungen).

Dr. F, Alexander (Berlin): Über den biologischen Sinn & i & psychischer Vorgänge. (Über Buddhas Versenkungslchre). Die Bedeutung der Schule für die Entwicklung des Kindes. Aurel Kolnai (Wien): Die geistesgeschichtliche Bedeutung

Alice Bälint (Berlin): Die mexikanische kriegshierogiyphe der. Päydhoanalyse.

atltlachinolli. 6 Berger (Wageningen): Zar Thesrie der menschlichen ge öwenstein (Berlin): Zur Psychoanalyse der schwarzen "Feindseligkeit. essen. 2

Dr. F. Lowtzky (Berlin): Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse,

Dr.H. Nunberg (Wien): Über en a im Lichte der Libidotheorie.

Doz. Dr. R. Brun (Zürich): 'Selektionstheorie und Lustprinzip. pn, 8 Pfeifer (Budapest): Könisin Mab:

Dr. A. 'van’der Chijs (Amsterdam) : ‚Versuch zur Anwendung Pe : “der ‚objektiven Psychoanalyse auf die Bunıkal, een MUSKPSy era Probleme, Dr. 'S..Rado (Budapest): Eine Traumanalyse. (Zur Psycho-

2 Infantilismus Be er logie des revolutionären Führers.) - Dr. Elisabeth Rads-Revesz (}): Der Globus berg Frenslf Röder. Das Ding an sich.

Dr. Otto Rank (Wien): Zum Veretändnid der Libidoent- wicklung jm Heilungsvorgang.

Dr. ‚Geza Röheim (Budapest): Nach dem Tode des Urvaters. Heiliges Geld in Melanesien. Dr, Hanns Sachs (Berlin): Zur Genese der Perversionen.

ES . ‚männlicher Pubertät. “De F li Bo ) ehm (Beskuj: Bemerkungen SberTeaneveahlianne.

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Dr. Paul Federn (Wien): Geschichte einer 'Melancholie,. $. Dr. ‚Otto Fenichel (Berlin): Psychoanalyse Sa Metaphysik. Be

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Dr.l. Hermann (Budapest): Zur Psychologie der Schimpansen. Ä -Dr. Emil Simonson (Berlin): Schleichs Psychophysik und “Freuds Metapsychologie.

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Dr. Geza Szilägyi (Budapest): Der junge Spiritist, = ‚Von den „Pathoneurosen‘ zu ı der Pathologie der Neurosen. P.C. van der Wolk A Der Tanz des Ciwa.

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Tolstois Kindheitserinnerungen Ein Beitrag zu Freuds Libidotheorie

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künstlerischen Schaffen, fast nacktgeschürft i in dem

Autobiographischen, ruht hier zum erstenmal Se

schärfte und geläuterte Blick. psychoanalytischer Er kenntnis. Der Mensch und Künstler, selbst ein Zerglie- derer, selbst ein Träger genialischer Tiefenpsychologie, 4ritt hier in den Leuchtkegel modernster wissenschaft licher ‚Seeleneinsicht. In merkwürdiger Weise KEeHEeN “sich dabei die Wege Tolstoischer. Sexualgrübelei mit.

denen der psychoanalytischen. Eroslehre. Die Studie x }

des Dr. Ossipow darf beanspruchen, sowohl von. ‚den Geniessern Tolstoischer. Kunst willkommen ge | heißen zu. werden, als ‚auch bei dem wisschichelin

orientierten Leser brennendes Interesse, vorzufinden. _

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