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Johann Michael Sailer's
e Werke,
unter Anleitung des Verfaſſers herausgegeben 2 A
| 5 von en i d m.
Domkapitular, und Profeſſor der Theologie in Luzern.
Theologiſche Schriften. g Handbuch der chriſtlichen Moral,
Neue, revidirte und vermehrte Ausgabe.
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Dreizehnter Theil.
Veit allerguädigften Privilegien der k. k. öſterreichiſchen Staaten; der Königreiche: Bayern, Has nover, Würtemberg, Dänemark; des Großherzogthums Baden; des Kurfürſtenthums Heſſen; des Großherzogthums Heſſen; des Herzogthums Naſſau; der Großherzogthümer: Mecklenburg⸗ Schwerin, Mecklenburg Strelitz; der Herzogthümer: Oldenburg, Anhalt⸗Deſſau, Anhalt» Bern» burg, Anhalt⸗Cothen; der Fürſtenthümer: Schwarzburg⸗Rudolſtadt, Schwarzburg⸗Sonders⸗ haufen, Hohenzollern Hechingen, Hohenzollern Sigmaringen, Reuß « Greiz, Lippe Detmold, Lippe » Schaumburg, Waldeck⸗ Pyrmont; der freien Städte: Frankfurt, Lübeck, Bremen, Ham ⸗ burg; ſo wie der freien Republik Schweiz ergangenen Verboten gegen den FIIR: und den Verkauf der Nachdrücke.
Sulz ba ch. . in der J. E. v. Seidelſchen Buchhandlung, 18 3 4.
Handbuch . „„ 5 N 5 chriſtlichen Moral nmächſt | für kuͤnftige katholiſche Seelenſorger
i und dann für jeden gebildeten Chriſten, F herausgegeben
von
Johann Michael Sailer.
Erſter Ban d.
Neue, revidirte und vermehrte Auflage.
Mit allergnädigſten Privilegien der k. k. öſterreichiſchen Staaten; der Königreiche: Bayern, Ha⸗ nover, Würtemberg, Dänemark; des Großherzogthums Baden; des Kurfürſtenthums Heſſen; des Großherzogthums Heſſen; des Herzogthums Naſſau; der Großherzogthümer: Mecklenburg⸗ Schwerin, Mecklenburg ⸗Strelitz; der Herzogthümer: Oldenburg, Anhalt⸗Deſſau, Anhalt »Bern- burg, Anhalt⸗Cöthen; der Fürſtenthümer: Schwarzburg⸗Rudolſtadt, Schwarzburg⸗Sonders⸗ haufen, Hohenzollern Hechingen, Hohenzollern-Sigmaringen, Reuß Greiz, Lippe ⸗ Detmold, Lippe» Schaumburg, Waldeck- Pyrmont; der freien Städte: Frankfurt, Lübeck, Bremen, Ham⸗ burg; ſo wie der freien Republik Schweiz ergangenen Verboten gegen den Nachdruck und den Verkauf der Nachdrücke.
Sulzbach, f i der J. E. v. Seidel 'ſchen Bucbenblung, 1 8 3 4. 7 8 a
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Gottes Gnaden Kaiſer von Oeſterreich,
19.9
König zu J Jeruſalem, zu Hungarn, Boͤheim, der Lombar⸗ dey, und Venedig, zu Dalmatien, Kroazien, Slavonien, Galizien, Lodomerien, und Illyrien, Erzherzog zu 1 reich, Herzog zu Lothringen, Salzburg, Steyer, Kärnten, | Krain, Ober und Nieder Schlefien, Großfuͤrſt in Sieben⸗ ene Martgraf in Mähren; , RENT, Graf zu öh Habsburg und Tyrol eim lim 115051
e öffentlich mittels dieſer Urkunde: es habe Uns der „Bifchof von Sailer zu Regensburg unterthaͤnigſt an⸗ gezeigt, daß er eine neue Auflage Kutz, ſaͤmmtlichen Uterart⸗ ſchen Werke zu verauſtalten geſonnen ſey; hierbey abet eliren ſet⸗
nen großen Auslagen ſchaͤdlichen Nachdruck <befprge, zu Deſſen
Verhuͤtung er um die Verleihung eines ODruckprivilegiums in Uns
ſern Staaten bittet. Da Wir nun den ausgezeichneten Werth ſeiner Erbauung befoͤrdernden und eben deßwegen von jeher zur unbeſchraͤnkten Verbreitung in Unſern Staaten zugelaſſenen Schriften in gnaͤdigſte Erwaͤgung gezogen haben und geneigt ſind, Jedermann die Fruͤchte feiner Arbeit) und Unköͤſten genießen zu laſſen und in dem Genuße derſelben zu ſchüͤtzen, ſo haben Wir Uns gnaͤdigſt entſchloſſen, demſelben das angeſuchte Druckprivi⸗ legium fuͤr den ganzen Umfang Unſeres Kaiſer⸗ Staates gegen dem zu ertheilen, daß der von Uns aufgeſtellten Zenſur vorbehalten bleibe, gegen einzelne Baͤnde oder gegen das ganze Werk ſelbſt ungeachtet dieſes Privilegiums nach dem Geiſte Unſerer allerhoͤch⸗ ſten Anordnungen vorzugehen. unter dieſer Beſchraͤnkung und ) Von den auf dem Titel angezeigten allergnädigft ei Yen oki gen
des Raumes und um den Preis nicht zu erhöhen, hier bl oß Jene 3 110 gi geführt, deren buchſtäblicher Mön a bedingt wurde.
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Bedingniß ertheilen Wir dem Biſchofe von Sailer feinen
Erben und Zeſſionaren kraft dieſer Urkunde die Freiheit, die von ihm veranſtaltete neue Auflage ſeiner ſaͤmmtlichen Werke in dem
ganzen Umfange der Defterreichifchen Monarchie ausſchließend ausgeben und perkgufen zu laſſen. Wi verordnen demnach, daß Niemand ohne ſeine ausdruͤckliche Einwiligung die neue Auflage feiner ſaͤmmtlichen Werke weder unter dleſem, noch unter einem anderen Titel nachdrucken, oder verkaufen ſolle, deſſen ſich dann Jeder nicht gur bei Verluſt der Eremplare und des hlerzu vor⸗ bereiteten Materials, welches alles zum Nützen des Biſchofs 5 Sailer zu verfallen hat, ſondern auch bei Unſerer allerhoͤch⸗ 97 00 einer Geld⸗ IR yon pundert nah.
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die eine Hälfte dabon unſerem Aekarfum, n, aber 55 Biſchef von Saller oder feinen Etben nnd Ben bnaren zufa 160 und unnachſichtlich durch das im Lande, wo die di 17 ſchehen ft, anfseftellte Fiskalamt ein getrieben, bieſes Prrvlley! abet anderen zur Warnung dem Werke ſelbſt vorgedruckt Re ſoll.“ Das meinen Wir ernſtlich. Zur Urkund wies Briefes be⸗ ſiegelt mit Unſerem Kaiſerlichen Koͤniglichen und Erzherzoglichen Abet größeren Inſiegel, der gegeben iſt in Unſerer Kaiſer⸗
lichen 77 0 u b eſtdenzſtadt Wien, am neunzehnten Monats⸗ ne 115 a Geburt im Ein Tauſend acht, Hundert, und dre late, i we APR 1 acht und dreyſſi ole Jahre.
Bu r a n 8. ene eee ee sat 111 0 7 . Wos di mu n nns user noize ud \ uiid mn u aui ce en eee Mi Gnas undd wn netnteyy > nord N ee 7 in VIELEN" Aut zen 2 au nete bnd unt min b Fran Grof von Sante, dig na sig YET 100 6% Put; * bberſter Kanzler. 4 a 1197 3 Gn inn 4037 14 * MIC ale 1 un en 4 13 112 u 1 28 are 35 N 3 HR A. S. Graf Mitrrouftg. von Nemigchf; ringe 20 e N 8 N. 4 170 7 % u, 0 tat 119% Ant Nac Seiner Kaiſerlichen ögioticen, Majeflät; 3 n en „Sochſt⸗Eigenem 8 ars Nennen 24411 IH ü ** E r 0 gun en ne T ih Im Freiher! F 1 * roſtdi 155 Megiſtrirt Bin een von ne En 7 { ee dt 55 g ; 1 95 - Nan ir = E 85 W m r vereinten Hoftanzley. wide neee rd aeg
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Wir Frederik ber Sechste,
Gottes Gnaden König zu D anemark, der Wenden und Gothen, Herzog zu Schleswig, Holſtein, e der Dithmarſchen und zu Lauenburg, wie
auch zu Oldenburg .
Thun kund hiemit, daß Wir, in Betracht der von dem Co abjutor und Domprobſten des Bisthums Regensburg, Biſchof zu Germanicppolis, geiſtlichen Rath, Doktor von Sailer beabſich⸗ tigten neuen Ausgabe feiner Werke, in welcher Ruͤckſicht derſelbe gegen den Nachdruck geſichert zu ſeyn wuͤnſcht, gedachtem Doktor von Sailer ein Privilegium dahin allergnaͤdigſt ettheilen, daß die von ihm in veranſtaltende neue Ausgabe ſeiner Werke, welcher das Privilegium voran zu drucken iſt, in 20 Jahren, vom Tage der Ausſtellung des Privilegii an gerechnet, in Unſern Herzog⸗ thuͤmern Holſtein und Lauenburg weder nachgedruckt, noch ein anderswo verfaßter Nachdruck in den genannten Herzogthuͤmern davon verkauft werden ſolle, wobei Wir zugleich allergnaͤdigſt feſt⸗ ſetzen, daß alle bei dem Nachdrucker oder in den Buchhandlungen vorraͤthigen Exemplare des Nachdrucks eonfiseirt und außerdem die Contravenienten gegen dieſes Privilegium mit einer Geldbuße, welche dem Ladenpreiſe von 300 Eremrlartun d bes Ouigiualwerte gleich kommt, belegt werden ſollen.
Sollten uͤbrigens uͤber die Jace dieses wette pin Swe fel entſtehen, ſo hat darüber in vorkommenden Fällen Unſere Schleswig⸗Holſtein⸗Lauenburgiſche Kanzelei zu entſcheiden.
Wornach ſich maͤnniglich allerunterthaͤnigſt zu achten. Urkund⸗ lich unter unſerm König; Handzeichen und vorgedrucktem Snfiegel.
Gegeben in Unſerer Muck e Copenhagen, d. aten Jun: 184.
Sredevit, a
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| Rothe. at Jenſen. Sanyheim.
3 v. Prangen.
Privilegium |
für den Coadiutor und Domprobſten des Bisthums Regensburg,
Biſchof zu te un geiſtlichen Rath, Doktor von Sailer
gegen den Nachdruck einer neuen Ausgabe ſeiner Werke in den N Herzogthümern Holftein und Lauenburg. 7
Wir Schult A ene at h. Stadt unde Repusıie Bern
thun kund hiemit:
Daß der Herr Sailer, Biſchof zu Regensburg, in die Königlich Bayerſche Ge ſandtſchaft bey der Schweizeriſchen Eid⸗ genoſſenſchaft bey Uns mit dem Anſuchen eingelangt iſt, im Kan⸗ ton Bern gegen den Nachdruck der vorhabenden Herausgabe ſeiner ſaͤmmtlichen Werke ſichergeſtellt zu werden. Nach Unterſuchung dieſes Begehrens und auf ver ur des ese. Unſers Juſtiz⸗ 50 Heickezeade haben Wir ste n gde 15 33: Aaichne: Sbefhlöffen: ie nis 90a 2 RN De Nachdruck ſowohl der ſaͤmmtlichen Werke ben gerd Diſchofs Sailer als eines N ee, it in unſerm Gebiete verboten. m
2) Ebenſo iſt auch Wr der Verkauf eines aufaligen Nachdrucks ſowohl der gedachten ſämmtlichen Werke r e
Theils derſelben. and 3), Die Widerhandlung for mit Konftskation des Dorn N einer Buße von Franken 16 bis 50 beſtraft werde.
5 4 Hingegen iſt Herr Sailer verpflichtet, zu Je Kennst eine Anzeige dieſes Privilegiums unmittelbar nach dem Titel feines Buches zu ſetzen und nn en in 1 Wochenblatt einruͤcken zu laſſen. 8 ZBaur Bekraͤftigung dieſes Beſchluſſes it berſelbe mie unserm Standesſiegel verwahrt und von Unſerm fuͤrgeliebten Ehrenhaupt und Unferm geliebten Staatsſchreiber een roten BE in Bern den 13. Aprill 1829. u 27m
Der Amtsſchultheitz, in deſſen Abweſenheit: sig. von Muralt Seckelmeiſter.
Der Staatsſchreiber, in deſſen Abweſenheit:
Der Rathsſchreiber: dak. Wurſtemberger.
8 : Für getreue Abſchrift: . en wer Ne 5 18 N N 470 0% ar 4 L. e 18
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Inhalt der Einleitung. 9 Ne Fei! 0
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Grundbegriffe der Sittlichkeit und, Nechtüchtet. > ni Thal Fortſetzun der Grundbegriffe aller pe Fl — Von Ge⸗ wiſſen und e gane“ 2 i
Gewiſſenhaftigkeit (Gemigehätreue).. . . 22
Die Zurechnung et ind me 234
Sittliche Freiheit, un „ 24 §. II. Philoſophie aller oral.
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4 * 0 Sie . Mi ent 101% Jus Jon Erſte Tabelle. Der Menſch. ı 9120 57 86 „ 42 Zweite Tabelle: Der Urſprung aller Dinge, Gel. 9 „11,403 Uebergang zur chriſtlichen Moral) 44 S. III. 1 tar uebenfint zur oriplicen 5
1.
* 4 4 „% JN 10 „i J. Die 1 in und feinen Apostel. D atages ai 7 0 43 A. Einzelne Grundſätze. 137 Nan MO 1
B. Das Eine Grundgefeg Yin Moral: Die Summe der ganzen chriſtlichen Moral. Ice 128 Al .269
C. Centralideen, die den beugen ehren 1 1 1 au feiner Apoſtel zu Grunde liegen müſſen. . 53
II. Die Weiſe, wie Jeſus und ſeine Apoſtel Moral derten 6 1154
Das Originelle der Lehrweiſe Jeſu und ſeiner erſten Jün⸗ ger in Beziehung auf Got. In Beziehung auf den Menſchen. ee,
III. Das Eigenthümliche der Moral ehr und feiner, ZUR". 60 Von der Moral des Chriſten. e er 63 Die Moral Chriſti, eine Angelegenheit der Cpekutasion. 3 64
Die Moral als Angelegenheit der e „ mein au Die Moral der Ehriften ſpäterer Arn e bin sn uf8 u IV. Syſteme der Moral. ee Ag RER 80 74 74
Ueberſicht der griechiſchen Moralſpteme. A 1 271 n: % >
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Ueberſicht der Erhabenheit des chriſtlichen e ad‘ 84
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5. V. Grundriß ee mor at Ann S 85
Grundriß dieſer Moral, als Moral der Vernunft, aus ihrem
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W 4124 85 Grundriß der Moral als einer. e „ 93 Grundſatz der Einheit. 1 908 Das liehen de heftiger rl hilton Reigen, =
FAR: Wide der chriſtlichen Merallehre⸗ N Grundriß der Bi für künftige Seelenſorger in 1 2 e 125
liſchen K 89 Die Moral in ihrem recen Site rmelhe . 100 Die Moral, ein Ganzes in in ku urzen Sätzen en 101 N 0 nan — 1 US an 5 1595 113378 a re Hauptſtück der Moral, e W
Von dem bail hen Verderben der ben 20 * enen Das Eine En fe Geſetz der men Kötigen Sreithätiafeit
Inhalt . Ordnung dieſes Abſchnittes. „ e id 103 H. I.. Die Idee des Geſetze ss. 104 F. II. Erforſchung und re- er des Sümes 8
jener Geſetzesſumme . 107
A. Liebe gegen Gott.. 108 B. Liebe gegen Andere. unge! 123 C. Die Liebe gegen Gott und die Meifehneit als Einheit. 134
D. In wiefern das Geſetz von der Liebe, und das höchſte Geſetz für die Freithätigkeit des Menſchen⸗ ines ey. 4137 F. III. Der höchſte Grundſatz der ene — 138
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ni n iſt von dem Böſen. 9 — — 2
. 1 I. Das Böſe nach eee 2 — 585156 4. Das Eine in dem Böfen, en ned For MT m 3 Was. im Böfen, bei aller Einheit, ef 5 . II. Bas Böfe iM. feier Wenefie, b, ass Beſtimmung des Fragepunktes. er Mae. ee aer 12 Wo ſie nicht gefunden werden Tann. i e e en
Wo die Geneſis des Böſen geſucht werden HER BT „Ve 216
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Geneſis des Menſchlichböſen im Innern. me ann 222 Wie das Böſe herrſchend 5 220 Wie einzelnes Böſe aus dem bekrſchenden Böen 1 227 Wie das Böfe feine Linie von der erſten Regung bis zur Vollendung durchlaufe „% „„ 230 Klaſſifikation der Asch, off, ‚auf Shen 15 sn *
un haben., 5 239 Einflüſſe der seien. urſichen l a ug a e 20 . ur DaB e inet Stel 15 160 10 5 Größe der Sind . 5 = 1 . 15 5 nn 4 ER ar Größe Wee 8 Mads u deen 10 . nes 41622 N . Größe der Laſterhaftigkeitn n.. and 1 an ö 261 A. Geiſtes⸗Knechtſchaft, moraliſche Sklaverei. 2602 Bi Heuchelei. inen ee. 206 C. Falſche, fleiſchliche, erkünſtelte Inſſchhet . 270 D. Die Verhärtung. . ain. ; sa. SAN. „Das Böſe in dehnen nitändigen: Wirk. 0085 ſamkeite een e eie ee eee. 277 Die unmittelbare Wirkſamkelt des Böſen. Ali ene | Das Böſe in feiner mittelbaren Wirkt. 1715 si, a Rückblick auf Er ce Abt W e 9.935 5
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5 I. Das Gute als Artus ö in, der N 'y 988 betrachtet. 10 n 7 * gau 293 124 296 mals des Guten. ine . % Jie . II. Das Gute im Menſchen als Gefinn ung. als Charakter, als eigentliche Fuße dene .
Von dreierlei Momenten: der Tugend. tile i e EL A. Was iſt Tugend . og 15 ya 508 B. Was ift die Tugend 2 e 1 84
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1113 Ken NIE 5 Seite Sn halt und Zuſammenhang. drs anelen baun, 30 a . f. 2 5 1
zogertrendd E r ster A b. c n tt. ME Von den Bedingungen, die den Uebergang a ven + Böfen zum Guten moglich mache n⸗
! tj2 44 In ya 12 abb. u hrevon der &elvkerfenntniß. „ e 3839 I. Die ee von dem, was ich ſeyn ſel. 339 H. Was ich bin? (im Ver ergleich . mit dem Seynſolen.) — — 347
der Inhalt (das Malerſale) der Ceiterfenntnig in einem Beiſpiele vorgezeichnet.
. U. Lehre von der nothwendigen Seine ſtimmung sur Brlefertenmirtßn 354
2
ge Abſchnitt. en dem wirklichen Uebergange vom men sum.
’ Guten. §. I. Lehre der allen Menſchen RER, Vernunft von dieſem Hebergange. in.:n; 360
Freundliche Zwiſchenerinnerung an einige meiner Zeitgenoſſen. 366
F. I. Die allen christlichen Konfeſſionen gemein⸗ ſame Lehre der DO Difenbarung,nan. dem He, bergange zum Gu *
Die Idee des Gutwerdens in verſchiedenen Schriftſtellen an⸗ gedeutet und in zwei Hauptſatze zuſammengefaßt. 367
Bilder, Gleichniſſe, Schilderungen der 19 ttlichen irg erungen, | die im neuen Teſtamenfe vorkommen. f 372
Aufzählung der einzelnen unterſcheidbaren ek, die den Begriff der ſittlichen Beſſerung ausmache n. 381
ö. er ze Eehrhegriff der katholiſchen N von 5 eſſerung des Menſchen. „ 388
A. 2 der Sünde (Beicht)ꝛz. 394 B. Die Abſolution. DPR MG chen 1. ey‘ chin 396 C. Individuelle Belehrung 400 Cine Frage und drei Folgen. 407 Noch einige Erinnerungen. „Fanta a
— 24 ** , ns en € sie. ix 7 1 ä — 7 22 aA or : ER MR 3 8 716 9 e . 0 10 . N 71394 n. ee 233 HF CHEZ } N ur ra 25 7 S 8 s 4 4 5 0 n
Vorrede
Vorrede au meine Zuhörer und Leſer, f u die, !
als dum Werke gehörig, ange ſeben fen m will.
1.
Es ie eine Frage, die ſchon als aa die 7 Wich⸗ tigkeit ihrer Unterſuchung ausſpricht, die Frage: Iſt Tu⸗
gend ein Traum oder Wahrheit, ein Geſpenſt oder wirk⸗ liches Seyn ?
Und, wenn ſie iſt, was iſt fie denn ? Iſt ſie bloß eine voruͤbergehende Wallung des Blutes, ein ſchwanken⸗ der Gedanke des Verſtandes, ein fluͤchtiges Gebilde der Phantaſie, eine wechſelnde Neigung des Herzens, ein halb⸗ lahmes Wollen, oder iſt ſie mehr? Iſt fie aus der Zeit oder aus der Ewigkeit geboren? Iſt ſie der Himmel ſelbſt, oder iſt ſie die Pforte dazu, oder beides zugleich? Iſt Unvergaͤnglichkeit ihr Weſen, oder wird ſie etwa von der Motte gefreſſen, wie das Gewand, von dem Feuer ver⸗ zehrt, wie die Huͤtte, von dem Grabe verſchlungen, wie der N St 1 ihr Ehutafter wie ar re
er 2. Es giebt eine uses auf dieſe Fragen die alle Weiſe, die ſind, was ſie heißen, in ihrem Bewußtſeyn vor⸗ finden, und in ihrem Leben darſtellen, die Antwort: Tugend iſt, und fie iſt das, was in der vernünftigen Natur des Menſchen als ſeine Beſtimmung unverkennbar eingezeichnet, und als wirkliches Seyn ſelbſt in der Ge⸗ berde des Edlen noch kennbar genug ausgedruͤckt iſt; was
in die unzaͤhligen Gedanken, Wuͤnſche, Handlungen des J. M. v. Sailer's ſämmtl. Wa XIII. Bd. zte Aufl. 1
— 2 —
einzelnen Menſchen Ordnung zu bringen und den vergaͤng⸗ lichen Muͤhungen der menſchlichen Geſellſchaft unvergaͤng⸗ liche Wuͤrde zu verſchaffen, allein im Stande iſt; was keine Wiſſenſchaft des Forſchers aus ſich allein erzeugen und keine Tyrannei ertoͤdten kann, was alſo hoͤher ſteht, als alle Wiſſenſchaft, und ungleich hoͤher, als alle Welt⸗ macht; was die Truͤmmer der Welten, alſo wohl auch die Truͤmmer aller menſchlichen Syſteme uͤberleben wird; was ſich in dem Evangelium und in dem Leben Chriſti am ſchoͤnſten ausſpricht, und was die Leiche der frommen Mutter in dem letzten Wiederſcheine des abgeſchiedenen Geiſtes noch verkuͤndet; was der Feind im Feinde loben, und ohne was ſich der Menſch ſelber verdammen muß; was das ſtrenge Scepter des Gebietenden milde, und die ſchwere Buͤrde des Gehorchenden ſauft, was das aͤrmlichſte Menfchenleben inhaltreich und das Bitterſte — ſein Ende ſuͤß macht; was mich uͤber die Natur und uͤber mich ſelbſt erhebt, um mich mit der Urquelle aller Natur und aller Vernunft zu einigen, und was mich in dieſer Einigung groß, ſtark, weiſe, frei, ſelig macht. a
Tugend iſt, und ſie iſt das, was in dem Heiligen das Gott ſelber iſt, ſein Urbild, in dem Ausſpruche Got⸗ tes, der im Gewiſſen wiederhallt, ſein Geſetz, in der Rich⸗ tung des freien Willens zum Urbilde ſein Weſen, in der Nachahmung des Heiligen ſein Tagewerk und in der er⸗ rungenen Gleichheit mit dem 2 den Endepunkt rr ! nes Strebens hat. 0
Tugend iſt, und ſie iſt das Goͤttliche, das aus Gott geboren, zunaͤchſt das Gemuͤth des Menſchen verklaͤrt; dann, nach Außen wirkend, aus dem Chaos Ordnung ſchafft, die Welt . b und das Elend der Re ſchen erquickt. 5
Tugend i ſt, und fie iſt das Göttliche, das Lunch ſeiner vierfachen Dimenſion) ſeine Hoͤhe in Gott, ſeine Tiefe in dem Gott anbetenden Gemuͤthe, ſeine Breite auf dem Schauplatze der Welt, feine Fänge in der gr ant hat.
„
Tugend iſt, und ſie iſt das Goͤttliche, das in ſei⸗ nen eriten Bewegungen wider das Fleiſch für den Geiſt kaͤmpfet; in ſeinem Fortſchritte das Gemuͤth fertig macht, nach dem Geiſte zu leben; in ſeiner Annaͤherung zum Ziele Gottſeligkeit und Leutſeligkeit, ohne ſonderlichen Kampf, in ſchoͤnſter Harmonie erzeuget.
Tugend iſt, und ſie iſt das Göttliche, das nicht
in der Region der Sinnlichkeit, nicht in der Region des Begriffes, ſondern in der Region der In lien daheim iſt; das von Gott kommt und zu Gott zu uͤckfüͤhrt und in Gott ſeinen Sabbath feiert — und, im Himmel lebend, auf Erden das Bild feines, himmliſchen Lebens wie im Abglanze darſtellt. Pd N
Tugend iſt, und fie iſt das Göttliche, das in ſei⸗ nem Urſprunge eine neue Schöpfung, in feinen Leben eine, neue Manifeſtation Gottes, in ſeiner Vollendung ein ſe⸗ c Leben wi in und mit Gott it
Tur. 5 9 = g ’ . 3.
Was jene Frage an die vernünftige Natur des Men⸗ ik wiederholet, und dieſe Antwort nach ihrem ganzen Umfan e darleget, iſt das, was Moral. ‚heißt, eine Wiſ⸗ ſenſchaft, die mir in jeder Lehrſtunde neu heilig werden muß, weil ſie mir ihre Wuͤrde neu fuͤhlbar macht. Denn dieſe Wiſſenſchaft haͤngt nicht etwa mit der derten innigſt zuſammen, ſie iſt Eines mit ihr.
Entweder ſetzeſt du. die Philo ſophie oben an, fo ſteht die Moral mit der Philoſophie oben an; denn ſie iſt die anſchaulichſte und geſelligſte Seite aller Philoſophie, indem ſie das Leben der Philoſophie ſowohl in der Tugend des einzelnen Menſchen, als in der Ordnung der Geſell⸗ ſchaft anſchaubar und genießbar macht. Oder du ſetzeſt die Religion oben an, ſo ſteht die Moral mit der Re⸗ ligion oben an; denn die Tugend, die jene lehrt, iſt mit der Religion dem Weſen nach eines; iſt ſie ſelber, nur ihre Spitze eingekehrt in das Gemuͤth des Menſchen und ausgekehrt in das Leben der Zeit. Oder du ſetzeſt Phi⸗ loſophie und Religion oben an, ſo ſteht die Moral
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mit beiden oben an, indem ſte mit jener den Grund alles Wiſſens, mit dieſer das Wiſſen, oder „ dus Du wußtſeyn des eee gemein hat. ter
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en die Meral als Wiſſenſchaſt gedeihen ſoll, ſo
wird ſie vorerſt von ihren vornehmſten Entſtellun⸗
gen, die ſie in der Vorzeit und beſonders in unſern Ta⸗
gen erleiden mußte, befreit, und dann, in ihrer eigenthuͤm⸗
lichen Schönheit, dargeſtellt werden muͤſſen. Beides zu iM ſten, iſt mein KR. zu verſuchen, mein Beruf.
5.97% 2 u lun
Die erſte Entſtellung der Moral beſtand darin, daß ihre weſentliche Richtung nach oben zernichtet ward.
Wie die leichtſinnige Welt in unſern Tagen en eitier
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hinhalten. Sie ſcheuen das Hoͤchſte im Fe das Beſte — die Religion. Dieſe Religionsſcheu iſt bei Vie⸗ len vielfach; denn ſie ſcheuen Religion uͤberhaupt, ſie ſcheuen chriſt liche Religion insbeſondere, fie ſcheuen das Pofi itive in der chriſtlichen Religion noch mehr, ſie ſchenen in dem Poſitiven das Katholiſche am meiſten.
A „Dieſe Religionsſcheu hat ſich auch der Wiſſenſchaft be⸗ der die Geſpenſter, und Manche fegen den Gipfel der Wiſſenſchaft in den Gipfel der Religionsſcheu. n
ya Dieſe Religionsſcheu hat ſich vorzuͤglich der, Moral bemaͤchtigt; ſie glaubten, die Moral nicht feſt gegründet zu haben, tis ſie von Gott losgemacht waͤre. Sie woll⸗ ten die Moral auch fuͤr Atheiſten brauchbar machen, wie ſie ſagten — und raubten ihr dadurch, daß ſie biefelbe von Gott losmachten, Geift und, Leben. re Nachdem ſie die Moral von Gott geſaͤubert hatten, | ſo war es eben deßwegen um Chriſtus in der Moral ge⸗ ſchehen; denn, wo Gott Abe 955 da iſt es Gott in Chriſtus ur auch. !
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Ki Me die Moral von allem Göttlichen (von Gen und Chriſtus) entblößet war, ſo hatten ſie nur noch einen Schritt zu thun, um ſie von dem, was in dem Reinmenſch⸗ lichen das Reinſte, in dem Schoͤnmenſchlichen das Schoͤnſte war, zu entbloͤßen. So ward auch das Gefuͤhl, und zwar das ſchoͤnſte, das lauterſte, das der heiligen Liebe, aus der Moral gebannt. Es war nur Achtung des Ge⸗ ſetzes an der Tagesordnung. Sie hatten alſo eine Mo⸗ ral ohne Gott, ohne Chriſtus, ohne Liebe.
Dadurch verlor nun die Moral all ihre Herrlichkeit; denn was das Univerſum ohne Gott, das iſt die ſittliche Welt ohne Religion, das Chriſtenthum ohne h
ſtus, die Tugend ohne den Geiſt der Liebe. 1
Es iſt alſo hohe Zeit, im Forſchen und Handeln dar⸗ nach zu trachten, daß die kranke Menſchheit von der Re⸗ ligionsſcheu geheilet werde, weil fie nur dadurch dem ſitt⸗ lichen Tode entriſſen werden kann. Es iſt hohe Zeit, den Verſtand, da, wo er von aller Vernunft abgefallen, bloß in der Endlichkeit lebt, wieder mit der Vernunft, und die Vernunft, da, wo auch ſie von Gott abgefallen, und au ein von Gott geſchiedenes und im ſchlimmſten Sinne reines Selbſt denken hingegeben, mehr ſtirbt, als lebt, wieder mit Gott zu vereinigen. Es iſt hohe Zeit, das menſchliche Denken, das ſich mit der hoͤchſten Wahrheit entzweiet hat, wieder mit ihr auszuſoͤhnen, wenn anders das freie Wollen mit dem hoͤchſten Gute Eines wer⸗ den ſoll.
Durch dieſe erſte Eutſtellung ward die Moral von
dem Goͤttlichen iſolirt, und eben dadurch ward ſie grund⸗ los, gemuͤthlos, gemein, unheilig, lahm.
Dieſe Entſtellung erfuhr ſie in ihrer Beziehung nach oben; die andere Entſtellung erfuhr ſie in ihre; Waun hung nach unten.
Die Freunde des Lebensgenuſſes wollten nicht 01 Moral ſeyn; aber ſie durfte nicht ſtrenger ſeyn, als ihr debenggenuß, und der war von jeher ein lockerer Geſelle,
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ein feſter Haſſer aller Ordnung im Innern und aller Zucht im Aeußern. Es ſollte die unendliche Sinnenluſt nur ſehr ſchonlich begrenzet, und durch Begrenzung geſichert, und durch dieſe Sicherung der Genuß in ſeiner Art verewigt werden. Dadurch ward die Moral in die niederſte Klug⸗ heitslehre verwandelt, und ſie beſtand in der Anleitung, wie der Menſch hienieden laͤnger Thier bleiben, und im⸗ mer weniger Geiſt werden koͤnne.
*
Iſt die Moral von ihren zwei vornehmſten Verderb⸗ niſſen rein, ſo werde ich, um ſie in ihrer eigenthuͤmlichen Schoͤnheit darſtellen zu koͤnnen, die Menſchheit, wie ſie iſt, ſtets im Auge behalten, und die Moral als die Eine Moral fuͤr die Beduͤrfniſſe der Menſch⸗ heit in ihrem jetzigen Zuſtande lehren muͤſſen. Denn, ſo wie es nur Eine Wahrheit, ſo kann es auch nur Eine Moral geben, und wenn ſie fuͤr die Menſch⸗ heit, wie ſie jetzt iſt, nicht paſſend waͤre, wozu waͤre ſie denn? — Die Moral wird alſo nicht umhin koͤnnen, Menſchen, die Gott und mit Gott das Licht, die Liebe und das Leben ihrer Heimath verloren haben, wieder zu Gott zuruͤckzuweiſen, und in Gott Licht, Liebe, e wie⸗ der aus zu A * ei
” 8.
Ich werde Ste (m. l. 3.) demnach eine Moral leh⸗ ren ſollen, deren Geſetze ſo wahr ſind, als Gott, der die Wahrheit, ſo heilig ſind als Gott, der die Heiligkeit, und fo bef e ſind als Gott, der die Seligkeit ſel⸗ ber iſt.
Und dieſe Moral wird in ihren Grundſaͤtzen ſo ge⸗ wiß ſeyn, wie die Ausſpruͤche der Menſchenver— nunft; wird fo klar ſeyn als die Offen barungen Gottes, durch den Logos in jedem Menſchenherzen aus⸗ geſprochen und durch Chriſtus in neuer Fuͤlle des Lichts dargelegt; wird ſo allgemein ſeyn, als was der reine Geiſt der katholiſchen Kirche in ihren beſten Glie— dern zu allen Zeiten kund gethan hat. Und dieſe Moral
wird eben deßwegen, weil fie. den Beduͤrfniſſen der jetzi⸗ gen Menſchheit angepaßt ſeyn ſoll, eine Moral des Lich⸗ tes, der Liebe und des Lebens ſeyn. Als Moral des Lichtes wird ſie wahre Erleuchtung foͤrdern; als Moral der Liebe wird ſie zur reinſten Tugend ſpornen; als Moral des Lebens wird ſie wenigſtens in den aus⸗ erwaͤhlten Menſchen, in denen ſie ſich am ſchoͤnſten per⸗ ſoniſteirt, mitwirken koͤnnen, die Welt zu verbeſſern, zu verſchoͤnern und zu befeligen. | 9.
Aber die Moral des Lichts, der Liebe und des Le⸗ bens muͤſſen ſie nicht beurtheilen wollen, ehe ſie ihren Buchſtaben und Geiſt verſtanden haben, und nicht verſte⸗ hen wollen, ehe ſie das Einzelne ganz und im Zuſammen⸗ hange erfaßt, und dann aus der Anwendung ſelber er⸗ gruͤndet haben werden. Denn alle Einwuͤrfe, welche die Finſterniß gegen das Licht, die Kaͤlte gegen die Liebe, der Tod gegen das Leben macht, beweiſen nichts wider das Licht, die Liebe und das Leben, ſondern, wenn ſie etwas beweiſen, ſo beweiſen ſie nur wieder die een, die
Kaͤlte und den Tod. |
Wenn fie dagegen ſchon ein durch Liebe gereinigtes, im Guten lebendes Gemuͤth in den Hoͤrſal oder zum Les ſen mitbringen, ſo werden ſie das Wort ihres Lehrers ohne Muͤhe verſtehen; denn ſeine Berichte von Licht, Liebe, Leben werden bei allen Spuren von Unvollkommenheit ih⸗ nen nichts anders ſeyn, als eine, wenn gleich ſchwache, doch treue Kopie von dem Gemaͤlde, das ſie in ihrem Geiſte ſchon erſchaut, nichts als Hinweiſung zu dem Baus me, unter deſſen Schatten ſie ſchon geruhet, nichts als eine Beſchreibung der öden Frucht, die ſie ſchon ge⸗ noſſen ar
10.
Wenn nun aber der Lehrling ſchon ein durch Liebe gereinigtes, im Guten lebendes Gemuͤth mitbringen ſoll: fo wird wohl auch der Lehrer jene Lehrweiſe wählen muͤſ⸗ ſen, welche dieſem heiligen Zwecke am beſten entſpricht,
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indem fie die Vernunft und das Gemüth der Hoͤrenden zugleich aufregt und im gemeinſamen Intereſſe erhaͤlt, wo⸗ durch die Moral nicht nur ein feſtſtehendes Ganze in ihrer Anſchauung werden kann, ſondern auch, durch Dar⸗ ſtellung in ihrem Leben, eine lebendige Moral werden muß.
Denn die Tugendlehrer ſollten jn nicht das Etend der Zeit dadurch vermehren helſen, daß ſie die Moral der Schule mit jedem Tage noch ſpitzfindiger, und die Moral des Le⸗ bens mit jedem Tage en werden Nee
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Wis die Vorrede, nicht ohne Schein, mehr dem Gefühle als dem Verſtande nahe gelegt hat, das ſoll die Moral ſelbſt und vor erſt die Einleitung in die Moral mehr dem Verſtande als dem Gefühle darlegen.
Die Moral, als Riff enſchaft, hat mancherlei Varian⸗ ten. Dreierlei Varianten haben ſich beſonders ſeit der Erſcheinung des Chriſtenthums ausgezeichnet. Einige ſuch⸗ ten nur in der Fundgrube, die im Menſchen ſelbſt offen iſt, und jedem in ihm zuganglich iſt oder werden kann; Andere ſuchten vorzuͤglich in der Fundgrube außer dem Menſchen, in den Anſtalten des Chriſtenthums, in den fruͤhern Sagen, Lehren der Vorzeit, in den Reli⸗ quien der Tradition; Andere holten ſich ihren Schatz aus beiden. Daher die Fragen: was lehrt die philof ophi⸗ ſche Moral? was die chriſtliche? iſt Einheit zwi⸗ ſchen beiden? was iſt Sinn und Geiſt der Deinen? — Dieſe Fragen loͤſet die Einleitung.
42 % Inhalt der Einleitung.
I. Man hat im Menſchen die ganze Bedeutung, den vollen Grund und den Endzweck aller ethiſchen Be⸗ griffe aufgeſucht, ohne von Gott auszugehen, und was man fand, hatte wohl Bedeutung, aber kein Woher, und kein Wohin, kein Erſtes und kein Letztes, keinen vollen beſtimmten Sinn, war mehr Sprachlehre, als voll⸗ kommen beruhigender Aufſchluß. |
II. Das Woher und Wohin und der volle be⸗ ſtimmte Sinn kann den ethiſchen Begriffen erſt zu Theil werden durch die Eine wahre Philoſophie, durch die naͤmlich, die von Gott als der hoͤchſten Wahrheit aus⸗ geht, und zu Gott als dem ewigen Leben zuruͤckgeht. Darin beſteht denn auch die 1 e er aller Moral in ihrem Beginnen.
III. Die Philoſophie, die in Gott die hoͤchſte Wahr⸗ heit und das ewige Leben ergreift, konnte den ethiſchen Begriffen allerdings den erſten Urſprung und das letzte Ziel anweiſen, aber ſie konnte den Unterricht von dem ethiſchen Leben nicht vollenden, bis ſie a) die urſpruͤng⸗ liche Menſchen⸗Natur, b) den Abfall der menſchlichen Natur von Gott, und c) die Wiederherſtellung der ſelben in und durch Chriſtus erkannte. — Das ſoll in der chiſtoriſchen Ueberſicht der chriſtlichen Moral einleuchtend werden... Hier vollendet ſich die Philoſophie der Mo⸗ ral, kann ſich wenigſtens vollenden.
IV. Jetzt erſt, durch die Erkenntniß Gottes 85 des Menſchen, iſt eine richtige Darſtellung und Beurtheilung aller Syſteme der Moral moͤglich.
V. Jetzt laͤßt ſich die Einheit der philoſophi⸗— ſchen und chriſtlichen Moral begreifen, jetzt der Grund⸗ riß dieſ er Moral darlegen.
Die Einleitung enthaͤlt alſo in fuͤnf Paragraphen $. I. Sprachlehre der Moral. §. II. Philoſophie aller Moral. §. III. Hiſtoriſche Ueberſicht der chriſtlichen Moral. §. IV. Darſtellung der Moralſyſtenme. 8. V. Entwurf dieſer Moral.
8. E en | 13 1 80 Sprachlehre der Moral.
13.
Die Sitenlehrer haben, ohne von dem area: das ſich an allem Wahren offenbaret, von Gott, auszugehen, mancherlei Verſuche gemacht, die Grundbegriffe der Sitt⸗ lichkeit in dem Selbſtbewußtſeyn des Menſchen aufzuſuchen und nachzuweiſen. Allein, da der Grund nicht außer dem Urgrunde gefunden, das Wahre nicht ohne das Urwahre erkannt werden mag: ſo haben ſie auf dieſem Wege zwar zu einer Grammatik der Moral, aber zu keiner Grund⸗ einſicht gelangen koͤnnen.) Hier das Beſte, was auf dem genannten Wege gefunden ward und en, wer⸗ den konnte.
Ich, ſpricht der Selbſforſcher, 1 ein Selbſibewußt⸗ ſeyn, und unterſcheide in dieſem Selbſtbewußtſeyn Man⸗ cherlei, und bezeichne, was ich unterſchieden habe. Dieß Mancherlei nn und bezeichnet, giebt ihm kalcende
A bed der Sittlichkeit und Nechtüchkel
1) Ich unterſcheide in mir ein bloßes Wirken, wobei ich mir ſelbſt mehr leidend als thaͤtig zu ſeyn bewußt bin, von dem Handeln, das ich ſelbſt vornehme, und wobei ich mir lediglich ſelbſtthaͤtig zu ſeyn bewußt bin, z. B. ich unter⸗ ſcheide das Hauptwehe von dem Nachdenken uͤber die Ur⸗ ſachen des Hauptwehes; jenes nenne ich ein bloßes Motu wirken, dieſes ein ee rg *
) Beides zeigt ſich in Reinhold früheren, Verhandlungen über die Grundbegriffe der Moralität, in feinen ſpätern Beiträgen zur leichten Ueberſicht der Philoſophie und in ſeiner letzten Grundlegung der Synonymik 1812. Das ſcharfe Gepräge, das feinen frühern Unterſcheidungen eigen iſt, hat mich vermocht,
einige derſelben von Nr. 14—15 mit . und Zufägen hieher zu verpflanzen. 7 nee,
2) Ich unterſcheide in mir die Thaͤtigkeit der Perſon, die ſich durch ein Selbſthaudeln ankuͤndet, ſowohl von der innern Thaͤtigkeit der thieriſchen, als der äußern Thaͤtig⸗ keit der mechaniſchen Krafte. Jene iſt mir die Selbſt⸗ thätigkeit der Perſon, die mir eine Stelle in der Mens ſchengattung anweiſet. So kann z. B. der Klavierſpieler, wenn er uͤber fein. Spiel nachſinnt, ohne Muͤhe unterſchei⸗ den: die Wirkſamkeit des Klaviers, die Thaͤtigkeit ſeiner Haͤnde, die Selbſtthatigkeit des Spielers, d. i. den Mechanismus des Klaviers, den Organismus der Haͤnde und das Selbſthandeln der Perfonz die Perſon bewegt die Hand, die Hand bewegt das Reben das Klavier giebt die Toͤne. Pr
3) Ich unterſcheide in mir die Selbſthätigteik der Perſon beim Denken von der ae ee der Per⸗ fon: beim Wollen.
4) In der Selbſtthaͤtigkeit, die ich beim Denken wahr⸗ nehme, unterſcheide ich eine Selbſtthaͤtigkeit, die den Stoff des Erkennens, den die Sinne liefern, bearbeitet, und das Mannigfaltige deſſelben unter die Einheit bringt, indem ſie Vorſtellungen, Begriffe, Urtheile bildet — Verſtand, von der Selbſtthaͤtigkeit, die weder in der Sinnenwelt, noch in der Verſtandeswelt ruhend, uͤberall der hoͤhern Einheit, die uͤber der Sinnenwelt, und uͤber der Verſtandeswelt hinaus liegt, und keine andere mehr uͤber ſich hat, nachgeht, und nicht ruhen kann, bis ſie die hoͤchſte Kuhnt! wan men hat — Vernunft.
5) Die Selbſtthaͤtigkeit, die ich bei dem Wollen wahr nehme, iſt mir Freiheit, Freithaͤtigkeit .. zwei Aus druͤcke, die fuͤr gleichnamig gebraucht werden, obgleich der erſtere mehr die Abweſenheit der Noͤthigung (mmu⸗ nitas a necessitate), der andere mehr das freie Han⸗ deln ſelber bezeichnet.
2 Die eee der Ke hat eine be⸗
„Hr
Die Bess z. 5. erklärt die . aus rei⸗ nem Wohlwollen fuͤr eine edle Handlung, weil ſie wan
— BB.
fuͤr edel betlören muß. Die Freiheit pflegt die Kranken aus reinem Wohlwollen, weil ſie will.
2) Die beſtimmte, nothwendige Wandlungswelſe der Vernunft heißt: die Vernunft kann auf nichts, als auf die hoͤchſte Einheit ausgehen; kann nichts thun, was ſie mit ihr ſelber in Zwiſt, mit der hoͤchſten Einheit in Wider⸗ ſpruch ſetzte; kann nicht unterlaſſen, Einſtimmung mit ſich, Einſtimmung mit der hoͤchſten Einheit zu fordern. Kuͤr⸗ zer: Sey Eines mit dir im Denken, ſagt die Ver⸗ nunft zu ſich ſelber. Sey Eines mit mir im Han⸗ deln, ſpricht ſie zum Willen⸗ Die Vernunft kann z. B. kein Währes ohne das Ur wahre denken; denn da ſie als Vernunft uͤberall der hoͤchſten Einheit nachgeht, und nachgehen muß: ſo wuͤrde die Vernunft, die ein Wah⸗ res ohne die hoͤchſte Einheit alles Wahren dachte, mit der Vernunft, die uͤberall nur die hoͤchſte Ein⸗ heit, alſo das Urwahre, aufſucht, in Zwiſt und Wider⸗ ſpruch gerathen, ſich ſelbſt aufheben, unmoglich machen. Sie kann aber auch zur Freiheit des Willens nicht ſpre⸗ chen: Men ſch/ ſey Thier! denn das ſtimmte nicht uͤberein mit der Seibrhätigfeit der Vernunft, und die Ver⸗ nunft muß Einſtimmung mit ſich ſelber fordern. N 8) Ich unterſcheide in mir, in der Perſon, das durch Luſt und Unluſt nothwendig erregte Streben von dem Sichef elbſt⸗beſtimmen zu irgend einer Thaͤtigkeit, zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung des erregten Strebens. Jenes durch Luſt oder Unluſt erregte Streben heißt mir ein Begehren. Dieſes Sich“ ſelbſt⸗ beſtimmen zur Thaͤ⸗ tigkeit, z. B. zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung des erregten Strebens, heißt mir: ſich 1 elbſt ent ſchließen, heißt das eigentliche Wollen. 3. B. die Unluſt, die mit dem Hunger verbunden iſt, erregt in mir das Begehren nach Speiſe auf eine nothwendige Weiſe; aber die pers fon in mir entſchließt ſich, das Beduͤrfniß nach Speiſe unbefriedigt zu laſſen, um dem Hedrängten ke zu BR" RR eee
90) In dieſem Sich⸗ ſelbſt entschließen amtes ich | eser! eine zweifache Richtung des Willens, das Wollen des Zweckes von dem Wollen des Mittels, z. B. ich ent⸗
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ſchließe mich zum Nichteſſen, um der hoͤhern Forderung der Vernunft genug zu thun; hier wird der Aufſchub des Mah⸗ les, das Nichteſſen, Mittel, die Erfuͤllung der hoͤhern Forderung — Zweck. Die Entſchließung kann alſo auf das, was ich will, und auf das, wozu ich es will, be⸗ zogen werden; jenes heißt ſchlechtweg ſich entſchließ en, dieſes beabſichtigen, bezwecken. Der Zweck liegt im Gegenſtande, die Abſicht in der Perſon. 10) Ich unterſcheide die Entſchließungen (Willens⸗ akte) in ſolche, bei denen das Thun und Laſſen der Freiheit mit dem Geſetze der Vernunft uͤbereinſtimmt, und in ſolche, bei denen es dem Geſetze der Vernunft widerſpricht. Jene 80 ind die ges etz mäßig ne 1 die geſetzwidrigen. 1. ö
11) In ſofern in 1 Willensakten das e Entſchluß und Bezweckung, mit dem Geſetze der Vernunft uͤbereinſtimmt, ſind ſie eigentlich ſittlichz in ſofern Entſchluß und Bezweckung der Perſon dem Ge⸗ ſetze der Vernunft. widerſpricht, ſie moͤgen als aͤußere That demſelben gemaͤß ſeyn, oder nicht, ſind ſie unſitt lich. So macht z. B. der vernünftige Entſchluß und der ver⸗ nuͤnftige Zweck die Krankenpflege zur ſi ttlichen Handlung, den Eigennutz zur unſittlichen.
12), Die Handlungen des Willens ſi ind rechtliche, in sofern fie, durch ihre aͤußere That mit dem Geſetze der Vernunft uͤbereinſtimmend, ſich mit dem einzelnen Thun und Laſſen der Andern vertragen, die aͤußere Frei⸗ heit nicht ſtoͤren; in ſofern ſie aber, durch ihre aͤußere That dem Geſetze der Vernunft widerſprechend, mit der aͤußern Freiheit der Andern nicht vereinbar ſind, widerrechtlich. 15) Die allgemeinſte Vorſchrift der Vernunft für die Sittlichkeit heißt das Sittengeſetz (eigentlich Geſetz der Sittlichkeit). Das Sittengeſetz ward fo ausgedruckt: Beſchließe und bezwecke nichts, als was den Charakter der Einſtimmung mit der Vernunft hat. Oder: Sey Eins mit der Vernunft im Wollen, wie die Vernunft mit ſich
im Denken. — Im Blicke auf das All; der vernünftigen
Weſen erfand man das bekannte Formalgeſetz: Laß nur dieß als einen Beſtimmungsgrund deines freien Handelns
m. . =
gelten, was, als eine Forderung an alle vernünftige We⸗ ſen gedacht, ſich nicht ſelbſt aufheben wuͤrde. Im Blicke auf den Zweck der freien Handlungen ward eine Formel gefunden, der es wenigſtens nicht an Juhalt fehlet: Be⸗ handle die vernünftige Natur ſowohl in deiner Perſon, als in jeder andern nie als bloßes Mittel, ſondern als Zweck.
14) Die allgemeinſte Vorſchrift der Vernunft fuͤr die Rechtlichkeit heißt das Rechtsgeſetz, das Geſetz der Recht⸗ lichkeit. Dieß Geſetz ward ſo ausgedruͤckt: Richte dein aͤußeres Thun und Laſſen ſo ein, daß es ſich mit dem aͤußern freien Thun und Laſſen der Andern vertrage, der aͤußern Freiheit einer andern Perſon nicht widerſpreche.
* Es iſt hier noch gar nicht die Frage, ob dieſe Formeln N. 13. 14.
anwendbar auf alle per anne 15 e ſfophiſch ſeyen.
7 15) Ich undetfetse in mir ds aut und
TE
1 0 1 nicht K ich kann das Son zu 1 Hervorbringung die nöthige Naturkraft fehlt; ich darf, was die Freiheit kann, ohne dem Geſetze der Vernunft zu widerſprechen; ich darf nicht, was die Freiheit nicht kann, ohne dem Geſetze der Vernunft zu widerſprechen; ich ſoll, was der Freiheit durch das Geſetz der Vernunft nothwen⸗ dig geboten iſt, aber nur durch Freiheit geſchehen kann; ich muß, was nach bloßem Naturgeſetze nothwendig iſt, und nicht durch Freiheit geſchehen kann; ich kann, was ich darf und nicht darf, in ſofern mir die Naturkraft, es hervorzubrin⸗ gen, nicht fehlt; ich darf nicht Alles, was ich kann: was ich ſoll, kann ich, ohne es zu muͤſſen; wo ich muß oder nicht kann, da findet kein Sollen Statt. Wir muͤſſen z. B. Athem holen, um zu leben, koͤnnen nicht fliegen, duͤrfen nicht verſchwenden, ſollen unſre Schulden bezahlen.
16) Ich unterſcheide das Recht von der Macht, und die Pflicht von dem Zwange. Was die Freiheit darf, dazu hat ſie ein Recht; das Recht iſt alſo das Vermoͤ⸗ gen, das der Freiheit durch das Geſetz der Vernunft ein⸗
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geräumt iſt. Was die Freiheit kann, baz hat ſie Macht; die Macht iſt alſo das Vermoͤgen, das der Freiheit durch Natur ‚gegeben, durch bloßes Naturgeſetz beſchraͤnkt iſt. Was die Freiheit ſoll, dazu iſt ſie verpflichtet, das iſt Pflicht fuͤr ſie: die Pflicht iſt alſo die Nothwendigkeit, die der Freiheit durch das Geſetz der Vernunft auferlegt iſt, und die eben darum kein Muͤſſen ſeyn kann. Was die Handlung der Freiheit von Außen her unmoͤglich macht, das iſt zwingend fuͤr ſie: Zwang iſt alſo die Nothwen⸗ digkeit, die ihr durch Naturgeſetz entgegen Mehr und Nr darum in einem Muͤſſen beſteht.
* Hier ſtehe die analoge, gleich ſcharfe oder noch Une W480 nung ⸗ eines dreifachen Vermögens, deren das eine der Natur, das andere der Pflicht, das dritte dem Rechte eigen iſt.
Stattler war der erſte, der die Unterſcheidung ſo beſtimmt aus- geſprochen in ſeiner Ethica universali $, 324, Das Natur⸗ 13 vermögen iſt ihm, wie das Wort ſchon andeutet, potestas 1 das pflichtvermögen potestas moralis ad 2 1 alterutrum, je nachdem ich zum Thun oder zum Laſſen ver⸗ aachen bin, das Rechtsvermögen potestas moralis ad utrumque salva rectitudine morali saltem negativa. So kann 85 ich mit meinem Gelde irgend eine Sache kaufen oder nichtkau⸗ 1 „ fen. Kaufen und Nichtkaufen iſt rechtlich, und beides wenig⸗ ſtens negativ ſittlich, wenn ſchon eines beſſer ſeyn mag als das andere. Daß das Rechtsvermögen die rectitudinem — Wwe saltem negativam einſchließe, haben Viele überſehen. Daraus, daß bei meinem Rechthandeln die Andern ſich um meine Sittlichkeit nicht zu hekümmern haben, zogen ſie den irri⸗ gen Schluß, daß auch mein Rechtverhalten von aller Sittlichkeit eee ſeyn könne. Allein dieß iſt gerade ſo vernunftwidrig, als die Menſchheit entehrend. Denn es kann kein Menſch zee in. Recht haben, Böſes zu thun; Freiheit hat er, aber kein Recht. Das Gute und das 1 5 ed alſo in der Wurzel Eines.
170 Ich unterſcheide das Verhaͤltniß der lla zu ihrem Grunde (zur Freiheit und zum Geſetze der Vernunft) von dem Verhaͤltniſſe zu ihren Folgen, die als ſolche von der Freiheit des Handelnden e
ſind. ande macht den innern Werth oder Unwerth der i dene
a —
Handlung, dieſes den aͤußern aus. Der innere Werth be⸗ ſteht in der freien Geſetzmaͤßigkeit, der innere Unwerth in der freien Geſetzwidrigkeit. Der aͤußere Werth beſteht in ihrer Nuͤtzlichkeit, der aͤußere Unwerth in ihrer Schaͤdlich⸗ keit. Der innere Werth oder Unwerth wird nach Ent⸗ ſchluß und Bezweckung beurtheilt, der aͤußere nach dem Er⸗
folge. Das Maß des innern Werthes oder Unwerthes iſt das Maß des Guten oder Boͤſen; das Maß des aͤu⸗ ßern Werthes oder Unwerthes iſt das 10 des Wie oder Schaͤdlichen. |
18) Ich unterſcheide die Achtung id Verachtung von Ehre und Schande, und beides von Hoch ſchaͤ⸗ tzung und Geringſchaͤtzung. Die innerliche Anerken⸗ nung des innerlichen Werthes iſt Achtung; die inner⸗ liche Anerkennung des innern Unwerthes — Verachtung; aͤußerliche Anerkennung des innerlichen Werthes iſt mir Ehrez die aͤußerliche Anerkennung des innerlichen Unwer⸗ thes — Schande; Anerkennung des aͤußerlichen Wer⸗ thes — Hochſchaͤtzung; Anerkennung des Anßerlichen Unwerthes — Geringſchaͤtzung. Etwas ſchaͤtzen heißt: ſeine Groͤße nach Zahl, Maß, Gewicht beſtimmen: dieß hat alſo nur Platz bei dem Nuͤtzlichen und Schaͤdlichen. Der innere Werth des Sittlichen iſt alſo unſchaͤtzbar, uͤber alle Schaͤtzung erhaben, ihm gebuͤhrt Achtung und Ehre.
Der innere Werth der Handlung, wie der Perſon heißt eine Wurde, weil ihn nur die Vernunft des Hän⸗ delnden wuͤrdigen kann. Der aͤußere Werth mag Gehalt heißen, weil ihn auch eine fremde Perſon nach Zahl, Maß, Gewicht ſchaͤtzen kann. Uebrigens verhält ſich die Wuͤrde der Perſon zur Wurde einzelner Handlungen, wie das Eine zu Mancherlei: es iſt Eine Perſon in allen Hand⸗ lungen, die nur verſchiedene Kraftauwendüngen der Einen Perſon find. | |
19) Ich unterſcheide die Faͤhigkeit zum Wohlbefinden, die durch freiwillige Geſetzmaͤßigkeit errungen, und die Uns
faͤhigkeit zum Wohlbefinden, die durch freiwillige Geſetz⸗
widrigkeit der Handlung zugezogen iſt, — von derjenigen
Fähigkeit oder Unfähigkeit zum Wohlbefinden, die von der J. M. v. Sailer's ſñmmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 2
— 18; —
Freigebigkeit oder Kargheit der Natur und des Glückes abhaͤngt.
Die ſelbſerworbene Faͤhigkeit zum Wohlbefinden heißt Wuͤrdigkeit in Hinſicht auf das Wohlbefinden; die ſelbſt zugezogene Unfähigkeit, Un wuͤrdigkeit.
20) Die Wuͤrde der Perſon und die Wuͤrdigkeit der Handlungen kann als ein von dem ſittlichen Werthe des Handelnden unzertrennlicher Anſpruch auf Achtung und auf Wohlbefinden, fo wie die Wegwerfung der perſoͤnlichen Wuͤrde und die Unwuͤrdigkeit der Handlungen, als eine von der freien Geſetzwidrigkeit unzertrennliche 3 der Achtung und des Wohlbefindens angeſehen werden. — Jener Anſpruch iſt mir Ver dienſt, dieſe gi — Schuld. ere |
Zu
_ Borfefung der Grundbegriffe aller Sieht
Von Gewiſ ſen und Gewiſſenhaftigkeit.
1) Gewiſſen ft mir das Selbſtbewußtſeyn des Guten und des Boͤſen in Hinſicht auf die eigenen Handlungen der Perſon. So beſtimmt, unterſcheidet ſich das Gewiſſen von der moraliſchen Beurtheilungskraft; denn dieſe be⸗ urtheilt das Sittliche in eigenen Hub fremden, das Ger;
2) In dieſem besondern Bewußtſeyn, das Gewiſſen heißt, unterſcheide ich das geſetzgebende Gewiſſen von dem richtenden. Jenes iſt das Bewußtſeyn der For⸗ derungen des Geſetzes an die Freiheit, dieſes das Bewußt⸗ ſeyn der Erfüllung oder Nichterfüllung der Forderungen des Geſetzes. Jenes iſt das Bewußtſeyn der Pflichtmaͤßig⸗ keit oder Pflichtwidrigkeit, der Rechtmäßigkeit oder Un⸗ rechtmäßigkeit der erſt vorzunehmenden, dieſes das Be⸗ wußtſeyn der Pflichtmaͤßigkeit oder Pflichtwidrigkeit, Recht⸗ maͤßigkeit oder Unrechtmaͤßigkeit der ſchon vorgenommenen Handlungen.
* Die Schule nennt jenes das vorangehende, dieſes daß ad. folgende — Gewiſſen. Von dem geſetzgebenden Gewiſſen gilt der Ausſpruch eines Philoſophen: „Gewiſſen iſt das Bewußt⸗ ſeyn, das für ſich 1.1 Pflicht if Baſedow hat einen
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paſſenden Ausdruck gefunden, wenn er jagt: „Das Gewiſſen ift das Augenmaß der Vernunft in Beugen der Wicht und Pflichtmaͤßigkeit.“
3) Ich unterſcheide das ener Gewiſen in das unmittelbare und mittelbare. Jenes iſt das Bewußtſeyn der Pflicht, des Rechts, des Unrechts, in ſofern daſſelbe lediglich von der Vernunft und der Freiheit abhaͤngt; dieſes iſt mir das Bewußtſeyn der Pflicht, des Rechts, des Unrechts, in ſofern es nicht bloß von der Vernunft und Freiheit, ſondern von der aͤußern Welt, von den Um⸗ ſtuͤnden und von der Kenntniß derſelben abhaͤngt. Das unmittelbare Gewiſſen ſpricht z. B.: Jede Handlung, wel⸗ che die Menſchheit zum bloßen Mittel macht, iſt vernunft⸗ widrig, iſt pflichtwidrig. Das mittelbare ſpricht: Nun aber die Handlung, welche deinen Nachbar in der Dumm⸗ heit erhaͤlt, damit ihn dein Eigennutz deſto ſchicklicher zur Foͤrderung deines Zweckes benuͤtzen kann, macht die Menſch⸗ heit in der Perſon dieſes Menſchen zum bloßen Mittel: alſo iſt ſie vernunft⸗ und pflichtwidrig.
Das unmittelbare Gewiſſen iſt das Bewußtſeyn, daß unſer Handeln vernuͤnftig ſeyn ſoll: das mittelbare iſt nur die Subſumtion einer beſondern Handlung unter die allgemeine Vorſchrift; jenes ſaget aus: „All dein freies Handeln ſey vernuͤnftig;“ dieſes: „Die fo beſtimmte Handlung it vernuͤnftig oder vernunftwidrig.“ Daraus erhellet auch, daß das unmittelbare Gewiſſen untruͤglich ſey, weil es keinen andern Gegenſtand hat, als: „Dein freies Handeln ſey vernünftig. Eben deßwegen fuͤhrt es den Namen Gewiſſen vorzugsweiſe, weil es unter al⸗ len Arten des Bewußtſeyns das Gewiſſeſte iſt. 15
4) Ich unterſcheide das mittelbare Gewiſſen in das rich eg e, welches das Geſetz und den allgemeinen Ent⸗ ſchluß, daſſelbe zu beobachten, auf einen gegebenen Fall richtig anwendet, und in das irrige, welches das Geſetz und den Entſchluß, es zu beobachten, unrichtig anwendet.
Bei dem irrigen Gewiſſen irrt weder die Vernunft, die das Geſetz aufſtellt, noch die Freiheit, die den Ent⸗ ſchluß faßt, daſſelbe zu beobachten, ſondern nur die Ur⸗ theilskraft, welche die Anwendung des Geſetzes und
2 *
Entſchluſſes auf einen beſimmten Fall unrichtig entſcheidet. Daher die Forderungen des irrigen Gewiſſens ihre Ver⸗ pflichtungskraft wie die des richtigen Gewiſſens behalten.
5) Ich unterſcheide das richtende Gewiſſen in das rechtfertigende und in das verdammende, je nachdem es die Pflichtmaͤßigkeit oder Pflichtwidrigkeit der vorgenom⸗ menen Handlungen entſcheidet. Die Rechtfertigung iſt der Grund der Gewiſſensruhe; die de be d eNHN 8 2
peinlicher Unruhe.
* Diefen Gerichtshof trägt Jeder in fi, und diefen Min kein Frevler entlaufen: „Prima haec est ultio, quod, se judice, nemo nocens absolvitur.“ Juvenal, Die Kraft des verdam⸗ menden Gewiſſens grenzt beinahe an das Unwiderſtehliche.
Plutarch erzählt: „Beſſus, ein Phönicier, ſey durch das Ge⸗ ſchrei der Sperlinge bewogen worden, ſeinen verübten Vater⸗ mord zu geſtehen. Man habe ihm nämlich Vorwürfe gemacht,
daß er ein Neſt Sperlinge heruntergeworfen und ſie getödtet habe; darauf hätte er geantwortet, er habe dazu ein Recht ge⸗ habt, weil die Vögel nicht aufgehört hätten, ihn eines an ſei⸗ nem Vater verübten Mordes zu beſchuldigen.“
* Das rechtfertigende oder verdammende Gewiſſen heißt ſowohl in der Volks⸗ als Schulſprache ein gutes oder böfes, je nach⸗ er es eine Handlung rechtfertiget oder verdammt. Man über- trug nämlich den Charakter des Losgeſprochenen oder Verur⸗ theilten auf den Richter, weil beide eine Perſon ſind. Be
6) Ich unterſcheide ſowohl das geſetzgebende, als das richtende Gewiſſen in das redliche und falſche. Red⸗ lich iſt das Gewiſſen, in ſofern die Perſon ſich des auf⸗ richtigen Strebens bewußt iſt, nach moͤglich beſter Ueber⸗ zeugung im Urtheile uͤber Geſetz und uͤber Erfuͤllung des ae zu verfahren. Falſch iſt es, in ſofern ſich die Per⸗
on im Urtheile uͤber Geſetz und uͤber Erfuͤllung des Ge⸗ ſetzes willkuͤhrlich ſelbſt taͤuſcht, oder taͤuſchen laͤßt. Das falſche Gewiſſen iſt bloß Maske, hinter welche ſich die Eigenliebe vor ſich ſelbſt und vor dem verdammenden Blicke der Vernunft verbirgt. Das redliche Gewiſſen iſt un be⸗ ſtochen, in ſofern die Eigenliebe keinen Einfluß auf die Beurtheilung des Guten und Boͤſen hat; unbeſtechlich, in em ofern ie fo leicht keinen haben kann. Das unred⸗
liche Gewiſſen iſt von der Eigenfihe eich, 1d leicht beſtechlich.
Ich unterſcheide ſowohl das geſetzgebende, als rich⸗ tende Gewiſſen in das feſte und ſchwankende. RN Feſt iſt mein Gewiſſen, in ſofern ich mir in Hinſi icht auf Geſetz und Geſetzmaͤßigkeit leicht und ſchnell Gewiß⸗ heit zu verſchaffen, und mich in Gewißheit zu erhalten weiß; ſchwankend, in ſofern ich mich der Bedenklichkeit und Unruhe in Entſcheidungen uͤber Geſetz und Geſetzmaͤßigkeit der Handlungen nicht leicht erwehren, und entweder keine ſichern Grundſaͤtze uͤber Geſetz und Geſetzmäßigkeit aufe ſtellen, oder fie nicht ſicher anwenden kann. In eben dies ſer Hinſicht auf das Vermoͤgen oder Unvermoͤgen, ſich Gewißheit und Ruhe zu verſchaffen und zu behaupten, wird das Gewiſſen ſtark oder ſchwach genannt.
* Die Gewohnheit, in Sachen des Gewiſſens überall und ohne Grund bedenklich, furchtſam, ängſtlich zu werden, iſt das ſoge⸗ nannte ferupulöf e Gewiſſen. Das ungewiſſe Gewiſſen ſcheint
een Widerſpruch zu ſeyn, indem das Gewiſſen von Wiſſen kommt,
und Gewißheit weſentlich einſchließt. Allein es ſcheint nur, denn das Gewiſſen kommt als Wort wohl von Gewißheit her, iſt aber als Zuſtand des Menſchen bald gewiß, bald ungewiß. Das ungewiſſe Gewiſſen trieb in der Retorte der Schulſpeculation die Fehden der Probabiliſten, der Probabilioriſten und Tutiori⸗ ſten hervor, ſo wie ſie die Leidenſchaft oft mit ganzer .
und bei halbem Erkennen führte. ;
8) Ich unterſcheide das geſetzgebende und richtende Gewiſſen in das unmuͤndige und muündigez die voll⸗ ſtaͤndige Unfaͤhigkeit, ſich auch in leichtern Faͤllen durch rich⸗ tiges Selbſtdenken uͤber Geſetz und Geſetzmaͤßigkeit theils zu belehren, theils zu beruhigen, it Un muͤndigkeit; die Faͤhigkeit, ſich ſelbſt daruͤber zu belehren und zu be⸗ ruhigen — Muͤndigkeit des Gewiſſens. Das unmuͤn⸗ dige Gewiſſen lernt Anfangs nur ſtammeln, bis es muͤn⸗ dig wird, d. i. beſtimmte, verſtaͤndliche Ausſpruͤche thut.
* Einnreich iſt die praktiſche Eintheilung des Gewiſſens in das Lebens und Sterbens⸗Gewiſſen, das in den „Lebens: llufen nach aufſteigender Linie“ vorkommt. Das Lebensgewiſſen
urtheilt mitten auf dem Meere, umrungen von Fluthen der
— 22 *
Sorgen, Hoffnungen, Furchten, Neigungen, hingeriſſen vom
Sturme des Beiſpiels. Das Sterbensgewiſſen urtheilt im Zeit⸗
punkte, wo das Schiffchen gerade daran iſt, in Re Hafen ein: zulaufen. a
** Das Gewiſſen unterſcheidet ſich nach den n, den der Rohheit und Kultur, der Sittlichkeit und Unſittlichkeit, in ein ſchlafendes und wachendes, aufgewecktes und eingeſchlä⸗ fertes, gebildetes und rohes, zartes und abgeſtumpftes, erleuch⸗ tetes und verfinſtertes, enges und weites; z. B.: Noch ſchlafend. ift es im Kinde, eingefchlafert in dem Ruchloſen, aufgeweckt in dem Reuefühlenden, wachend in dem Gebeſſerten und in dem bewährten Tugendfreunde, in ſofern er ſich tüchtig findet, auf die Forderungen des Geſetzes und auf die Erfüllung deſſelben aufmerkſam zu ſeyn; gebildet in dem Nachdenkenden, der ſich * hellere und richtigere Kenntniß von dem Guten und Böſen ver⸗ ſchafft hat; erleuchtet in dem Weiſen, der, vom höhern Lichte beſtrahlet, anders ſieht, als ſein Nachbar; zart in dem Guten, der die leiſeſten Regungen des ſittlichen Gefühles wahrnimmt; roh in dem Verwahrlosten; abgeſtumpft in dem Verſunkenen; verfinſtert in dem Leidenſchaftlichen; enge in dem Frommen, der die herr⸗ ſchende Angſt zum vergrößernden Maßſtabe der Pflicht; weit in dem Leichtſinnigen, der die herrſchende Neigung zum verkleinern.
iu den Maßſtabe der Pflicht macht.
Gewiſſenhaftigkeit (Gewiſſenstreue).
9) Wenn das Vernuͤnftige, Freithaͤtige in uns, die Perſon 1) vor jeder vorzunehmenden freien Handlung den Ausſpruch des Gewiſſens einholte, ob ſie geſetzmaͤßig oder geſetzwidrig ſey; wenn ſie 2) die unbedingte Bereitwillig⸗ keit haͤtte, den eingeholten Ausſpruch des Gewiſſens zu be⸗ folgen, und um ihn einholen und befolgen zu koͤnnen, ih⸗ rer maͤchtig, und zum Gebrauche ihrer Freiheit tuͤchtig zu bleiben; wenn ſie 3) waͤhrend der Handlung den Aus⸗ ſpruch des Gewiſſens wirklich die Richtſchnur ihres Ent⸗ ſchluſſes und Zweckes, ihres Thuns und Laſſens ſeyn ließe; wenn ſie 4) nach der Handlung dieſelbe mit dem Geſetze parteilos vergliche; wenn ſie, nach parteiloſer Vergleichung 85) bei jeder bemerkten Abweichung einer Handlung von dem Geſetze, ſich mit unerbittlicher Strenge vor dem Rich⸗ terſtuhle des Gewiſſens ſelbſt ane und verdammte;
N
—
wenn fie nah ernſter Selbſtverdammung 6) den neuen Entſchluß mit neuem Muthe faßte, in Zukunft das Geſetz zum einzigen Richtmaße ihres Entſchluſſes und Zweckes, ihres Thuns und Laſſens zu machen; wenn fie 7), um dem neu gefaßten Entſchluſſe treu zu bleiben, ſich deſto mehr in Beſonnenheit und Selbſtbeherrſchung zu halten ſtrebte, je oͤfter ſie ihrem Vorſatze untreu e wäre, a dann waͤre ſie gewiſſenhaft. N
Die Gewiſſenhaftigkeit waͤre alſo der eutſchloſsene Wille (d. i. die bewaͤhrte und ſich immer neu bewaͤh⸗ rende Richtung, Fertigkeit des Willens), die Aus⸗ ſpruͤche des Gewiſſens mit aller Treue, die wir nur der wichtigſten Angelegenheit ſchuldig ſeyn koͤnnen, vor jeder Handlung einzuholen und dann zu befolgen, und, um ſie einholen und befolgen zu koͤnnen, ſich in ſteter Beſonnen⸗ heit und in ſteter Selbſtbeherrſchung zu halten.
10) Der Gewiſſenhafte iſt es beſonders darin, daß er ſeine eigene Freiheit anerkennt, ſich ſelbſt die Schuld beimißt, wenn ihn das Gewiſſen fuͤr ſchuldig erklaͤrt; an⸗ ſtatt daß der Gewiſſenloſe ) die Laſt der Schuld nicht auf ſich kommen laͤßt, und von ſich auf die Natur hin⸗ uͤber waͤlzen will. Er uͤberredet ſich deſto leichter, daß ſein Ich bloße Natur ſey, je mehr er es wuͤnſcht, und er wuͤnſcht es deſto heftiger, je ſchwerer ihn die Laſt der nicht geachteten Gewiſſens⸗Ausſpruͤche druͤckt. Endlich luͤgt er ſich ſo lange vor, er ſey nicht frei, bis er es jap glaubt,
Dieſer Verſuch, der laͤſtigen Ueberzeugung, in der er ſich ſelbſt verachten muß, los zu Werde iſt eine neue
) Gewiſſenlos in dem Sinne, in welchem das Wort einen Menſchen bezeichnet, der ohne Gewiſſen ware, iſt wohl kein Menſch, der aus dem Zuſtande der Rohheit getreten, alſo bereits Menſch geworden iſt. Gewiſſenloſigkeit iſt alſo theils der Hang, die Ausſprüche des Gewiſſens nicht zu achten, ſie zu verfälſchen und ſich dagegen zu betäuben — theils der durch Nichtachtung, Verfälſchung und Nichtbefolgung jener Ausſprüche, und durch Selbſtbetäubung dagegen bewirkte Zuſtand des Unglauben 5 an das Gewiſſen.
ck: Richter, oder gar zum Non her
Die Zu Se
Kaya ee der Freiheit, in Sieht uf irgend eine vorgenommene Handlung, heißt Zurechnung überhaupt. n
wa die Zurechnung
12 3 fäßigen- Handlung des Willens laßt ſich durch Selbſtbewußtſenn eine dreifache Thaͤtigkeit unterſcheiden; erſtens: eine Forderung des Bes gehrens, des durch Luſt oder Unluſt angeregten Stre⸗ bens; zweitens: die Forderung des Gewiſſens; drit⸗ tens: der Entſchluß, durch welchen die Befriedigung ver RATTE des Begehrens drain
weder gemäß, oder zuwider beſtimmt wird. 13) In jedem zurechnungsfähigen Thun und Laſſen . läßt ſich alſo eine vierfache Thätigkeit unterſcheiden: die Forderung des Begehrens, die Forderung des Gewiſſens, der Willens beſchluß, die Vollzie⸗ hung des Willensbeſchluſſes.
13) In jedem freien Menſchen⸗Thun find alſo zwei Thätigfeiten umwillführlich: die Forderung des Begehrens und die Forderung des Gewiſſens; und zwei frei: der Entſchluß, und die Vollziehung des Entſchluſſes, — das rer r des Willens und das äußere Thun.
.. Sittlige Freiheit, Unabhängigkeit, Wenſcllickeit. 1055) Fu der Geithätigfeit unterfcheibe ich as, was — o BIER Seh und was
der Gute ſchen hat, und ir ber Gute Kar’ Das Ver⸗ moͤgen, ſich ſelbſt zu b iſt die gegebene Freiheit. Wenn nun dieß mein Se r die blei⸗ bende Richtung nähme, die mit dem Geſetze der Sittlich⸗ keit parallel wäre, fo hätte ich ſittliche Freiheit. Die gegebene Freiheit iſt alſo das Vermögen, fr oder wider euren nen Die
— . Worte ran Kay noch üblich in eher, fuͤrſt und res iſt n Fertigkeit, das
dem Dienſte der Begierde, von dem Zwange der äußern Gewalt, und von den Feſſeln der Schule, indem der Sitte lichfreie, der Vernunft gehorchend, das Gute thut, das Rechte übt. und das Wahre ergreift, ohne ſich durch die e Begierde, des Zwanges, der e n men zu la
12) Wo ſittliche Freiheit da if edite Wenſch⸗ lichkeit. Menſchlichkeit iſt das Mitgefühl, das den
er §. II. Philoſophie“ 8 5 a 16.
Die e sahen und Saͤtze kann man allerdings Grundbegriffe und Grundfaͤtze nennen: erſtens, weil ſie in der Anwendung alles das begruͤn⸗ den, was von einzelnen Pflichten gelehrt werden kann. Alles, was z. B. von Wahrhaftigkeit, Keuſchheit, Maͤßig⸗ keit gelehrt wird, ſetzt die gegebenen Begriffe von Ver⸗ munft, Freiheit, Geſetz voraus; zweitens, weil der Menſch
im Menſchen ſelber nichts Hoͤheres finden kann, auf das er die Sittlichkeit zuruͤckfuͤhrte, als Vernunft und Freiheit. Alſo: in ſeinem Selbſtbewußtſeyn findet der For⸗ ſcher dieß Alles, was als Grundbegriff und Grundſatz der Sittlichkeit angegeben ward. |
Aber wie, wenn die Forſchung hier ſtille ſtuͤnde? dann bliebe ſie doch offenbar auf mehr als halbem Wege ſte⸗ hen. Denn es muß ja doch wohl gefragt werden duͤrfen: „Lieber, wie kommſt du denn zu dieſem Selbſt⸗ bewußtſeyn?“ Was iſt die Natur, deren du dir doch auch bewußt ſeyn mußt, um deiner bewußt werden zu koͤn⸗ nen. Was iſt dein Selbſt, deſſen du dir bewußt geworden biſt? Woher iſt die Natur, woher du ſelbſt? Wo⸗ zu die Natur, und wozu du ſelbſt? Wie iſt die Nas tur, wie dein Selbſt geworden? Haͤngen dein Selbſt und die Natur unter ſich, und beide mit Einem hoͤchſten Ur⸗ ſprunge zuſammen, und was iſt dieſer Eine hoͤchſte Ur⸗ ſprung? Giebt es eine hoͤchſte, lebendige Einheit, von der die Natur und die Menſchheit und du ſelber Seyn und Leben haben? Sobald dieſe Fragen in irgend einem Menſchen lebendig werden, und der Hunger nach Er⸗ kenntniß nicht muͤde wird, zu ſuchen, bis ihm Stillung werde: ſo iſt wahre Philoſophie — das rechte Helms weh nach, ber er Wabebei gebark nac
Pe.
0 Ayhilofophie im ER Beim; noch nicht in der deen eigentlich philosophia prima.
1
Die Philoſophie iſt alſo jener ſtete Bruͤtſ inn uͤber das Grund⸗ und Ewigwahre, wie ſich einer der unge⸗ kannten Philoſophen ausdruͤckt, jenes Sehnen, das nur fie, die Wahrheit, felber ſucht, und nur in ihr allein ruhen kann. Dann begnuͤgt ſich der Menſch nicht mehr mit ſei⸗ nem Selbſt bewußtſeyn, eben weil er des Hoͤchſten ſich bewußt werden moͤchte; dann beweget ſich in ſeinem Inner⸗ ſten ohne Unterlaß das: Woher und Wozu dieß Alles? Woher und wo zu Vernunft, Freiheit, Geſetz, Pflicht, Gewiſſen? Dann hat er keine Ruhe mehr, bis ihm uͤber das Woher und Wozu ein Licht aufgegangen iſt, bis er den genannten Grundbegriffen ihr Woher und Wozu, ihr Erſtes und Letztes, ihren Grund aller Gruͤnde, ihren Zweck aller Zwecke gefunden hat. Dann hat er nur die Eine Aufgabe, deren Loͤſung ſein ganzes Men⸗ ſchenweſen beſchaͤftigt, die Aufgabe: Mag immer Vernunft und Freiheit das Hoͤhere heißen in Hinſicht auf die Sinnlichkeit und in Hinſicht auf die Natur außer dem Menſchen: aber iſt denn dieß Höhere der Menſchheit ſchlechthin das Hoͤch ſt e, ſchlechthin das Erſte und Le» te? Und, wenn jenes Hoͤhere unmoͤglich das Hoͤchſte ſeyn kann, was iſt es denn, dieß Hoͤchſte?
Wie die mancherlei Loͤſungen dieſer Einen Aufgabe ausgefallen ſind, mag die Geſchichte der Philoſophie, wie ſie richtig geloͤſet werden kann, mag ſie, die gefun⸗ dene wahre Philoſophie da, wo ſie gefunden iſt, ſelber darlegen; hier ſoll nur das beſte Reſultat der be⸗ ſten Philoſophie, das mir anſchaulich geworden, zu ſtehen kommen. Die Eine Aufgabe loͤſeten ſich die Wei⸗ ſen aller Zeiten alſo: „Es iſt vor und uͤber allem menſch⸗ lichen Seyn Ein Hoͤchſtes, und dieß Eine Hoͤchſte iſt das Ur⸗, iſt das ewige Leben aus ſich und in ſichz
und dieß Ur⸗ und ewige Leben iſt die Urquelle alles an⸗ dern Seyns und Lebens, die Urquelle der Natur, der Menſchheit, des Weltalls.“ „Es iſt vor und uͤber allem menſchlichem Verſtehen Ein Hoͤchſtes, und dieß Eine iſt die hoͤchſte Wahrheit ſelber, iſt das Alldurchſchauende, Allerkennende, und iſt die Urquelle alles wahren Erkennens in allen erkennenden Weſen, alſo die Urquelle alles deſſen,
au BE
was in der menschlichen. Vernunft, in dem menfchlichen Verſtande geſund, unverderbt iſt.“ „Es iſt vor und uͤber allem menſchlichen Wollen, Thun, Genießen Ein Hoͤchſtes, und dieß Eine iſt ſich ſelber das Geſetz, iſt die hoͤch ſte Freiheit, iſt der abſolut Heilige, iſt der allein — aus ſich und in ſich Selige, iſt die Urquelle aller Tugend, Seligkeit
In dieſer Loͤſung der Aufgabe iſt das geſuchte Wo⸗ her und Wohin der Grundbegriffe a ee ges | geben, nämlich:
„Gott iſt die Eine hoͤchſte Wahrheit, die ſich ganz durchſchaut, und ſich und in ſich Alles er⸗ kennt, und dieſe Eine Wahrheit iſt die Urquelle alles wahren Erkennens, aller Vernunft, al⸗ les Verſtandes. Gott iſt der Allein⸗ aus ſich und in ſich Heilige, und dieſer Eine Alleins aus ſich und in ſich Heilige iſt die Urquelle aller Freiheit, alles Geſetzes, we Gewiſſens im Menſchen.“
Dieß iſt das Woher der Menſchenvernunft, der Freiheit, des Geſetzes, des Gewiſſens, iſt das Erſte, uͤber dem (regrediendo) fein: Erſteres, kein es gedacht werden kann.
„Gott iſt das ewige Leben ſelber, und in ihm finden alle empfaͤngliche Weſen das ewige Leben; Gott iſt der Allein⸗Selige aus ſich und in ſich, und in ihm finden alle empfaͤngliche We fen die hoͤchſte Befriedigung ihrer Beduͤrfniſſe nach Vollendung ihres Seyns und Strebens.“
Dieß iſt das Wohin der Vernunft und Freiheit, des Geſetzes und des Gewiſſens; das Letzte, über dem hinaus (progrediendo) nichts Beſeres gedacht, N Ä gehofft, ri Werden an 8
Iſt der Philosoph 10e mmer bei dieſer Erkenntniß an⸗ gelangt; iſt ihm Gott als die Eine hoͤchſte Wahrheit und als das Eine ewige Leben, als das Erſte und als * Letzte in ſeinem ene — 9
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ſo ſind in ihm ipso facto die ſogenannten Grundbegriffe der Sittlichkeit wahre Grundbegriffe geworden; denn die Einigung aller ſittlichen Begriffe mit den hoͤchſten Ideen von Gott und der Unſterblichkeit des Menſchengeiſtes hat ſich in dem Augenblicke von ſelbſt gemacht, in welchem die Realitaͤt jener Ideen anerkannt ward. Moͤgen ſie, die Weiſen, die bei dieſer Anerkennung angelangt fi ud, ſo⸗ wohl in dem Wege zu dieſer Anerkennung, als in der Weiſe der wirklichen Anerkennung noch ſehr divergiren; mit Gott, als der hoͤchſten Wahrheit und dem ewigen Leben, iſt das Erſte und Letzte, der Urgrund und der End⸗ zweck aller Dinge, und zunaͤchſt das Erſte und Letzte aß ler ſittlichen Begriffe gefunden. Was jene Divergenz be⸗ trifft, ſo bleibt der vornehmſte Unterſchied doch wohl die⸗ ſer: Einige trauen ſich das Vermoͤgen zu, den Glauben an Gott, der uns in dem Gewiſſen gegeben iſt, in ein Wiſſen zu verwandeln; Andere dagegen behaupten, daß das eigentliche Wiſſen des Goͤttlichen unmöglich fey, und nur eine unerſchuͤtterte Gewißheit des Glaubens Statt ha⸗ ben koͤnne. Nebenbei fehlt es nicht an Forſchern, die be⸗ reits zur klaren Einſicht gekommen ſind, daß a) die le⸗ bendige Vernehmung, die lebendige Wahrneh⸗ mung, das lebendige Bewußtſeyn des Goͤttlichen wenigſtens in einem ſtillen, lautern, frommen Gemuͤthe eine unuͤberwoͤlkbare Evidenz behaupte und behaupten muͤſſe, eine Evidenz, die alle Verſuche, das Lebendige aus tod⸗ ten Begriffen zu conſtruiren, weit hinter ſich zuruͤcklaſſe; die zur klaren Einſicht gekommen ſind, daß b) Gott als das alldurchdringende Leben (All⸗Macht) in der Natur⸗ welt, als der alldurchſchauende Geiſt in der Geiſterwelt, und als das Eine Leben und als der Eine Geiſt in der Menſchenwelt erkennbar ſey, und erkennbar ſeyn muͤſſe, weil Natur, Geiſterwelt und Menſchheit doch nur Offen⸗ barungen des Einen Hoͤchſten in Allem ſeyn koͤnnen, und ſomit c) das Erkennen des Einen Hoͤchſten, das ſich als das Leben in der Natur, als Geiſt in der Geiſter⸗ welt, und als Leben und Geiſt in der Menſchenwelt offenbart, etwas mehr als bloßes Glauben, und nicht viel weniger als wahres Wiſſen ſey. Ob mir nun
gleich die letztere neee Ca, b, c) gar nicht fremde iſt, indem ſie vielmehr taͤglich neues Licht um ſich her aus⸗ ſtrahlet: ſo genuͤgt es denn doch dem Lehrer der chriſt⸗ lichen Moral, zu wiſſen, daß (es mag das Eine Hoͤch⸗ ſte eigentlich gewußt, oder ohne eigentliche Wiſſenſchaft nur mit feſter Ueberzeugung geglaubt werden koͤnnen) in aller Moral, der es nicht an Grundbegriffen fehlen ſoll, das Hoͤchſte, Gott, als gewußt oder als geglaubt, voraus⸗ und oben angeſetzt werden muͤſſe. Wenn nun das Hoͤch⸗ ſte, gewußt oder geglaubt, jedesmal hoͤchſt gewiß, voraus⸗ und oben angeſetzt wird: dann erſt ergiebt ſich aus die⸗ ſer Voraus⸗ und Obenanſetzung des Hoͤchſten die erha⸗ benſte und erhebendſte Anſchauung aller Grundbegriffe der Moral; denn in dieſer Voraus⸗ und Obenanſetzung des Hoͤchſten iſt a
IL das, was man ſonſt Gewiſſens⸗, Vernunft⸗ k Tugend⸗, Sitten⸗Geſetz nennt, im eigentlichen Sinne Gottes Geſetz, und zwar Gottes Geſetz nach Ab kunft, Inhalt und Zweck. Ich ſage nicht bloß, was ſo oft geſagt ward: man kann, man darf, oder, wenn's auf's Hoͤchſte kam, man ſoll das Geſetz der Vernunft als ein Geſetz Gottes anſehen; ich ſage ungleich mehr: Das ſogenannte Vernunftgeſetz iſt wahres, wirk⸗ liches Geſetz Gottes, iſt goͤttliches Geſetz, und zwar göt⸗ lich nach Abkunft, Inhalt, Zweck.
Es iſt 1) Geſetz Gottes nach Ab kunft, es iſt gött⸗ licher Wille, der den menſchlichen bindet; der das Geſetz giebt, iſt nicht der Menſch, ſondern iſt Gott ſelbſt. Die Vernunft des Menſchen iſt nicht die geſetzgebende Macht, ſie iſt nur das Bewußtſeyn Gottes, und ſofort auch das Bewußtſeyn deſſen, was Gott gebeut, verbeut; iſt das Ber wußtſeyn Gottes und des goͤttlichen Geſetzes. Es iſt 2) Ge⸗ ſetz Gottes nach Inhalt: es gebeut nur Goͤttliches in Geſinnung und Leben, und verbeut alles Ungoͤttliche in Geſinnung und Wandel. Es iſt 3) Geſetz Gottes nach Zweck; denn das Geſetz: Menſch, ſey Gott aͤhn⸗ lich, ſey Gottes Bild in deinem innern und aͤußern Leben, kann keinen hoͤhern Zweck haben, als daß eben dieß goͤttliche Leben, das der Buchſtabe des
zu . u
Geſetzes vorſchreibt, durch den Geiſt des Geſetzes im Men⸗ ſchen wirklich und vollendet werde, indem die Vollendung des göttlichen Lebens die ganze Fülle von ihnen und Seligkeit in ſich faßt und faſſen muß.
Die ſittlichen Vorſchriften der Vernunft ſind alſo nichts anders, als ſo viele Strahlen des Einen Geſetzes, das nach Abkunft, Inhalt und Zweck wahrhaft göttlich ift.
Das goͤttliche Leben, das Gott ſelber iſt, das wahr⸗ haft abſolut goͤttliche Leben iſt der Urſprung des Ge⸗ ſetzes an den Menſchen; Nachahmung des goͤttlichen Le⸗ bens im Menſchen iſt Inhalt des Geſetzes; Vollendung des goͤttlichen Lebens im Menſchen iſt Zweck des goͤtt⸗ lichen Geſetzes. Nun iſt es wohl auch ſonnenklar, daß und warum das Sittengeſetz im ſtrengſten Sinne das hei⸗ lige Geſetz iſt und heißt, und das heilige Geſetz ſeyn und heißen muß, weil es nämlich das Geſetz Gottes, und Gott der Heilige it. In dieſer Voraus und Obenanſetzung iſt 5
II. der Ausſpruch der REN den wir im Gewiſſen vernehmen, kein eigentlicher Aus⸗ ſpruch des menſchlichen Selbſtdenkens, ſondern das hei⸗ lige Wort, das Gott ſelbſt im Gewiſſen des Menſchen ausſpricht. Und hier ſtoßen wir auf den Scheideweg, auf das Kreuz in der Philoſophie, das den Einen Pfad der Wahrheit von den mancherlei Irrwegen wirklich ſcheidet. Denn entweder iſt dir die Stimme des Gewiſſens nur ein bloßer Wiederhall deines eigenen Selb⸗ ſtes, deines ſelbſtgemachten Begriffes, deines reinen Selbſtdenkens, oder die Stimme deines Gewiſſens iſt dir ein Wiederhall des ewigen, ſich in deiner Vernunft offen⸗ barenden Wortes. Im erſten Falle vernimmt deine ſo⸗ genannte Vernunft nur ſich ſelber — in dem Gewiſſen; im zweiten vernimmt ſie Gott. Eine Vernunft, die nur ſich ſelbſt vernimmt, iſt ohne Gott in der Welt — iſt keine Vernunft. Eine Vernunft, die Gott ſelber vernimmt, die ein Vernehmen, ein Wahrnehmen Gottes iſt, die iſt die wahre, rechte, eigentliche Vernunft (Vernunft von Verneh⸗ men). Denn wenn ſich Gott als das Leben und als die Wahrheit in der Menſchenwelt offenbart: ſo wird
— 32 — ; wohl im Menfchen ein Vermögen ſeyn muͤſſen, dieſe Of⸗ fenbarung zu vernehmen und derſelben bewußt zu werden. Und, was in uns Gott vernimmt, wahrnimmt, Gottes be⸗ wußt wird, wird wohl die Vernunft in ihrer eigent⸗ lichen Bedeutung ſeyn.
Schon in der Sprachlehre aller Moral mußte eine Selbſtthätigkeit anerkannt werden, die überall der hoͤch⸗ ſten Einheit nachgeht, und nur in ihr ruhen kann. Aber dieß reicht nicht hin, den Menſchen zur Vernunft zu bringen. Der Menſch muß, um ein vernuͤnftiger Menſch zu ſeyn, die hoͤchſte Einheit, und in dieſer hoͤchſten Einheit das Grund⸗, das Ewig⸗, das Ur⸗Wahre, muß Gott ſelber als das Eine Grunde, Ewig⸗ und Urs Wahre vernommen haben. Erſt dieß Wahrnehmen, dieß Bewußtwerden macht den ſinnlichen, den bisher bloß fuͤr die ſinnliche Welt verſtaͤndigen Menſchen zum ver⸗ nuͤnftigen, und wohl auch fuͤr die uͤberſinnliche, ewige Welt verſtaͤndigen Menſchen. Denn ſo lange der Menſch nur Zeitliches wahrnimmt, hat er nur Verſtand für Zeitliches; ſobald er aber Ewiges wahrnimmt, wird er auch Ewiges verſtehen können. Gott muß als Geiſt und Leben, d. i. als Schoͤpfer der Natur und Menſch⸗ heit, als das Urwahre, das ſich an allem Wahren offen⸗ baret, die erſte und eine feſte Stelle in dem Bewußtſeyn des Menſchen eingenommen haben, wenn der Menſch zur gewiſſen Erkenntniß der Wahrheit erwacht ſeyn ſoll. Vernunft, in der eigentlichen Bedeutung (nicht als bloße Anlage, oder als bloßes Vermoͤgen, ſondern als voͤlliges Erwachen des Menſchenweſens betrachtet), iſt alſo das Wahrnehmen, das Bewußtſeyn des Goͤttlichen in Gott, und in Allem, was durch Gott iſt und wirkt, alſo in ethiſcher Hinſicht, das Bewußtſeyn Gottes und des goͤttlichen Ges ſetzes im Menſchen. Wenn nun aber ‚die, Vernunft ein Wahrnehmen Gottes iſt, mithin im Gewiſſen das eigentliche Wort Gottes vernommen wird: ſo iſt es ja ſonnenklar, daß die gegebene Bedeutung deſſen, was man Gewiſſen nennt, ſo wie die, dem letzten Grunde
nach, alleinwahre, alſo uch die in aller Moral bedeu⸗
.
k 83 bedeutendſte ſeyn muͤſſe. Denn fo betrachtet, iſt das Gewiſſen nicht bloß die hoͤchſte Inſtanz im Menſchen, von der es fuͤr ihn keine Appellation mehr geben kann; es iſt auch das Band, womit die Menſchheit mit Gott zuſam⸗ menhaͤngt; es iſt der einzige, auch nach dem Abfalle von Gott dem Menſchen noch gelaſſene oder wiedergegebene Bote Gottes, daß wir eines goͤttlichen Geſchlech-⸗
tes ſind. Und, wenn wir dieſer Spur nachgehen, ſo
wird ſich uns die eigentliche Hoheit und Macht des Gewiſſens, und das Arcanum aller Menſchen⸗ bildung enthuͤllen muͤſſen; denn nun wird es uns einleuch⸗ ten, daß der Verſuch des Boͤſen, die Schuld, die er durch Mißbrauch ſeiner Freiheit begangen hat, von ſich auf die
Natur zu waͤlzen, und ſomit die Freiheit des menſchlichen Willens zu laͤugnen, um ſich die Selbſtverdammung zu er⸗ ſparen, nicht nur eine neue Schuld, ſondern die Schuld der verletzten Majeſtaͤt des Gewiſſens (erimen laesae Majestatis) ſey. Es iſt ja doch nur die ewige Majeſtaͤt, d. i. die Staͤrke des Heiligen und die Heiligkeit des Starken, die im Gewiſſen zu uns ſpricht, und an der wir uns durch jede Ueber⸗ tretung des heiligen Geſetzes verſuͤndigen. Kurz: die Majeftät des Gewiſſens iſt die Majeftät Got⸗ tes ſelbſt. Nun wird es uns einleuchten, daß es nur das Verhalten des menſchlichen Willens zu ſei⸗ nem eigenen Gewiſſen ſey, was den ſittlichen Cha⸗ rakter beſtimme. Ueberall, wo der Wille der Hoheit des Gewiſſens unbedingt huldiget, und kraft dieſer Huldigung den Ausſpruͤchen des Gewiſ— ſens gehorcht, iſt der Charakter gut; wo der Wille, ſtatt der Hoheit des Gewiſſens zu huldigen, die Begierde ihre Uebermacht uͤber das Gewiſſen behaupten laͤßt, iſt der Charakter boͤſe. Nun wird es einleuchten, daß es eben jenes Verhalten des Willens zu ſeinem eigenen Gewiſſen fey, was den Menſchen zuverlaͤſſig, unzuverlaͤſſig, zweideu⸗ tig mache. Iſt uns die Willenstreue eines Menſchen gegen ſein Gewiſſen entſchieden, ſo iſt er uns zuverlaͤſſig; wir trauen ſeinem Worte, ſeinem Geſichte. Iſt uns die Un⸗ treue ſeines Willens gegen ſein Gewiſſen entſchieden, ſo
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufi. 3
iſt er uns unzuverlaͤſſig; wir ſagen laut: es iſt kein Ver⸗ laß auf ihn. Iſt uns aber weder die Treue, noch die Untreue ſeines Willens gegen das Gewiſſen entſchieden: ſo iſt er uns zweideutig, ein Raͤthſel, das ſich in jedem Augenblicke loͤſen muß, eine Syllaba anceps, die der nachfolgende Selbſtlauter kurz, der Mitlauter lang macht. Durch die Voraus⸗ und Obenanſetzung alles Hoͤchſten gewinnt
III. das Gemuͤth des Menſchen (das Vermögen hoͤ⸗ herer Gefuͤhle) a) neue Geiſtesſtaͤrke wider die Ein⸗ gebungen der Selbſtſucht, die Anfaͤlle der Sinnlichkeit und das Uebergewicht der eiſernen Gewohnheit, die uns die Uebertretung des Geſetzes andringen, und fir die Erfuͤl⸗ lung deſſelben zu kaͤmpfen, in ſofern wir im Gewiſſen Gott ſelber, und in Gott den hoͤchſten Geſetzgeber, den heiligſten, allſchauenden Zeugen, das reinſte Muſterbild, und den gerechteſten Richter und Vergelter wahrnehmen; gewinnt b) neue Anmahnung, fi ſich mit Gott ſelber zu vereinigen, indem wir im Gewiſ⸗ ſen Gott, und in Gott nicht nur den Allein-Heiligen, fondern auch den Allein» Seligen, das ewige Leben, die Liebe, das Urſchoͤne erkennen; denn das Gewiſſen iſt nicht bloß ein Erinnerer an das heilige Geſetz, das wir erfuͤllen ſollen; es iſt auch ein Erinnerer an Gott, dem wir durch Erfuͤllung des Geſetzes aͤhnlich, und mit dem wir nur durch jene Aehnlichkeit Eines werden koͤnnen.
So wie das Gemuͤth des Menſchen, durch die Vor⸗ aus⸗ und Obenanſetzung des Hoͤchſten, im ſittlichen Ge⸗ ſetze das Geſetz Gottes und im Gewiſſen das heilige Wort Gottes anerkennt, und ſofort auf den hoͤchſten Standpunkt geſtellt wird, auf dem es ſich verwandt und Eines Ge⸗ ſchlechtes mit Gott fuͤhlt: ſo gewinnt der Menſch IV. eben auf dieſem Standpunkte die erhabenſte Aus⸗ ſicht, die feiner Wuͤrde angemeſſen iſt, eine Aus ſicht in die Ewigkeit. Er glaubt, er fuͤhlt, er weiß ſich un⸗ ſterblich. Hineinſchauend in ſein Gewiſſen und aufſchauend zu Gott, ſieht er die Ewigkeit in Gott, und in dem ewi⸗ gen Leben, das Gott iſt, das feine. „Es iſt,“ fo ſpricht er zu ſich, „ein goͤttlicher Keim in mir, und der göttliche
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Keim kann nicht untergehen: weil er einmal iſt, ſo iſt er ewig wie Gott; der goͤttliche Trieb, gut zu ſeyn, wie Gott, bedarf einer vollen Entwicklung; der goͤttliche Trieb, ſelig zu ſeyn, wie Gott, bedarf einer vollen Be⸗ friedigung; Endlichkeit kann das unendliche Beduͤrfniß nicht ſtillen; Unſterblichkeit, Ewigkeit, du, du kannſt es ſtillen, und du allein kannſt es ſtillen, — Du biſt, denn Gott iſt, und Gott iſt das ewige Leben, und Gottes Bild in mir will Vollendung, und vollenden in mir das Bild ee. — kann nur die Ewigkeit.“ i |
18.
Weite Reſultate aus der Voraus⸗ und Obenonſchung des Hoͤchſten. Erſtes Reſultat.
Was in der Sprache der Schule Sittengeſetz heißt, erhaͤlt erſt durch die Voraus⸗ und Obenanſetzung des Hoͤchſten (Gottes und des unſterblichen Menſchengeiſtes) nicht nur ſeinen Urgrund und Endzweck, ſein Woher und Wo zu, nicht nur eine hoͤhere Autoritaͤt, die nieder⸗ ſchlaͤgt, was den Gehorſam gegen das Geſetz hemmt und erſchwert, ſondern es bekommt dadurch auch mit Seyn und Weſen einen ganz beſtimmten, einen vollen, einen Realſi inn, naͤmlich dieſen:
„Menſch! die Natur und die ganze Menſchheit iſt Gottes, und du ein Glied des Ganzen; du und die ganze Menſchheit ſoll unter Gottes Regierung zum göttlichen, zum ewigen Leben entwickelt und gebildet werden — ob⸗ gleich jetzt eingehuͤllt in das Sinnliche und angebunden an das Zeitliche. Nur das Goͤttliche iſt goͤttlich, nur das Ewige ewig. Schließ alſo deinen Willen an das Goͤtt⸗ liche, ſchließ ihn an das Ewige an, indem du dich gegen das Zeitliche, gegen das Sinnliche wehreſt. Kurz: laß deinen freien Willen von Nichts abhängig ſeyn, ) als von
) Dieſe Abhängigkeit des Menſchen von dem Göttlichen, Ewigen, die das Geſetz vorſchreibt, entwürdiget den Menſchen ſo gar nicht, daß ſie vielmehr ſeine höchſte Würde ausmacht. Denn dieſe Abhängigkeit von Gott iſt 1) eine Abhängigkeit mit
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Gott, der allein und aus ſich die Heiligkeit und Unſterb⸗ lichkeit ſelber iſt.“
Das Sittengeſetz, fo ausgedruckt, iſt alſo ein durch⸗ aus beſtimmtes, ein vollſinniges Realgeſetz: „Arbeite nur mit Gott fuͤr das Ewige in der Zeit.“
Zweites Reſultat.
Was ſonſt in der Sprache der Schule Freiheit des menſchlichen Willens heißt, erhält durch Voraus- und Oben anſetzung des Hoͤchſten (Gottes und des unſterblichen Menfchengeiftes) mit Seyn und Weſen volle Bedeutung, Energie und Beſtimmung.
„Nur der iſt wahrhaft frei, den das Goͤttliche, das Ewige treibt; Sklave iſt, den das Ungoͤttliche beherrſcht; willkuͤhrlich handelt Jeder, den eigene oder fremde Wille kuͤhr treibt: das Göttliche, Ewige verleiht alſo der freien Thaͤtigkeit des Menſchen Seyn, Weſen und Bedeutung.
„Nur das Goͤttliche, Ewige iſt das eigentliche Leben des wahrhaft Freien:“ das Göttliche, Ewige verleiht alſo der Freiheit die rechte Energie.
„Nur Goͤttliches, Ewiges ſoll im Menſchlichen, im Zeitlichen offenbar werden:“ die Darſtellung des Goͤtt⸗ lichen, Ewigen im Gemuͤthe und in dem aͤußern Leben, in dem Daſeyn und allem Seyn des Menſchen kann alſo allein Endzweck der Freiheit ſeyn. Sie iſt die Nachah⸗ merin des Goͤttlichen, des Ewigen, und Kaͤmpferin fuͤr das Goͤttliche, Ewige, auf dem Boden der Zeitlichkeit, in Verknuͤpfung der Natur und der uͤbrigen Menſchheit.
Bewußtſeyn und aus Selbſtbeſtimmung, und gerade dieß
erhebt dem Menſchen über die Natur, daß die Natur von Gott abhängig ſeyn muß, er, der ſittliche Menſch, abhängig ſeyn
will. Dieſe freiwillige Abhängigkeit des Menſchen von Gott
macht ihn ) unabhängig von Allem, was nicht göttlich, ewig
iſt; fie hat 3) ihren kleinen, anfänglichen, beſchränkten Spiel⸗
raum in der Zeit, den großen, vollendeten, nen 80 kungskreis in der Ewigkeit.
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Drittes Reſultat.
Erſt durch die Voraus- und Obenanſetzung des Hoͤch⸗ ſten (Gottes und des unſterblichen Menſchengeiſtes) tritt das menſchliche Erkennen aus der bloßen Ideal⸗ und For⸗ malphiloſophie auf den Grund und Boden der Realphiloſo⸗ phie; denn mit Gott it Realität gegeben, und mit der Ewigkeit des verklaͤrten Menſchengeiſtes iſt ſie vollendet.
Viertes Reſultat.
Erſt durch die Voraus⸗ und Obenanſetzung des Hoͤch⸗ ſten (Gottes und des unſterblichen Menſchengeiſtes) iſt der | Menſch geſichert vor den zweien Extremen, die die Weis⸗
heit in Mitte laſſen, auf einer Seite vor der feinen Ido⸗
lolatrie der Vernunft, auf der andern Seite vor dem gro⸗ ben Naturdienſte des Materialismus. Er iſt geſichert vor der feinen Idololatrie der Vernunft; denn die menſchliche Vernunft iſt bloß Prieſterin im Tempel ihres Gottes, nicht Gott ſelber, iſt nicht Geſetzgeberin, ſondern nur Wahr⸗ nehmung, Bewußtſeyn des hoͤchſten Geſetzgebers und des Geſetzes. Er iſt geſichert vor dem Dienſte des groben Materialismus; denn das Vernunftweſen hat den Beruf, mit Gott fuͤr das Geiſtige, fuͤr das Ewige zu arbeiten. Eingehuͤllt in die Materie, kaͤmpft es wider die Materie fuͤr das Goͤttliche; eingehuͤllt in das Zeitliche, kampft es fuͤr das Ewige. 1
Endlich in der Voraus⸗ und Obenauſetung des Hoͤch⸗ ſten wird es dem Tiefſchauenden je laͤnger je deutlicher werden, daß, was man als reine Vernuͤnftigkeit freier Handlungen preiſet, nur in dem praktiſchen Bewußt⸗ ſeyn Gottes, und was man als reine Sittlichkeit ſo hoch erhebet, ihrem Weſen nach nur in einer dem Be⸗ wußtſeyn Gottes und ſeines Geſetzes eigenthuͤmlichen Denk⸗ art und Geſinnung, d. i. nur in der Miete beſtehe.
* Es iſt merkwürdig, daß berſetbe Reinhold, der in feinen frü- hern Schriften keinen Aufwand von Scharfſinn ſparte, die Ver⸗ nünftigkeit und Sittlichkeit von Gott und Religion unabhängig zu machen, nun herumgeholt, ſeine Verirrung öffentlich vor al⸗ ler Welt bekannt, und das Gegentheil mit einer Wahrheitsliebe,
die unter Philoſophen vielleicht noch ſeltener iſt, als unter Nicht: philoſophen, in jeder neuern Schrift bezeuget. Zum Beweiſe nur eine Stelle aus feiner Synonymik. ©. 243.
„Da die reine Vernünftigkeit, als die Gewißheit der Wahr⸗ heit im Allgemeinen, ihrem Grund und Weſen nach, in der Of: fenbarung des denkenden Urweſens beſteht: ſo kann keine Ue⸗ berzeugung und kein Handeln aus Ueberzeugung rein vernünf⸗ tig, kein Entſchluß wahrhaft ſittlich ſeyn, als durch die vorher gehende und voranſtehende Ueberzeugung von Gott. Gleich wie der Chriſt durch ſeinen Glauben gewiß iſt: daß die, welche rei⸗ nes Herzens ſind, Gott anſchauen, d. h. mit voller und leben⸗ diger Gewißheit Gottes gewiß ſeyn werden, ſo weiß der Philo⸗ ſoph durch ſeine Wiſſenſchaft: daß und warum nur erſt durch die volle Gewißheit Gottes allein die wahre, nicht eingebildete Reinheit des Herzens möglich iſt, und daß und warum das Weſen der Sittlichkeit, die eigentliche Gewiſſenhaftigkeit, die einzig wahre Tugend — nur in der, der Religion eigenthüm⸗ lichen Denkart und Geſinnung, nur in der Religiöſität, nur in der Gottſeligkeit beſtehen könne. |
Nur erſt unter der ihm einleuchtend werdenden Offenbarung des denkenden Urweſens, und durch dieſelbe lernet der Menſch
auch die Natur im Allgemeinen, und ſein ihm in derſelben eigentliches Weſen, ſeinen Endzweck im Weltall, und ſeine Be⸗ ſtimmung als ein denkendes Einzelweſen erkennen, welche in nichts Anderem und nichts Geringerem beſteht, als daß er durch ſein Bewußtſeyn und Wollen Gott an der Natur offenbare, als denkendes Einzelweſen das denkende Urweſen bezeuge, durch ſein Thun und Laſſen Gottes Ebenbild in ſeinem Menſchen⸗ weſen beurkunde. Aber eben darum kann die ſogenannte Ver⸗ nünftigkeit eines gottverläugnenden, oder bezweifelnden, oder ignorirenden Menſchen, kann die vermeintliche Rechtſchaffenheit ohne die Ueberzeugung von Gott, kann die angebliche Sittlich⸗ keit, welche nicht in ihrem Grund und Weſen die Religioſität ſelber iſt, unmöglich die wahre Vernünftigkeit, die wahre Recht⸗ ſchaffenheit, die wahre Sittlichkeit ſeyn. Auch in ihren un⸗ ſchuldigſten und glänzendſten Aeußerungen kann die der Ueber⸗ zdeugung von Gott entbehrende Sittlichkeit immer nur ein blo⸗ ßer Schein der wahren ſeyn. Eben darum kann auch jede Theo⸗ rie, welche eine ſolche Sittlichkeit als die wahre zu erklären und zu beweiſen unternimmt, nur ein dialektiſches Blendwerk der
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vernünftelnden Phantaſte, nur Mißdeutung der in ihrem Grunde und Weſen verkannten Vernünftigkeit ſeyn. Ein ſolches Blend⸗ werk iſt insbeſondere die angeblich praktiſche Vernunft, welche, ohne Gottes gewiß zu ſeyn, (oder gar unter der erträumten Gewißheit: daß es kein denkendes Urweſen geben könne, weil nur der Menſch zu denken vermöge, das Denken als ſolches nur eine Thaͤtigkeit der menſchlichen Subjektivität ſey,) aus der Fülle der Selbſtheit, und in Kraft der abſoluten Thätigkeit des Selbſtes, handeln zu können und zu müſſen wähnt: 17 als ob (quasi, instar) Gott wäre.
Die der Wahrheit nach im Menſchen praktiſch werdende, d. h. ſeinen Willen durch ihre Ueberzeugung beſtimmende Vernunft iſt nur die Furcht und Liebe Gottes, welche ſich mit der vollen Gewißheit Gottes im menſchlichen Bewußtſeyn einfindet, ſich
durch den lebendigen Glauben des Gewiſſens an die göttliche Weltregierung ausſpricht, und durch die Gewiſſenhaftigkeit die Richtſchnur und Triebfeder eines dem Willen des denkenden Urweſens, folglich auch der wahren Natur angemeſſenen Lebens wird. Bei unſern ſittlichen Angelegenheiten vermag kein auch noch ſo glänzender Schein der Wahrheit, und kein noch fo ho- ber Grad der Wahrſcheinlichkeit die Stelle der wahrhaftigen Wahrheit zu vertreten oder zu erſetzen. Nur allein die von dem Urwahren ausgehende und auf daſſelbe zurückweiſende, volle Gewißheit der Wahrheit kann in dem irdiſchen, gebrechlichen, wankelmüthigen Menſchen, deſſen bald übermüthiges und trotzi⸗ ges, bald kleinmüthiges und verzagtes Herz ihm ſelber nur ein Räthſel iſt, jene wahrhaft überirdiſche Kraft ausmachen, welche nicht ein bloßes Wohlmeinen, ein frommes Wünſchen, eine that⸗ loſe Gutwilligkeit (Velleitas), fondern der wahre und bleibende Ernſt eines Willens iſt, der ohne anmaßenden Eigendünkel, ohne Selbſttaͤuſchung den heroiſchen Entſchluß: der Pflicht gegen alle Reize und gegen alle Schreckniſſe der Sinnlichkeit getreu zu bleiben, faſſen und ausführen ſoll und kann.“ an
1.
Nun laͤßt ſich, was im §. I. und S. II. von den Grundbegriffen der Sittlichkeit angefuͤhrt ward, ohne Zwang in Ein Ganzes zuſammenfaſſen.
a) Wenn Sittlichkeit in einem ſinnlichen Vernunft⸗ weſen, wie der Menſch iſt, werden ſoll: ſo muß ein
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zweifaches Vermoͤgen in ihm geſetzt ſeyn, ein Vermoͤgen, des Geſetzes bewußt zu werden (Vernunft⸗Vermoͤgen), und ein Vermoͤgen, daſſelbe erfuͤllen zu koͤnnen, ohne zu muͤſſen (Freiheitsvermoͤgen). b) Beſchloͤße der freie Wille die Erfüllung oder Nichterfüllung des erkannten Geſetzes: ſo koͤnnte das Selbſtbewußtſeyn des Guten oder Boͤſen, ſowohl das voran- als nachgehende, das Gewiſſ en, nicht fehlen. c) Beharrte die Freithaͤtigkeit in dem Ent⸗ ſchluſſe, die Ausſpruͤche des Gewiſſens fleißig einzuholen und genau zu befolgen, ſo waͤre mit dem Gewiſſen auch Gewiſſenhaftigkeit da. d) Gewiſſenhaftigkeit, wenn ſie an⸗ hielte, machte den Menſchen ſittlich frei, indem die Rich⸗ tung der Freiheit uͤberall mit der Richtung des Geſetzes zuſammentraͤfe, und den Sittlich-freien im Verkehr mit Menſchen echtmenſchlich. e) Allein Vernunft, Freiheit, Geſetz, Gewiſſen, Gewiſſenhaftigkeit, ſittliche Freiheit, echte Menſchlichkeit haͤtten kein Woher und Wozu, keinen Ur⸗ grund und Endzweck ohne das Goͤttliche, ohne das Ewige, wären ohne das Ur⸗Wahre,-Heilige,-Selige, ohne Gott = o, grundlos, nichts. 1) Wenn alſo die ſittlichen Be⸗ griffe von Vernunft, Freiheit, Gewiſſen ꝛc. wahre Grunds begriffe werden ſollen, ſo wird das Hoͤchſte, Gott, bloß geglaubt, oder eigentlich gewußt, allemal als hoͤchſt gewiß voraus- und obenangeſetzt werden muͤſſen; es moͤgen die Forſcher ſo oder anders zur Anerkennung des Hoͤchſten gelangen. g) Dieſe Voraus- und Obenanſetzung verfchafs fet da, wo ſie zum Leben gekommen iſt, nicht nur dem
Sittengeſetze ſein Woher und Wohin, ſondern giebt im
auch mit Seyn und Weſen erſt einen beſtimmten, vollen, einen Realſinn; giebt der Freithaͤtigkeit Weſen, Bedeu⸗ tung, Energie und Beſtimmung, und bringt das menſch⸗ liche Erkennen aus dem bloßen Formenweſen auf den Boden der Realitaͤt, macht die Vernunft zur eigentlichen 5 Vernunft.
20. Sobald die Vernunft auf dieſen neuen Boden tritt
(eigentliche Vernunft iſt), ſo gewinnt das Ganze eine neue Stellung, die ſich durch ſich ſelbſt empfiehlt und Hält:
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Es iſt eine hoͤchſte Wahrheit, ſich allduech⸗ ſchauend, von der alle andere Wahrheit und alles wahre Erkennen; eine hoͤchſte Freiheit, die ſich ſelber Ge⸗ ſetz iſt, und von der alle andere Freiheit; eine hoͤchſte Seligkeit, die das Leben aus ſich und in ſich iſt, und von dem alles wahre Seyn, Leben und Seligkeit ſtammt — Ein Gott.
II. Des Einen Gottes Bild iſt die Natur, des Einen Gottes Ebenbild — der Menſch (im Urſtande).
III. Im Menſchen (ſo viel noch von des Einen Gottes Ebenbild in ihm glaͤnzet) iſt Vernunft und freier Wille.
IV. Mit Vernunft und freiem Willen iſt dem Mens) ſchen von Gott gegeben das heilige, goͤttliche Geſetz, und mit dem Geſetze die e gut zu ſeyn, wie Gott.
V. Mit dem Geſetze und der Beſtimmung, gut zu ſeyn, iſt dem Menſchen von Gott gegeben die e mung, ſelig zu ſeyn, wie Gott.
VI. Die vollſtaͤndige Herſtellung des göttlichen Eben⸗ bildes im Menſchen iſt Vollendung des Menſchen.
VII. Die Vollendung des Menſchen iſt in Gott, wie ſein Urſprung aus Gott.
9 9 Folgende zwei Tabellen möchten für Anfänger den Inbegriff der N Lehre unter das Auge ſtellen.
Erſte Tabelle.
Der Men ſch. Das 15 Serlbftthätige.
. AI. Wille. BE Vernunft⸗Ge⸗ A feß für den Willen. IV. Gute oͤſes. V. Gewiſſſen. VI. Gewiſſen haftigkeit. VII. . Sittliche Freiheit.
II.
III.
IV.
VII.
„
Zweite Tabelle. Der Urſprung aller Dinge.
Gott.
Natur
Vernunft
Anerkennung Gottes und (Religio
Religio
Boͤſes meidend
Sittlich
Sittliche
in und
Religio
Vollen
ewiges
Menſ chheit.
Wille.
des goͤttlichen Geſetzes. fität.) ; fität,
Gutes vollbringend. keit.)
Freiheit
durch
ſitaͤt.
dung,
Leben
in \ Gott.
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ä 21. | Uebergang zur chriſtlichen Moral.
Hoͤheres, Schoͤneres, Seligeres kann der Menſch, laut aller Philoſophie aller Zeiten — nichts ahnen, glauben, wiſſen, voraus⸗ und obenanſetzen, als das Goͤttliche: a) wie es in Gott unwandelbar iſt; b) wie es ſich im Geſetze des Gewiſſens und in allen guten Menſchen aus— ſpricht; c) wie es ſich in der Unſterblichkeit, in der ewigen Seligkeit aller Guten verklaͤrt. Wenn alſo
I. Gott als das Urſchoͤne, das Allerheiligſte;
II. das heilige Geſetz im Menſchen, als der Aus⸗ druck des goͤttlichen Willens;
III. die Ewigkeit, als der Geſichtspunkt aller Hei⸗ ligen und das Element aller Seligen, die hoͤchſten Wahr⸗ heiten fuͤr alles Erkennen vernuͤnftiger Weſen ſind: ſo wird wohl ein Lehrer (ſo ſpricht der uͤberzeugte Chriſt), der
I. das Allerheiligſte, die Gottheit;
II. das Heilige im Menſchen, das Geſetz Gottes;
III. das ewige Leben, als den Geſichtspunkt aller Heiligen und das Element aller Seligen, mehr als einer vor und nach ihm an das Licht gebracht hat, unſerer gan⸗ zen Aufmerkſamkeit wuͤrdig ſeyn? Und, wenn er es iſt, wollen wir ihn denn nicht hoͤren?
§. III. Hiſtoriſche Ueberſicht der chriſtlichen Moral.
Ein anderes iſt die Moral Chriſti und ſeiner Apo⸗ ſtel, ein anderes die Moral der Chriſten, ein anderes die ſpaͤter entſtandene. Moraltheologie der Schule.
22. EN Die Moral Chriſti. Um zur Ueberſicht der Moral Chriſti ꝛc. zu gelangen, duͤrfen wir nur den vornehmſten Inhalt, die vorzuͤglichſte
Lehrweiſe und die Eigenheiten derſelben in Hinſicht auf Inhalt und Form in gedraͤngter Kürze darlegen.
— —
Der vornehmſte Inhalt der Moral Chriſti und feiner Apoſtel enthuͤllt ſich uns am deutlichſten A. in den man⸗ cherlei ſittlichen Grund atzen, die in den Schriften des
N. B. vorkommen; B. in dem Einen Grundgeſetze der Moral, das deutlich ausgeſprochen iſt; C. in den
Centralideen, die ihren ſittlichen Lehren nothwendig zu Grunde liegen. e 288 ö N NER A. Einzelne Grundſaͤtze. | Unter. diefen zeichnen ſich aus — der Grundſatz 1) des göttlichen Willens, 2) der Gottaͤhnlichkeit, 3) Chriſtus⸗ aͤhnlichkeit, 4) der göttlichen Philanthropie, 5) der Unſterb⸗
lichkeit, 6) der Verherrlichung Gottes und Chriſti, 2) des
goͤttlichen Reiches. |
»Dieſe ſieben Grundſätze haben das eigen, daß fie alle von dem Höchſten ausgehen, und auf das Höchſte zurückweiſen. Zu dieſen ſieben Grundſätzen, die von dem Höchſten ausgehen und zu dem Höchſten zurückweiſen, geſellt ſich einer, der den Menſchen an ihn ſelber anweiſet. — a
8) Der Grundſatz der Anfrage an das Herz des Menſchen. ' | Sa 1) Der Grundſatz des goͤttlichen Willens: „Gottes Wille iſt heilig, wie Gott: darum laß dir Got⸗ tes Willen in all deinem freien Wollen und Nichtwollen, Thun und Laſſen heilig ſeyn, wie dir Gott heilig iſt.“ Jeſus erklaͤrt nur den fuͤr ein Glied des himmliſchen Reiches, welcher den Willen ſeines Vaters thut (Matth. VII. 21), und behauptet von ſich ſelbſt, daß der Wille
—
ſeines Vaters ſeine einzige Richtſchnur ſey, er alſo nicht ſeinen, ſondern den Willen ſeines Vaters thue. (Joh. V.
30.) Johannes findet darin, daß wir die Gebote Got⸗ tes vollbringen, und das Gottgefaͤllige thun, den Grund aller Zuverſicht zu Gott (1 Joh. III. 21— 23.) und hält nur den fuͤr gerecht, der recht thut, und nur das fuͤr ein unvergaͤngliches Gut, daß wir Gottes Willen thun. (1 Joh. II. 17. III. 4—11.) Paulus fordert die Chriſten auf,
Gottes Willen in Allem zu erforſchen und zu pruͤfen,
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damit ſie eine ſichere Richtſchnur ihres Wandels haͤtten (Roͤm. XII. 2. Eph. V. 10.), und den erkannten Wil⸗ len Gottes aus innerem Triebe wie vor ſeinem Auge zu vollbringen. (Eph. VI. 2. 1 Theſſ. IV. 3.) Petrus ſetzt das Leben der Chriſten darein, daß ſie nicht den Be⸗ gierden, ſondern dem Willen Gottes gehorchen. (1 Petr. IV. 1—3.) Dieſer Grundſatz kann fuͤr uns Chriſten, die wir in Jeſus und ſeinen Apoſteln Herolde des goͤtt— lichen Willens verehren, nicht anders, als ſehr wichtig und vielbefaſſend ſeyn. Und da wir ſchon als Menſchen in den Ausſpruͤchen des Gewiſſens Gottes Gebote erkennen, und uͤberdem als Chriſten die klaren Ausſpruͤche Chriſti und der Apoſtel, die ſie ſelbſt als Gebote Gottes an uns verkuͤnden, und die nothwendig mit den Ausſpruͤchen des Gewiſſens uͤbereinſtimmen, als Gottes Worte an uns ver⸗ ehren: ſo gewinnt der Wille Gottes unter den Grund⸗ fägen der Moral ein vorzuͤgliches Intereſſe der Tuͤchtig⸗ keit ſowohl fuͤr den Zweck der Wiſſenſchaft, die ein Ganzes in der Idee alles Guten aufſtellen will, als fuͤr den Zweck der Freithaͤtigkeit, die daſſelbe Ganze im Seyn darſtellen ſoll. Die Wiſſenſchaft führt durch den Grund⸗ ſatz des goͤttlichen Willens das Mancherlei der ſittlichen Vorſchriften auf Ein Geſetz, und die Freithaͤtigkeit das Mancherlei ihrer Actus auf Einen Actus zuruͤck. Got⸗ tes Wille, von Gott ſelbſt geoffenbaret, das Eine Ge ſetz der Moral: die Uebereinſtimmung des menſchlichen Willens mit dem göttlichen, der Eine Actus der Frei⸗ thaͤtigkeit.
2) Der Grundfaß der Gottähnlichkeit: „Gott ſchuf den Menſchen zu ſeinem Bilde; der Menſch ſey alſo Bild Gottes; Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit, dieß Urbild werde lebendig in ihm, und offenbar an ihm, als dem treueſten Abbilde: das iſt des Menſchen Aufgabe. Wie die Muͤnze in einem Koͤnigreiche, durch Kunſt gepraͤgt, das Bild des Koͤnigs traͤgt, ſo ſoll der Menſch, durch freie Nachahmung Gottes, das Bild ſeines Gottes tragen. | Der Menſch, nach Gottes Bilde geſchaffen, ſoll alfo Gottes Bild unter Menſchen darſtellen, ſoll als Sohn Gottes das Ebenbild ſeines Vaters mit f ch umhertragen,
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und wenn er von dieſem Gores Kinder» Sinne ausgear⸗ tet waͤre, wie er leider! iſt, vor allem zu dieſer Grund⸗ geſinnung umgebildet werden, und dann das erneuerte Bild Gottes neu darſtellen in Liebe gegen Andere, vorzüglich in Liebe gegen Feinde, die nicht zur Liebe reizen, und gegen Duͤrftige, die nicht wieder geben koͤnnen; ſoll verzeihen und wohlthun denen, die ihn beleidigt haben, kurz: vollkommen ſeyn, wie der himmliſche Vater, der ſeine Sonne uͤber Gute und Boͤſe aufgehen laͤßt. (Matth. V. 44 — 438. XXII. 21. Luc. VI. 36. Epheſ. V. 1. 1 Petr. I. 13— 18. Epheſ. IV. 24. Koloſſ. III. 100
Die Allvollkommenheit Gottes wird hier nicht in ihrer Fülle, ſondern nur als Lauterkeit feines Weſens und als Heiligkeit ſeines Willens vorgeſtellt, und in dieſer Hinſicht kann ſie vorzuͤglich ein Ideal genannt werden; denn allwiſſend und allmaͤchtig zu werden, liegt nicht in unſerer Sphaͤre, aber gut, heilig, durch Nachah⸗ mung der goͤttlichen Heiligkeit, zu werden, das liegt in der Sphaͤre unſers Sollens und Wollens. Und dieß Ideal wird uns vorzuͤglich als Liebe gegen die Menſchen nachahmbar ſeyn, und die Liebe gegen Menſchen beſonders als Großmuth gegen Feinde und als Freigebigkeit gegen Duͤrftige zum Urbilde gemacht, Bon wir uns annaͤhern ſollen.
Dieſer Grundſatz: Menſch, ſey Gottes Ebenbild in Liebe! zeigt in dem, was er fordert a) die Wuͤrde der Menſchheit; denn der Menſch kann und ſoll Gott ähnlich in Liebe, Gottes gleichendes Ebenbild werden; und wenn er es geworden iſt, dann traͤgt er das Siegel der hoͤchſten Wuͤrde, iſt vollkommen, wie ſein Va⸗ ter im Himmel. Dieſer Grundſatz weiſſagt b) uns aber auch in dem, was er uns verbirget, die Vollen⸗ dung des göttlichen Eben bildes. Denn nicht nur ſoll der Menſch Gottes Ebenbild in Liebe werden, ſon⸗ dern Gottes Ebenbild in der Erkenntniß, in der Se⸗ ligkeit, in Macht und Herrlichkeit, ſoll theilhaftig der goͤttlichen Natur werden. Dieſer Grundſatz fordert c) um anwendbar zu ſeyn, daß das ferne Urbild dem Menſchen naͤher gebracht, und das Ebenbild Gottes,
a A
in ſofern es in ihm entſtellt iſt, wieder erneuert werde. Deßhalb muß der zweite Grundſatz mit dem dritten und vierten verbunden werden.
3) Der Grundſatz der Ehriſtus ähnlichkett: Da die Heiligkeit Gottes fuͤr endliche Geiſter in ſinnlichen Huͤllen immer eine Art von Unzugaͤnglichkeit hat und has ben muß, ſo hat ſie ſich uns in dem fleckenloſen Leben Chriſti gleichſam nahe — zugaͤnglich gemacht; das Leben Chriſti iſt der Coder der Chriſten, auf den uns Chriſtus und ſeine Juͤnger hinwieſen.
„Das Leben Chriſti iſt, als der vollkommenſte Abdruck des goͤttlichen Lebens, eine Richtſchnur fuͤr uns.“ Gott in Chriſtus — unſer Vorbild: das haben Chriſtus, Johan⸗ nes, Petrus, Paulus ſo klar und ſo beſtimmt, wie moͤg⸗ lich, angegeben. (Joh. XIII. 15. 34. XV. 12. 1 Joh. II. 6. III. 16. 1 Petr. II. 21. III. 18. Phil. II. 5—g8.)
Der Eine Inhalt aller dieſer und aͤhnlicher klaſſiſchen Stellen iſt dieſer: Liebet einander, wie uns Chris ſtus geliebet hat, der in Knechtsgeſtalt erfchien, ein Menſch, wie wir, und gehorſam bis zum Tode am Kreuze, fuͤr unſre Suͤnden ſtarb. Die Menſchwerdung des Logos und der Opfertod des Erloͤſers ſind alſo die zwei großen Endpunkte, die hervorſtechendſten Partien in dem Original⸗Gemaͤlde, das uns hier vorgehalten wird.
Der Grundſatz: „Liebet einander, wie Chriſtus euch geliebt hat, traget einander in Liebe und Demuth, und ſeyd in Allem geſinnt, wie Chriſtus,“ iſt a) als Ge⸗ bot fuͤr Chriſten, die im Grunde kein anders Gebot ha⸗ ben, als Liebe, allumfaſſendz iſt b) als Vorbild fuͤr Chriſten, die in Chriſtus das ausgepraͤgteſte Ebenbild Got⸗ tes verehren, ein goͤttlich⸗menſchliches Muſter, und c) weil ſie die Heiligkeit Chriſti als die Heiligkeit Got⸗ tes, in Chriſtus geoffenbaret, anſehen, ein reines, durch⸗ aus zu verlaͤſſiges Muſter. |
4) Der Grundfag der Menfchenfreundlichkeit Gottes, als das Prinzip der dankbaren Liebe: „Die Menſchheit iſt ein beſonderes Augenmerk Gottes: Er weiß ihre Beduͤrfniſſe, und ſorget fuͤr ſie; der Vater hatte die ene ſo lieb, daß Er, als ſi fe von Be; abgefallen
N war,
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war, en eingebornen Sohn dahin Per Gott iſt die
Liebe ſelber.“ „Er hat uns zuvor geliebt, wir ſollen ihn alſo auch lieben, und in Liebe ſeinen Willen thun; das iſt die Liebe Gottes, daß wir ſeine Gebote halten, und ſeine Gebote ſind nicht ſchwer.“ Wenn wir nun aber Gott, der uns zuvor geliebt hat, lieben, ſo muͤſſen wir die Liebe zu dem unſichtbaren Gott vorzuͤglich dadurch be⸗ weiſen, daß wir den ſichtbaren Bruder lieben. „Wer Gott lieb hat, liebt auch, was aus Gott geboren iſt.“ Matth. VI. 25— 34. Joh. III. 16. 17. 1 Joh. IV. 16. 1 2 V 2. 3.
Dieſer Grundſatz iſt ſinnvoll: Wie gute Kinder keinen andern Sinn zu ihrem Vater haben, als den der Liebe, und in Liebe ihm glauben, ihm trauen, ihm gehor⸗ chen, und aus dieſer uͤberfließenden Liebe zu dem Vater auch ihre Bruͤder lieb haben, und in Liebe ihnen glauben, ihnen trauen, und ihnen Freude machen: ſo iſt a) die Gemuͤthsſtimmung des Chriſten ein kindlicher Sinn gegen den himmliſchen Vater, ein bruͤderlicher gegen die Men⸗ ſchen. — Dieſe Liebe der Menſchen gegen Gott iſt b) nur eine Folge der bevorkommenden Liebe Gottes gegen uns: Er hat uns zuvor geliebt, laßt uns ihn wieder lieben, ſpricht der Chriſt. Dieſe Liebe iſt c) keine müßige, ſie iſt ein lauterer Gehorſam, ein lauteres Gebothalten; ſie iſt d) noch weniger muͤrriſch, gefuͤhllos gegen die Menſchen, denn der Chriſt liebt den unſichtbaren Gott in
dem ſichtbaren Menſchen. Dieſer Grundſatz bezeichnet alſo die lauterſte, die ſchoͤnſte Gemuͤthsbeſtimmung, und wuͤrde, verwebt in die ganze Sinn⸗, Denk⸗ und Handlungsart der Chriſten, nichts anders, als die reinſten, SR, ge⸗ nießbarſten Menſchen bilden koͤnnen.
Dieſer Grundſatz iſt auch noch von einer andern Seite merkwuͤrdig; denn die dem Suͤnder bevorkommende Liebe ſetzt den Abfall der Menſchheit voraus, und alle Tugend des Chriſten iſt demnach Liebe gegen den Wiederherſtel⸗
ler unſers Geſchlechts. 5) Der Grundſatz der Unſterblichkeit. Ob du gleich im Lande der Sterblichkeit, nach dem niedern Theile deiner Natur ſelbſt ſterblich, umherwalleſt und uͤber Graͤbern J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 4
a 50 ee
wandelſt: ſo betrachte dich doch, ſtets a) als einen An ſterblichen, als einen Buͤrger des himmliſchen Vaterlandes, der dieſes Buͤrgerrecht zwar hat, aber noch nicht im ganzen Umfange ausuͤben und genießen kann, indeſſen in der Fremde pilgert, um der Aufnahme in ſein Vaterland faͤhig zu werden; b) als einen Zoͤgling der goͤttlichen Weisheit, der ſich hier noch im Stande der Unmuͤndigkeit befindet, noch lernt in der Vorbereitungs⸗ klaſſe, um dort den vollendeten Maͤnnern, den Sehern des Lichtes beigezaͤhlt zu werden; c) als einen Saͤe⸗ mann, der hier reichlich ſaͤen ſoll, um dort einer reichen Ernte⸗Freude wuͤrdig und theilhaftig zu werden; d) als einen edlen Handels mann, der hier ſein Kapital auf Zinſen legt, um am allgemeinen Nechnungstage die Ver⸗ beſſerung ſeines Kapitals vor dem Auge der Gerechtigkeit vorlegen, und vor ihr beſtehen zu koͤnnen; e) als ein Weſen, das beſtimmt ift zur innigſten Vereini⸗ gung mit Gott in Chriſtus, die unſer im Schooße der Ewigkeit wartet, und das ſich durch fortſchreitende Reinigung von allem Ungoͤttlichen zu dieſer Einigung mit dem Goͤttlichen immer tuͤchtiger machen ſoll. — (2 Kor. V. 6— 10. IV. 6. 1 Kor. XIII. 10-13. Matth. XXV. 1—13. 14-30.)
Diefer Grundſatz hat das Eigenthüͤmliche, daß er, in Geſinnung uͤbergegangen, ſchon auf Erden den hoͤhern, lautern Sinn der Unſterblichen anticipirt, indem der ſo geſinnte Menſch ſchon in der Zeit aus dem Geiſte der Ewigkeit handelt, und um in allen Verhaͤltniſſen des zeit⸗ lichen Lebens unbefleckt und unverwundet durchzukommen, das Ewige nie aus dem Auge laͤßt. Es giebt alſo eine lebendige Anſchauung der Unſterblichkeit, die nicht nur mit der reinſten Sittlichkeit nicht im Widerſtreite iſt, ſondern ſie vielmehr ſelber ausmacht. |
6 Grundſatz von der Verherrlichung Got tes und Chriſti. „Verherrlichung Gottes, Verherr⸗ lichung Chriſti ſey dein hoͤchſtes Gebot, und deine einzige Triebfeder. Alle ſollen Gott in Chriſtus anbeten, Alle ſollen den Sohn ehren, wie ſie den Vater ehren, Ihm neige ſich jedes Knie, Ihn verherrliche unſer Leben und
Zn
Sterben; denn in Ihm wohnet die Gottheit leibhaftig, Er iſt das Haupt der Kirche, — Alles, was ihr thut, das thut von Herzen als dem Herrn, dem ihr dienet, Chri⸗ ſto!“ — (Siehe die drei Briefe an die Epheſer, Philips per, Koloſſer.) ä
Eine Moral, die nur Liebe gebeut, und der Selbſt⸗ aufopferung (denn die Liebe opfert ſich) keinen andern Zweck anweiſet, als die Verherrlichung Gottes und Chriſti, iſt doch ſo rein und erhaben, als keine andere. |
2) Grundſatz von dem Reiche Gottes und Chriſti. Die Menſchen und alle vernuͤnftige Weſen ſte⸗ hen in einer Verbindung unter ſich und mit Gott; dieſe Verbindung heißt das Reich Gottes. Dieſes Reich Got⸗ tes gewaͤhrt eine doppelte Anſchauung, in ſofern es in die Zeit herein, in ſofern es in die Ewigkeit hinuͤberfaͤllt. In der erſten Betrachtung iſt es eine Erziehungs⸗, d. i. eine Reinigungs-, Bildungs-, Heiligungs-Anſtalt, in der zwei⸗ ten iſt es Vollendung der Menſchheit, d. i. eine Verklaͤ⸗ rung, Beſeligung, Vereinigung mit Gott, die den Menſchen ſelbſt vollendet. Als Anſtalt zur Erziehung, Reinigung, Bildung, Heiligung der Menſchheit heißt es Kirche, als Vollendung der Menſchheit — Himmel. Als Kirche iſt es das Reich Gottes im Kampfe, im Werdenz als Himmel iſt es das Reich Gottes im Siege, in dem voll⸗ endeten Seyn; als Kirche iſt es das Reich der Gnade, die den freien Willen zum Guten weckt und im Guten ſtaͤrkt; als Himmel iſt es das Reich der Herrlichkeit, die den Guten vollendet und erfreut. |
Das Oberhaupt dieſes Reiches iſt Gott, iſt Chriſtus, der Sohn Gottes; das Geſetz des Reiches: Liebe gegen Gott, gegen Chriſtus und gegen alle Reichsgenoſſen; der Zweck der Regierung: Erloͤſung von Suͤnde, Unwiſſenheit, Elend, Tod, und volle Heiligung und Beſeligung aller Bürger des Reiches; der Feind des göttlichen Reiches: das Reich der Finſterniß; der Beruf der ſaͤmmtlichen Glieder des goͤttlichen Reiches auf Erden: Streit fuͤr das Licht wider die Finſterniß; die Waffe der Streiter: Glaube an das Licht; der Ausgang des Streites: Sieg uͤber die Fin⸗ ſterniß. — (Matth. XIII. 24— 84.) N ö
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Diefer Grundſatz vereinigt am beiten, denn er vers einigt a) die zwei allbefaſſenden Triebe in der menſch⸗ lichen Natur, den Trieb nach Gutſeyn und den Trieb nach Wohlſeyn; b) die zwei vornehmſten Artikel aller Anthro⸗ pologie, Pflicht und Seligkeit, oder was wir zu thun und zu hoffen haben; c) Religion und Moral; d) die Ex⸗ treme, Zeit und Ewigkeit, Erde und Himmel, Kampf und Sieg.
Dieſer Grundſatz iſt eben deßwegen, weil er am be⸗ ſten vereinigt, der ſinn- und kraftreichſte: Gott iſt das Haupt des Einen Leibes, wir nur Glieder an ſeinem Leibe; alle Glieder haben Einen Beruf, zu ſtreiten fuͤr die Zwecke des Einen Gottes; im Streite beſteht unſre Tugend hie⸗ nieden, im Siege unſre Vollendung, und die Vollendung
iſt Heiligkeit und Seligkeit.
Von dieſer Seite betrachtet, erſcheint alſo die ganze Aufgabe der Sittlichkeit als Streit fuͤr das Licht mit al⸗ len Kindern des Reiches wider die Finſterniß — und als Sieg des Lichtes uͤber die Finſterniß.
8) Grundſatz der Anfrage an das menſch⸗ liche Herz. Was du willſt, das dir Andere thuen, das thue du ihnen auch. Und: und was du wuͤnſcheſt, daß dir Andere nicht thuen, das thue du ihnen auch nicht.
Daß dieſe Anfrage an das Menſchenherz weiter nichts, als der praktiſche Dolmetſcher der nachſtehenden Geſetz⸗ formel: „Liebe den Naͤchſten, wie dich ſelber,“ ſeyn ſ oll wird ſich in der Erklaͤrung derſelben ergeben.
B. Das Eine Grundgeſetz der Moral: Die Sine ' der ganzen chriſtlichen Moral. 5
24.
e faßte ſelbſt alle Geſetze in die Summe zu⸗ ſammen: Du ſollſt den Herrn, deinen Gott, von deinem ganzen Herzen, und von deiner ganzen Seele, und von deinem ganzen Gemuͤthe lieben: dieß iſt das erſte und größte Gebot; das andere aber ift dieſem gleich: du ſollſt deinen Naͤchſten lieben, wie dich ſelbſt. An dieſen zweien Geboten haͤngt das ganze Geſetz und die Propheten. —
(Matth. XXII. 37 —40.) 2
zu. RT
In dieſer Summe, wie ſie Jeſus und die Apoſtel ſelbſt erklaͤrten, iſt auch die Liebe gegen Chriſtus mit ein⸗ geſchloſſen: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, als mich, ſpricht Chriſtus von ſich, der iſt meiner nicht werth; wer Sohn oder Tochter mehr liebt, als mich, der iſt meiner nicht werth (Matth. X. 37—38.)5 wer ſich zu mir bes kennt vor den Menſchen, zu dem will auch ich mich be⸗ kennen vor meinem Vater im Himmel; wer aber mich vor den Menſchen verlaͤugnet, den will auch ich vor mei⸗ nem Vater im Himmel verlaͤugnen.“ (Matth. X. 32. 83. Roͤm. XIII. 10. 1 Tim. I. 5.)
Die Summe aller Forderungen Chriſti an ſeine Juͤn⸗ ger iſt alſo die: I. Liebe Gott aus allen deinen Kraͤften; . II. liebe Chriſtum, wie Gott, denn er iſt der eingeborne Sohn Gottes, Eines mit dem Vater; |
III. liebe deinen Nächten, wie dich ſelber.
C. Centralideen, die den ſittlichen Lehren Chriſti und ſeiner Apoſtel zu Grunde liegen muͤſſen. 25.
Die ſittlichen Lehren Jeſu haben bei aller Mannig⸗ faltigkeit des Inhaltes eine Einheit, die überall hervor⸗ leuchtet, und bei aller Einfachheit des Ausdruckes eine Tiefe, die Bewunderung erreget. Jene Einheit und dieſe Tiefe ſetzt goͤttliche Centralideen voraus, die dem Gedan⸗ ken, dem Worte uͤberall zu Grunde lagen. Dieſe Central⸗ ideen umfaſſen die Gottheit und die Menſchheit zugleich. In ſofern ſie ausſprechbar ſi nd, werden er ie in folgenden Lehren ausgeſprochen:
I. Gott iſt die Liebe, und es iſt der unwandelbare Wille Gottes, daß die Menſchheit, nach dem Ebenbilde der Liebe geſchaffen, gut und ſelig ſey, wie Gott.
II. Die Menſchheit, in ihrem jetzigen Zuſtande, iſt nicht gut, nicht ſelig, liegt im he womit Elend, Un⸗ ſeligkeit verknuͤpft iſt. a
III. Dieſes Arge iſt die Trennung von Gott, und die Feindſchaft wider Gott. i
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IV. Jene Trennung und dieſe Feindſchaft ſoll nach dem Willen der ewigen Liebe nicht ewig ſeyn, ſoll auf⸗ gehoben werden.
V. Die Aufhebung jener Trennung und dieſer Feind⸗ ſchaft iſt das große Werk Gottes, iſt das Werk des Lo⸗ gos, iſt das Werk Chriſti.
VI. Dieß große Werk Chriſti iſt auch das Werk der Apoſtel und der ganzen chriſtlichen Kirche auf Erden.
VII. Dieß große Werk kann nicht vollbracht werden ohne den Geiſt Gottes, der den Menſchen wecket, bildet, leitet, und ohne Einſtimmung des Menſchen mit Gott.
VIII. Dieſe Einſtimmung wird durch Sinnesaͤnde⸗ rung angefangen.
IX. Dieſe Einſtimmung wird durch Heiligung fortgeſetzt.
X. Dieſe Einſtimmung wird durch vollendete Ver⸗ klaͤrung des Menſchen in das Bild Gottes vollendet.
XI. Dieſe Einſtimmung des Menſchen mit Gott in ihrem Anfange, in ihrem Fortſchritte und in ihrer Voll⸗ endung iſt die Liebe.
Dieſe Lehren find unvollkommene Ausdrucke der Cen⸗ tralideen, in ſofern jede auf das Centrum (Gott) zuruͤck⸗ weiſet. Dieſe Lehren bezeichnen das Hoͤchſte, das Jeſu und ſeinen Apoſteln vorſchwebte in allen ihren Lehren, Thaten, Leiden, Schickſalen; dieß Hoͤchſte iſt wohl auch der Schluͤſſel, der uns den Sinn des ganzen Evange⸗ liums aulſchllebt
II.
Die Weiſe, wie Jeſus und feine Apoſtel Moral | lehrten.
26.
Vorerſt, wie ſie dieſelbe nicht lehrten. 1) Chris und feine Apoſtel lehrten nie Moral, wie fich einige Tongeber der feinen Welt aus ihrem Leben eine Moral bilden: als eine Sammlung von Regeln des Anſtandes, der Sitten⸗ feinheit, der bloßen Urbanitaͤt, der Geberden-Decenz. Die Moral Chriſti war Moral, eine Lehre von Heiligkeit der Gefinnung und des Lebens.
— 8 —
2) Chriſtus und ſeine Apoſtel lehrten nie Moral, wie ſich einige Wortfuͤhrer der gelehrten Welt eine Moral bil⸗ den wollten, iſolirt von aller Gottesverehrung. Die Tu⸗ gend, die Chriſtus lehrte, war Pietaͤt gegen Gott, und die Pietaͤt, die er lehrte, war Tugend. Ey Chriſtus und ſeine Apoſtel lehrten nie Moral als Wiſſenſchaft in wiſſenſchaftlicher Form, die, bei allem theils wahren, theils ertraͤumten Werthe fuͤr die Wenigen, den⸗ noch fuͤr das Menſchengeſchlecht unmittelbar ſo ungenieß⸗ bar ſeyn muͤßte, als Muſik fuͤr den Taubgebornen; denn ſie lehrten a) fuͤr das Volk, lehrten b) fuͤr das Leben, bekuͤmmerten ſich e) im Vortrage ſchon gar nicht um die Grenzen und Bedingungen eines wiſſenſchaftlichen Syſtems, ſo wie ſie ſich darum nicht bekuͤmmern konnten, weil ganz etwas anderes in ihrem Gemuͤthe und Berufe lag, und dieß um ſo mehr, da ſie d) nicht als Lehrer der Schule an einer Staͤtte vor denſelben Zuhörern auftraten, fondern als Kaſual⸗ und Lokallehrer bloß das vortrugen, was ihnen e) nicht die Idee einer Wiſſenſchaft, ſondern die Weisheit eingab, ſo wie es die Beduͤrfniſſe der Hoͤrenden erheiſchten, und die Kraͤfte derſelben tragen mochten.
4) So ſehr Chriſtus und ſeine Apoſtel bei mancher⸗ lei Anlaͤſſen an den geſunden Verſtand, an das ſittliche Gefuͤhl des Menſchen appellirten, um Menſchen auf eine menſchliche Weiſe theils zu uͤberzeugen, theils zu wecken; ſo behaupteten ſie doch einhellig, daß ſie ihre eigentliche Weisheit, als eine hoͤhere, nicht aus dem gemeinſamen, ihm ſelbſt gelaſſenen Menſchenverſtande genommen haͤtten, und bauten ihre Lehren zwar nicht ausſchließend, aber doch vorzuͤglich auf die Autoritaͤt Gottes. Davon zeugt jedes Blatt des neuen Teſtamentes. | |
5) Wenn Chriſtus und ferne Apoſtel keine Moral als Wiſſenſchaft lehrten, und Metaphyſik gar nicht lehrten und nicht lehren konnten; wenn ſie die Moral nie von Re⸗ ligion trennten, ſondern von beiden (Religion und Moral) nach Anlaß und Beduͤrfniß lehrten, was ihnen der Geiſt der Wahrheit eingab, und das Herz des Hoͤrenden tras gen mochte: ſo wird man im Ernſte wohl nicht nach ei⸗ nem oberſten wiſſenſchaftlichen Prinzip fragen wollen, nach
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welchem Chriſtus gelehrt haͤtte. Da Er aber doch eine himmliſche Weisheitslehre auf die Erde mitbrachte, und mit dieſer einen Inbegriff aller einzelnen Vorſchriften; da die Weisheitslehre einen Mittelpunkt haben, und dieſer dem Lehrer vorgeſchwebt haben muß: ſo moͤgen uns die n. 25. beruͤhrten Centralideen der chriſtlichen Mo⸗ ral weit tiefer in den Geiſt derſelben hineinſehen laſſen, als ihn uns kein wiſſenſchaftlicher Grundſatz wuͤrde auf⸗ ſchließen koͤnnen.
6) Chriſtus und ſeine Apoſtel wollten alſo weber für bloß menſchliche Lehrer, noch weniger für bloße M o⸗ rallehrer, am allerwenigſten fuͤr bloße Lehrer der blo⸗ ßen ſogenannten Vernunftmoral angeſehen ſeyn; nicht fuͤr bloß menſchliche Lehrer, weil fie ihren Vortrag nicht ausſchließend auf die Autorität der eigenen oder fremden, bloß menſchlichen Einſicht, ſondern vorzuͤglich auf die Autoritaͤt Gottes bauten, Chriſtus ſich fuͤr den Ge⸗ ſandten ſeines himmliſchen Vaters, die Apoſtel ſich fuͤr Geſandte Chriſti erklaͤrten; noch weniger fuͤr bloße Morallehrer, weil fie behaupteten, ihr Beruf ſey: Kund zu machen den geheimen und aller Welt verborge⸗ nen, ihnen aber geoffenbarten Rathſchluß des himmliſchen Vaters, die Welt durch Chriſtus mit ſich auszuſoͤhnen (1 Kor. II. 6—16.); am allerwenigſten für bloße Leh⸗ rer der bloßen Vernunftmoral, weil fie ſich vor⸗ zuͤglich auf die Autoritaͤt der Offenbarung ſtuͤtzten.
2) Obgleich in der Lehre Jeſu die reinſte und erha⸗ benſte Moral mit enthalten iſt: ſo gaben es doch weder Jeſus, noch ſeine Apoſtel fuͤr ihren vornehmſten, und ſchon gar nicht fuͤr ihren eigentlichen Lehrberuf an, „Moral zu lehren;“ ſondern ihr Lehrberuf war vornehmlich und eigentlich der: Die frohe Botſchaft aller Welt mit Wort, That und Kraft zu verkuͤnden, daß Alle, die an Chriſtus glauben, und mit Geiſt und Herz ſich ihm und ſeiner Fuͤh⸗ rung anvertrauen wollen, durch ihn vollkommene Erlöfung von Finſterniß, Suͤnde und Tod — das ewige Leben ſin⸗ den koͤnnen.
Jeſus hatte uͤber dieſem Lehrberufe noch den ihm aus⸗ ſchließlich eigenen: Sich ganz fuͤr das Heil ſeines ver⸗
PR Bruͤdergeſchlechtes zu opfern (wie er denn auch ſich wirklich am Kreuze geopfert hat), um durch den Tod in ſeine Herrlichkeit einzugehen, und von da aus die Menſchheit mit ſeinem Geiſte zu taufen. Auch die Apo⸗ ſtel hatten bei und neben ihrem Lehrberufe noch den Be⸗ ruf: Heilſchaffende Kräfte zum Beſten der ohnmaͤchtigen Menſchheit durch Chriſti Geiſt mitzutheilen, und das Reich Gottes mit Kraft und That zu erweitern.
8) Nach dem, was Chriſtus und ſeine Apoſtel von ſich behaupteten, muͤßte man ſie alſo tief erniedrigen, wenn man ſie zu bloßen Lehrern, noch tiefer, wenn man ſie zu bloßen Sittenlehrern machen wollte; denn ſie lehrten nicht bloß, lehrten nicht bloße Moral, und lehrten ſchon gar nicht Moral nach bloß ſelbſt gebildeten Begriffen.
Wie Jeſus und ſeine Apoſtel Moral lehrten.
27. Dieſe eeſrweiſe⸗ >) iſt durchaus originell, ſie mag auf Gott oder auf die Menſchheit bezogen werden.
Das Originelle der Lehrweiſe Jeſu und feiner erſten ee in Beziehung auf Gott.
28.
1) Da die Religion und Tugend in dem Gemuͤthe und der Anſchauungsweiſe Chriſti und ſeiner Apoſtel Ei⸗ nes war: ſo konnten ſie nicht umhin, in ihrem Vortrage die moraliſchen Vorſchriften an die Glaubenslehre von Gott und Unſterblichkeit, von Chriſtus und Chriſti Geiſte anzuknuͤpfen, und beide in Einheit darzulegen.
So verknuͤpfte Jeſus die Forderung der Herzens⸗ Reinigung, des friedliebenden Bruderſi nnes, der Barmher⸗ zigkeit, der duldenden Ausharrung in unverſchuldeten Lei⸗ den mit den großen Verheißungen, Gott zu ſchauen, Gottes Kind zu heißen, Barmherzigkeit zu finden, und das Himmelreich zu erlangen (Matth. V. 4— 12. ;. das
) Siehe die kurzgefaßten Erinnerungen an junge Prediger. te
Ausg. S. 85—108;, worin dieſer Gegenſtand eine ausführliche ö erhalten hat.
4
= 3°
Gebot, nicht des Menſchenlobes wegen zu faſten, zu be⸗ ten, Almoſen zu geben, mit dem Glauben an den Gott, der im Verborgenen ſieht und öffentlich vergilt; die Pflicht, Feinde zu lieben, uneigennützig zu ſeyn, und ſein Herz ſorgenfrei zu halten, mit dem Aufſehen zu Gott, der ſeine Sonne uͤber Alle aufgehen laͤßt, Blumen kleidet und Sperlinge naͤhrt. (Matth. VI. 1 — 18. V. 26 — 44. VI. 25— 34.)
So verknuͤpfet Paulus die Pflicht, Geiſt und Leib der Tugend zu weihen, mit dem Tode Chriſti und dem Geiſte Chriſti, deſſen Tempel die Chriſten ſind (1 Kor. VI. 19— 20.0; die Pflicht, fuͤr die Obrigkeit und alle Menſchen zu bitten, mit der Liebe Gottes, die alle Menſchen zur Erkenntniß der Wahrheit bringen will, und mit der Liebe Chriſti, der ſich fuͤr Alle zur Erloͤſung ee hat, (1 Tim III iz,
2) Nicht nur die Moralgeſetze, die eigentlich fi ittlichen Vorſchriften, ſind nach dem Vortrage Chriſti und ſeiner Apoſtel von Gott gegeben, ſondern Alles, was zur Moral gehört, wird als von Gott hervorgehend vorge ſtellt: a) die Geſetze, die Gott in das Herz geſchrie⸗ ben, b) die Kraͤfte, die uns Gott darreicht, die Geſetze zu erfuͤllen; c) die Muſter, die uns vorgehalten werden, als: Liebe Gottes, Liebe Chriſti, Liebe aller reinen Gei⸗ ſter; d) die Folgen der Geſetzerfuͤllung, die Vollendung, volle Beſeligung der Menſchheit, ſind lauter Radien, die von Gott als dem Mittelpunkte ausgehen, und den Men⸗ ſchen mit ſi ich zu Gott als dem Mittelpunkte zuruͤckfuͤhren; Gott iſt es, der das Gute gebeut, der Kraft zur Voll⸗ bringung darreicht, der das Muſter der Heiligkeit aufſtellt, der das Gute vollendet, den Guten beſeliget. f * 19 Die ganze Geſchichte Jeſu, als Fundament und Objekt des chriſtlichen Glaubens, iſt Chriſto und den Apoſteln das Muſterbild ſowohl von dem Heldengange, als von dem Ausgange des Guten. Es iſt das Loos der Helligkeil dr daß ſie hier den Kelch trinken, und am Kreuze ſterben muß, ehe ſie von dem Tode auferſtehen, gen Him⸗ mel, fahren, und ihrer Herrlichkeit Beſitz nehmen kaun. Die Geſchichte Je u iſt alſo die ee aller Guten,
„
iſt das unvergleichbarſte Symbol deſſen, was die menſch⸗
liche Natur werden ſoll, heilig, und N n werden wird, ſelig. |
Das Originelle der Lehtweiſe Jeſu und en Apoſtel 1 Beziehung auf den Wenſchen 1 } 29.
10 Wie Chriſtus und ſeine Apostel ihre Moral an das Göttliche, Ewige anknuͤpften, fo haben ſie dieſelbe eben fo genau den verſchiedenen Faſſungen, Stufen, Zu⸗ ſtaͤnden, in denen ſich die Sittlichkeit und Unſt ttlichkeit ih⸗ rer Zeitgenoſſen befand, angepaßt. a) Den Gottes⸗ und Selbſtvergeſſenen, der um die Beſinnung gekommen war, und nur durch die Folgen des Boͤſen geweckt werden konnte, weckten ſie durch die Schrecken der Zukunft, des Gerichtes, der Vergeltung auf, und hielten den, der die⸗ ſes Zaumes bedurfte, durch dieſen Zaum in Zucht. (Roͤm. II. 9. Apſtg. X. 42. XVII. 31. Rom. II. 5. 12. Matth. X. 28. XII. 36. XXV. 32.) b) War der Selbſt⸗ vergeſſene ſchon zur Beſin nung gebracht, ſo fingen fie mit der Predigt von der Nothwendigkeit und den Beding⸗ niſſen der Sinnesaͤnderung an, und weckten dann in ihm den Funken des Vertrauens, und der Liebe zu Gott, er⸗ munterten ihn zur Erwaͤgung und zum Bekenntniſſe der Sünden, zum Gebete am den heiligen Geiſt, zum Ent⸗ ſchluſſe, den ſchmalen Weg zu betreten, zum ſteten Selbſt⸗ verlaͤugnen und Nichtzuruͤckſehen. (Hebr. XI. 6. Luk. XV. 11—32. Joh. X. 14— 23. 1 Joh. II. 2. Matth. XXII. 32. 1 Joh. I. 9. Luk. XI. 13“ Joh. III. 5. Luk. XV. 20. 21. Matth. VII. 13. 14. XVI. 24. Luk. IX. 62.) ) Den Neugebeſſerten zogen fie durch das ſanfte Band der dankbaren Liebe zur Ausuͤbung alles Guten, und zum muthigen Fortſchreiten auf dem betretenen Pfade, machten die dankbare Liebe des Bekehrten zur Seele aller ſeiner Geſinnungen und Handlungen. (1 Joh. IV. 19.) d) Den Muth des Fortſchreitenden belebten fie bald durch das Muſter der Heiligkeit, das dreifach iſt, das Goͤttliche in Gott, das Goͤttlich-menſchliche in Chriſtus, das Gott und Chriſtum Nachahmende in den Heiligen
— GET
Joh. IV. 9. 10. Epheſ. IV. 32. 1 Petr. II. 21 u 1 Joh. III. 16. Hebr. XI.), bald durch die Hoffnung kommender Herrlichkeit, deren ſich die Reinen durch hoͤhere Reinigung von allen Flecken wuͤrdig machen (1 Joh. III. 2. 30, und die den fuͤr die Gerechtigkeit Kaͤmpfenden hin terlegt iſt (Roͤm. VIII. 18— 26. 2 Kor. IV. 17. 18.), und neuen Muth ſchafft, im Kampfe auszuharren.
N III. Das Eigengimtih der Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel.
30.
Die Moral Chriſti iſt I. einzig in ihren A nwei⸗ ſungen, II. einzig in ihren Verknuͤpfungen, III. ein⸗ zig in ihrer Angemeſſenheit fuͤr den ganzen Men⸗ ſchen, und r die Menſchheit, wie ſie iſt.
251.30 STONE Die Moral Chriſti und ſeiner Apoftel ift einzig in ihren Anweiſungen, denn fie weiſet den Menſchen nicht etwa an ein todtes Soll in unſerer Bruſt, ſondern 1) an den lebendigen Gott: den ſtellt ſie als das hoͤchſte Gut, den ſtellt fie als Geſetzgeber, als Muſter, als Zeuge, als Richter und Vergelter dar. 2) Sie wei⸗ ſet den Menſchen an keinen unzuguͤnglichen Gott, ſondern an Gott, in Chriſtus geoffenbart, weiſet uns an den lebendigen Chriſtus, durch den uns Gottes Wille verkuͤn⸗ det, Gottes Huld zugefichert, Vergebung der Sünden, und mit ihr Kraft zur Vollendung alles Guten, und Troſt in allem Widrigen geſchenkt, das unendlich ferne Muſter der göttlichen Heiligkeit nahe gebracht, das Richter» und Vers geltungs⸗ Amt vollbracht, und alſo das Maß der Herrlich⸗ keit nach Maß der Heiligkeit ausgetheilt wird. 3) Sie weiſet den Menſchen nicht bloß an ſeinen freien (groͤßten⸗ theils noch gelaͤhmten, erſt frei werden ſollenden) Willen, ſondern zugleich an den lebendigen, allbelebenden Geiſt Gottes an, d. i. an die Gnade Gottes, die im Sinne des neuen Teſtamentes a) die ſchlummernde Frei⸗ heit des Menſchen weckt, b) die gelaͤhmte vollends entbindet,
3 61 FE
c) die erſchwachende kraͤftiget, d) die kraͤftige ſtuͤtzet zur Vollbringung des goͤttlichen Willens. 4) Sie weiſet der menſchlichen Thaͤtigkeit nicht bloß ein Tagwerk in der Zeit an, ſondern weiſet zugleich dem Gemuͤthe des Menſchen ſein Element in der Ewigkeit an, und lehrt ihn aus dem Geſichtspunkte der Ewigkeit handeln in der Zeit. 5) Sie weiſet den Menſchen nicht etwa bloß an eine kalte Achtung des Guten, ſondern an die Verehrung des Hei⸗ ligſten, — Gottes, und nicht an eine bloß kalte Ver⸗ ehrung Gottes, ſondern an eine Liebe des Urſchoͤnen, die zugleich die hoͤchſte Verehrung des Heiligen iſt.
II. So einzig ſie in ihren Anweiſungen, eben ſo ori⸗ ginell iſt ſie in ihren Verknuͤpfungen. Sie iſt nicht tro⸗ ckene Pflichtenlehre; fie trennt nicht a) die Pflicht von Gott, dem Verpflichtenden; ſie trennt nicht b) die Pflicht von der Unſterblichkeit, dem Elemente des Guten und der Zuverſicht des Guten; fie trennt nicht o) die Pflicht von der Liebe, der reinſten Pflichterfuͤllung; ſie trennt nicht d) die Pflicht von Chriſtus, dem Lehrer, dem Mu⸗ ſter, dem Beleber und Belohner der Pflichttreue; ſie trennt nicht e) die Pflicht von dem Geiſte Gottes, der das ſaure Soll in ein liebliches Gerne-Thun verwandelt; fie trennt nicht 1) die Pflicht von der Seligkeit, die von dem Geiſte der Liebe nie ferne ſeyn kann; ſie trennt nicht g) die Pflicht von der Belohnung, die der Pflichterfuͤllung theils hinterlegt iſt, theils mit ihr in Eins zuſammenfaͤllt, theils in geringen Portionen hier ſchon vorausgenommen und genoſſen wird.
Sie vereiniget alſo alle Tugendgeſetze, Tugendkraͤfte, Tugendmuſter, Tugendfolgen in Gott, dem hoͤchſten Ge⸗ ſetzgeber, dem hoͤchſten Kraftverleiher, dem hoͤchſten Urbild alles Guten, dem hoͤchſten Richter und W in Gott, dem hoͤchſten Gute.
III. Sowohl jene Anweifungen, als dieſe Ber knuͤpfungen geben der Moral Chriſti und feiner Apo⸗ ſtel den Charakter der Angemeſſenheit fuͤr den gan⸗ zen Menſchen, und zwar fuͤr die Menſchheit, die gebrech⸗ lich und krank iſt. In dieſer Hinſicht iſt fie nicht ſowohl
— 62 — N Diaͤtetik für Geſunde, ſondern vielmehr Therapeutik (Hei⸗ lungslehre) fuͤr Kranke. |
Die Angemeſſenheit der Moral fir die menſchliche Natur laßt ſich aber ſowohl an Inhalt, als Form der Lehre noch beſonders anſchaulich machen.
32.
Was den Inhalt der Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel insbeſondere betrifft, ſo iſt ſie in dieſer Hinſicht
1) für alle Menſchen aus allen Voͤlkern und fur alle Zeiten; nicht wie die juͤdiſche Verfaſ⸗ ſung auf ein gewiſſes Volk, und nicht, wie dieſe, als eine Interims⸗Verfaſſung, auf eine gewiſſe Zeit berechnet. „Alle Menſchen koͤnnen und ſollen zur Liebe Gottes und des Naͤchſten gebildet, in der Liebe Gottes und des Naͤch⸗ ſten geuͤbt, und durch dieſe Bildung zur Liebe, und durch dieſe Uebung in der Liebe vollendet, d. i. heilig und ſelig werden.“ Die Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel iſt
29 der Vernunft hoͤchſt gemäß, weil: fie ſowohl durch Anweiſung des Menſchen an Gott, an Chriſtus, an den Geiſt Gottes, als durch die Vereinigung der Haupttriebe nach Gut⸗ und Wohlſeyn, der For de⸗ rungen und Verheißungen, der Heiligkeit und Seligkeit, allen Beduͤrfniſſen der vernuͤnftigen Nas tur vollkommen entſpricht.
3) Sie ſchaffet neue Aufhellung unbekannter oder verkannter Tugenden, als: a) der Verſoͤhnlichkeit und Feindesliebe, die den Adel der Großmuth ausmacht; b) der Demuth, die die Wahrheit uͤber Alles liebt, nicht ſauer ſieht, noch den Kopf hängt; 0) des reinthaͤtigen Vertrauens auf eine allregierende Liebe, und eine beſſere Welt.
49) Sie weckt und foͤrdert das Intereſſe fuͤr den ver⸗ ſaͤumteſten Theil unſers Geſchlechtes, d. i. fuͤr die lei⸗ dende und fuͤr die unmündige Menſchheit. Sie floͤ⸗ Bet bei allem Andringen der innern Heiligkeit des ei n⸗ zelnen Menſchen
5) die hoͤchſte Achtung ein fuͤr die Heiligkeit der Ehe und fuͤr die Unverletzlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt, wodurch haͤusliches und buͤrgerliches Gutſeyn mit dem in⸗ nern individuellen Gutſeyn des Menſchen l wird.
e 63 Pe
Durch den Geift der Menſchlichkeit, der Alles, was Menſch heißt, mit Liebe umfaßt, wehret ſie
6) dem Egoismus des Einzelnen, — dem Erzeuger und dem Werkzeuge alles Boͤſen (der Selbſtſucht), dem ſelbſtſuͤchtigen Patriotismus, und dem ſelbſtſuͤchtigen Na⸗ tionalſtolze.
| u, 35.
Was die Form insbeſondere betrifft, fo empfiehit fich die Moral Chriſti und feiner Apoſtel auch in der Hin ſicht; ſie lehrten: 1) frei, unverhuͤllt, ohne den Weg der Verheimlichung, nach Art einiger Philoſophen, zu waͤh⸗ len; 2) zweckmaͤßig, nach den Beduͤrfniſſen ihrer Zeit⸗ genoſſen, ohne die Beduͤrfniſſe der Menſchheit, die in allen kommenden Zeitaltern und in allen Weltgegenden dieſelben ſind, außer Acht zu laſſen, indem ſie die Vor⸗ urtheile ihrer Zeit und ihres Ortes beſtritten, und zugleich eine lautere Gottesverehrung fuͤr alle Zeiten und Him⸗ melsſtriche verkuͤndeten; 3) einfach und verſtaͤndlich für den gemeinen Menſchenſinn, in Spruͤchen, Denkbildern, Gleichnißreden, Geſpraͤchen, Briefen, Reden; 4) nachdruckſam durch die Sprache des von Wahrheit durchdrungenen Gemuͤthes, durch die Macht des beleben⸗ den Beiſpieles, welches uͤberall vor⸗, mit⸗ und nachpre⸗ digte, und durch die hoͤhere Kraft, welche ſie durch wun⸗ dervolle Thaten anſchaulich machten. Sie waren keine Wegweiſer, die bloß, wie etwa die hölzernen Meilenzeiger auf Straßen mit ausgeſtreckten Armen den Weg weiſen, aber nicht mitgehen. Sie giengen voran, und nahmen uͤberall mit. 8 5
Von der Moral des Chriſten. | 34. »
Das Loos alles Reinen. N Die Moral Chriſti und feiner Apoſtel, die bei aller Wuͤrde des Inhaltes, und bei aller Tiefe des Sinnes ſo einfach, ſo faßlich und den Beduͤrfniſſen der Menſchheit fo angemeſſen war, blieb nicht lange ſo, wie ſie aus dem Geiſte Chriſti und ſeiner Apoſtel gekommen war, und konnte
wa. 5
nicht fo bleiben. Wie was durch Menſchenhaͤnde gegan⸗ gen iſt, Spuren aufweiſet, daß es durch Menſchenhaͤnde gegangen: ſo laͤßt Alles, was durch Menſchen⸗Gedanken und Gefuͤhle gegangen iſt, Spuren zuruͤck von dem Wege, den es genommen hat. So auch die Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel. Sie ward eine Sache der Anwendung und eine Sache der Spekulation: aus beiden Geſichts⸗ punkten muͤſſen wir ſie betrachten, wenn wir ihre vor⸗ nehmſten Schickſale kennen lernen wollen.
35.
Die Marre Chriſti, ee Angelegenheit‘ der Speku⸗ ation.
Denkenbe Koͤpfe jeder Zeit verwebten die Moral Chriſti mit der Philoſophie jeder Zeit; durch dieſe Verwebung konnte die Moral an Lauterkeit und Klarheit viel verlieren, aber an Geiſt und Kraft nicht ſonderlich viel gewinnen.
Da nach Friedrich Schlegel's neueſter Darſtellung 8 Plato und Ariſtoteles das ganze Gebiet des menſchlichen Denkens und Wiſſens gewiſſermaßen erſchoͤpft haben, in⸗ dem jener eine hoͤhere Quelle der Erkenntniß als Erfah⸗ rung und Selbſtdenken feſtſetzet, dieſer aber Selbſt⸗ denken und Erfahrung zur einzigen Quelle der Erkenntniß macht; da wir in Plato die Ver⸗ nunft in dem ruhigen Zuſtande der Anſchauung und anfchauenden, Bewunderung der hödften Vollkommenheit, in Ariſtoteles die Vernunft in dem Zuſt ande der Bewegung, der Erfahrung und des Selbſtdenkens ſehen; da der Erſtere der Gipfel der griechiſchen Kunſt, der Andere der Inbegriff des grie⸗ chiſchen Wiſſens iſt; da jeder ſpaͤtere Forſcher in ſeinem philoſophiſchen Gange entweder das Gebiet der platoni⸗ ſchen Philoſophie beruͤhren, oder den Weg der ariſtoteli⸗ ſchen einſchlagen mußte, und ſofort beide noch dieſe Stunde den Umfang des menſchlichen Geiſtes bezeichnen: ſo iſt es, von aller RAR abgeſehen, ſehr begreiflich, daß Plato ; und
) Geſchichte der alten und neuen Literatur, I. II. Th · Wien 1815.
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und Ariſtoteles ihre Herrſchaft wohl auch in den phi⸗ loſophiſchen Bearbeitern der chriſtlichen Moral mehr oder weniger werden geltend gemacht haben. Das beſtaͤtiget ſich denn auch in der Geſchichte. Anfangs ward die Mos ral Chriſti und feiner Apoſtel verwebt mit der alexandrini⸗ ſchen Philoſophie, die wohl ſelber ein Gewebe aus der platoniſchen und pythagoraͤiſchen zu ſeyn ſcheint.
In dieſer Verwebungslinie konnte es ihr nicht ſonder⸗ lich uͤbel gehen. Denn da Plato die Gottaͤhnlichkeit zum hoͤchſten Geſetze der Moral macht, und den Menfchen übers all zu den Ideen erhebt: ſo konnten wenigſtens die gei⸗ ſtigen Schwingen der Moral, die zum Fluge der Menſch⸗ heit unentbehrlich ſind, ihr nicht wohl ausgeriſſen werden. Sie konnte wenigſtens nie dahin erniedriget werden, auf dem Bauche mit den Thieren des Feldes zu kriechen, und den Staub der Erde zu freſſen. Clemens Alexandrinus und Auguſtinus ) ſeyen hier vor vielen Andern als Zeugen aufgefuͤhrt.
| Macher ward fie verwebt mit der ariſtoteliſchen Phi⸗ loſophie. In dieſem Zuſtande, der Jahrhunderte anhielt, ward fie Anfangs von ſcharf- und tiefſinnigen Männern durch alle Gaͤnge der Spekulation durchgefuͤhrt, doch ſo, daß Ariſtoteles uͤberall die Form, das Evangelium und die Kirchenlehre die Materie — wenigſtens das Richtmaß hergegeben haben.
Nach Anſelmus und Bernardus, deren der Er⸗ ſtere mehr den Verſtand, der Andere mehr das Gefühl vorherrſchen ließ, wollen hier Petrus Lombardus, der be⸗ ruͤhmte Magister sententiarum (geſtorben 1164), Al⸗ bertus Magnus (geb. 1193), Bonaventura, der ſeraphi⸗ ſche Lehrer (geb. 1221), Thomas v. Aquino, der engliſche Lehrer (geb. 1225), ſtatt Aller genannt ſeyn.
Nach und nach ward die chriſtliche Moral auf dieſem Wege ein Inbegriff von dornichten Fragen und dornich⸗ ten Antworten, welche die himmliſche Weisheitslehre nur
*) Wanker hat richtig bemerkt, daß Auguſtinus in feinem Enchi- ridio von Glauben, Hoffnung und Liebe den erſten Verſuch ei⸗ ner ſyſtematiſchen Sittenlehre gemacht habe.
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 5
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zu oft ungenießbar fuͤr das Gemuͤth, kraftarm fuͤr den Willen, manchmal auch verwirrend fuͤr Verſtand und Ge⸗ wiſſen machten, ſo daß man, in dieſer Vermiſchung des Goͤttlichen und Menſchlichen, kaum mehr das Eine oder das Andere, weder Chriſtus noch Ariſtoteles mehr heraus- finden konnte. Indeſſen fehlte es nicht an Maͤnnern, die den Scharf» und Tiefſinn des Thomas v. Aquino zu ers wecken oder nachzubilden im Stande waren, unter denen ſich France. Suarez (im XII. Lomo operum om- nium) und Leonardus Leſſius in feinem Werke de ju- stitia et jure ceterisque virtutibus cardinalibus beſonders namhaft machten.
Nachdem Artſtoteles feine lang genug behauptete Herr⸗ ſchaft über die Vernunft der Menſchen aufgeben, und an ſeine Nachfolger Gaſſendi, Carteſius, Locke, Leibnitz, Wolf und ihre Schuͤler abtreten mußte: da ward wohl auch die Sittenlehre Chriſti und ſeiner Apoſtel in die Gedan⸗ kenformen und Wortformeln von Gaſſendi, Carteſius, Locke, Leibnitz, Wolf und ihrer Juͤnger eingepaſſet. In der Schule des letztern trug fe die Uniform der ſtrengen Des monſtration.
In dieſem Zeitraume e im katholiſchen Deutſch⸗ land ein Mann, der uns ſelbſtdenken, und vom erſten Satze der Logik bis zum letzten der Theologie in ſtrenger Konſequenz ſelbſtdenken lehrte. Noch jetzt ſegnet mein Ge⸗ muͤth ſeine Aſche, denn ihm ſchreiben mit mir unzaͤhlige Maͤnner die fruͤhe Richtung zum Selbſtdenken und die ſtete Uebung im Selbſtdenken dankbar zu. Er iſt es auch, dem die katholiſche Moral beſonders viel zu verdanken hat; deßhalb ſteht ſein Name unter den deutſchen Verbeſſerern der Moraltheologie Nr. 38. von Rechtswegen oben an,
Bald ward die Welt der demonſtrirenden Methode muͤde, und es erhob ſich auf einige Jahre der Eklekticis⸗ mus in Baſedow, Feder, fand aber kaum Zeit, in die chriſtliche Moral uͤberzugehen.
Endlich, nachdem in Deutſchland und in unſern Ta⸗ gen das philoſophiſche Scepter faſt ausſchließend zuerſt an die kritiſche Schule, und bald darauf an die Wiſſenſchafts⸗ lehre aögehiben ward: ſo konnte es nicht an Juͤngern
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dieſer Schule fehlen, die in der Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel den reinen Rationalismus“) und den tranſcenden⸗ talen Idealismus, wie ſie ihre Lehren nannten, erblickten. Die Gaͤhrung nahm zu, indem jung und alt, in Kloͤſtern und auf Univerſitaͤten, ſuchten und fanden im Evange⸗ lium Chriſti — Kant und Fichte. Nun iſt es in der deut⸗ ſchen philoſophiſchen Welt ziemlich ſtille; Schleiermacher hat bereits in ſeiner Kritik der Moralſyſteme mit dem Tode der vorigen das Aufleben eines neuen Stenner woruͤber die N entſcheiden mag.
36. Mitunter gab es von jeher nuͤchterne Freunde der Wahrheit, die, wenn ſie auch fuͤr ſich der Spekulation huldigen mochten, doch im Vortrage an Andere das Baͤch⸗ lein der Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel rein zu bewah⸗ ren, und jeder Vermiſchung derſelben mit heterogenen Wald⸗ ſtroͤmen der Zeitſyſteme zu wehren ſuchten, und ſich durch kein Geſchrei in ihrer treuen Haltſamkeit an dem, was ſie als das Palladium der Menſchheit achteten, ſtoͤren ließen. Auch hat die Zeit ſelbſt ihrem Streben Gerechtigkeit widerfahren laſſen, indem, während daß dieſe Syſteme der Schule die Epochen von dem erſten Geraͤuſche ihres Entſtehens bis zur Vergoͤtterung, und von der Vergoͤtte⸗ rung bis zur Wegwerfung durchlaufen mußten, die Mo⸗ ral Chriſti und ſeiner Apoſtel als die Norm aller denken⸗ den Chriſten aller Zeiten in ihrer unbewoͤlkbaren Reinheit ſtehen blieb, und noch ſteht, und noch manche Zertruͤmme⸗ rung manches Syſtemes ſtehend uͤberleben wird.
Die gelehrte, d. i. in die Philoſophie der Zeit ver⸗ webte Moral war aber nicht die einzige Moral der Chri⸗ ſten; denn wie denkende Koͤpfe das Evangelium zum Ue⸗ bungsplatze ihrer Spekulationen machten, und ſofort in der ſyllogiſtiſchen, oder ſpaͤterhin ſeientifiſchen, und
5) So ift der erſte Theil der chriſtlichen Moral von Mutſchelle mehr nach der Kantiſchen, der zweite mehr nach der Fichte'ſchen Denkweiſe verfaſſet; welches denn das Sonderbare verliert, wenn man bedenkt, daß der zweite Theil nach dem Tode des Verfaſſers andern Händen anvertraut werden mußte.
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noch ſpaͤter in der ſtrengſyſtematiſchen Denkweiſe webten und weben: fo fehlte es nicht an praktiſchen Män- nern, die es ausſchließend oder wenigſtens vorzuͤglich mit der Anwendung zu thun haben wollten.
99. | Die Moral als Angelegenheit der Anwendung.
1) Die praktiſchen Koͤpfe unterſcheiden ſich aber wie⸗ der, nach Zweck und Mittel zum Zwecke, — in dreierlei Klaſſen: Einige, durchdrungen von der Goͤttlichkeit des Chriſtenthums, ſuchten die Kraft des Evangeliums aus der Umwandlung ihres Innerſten kennen zu lernen, und diefe, die den beiten Theil gewählt haben mochten, waren in ſich geſenket, forſchten nur nach den geheimſten Wir⸗ kungen der Wahrheit in ihrem Gemuͤthe, und ruhten nicht,
bis ſie aus der Umwandlung ihres Innerſten die ſchoͤpferi⸗ ſche Kraft, und aus der Verklaͤrung deſſelben das Licht der Wahrheit inne werden, und ſie in ſich ſelber anſchauen konnten.
Darum nannte man ſie Myſtiter, Menſchen, die ihre Angelegenheit in ihrem Kabinette, im Verborgenen unge⸗ ſehen treiben. Anfangs war dieſer Name ein Ehrenwort; nachher ward er zweideutig; unlaͤngſt haben ſie ihn zum unzweideutigen Schmaͤhnamen neu gepraͤgt; jetzt moͤchten ſie ihm von einer Seite wieder zu ſeiner Ehre verhelfen, obgleich von einer andern die Geſpenſterfurcht lieber mit⸗ laͤſtert, als unterſuchen mag. Wohl thun parteiloſe Ken⸗ ner der Geſchichte, daß ſie die Myſtik und Theoſophie unterſcheiden; jene iſt ihnen nur Gefuͤhl und Anſchauung des Goͤttlichen, das ſich im lautern Gemuͤth ſpiegelt; dieſe ſtrebt, die Gefühle und Anſchauungen des Goͤttlichen in Ideen, Begriffen, Syſtemen darzuſtellen; dieſe iſt die Phi⸗ loſophie der Myſtik, jene Innigkeit, Andacht. Von bei⸗ den unterſcheiden die Wortfuͤhrer den Myſticismus, wo⸗ durch ſie die Spiele der Einbildungskraft, und die Verirrungen des Verſtandes, durch die ſich unerfahrne, oft auch leidenſchaftliche Menſchen im Ringen nach dem Beſten ausgezeichnet haben, angedeutet wiſſen wollen.
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Andere ebenfalls praktiſche Köpfe ſuchten die chriftliche Moral in Predigten, Schriften klar darzuſtellen, und durch dieſe klaren Darſtellungen das Chriſtenvolk zu erleuchten und zu erbauen. Dieſe nennt man die populären Mora⸗ liſten, Homiletiker, Volkslehrer, Katecheten u. ſ. w.
Wieder Andere begnuͤgten ſich nicht damit, daß ſie bloß durch Belehrung und Beiſpiel auf das Volk wirkten; ſie errichteten eigene Inſtitute, worin ſie und ihre Zoͤglinge zum Guten gleichſam abgerichtet werden ſollten, und dieſe bekamen den Namen der Asketiker (Uebungs-Maͤnner).
Nun laͤßt es ſich im Grunde nicht widerſprechen, daß die aͤltern Vaͤter und Lehrer der chriſtlichen Kirche ſich bes ſonders im praktiſchen Felde große Verdienſte um Ver⸗ breitung und Befoͤrderung chriſtlicher Moral und Morali⸗ tät erworben haben; obgleich die Einfluͤſſe der Zeitphilo⸗ ſophie auf ihre Bildung und Lehrart nicht zu verkennen ſind. Es kommen Proben in ihren Schriften vor, daß ſie das, was man nachher Myſtik, Homiletik, Asketik nannte, in ihrem Gemuͤthe und in ihrem Leben zu vereinigen wuß⸗ ten, ohne ſich der Schwaͤrmerei, der Waſchhaftigkeit und der geiſtloſen Geſetzlichkeit, die nachher als Aushängefchilde der myſtiſchen, homiletiſchen und asketiſchen Bildungsarten ausgerufen wurden, ſchuldig zu machen.
2) Wenn wir von dem Namen weg, und nur auf die Sache ſehen, ſo iſt es außer Zweifel, daß die Moral Chriſti und feiner Apoſtel dieſer dreifachen Anwendung faͤhig iſt: a) der individuellen Anwendung zur ſittlichen Umbildung des Innern; b) der di⸗ daktiſchen, populaͤren Anwendung zur ſitt⸗ lichen Verbeſſerung Anderer in Lehrvortraͤgenz c) der Experimental⸗Anwendung in ſichtlichen Ue⸗ bungen, ſie moͤgen nun in Familien, oder in beſondern Inſtituten, oder von Jedem fuͤr die Beduͤrfniſſe ſeines Herzens vorgenommen werden.
5) Die Moral Chriſti, in ihrer Anwendung betrach⸗ tet, hat alfo:
I. ein geheimes, unſichtbares Tagewerk in Umbildung des Menſchen, welches Paulus zuerſt das eee
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Leben in Gott nannte. (Kol. III. 3. Ihr ſeyd geſtorben, und euer Leben iſt mit Chriſtus in Gott verborgen.) Die⸗ ſes geheime Tagewerk, die Umſchaffung des Menſchen zum heiligen Sinn und Leben iſt der hoͤchſte Zweck unſers Da⸗ ſeyns, eine heilige Sache, die von vielen Unkennern, de⸗ nen das Wort Myſtik verhaßt iſt, ſammt dem Worte (welches zwar an ſich unſchuldig iſt, aber deſſen Ver⸗ luſt kein Schade fuͤr das Menſchengeſchlecht ſeyn wuͤrde, denn an Worten haben wir keinen Mangel) weggewor⸗ fen wird. Der Weiſe giebt das entheiligte Wort, wenn man will, gern Preis, und rettet nur die Sache, und nur in ſofern ſie heilig iſt. Die Sache ſelbſt heißt mit Grunde die heilige Sache, denn die Umſchaffung der Geſinnung und Lebensweiſe des Menſchen nach dem Ideale der Hei⸗ ligkeit kann nichts anders als eine heilige Sache ſeyn, welche die Beſtimmung eines jeden menſchlichen Daſeyns ausmacht, und als ſolche Reſpekt nicht zu erbetteln hat, ſondern gebieten und abnoͤthigen kann. Wer immer in ſeinem Innerſten mit ſich Eins, die Medulla ani- mae, und einige ausgeſuchte Predigten von Taulerus, oder die Oeuvres spirituelles von Fenelon im Original oder in der Ueberſetzung von Claudius geleſen hat, wird nicht mit verdammen wollen, was er aus naͤ⸗ herm Genuſſe kennt, und in diefen Schriften ein Salz finden, das ihn vor der Verweſung bewahrt, die aus ſo vielen Schriften ohne Geiſt und Leben ausgeht.
* Einige wollen der Myſtik noch Ehre erzeigen, indem ſie dieſelbe der Sophiſtik entgegen, und die Philoſophie in Mitte zwiſchen - Sophiſtik und Myſtik ſetzen. Wenn ſie damit nichts anders ſa⸗ gen wollen, als daß das philoſophiſche Erkennen das Gefühl des Göttlichen mit der Myſtik. und den ausgebildeten Begriff mit der Spekulation, fo wie die Kunſt der Darſtellun 9 mit der Dialektik gemein habe, und alſo Gefühl, Begriff und Darſtellung in ſich vereinige, ſo läßt ſich im Grunde nichts dagegen einwenden. Wenn man aber damit zu verftehen geben wollte, als wenn die Myſtik nothwendig fo begriffſchen ſeyn müßte, als die Sophiſtik wahrheitsleer iſt: ſo würde der Weiſe erröthen, feinen Freund, das Gefühl des Göttlichen, in feiner Trennung von Philoſophie und in ſeiner Gleichſtel⸗
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tung mit der Sophiſtik, an der ſolecteſten 27 fainpfächten Stelle ſehen zu müſſen.
Die Moral Chriſti und fälhee Apoſtel hat II. ein oͤffentliches, populäres Lehrfach, und dieß iſt ein wuͤrdiger Gegenſtand fuͤr die Bildner der Jugend und des Volkes, beſonders in den Verſammlungen der Chri⸗ ſten, kann ſich aber nur in dem Verhaͤltniſſe der Vollkommen⸗ heit nähern, in welchem es ſich den Geiſt der Lehre Chriſti nach Inhalt und Form zur Regel macht, und darf ſich ſchon gar nicht von der Faßlichkeit derſelben entfernen, wenn es ſeinen Zweck, die Erziehung chriſtlicher Gemeinden, erreichen ſoll. Dieſes Lehrfach hat auch klaſſiſche Muſter, beſonders an den griechiſchen Kirchenvaͤtern aufzuweiſen. Das ſchoͤne Kleeblatt aus dem Garten des chriſtlichen Griechenlandes ſteht hier oben an: Chryſoſtomus, Baſilius, Gregorius von Nazianz. Die Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel hat III. ein Uebungsfach, ein Experimental⸗ Kol⸗ legium ſittlicher Art in Familien, Schulen, eigenen In⸗ ſtituten, Seminarien, und wohl auch in dem verſchwiege⸗ nen Kreiſe eines jeden guten Individuums. Bei dieſen Uebungen kommt es darauf an, daß der lebendige Geiſt nicht von dem Buchſtaben getoͤdtet werde, ſondern daß der lebendige Geiſt den Buchſtaben belebe. Gerſon's, des großen Kanzlers der Univerſi tat zu ö Paris, Schriften de meditiatione cordis, de spirituali - vita animae, de purificatione sensuum internorum, de directione seu rectitudine cordis, die Nachfolgung des Thomas von Kempis,“) der Streit des Geiſtes von Scup uli, die Briefe des heiligen Salef ius, und auch ſeine uͤbrigen Schriften ꝛc. gehoͤren neben vielen andern zum geiſtreichſten Nachlaſſe der Vorzeit in dem Gebiete der Asketik, und gehoͤren deßhalb dazu, weil ſie den Geiſt des innern Lebens in den Buchſtaben von den Uebungen der Gottſeligkeit eingefuͤhrt haben. Franz Petrarca vor⸗ zuͤglich in ſeinen Schriften de contemtu mundi, de J jetzt aus überwiegenden Gründen dem Benediktiner⸗Abt Joh. Ge rſen von Vercelli, aus dem 1ꝛ8ten Jahrtzundert, vindicirt. 8 Denkſchrift ie. Sulzbach 1832.) | {
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Vila solitaria, de vera Sapientia, de remediis utriusque Fortunae, und Erasmus ganz beſonders in feinem Enchiridion militis christiani eto. haben bewieſen, daß der Geiſt der wahren Asketik mit klaſſiſcher Bildung vereinbar ſey.
88. Die Moral der Chriſten ſpaͤterer Zeiten.
Die Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel bekam nach ver⸗ ſchiedenen Schickſalen endlich auch den beſtimmten Beruf, den kuͤnftigen Seelenſorger zur Empfangung der heiligen Weihen vorzubereiten, und zur Seelenſorge vorzubilden.
Da entſtand eine ſehr ungleichartige Sammlung a) von Glaubenslehren, b) von kanoniſchen Rechten, c) von mo⸗
raliſchen Grundlehren, d) von Kirchengeboten, e) von Ges
wiſſensfaͤllen (Kaſuiſtik), ) von Metaphyſik, k, die in Glau⸗ benslehren, in das kanoniſche Recht, in moraliſche Grund⸗ lehren, in Kirchengebote, in die Kaſuiſtik verwebt war, und vorzuͤglich g) von Polemik, die den Fuͤhrer des Vol⸗ kes zum Kampfe fuͤr die Reinheit des Glaubens tuͤchtig
machen ſollte.
Dieſe aus ſieben verſchiedenen Elementen ebe 5 geſetzte kleine Ideen⸗ und Gedanken⸗Welt heißt:
Summa Theologiae Moralis Moraltheologie.) | ige
e unſrer heutigen Moral⸗Lehrer ſuchen 1 den Urf prung der Moraltheologie in der Moral Chriſti und ſeiner Apoſtel auf; 2) erforſchen hernach ihren Gang in den Schriften der Vaͤter; 3) unterſuchen ihre Schickſale . den Haͤnden der „Scholaftifer ; 4) ruͤhmen ihr beſſe⸗
res Loos in den Tagen der Wiederherſtellung der Wiſ⸗ ſenſchaften bis auf unfere, Zeiten; 5) finden natuͤrlich ihr beſtes Loos in unſern Tagen, und ſtellen den Inhalt ihrer Forſchungen in einer Literärgeſchichte der Moraltheologie zuſammen, die im Urtheile wohl nicht nuͤchterner und unparteiiſcher ſeyn kann, als ihre Verfaſſer.
Fuͤr eſer, eb, ich, en im Auge habe, ſetze ich aach dieß 12 ö n
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In unſerer Kirche in Deutſchland, und in unſern Ta- gen haben ſich neben Gerbert, Amort, ) Woalbuin, Wurzer, 3) Schanza,*) Lauber, 7) Schwarz huber ) und mehreren Andern vorzuͤgliche Verdienſte um die Moral⸗ theologie geſammelt: Benedikt Statler, ) Maurus Schenkl,s) Ferdinand Wanker, ?) Herkulan Oberrauch, 9) Sebaſtian Mutſchelle, ) Joſeph Geißhuͤtner, 2) Karl Reyberger.“ 30
Was die nichtkatholiſchen Schriftſteller von der Zeit der Reformation an in der Moral geleiſtet haben, hat Dr. Franz Volkmar Reinhard in ſeinem Syſtem der chriſtlichen Moral, I. Band, ausfuͤhrlich genug angezeigt. Was ſeine ganze Geſchichte der Moral betrifft, ſo laͤßt es ſich nicht verkennen, daß den m- en Werfen das Geſpenſt
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1) Pfincipia theologiae Moralis. . Mon. 8. Blasii, a
2) Theologia Moralis inter ene et laxitatem media. II. Tom. Aug. Vind. 1758.
3) Specimen theologiae, Moralis ‚christianae ee ‚neroa- matica. Ingolstadii 4775. an.
4) De theologiae Morali Positiones locis S. Seip ei tra- 8 ditiones illustratae II. Tom. Brunae 1780. .
5) Kurze Anleitung zur chriſtlichen ene ne oder Moral⸗ Theo- logie. V. Bände. Wien 47868.
6) Vollſtändige chriſtliche Sittenlehre aus Vernunft und Offen⸗ barung. Salzburg 1797.
7) Ethica christiana universalis Edit. II. 1793. Aug. Vind. sumpt. Riegeri.— Ethica christiana communis VI Tom. s volle ſtändige chriſtl. Sittenlebre für den geſammten Haus. und Fa⸗
milienſtand. 2 Bände. i
8) Ethica christiana universalis, communis et pärtfenlarie III. Tom. Ingolstadii typis Attenkofer, editio III. 1803. 5
9) Chriſtliche Sittenlehre. 2 Thle. ate Ausg. "oiltai; J. E. v. Seidel'ſche Buchhandlung, 1830.
10) Theologia moralis Tom. VIII. Bambergae eNoriubergs 1798. 11) Moraltheologie. München 1801.
12) Theologiſche Moral in einer wiſenſhaftucen Darteung. 3 Thle. Linz bei Feichtinger.
13) Institutiones Ethicae chillen seu ee N usibus academicis accommodatae tomuli tres. Viennae apud Beck edit. see. |
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der ſogenannten Mönchs⸗Moral, und wohl auch die Un- kunde deſſen, was dieſſeits des Baches 5 2 ein wenig hingehalten haben mochten. g
1 IV.
Syſte me der Moral.“ decke eine gebaute Darſtellung aller, ) dann eine Verglei⸗ 33! el des weiten Systems mit dem grketzichen⸗ A Hi 4% 309. 11 91% Jede Wiſenſchaſt wird Bade zu ene phüboſo⸗ phiſchen, daß in ihr das Weſentliche vom Zufaͤlligen, das Bleibende vom Wandelbaren unterſchieden, und das letz⸗ tere durch das erſtere beſtimmt wird.
2) Das Weſentliche und Bleibende in der Moral, als Wiſſenſchaft vom Guten und Boͤſen im Menſchen, iſt das g Gute an ſich oder die Idee des Guten, weil alle gute Handlungen nur durch die Theilnahme an dieſer gut wer⸗ den; und alle boͤſe Handlungen als ſolche nur Abwei⸗ chungen von ihr ſind, ſomit nur an ihr als einem taug⸗ lichen Maßſtabe erkannt werden.
3) Die Idee des Guten liegt auch allen Moralſyſte⸗ men, die in der Geſchichte vorkommen, zu Grunde als Prinzip und Baſis ihres geſammten Gehaltes, wenn gleich
die von dieſer Idee gebildeten Begriffe, und die daraus hervorgehenden Ausdruͤcke unter ſich verſchieden und ein⸗ ander oft entgegengeſetzt ſcheinen.
Br: Wer ſcharfſichtig genug auf das unter dieſen vers ſchiedenen Begriffen und Ausdruͤcken verborgene Weſen eindraͤnge, und den unwandelbaren Geiſt von den wandel⸗ baren Begriffen und Ausdruͤcken zu unterſcheiden verſtaͤnde, dem koͤnnte die Bemerkung nicht entgehen, daß alle Moral⸗ lehrer mit oder ohne Bewußtſeyn vorausgeſetzt haben, daß
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das Gute an ſich in der Uebereinſtimmung mit der menſch⸗
lichen Natur (Naturangemeſſenheit, in consensu cum natura humana) beſtehe. Einige der Anſehnlichern
aus ihnen haben mit dieſem Ausdrucke das . der
Moral auch wirklich bezeichnet.
Nach ſchriftlichen Mittheilungen des Profeſſors der Philoſopbie, Hrn. Joſeph Widmer in Luzern.
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5) Bei dieſer Vorausſetzung tate und komnit Alles darauf an, was unter Natur des Menſchen verſtanden werde. Da nun aber der Menſch als Mikrokosmos ver⸗ ſchiedene Seiten zur Betrachtung darbietet, und da dem zufolge einſeitige und entgegengeſetzte Begriffe von der Natur des Menſchen gebildet werden koͤnnen: ſo iſt leicht einzuſehen, wie die Eine unwandelbare Idee des Guten verſchiedene Beſtimmungen erhalten haben werde. |
6) Der Menſch ward entweder mehr nach feiner le i b⸗ lichen, oder mehr nach ſeiner ſeeliſchen, oder mehr nach feiner geiſtigen ?) Seite aufgefaßt und ale und nach Verſchiedenheit ſolcher Auffaſſung und Begriffe die Naturangemeſſenheit deſſelben, und ſomit Gutes und Boͤſes anders und wieder anders beſtimm.
2) Der leiblichen Natur des Menſchen iſt änfenierfen das Wohlſeyn, der pſychiſchen die Tugend, der geiſtigen die Einſtimmung mit dem Hoͤchſten, kuͤrzer — die Gottaͤhn⸗ lichkeit. Daher die drei Hauptſyſteme in der Geſchichte der Moral: das Syſtem der Gluͤckſeligkeit, das Sy⸗ ſtem der Tugend, das Syſtem der Gottaͤhnlichkeit.
8) Das Syſtem der Gluͤckſeligkeit faßt entweder den Inbegriff des einzelnen Wohlſeyns, oder das Wohlſeyn an ſich in's Auge. Im erſten Falle beſtimmt er das Gute als hoͤchſtmoͤgliche Luft in Extenſion, Intenſion und Pros tenſion (Eudaͤmonismus) zun) im zweiten Falle beſtimmt es das Gute an ſich als gaͤnzliche Schmerzloſtgkeit und See⸗ lenruhe, die ſich gruͤndet auf die Kuͤrze des heftigen und auf die Ertraͤglichkeit des laͤnger anhaltenden Schmerzens.
9) Das Syſtem der Tugend geht entweder vorzuͤglich auf das Gute, als Beſchaffenheit der menſchlichen Seele, oder mehr auf das Gefuͤhl und den Genuß dieſes Guten. Die erſte Richtung zeigt ſich bei Antiſthenes und den Stoi⸗ W Be das e an ſi ch in der Anabhängigeent von der
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) Seele und Geiſt moͤgen zum Behufe der Einſicht in den Unterſchied der Syſteme hier fo unterſchieden werden, daß Seele mehr die Macht, über das Sinnliche zu herrſchen; ‚Sein mehr die Macht, das Göttliche zu erfaſſen, bezeichne.
) Nach Schulze, moralischer Senſualisms :
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Begierde und in der Selbſtſtaͤndigkeit ſetzten, die zweite bei den Moralſyſtemen des ſogenannten ſittlichen Gefuͤhles (in der engliſchen Schule des Shaftesbury).
10) Das Syſtem der Gottaͤhnlichkeit ſchraͤnkt feine Aufgabe, entweder bloß auf das gegenwärtige Leben ein, oder erweitert dieſelbe, wie ſich's gebuͤhrt, in die Ewigkeit. Im erſten Falle entſtehen die Moralſyſteme des ſogenann⸗ ten praktiſchen Optimismus, bei welchem alle empfehlens⸗ werthe Eigenſchaften des Menſchen in verſchiedenen Be⸗ ziehungen nur fuͤr dieſes Leben berechnet werden, und deſ— ſen Hauptvorſchrift iſt: Sey brauchbar zu moͤg⸗ lichſt Vielem, genuͤgſam mit moͤglichſt Weni⸗ gem, vertragſam mit Allem; im zweiten Sal ent⸗ ſtehen die Syſteme der Perfektibilitaͤt.
11) Die Syſteme der Perfektibilitaͤt machen ent⸗ weder die Gluͤckſeligkeit des Menſchen dieſſeits und jenſeits zum hoͤchſten Zwecke, und erkennen alles Uebrige als Mit⸗ tel zu dieſem Zwecke (Syſtem der Gluͤckſeligkeits⸗ lehre in der neuern Zeit), oder die Herrſchaft der Tu⸗ gend zum Zwecke, und alles Andere zur Bedingung und zum Mittel dieſes Zweckes (Syſtem der ſtren gen Zus gendlehre der neuern Zeit), oder die Einheit beider zum Zwecke (Syſtem des moraliſchen Synkretismus).
12) Dieſe Einheit von Tugend und Seligkeit iſt ent⸗ weder eine bloß erkuͤnſtelte, wie im Kantianismus, oder eine Einheit in ſich, die ſich in der Seligkeit nicht weni⸗ ger, als in der Tugend offenbart, wie denn einige neuere gelungene oder mißlungene Moralſyſteme den Verſuch ge⸗ macht haben, jene Offenbarung darzuſtellen. Bi
13) Jedes dieſer Syſteme muß in allen feinen Theis len, von ſeinem Prinzip aus, erkannt, beurtheilt, und dar⸗ nach ſeine Vollkommenheit und Unvollkommenheit beſtimmt werden. Als dieß Syſtem und kein anders, muß es mit der vollſtaͤndigen Idee der Menſchheit verglichen, und in dieſem Vergleiche ſeine Einſeitigkeit, ſeine groͤßere oder ge⸗ ringere Vollſtaͤndigkeit erkannt werden. Hieruͤber hat der | Verfaſſer des Verſuches einer Kritik der Sittenlehre ſcharf⸗ ſinnige und originelle Anſichten gegeben; es genuͤgt aber dem chriſtlichen Moral⸗Lehrer, eine allgemeine Ueberſicht
PIE .
ber philoſophiſchen Moralſyſteme gegeben, und auf ben Kritiker derſelben hingewieſen zu haben. 5
14) Die chriſtliche Moral geht, wie die philoſophiſche, von der Idee des Guten aus, und beſtimmt alles in ihr Vorkommende durch dieſelbe, wodurch ſie zur Wiſſenſchaft wird. Auch iſt ihr das Gute an ſich die Naturang e⸗ meffenheit, indem das Naturwidrige von der chriſt⸗ lichen Moral nicht weniger, als von der philoſophiſchen als boͤſe verworfen wird.
15) In der Beſtimmung der Naturangemeſſenheit aber geht die philoſophiſche Moral, wie dieſe in den herrſchend geweſenen und herrſchenden Syſtemen vor uns liegt,“) von der chriſtlichen ab, indem jene die wirkliche Na⸗ tur des jetzigen Menſchen, dieſe aber die urſpruͤng⸗ liche Natur des Menſchen, wie dieſe von Gott kam und in Gott lebet, im Auge hat.
16) Der chriſtliche Morallehrer ſagt daher: Gut iſt nur das, was der urſpruͤnglichen, durch den Suͤndenfall noch nicht zerruͤtteten Natur angemeſſen iſt, boͤſe aber, was dieſer entgegen iſt, und entgegen wirkt; waͤhrend der bloß philoſophiſche Morallehrer gewohnlich von dieſer Einſchraͤnkung nichts wiſſen mag, und alſo nichts hoͤren laſſen kann.
17) Der chriſtliche Morallehrer findet die Wahre und eigentliche Natur des Menſchen weder bei irgend einem einzelnen guten Menſchen, noch in der ganzen Menſchheit, ſondern allein in dem Gottmenſchen, in Chriſtus, und wie daher Naturangemeſſenheit Prinzip der bloßen ſogenann⸗ ten philoſophiſchen, fo iſt Chriſtusaͤhnlichkeit das Prinzip der chriſtlichen Moral.
18) Demnach wird die chriſtliche Moral 1) in Chri⸗ ſtus das Urbild der Menſchheit, als die Idee, als das Gute an ſich, alſo 2) in dem Abſtande der wirklichen Menſchheit von Chriſtus, dem Urbilde, das Boͤſe, alſo 3) in dem Prozeſſe der Umwandlung der wirklichen Menſch⸗ heit nach dem Urbilde — das Weſen der Buße, 0
) Denn die echtphiloſophiſche Moral wird mit der echtchriſtlichen ß in keinem Zwiſte ſtehen wollen.
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4) in der Darſtellung jenes erneuerten Urbildes Tugend und Weisheit, das Decorum und die Seligkeit — das hoͤchſte Gut der Menſchheit, finden und dar⸗ legen. f
19) Die ſogenannte philoſophiſche Moral (denn wie geſagt, die wahre wird ſich nicht unterſcheiden wollen) unterſcheidet fi ſich von der chriſtlichen 1) in dem Urſprunge, weil jene von dem Menſchen, dieſe von Gott, von Chri⸗ ſtus, dem Gottmenſchen ausgeht; 2) in ihrem Mittel, weil jene den Menſchen an ihn ſelber, dieſe an Gott — in Chriſtus, an den Geiſt Chriſti anweiſet; 3) in ihrem Endzwecke, weil jene auf Verherrlichung der wirklichen Menſchennatur, dieſe auf die Herſtellung der urſpruͤnglichen Menſchennatur und auf die Verherrlichung Gottes in und durch die hergeſtellte urſpruͤngliche Menſchennatur ausgeht.
20) Sollte man das Syſtem der chriſtlichen Moral, in ſofern es mit der Idee der Chriſtusaͤhnlichkeit gegeben iſt, mit den Syſtemen der Griechen insbeſondere und aus⸗ ſchließend vergleichen wollen, indem ja die Roͤmer auch hierin den Griechen nur nachgegangen, und auch die Sy⸗ ſteme der ſpaͤtern Zeit mehr oder weniger doch nur Nach⸗ bildung der griechiſchen zu ſeyn ſcheinen: ſo wuͤrde uns Chriſtus als der Centralpunkt alles Wahren, das in den
Syſtemen der Vorzeit niedergelegt ward, erſcheinen muͤſſen; denn in jedem Syſteme war nicht der Mann wie ſein Syſtem, ſondern ſein Syſtem wie der Mann, und der Mann wie ſein gebietender, feſter Blick. So ward denn auch das Syſtem des Mannes wie ſein Blick.
Sah der Mann mit feſtem Blicke auf das unerfätts liche Streben ſeiner Natur nach Wohlſeyn, ſo ward ihm die Moral eine Wegweiſerin zum Wohlſeyn, und ihr Ges ſetz ſprach: Anbahne, mäßige, erhoͤhe, feſtige das MWohlfeyn! So lehrten Ariſtipp und Epikur; nur mit dem Unterſchiede, daß jener mehr auf den Genuß der Sinne, dieſer mehr auf Seelenruhe und Schmerzloſigkeit ſah. Der erſte kenut keine Weisheit, als die Lebensklug⸗
heit, und keine Lebensklugheit, als die ſich zum Herrn der Umſtaͤnde zu machen weiß, um ihnen einen Beitrag zum
di Lebensgenuſſ abzuzwingen. Er traͤgt zwar dem Verſtande
die Herrſchaft Aber die Begierde auf, aber nur der Be⸗ gierde wegen: ſein Schuͤler ſollte ſich weder graͤmen noch ſchaͤmen, ſondern Alles nuͤtzen, um ſich den Lebensgenuß nicht zu verderben. Der zweite zieht dem Sinnengenuſſe und der im Gewande des Verſtandes erſcheinenden Fri⸗ volitaͤt des dienen die ee und Wee, fe gkeit vor.
Sah der Mann mit feſtem Blicke a die kinfache Natur, in ſofern ſie durch Kulturanſtalten, die mit der bürgerlichen Geſellſchaft gegeben werden, je laͤnger je mehr verdrängt wird: fo ward ihm die Moral Ruͤckweiſung zur einfachen Natur, und ihr Geſetz ſprach: Sey ge⸗ nuͤgſam mit dem Wenigen, was die einfache Natur fordert; ſchreite nicht vorwärts zur vielfachen Kunſt, die nur die Beduͤrfniſſe und mit ihnen Elend und Thorheit vermehrt, fon
dern ruͤckwaͤrts zur einfachen Natur, die die f
Beduͤrfniſſe und mit ihnen Elend und Thor⸗ heit vermindert! So lehrte Antiſthenes. Was die Cyniſche Schule auf dieſem Wege geworden iſt, wiſſen wir.
Sah der Mann mit feſtem Blicke von der Natur weg und zu dem Hoͤhern in ihm, zum Selbſtbeſtimmungsver⸗ moͤgen: fo ward ihm, die Moral eine Wegweiſerin zur Unabhängigkeit, und ihr Geſetz ſprach: Sey frei, ſey Koͤnig in dir, ſey weiſe. So lehrte Zeno und die ganze Stoa mit ihm. Zeno ſcheint doch nur den Cynis⸗ mus aus der Tonne des Diogenes auf die Katheder ge⸗ zogen zu haben: das hoͤchſte Gut durch die Freiheit des Geiſtes zu erringen, war die hoͤchſte Aufgabe fuͤr den Cy⸗ niker, wie fuͤr den Stoiker. Was jener durch Ruͤckkehr von den Beduͤrfniſſen der Kultur zur einfachen Natur, das ſucht dieſer durch das Gefuͤhl der Selbſtſtaͤndigkeit und Unabhaͤngigkeit zu erringen. Zeno's Weiſer ſollte nicht Spaß machen, wie Diogenes, ſondern thaͤtig ſeyn. Mit Zeno hielt es der ernſte Roͤmer (denn die lockere Mehr⸗ zahl fand in Ariſtipp ihr Muſter), und unter den ernſtern Römern Seneca, Marc Aurel Antonin, und Epiktet, deren der erſte Erzieher eines Kaiſers, der zweite Kaiſer,
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der dritte Sklav, und in ſich Selſhereſcher war, mehr als Kaiſer und Koͤnige.
Sah der Mann mit feſtem Blicke von der Natur und von der Menſchheit, von dem Wohlſeyn und von der Selbſtbeſtimmung weg, und zur Urquelle aller Freude und Selbſtbeſtimmung auf: ſo ward ihm die Moral eine Weg⸗ weiſerin zu Gott, und ihr Geſetz ſprach: Sey Eines mit Gott, und um Eines mit Gott ſeyn zu koͤnnen, ſey vorerſt gottaͤhnlich! Gott iſt ihm das Wahre ſelbſt, und ſeine Moral ruht auf der Idee der hoͤchſten Wahrheit: Menſch! lebe im Geiſte der Einen Wahrheit Gottes: Gott iſt ihm das Schoͤne ſelbſt, und Religion iſt feine Moral: Menſch! ringe darnach, dem Urſchoͤnen aͤhnlich zu werden.
Deutlicher:
| All dein Erkennen ſey Eines mit dem goͤtt— lichen Erkennen durch die Wahrheit; all dein Seyn ſey Eines mit dem goͤttlichen Seyn durch die Liebez all dein Handeln ſey Eines mit dem goͤttlichen Handeln durch Nachahmung des Urſchoͤnen.
Oder, wie es der neueſte Ueberſetzer Plato's ausge⸗ druͤckt: f
Wie alles Seyende ein Abbild und eine Darſtellung des goͤttlichen Weſens iſt: ſo ſoll der Menſch zuerſt und innerlich ſich ſelbſt, dann aber äußerlich Alles, was von der Welt ſei⸗ ner Gewalt uͤbergeben iſt, den Ideen gemaͤß ge⸗ ſtalten, und fo überall das Sittliche darſtellen.
So lehrte Plato.
Sah der Mann, unfaͤhi 17 ſich mit Plato in dem Fluge zu halten, herab auf die buͤrgerliche Geſellſchaft, in ſofern fie die rohe Natur durch Kunſt bildet, und durch Staats⸗ weisheit dem Rechtverhalten und der Tugend des Men— ſchen Anlaß, Stoff, Spielraum, Pflicht und Antrieb ver⸗ ſchaffet: fo ward ihm die Moral Anweiſung zur buͤrger⸗ lichen, politiſchen Rechtſchaffenheit, die zwiſchen dem Zu⸗ viel und Zuwenig die koͤnigliche Mitte behauptet, und ſich links und rechts vor Ausgleitung fi . und ihr Geſetz
| | ſprach:
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ſprach: Bleib feſt auf dem Mittelwege zwiſchen
beiden Extremen des Zuviel und des Zuwenig, des Uebermaßes und des Defektes in Hand⸗ lung und Genuß. Was Ariſtipp in der Herrſchaft des Verſtandes uͤber Begierde um der Begierde willen, was Epikur in der Seelenruhe und Schmerzloſigkeit, was Antiſthenes in der Ruͤckkehr zur Einfachheit der Natur, was Zeno in der Selbſtſtaͤndigkeit, was Plato in der
Gottäaͤhnlichkeit, das fand Ariſtoteles in der buͤrgerlichen
Geſellſchaft. Die Politik war ihm Inbegriff aller prakti⸗ ſchen Philoſophie, denn auch in der Ethik iſt der Staats⸗ kuͤnſtler fein Muſter, die Staatsweisheit ſeine Regel, und Gluͤckſeligkeit in einem wohlorganiſirten Staate, der nach ihm die Tugend oben anſetzt, ſein DE em Chriſtus erfhiem e e e In ihm concentrirte ſich die Weisheit aller Weiſen,
weil er die Fuͤlle und den goͤttlichen Geiſt der Weisheit
in ſich hatte. Er ſah ſtets nur auf Gott, den er ſeinen Vater nannte und nach der ſtrengſten Wahrheit nennen durfte, ſah ſtets nur auf das Goͤttliche, Ewige, und lehrte es uns durch die Fuͤlle ſeines goͤttlichen Geiſtes kennen, lieben, verehren, nachahmen, darſtellen, genie⸗ ßen. Denn 1) dadurch, daß der Juͤnger Chriſti den Geiſt Chriſti empfaͤngt und dem Geiſte Chriſti gehorcht, wird und iſt der Menſch wieder ein neugeſchaffenes Ebenbild Gottes (was Plato ahnen mochte); als neugeſchaffenes Bild Gottes iſt der Menſch 2) in Stil⸗ lung ſeiner zeitlichen Beduͤrfniſſe einfach, wie
die Natur in ihren Forderungen (was Antiſthenes wollte); als neugeſchaffenes Bild Gottes iſt er 3) frei in ſich — denn das Ewige treibt ihn und macht ihn unabhaͤngig von dem Zeitlichen (was Zeno wollte, nicht recht wiſſend, wie er es erreichen koͤnnte); als neu geſchaffenes Bild Got⸗ tes iſt er 4) faͤhig, nicht nur die Gemuͤthsruhe zu behaupten (was Epikur wollte), ſondern auch das Goͤttliche, Ewige zu genießen (wozu Epikur ſich nicht erſchwang); als neugeſchaffenes Bild Gottes iſt
er 5) kraft⸗ und muthvoll, im Aeußern, zunaͤchſt an
ſeinem Leibe, und dann in dem Kreiſe ſeiner Familie und J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 6
= = 82 u
des Staates, das Bild ſeines Innern darzuſtellen, und alſo mehr zu leiſten, als keine bürgerliche Tugend des edge vermag.
So gewinnt denn durch Chriſtus und in Chriſtus das Wahre, das in verſchiedenen Syſtemen zerſtreut iſt, Einigung, was einſeitig aufgegriffen war, Totali⸗ tät, und das Schwankende Grund und Boden; ſo wie durch ihn das Schiefe dem Geraden, das Irrige dem Wahren, das Gemeine dem Edlen Platz machen muß.
Iſt einmal das Goͤttliche das Licht der menſchlichen Vernunft, die Flamme des menſchlichen Willens, der Geiſt des menſchlichen Gemuͤthes, die Seele des menſchlichen Thuns und das Richtmaß des menſchlichen Genuſſes ge⸗ worden: dann iſt der Menſch Eines mit Gott — gut und frei, weiſe und ſelig.
JZur leichtern Ueberſicht der griechiſchen Moralſyſteme und zur
Einſicht in die Erhabenheit des chriſtlichen Syſtems mag nach⸗ ſtehende Tabel hefe,
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urcberſcht der Erhabenheit des chriſtichen Syſtems.
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Evangelium. Menſch! werde wieder Gottes Ebenbild durch den Geiſt des Erſtgebornen; denn dadurch biſt du .
Re | Gottes Sohn, mehr als Plato erſchaute;
*
Ein Freigeborner, ein Sohn des Lichtes, mehr als Zeno wußte; Selig in Gott, was kein Epikur ahnte;
Lüchtig, den Staat Gottes und die ewige sand
Ordnung der Dinge im menschlichen, zeitfihen ] was Fein Ariſtoleles dachte; Staate nachzubilden, N 5
2
Eins mit der Natur, wie fie aus Gottes Hand kam,
*
was kein Antiſthenes errang.
.
8 By eg dent 6h Grundkiß dieſer Moral. 40.
Mein Beruf if: Moral der 5 Moral des ‘ Ehriſtenthums, Moral für. die Religionslehrer, für die Seelenſorger in der katholiſchen Kirche zu lehren. Dieſer Beruf beſtimmt die Weiſe, wie ich Mo⸗ ral, wie ich chriſtliche Moral, wie ich chriſtliche Mo⸗ ral ‚für. katholiſche Religionslehrer, fuͤr katholiſche See⸗ lenſorger vortragen werde
41.
Grundeiß Biefee Moral, als Moral der Vernunft, a aus ihrem chen Geſichtspunkte und in Are Voll ſtaͤndigkeit betrachtet.
I. Daß Gott iſt und aus ſich, in fi ich und fuͤr ſich if, das iſt der Vernunft nicht nur das Allergewiffefte an ſich, ſondern die Gewißheit von dem Seyn Gottes iſt ihr nothwendig auch der letzte Grund jeder andern Gewißheit von jedem andern Seyn. | II. So gewiß es der Vernunft iſt, daß Gott iſt, und ai ſich, in ſich und für ſich iſt: ſo gewiß iſt ihr Gott das Urwahre, das Urgute, das Urſelige in Einem. III. Alle Offenbarungen Gottes ſind alſo Offenbarun⸗ gen des Urwahren am Wahren, des e am Guten, des Urſeligen am Seligen. IV. Gott iſt alſo in ſeinen Offenbarungen das Ur⸗ ſchoͤne, in ſeinem Weſen das Urwahre, Urgute, Urſelige. V. Dieß urſchoͤne iſt ein lauteres en m das Le⸗ ben ſelber. RR en e SE RE RR VI. Dieß Urſchoͤne iſt außer Raum und geit alſo das Ewige, das Unermeßliche. | VII. Gott iſt alſo das lautere, das ewige, das uner⸗ meßliche Leben. ä VIII. Obgleich Gott das lautere, ewige, ede e Leben iſt, ſo kann doch der Menſchengeiſt Gottes wahr⸗ nehmen, Gottes inne werden im dunklen Ahnen und im hellen Glauben, im tiefen Anbeten und im hohen Schauen,
Pe an
im heiligen Leben und im feligen Genießen .... vorzuͤg⸗ lich im vertrauten Umgange mit gottſeligen Menſchen, die als ausgeprägtere Gleichniſſe Gottes ihn ſelber darſtellen, gleichſam anſchaulich machen, und durch dieſe anſchauliche Darſtellung das Ahnen und Glauben, das Anbeten und Schauen, das fromme Leben und den ſeligen Genuß der Andacht beleben.
IX. Das Innewerden dieſes lauteren, ewigen, uner⸗ meßlichen Lebens (Gottes) kann ſich entweder im innerſten Bewußtſeyn des Menſchen verhuͤllt — concentriren, oder in Wiſſenſchaft, Kunſt ꝛc. enthuͤllt — expandiren.
X. Was von Gott enthuͤllet, und enthuͤllet — in Worte gebracht werden kann, iſt Inhalt der . 8⸗ Lehre.
XI. Wenn der Menſchengeiſt in ſterblicher Hülle (der Menſch, wie er jetzt iſt) ein ausgepraͤgtes Gleichniß, ein lebendiges Bild des lauteren, ewigen, unermeßlichen Lebens (Gottes) werden ſoll: ſo iſt es nicht genug, daß ihm das Göttliche, Ewige enthuͤllet werde; er muß es auch anfafs ſen, feſthalten, und in und außer ſich nachbilden lernen.
XII. Wie die Glaubenslehre das Goͤttliche, Ewige enthuͤllet, ſo wird es alſo auch eine Lehre geben koͤnnen, die uns anleitet, das Goͤttliche, Ewige anzufaſſen, feſtzu⸗ halten, und in und außer uns nachzubilden. N XIII. Was uns das Goͤttliche, Ewige anfaſſen, feſt⸗
halten, und in und außer uns (im innern und äußern Leben) nachbilden lehrt, iſt die Moral.
XIV. Wenn die Moral den Menſchen das Göttliche und Ewige im Menſchen nachbilden lehrt: fo lehrt fie nichts geringeres, als das Einesſeyn des Menſchen mit Gott. Denn nur in dem kann der Menſch wahres, wohl⸗ getroffenes Bild Gottes, Ebenbild Gottes ſeyn, worin er Eins iſt mit Gott.
KV. Wenn die Moral den Menſchen das Göttliche, Ewige außer ihm nachbilden lehrt, fo lehrt fie ihn nichts geringeres, als das innere Bild des Goͤttlichen und Ewi⸗ gen, das er in ſi ch traͤgt, weil es in ihm ſchon ein Seyn gewonnen hat, im Thun und Laſſen 1 anſchaubar zu machen.
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XVI. Die Moral hat alſo mit der Glaubenslehre einen Gegen ſtand: das Göttliche, das Ewige; dieſe enthuͤllet es in ſeiner Offenbarung, jene lehret es in in⸗ nern Nachbildungen dem Geiſtes⸗Auge und in aͤußern Nachbildungen dem Menſchen⸗- Auge anſchaubar machen.
XVII. Wenn die Menſchheit mit Gott Eins werden ſoll: ſo muß augenommen werden, entweder daß fie von ihm abgefallen, oder daß ſie noch nie Eins mit ihm ge⸗ weſen iſt. Im erſten Falle lehret die Moral Wieder⸗ Vereinigung mit dem Goͤttlichen, im zweiten Einigung.
XVIII. Vorausgeſetzt, daß die Menſchheit von Gott abgefallen waͤre: ſo haͤtte die Moral mit der Glaubens⸗ lehre nicht nur Einen Gegenſtand, ſondern auch Eine Grundlage, und Eine Tendenz. Eine Grund⸗ lage: den Abfall der Menſchheit von dem Goͤttlichen, oder das Verderben der Menſchheit; Eine Tendenz: das abgefallene Geſchlecht wieder mit ſeinem Urſprunge zu vereinigen.
XIX. Was die Ahnungen aller Weiſen vorausſetzen, was die Weltgeſchichte vermuthen laͤßt, was die Natur in ihren geheimſten Strebungen zu verrathen ſcheint, was juͤngſt auch ein philoſophiſches Syſtem als gewiſſe Wahr⸗ heit darlegte, iſt in den Urkunden des Chriſtenthums als eine Thatſache hinterlegt: Die Menſchheit i ſt von Gott abgefallen.
XX. Wenn alſo die Moral mit den Ahnungen der Weiſen, mit den Vermuthungen der Weltkunde, mit den geheimen Strebungen der Natur, mit dem Geiſte eines philoſophiſchen Syſtems, und mit den Urkunden des Chri⸗ ſtenthums harmoniren fol: fo muß ſie den großen Gegen⸗ ſtand, die Grundlage und die Tendenz der Glau⸗ benslehre ſich aneignen; den Gegenſtand: das Gött liche; die Grundlage: Abfall des Menſchlichen von dem Goͤttlichen; die Tendenz: Wiedervereinigung des Menſchlichen mit dem Goͤttlichen.
XXI. Wie die Moral den Gegenſtand, die Grund⸗ lage und die Tendenz mit der Glaubenslehre gemein hat, ſo hat ſie auch ihr eigenes Gebiet, dieß naͤmlich: Wie jene bloß das Goͤttliche in feinen Offenbarungen
— 88 —
enthuͤllet, fo labert dieſe das E Sa wache
bilden.
XXII. Nachbilden das Göttliche in und außer fih, — kann der Menſch nur in fofern, als er 1) das Verderben der Menſchheit nach ſeiner Wurzel und nach allen ſeinen Verzweigungen — in ſich ſelber anerkannt hat; in fofern er 2) aus dieſem Verderben heimgeholet und zum neuen Leben wirklich neugebildet iſt; in ſofern er 3) das heilige Geſetz der urſpruͤnglichen oder neugebildeten Menſchheit in ſeiner Lauterkeit und in ſeinem ganzen Umfange kennt und erfuͤllet. Denn kennt der Menſch das Grundverderben, das ſich entweder zur Tugend luͤget, oder wenigſtens zur Tugendanlage ſchmuͤcket, in ſich ſelber nicht: ſo wird er, der Taͤuſchung hingegeben, als wenn er das Verderben nicht in ſich haͤtte, deſſelben nie los zu werden ſtreben. Wird er nicht zum neuen Leben umgebildet, ſo kann er das Gute in ſeiner Lauterkeit und in ſeinem Umfange nie an die Stelle des Boͤſen ſetzen wollen, alſo auch nie fe
tzen. Kennt er endlich das heilige Geſetz der urſpruͤng⸗ lichen oder neugebildeten Menſchheit in ſeiner Lauterkeit und Vollſtaͤndigkeit nicht, ſo wird er es auch nicht erfuͤl⸗ len, und ohne Erfüllung des Geſetzes das Göttliche we⸗ der in ſich, noch außer ſich darſtellen. Gyr Ak
XXIII. Die Moral hat alſo die Aufgabe: Erſtens: das Verderben der Menſchheit in ſeiner Wur⸗ zel und in feinen Verzweigungen; zweitens: die Regeneration der Menſchheit ſowohl in ihrer Moͤglichkeit, als in ihrem Werden; drittens: das hei⸗ lige Geſetz der urſpruͤnglichen oder regenerirten Menſchheit in ſeinem ganzen Umfange und in ſeiner gan⸗ zen Lauterkeit darzulegen. Denn, ehe ſie den Lahmen in der Kunſt, zu gehen, unterweiſet, wird ſie ihn doch wohl von ſeiner Geiſteslahmheit uͤberzeugen, und zum Erwerbe ſeiner verlornen Kraft anleiten muͤſſen.
XXIV. Die Moral hat alſo drei weſentliche Haut ſtucke, deren das erſte den Getaͤuſchten zur Erkenntniß ſei⸗ nes Selbſtes, das zweite den Boͤſen zum Gutwerden (zur
Beſſerung ſeines Selbſtes), das dritte den Gebeſſerten, den Gutgewordenen zur ausführlichen Erkenutniß und treuen
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Eefätimg feines ganzen hen Gut elend; den Gu⸗ ten in ihm) fuͤhret. Di
„Die Moral für den Menſchen, wie er jetzt iſt, hat alſo drei Grundbegriffe, ohne deren Entwicklung ſie keine Moral 952 | den Menſchen, wie er jetzt iſt, werden kannn? 1. von dem Abfall von Gott, A II. von der Rückkehr zu Gott, nase Ä III. von dem Leben in Gott und dem Wandel. ver Gött (in der Sprache der lateiniſchen Schule peccatum, poeniten- tia, justitia), alſo drei Hauptſtücke, in denen jene Neon begriffe entwickelt werden.
** die Moral für den Menſchen, wie er jetzt ift, Hat alſo die drei großen Worte aller Lehrweisheit aller Zeiten von der Selbſt⸗ erkenntniß, von der Sinnesänderung, von der Vollendung des Guten, Nosce te ipsum, Emenda te ipsum, Perfice te Dean, aus dem höchſten Geſichtspunkte darzuſtellen: * Die Entzweiung deines Junerſten mit Gott — dieß 1 dein Zuſtand! Dieſe Entzweiung ſoll aufgehoben werden — das ift deine A ufgabe! An die Stelle der un ſoll volle Bereinigung 1 | treten dieß iſt deine Vollendung!
** Wenn einem Leſer hier zu Sinn käme: „alſo wären die unchul⸗ digen Kinder von deiner Moral ausgeſchloſſen,“ der mag ſi ch ſelbſt darauf antworten: Entweder fallen ſie aus dem Beſi itze ihrer
Unſchuld, die du ihnen beilegſt: dann. gehören ſie unter die Klaſſe
der Mehrzahl, für welche die Moral zunachſt ſorgt; oder ſie blei⸗ ben im Beſitze der Unſchuld: dann vergißt ihrer die Moral nicht, indem ſie als Pädagogik, das iſt hier, als Pflichten⸗
lehre für Eltern, dieſe anweiſet, für die Erhaltung der kind⸗ lichen Unſchuld zu wachen, und als Pflichtenlehre für das zarte Alter, dieſes anleitet, die e der Unſchuld für ſein höchſtes Geſetz anzuſehen.
XXV. Das Verderben — Menschheit i in if. feier t inne werden — kann der Menſch nur alsdann, wenn er 1) das Eine hoͤchſte Geſetz, das der menſchlichen Frei⸗ thaͤtigkeit gegeben ſeyn kann, das Grundgeſetz unſers gan⸗ zen Seyns und unſerer ganzen Beſtimmung anerkennt; wenn es 2) den Widerſpruch, der zwiſchen dem Grund⸗
geſetze unſers Seyns, unſerer Beſtimmung, und zwiſchen ſeinem Wollen und Nichtwollen, ſeinem Thun und Laſſen herrſcht — das Boͤſe, das wirklich in ihm iſt; wenn er 3). die Uebereinſtimmung des menſchlichen Wollens und Nichtwollens, Thuns und Laſſens mit dem Grund⸗ geſetze, die erſt werden und herrſchen ſoll, — das Gute, das ihm noch fehlet, helle erforſcht hat.
XXVI. Die Regeneration der Menſchheit, oder der Ueberſchritt vom Boͤſen zum Guten, kann nur in ſofern durch Worte bezeichnet oder wenigſtens angedeutet werden, in wiefern ſich erſtens: die Bedingungen, ohne welche kein Ueberſchritt vom Boͤſen zum Guten werden kann; zweitens: die thaͤtigen Prinzipien, die das Werden die⸗ ſes Ueberſchrittes vom Boͤſen zum Guten veranlaſſen, an⸗ bahnen, foͤrdern, und beſonders das himmliſche Zeugeprinzip des neuen Seyns agen bezeichnen, oder wenigſtens an⸗ deuten laſſen.
XXVII. Iſt das Gute in dem Menſchen einmal ge⸗ boren, ſo wird es nach voller Herrſchaft ringen, und ſeine Herrſchaft erweiſen a) in den Geſinnungen des Menſchen, die mit dem Geſetze der neugebildeten Menſchheit uͤberein⸗ ſtimmen, und in dem Thun und Laſſen, das jenen Ge⸗ ſinnungen entſpricht; b) in den weſentlichen und unaus⸗ bleiblichen Folgen, die mit jenen Geſi nnungen und mit dieſem Thun und Laſſen nothwendig in Verbindung kom⸗ men oder Eines werden.
XXVIII. In ſofern die Moral die Herrſchaft des Guten durch fortdauernde gute Geſinnungen, und durch fortdauerndes, der guten Geſinnung entſprechendes Thun und Laſſen behaupten lehrt: in ſofern lehrt ſie a) den Inbegriff aller Pflichten ausführlich kennen, b) jede eins zelne Pflicht nach dem Geiſte der Pflicht au suͤben, und c) durch fortſchreitende Heiligung die Aufgabe der Weis⸗
heit vollenden. | XIX. Das Gute erweiſet ſich durch feine wefentlichen und eben deßhalb unausbleiblichen Folgen. Eine Folge iſt 1) fein Ausdruck im Aeußern des Menſchen, der Anſtand, den nur das Gute in dem Guten ſich ſel⸗ ber geben kann, und, ohne etwas, was nicht iſt, zur
u.
Schau zu tragen, wirklich giebt. Dieß Decorum der Menſchheit, in ſofern es von der Konvention unabhaͤngig iſt, gehoͤrt zum Guten, wie der Gef chtszug zum ‚festen, vollen Geſichte.
XXX, Eine andere Folge des Guten it 2) die See⸗ lenruhe und Geiſtes freude (die dem Guten eigen, von dem herrſchenden Guten erzeugt, und das Samenkorn der vollendeten Seligkeit iſt), und die vollendete Se ligkeit ſelber, die als Belohnung des Guten dem Gu⸗ ten in dem Lande der Vergeltung hinterlegt iſt, und mit vollendeter Tugend in Eins zuſammenfaͤllt.
XXXI. Eine Folge des Guten find 3) alle ethi⸗ ſchen Güter, die aus dem fi ittlichen Handeln hervorkom⸗ men und darauf zuruͤckwirken, und in der Idee des hoͤch⸗ ſten Gutes zuſammengefaßt werden koͤnnen.
XXXII. Dieß wäre alſo der Inhalt der Moral als Moral: | Erſtes Hauptſtück der Moral. a Die Lehre von dem Verderben der Menſchen, oder die Lehre von
dem Böſen, das im Menſchen herrſcht und nicht herrſchen ſoll,
und von dem Guten, das in ihm eee ſoll n nicht herr⸗ ſchend iſt. I. Abſchnitt: Das Eine hoͤchſte Geſetz der menfhicen Frei fſtßhätigkeit. II. Abſchnitt: Was dieſem Geſetze widerſpricht S das Böf e. III. Abſchnitt: Was mit dieſem Geſetze übereinſtimmt = — das Gute.
Zweites Hauptſtück der Moral. Die Lehre von der Regeneration der Menſchheit, oder von dem Ue⸗ bergange aus dem DBojen zum Guten.
I. Abſchnitt: Die Bedingungen, ohne die kein Uebergang vom Böſen zum Guten werden kann.
II. Abſchnitt: Die thätigen Prinzipien, die das Werden eines ſolchen Ueberganges anbahnen, fördern, beſchleunigen, und vorzüglich das Zeuge» Prinzip des neuen Seyns ſelber.
Drittes Hauptſtück der Moral. Die Lehre, wie das Geſetz der regenerirten Menſchheit in ſeinem ganzen Umfange und Lauterkeit erkannt, im Einzelnen und im Ganzen befolgt und in ſeinen weſentlichen Folgen darge⸗
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ſtellt werden kann, oder wie das Gute, das durch den Ueber⸗ d gang herrſchend geworden ist ſeine ane bedaupten und
eee Fann. d 1 2 ae) eerr I. Abſchnitt: Bon ragte e vfltgten und 4 llexſ einzelnen Tugenden (Ethik. 1 Abſchnitt: Von Ausübung. einzelner pflichten f Asketih. höhe III. Abſchnitt; Von Darfellung, aller, Tugenden u (Veisbeitslehrch
IV. Abſchnitt; Von dem Decorum der Menſchheit, oder 4 Abſchnitt: Von dem Anfange und der Noklend un der Seligkeit, die dem Guten wird (Skliokeits⸗ 92 lehre). . V. Abſchnitt: Von dem Inbegriff aller Güter, die aut dem Guten Werdorgenen. an ma e.
1 555 43. ö
Wem es Beduͤrfniß iſt, die logiſche Olakigteie dieser Eintheilung ſich anſchaulicher zu machen, fuͤr den mag die nachfolgende Darſtellung am rechten Orte ſeyn. I. Das Gute kann betrachtet werden in ſeiner Fuͤlle, nach ſeinem Weſen und wahren Seyn in Gott, oder als
Nachbildung im Menſchen, wobei ſowohl die Differenz der Glaubenslehre und Sittenlehre, als die Einheit der Glau⸗ en und Sittenlehre in's Auge fallen wird.
II. Das Gute, das im Menſchen nachgebildet werden ſol, kann entweder als eine Aufgabe an den Willen,
-oder als Realiſirung der Aufgabe, als Geſetz, oder als Geſetzerfuͤllung, als ein Soll oder als ein me, be⸗ trachtet werden.
A. Von dem PRO der Moral h von dem
hoͤchſten Erkenntniß⸗Prinzip des — B. Von der Tugend, von dem Guten.
III. Das Gute kann betrachtet werden unweder als Ben verdrängt, beſiegt von feinem Gegentheile, oder als zuruͤckkehrend in das wieder aufnehmende 2. Hund aufgenommen von dem Gemüthe. 2
a 6055 Von dem Boſen. 5 7410 Von dem Uebergange aus dem Voſen zum Guten.
— 98 —
IV. Das Gute kann betrachtet werden entweder in ſeiner Vollendung, oder in ſeiner Uebung bis zur Vollendung, und in beiden nach den einzelnen e e die in der Univerſal⸗Aufgabe an den Willen liegen. E. Ausführliche Darſtellung des Guten als Zubegriff | aller Pflichten. P. Darſtellung des beer s önbegeiff alter le bungen. | 6. Darſtellung des Guten ae Oabegriff. alter Tugenden. 55 Wals Haien V. Das vollendete Gute — bewachen Kare e in ſeiner Offenbarung nach Außen, als Schoͤnheit, oder in ſeiner Wirkung nach Innen, als een eee une als hun begriff aller ethiſchen Guͤterr. HI. Von ver Verklärung des Guten im Leeußern⸗ m I. Von der Seligkeitsfuͤlle des Guten im Innern. K. Von wem een der e rng De)
j Ye "4 1 Tun?)
44. i 8 der Moral 7 BEN 1
Wer die Moral der Vernunft und des Chriſtenthums
als Eine Moral lehren will, wird a) das Prinzip der
Einheit zwiſchen beiden, b) das Verhältniß der chriſtlichen
Moral zur chriſtlichen Religionslehre, und c) die übrigen
Bedingungen eines bee e dee e — im nr mu. on
PEN. 4 1 PR he * a Ri ” 31240 De
45. Grundſatz der bel
1) Es ft Eine Wahrheit, die als Licht den Ver⸗ blendeten zur Selbſterkenntniß, die als Flamme den Boͤ⸗ ſen zum Gutſeyn, die als Licht und Flamme den Gu⸗ ten zur Vollendung des Guten bringt. Und dieſe Eine Wahrheit iſt Eine und dieſelbe Wahrheit, ſie mag ſich in dem hellen Blicke der Philoſophie darſtellen, oder im dunk⸗ len Gefuͤhle des Gewiſſens andeuten, oder in den That⸗ ſachen des Chriſtenthums ausſprechen, oder in dem Leben gottſeliger Menſchen beurkunden. Demnach gaͤbe es ei⸗ nen ſchoͤnen Einklang a) zwiſchen den Andeutungen des
A
— 9 —
Gewiſſens und den Anſchauungen der Philoſophie; b) zwi⸗ ſchen den Anſchauungen der Philoſophie und den Ausſpruͤ⸗ chen des Chriſtenthums; o) zwiſchen den Ausſpruͤchen des Chriſtenthums und den Erfahrungen der Gottſeligen; alſo einen ſchoͤnen Einklang zwiſchen Gewiſſen, Philoſophie, Chriſtenthum und Erfahrung in ihren Andeutungen, Ans ſchauungen, Ausſpruͤchen, Wahrnehmungen.
2) Die Lehren der Moral wuͤrden nichts verlieren, und nur gewinnen, wenn ſie das Gepraͤge der vierfachen Einſtimmung zwiſchen Gewiſſen, Philoſophie, Chriſtenthum und Erfahrung an der Stirne truͤgen.
3) Die Lehren der Moral wuͤrden nichts verlieren, und nur gewinnen, wenn ſie nicht nur das Gepraͤge der vierfachen Uebereinſtimmung an ſich truͤgen, ſondern uͤber⸗ dem als Eine und dieſelbe Offenbarung der Einen Wahr⸗ heit in das Bewußtſeyn der Forſchenden eintraͤten.
Im Grunde giebt es doch nur, ſo wie Eine Wahr⸗ heit, alſo auch Eine Offenbarung. Denn es iſt Ein Gott, er mag ſich durch die Gefuͤhle des Gewiſſens, oder durch die Anſchauungen der Philoſophie, oder durch die Thatſachen des Chriſtenthums, oder durch die Erfahrungen der Gottſeligen offenbaren. Alſo: Eine Wahrheit, Ein Gott, Eine Offenbarung, Eine Moral.
4) Wohl weiß ich, daß die eine Philoſophie mancher⸗ lei Geſtalten annimmt, mancherlei Meinungen erzeuget, mancherlei Loſungswoͤrter (Parolen) in Umlauf bringt, und daß dieſe Loſungswoͤrter zeitlich ſind, und daß die Zeitlichkeit und der Wechſel der Geſtalten, Meinungen, Loſungswoͤrter die Philoſophie ſelbſt in's Geſchrei bringt; wohl weiß ich, daß es manche Verirrungen des Gewiſſens auch bei gutmeinenden Menſchen, und gerade bei dieſen giebt, Verirrungen, die die Tugend ſelbſt in's Geſchrei bringen; wohl weiß ich, daß es mancherlei Auslegungen des Einen Chriſtenthums giebt, die ſich durchkreuzen, und das Chriſtenthum ſelbſt in's Geſchrei bringen; wohl weiß ich, daß unter den Erfahrungen der Gottfeligen manche ſogenannte Erfahrungen vorkommen, die ſich in dem Schmelz⸗ tiegel der Zeit als Taͤuſchungen dargethan ee und die Gottſeligkeit ſelber in's Geſchrei
5) Aber ich weiß auch, daß es ungeachtet aller dieſer Meinungen, Verirrungen, Auslegungen, Taͤuſchungen, denn doch eine Wahrheit giebt, die in den Gefuͤhlen aller Gewiſſenhaftigkeit, in den Anſchauungen aller Philoſophie, in den Ausſpruͤchen alles Chriſtenthums, in den Erfah⸗ rungen aller Gottſeligkeit wiederkommt, ſich wieder findet, ſich ſelbſt als die Eine Wahrheit erweiſet. Und dieſe ſich wiederfindende, und ſich als die Eine erweiſende Wahr⸗ heit wird der Moral der Vernunft und des Chriſtenthums eine Einheit verſchaffen, die ſo einleuchtend als befriedigend fuͤr das Gemuͤth und die Vernunft ſeyn wird.
6) Um der Moral das Gepräge dieſer Einheit zwi⸗ ſchen Vernunft und Chriſtenthum zu verſchaffen, wird der Lehrer a) nur das unwandelbare Eine der Philoſophie bei allem Mancherlei und Wechſel der Philoſophien vor⸗ ausſetzen, und b) von den heiligen Schriften der Chriſten nur jene Stellen aufnehmen, deren Buchſtabe und Geiſt den Getaͤuſchten zur Selbſtkenntniß, den Boͤſen zur Um⸗ kehr zu Gott, und den Guten zur Vollendung ſeiner Lauf⸗ bahn anleiten konnen.
46.
Das Verhaͤltniß der chriſtlichen Moral zur chriſtlichen Religionslehre. |
Es herrfchte feit Langem ein hitziges Fieber, der Feuer: eifer, das Chriſtenthum von dem Chriſtenthum zu ſaͤubern. An den Dogmen hatte ſich die raſtloſe Thaͤtigkeit bereits erfchöpft: dann wandte fie ſich zur chriſtlichen Moral und der Erfolg? Die Religion und Moral ward ein Al⸗ tar des unbekannten Gottes in Jeruſalem, wie in Athen. Ja wahrhaftig, ein Altar des unbekannten Gottes; denn man verkannte zugleich das Goͤttliche im Menſchlichen und das Menſchliche im Goͤttlichen. Und doch iſt beides ſo hell leuchtend. Einer aus denen, die das Licht im Lichte ſahen, hat richtig bemerkt: Das Chriſtenthum habe die Idee aller Religion humaniſirt, und die Idee aller Moral apotheoſirt, habe das Goͤttliche vermenſchlichet, und das Menſchliche vergoͤttlichet, ohne Eines mit dem Andern zu vermiſchen. Wirklich iſt dieß ſein unvergleichbarer Cha⸗
a re
rakter! denn die Religion des Chriſtenthums hat, als Lehre betrachtet, nur die Eine Grundlehre:
Gott iſt in Chriſtus menſchlich, wahrer Menſch geworden, und die Moral auch nur die Eine: der Menſch foll in Chriſtus göttlich werden.
Dieſe zwei Grundlehren machen die Religion und die Moral des Chriſtenthums zur Religion und Moral fuͤr die Menſchheit. Denn nur der Gott, der ſich vermenſchlichet, iſt ein Gott fuͤr Menſchen. Und nur dadurch kann der Menſch wahrhaft groß werden, daß er goͤttlich , di- vinae particeps naturae.
Wenn man nun erwaͤget, daß ſi ch chriſtliche Theologen ſo ſehr bemühen, von der Idee der Religion alles Menſch⸗ liche zu entfernen, als ſich nichtchriſtliche Philoſophen be⸗ ſtrebt hatten, von der Idee der Moral alles Goͤttliche zu entfernen: ſo muß man bekennen, daß es mit zum Looſe des Chriſtenthums gehoͤre, ſowohl unter denen, die es be⸗ kennen, als unter denen, die es verwerfen, unbekannt und verkannt zu ſeyn.
Die Letztern moͤchten die Religion des Chriſtenthums entbehrlich und nur die Moral deſſelben geltend machen. Allein, wie wollen ſie mit der rechten Hand das Menſch⸗ liche dem Goͤttlichen nahe bringen, indem ſie mit der lin⸗ ken das Goͤttliche von dem Menſchlichen immer mehr und mehr entfernen? Die Erſtern wollten die Idee des Goͤtt— lichen in ihrem reinſten Lichte darſtellen, und das Menſch⸗ liche davon entfernen. Sie wollten alſo den menſchlichen Gott wieder in die Nacht ſeiner Unzugaͤnglichkeit einſchlie⸗ ßen, und doch zugleich fuͤr unſer Menſchenauge anſchau⸗ bar machen? Arme Weisheit! wie gehſt du doch auf
beiden Seiten dir ſelber im Wege um, ſtehſt dir uberall ſelber im Lichte.
Ganz anders der Lehrer der chriſtlichen Moral, die noch den Charakter der urſpruͤnglichen Wahrheit und Wuͤrde hat. Ihm iſt das Eine und das All der chriſtlichen Lehre: Gott hat ſich in Chriſtus und durch Chriſtus der Menſchheit geoffenbart, und hat ſich dazu geoffenbaret, daß die Menſchheit in und durch
Chriſtus
Ehriſtus wieder Eins mit Gott werden ſolle, auch das Eine und das All der Moral. Da bedarf denn die 2925 keiner kuͤnſtlichen Anknuͤpfung an die e
47. Weitere Bedingungen der chriſtlichen Morallehre.
Wenn ſchon die echtphiloſophiſche Moral in Gott den hochſen Geſetzgeber des Menſchen, und in dem Willen Gottes das Geſetz des Menſchen anzuerkennen, von der Vernunft ſelbſt gedrungen iſt: ſo wird wohl auch die chriſtliche Moral in Gott den hoͤchſten Geſetzgeber des Menſchen und in Gottes Willen das Geſetz des menſch⸗ lichen finden muͤſſen. Alſo I. Gott iſt, in der philoſophiſchen und in der chriſt⸗ lichen Betrachtungsweiſe, der hoͤchſte Geſetzgeber des fitt- lichen Menſchen; der Wille Gottes das Sittengeſetz des Menſchen; das Reich der Zwecke — iſt keine Demokra⸗ tie, es hat ein Oberhaupt, und das Oberhaupt ii Gott ſelber. \
Die Zeiten find doch wohl vorüber, wo der Wille Gottes etwas Fremdartiges fuͤr die menſchliche Vernunft ſeyn mußte. Iſt doch alle Menſchenvernunft eine Tochter der göttlichen — und der Tochter fol der Wille ihrer Heimath fremde ſeyn? Die Zeiten ſind doch wohl vor⸗ über, wo ſogar die Unabhaͤngigkeit des menſchlichen Wil⸗ lens und Handelns von Gott, als gehoͤrig und unentbehrlich zur wahren Freiheit des Menſchen, ausgerufen ward. Wer ſich in allem Ernſte von der Quelle des Lichtes, der Liebe, des Lebens unabhaͤngig machte, muͤßte ſich wohl der Nacht, dem Halle, dem Tode in die Arme geworfen, oder ſich ſelbſt zur Quelle des Lichtes, der Liebe, des Lebens ges
macht haben, und im erſten Falle die Herrſchaft der Nacht, des Haſſes, des Todes fuͤr die wahre Frei iheit halten, im zweiten in der Selbſtvergoͤtterung und in Verkennung des wahren Gottes ſein Heil ſuchen.
II. So wenig die wahre Moral ſich von der Religion trennen kann: ſo wenig darf ſie ſich trennen von der Na⸗ tur. Denn auch die aͤußere Natur iſt eine Offenbarung Gottes; und wer ſie mit dem Auge eines reinen, gott⸗
8. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. N
*
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aubetenden Gemuͤthes anfähe,, dem wäre ſie eine heilige Natur. Unſtreitig fanden die alten Weiſen in dem Natuͤr⸗ lichen ein Symbolum des Geiſtigen, im Sichtbaren ein Sinnbild des Unſichtbaren, Goͤttlichen, und wenn ein neuer Philoſoph ) an der Natur den Träger des ethiſchen Le bens erblickt, ſo hat er entweder das Theater, auf dem der handelnde Geiſt ſeine Rolle ſpielt, die Natur au⸗ ßer ihm, oder das Werkzeug, womit er die Ent⸗ wuͤrfe ſeines Lebens ausfuͤhrt, die Natur in und an ihm, oder beides zugleich, im Auge. In jeder Hinſicht traͤgt die Natur das Gemälde des göttlichen Lebens, das der Menſchengeiſt in ſich zu entwerfen, und an ſich und außer ſich darzuſtellen, den Beruf hat.
III. So wenig die chriſtliche Moral von den Urkun⸗ den der chriſtlichen Offenbarung ſich losmachen kann, in⸗ dem darin die klaren Ausſpruͤche Chriſti und ſeiner Apo⸗ ſtel niedergelegt find: jo wenig darf fie die vernünftige Natur des Menſchen unbefragt, und insbeſondere die klaren Ausſpruͤche des Gewiſſens, die als ſo viele Laute des ewigen Wortes darin beurkundet ſind, unbenuͤtzt laſ⸗ ſen. Denn es iſt ja Ein Gott, der ſein Geſetz durch das | Gewiſſen in jedem Menſchen, und durch Chriſtus und feine Apoſtel für daſſelbe Gewiſſen ausſpricht.
IV. Wenn gleich der chriſtliche Sittenlehrer die Pflich⸗
ten des Menſchen zunaͤchſt aus den klaren Ausſpruͤchen Chriſti und ſeiner Apoſtel herholet: ſo muß es ihm doch unverwehrt bleiben, aus den Schriften des alten Bundes einzelne Lehren und Beiſpiele anzufuͤhren, indem das Chri⸗ ſtenthum doch fuͤr nichts anders angeſehen werden kann, als fuͤr denſelben himmliſchen Geiſt, der aus dem engen Gefäße des Judenthums in das weitere Gefaͤß der chriſt⸗ lichen Kirche nur reiner und milder uͤbergegangen iſt.
V. Wenn die chriſtliche Moral ein wiſſenſchaftliches Ganze werden ſoll, ſo wird Ein hoͤchſtes Geſetz al⸗ les Guten aufgeſtellet, in dieſem hoͤchſten Geſetze die ein⸗ zelnen Gebote dargeſtellt, und das Ganze von den hoͤch⸗ ſten Ideen gehalten und getragen werden muͤſſen. Nun
*) Siebe Franz Baader 3 Begründung der Ethir durch die pov
a
ſtellt die chriſtliche Moral wirklich Ein hoͤchſtes Geſetz auf, das nicht zeitlich, ſondern ewig, nicht lokal, ſondern univerſal, nicht willkuͤhrlich, ſondern nothwendig fuͤr alle Menſchen aller Zeiten, aller Gegenden verbindend iſt (§. 5 2.):
daß aber daſſelbe hoͤchſte Geſetz alle einzelne Gebote in ſich faſſe, und das Ganze von den hoͤchſten Ideen getra⸗ gen W wird der Verf uch 1 am beſten lehren.
48.
Grundriß der Moral für kuͤnftige Seelenforger in der katholiſchen Kirche.
Wenn dieſe Moral theils zur Bildung der Seelen⸗ ſorger foͤrderlich, theils zur Erleichterung ihrer Amtsarbei⸗ ten, und beſonders in dem jetzigen Zeitalter anwendbar werden ſoll: ſo duͤrfen darin nicht nur nicht außer Acht gelaſſen, ſondern muͤſſen vielmehr zur klaren Anſchauung lichthell dargeſtellt werden — 1) die Verordnungen der Kirche, ſowohl die fuͤr alle Glieder, welche das Ge⸗ ſetz Gottes naͤher beſtimmen und die Beobachtung deſſen fördern (allgemeine Kirchen⸗Statuten), als auch jene, die zunaͤchſt fuͤr den beſondern Stand der Geiſtlichen beſondere Vorſchriften geben (partikulaͤre Kirchen⸗ Statuten); 2) der ganze äußerliche Gottesdienſt,
die ſtehende Liturgie, in ſofern ſie ihrem Weſen nach eine Offenbarung und Belebung des religioͤſen Sinnes iſt, und ihre Wirkſamkeit für das Wachsthum der Tugendkeime und fuͤr die Zeitigung der Tugendfruͤchte nicht anders, als hoͤchſt wohlthaͤtig werden kann; 3) die einzelnen katho⸗ liſchen Lehrbegriffe, da, wo ſie auf die Gruͤndung oder Erweiterung des ethiſchen Lebens Einfluß haben; z. B. die Lehren der katholiſchen Kirche von dem Grund⸗ verderben des Menſchen, von der Regeneration ꝛc.; 4) der ganze große Geiſt der katholiſchen Kirche, in ſofern ſie die goͤttliche Beſtimmung hat, die Glaubens⸗ lehre unverſehrt zu erhalten und in aller Welt auszu⸗ breiten, und mit der Glaubenslehre die chriſtliche Mo⸗ ral vor Ueberſpannung und Entnervung, vor Irrwahn
und Schwaͤrmerei zu bewahren und fortzupflanzen; 5) der
Geiſt der Zeit, der, einen neuen Himmel und eine neue 7 *
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Erde verheißend, die Scheidung zwiſchen Wahr und Falſch deſto dringender macht, je kuͤnſtlicher die Blendwerke, je glaͤnzender die Irrthuͤmer und je maͤchtiger die Waf⸗ fen zur Beſtreitung des e ſind, die er en . hat. ABER 57 N
Wer die Veſtandtheile des Gründriſes, und die e in der ſie aufeinander folgen, begriffen hat, dem wird die Moral in ihrem weſentlichen Zufſammenhange, und die Moral als ein Ganzes, womit ſich die Einleitung ſchließt, ſchon anſchau⸗ lich geworden ſeyn, oder leicht werden können.
40. Die Moral in ihrem weſentlichen Zuſammenhange.
I. Die Moral kann nicht begriffen werden ohne Mo» ralität, ſo wie die Farbentheorie nur von dem verſtan⸗ den werden kann, der ein Auge hat, das Sarhen i zu
ſehen, und es wirklich geſehen hat. : II. Moral, Moralitaͤt kann nicht begriffen werden ohne Religioſt ität, ohne Religion; denn das B, das mit A weſentlich Eines iſt, kann nicht erkannt W ohne Erkenntniß des A, mit dem es weſentlich Eines iſt.
III. Die Religion kann nicht begriffen werden ohne goͤttliche Offenbarung, weil, wenn das unzugaͤngliche Weſen Gottes in der Nacht der Unzugaͤnglichkeit eingehuͤllt bliebe, es wohl nie in unſer Bewußtſeyn kommen konnte.
IV. Die göttliche Offenbarung kann in ihrer Einheit und Allheit nicht begriffen werden ohne den Einen all⸗ ſprechenden Logos Gottes, der in der Fuͤlle der Zeit in Menſchengeſtalt erſchienen iſt, ohne Gott in Chriſtus, ohne Chriſtenthum. Denn es muß ein Band geben, das das Endliche an das Unendliche anknüpft, und dieß Band iſt der Logos, iſt Chriftus.
| V. Das Chriſtenthum kann nicht begriffen werden als
in und durch die Zentral⸗Idee des Chriſtenthums: „bie Menſchheit, von Gott abgefallen, iſt nur durch Gott in Chriſtus mit Gott wieder vereinbar.“ Denn die Ra⸗ dien haben alle ihren Urſprung aus, und ihr Leben in
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dem Mittelpunkte, und koͤnnen nur aus und in dem Mittel, punkte erkannt werden. kind
ALL Die Zentral - Idee des Chriſtenthums kann in ih⸗ rer lebendigen Darſtellung nicht begriffen werden, als in und durch die Kirche Ch riſti, welche eben die lebendige Darſtellung der Idee des Chriſtenthums iſt. Denn ſie iſt der göttliche, alle Zeiten und Gegenden umfaſſende, wahr⸗ haft katholiſche Verein, wodurch und worin die Menſchen von der Suͤnde erloͤſet, an Gott wieder angeknuͤpft und mit Gott vollkommen Aae heili ig und ſelig werden.
VII. Wenn alſo die Moral begriffen werden ſoll, ſo darf fie nicht aus ihrem Zuſammenhange mit Moralitaͤt, mit Religion, mit Offenbarung, mit Chriſtenthum, mit der Zentral⸗Idee des Chriſtenthums, und mit der Kirche Chriſti geriſſen, ſondern ſie muß in dieſem Zuſammenhange naeh werden. ö NW
50.
Die Moral, ein Ganzes im END, Sägen zu⸗ fammengedrängt.
Erſtes Hauptſtück der nal von vr.
I. Gott iſt die Liebe. 1 Joh. IV. 8. 16.
II. Gottähnlichkeit in und durch Liebe iſt die Würde und die
Beſtimmung der Menſchheit, alſo das Grundgeſetz des Menſchen.
In. Die Liebe, die den Menſchen zum Ebenbilde Gottes macht. iſt aalſo das Gute. IV. Dieß Gute fehlt der jetzigen Menſchheit, als Gattung betrachtet.
V. An die Stelle des Guten iſt getreten die Selbſtſucht des von
Gott abgefallenen Willens. f
VI. Dieſe Selbſtſucht iſt alſo das Böſe.
Zweites Hauptſtück der Moral, von vızvın.
VII. Für den Menſchen, in fofern er von Gott abgefallen und von der Selbſtſucht beherrſcht iſt, giebt es alſo kein Heil, als in der Rückkehr von der Selbſtſucht zur Liebe. g
VIII. Dieſe Rückkehr iſt die Buße, iſt die Sinnesänderung, iſt die wahre Regeneration zum göttlichen, ewigen Leben.
— 102 —
Drittes Hauptſtück der Moral. Erſter Abſchnitt: Die Pflichtenlehre, von IX XI.
IX. Die Liebe, welche durch Regeneration angefangen iſt, muß vollendet und dargeſtellt werden, wenn der Menſchheit volle Hülfe, volles Heil werden ſoll. X. Die Liebe, ſtrebend nach ihrer Vollendung und ſich darſtellend im heiligen Leben, iſt die chriſtliche Gerechtigkeit. XI. Der herrſchende Sinn für die chriſtliche Gerechtigkeit erforſcht zhuerſt alle Pflichten des Menſchen nach allen feinen Verhält⸗ niſſen und Richtungen. i
Drittes Hauptſtück. ter 411 Abſchnitt: Die As⸗
XII. Der herrſchende . für Gerechtigkeit läßt denn auch kein Mittel, das im Kreiſe der Gerechtigkeit liegt, unverſucht, um die erforſchte Pflicht zu erfüllen nach dem Geiſte der Pflicht.
Drittes Hauptſtüc. Dritter Abſchnitt: Weisheits⸗ lehre. XIII.“
XIII. Der herrſchende Sinn für Gerechtigkeit erfüllt wirklich die Pflichten nach dem Geiſte der Pflicht, und ſtellt ſich dar als den Inbegriff aller Tugenden, als das verwirklichte Ideal des Weiſen.
Drittes Hauptſtück. Vierter Abſchnitt: Lehre von dem Decorum der menſchlichen Natur. XIV.
XIV. Der herrſchende Sinn für Gerechtigkeit verklärt ſich in feis ner Fortſchreitung als die Würde, als die Standes als das Decorum des Menſchen. i
Drittes Hauptſtück. Fünfter Abſchnitt: Selig⸗ keitslehre. XV.
XV. Der herrſchende Sinn für Gerechtigkeit verklärt ſich in ſei⸗ ner Fortſchreitung und Vollendung als Freude, als Seligkeit des einzelnen Menſchen.
Drittes Hauptſtück. Sechster uo eg: Die Lehre | vom höchſten Gute. XVI.
XVI. und als das höchſte Gut der Menſchheit, als Inbegriff al⸗ ler 9 Güter.
— 1 —
Erſtes Hauptſtuͤck der Moral.
F das if: Von dem ſittlichen Verderben der Menſchheit.
Erſter Abſchnitt. Das Eine hoͤchſte Geſetz der menſchlichen Freithaͤtigkeit.
— 51. : Inhalt und Ordnung dieſes Abſchnittes.
1) Die Idee der ganzen Moral befaßt in ſich die drei Ideen: die Idee des Geſetzes, die Idee der Weis⸗ heit, und die Idee des hoͤchſten Gutes. In der Idee des Geſetzes (als der hoͤchſten Regel fuͤr den freien Willen des Menſchen), liegen alle Pflichten, in der Idee der Weisheit alle Tugenden, in der Idee des hoͤchſten Gutes alle wahren Guͤter, die in der vollende⸗ ten Tugend gegeben oder dargeſtellt ſeyn muͤſſen — wie es der beruͤhmte Verfaſſer einer Kritik der Sittenlehre mit beſonderm Scharfſinne nachgewieſen.
2) Daß die Idee der Moral die drei genanten Ideen in ſich faſſe, erhellet ſchon daraus, daß die Eine Grund⸗ idee der Moral keine andere ſeyn kann, als die Idee des Guten. Nun aber faßt eben die Idee des Guten jene drei Ideen nothwendig in ſich. Denn das Eine Gute in der Idee iſt a) das hoͤchſte Geſetz für den Wil⸗ len; als ſolches befaßt es alle einzelne Pflichten, alle Gebote und Verbote. Das Eine Gute iſt b) in ſeiner ſittlichen Vollendung betrachtet, das Ideal und der Ch a⸗ rakter des Weiſen, iſt die Tugend, iſt die Ueberein⸗ ſtimmung mit dem hoͤchſten Geſetze; als ſolches befaßt es alle einzelne Tugenden, alle Weisheit in Handlung ge⸗ ſetzt. Das Eine Gute iſt in ſeiner vollſtaͤndigen Dar⸗ ſtellung betrachtet, ) das hoͤchſte Gut der Menſchheit; als ſolches iſt es das Groͤßte, was uns das Geſetz ver⸗ heißt, was alle Tugend im ernſten Streben bezielt, was
die Weisheit ü im vollendeten Streben erreicht, iſt der Ju⸗ begriff aller Guͤter, die aus der Tugend fuͤr die Menſch⸗ heit hervorgehen, und mit vollendeter Tugend gegeben oder dargeſtellt ſind.
) Je nachdem die Sittenlehrer in ihren Unterſuchungen bald die eerſte, bald die zweite, ein andermal die dritte Idee bewußt oder unbewußt vorherrſchen ließen, waren ſie mehr Pflichten— lehrer, oder Tugendlehrer, oder Seligkeitslehrer.
3) Die Idee des Geſetzes iſt die erſte, die angege⸗ ben werden muß; denn die Tugend kann nur lebendige Darſtellung des Geſetzes, und das hoͤchſte Gut nur vollen⸗ dete Darſtellung der Tugend ſelber ſeyn.
4) Iſt die Idee des Geſetzes angegeben, ſo wird uns die volle reine Bedeutung der Geſetzesſumme, die Chriſtus und ſchon Moſes ausgeſprochen hat, nur noch einleuchten⸗ der werden, und dann der hoͤchſte Grundſatz der Moral dargeſtellt werden koͤnnen. Der erſte Abſchnitt wird alſo
§. I. die Idee des Geſetzes,
§. II. den Sinn der von Chriſtus aufgeſtellten Ge⸗ ſetzesſumme,
§. III. den hoͤchſten Grundſatz der Moral darlegen.
$. I. Die Idee des Geſetzes. ; R 52. |
1) Die Natur wird bald als Mannigfaltiges, bald als Einheit, bald als Einheit und Mannigfaltigkeit be⸗ trachtet, je nachdem das Auge und der Geſichtspunkt des Schauenden beſchaffen if. Wer nur das Mancherlei be- trachtet, dem iſt die Natur ein Aggregat unzaͤhliger Er⸗ ſcheinungen und nothwendig wirkender Kraͤfte. Wer die Natur als Einheit betrachten gelernt hat, dem iſt ſie das Leben, das ſich in den mancherlei Kraͤften reget, und in mancherlei Erſcheinungen aͤußert.
2) Wer die Natur in ihrer Einheit und Mannigfal⸗ tigkeit betrachtet, dem bildet ſie Ein Ganzes, das Eine unermeßliche Ganze, das Eine un aus ſprechlich ſchoͤne Ganze, das große fuͤr Sinn, Verſtand und Ver⸗ nunft ſich immer erneuernde Schauſpiel.
% — 105 —
3) Dieß Eine unermeßlich große, unausſprechlich ſchoͤne Ganze ſtellt ſich dem ſtaunenden Gemuͤthe des Men⸗ ſchen als Harmonie, als phyſiſche Harmonie, als
phyſiſche Weltharmonie dar. In dieſem Blicke ſprachen die Alten von der Muſik der Sphaͤren.
4) Sowohl diefe Weltharmonie, als die Natur, die ſie bildet, waͤre ohne die hoͤchſte Einheit, die das Leben aus ſich und in ſich hätte — nichts. Dieſe hoͤchſte Eins heit, die das Leben in ſich und aus ſich hat, iſt Gott.
5) Wenn die freithaͤtigen Kraͤfte unter ſich, und in Verbindung mit der Natur, zu Einem Ganzen zuſammen⸗ ſtimmten, und zwar aus Selbſtbeſtimmung ſo zuſammen⸗ traͤfen, wie die Naturfräfte nothwendig zuſammentreffen: ſo wuͤrden ſie ein hoͤheres Ganze bilden, ſo wuͤrden ſie das ſchoͤnſte Ganze bilden, das ſich dem ſtaunenden Ge⸗ muͤthe: als Harmonie, als ſittliche Harmonie, als ſittliche Weltharmonie darſtellte.
6) Sowohl dieſe ſittliche Weltharmonie, als jene frei⸗ thätigen Kräfte wären ohne die hoͤchſte Einheit, die das freieſte Leben aus ſich und in ſich haͤtte — nichts. Dieſe hoͤchſte Einheit, die das freieſte Leben in ſich und aus
ſich hat, iſt Gott. .
2) Die Natur, indem fie das de große und unausſprechlich ſchoͤne Ganze bildet, offenbaret zugleich (mit allen ihren Bildungen und durch alle ihre Bildun⸗ gen, die zeitlich und wandelbar ſind), das Bild des Ewi⸗ gen, das Bild des Urſchoͤnen — Gottes. Die Na⸗ tur hat alſo kein anderes Geſetz und kann kein anderes haben, nachdem ſie nothwendig wirkt, als: in allen ihren wandelbaren zeitlichen Bildungen das Ewige (Gott), und in allen ihren Bildungen des unermeßlich ſchoͤnen Ganzen das Urſchoͤne (Gott), zu offenbaren.
99 Es kann alſo auch der freithaͤtige Wille in allen
ſreithätigen Weſen (ſie heißen Engel, Menſch, Intelligenz) kein hoͤheres Geſetz ſeiner freien Wirkungsweiſe haben, als: in allen freien Handlungen die hoͤchſte Freiheit — Gott, und in allen Bildungen des hoͤhern Schoͤnen das Urſchoͤne — Gott zu offenbaren.
4
= 106 =
0) Das Eine hoͤchſte, ſchoͤnſte Ganze wäre alſo die harmoniſche Offenbarung der hoͤchſten Freiheit in allen freithaͤtigen Weſen, und die Offenbarung des Urſchoͤnen in allen Handlungen der Freithaͤtigkeit (Offenbarung Got⸗ tes, der die hoͤchſte Freiheit, der das Urſchoͤne ih).
10) Dieſe harmoniſche Offenbarung Gottes kann in ihrem Werden, oder in ihrer Vollendung, oder in ihrer Annaͤherung zur Vollendung betrachtet werden. Als wer⸗ dend iſt ſie die Aufgabe aller Aufgaben fuͤr alle ver⸗ nuͤnftige Weſen (der Zweck aller Zwecke, der Endzweck); als f eyend (in ihrer Annaͤherung zur Vollendung), iſt ſie ein Bild des Urſchoͤnen, das dem Original immer glei⸗ chender wird; als vollendet wäre fie das bonum summum universale der freithätigen Weſen, und in Beziehung auf die Menſchheit — die hoͤchſte Verklaͤrung Gottes in der Menſchheit, und der Menſchheit in Gott.
11) Das bonum summum universale, dieß Eine hoͤchſte Gemeingut der Menſchheit waͤre als freies Leben — Heiligkeit des menſchlichen Willens, und in Bezug auf die Harmonie zwiſchen Natur und Freiheit — Seligkeit.
12) Das Eine hoͤchſte Geſetz der menſchlichen Frei⸗ thaͤtigkeit iſt alſo dieſes: „Du menſchlicher Wille, offen⸗ bare in allen deinen Handlungen nur die hoͤchſte Frei⸗ heit — Gott; offenbaren in allen deinen Bildungen des hoͤhern Schoͤnen nur die hoͤchſte Schoͤnheit — Gott.“ Denn die harmoniſche Offenbarung der hoͤchſten Freiheit und Schoͤnheit — Gottes, iſt in ihrer Vollendung a) das bonum summum universale aller vernuͤnftigen We⸗ ſen, iſt insbeſondere b) die hoͤchſte Verklaͤrung der Menſch⸗ heit in Gott, und Gottes in der Menſchheit. 13) Dieß eine Geſetz aller Freithaͤtigkeit heißt recht eigentlich Geiſtes⸗Geſetz (vouos Tod Kveduaros) weil es dem Geſetze des Thieres entgegengeſetzt, und weil es in dem Weſen der Freithaͤtigkeit (des Geiſtes) geſchrie⸗ ben iſt, und darin geleſen werden kann, wenigſtens von Augen, die das Verhaͤltniß Gottes zum Menſchen und des Menſchen zu Gott erſchauet haben.
144) Dieß Eine Geſetz der menſchlichen Freithaͤtigkeit heißt und iſt, was es heißt: das Geſetz Gottes, das
— 7 —
göttliche Geſetz für die Freithaͤtigkeit; goͤttlich nach A b⸗ kunft, goͤttlich nach Inhalt, goͤttlich nach Vollen⸗ dung; denn es kommt von Gott, es gebeut nichts als Offenbarung Gottes, und es verklaͤrt die Menſchheit in Gott, und Gott in der Menſchheit.
15) Dieß Eine Geſetz der menſchlichen Freithaͤtigkeit heißt und iſt in Hinſicht auf das, was es gebeut, Ge⸗ ſetz der Heiligkeit; in Hinſicht auf das, was es verheißt, Geſetz der Gerechtigkeit, und in ſofern, im Regimente der Gerechtigkeit, die vollendete Heiligkeit und die vollendete Seligkeit in Eins zuſammenfallen, Geſetz der Seligkeit.
16) Dieß Eine Geſetz der menſchlichen Freithaͤtigkeit
iſt und heißt das Geſetz des goͤttlichen Reiches, in ſofern der Wille dem Geſetze Gottes gehorchen ſoll, wie ihm die
Natur gehorchen muß, und in ſofern die Natur, ſo wie
die freithaͤtigen Kraͤfte im Werden, im Seyn und in der Vollendung des Einen ſchoͤnen, hoͤchſten Ganzen, wahrhaf⸗ tig das Reich Gottes find... Gott das Eine in Allem.
12) Dieß Eine Geſetz heißt endlich und iſt, was es heißt, das Geſetz Chriſti, in ſofern es Chriſtus in ſei⸗ nen Lehren, in ſeinem Leben, in ſeinem Geiſte, in ſeiner Kirche (in ſeinem geiſtlichen Leibe), lebendig darſtellt. Da Chriſtus das Eine Geſetz in der bekannten Geſetzes⸗
ſumme (Matth. XXII, 37 — 40.) zuſammengefaßt hat:
ſo ſoll nun der tiefe Sinn derſelben erforſcht und darge⸗ ſtellt werden.
H. II. Erforſchung und Darſtellung des Sinnes | jener Geſetzesſumme.
53.
Um in den tiefen Sinn dieſer Geſetzesſumme einzu⸗ dringen, werden wir zuerſt die Liebe gegen Gott, als den Inhalt des erſten, dann die Liebe gegen unſers Glei⸗ chen, als den Inhalt des zweiten Gebotes, nachher die Einheit der Liebe gegen Gott und gegen unſers Gleichen, als die Summe des ganzen Geſetzes betrachten, endlich zeigen muͤſſen, daß dieſe Geſetzesſumme nur ein anderer, aber hoͤchſt beſtimmter Ausdruck des Einen hoͤchſten Geſetzes aller menſchlichen Freithaͤtigkeit §. 52. ſey.
— ton
A. Liebe gegen Gott.
2 54. eu was die vernuͤnftige, gebietenbe abe gegen | Gott ſey.
1) Wenn die Grundlehre aller Vernunft: Gott iſt, und: Gott iſt das Urſchoͤne — hier vorausgeſetzt wird, wie ſie in jeder Sittenlehre, die vom Hoͤchſten ausgeht, vorausgeſetzt werden muß; wenn die Eine Grundlehre der Vernunft und des apoſtoliſchen Chriſtenthums hier voraus⸗ geſetzt wird, wie ſie in jeder chriſtlichen Sittenlehre voraus⸗ geſetzt werden muß, die naͤmlich: das Weſen aller Weſen, Gott, offenbarte und offenbart ſich dem menſchlichen Gei⸗ ſte im Allgemeinen a) durch das Weltall, durch die Schoͤpfung, Erhaltung und Regierung des Weltalls, ins⸗ beſondere b) durch die Aus ſpruͤche des Gewiſſensz c) durch die außerordentlichen Ereigniſſe der Welt⸗ geſchichte, durch Belehrungen, Einrichtungen, Schickſale großer, erleuchteter Maͤnner; d) vorzuͤglich durch Chri⸗ ſtus, durch die Apoſtel Chriſti; durch die Kirche Chriſti; und offenbarte und offenbart ſich e) als die Eine ewige Liebe, als den heiligſten Vater der Menſchen, als den Einen in Allem, deſſen Geſetz lauter Heiligkeit, deſ⸗ ſen Vergeltung lauter Gerechtigkeit, deſſen Fuͤhrung lau⸗ ter Licht und Huld iſt — offenbarte und offenbart ſich als die Ur⸗ und All» vollkommene Liebe, die eben das Schöne alles Schönen, das Urſchoͤne iſt.. wenn, ſage ich, dieſe Grundlehre vorausgeſetzt wird: ſo erhellet von ſelbſt, daß der Menſch, dem a) das Seyn Gottes als des Urſchoͤnen, die hoͤchſte und gewiſſeſte Wahr⸗ heit iſt; der b) durch Huͤlfe menſchlicher und goͤttlicher Erziehung, ſich von der Sinnenwelt los und zum Anſchauen des hoͤhern Schoͤnen tuͤchtig gemacht hat, eben deßhalb em⸗ pfaͤnglich ſeyn muͤſſe eines lautern, durchaus ver⸗ nuͤnftigen Wohlgefallens an Gott, der ihm das Urſchoͤne, die ewige Liebe iſt. Das Urſchoͤne, unter den lieblichſten Bildern, als Vater der Menſchheit und aller ihm aͤhnlichen Geiſter, als Liebe vorgebildet und als Liebe angeſchaut, wird in dem Gemuͤthe, in welchem eben deßwegen das lautere Wohlgefallen nicht mehr ungebildet
„
ſeyn kann, nichts anders, als lauteres Wohlgefallen er⸗ wecken koͤnnen. Denn, wie der gute Sohn des Hauſes lauteres Wohlgefallen hat an dem Vater, den ſein Leibes⸗ auge ſieht: ſo wird der Menſch an dem Vater der Men⸗ ſchen, den ſein Geiſtesauge ſchauet, lauteres Wohlgefallen haben koͤnnen; zumal ihm das Seyn Gottes ſo gewiß iſt, als dem Sohne das Daſeyn ſeines Vaters immer ſeyn kann, und Gott nicht ein Schoͤnes, ein Vater, eine Liebe, ſondern das Schoͤne, der Vater, die Liebe ſelber iſt. Und wie das Wohlg efallen des Sohnes an ſeinem Vater, in dem Sohne ein empfaͤngliches Gemuͤth voraus⸗ ſetzet: ſo wird auch das Wohlgefallen des Menſchen an dem Vater der Menſchen ein empfaͤngliches, d. i. ein
hoͤheres Gemuͤth vorausſetzen. Denn ein Gemuͤth, das
ſich von der Uebermacht der finnlichen Welt los, und zur Anſchauung der ewigen Schoͤnheit tuͤchtig gemacht hat, wird wohl jenes hoͤhere Gemuͤth ſeyn muͤſſen, dem das dreifache Vermoͤgen inwohnet, ſich das. Schöne vor⸗ zubilden, das Schoͤne zu ſchauen, an den Schönen Wohlgefallen zu haben. 1
* Was hier das höhere Gemüth heißt, hat ſich ein blühender Schriftſteller unter dem Symbole eines Herzens, das a) be⸗ flügelt iſt, das b) im Mittelpunkte ein Auge hat, in dem e) eine Flamme aufwärts lodert, verſinnlichet. Das Auge iſt ihm Sinnbild der Vernunft, die Flügel Sinnbild des Auf⸗ ſchwunges in die höhern Regionen der Betrachtung, die Flam⸗ me Sinnbild des Gefühls, das nach oben ſtrebt. Das hö⸗ here Gemüth iſt ihm alſo die Einheit der Vernunft, der Phantaſie und des Gefühles. Was das Wort: Herz
betrifft, ſo bezeichnet es im weiteſten Sinne, in dem es auch die heilige Schrift am öfteſten nimmt, das Vermög en aller Gefühle für das dießſeitige und jenſeitige Leben; im engern Sinne aber bezeichnet es das Vermögen der Menſch⸗ lichkeit, das Mitgefühl. Wird das Herz dem Gemüthe entgegengeſetzt (denn gar oft werden ſie für gleichnamig, gleichbedeutend genommen): ſo bezeichnet jenes den Brennpunkt unſers dießſeitigen Lebens, dieſes den Brenn⸗ punkt des jenſeitigen Lebens. Stehet dem Gemüthe das Wort höher voran: fo will man zu verſtehen geben, daß das Ge
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müth ohne Beiſatz — das Gefühl für Gutes, Schönes überhaupt, das höhere Gemüth hingegen ausdrücklich das Ge⸗ fühl für das Göttliche, Ewige andeute.
** Worin die göttliche Erziehung beſtehe, die den Menſchen über ihn und über die Natur erhebt, und zur Anſchauung der ewi⸗ gen Schönheit tüchtig macht, davon in der nächſten Numer, Hier ſoll bloß das Wohlgefallen an dem Urſchönen kenn bar an ſeinen Merkmalen, und in ſeiner ce c lich gemacht werden.
229) Wenn das Urſchoͤne in irgend einem apf Gemuͤthe lauteres Wohlgefallen erreget hat, ſo wird ſich a) zu dieſem lautern Wohlgefallen, bei fortdauernder An⸗ ſchauung des Urſchoͤnen, allmaͤhlig ein Sehnen, dem Urſchoͤnen aͤhnlich und mit dem Urſchoͤnen Eines zu wer⸗ den, geſellen: in ſofern der unendliche Trieb nach dem Schoͤnen, der nun einmal erwacht iſt, nur durch das Aehnlich⸗ und Einswerden mit dem Urſchoͤnen ausgefuͤllet werden kann. b) Dieß lautere Wohlgefallen an Gott, dieß Sehnen nach Gott, gewinnt, ſobald uns das Urſchoͤne als unſer und aller vernuͤnftigen Weſen hoͤch⸗ ſtes, allgegenwaͤrtiges, unwandelbares und unerſchoͤpfliches Gut erſcheint, ein neues Leben, und wird (wenn die Leiden der Zeit und die Gewalt der Natur nicht zu druͤ⸗ ckend find), belebende Geiſtesfreude. c) Dieſe Ger ſtesfreude wirket auf die Seele abwaͤrts, und kann in dieſer ihrer Ausbreitung Seelenfreude werden; die Seelenfreude druͤckt ſich denn auch im Koͤrper aus. Jene Geiſtesfreude iſt uͤbrigens gerade ſo rein, als die See⸗ leufreude thaͤtig. d) Dieſes lautere Wohlgefallen an Gott, das ein Sehnen nach Aehnlichwerdung und ein Seh⸗ nen nach Einswerdung mit Gott bei ſich hat, iſt Liebe gegen Gott, und dieſe ſo beſtimmte Liebe gegen Gott iſt (ihrem Weſen und ihrem Entſtehen nach), vernünftige Liebe. Denn dazu, daß das lautere Wohlgefallen an Gott eine feſte Stelle nehmen kann in dem menſchlichen Gemuͤthe, wird als eine unerlaͤßliche Bedingung voraus⸗ geſetzt, daß daſſelbe Gemuͤth ſich von den Eindruͤcken des Vergaͤnglichen losgemacht, ſich uͤber Alles, was nicht Gott iſt, erſchwungen haben muß, weil die Liebe des Ewigen
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ohne den Sieg uͤber das Zeitliche nicht ſtatt haben kann. Sich losmachen von dem Zeitlichen, ſich erſchwingen uͤber Alles, was nicht Gott iſt, iſt in ſich ſchon ein Actus der vernuͤnftigen Natur, die ſchoͤuſte Bewegung des freien Willens nach oben. Es muß uͤberdem der Ausſpruch: das Urſchoͤne iſt, eben weil es das Urſchoͤne iſt, das Lie⸗ beuswuͤrdigſte; es muß der Ausſpruch: wenn es Weisheit iſt, jedes Weſen nach ſeiner Liebenswuͤrdigkeit zu liehen, ſo iſt es hoͤchſte Weisheit, das Liebenswuͤrdigſte uͤber alles Andere zu lieben, — oft in dem Gemuͤthe, in dem die Liebe gegen Gott eine feſte Stelle gewonnen hat, ſich wiederholet haben, und ſiegend geworden ſeyn, weil außerdem das Ge⸗ mich in den untern Regionen des Schoͤnen ſich niederge⸗ laſſen haben wuͤrde. Nun dieſer Ausſpruch iſt nichts an⸗ ders, als ein Ausſpruch der Vernunft. Die Liebe gegen Gott, die hier gemeint iſt, muß alſo ihrem Weſen und ih⸗ rem Entſtehen nach, als vernuͤnftige Liebe anerkannt wer⸗ den von jeder nuͤchternen Vernunft. Sie iſt alſo keine bloß pathologiſche Liebe, indem ihr der Ausſpruch der Vers nunft vorausgehen muß, und ſie ſelbſt nichts anders, als der ſchoͤnſte Actus der vernuͤnftigen Selbſtbeſtimmung ſeyn kann.
* In der fd beſtimmten Liebe gegen Gott läßt ſich alſo ein vier⸗ facher Actus der Intelligenz (der höhern Natur des Menſchen) unterſcheiden, a) die Anſchauung des Urſchönen, b) die Be⸗ weg ung des freien Willens nach dem Urſchönen um des Ur⸗ ſchönen willen, e) ein Wohlgefallen an dem Urſchönen, das d) ein Sehnen nach Aehnlichwerdung und nach Einigung mit dem Urſchönen bei ſich hat. Wer alſo in der Liebe mehr die Liebe, das lautere Wohlgefallen betrachtet, dem iſt fie höchſte Angelegenheit des Gemüthes; deßhalb definirt fie Au- gustinus (de doctrina christiana 1. 3.) fd: caritatem voco
* motum animi ad fruendum Deo propter Deum, und nach ihm 7homas Ag.: caritas est amicitia quaedam singularis hominis ad Deum (secundae quaest XXIV. artic II.) Wer aber in der Liebe mehr die Willens macht betrachtet, dem iſt
ſie mit Augustinus, eine Geiſtesſtärke: caritas virtus, quae eonjungit nos Deo (de moribus Eecles. Cath. c. II.) Da nun aber die Menſchheit, nach der Lehre des Chriſtenthums, durch den Abfall des Menſchen von Gott getrennt iſt: ſo wird
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die Liebe dem, der ſie am richtigſten auffaßte, vorzüglich als ein Sehnen nach Wiedereinswerdung mit Gott, als Wiederver⸗ einigungstrieb erſcheinen müſſen. x
3) Die Liebe gegen Gott iſt alſo (als die hoͤchſte An⸗ gelegenheit des Glaubens betrachtet) in ihrem Urſprunge ein vernuͤnftiges Wohlgefallen, und kann in ihrer Bele⸗ bung vernuͤnftige Geiſtesfreude, in ihrem weitern Aus⸗ fluf fe vernünftige Seelenfreude werden. Dieß laͤßt ſich in einem Gleichniſſe anſchaulich machen. Ein Mann, dem die Tugend Religion und die Religion das Hoͤchſte im Men⸗ ſchen iſt, ſieht die Verklaͤrung Chriſti von Raphael... er ſieht und kann ſich nicht ſatt ſehen. Jetzt hat er das ganze Bild in ſich. Nun ſchließt er das Sinnenauge, und durchſchaut das Nachbild, das er in ſich traͤgt, in tiefer Contemplation, und oͤffnet das Sinnenauge nur dann wie⸗ der, wann er die Zuͤge des Nachbildes auffriſchen, und den Eindruck des Gemaͤldes erneuern will. Da wird wohl das Schoͤne in ihm zuerſt ein Vernunft⸗ Wohlgefal⸗ len, dann Geiſtesfreude, dann Seelenfreude ge⸗ weckt haben. Denn er ſtand nach langem Selbftgefpräche, wie neugeſchaffen auf, und gieng, die Freude im Geſichte, nach Hauſe. Es mußte alſo die Freude aus der Wurzel ſei⸗ nes Weſens ausgegangen, und ſich von da aus, in ſeinen innern und aͤußern Menſchen ergoſſen haben.
Was das angefuͤhrte Gleichniß andeutet, ſprechen un⸗ ſere heiligen Schriften deutlich aus. Denn ſie reden ſo klar als energiſch von der Liebe gegen Gott (Roͤm. XI. 35-36. 1 Joh. III. 1. — IV. 18. Luk X. 21. Phil. IV. 4.), und behaupten, daß dieſe Geiſtesfreude ſelbſt bei unangenehmen Begebenheiten ſtatt habe. (Apoſtelg. V. 40. Phil. I. 12—18. II. 12— 1. Kol. I. 24. 1 Theſſ. V. 16.)
4) Das lautere Wohlgefallen an Gott, deſſen das menſchliche Gemuͤth empfaͤnglich iſt, kann (unter den noͤthi⸗ gen Anregungen von oben, die den Funken im Gemuͤthe beleben, und die ich unter dem Ausdruck der göttlichen Er⸗ ziehung zuſammengefaßt haben will), allmaͤlig eine ſo feſte Stelle im Gemuͤthe bekommen, daß es gebietend wird, und kann endlich ſo gebietend werden, daß es 0
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Vollendung nahet. Bluͤthe weiſſaget uͤberall eine Reife, und der allmaͤlige Uebergang von der Bluͤthe zur Reife iſt überall der Ordnung der Natur gemaͤß: alſo wohl auch in der hoͤchſten Angelegenheit des Menſchen.
» Hieher gehören zwei denkwürdige Stellen, aus Augustinus in epist. Joann.: Caritas, cum fuerit nata, nutritur, quod per- tinet ad ineipientes: cum fuerit nutrita, roboratur, quod
pertinet ad proficientes: cum fuerit roborata, perficitur,
quod pertinet ad perfectos, und aus Tomas Aquin: di- stinguitur caritas secundum triplicem gradum, incipientiums proficientium et perfectorum, quod incipientium caritas in recessu a peccato, proficientium vero in virtutum exercita- 2 diode, perfectorum vero in aeternae gloriae fruitione consi- N | stat. (. c. art. IX.) e Unſere Anthropologen find ſelten bis in den tiefſten Grund und die Wurzel des menſchlichen Weſens eingedrungen, weil ſo wenigen das unauslöſchliche Verlangen nach einem unendlichen Gut in voller Klarheit erſchienen iſt. Denn wären ſie dieſer Spur nachgegangen, ſo hätten ſie Theologen werden und zur Einſicht durchdringen müſſen, daß Gott allein es iſt, der das Verlangen des menſchlichen Weſens nach einem unendlichen Gut ausfüllen, und daß die Liebe gegen Gott ohne Wohlgefallen an dem höchſten Gut, und ohne Verlan⸗
gen, ihm ähnlich und Eins mit ihm zu werden, eg begriffen 5 werden kann. N
5) Wenn die Liebe gegen Gott, die ihrem Weſen und Werden nach nothwendig vernuͤnftig iſt, gebietend wird: fo iſt fie wahre Verehrung Gottes. Denn, ſo wie das Urſchoͤne nothwendig die heiligſte Liebe ſelber iſt, ſo iſt das gebietende Wohlgefallen an dem Urſchoͤnen, an ſich ſelbſt ſchon die hoͤchſte Verehrung des Heiligen. Joh. IV. 24. Phil. II. 12. 2 Tim. I. 2. 2 Petr. I. 16.) Indem das Gottliebende Gemuͤth Gott den Vorzug giebt vor Allem, was nicht Gott iſt, Ihn als den Heiligen uͤber alles Gute ſetzt, indem es ſich uͤber alles Unheilige erhebt, um dem Heiligen ähnlich und mit ihm Eins zu werden: fo hat und beweiſet es die hoͤchſte Verehrung gegen Gott.
6) Wenn die Liebe gegen Gott, die ihrem Weſen und Werden nach nothwendig vernuͤnftig iſt, gebietend
N. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. zte Aufl. 8
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wird: ſo ehrt ſie das Urſchoͤne, die ewige Liebe in allen einzelnen Gaben, und in allen Evolutionen der Einen gro- ßen Weltregierung, iſt alſo Dankbarkeit und Ver⸗ trauen; Dankbarkeit, indem ſie Alles, was uns ge⸗ geben iſt und wird, als Geſchenk der ewigen Huld wie aus der Hand der Liebe empfaͤngt (Jak. I. 17. Eph. V. 20. 1 Theſſ. V. 18.); Vertrauen, indem fie Alles, was die Eine ewige Liebe im Weltall baut, ordnet, fuͤget, herauf⸗ fuͤhrt, als das Werk der Liebe anſieht, und von ihr nur das Beſte erwartet, ruhend — im Mutterſchooße der Pro⸗ videnz. (Matth. VI. 25— 55. X. 28. Roͤm. VIII. 28— 39. V. 1-11) a Rt
2) Wenn die Liebe gegen Gott, die ihrem Weſen und Werden nach nothwendig vernuͤnftig iſt, gebietend wird: ſo iſt ſie ein lauteres Leben, eine lautere Thaͤtig⸗ keit, und beweiſet ihre Thaͤtigkeit durch Unterwuͤrfig⸗ keit gegen Alles, was Wille, Gebot, Geſetz und Fuͤgung Gottes iſt. Um Eins mit Gott zu werden, muß ſie vor Allem Eins mit dem Willen Gottes, d. h. allem Willen Gottes unterworfen ſeyn. Dieſe vollſtaͤndige Unterwuͤr⸗ ſigkeit iſt in Hinſicht auf Geſetz — Gehorſam, in Hin⸗ ſicht auf Führung (Schickſal), Ergebung. Joh. XIV. 15—21. XV. 14—23. 1 Joh. II. 2— 5. III. 24. II. 15—ı7. V. 3. VI. 20— 21. II. 6.) |
8) Wenn die Liebe gegen Gott, die ihrem Weſen und Werden nach nothwendig vernuͤnftig iſt, gebietend wird: fo beweiſet fie den Gehorſam gegen Gott vorzüglich, durch Menſchen⸗, Naͤchſtenliebe, die fie als das zweite, dem erſten gleiche, Gebot Gottes anſieht (Joh. IV. 20—21. III. 12.). Um der ewigen Liebe ähnlich zu werden, muß ſie ihr in Liebe ähnlich werden wollen, Liebe nachbilden, die Menſchheit als Gottes Bild lieben (Da⸗ von lit. B. beſonders).
9) Wenn die Liebe gegen Gott, die ihrem Weſen und Werden nach nothwendig vernuͤnftig iſt, gebietend wir: fo iſt fie in dem Gemuͤthe, (das ein chriſtliches hei⸗ ßen kann, weil es an Chriſtus, an die Offenbarung Got⸗ tes durch Chriſtus und in Chriſtus glaubt, nach dem Glau⸗
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ben an Ehriftus geſinnt iſt, und im Geiſte dieſer Geſinnung handelt,) nothwendig Liebe zu Chriſtus. Denn, wie koͤnnte ein Gemuͤth Gott lieben, ohne ihn in ſeinem Ab⸗ glanze, in ſeinem vollkommenſten Ebenbilde, in ſofern es Kunde davon hat, und als ein chriſtliches Gemuͤth ha⸗ ben muß, zu lieben? (Matth. X. 37. 1 Joh. IV. 19. 1 Kor. XVI. 22.) Dieſe Liebe gegen Chriſtus iſt denn auch nichts anders, als innigſtes Wohlgefallen an Chriſtus, Verehrung, Zutrauen, Dankbarkeit gegen Ihn. /
10) Wenn die Liebe gegen Gott, die ihrem Weſen und Werden nach vernuͤnftig iſt, gebietend wird, fo wird ſie, um dem Ausſpruche der Vernunft: „liebe, ehre jedes Weſen nach ſeiner innern Liebens⸗ und Ehren swuͤrdigkeit, alſo das Urſchoͤne, das Heilige uͤber alles Andere“, ganz angemeſſen zu ſeyn, ſowohl der un vergleichbaren Wuͤr de deſſen, der geliebt wird, als dem jedesmaligen Ver mögen: deffen, der liebt, antworten, das heißt: hoͤchſtes Wohlgefallen an dem Urſchoͤnen ſeyn muͤſſen, und dieß Wohlgefallen an dem Urſchoͤnen wird ſei⸗ nem Weſen nach hoͤchſte Verehrung, hoͤch ſte Dankbar⸗ keit, hoͤchſt e Zuverſicht, hoͤchſter Gehorſam ſeyn, das heißt, dem jedesmaligen Vermoͤgen ) des Menſchen ent⸗ ſpreche. | | te X
11) Die Liebe gegen Gott iſt alſo (nach der Lehre der heiligen Schriften, und der Forderung der Vernunft) das hoͤch ſte, vernünftige Wohlgefallen an Gott, als der Ur⸗ und allvollkommenen Liebe, an Gott, als dem Urſchoͤnen, und dieß hoͤchſte Wohlgefallen iſt in Hinſicht auf die Heiligkeit Gottesverehrung, in Hinſicht auf die empfangenen Gaben Dankbarkeit, in Hinſicht auf die Weltregierung Zu verſicht, in Hinſicht auf die eins zelnen Gebote Gottes Gehorſam, in Hinſicht auf die einzelnen Schickſale, Fuͤhrungen — Gottes Ergebung, in Hinſicht auf die vernuͤnftigen Mitgeſchoͤpfe Menf chen⸗
) Quamguam caritas ex parte diligibilis non valeat esse perfecta, ex parte tamen diligentium perfecta esse potest, eum, quantum possibile est ipsis, Deum diligunt. Thom.
Aquin. I. c. Art. VIII. ö 8 *
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liebe, in Hinſicht auf Chriſtus, an dem ſich die unſicht⸗ bare Gottheit am delfemmknſßen geoffenbaret hat, Liebe Chriſti. ' 856. Würde Schöne, ungute der er gegen okt. 6
Die Liebe gegen Gott, ſo beſtimmt, erſchoͤpfet 1) den ganzen Sinn des Gebotes: Du ſollſt Gott aus gan⸗ zem Herzen, von ganzer Seele, aus ganzem Gemuͤthe und aus allen Kräften lieben. Denn als lauteres Wohlgefallen an Gott weihet ſie das Ges muͤth, dem ſie inwohnet; als gebietendes Wohlgefal⸗ len an Gott weihet ſie das Herz, das ſie theils beherrſcht, theils belebt; als Verehrung des Heiligen und als Un⸗ terwuͤrfigkeit unter alle Gebote und alle Fuͤhrungen Gottes weihet ſie das ganze Leben, alles Denken und Wollen, alles Handeln und Thun — die ganze Seele, und mit der Seele den Leib, und mit dem Leibe die Na⸗ tur, alſo alle Kraͤfte, die dem Menſchen gegeben ſind, zum Gottesdienſte im ſchoͤnſten Sinne des Wortes ein. Ja, im ſchoͤnſten Sinne des Wortes, denn fie, die Lie be gegen Gott, iſt an ſich ſchon ein ſtaͤtiger, durchaus ver⸗ nuͤnftiger Gottesdienſt, und verwandelt den ganzen Men⸗ ſchen und durch den Menſchen die Natur in Einen Got⸗ tesdienſt. Denn im Menſchen kommt die Natur gleich⸗ ſam zum Bewußtſeyn und zur Anbetung Gottes; im Meitz ſchen und durch den Menſchen dient Alles der Lie be, und die Liebe Gott — zur Ausfuͤhrung ſeines Willens, der ſo heilig iſt, wie Gott. Nur unter der Herrſchaft der Liebe dient das Natuͤrliche, das Leibliche dem Geiſtigen, das Geiſtige — Gott.
29 Die Liebe gegen Gott, ſo beſtimmt, iſt die hoͤchſte praktiſche Philoſophie. Denn ſie iſt wirklich, was die Philoſophie ſeyn ſoll, eine Reduktion alles Wah⸗ ren, Guten, Seligen — Schoͤnen auf die hoͤchſte Einheit, die das Urwahre, Gute, Selige — das Urſchoͤne iſt, und eine Nachbildung des Urſchoͤnen in allen Handlungen des N Wie die Philoſophie nicht BEN kann, uͤber⸗
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all die hoͤchſte Einheit zu ſuchen, fo PR es der Liebe un⸗ ſchwer, die hoͤchſte Einheit uͤberall zu finden Leicht findet die Liebe in jedem Geſchoͤpfe den Schoͤpfer, in jedem Ab⸗ bilde (dem Menſchen) das Urbild, in jedem Lebensfunken das ewige Leben, in jedem Gebote den hoͤchſten Geſetzge⸗ ber, in jedem Schickſale den hoͤchſten Fuͤhrer, in jeder Gabe den hoͤchſten Geber, in jeder Evolution der Geſchichte den hoͤchſten Regenten der Welt, und handelt in Ueber⸗ einſtimmung mit ihm.
39) Die Liebe gegen Gott, ſo besinnt, nögt ihre Apologie in ſich ſelber; denn da ſie a) als Vereh⸗ rung Gottes lauter Gehorſam gegen feine Gebote und lauter Ergebung gegen ſeine Fuͤhrung iſt: ſo bewei⸗ ſet ſie ſich ſelber rein von, und ſicher vor Taͤndelei. Da ſie b) als Gehorſam gegen die göttlichen Gebote vorzuͤglich thaͤtige Menſchen⸗ und Naͤchſtenliebe iſt: fo erweiſet ſie ſich eben dadurch rein von, und ſicher vor Froͤmmelei und Muͤßiggang. Da ſie c) als Dankbarkeit und Zuverſi icht Vergangenheit und Ge⸗ genwart, Zeit und Ewigkeit für ein großes Ge⸗ mälde von lauter göttlichen Gaben und Führungen anſieht: ſo beweiſet ſie ſich eben dadurch als Zufriedenheit mit Gott, und als ſolche rein von, und ſicher vor Kopfhaͤngerei, Menſchenſchen und der fin⸗ ſtern, grillenhaften Laune. Da ſie endlich in ih⸗ rem Weſen und in ihrer Wurzel ein gerade ſo vernuͤnf⸗ tiges als lauteres Wohlgefallen an Gott iſt: ſo bewei⸗ jet fie ſich rein von, und ſicher vor ARE Spine
\ 1 a 56. \ Nichtigkeit der Eine 98 „Aber eigentliche Liebe gegen Gott iſt unmoͤglich: denn Gott kann kein Gegenſtand der ſinnlichen Anſchauung wer⸗ den.“ Dieſer Einwurf kommt aus einer Schule, die, von hoͤhern Anſchauungen entbloͤßt, nur in dem Sinnlichen die Probe des Reellen fand. (Hierauf vorerſt eine Antwort nach dem Sinne des Verfaſſers der Totalreviſton der Juden⸗Chriſten⸗Biblien.)
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Der Menſchengeiſt kann als Geiſt, als vernuͤnftiges, freithaͤtiges Weſen kein Gegenſtand der ſiunlichen Anſchau⸗ ung werden, und doch kannſt du ihn in dem liebenden, guten Menſchen wieder lieben. Denn, obgleich das Unſicht⸗ bare im Menſchen nicht ſichtbar, nicht angeſchaut werden kann, ſo giebt ſich doch das Unſichtbare, ſein Wille, ſein Entſchluß, dir wohlzuthun, ſeine Liebe zu dir durch Geſichts⸗ zuͤge, Worte, Thaten ſo gewiß zu verſtehen, daß du ihn als einen guten, liebenden Menſchen erkennen, und als ſol⸗ chen lieben kannſt. Wenn ſich nun das unſichtbare Gutſeyn eines Meuſchen durch Geſichtszuͤge, Modiſicationen des Leiblichen, die als das Leibliche nicht der unſichtbare Geiſt ſind, zu erkennen geben, und ſich liebenswerth darſtellen kann: ſoll ſich die ewige Liebe, Gott, durch die Schoͤpfung und alle Wohlthaten der Natur, die uns Tag und Nacht, wie aus ſeiner Hand zufließen, durch die Ausſpruͤche des Gewiſſens, die ſich als Geſetz Gottes ankuͤnden, durch Be⸗ lehrungen weiſer Menfchen, die feinen Willen kund thun, und befonders durch Chriſtus, in dem ſich ſeine Liebe in goͤttlicher Fülle, geoffenbaret hat, uns Menſchen nicht zu er⸗ kennen geben, nicht als hoͤchſt liebenswerth darſtellen koͤn⸗ nen? Wenn Gott bei Iſaias ſpricht: „Eine Mutter kann ihres Saͤuglings nicht vergeſſen, und wenn auch eine Mut- ter ihres Saͤuglings vergeſſen koͤnnte, ‚fo kann ich dein nicht vergeſſen;“ wenn Chriſtus bei Matthäus ſagt: „die bis ſen Vaͤter ſind nicht ſo boͤſe, daß ſie ihren flehenden Kin⸗ dern Steine fuͤr Brod, Schlangen fuͤr Fiſche, Skorpionen fuͤr Eier geben, und der beſte Vater im Himmel ſoll ſei⸗ nen flehenden Kindern feinen guten Geiſt vorenthalten koͤn⸗ nen?“ — wenn Johannes an ſeine Freunde ſchreibt: „Gott iſt die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott; fo iſt es nicht wohl möglich, daß ein menſchliches, nach Gott fragendes Gemuͤth, das den Sinn dieſer Stellen faßt und den Geiſt derſelben fuͤhlt, nicht auch einen Zug des lautern Wohlgefallens an der ewigen Liebe, nicht einen Zug der Dankbarkeit, der Verehrung gegen ſie in ſich fuͤhlen ſollte. | Daun eine Antwort aus dem Standpunkte der wahr ren Philoſophie: „Gott, ſprichſt du, kann kein Gegenſtand
der ſinnlichen Anſchauung werden, alſo iſt keine eigentliche Liebe gegen Gott moglich.“ Du kennſt alſo keine höhere Anſchaunng, als die ſinnliche ? Alſo iſt die unſichtbare, ewi⸗ ge Welt fuͤr dich nichts? Oder, wenn ſie etwas waͤre, ſo haͤtteſt du kein Auge dafuͤr ? Sieh! alle Menſchen, die ihres Urſprungs bewußt werden, reden von einem Geiſtesauge, und von einer unſichtbaren, ewigen Welt. Ihr einhelliges Bekenntniß iſt dieſes: „Was kein koͤrperliches Auge ans ſchauen kann, das kann das Auge des Geiſtes anſchauen — Gott, die ewige Liebe.“ „Das Gemuͤth im Menſchen kann — was das Thier im Menſchen nicht kann, kann in
feinem geheimſten Bildungskabinette ſich Gott, der ſich ihm
als das Urſchoͤne offenbaret, vorbilden, und vorgebildet ats
ten, und angeſchaut — lieben.“ Iſt dir dieß Traum, ſo biſt du ſelbſt noch nicht aus der ſinnlichen Anſchauung der Welt erwacht.
„Allein, ſagt dieſelbe Schule, das Unendliche, (das abſolut Goͤttliche), kann ſich fuͤr endliche Weſen nie als ein unendliches Weſen in ſeiner ganzen Unendlichkeit offen⸗ baren, alſo nie ein Gegenſtand der Liebe werden!“
Antwort: Der Menſchengeiſt kann ſich als Menſchen⸗ geiſt nie offenbaren durch Geſichtszuͤge, Worte, Handlun⸗ gen, und doch kann er dir ſeine unſichtbare Liebe gegen dich kennbar machen: alſo kann auch das Unendliche ſeine Unendlichkeit durch Erſcheinung und Belehrung unſerem Geiſte hinlaͤnglich zu erkennen geben, und fuͤr das Gemuͤth des Menſchen ein Gegenſtand des Wohlgefallens werden. Es iſt wahr: die ganze Fuͤlle des Goͤttlichen kann in kei⸗ nem Menſchen nach der ganzen Fülle des Goͤttlichen, das Unermeßliche in keinem Gemeſſenen als unermeß lich erſcheinen, weil immer das Bild zu groß fuͤr den Rahmen wäre: aber das Erſchei nende kann durch hinzukommen⸗ de Thaten und hinzukommende Belehrungen ſich der Vernunft als göttlich zu erkennen geben; wie der Menſchen⸗
geiſt in keinem Koͤrper als Geiſt erſcheinen, aber durch Tha⸗
ten und durch das lebendige Wort ſich als Geiſt zu erken⸗ nen geben kann. Da nun der Menſch das Menſchliche am beſten verſtehen kann, ſo wuͤrde er das Goͤttliche, das im Menſchen erſchiene, und durch Thaten und Belehrung ſich
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— 120 — als göttlich darſtellte, am beſten verſtehen. Eben deßwe⸗ gen, lehrt die Urkunde des Chriſtenthums, hat ſich die ewige Liebe in Chriſtus, als in ihrem vollkommenſten Eben⸗ bilde, offenbaret, damit der Vater der Menſchen in Chri⸗ ſtus den Menſchen naͤher, zugaͤnglicher, anſchaubarer und genießbarer werden koͤnnte. Kurz: wie der Geiſt des Men⸗
ſchen durch einen menſchlichen Leib dem Menſchen anſchau⸗ bar wird, ſo iſt das Unendliche die Fuͤlle der Gottheit durch Chriſtus, in dem ſie wohnte, gleichſam anſchaubar
geworden. Eben deßwegen iſt die Lehre von der Liebe
gegen Gott in unſern heiligen Schriften ſo innig mit dem
Glauben an Gott, an Chriſtus verknuͤpft, daß, wer das Weſen der Liebe gegen Gott verſtehen will, es nur durch die erkannte Weſenheit des Glaubens an Gott, an u Chi ſtus, den kann.
57.
Die Liebe gegen Gott kommt aus dem Glauben.
Der gegebene Begriff von der Liebe gegen Gott ſetzt voraus, daß der Menſch ſich durch Hilfe goͤttlicher Erzie⸗ hung uͤber die Natur und uͤber ſich ſelbſt zum Urſchoͤnen erſchwingen und zur Anſchauung und zur Liebe des Urſchoͤ⸗ nen tuͤchtig werden, ſetzt voraus, daß die Liebe des Men⸗ ſchen gegen Gott unter dem Einfluſſe derſelben Erziehung gebietend und die gebietende vollendet werden kann.
Nun, was iſt denn jene Erziehung? Sie iſt die Bil⸗ dung des Glaubens im Menſchen, deſſen Energie ſich in Liebe kund thut, und dieſe Bildung iſt das Werk Got⸗
tes ſelbſt. Was die heiligen Schriften des neuen Bun⸗
des davon lehren, iſt ſo klar als erhebend:
1) Der Glaube (in fofern die Liebe gegen Gott aus ihm ſtammt), iſt die innere, feſte (alles Schwanken aus⸗ ſchließende), lebendige, und deßhalb auf Willen und Ge⸗ muͤth maͤchtig einwirkende Ueberzeugung, daß der Vater der Menſchen durch ſeinen Sohn Jeſus Chriſtus die Menſch⸗ heit heilig und ſelig machen, und alſo dem Menſchen Licht und Kraft zur ſittlichen Umwandlung, und volle Verge⸗ bung aller ſeiner Suͤnden, neue himmliſche Geiſteskraft zur Erfuͤllung des heiligen Geſetzes, und zur getroſten
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Erduldung aller widrigen Schickſale, endlich die oolenber ewig ge Seligkeit ertheilen wolle.
2) Dieſer Glaube kommt von Gott, geht Mh die Hand der Kirche, und wurzelt in dem menſchlichen Ge⸗ muͤthe, das ſich der Wahrheit hingiebt. Er kommt von Gott, denn er ſetzt eine Offenbarung Gottes im Gemuͤthe des Glaubenden voraus, und heißt deßhalb ein goͤttlicher Glaube. Dieß hat dir nicht Fleiſch und Blut geoffen⸗ baret, ſondern mein Vater im Himmel, wuͤrde Chriſtus von jedem Glaubenden dieſes Geiſtes wie von Petrus ſa⸗ gen koͤnnen (Matth. XVI. 12.), oder jenes andere Wort, das er zu dem Volke ſprach: Dieß iſt das Werk Gottes, daß ihr glaubet an den, den er geſandt hat (Joh. VI. 29). Dieſer Glaube geht durch die Hand der Kirche, die das Wort Gottes, das Samenkorn des Glaubens, aus⸗ ſtreut. Was Petrus dem Cornelius, was Ananias dem Saulus, was Philippus dem Kaͤmmerer war, das iſt uns die Kirche, indem ſie uns zu Chriſtus weiſet, und an Ihn glauben lehrt, und ſeine Sakramente ſpendet. Dieſer Glaube wurzelt im Gemuͤthe, welches das Samen⸗ korn des ewigen Lebens aufnimmt und in ſich bewahrt (Matth. XIII. 23.)
5) In ſofern der Glaube auf Wille und Gemüth wirkt, kann er als ein lebendiges Prinzip angeſehen wer⸗ den, und iſt es auch; denn er erzeugt in dem Menſchen, der ſich von Gott dem Vater durch Chriſtus zur Wieder⸗ vereinigung mit Gott erwaͤhlet und gerufen fuͤhlt, ein ſol⸗ ches gebietendes Wohlgefallen an Gott, an Chriſtus, das wahre Liebe iſt, und Gott wahrhaftig ehret, das unbeſiegbar iſt, und nach und nach vollkommen wird, und alle Furcht austreibt. (Roͤm. VIII. 31— 38. 1 Joh. IV. 18.) Der Glaube erzeugt insbeſondere in dem Menſchen, der die Schmach und die Laſt ſeines Ab⸗ falls von Gott, und das Beduͤrfuiß der Ruͤckkehr zu Gott fuͤhlt, a) die gottverehrende Zuverſicht, die gegruͤn⸗ dete Erwartung, daß ihm Gott durch Chriſtus Licht und Kraft zur ſittlichen Beſſerung, Nachlaſſung aller Suͤnden, Beiſtand zur Erfuͤllung ſeiner Pflichten, Geiſtestroſt in widrigen Schickſalen, und ewige Seligkeit ertheilen werde,
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wenn er anders in der Treue gegen den Ruf des Evan⸗ geliums beharret. (Hebr. X. 22. 38. 39. V. 12—19. III. 21—31. Gal. II. 16-20. Joh. XIV. 18. VI. 42. XX. 31. 1 Petr. I. 8. 9.) Er erzeugt in dem nach Beſ⸗ ſerung ringenden Menſchen b) den gottverehrenden Entſchluß, ſich allen Forderungen, ohne die keine ſitt⸗ liche Verbeſſerung gedacht werden kann, d. i. dem ganzen Heilungsprozeſſe zu unterwerfen (Apoſtg. II. 37. 38.). Er erzeugt in dem Menſchen, der vom Boͤſen zum Guten wirk⸗ lich uͤbergeſchritten iſt, e) das lebendige Gefuͤhl des Friedens mit Gott, welches ein Vorſchmack der ewi⸗ gen Seligkeit iſt, und die gottverehrende Dankbarkeit
gegen Gott in Chriſtus, durch den er Vergebung der Suͤn⸗
den erhalten hat (Luk. VII. 37. 50.). Er erzeugt in dem gebeſſerten Menſchen d) einen freudigen Gehorſam gegen die Gebote Gottes (1 Joh. IV. 19. II. 5. 17. V. 3.), und eine gottverehrende Liebe gegen alle Menſchen, die Gott durch Chriſtus heilig und ſelig haben will (1 Joh. IV. 11. III. 16.).
4) In ſofern der Glaube auf Wille und Gemuͤth ein⸗ wirkt, und alſo nicht nur ſelbſt eine Thaͤtigkeit iſt, ſon⸗ dern Quelle der reinſten Thaͤtigkeit, der Liebe, wird: in ſofern kann man ſagen, daß der Glaube in Verknuͤpfung mit der Liebe, das geiſtliche Leben des Menſchen, und in ſofern das geiſtliche Leben ewig dauern kann, und im Reiche Gottes ewig dauert, das ewige Leben aus⸗ macht. „Dieß iſt das ewige Leben, daß ſie dich den Ei⸗ nen wahren Gott, und den du geſandt haſt, Jeſum Chri⸗ ſtum erkennen “ (Joh. XVII. 3.), nur mit dem Unter⸗ ſchiede: Hier iſt das geiſtliche Leben Liebe in und aus Glauben, druͤben Liebe in und aus Schauen. Wenn nun aber der Glaube die Liebe erzeugt, und die Liebe aus Glauben das geiſtliche Leben ausmacht, und das geiſtliche Leben feiner. Natur nach ewig iſt: ſo wird es uns kein Raͤthſel mehr ſeyn, warum die Schrift uͤberall
auf Glauben dringe, uͤberall auf Glauben einen ſo ent⸗
ſchiedenen Werth lege.
5) Auch erſcheint jetzt in neuem Lichte, daß, wenn der
Glaube ſo große Dinge thun, nicht große Dinge thun, ſon⸗
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dern das Groͤßte, das Hoͤchſte ausrichten, Liebe, ewi⸗ ges Leben erzeugen ſoll, er ſelber goͤttliches Geſchlechts ſeyn muͤſſe. Deßhalb wird auch die Liebe gegen Gott, ob ſie gleich ein Erzeugniß des Glaubens iſt, denn doch als ein Werk des goͤttlichen Geiſtes, der die Liebe in die Herzen der Glaubenden ausgießt (Roͤm. V. 5.), vorge⸗ ſtell, weil beide, Glaube und Lieb e, aus Gott nne
B. Liebe gegen Andere.
A 58. f Die Naͤchſtenliebe, die Chriſtus im zweiten Gebote: deinen Naͤchſten ſollſt du lieben wie dich ſelbſt, fordert, umfaßt 1) in ihrer Ausbreitung die ganze Menſch⸗ heit, gibt 2) in ihrer naͤchſten Richtung jedesmal dem Ein⸗ zelnen, was des Einzelnen iſt, und holet 3) ihr eigent⸗ liches Lebensprinzip aus der Liebe gegen Gott; weßwegen denn auch in der Geſetzgebung Christi das zweite Gebot dem erſten gleichgeſetzt iſt.
In der erſten Betrachtung heißt die chriſtliche Naͤchſten⸗ liebe allgemeine Menſchenliebe, Philanthropie; in der zweiten Naͤchſtenliebe im engſten Sinne des Wortes, den die Parabel von dem Samariter aufs Ge⸗ naueſte beſtimmt hat. Die Naͤchſtenliebe im engſten Sinne des Wortes iſt reinmenſchlich, die allgemeine Menſchenliebe iſt als allgemeine Liebe reingeiſtig; in ſofern aber jene wie dieſe aus der Liebe gegen Gott ihr Leben nehmen, iſt die Naͤchſtenliebe ſowohl in ihrer Ausbreitung auf die ganze Menſchheit, als in ihrer beſondern Richtung zu den Beduͤrfniſſen des Einzelnen reinhimmliſch.
59. Niochſtenliebe in ihrer engſten Bedeutung, oder | die Liebe gegen Andere in ihrer reinen | Menſchlichkeit. Das bloß ſinnliche Wohlgefallen an einem bloß ſinnlichen Gegenſtande, ſo wie das bloß ſinnliche Mitgefuͤhl iſt bloß pathologiſche Liebe. Einem Menſchen
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wohlthun ohne Wohlgefallen, ohne Mitgefuͤhl, bloß aus Noͤthigung der Pflicht, nannte man juͤngſt praktiſche Liebe. Allein da iſt nur Praxis, nur ein Thun aus Pflicht, gar Feine Liebe. Dagegen laͤßt es ſich klar darlegen: es kann eine Liebe gegen Menſchen geben, die weder bloß patholo⸗ giſch, noch bloß Praxis, ſondern wahre Liebe iſt, und auch praktiſch iſt, und ſo rein iſt, als etwas rein ſeyn kann. Dieſe Liebe heißt mir die ſittliche, und fie ſteht in Mitte zwiſchen der bloß pathologiſchen Liebe, die nicht ſittlich, und zwiſchen der ſogenannten praktiſchen, die gar keine Liebe iſt. Eben deßwegen verdient ſie die rein⸗ eee zu heißen. 60. * Darſtellung der reinmenſchlichen Liebe.“)
1) Der Menſch hat das Vermoͤgen, ſich in die Lage des Andern hineinzuſetzen, hineinzufuͤhlen, und ſich ſelber in des Andern Wohl und Weh (im Mitgefuͤhle) zu vergeſſen. Dieß Vermoͤgen iſt Naturanlage, z. B. ich ſehe einen Juͤngling auf glattem Eiſe fallen, und hoͤre den Schlag des auf den Boden hinſtuͤrzenden Koͤrpers. Ich verſtehe das ſo gut, als wenn ich gefallen waͤre, ich kann mich in ſeine Lage nicht ſo faſt erſt hineinbilden, als ich bin ſchon darin; ich habe meiner vergeſſen, und fuͤhle nur mit ihm.
2) Ich kann mehr, ich kann nicht nur kraft der Na⸗ turanl age mich in die Beduͤrfniſſe des Andern verſetzen, hineinfuͤhlen, in fremdem Wohl und Weh, im Mitgefuͤhle mich vergeſſen; ich kann auch handeln, als wenn ich der Andere waͤre, in ſofern ich, jenem Rufe des Mitge⸗ fuͤhls gehorchend, wirklich das ins Werk ſetze, was ich in der Lage des Andern wuͤnſchte, daß von dem Nachbar ge⸗ ſchaͤhe. Wenn ich z. B. auf dem glatten Eiſe gefallen waͤre, ſo wuͤrde mein Erſtes geweſen ſeyn, mich aus mei⸗ ner Betaͤubung aufzuraffen, den Koͤrper in die Hoͤhe zu bringen, und dann fuͤr die leidende Stelle Huͤlfe zu ſuchen: das kann ich nun fuͤr den Andern auch thun, ich laufe hin, lichte ihn auf, führe ihn zu Hauſe, rufe den 1 ꝛc.
9 Nach der Totalreviſion der Juden⸗ und Chritentitlien. Sr:
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3) Iſt es die Macht der ſinnlichen Eindruͤcke, die den Menſchen anregt, ſich in die Lage des Andern zu ver⸗ ſetzen, hineinzufuͤhlen, und ſich in fremdem Wohl und Weh zu vergeſſen, und die ihn zur Wirkſamkeit beſtimmt: ſo iſt dieß natuͤrliche Liebe, Offenbarung des nothwen⸗ dig wirkenden Inſtinktes (des bloß ſi innlichen Triebes), nicht Handlung des freien Willens.
4) Wenn aber bei erwachendem Vernunftfunken, zu dieſem Vermoͤgen, ſich in des Andern Wohl und Weh zu vergeſſen, der Ausſpruch der Vernunft und die Thaͤtigkeit des freien Willens hinzukommen: dann wird die natuͤr⸗ liche Liebe allmaͤlig fittliche Liebe. Die Vernunft thut z. B. den Ausſpruch: „Es iſt edel, deinen Nächten ſo zu behandeln, wie du wuͤnſchteſt, im nämlichen Falle von An⸗ dern behandelt zu werden: durch dieſe Behandlung deines Naͤchſten zeigſt du dich als ein menſchliches Weſen, ehreſt ſeine Thraͤne und erfuͤlleſt deinen Beruf, ſie zu trock⸗ nen: ſey Menſch und hilf dem Menſchen, die Stimme des Mitgefuͤhls ſey dir heilig, denn ſie iſt Gottes Stimme.“ Der freie Wille (das Vermögen, ſich nach dem Ausſpruche der Vernunft ſelbſt zu beſtimmen), entſchließt ſich wirklich, den Naͤchſten durchaus ſo zu behandeln, wie wir wuͤnſch⸗ ten, daß wir im naͤmlichen Falle von Andern behandelt wuͤrden. Durch den Beitritt der Vernunft und des freien Willens wird alſo, was ohne ihn bloß pathologiſche Liebe geweſen wäre, vernuͤnftige, freithätige, d. i. ſittliche Liebe. Wer in dieſem Gefuͤhle der Liebe wohlthut, giebt ſich nicht blind dem Mitleiden hin, er thut wohl mit ſehendem Ver⸗ nunftauge; iſt kein Sklave des Inſtinktes, er hilft, weil er will, und er will helfen, weil ihn der Ausſpruch der Vernunft (das Wort Gottes im Gewiſſen): daß es edel ſey, dieſem Mitgefuͤhle zu gehorchen, dazu beſtimmt. Seine Liebe iſt alſo aus dem Naturſtande in den Stand der ver⸗ nuͤnftigen, freithaͤtigen Menſchheit uͤbergetreten. Sie iſt alſo Liebe, und iſt vernünftige, fi ttliche Liebe, und was von jeher zur Sittlichkeit erfordert wird, dirigens ratio et consentiens voluntas, das Vorangehen des Vernuͤnftigen und das Nachgehen des Freithaͤtigen, das trifft auch bei der ſittlichen Liebe ein.
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* Das Pro. 2. genannte Handeln nach dem Rufe des Mitge⸗ fühles kann alſo bald mehr das Gepräge des Naturwirkens, bald mehr das Gepräge des vernünftigen Handelns tragen, je nachdem ſich die Uebermacht des nee oder die der Selbſtbeſtimmung äußert.
5) Dieſe ſittliche Naͤchſtenliebe ſetzt alſo als Liebe das Naturvermoͤgen voraus, und wird durch Vernunft und Freithaͤtigkeit ſittlich. Dieſe ſittliche Naͤchſtenliebe iſt alſo weder ohne Naturanlage, noch ohne Vernunft und Frei⸗ thaͤtigkeit denkbar; ohne jene wäre ſie nicht Naͤch ſten⸗ liebe, ohne dieſe nicht ſittliche Liebe.
6) Der Beitritt der Vernunft und des freien Willens zur natuͤrlichen Liebe hat taͤglich neue Anlaͤſſe, neue Auffor⸗ derungen; denn die natuͤrliche Liebe des Menſchen zu ſich ſelber kommt in ſtaͤten Widerſtreit mit der natuͤrlichen Men⸗ ſchenliebe. Auch iſt die natuͤrliche Liebe gegen den Einen oft mit Kaͤlte, oft mit Haß gegen den Andern verknuͤpft. Es muß alſo der freie Wille hinzukommen, muß die Sym⸗ pathie wecken, wo ſie ſchlaͤft; uͤben, wo ſie traͤge iſt; ſtaͤrken, wo fie ſchwach iſt; beſchraͤnken, wo ſie druͤckend fuͤr Andere werden wuͤrde; leiten, damit ſie nicht wehe thue u. ſ. w. Dann wird die Sympathie, die natuͤrliche Liebe, ſittlich; dann heißt fie. des Kampfes wegen, den der freie Wille gegen die Forderungen der Kiemluhe und der natuͤrlichen Menſchenliebe beſteht, Tugend.
2) Dieſe Naͤchſtenliebe kann an der Leiter ber ſit⸗ lichen Kultur von Stufe zu Stufe immer hoͤher aufſtei⸗ gen; denn wie ich durch eigene Leiden Mitleiden lerne, ſo kann ich durch freiwillige Verſuche im Miſſen und Nicht⸗ genießen, durch freiwillige Selbſtaufopferung (dieſen goͤtt⸗ lichen Charakterzug der Liebe), durch verweilende Aufmerk⸗ ſamkeit bei den Scenen des menſchlichen Elendes ... die Fertigkeit, mich in der Andern Wohl und Wehe zu ver⸗ geſſen, und fuͤr Andere zu leben, bis zu einer unglaub⸗ 8 Hoͤhe bringen.
Je mehr ich die natürliche Liebe gegen mich ſelber, die na⸗ türliche Vorliebe gegen Einige, die natürliche Kälte gegen An⸗ dere, den natürlichen Haß gegen gewiſſe Individuen ı.
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bekämpfe: deſto energiſcher wird ſich die ſittliche Liebe gegen Andere offenbaren. 5 For IL e 8) Dieſe Nächftenliebe iſt nicht nur im Entftehen und Wachsthume, ſondern auch in der Weiſe der Ausuͤbung, bildſam durch die Vernunft. Ihren Eingebungen gehor⸗ chend zeigt ſie ſich bald mild, bald ernſt, bald an ſich haltend, bald maͤchtig nach außen wirkend, zur rechten Stunde zuſagend und zur rechten abweiſend. 99 Natur, Vernunft, Wille verklaͤren ſich alſo als Einheit in der ſittlichen Naͤchſtenliebe. Die Natur giebt das Mitgefuͤhl, die Vernunft das Geſetz, der Wille dem Mitgefuͤhle und der That das Gepraͤge des Gu⸗ ten. Demnach haͤtte die ſittliche Liebe von der Natur den Stoff, von der Vernunft die Form, von dem Wil⸗ len die ſittliche Wuͤrde und Schoͤnheit. | 10) Dieſe ſittliche Liebe hat mehr Ausbreitung und Umfang, als die kalte Wohlthaͤtigkeit nicht glauben, der kalte Verſtand nicht begreifen kann. Denn ſie kann ſich nicht nur in den gegenwaͤrtigen, ſondern auch in den ver⸗ gangenen und zukuͤnftigen Zuſtand des Menſchen hinein⸗ ſetzen. Wenn ich z. B. einen blaſſen Waiſen, einen brod⸗ loſen Greis anſehe, ſo kann ich mich in die Noth, die ſie ſchon ausgeſtanden haben, wirklich ausſtehen, und noch ausſtehen werden, hineinfuͤhlen, und ſo findet Vernunft und Wille nicht nur einen großen, unausfuͤllbaren Spiel⸗ raum zu den Thaten der Menſchlichkeit, ſondern auch ei⸗ nen neuen Sporn, dem Beduͤrfniſſe fuͤr Gegenwart und Zukunft abzuhelfen. e RE 11) Die ſittliche Liebe gegen Andere iſt in dem Maße rein ſittlich, in welchem der freie Wille allen Einfluͤſſen der Eigenliebe auf Geſinnung und That zu wehren ſtrebt, wirklich wehret, und in der Gegenwehre Stand haͤlt. 12) Dieſe reinſittliche Liebe gegen Andere hat in ſich alle Wuͤrde, die menſchliche Handlungen haben koͤnnen. Was menſchliche Handlungen adelt, iſt a) die Uneigen⸗ nuͤtzigkeit, die Verlaͤugnung aller eigenen Vortheile, Selbſt⸗ uͤberwindung, heroiſche Selbſtaufopferung, und b) die Harmonie der Handlung mit dem Aus⸗ ſpruche der Vernunft (mit dem Worte Gottes im
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Gewiſſen). Nun gerade jene Selbſtaufopferung und dieſe Harmonie ſind der reinſittlichen Liebe weſentlich.
13) Die reinſittliche Liebe ſchließt die Pflichtachtung nicht aus, denn wer das Gebot der Naͤchſtenliebe erfüllt, kann die Achtung; in Hinſicht auf das Geſetz, mit der Liebe, in Hinſicht auf den Naͤchſten, in ſich vereinen. 14) Chriſtus vereinigt in feiner Geſetzgebung das Prin⸗ zip der Pflichtachtung und das Prinzip der ſittlichen Liebe, indem er ein Geſetz der Liebe aufſtellt, und zwar ein Ge⸗ ſetz Gottes. Wer alſo nach dem Geſetze Chriſti den Naͤch⸗ ſten wie ſich liebt, der hat gegen den Geſetzgeber kunige Verehrung, gegen den Naͤchſten thaͤtige Liebe. |
15) Kaͤme die ſittliche Liebe fo weit, daß fie den Trieb des Geſetzes nicht mehr beduͤrfte: ſo waͤre ſie von einer Seite die hoͤchſte Liebe, und von der andern die hoͤch ſte Verehrung des Geſetzgebers, denn: fie hätte das ganze Maß ihrer Aufgabe erfüllet. 7 16) Die ſittliche Naͤchſtenliebe hat ſelbſt in der Ge⸗ ſetzesformel: „Liebe den Naͤchſten wie dich“, ſchon ein Ideal, das, als Ziel aufgeſteckt, ſtets neue Anforderun⸗ gen an den Menſchen macht. Denn die Geſetzesformel hat den Sinn: die Liebe gegen Andere waͤre nur alsdann vollendet, wenn ſie der Selbſtliebe gleich geworden waͤre: „Liebe den Naͤchſten wie dich.“ Der Selbſtliebe gleichkommen wuͤrde aber deine Menſchenliebe nur als⸗ dann, wenn ſie ſich ſo leicht, ſo ſchnell, ſo innig, ſo all⸗ gemein, ſo kraͤftig in die fremden Beduͤrfniſſe hineinfuͤhlen und zum Leben fuͤr Andere beſtimmen koͤnnte, als leicht, ſchnell, innig, allgemein und vollkraͤftig deine Selbſtliebe von deinen eigenen Beduͤrfniſſ en angeregt und zum Han⸗ deln beſtimmt wird. Da nun dieſes nur durch Approxi⸗ mation (allmaͤlige Annaͤherung), nie durch einmalige Er⸗ reichung moͤglich iſt: ſo iſt der Maßſtab der Vollkommen⸗ heit fuͤr die Naͤchſtenliebe ein Ideal, ein Ziel in den Wolken, dem ſie mit jedem Schritte, den ſie vorwaͤrts thut, naͤher kommen, das ſie aber mit keinem erreichen wird. Es hat aber auch dieſes Richtmaß einen doppelten Vorzug, der nicht uͤberſehen werden darf. Es iſt in des Menſchen Herz lit Aten, und iſt lebendig. Denn,
da
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da jeder Menſch das Gefühl ſeiner Beduͤrfniſſe ſtets in ſich und nothwendig in ſich trägt: fo trägt er auch zu⸗ gleich mit und in der Selbſtliebe das Richtmaß der Men⸗ ſchenliebe, und traͤgt es nothwendig in ſich. Und zwar traͤgt der Menſch dieſen Maßſtab nicht todt in ſich, ſon⸗ dern lebendig, indem das lebendige Gefühl feiner Beduͤrf⸗ niſſe zugleich ein lebendiges Richtmaß feiner Meuſchenliebe iſt — fuͤr Jeden, der edel genug iſt, davon Gebrauch ma⸗ chen zu wollen.
i leuchtet es 59 ein, in wiefern Liebe gebö⸗ ten werden kann. Sie kann es werden in dem Sinne: „Du, Menſch, ſollſt deine Natur zur Liebe bilden, ſollſt die Liebe deiner Natur immer mehr und mehr anbauen,“
oder: „Du, Menſch, ſollſt Alles thun, meiden, entbehren,
dulden, was gethan, gemieden, entbehrt, geduldet werden muß, damit du der ſittlichen Liebe erſtens: empfänglich werdeſt; damit zweitens: die ſittliche Liebe in ieh Wachsthume gefordert und dem Ideale der Voll⸗ endung naher gebracht werden koͤnne.“ .
Das Geſetz der Liebe hat alſo den großen Sinn: Die Liebe iſt die hoͤchſte fi ittliche Vollkommenheit, wozu ſi ch die Menſchheit bilden kann und bilden ſoll. Die Liebe gegen Andere iſt alſo geboten als Summe des Geſetzes,
und hat dieſe zwei Gebote: I. Thue, meide, entbehre, dulde
Alles, was gethan, gemieden, entbehrt, geduldet — dich der ſittlichen Liebe empfaͤnglich machen kann; II. thue, meide, entbehre, dulde Alles, was gethan, gemieden, ent⸗ behrt, geduldet — deine ſittliche Liebe naͤhren, ſtaͤrken, er⸗ hoͤhen, und dem Ideale der Liebe naͤher bringen kann.
13) Dieſe fo beſtimmte Naͤchſtenliebe iſt rein⸗menſch⸗ lich; denn da das Mitgefuͤhl (dieſe Theilnahme an Freu⸗ den und Leiden Anderer, die die Wahrnehmung derfelben begleitet, oder, wie es oben genannt ward, das Vermoͤgen, ſich in die Lage der Andern hineinzufuͤhlen, und darin ſi ch ſelbſt zu vergeſſen) der Menſchheit eigenthuͤmlich iſt, und
ſie uͤber die Thierheit erhebt; da dieß Mitgefühl die eigent⸗
liche Menſchheit ausmacht; da in Jedem, der das Gebot Chriſti von der Naͤchſtenliebe erfuͤllt, das Mitgefuͤhl rein
von allen Befleckungen und frei von allen e des
J. M. v. Sailer's ſaͤmmtl. Schriften. XIII. Bd. zte Auft. 9
9
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ſelbſtiſchen Gefuͤhls ſeyn muß: ſo iſt es offenbar, daß bie Liebe gegen Andere, in ſofern ſie als Naͤchſtenliebe dem Gebote Chriſti entſpricht, rein⸗menſchlich ſey. TR
19) Diefe rein⸗menſchliche Naͤchſtenliebe hat vor der bloßen Pflichtachtung drei Vorzuͤge. Denn 1) die ſittliche Liebe iſt gleichſam das geſunde Temperament der menſch⸗ lichen Natur, da die bloße Pflichtachtung noch eine Art Laͤhmung der menſchlichen Natur, naͤmlich eine Laͤhmung des Mitgefuͤhls, vorausſetzt. Das Geſetz der Liebe ent⸗ ſcheidet 2) in tauſend Fällen ſchneller und richtiger, als das Geſetz der bloßen Pflichtachtung. Denn ſchnell und richtig ertſcheidet z. B. das muͤtterliche Herz, voll heiliger Liebe, bei unzaͤhligen Vorfaͤllen, was die Mutter dem Kinde ſchuldig ſey; worin die kalte Pflichtachtung und die gleich kalte Pflichten⸗Deduktion viel zu ſpaͤt kommen wuͤrden. Das Prinzip der Liebe iſt 3) nicht nur ſchnell entſcheidend fuͤr das Gute in Geſinnung und That; es iſt auch hie⸗ nieden ſchon ein unendlich fruchtbarer Keim reiner Freu⸗ de, und wird druͤben, nach aller Ahnung der Vernunft und nach dem Ausſpruche der Offenbarung, die Seligkeit
ſelber ſeyn. 4
So gruͤndlich die Darſtellung der rein Mensch Liebe n. 60 immer ſeyn mag, ſo wuͤrde ſie doch, wenn fie als eine vollſtaͤndige Erklaͤrung des Geſetzes Chri⸗ fi: Liebe den Naͤchſten wie dich, angeſehen wiirde, dem großen Fehler der Einſeitigkeit unterliegen. Denn die Liebe, die Chriſtus lehrte, iſt nicht nur als Naͤchſte n⸗ liebe, im ſtrengſten Sinne des Wortes, rein⸗menſ ch⸗ lich, ſie iſt auch als allgemeine Menſchenliebe rein⸗gei⸗ ſtig, und in Hinſicht auf die eigentliche Lebensquelle rein⸗ himmliſch. Erſt in Vereinigung dieſer dreierlei Geſichts⸗ punkte erſcheint uns die ganze Wahrheit. 47
| ' 54. Die Liebe gegen Andere in ihrer reinen Geiſtigkeit. Wenn die Liebe gegen Andere in ihrer naͤchſten Rich⸗
tung rein⸗ menſchliches Mitgefühl iſt: fo iſt fie in ihrer Ausbreitung nothwendig ein rein⸗geiſtiges Wohlwollen
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(bene velle) gegen Alles, was Menfch iſt. Denn, wie das Mitgefuͤhl das Beduͤrfniß des einzelnen Menſchen wahr⸗ nimmt und nach Vermoͤgen ſtillt: ſo ſtrecket das Wohl⸗ wollen ſeine Arme gegen das ganze Geſchlecht aus, und liebt nicht in den einzelnen Menſchen die Einzelnheit, ſon⸗ dern in allen Menſchen das Eine, die urſpruͤngliche Anlage und die Beſtimmung, Gottes Bild zu ſeyn, das Weſen der Menſchheit in der Menſchen⸗ gattung. Dieß vermag nur der Menſchengeiſt, als Geiſt; denn nur der Geiſt hat das Vermoͤgen, das Eine in dem All der Menſchen zu erfaſſen, und obgleich er unfaͤhig iſt, Al⸗ len thätig zu helfen, ſo iſt er doch fähig, Alle zu lieben. Dieſe Ausbreitung der Liebe auf Alles, was Menſch iſt, dieſe Univerfalität der Naͤchſtenliebe, die keinen Menſchen ausſchließt, haͤngt nicht ab und kann nicht abhaͤngen a) von der beſtimmten Religion des Andern, nicht b) von dem Rufe feiner Tugend, nicht e) von dem Werthe feiner Ges lehrſamkeit, nicht d) von ſeiner Wohlthaͤtigkeit und Freund⸗ lichkeit gegen den Liebenden, nicht e) von Klima, Vater⸗ land, nicht 1) von ſeinen Beduͤrfniſſen oder irgend einer andern Individualitaͤt. Denn, wie koͤnnte ſonſt die Liebe gegen Andere in dem Gottloſen, in dem Ruchloſen, in dem Dummen, in dem Undankbaren, in dem Fremdlinge, ſelbſt im Feinde noch den Fond der Einen Menſchheit in's Auge faſſen und im Auge behalten? Die Liebe gegen Andere muß alſo, um allgemein ſeyn zu koͤnnen, rein von Eigennutz, der im Grunde doch nur Selbſtſuͤchtig⸗ keit iſt, muß rein von Parteilichkeit, die nur die Liebe des Einzelnen um der Einzelnheit willen ſeyn kann, muß rein von Eitelkeit und Selbſtvergoͤtterung, die nur eine andere Art der Selbſtſuͤchtigkeit iſt, muß frei ſeyn von Kälte und Traͤgheit, welche die Liebe nurn
beſchraͤnken, nicht ausbreiten kann, — das heißt, fie muß
rein⸗geiſtig ſeyn, um in ihrer Ausbreitung allumfaſſend ſeyn zu koͤnnen. |
Kurz: fie muß in dem Menſchen die Menſchheit (Got⸗ tes Bild), und im Bilde Gottes Gott ſelber lieben. Dieß allein giebt der Liebe gegen Andere den EN: des Alkgemefnen, und
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65. 7 Den Charakter des Reinhimmliſchen.
Es iſt ſchon (54. Nr. 6. 7.) bemerkt worden, daß die Liebe gegen Gott ein lauteres Leben, eine lautere Thaͤtig⸗ keit ſey, und dieſe ihre Thaͤtigkeit durch Gehorſam gegen alle Geſetze Gottes, und dieſen Gehorſam vorzuͤglich durch Menſchen⸗ und Naͤchſtenliebe erweiſe. Allein hier zeigt ſich auch dieß, daß die Menſchenliebe nicht bloß als Ge⸗ bot in dem Gebote der Liebe gegen Gott mitgegeben, nicht bloß als Erfuͤllung des zweiten Gebotes in der Er⸗ fuͤllung des erſten Gebotes ſchon mitbegriffen ſey, ſondern daß ſowohl die rein⸗menſchliche, als die rein⸗ gei⸗ ſti ge Liebe gegen Andere ihr Lebensprinzip von der ge⸗ bietenden Liebe gegen Gott herholen. Daß aber die Liebe gegen Andere ihre eigentliche Lebenskraft aus der Liebe gegen Gott herhole, erhellet am deutlichſten aus der Ge⸗ neſis der Liebe gegen Gott. Denn die Liebe gegen Gott iſt, in ihrem Urſprunge betrachtet, nach Paulus der le ben⸗ dige Glaube, nach Chriſtus die lebendige Erkennt⸗ niß Gottes und Chriſti, nach Ehriftus und Paulus das himmliſche Leben ſelber. ($ 57.) Wenn nun aber die Liebe gegen Gott das himmliſche, ewige Leben ſelber iſt: ſo muß dieſes Eine himmliſche, ewige Leben da, wo es herrſchend wird, den ganzen innern und aͤußern Menſchen, alſo auch die Liebe gegen Andere beherrſchen, und ſofort die Eine himmliſche Quelle aller gottgefaͤlligen Geſinnungen, und aller gottgefaͤlligen Handlungen, die in der Liebe gegen Andere zuſammengefaßt werden, ausmachen. Das rechte Lebensprinzip der Liebe gegen Andere it : alſo ein goͤttliches, ein rein⸗himmliſches.
Noch mehr: nicht nur holt die Liebe gegen Andere ihte Lebensfuͤlle aus der Liebe gegen Gott, ſondern die Liebe gegen Gott und die Liebe gegen age iſt Eine 80 dieſelbe Liebe
C. Die Liebe gegen Gott und die Menscheit als Einheit. a
Es iſt ger allem Streite, daß die Liebe in ihren —ͤ auf Gott und die * als eine Zweis
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heit erſcheine. Es laßt ſich a6 darthun, daß die Liebe wahre Einheit ſey, ſobald ſie namlich fo viel Energie, Lauterkeit und Beſtandheit gewonnen hat, daß ſie
im Gemuͤthe dominirt, und als dominirend das ganze Geſetz erfuͤllet. Denn, daß die anfaͤngliche unvoll⸗ kommene Liebe gegen Gott, und die anfaͤngliche unvoll⸗ kommene Liebe gegen die Menſchheit zweierlei getrennte Bewegungen des Gemuͤthes ſeyen, liegt helle da. Aber ſobald die Liebe gegen Gott wahre, vernuͤnftige, gebietende Liebe wird: da iſt ſie die heilige Einheit aller Be⸗ wegungen des Gemuͤthes gegen Gott und die Menſchheit; da iſt fie die heilige Einheit, als die Eine
dominirende Faſſung des Gott in Gott und Gott im Men⸗ ſchen liebenden Gemuͤthes; da iſt ſie die heilige Einheit,
als die Eine Erfuͤllung des ganzen Geſetzes. Dieß kann aus der Weſenheit der Liebe und des Schoͤnen, und aus der Weſenheit der Liebe gegen Gott 9 8 klar dargethan werden.
Was gebietende Liebe gegen Gott ſchon ſey, und was ſie noch werde.
Die gebietende Liebe gegen Gott iſt a) hienieden ſchon eine dreifache Vereinigung mit Gott.“) Denn ſie iſt als Gehorſam gegen alle Gebote, und als Ergebung in alle Fuͤhrungen Gottes, eine Vereinigung des menſchlichen Willens mit dem goͤttlichen; fie it Ein Wille mit Gott in Vollbringung des Ewigguten. Sie iſt als Gefuͤhl des Friedens aus Gott eine Vereinigung des menſchlichen Gemuͤthes mit der Seligkeit Gottes: ſie iſt Ein Gemuͤth mit Gott im Genuſſe des Ewig⸗ ſeligenz ſie it als das wahre, ewige Leben, als ein Erken⸗ nen Gottes und deſſen, den er geſandt hat (Joh. XVIII. 3.), eine Vereinigung des menſchlichen Geiſtes mit dem göttlichen; fie iſt Ein Geiſt mit Gott im Erkennen des Ewigwahren.
Allein dieſe dreifache Vereinigung mit Gott iſt noch nicht die vollendete, welche die ewige Seligkeit ausmacht,
) Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. ꝛte Ausgabe: München 1813. gr. s. 76-79. 8
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und ſomit den Grundtrieb nach Seligkeit befriediget, und kann hienieden keine vollendete werden, eben deßwegen, weil die Verknuͤpfung des irdiſchen mit dem uͤberirdiſchen Leben die Voͤlligkeit des Einsſeyns mit Gott unmoͤglich macht.
Die gebietende Liebe gegen Gott iſt eben deßwegen b) ein lebendiges Sehnen nach vollendeter Vereinigung mit Gott jenſeits dieſes Lebens, dem dieſe vollendete Ver⸗ einigung verheißen und aufgeſpart iſt (1 Joh. III. 1—3.), und wird 0) erſt drüben, wenn die Augen zur Anſchauung Gottes rein genug und vollends tuͤchtig ſeyn werden, voll⸗ endete Vereinigung mit Gott werden. Denn, ſobald alle Hinderniſſe der vollendeten Vereinigung gehoben ſind, ſo vollendet die Anſchauung Gottes im Schooße der Ewig⸗ keit, was der Glaube im Laufe der Zeit angefangen hat.
Es muß das erwartete divinae naturae consor- tium (2 Petr. I. 4.), dieß 1 und Q aller Verheißun⸗ gen, ſeine Erfuͤllung erhalten.
Alſo: die gebietende Liebe gegen Gott i hienieden ſchon eine anfaͤngliche Vereinigung mit Gott, und ein le⸗ bendiges Sehnen nach vollendeter Vereinigung mit Gott, und wird vollendete Vereinigung mit Gott — im Schaal der Ewigkeit.
*
Daß eben dieſe gebietende Liebe gegen Gott — benden ſchon eine heilige Einheit fey.
1) Alle Liebe iſt entweder außer ihrem Elemente oder in ihrem Elemente. Iſt ſie außer ihrem Elemente, ſo iſt ſie Hunger und Durſt nach vollendeter Vereinigung; denn die anfängliche kann fie nicht friedigen. Iſt fie in ihrem Elemente und ungehemmt, ſo iſt ſie vollendete Vereinigung. Da nun der Menſch, ſo lange er hienieden wallet, noch außer ſeinem Elemente ſich befindet: ſo iſt ſeine Liebe gegen Gott (bei all ihrem Einsſeyn mit dem Willen, mit dem Frieden, mit dem Erkennen Gottes) doch nichts an⸗ ders, als eine weitere Ausſtreckung der Geiſtesarme nach vollendeter Vereinigung mit Gott, und (in Beziehung auf den Abfall der urſpruͤnglichen Menſchheit) nach vollendeter Wiedervereinigung mit Gott.
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2) Wenn alle Liebe außer ihrem Elemente ein Seh⸗ nen nach vollendeter Vereinigung iſt, und erſt in ihrem Elemente vollendete Vereinigung werden kann: ſo muß aller Liebe — ein Schoͤnes korreſpondiren, das, nachdem es die anfaͤngliche Vereinigung angeregt hat, das Streben
nach der vollendeten rege macht, und dem liebenden Ge⸗
muͤthe, wenn es ſein Element erreicht hat, die Wonne der vollendeten Vereinigung gewaͤhrt. Es muß alſo auch der Liebe gegen Gott, Gott als das Urſchoͤne korreſpondiren. Da nun alles Schöne als ſchoͤn die Macht hat, das Seh nen nach vollendeter Vereinigung rege zu machen, und ſo⸗
bald das liebende Gemuͤth fein Element erreicht hat, bie,
Wonne der vollendeten Vereinigung zu ſchaffen: ſo wird wohl auch das Urſchoͤne in dem liebenden Gemuͤthe den Trieb nach vollendeter Vereinigung rege machen, und ſo⸗ bald es ſein Element erreicht hat, die Seligkeit der voll⸗ endeten Vereinigung gewähren. .
39 Wie alſo die Weſenheit des Schönen darin beſte⸗ het, daß es das Streben nach vollendeter Vereinigung an⸗ regt und friedigt: ſo wird die Weſenheit der Liebe darin beſtehen muͤſſen, daß fie, fo wie fie ſchon eine anfängliche Vereinigung mit dem Schoͤnen in ſich faßt, alſo auch ein Sehnen nach vollendeter Vereinigung ſey, und ſobald das Streben fein Element erreicht hat, vollem dete Vereinigung werde. So muß denn auch die Liebe des Urſchoͤnen nothwendig ein Streben nach voll⸗ endeter Vereinigung mit ihm ſeyn, bis ſie vollendete Ver⸗ einigung wird.
4) Da nun in den Menſchengeiſt ein unendliches Streben nach dem Unendlichſchoͤnen gelegt iſt: ſo iſt offen⸗ bar, daß, ſobald dieſes Streben erwacht, und ſeinen Gegen⸗ ſtand ahnet, und ahnend alles Uebrige opfert, die Liebe gegen Gott geboren ſeyn muͤſſe. Die Liebe gegen Gott iſt alſo jene Faſſung des Gemuͤthes, in der es a) ſich hienieden ſchon mit dem Urſchoͤnen vereinigt, weil aber dieſe Vereinigung nicht vollendet ſeyn kann, b) ſich wei⸗
ter nach dem Urſchoͤnen ausſtreckt, um ſich vollends mit
ihm zu vereinigen, und ſo lange ſich nach dem Mete F bis fie e) volle Vereinigung wird.
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5) Nun aber das Uefeöne iſt das Urſchoͤne für alle Geiſter, für alle Menſchen. In jedem Menſchengeiſte fin⸗ det das Urſchoͤne eine Spur der urſpruͤnglichen Menſchen ? wuͤrde; jeden Menſchengeiſt, in dem ſich das Vernunft⸗ weſen zu entwickeln beginnt, zieht es an ſich, um die Eine Vereinigung mit Allen zu bewirken. Wie alſo die Liebe gegen Gott im Menſchen herrſchend wird, gerade fo thaͤ⸗ tig arbeitet fie, in jedem Nachbar die Spur des Urſchoͤ⸗ nen aufzuſuchen, das Wohlgefallen an Gott und das Seh⸗ nen nach vollſtaͤndiger Vereinigung mit Gott in ihm rege zu machen, die Hinderniſſe derſelben aufzuheben, d. h. ſie iſt in ihrer erſten Tendenz — Liebe gegen Gott, und in ihrer nuͤchſten Arbeit — Liebe gegen den Naͤch⸗ ſten, liebt Gott in Gott und in jedem Gottesbilde.
Die Liebe gegen Gott und den Menſchen iſt alſo eine
Einheit. Sie iſt die Richtung des Gemuͤthes zum Schoͤ . nen, das 1) als Urbild — Gott; 2) als verklaͤrtes
Ebenbild — Engel, himmliſche Geiſterwelt; 3) als verhuͤlltes Ebenbild — Menf ch, Menſchenwelt heißt.
6) Wenn die Liebe gegen Gott jede Spur des Ur⸗ ſchoͤnen in andern Menſchen aufſucht, und jedes Mittel anwendet, um den Nachbar wieder mit Gott zu vereini⸗ gen, ſo erhellet, daß die Wiedervereinigung des Menſchen mit Gott der hoͤchſte Gegenſtand der Menſchenliebe als Liebe ſey. Die Liebe, die den Nachbar ſpeist, traͤnkt, kleidet, in Kunſt und Wiſſenſchaft unterrichtet, ſieht dieß nur als Einleitung in das große Werk, nur als Vorarbeit, als Interimsberuf an. Sie ſtillt die geringern Beduͤrfniſſe im Menſchen, weil der Koͤrper das Organ des Geiſtigen iſt; fie ſtillt die edlern Beduͤrfniſſe des Geiſtes, damit ſie in ihm das Gefuͤhl des O Se ſten rege machen und befriedigen kann.
2) Die Liebe gegen Gott und die Menſchheit it alſo eine heilige Einheit, ſie mag in dem liebenden Gemuͤthe den Trieb nach vollendeter Vereinigung mit Gott pflegen, oder ihn in dem Nachbar rege machen, oder dem Nach⸗ bar das Zeitliche darreichen, um in ihm den Hunger nach dem Ewigen zu erregen.
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8) Wenn nun aber die gebietende Liebe gegen Gott als Sehnen nach vollendeter Vereinigung mit Gott ſchon eine heilige Einheit aller Bewegungen gegen Gott und gegen die Menſchheit iſt: ſo wird ſie wohl auch, als voll⸗ endete Vereinigung mit Gott, Gott in allen Kindern Got⸗ tes, und alle Kinder Gottes in Gott, das Urſchoͤne in allem Schoͤnen, und jedes Schoͤne im Urſchoͤnen lieben, das heißt: ungetruͤbte Einheit ſeyn muͤſſen.
D. In wiefern das Geſetz von der Liebe, und das höchſte Ge⸗ ſetz für die Freithätigkeit des Menſchen Eines eye | .
Wenn das Geſetz: Liebe Gott uͤber Alles, und den Naͤchſten wie dich, von irgend einem Menfchen erfüllt, alſo in ihm die Liebe gegen Gott und gegen die Menſchheit eine ſiegende, allherrſchende Einheit geworden waͤre: ſo würde dieſer Menſch in allen feinen Beſchluͤſſen die hoͤch⸗ fie Freiheit — Gott, in allen feinen Bildungen des hoͤhern Schoͤnen das Urſchoͤne — Gott offenbaren. Denn, indem er, ſich ſehnend nach vollendeter Einigung mit Gott, all ſein Vermoͤgen und ſelbſt ſein Leben fuͤr die Menſchheit opferte, wuͤrde er in dieſer Selbſterhebung uͤber Natur, Welt — die goͤttliche Freiheit, dieſe abſolute Un⸗ abhaͤngigkeit, wie im Bilde darſtellen. Indem er, ſich ſehnend nach vollendeter Vereinigung mit Gott, nicht muͤde wuͤrde, an der Einigung der andern Meuſchen mit Gott zu arbeiten: ſo wuͤrde er ſelbſt ein lebendiges Bild des Urſchoͤnen werden, d. h. Gott als das IR choͤne im Bilde offenbaren.
Das Geſetz: Du ſollſt Gott uͤber Alles und den
Nauͤchſten wie dich ſelbſt lieben, iſt alſo nur ein anderer
Ausdruck des hoͤchſten Geſetzes fuͤr den menſchlichen Wil⸗ len: Du menſchlicher Wille ſollſt in allen deinen Bewe⸗ gungen die hoͤchſte Freiheit — Gott, und in allen Bil⸗ dungen des hoͤhern . das Urſchoͤne — eh of⸗ 8 0
Nur ein anderer Ausdruck derſelben Wahrheit, aber ein ſolcher, der ſich durch Klarheit, Beſtimmtheit und Anwendbarkeit auszeichnet, indem a) der Liebe ihr
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hoͤchſter Gegenſtand, das Goͤttliche, angewieſen, b) das zweite Gebot von der Naͤchſtenliebe — dem erſten von der Liebe Gottes gleichgeſtellt, und e) das Richtmaß der Naͤch⸗ ſtenliebe uns in der Selbſtliebe nahe gelegt wird. * Möchten doch alle Forſcher fo glücklich in ihrem Forſchen ſeyn, daß ihr Fund mit der ewigen Wahrheit, die ſich fo klar offen: baret, zuſammenträfe, und jo demüthig, es laut zu bekennen: daß ihre Aufhellungen doch nur ſchwache ae des ewi⸗ gen Lichtes ſeyn konnen!
F. III. Der höchſte Grundſatz der Moral.
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Es iſt außer Zweifel, oder kann (ohne muͤhſame Er⸗ oͤrterung) außer Zweifel geſetzt werden, daß das Geſetz von der Liebe Gottes und des Naͤchſten das erſte, hoͤch⸗ ſte Geſetz des Menſchen ſey, weil, wie Gott, als das We- ſen aller Weſen, kein anderes uͤber ſich hat, keines uͤber ſich haben kann, ſo auch die Liebe, als das Geſetz der Geſetze, kein anderes uͤber ſich hat und keines haben kann. Wenn man nun unter dem hoͤchſten Grundſatze der Mo⸗ ral nichts anders verſteht, als das erſt e, hoͤchſte Ge ſetz des menſchlichen Willens: ſo iſt die Frage: Was der hoͤchſte Grundſatz der Moral ſey? ſchon geloͤ⸗ ſet. Wenn uns aber der Grundſatz der Moral nicht bloß das hoͤchſte Geſetz für das ſittliche Handeln, ſon⸗ dern das hoͤchſte Prinzip fuͤr das richtige Er⸗ kennen dieſes erſten Geſetzes, und zwar in ſeiner Aus⸗ dehnung auf alle einzelnen Gebote, und in ſei⸗ ner Anwendung auf alle Verhaͤltniſſe des menſchlichen Lebens, und dann auch noch das hoͤch⸗ ſte Prinzip fuͤr das richtige Erkennen aller jener ſittlichen Regeln, die keine eigentlichen Gebote ſind, als der Raͤthe, die nur zum Beſſern einladen, ohne es ſchlecht⸗ hin zu gebieten, o oder der Vernunftrechte, die als Be⸗ fugniſſe zum Ja und Nein das eigentliche Gebotenſeyn des Einen oder des Andern ausſchließen, bezeichnete: ſo wäre die Frage offenbar noch nicht geloͤſet, ſondern erſt noch zu loͤſen, wie ſie denn auch in den nauchſtehen den Nummern geloͤſet wird.
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1) Wenn wir den Grundſatz der Moral in dem an⸗ gegebenen Sinne aufſuchen: ſo ſtoßen wir auf mancherlei hoͤhere Grundſaͤtze, die als weitere Gefaͤße neben vie⸗ lem andern, das ſie enthalten, auch das Geſetz der Liebe in ſich faſſen. So haben Fenelon und ſein In⸗ terpret Ramſaͤy, die in der heiligen Liebe das hoͤchſte Ge⸗ ſetz alles menſchlichen Wollens anerkannten, als hoͤchſtes Prinzip aller Moral den Grundfag, von dem in der Erklaͤrung der Liebe §. 54. ſchon Gebrauch gemacht ward, aufgeſtellt: Liebe und achte jedes Weſen nach ſeiner Wuͤrde, nach ſeinem innern Werthe. Sie lehrten: Die beſte Regel fuͤr den endlichen Willen ſey ohne Zweifel die Regel des unendlichen Willens. Nun aber liebt Gott ſich ſelbſt mit abſoluter Liebe, weil er das abſolut hoͤchſte Gut iſt, und liebt alle ſeine Geſchoͤpfe nach ihrer Theilnahme an dem hoͤchſten Gute, das Er ſelber iſt. Dieſe Regel des göttlichen Willens iſt das Univer⸗ ſalgeſetz aller Intelligenzen, iſt das ewige, iſt das unwandelbare Geſetz. Aus dieſem ihrem hoͤch⸗ ſten Grundſatze leiteten ſie alle andere Geſetze, alle Tugen⸗ den, göttliche, menſchliche, bürgerliche, fittliche ab.
Aus dieſem Grundſatze gieng ihnen hervor I. die hoͤch⸗ ſte Liebe gegen Gott uͤber alles Andere, wie es die hoͤchſte Wuͤrde, die Erhabenheit ſeines Weſens gebeut: daher die Religion; II. die Liebe und Achtung gegen alle Weſen, die Gott geſchaffen hat: daher der Reſpekt fuͤr Weſen, die uͤber uns, und das Mitleiden mit denen, die unter uns ſind; III. die Liebe und Achtung gegen die Weſenklaſſe, zu der wir gehören: daher die Hum a⸗ nität, die Philanthropie; IV. die Liebe und Ach⸗ tung gegen die Menſchengemeinde, in deren Geſellſchaft wir geboren worden und leben: daher die Vaterlands⸗ liebe und alle buͤrgerliche und politiſche Tugenden; V. die Liebe und Achtung gegen die Menſchen, die das Werk⸗ zeug unſers Daſeyns geworden ſind, und mit denen wir verbunden ſind durch die Bande des Blutes: daher die Familienliebe, und die Pietät gegen die Eltern; VI. die Liebe und Achtung gegen uns ſelbſt, als Theil⸗ chen des großen Univerſums: daher die geregelte Selbſt⸗
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liebe, die eben deßhalb den letzten Platz einnimmt. Denn es waͤre abenteuerlich, ſich der ganzen Familie, die Fami⸗ lie dem Vaterlande, das Vaterland dem Menſchengeſchlechte vorziehen wollen. Die vernünftige Liebe fängt von dem Univerſalen an, und ſteigt ſtufenweiſe zum Beſondern herab. Aimer chaque chose selon la dignite de sa nature, est dono la loi universelle, éternelle et immusble de tou- tes les intelligences, (Essai sur le gouvernement civil selon les principes de Mr. Fenelon. a Londres 1722.)
Der Grundſatz Fenelon's und feines Freundes iſt alfo der: Die Würde des Weſens ſey der Maßſtab der Ach⸗ tung und Liebe. Da nun Gott die heiligſte und beſeligend⸗ ſte Liebe ſey, alſo das verehrungs- und liebenswuͤrdigſte Weſen, ſo gebuͤhre ihm die hoͤchſte Liebe und die hoͤchſte Ver⸗ ehrung. Da aber die Menſchheit in mir und in jedem Menſchen gleiche Wuͤrde habe, ſo muͤſſe die en ei der Selbſtliebe gleich ſeyn.
Reinhard fuͤhrt das Geſetz von der Liebe Gottes und des Menſchen auf den Grundſatz zuruͤck: Handle ſo, wie es der Wuͤrde, dem Werthe und der Wohlfahrt deines Weſens gemaͤß iſt; faßt aber hernach Wuͤrde, Werth und Wohlfahrt unſerer Natur in dem Mittelpunkte der Vollkommenheit zuſammen, die er am Ende mit der Ver nuͤnftigkeit verſchmelzt. (Sittenl. II. Bd. S. 93. 3. Aufl.) a
2) Abgeſehen davon, ob das Geſetz der Liebe als das hoͤchſte Prinzip des Erkennens ſtttlicher Vorſchrif⸗ ten angeſehen werden koͤnne, oder wicht, fo viel liegt helle da: Wenn es auch unfaͤhig ſeyn ſollte, hoͤchſtes Prinzip. des Erkennens zu ſeyn, ſo kann und darf es doch als das hoͤchſte Prinzip des Handelns, d. i. als die allbeſtimmende Willensmarime angeſehen werden. Denn, wer als Gott⸗ liebend ſich Gott als Urbild zum Muſter al⸗ les Guten, und Gottes Willen als Geſetz alles Guten zur hoͤchſten Richtſchnur; wer als Menſchen⸗ liebend das Wohl des Naͤchſten ſich zum ſtaͤten Augenmerke, gleich jes nem der Selbſtliebe, macht: der kann nicht anders als gut ſeyn und gut handeln. Es wird a) gut ſeyn und
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gut handeln in Hinſicht auf Gott, bubem er, Gott als das Urbild alles Guten, und als Geſetzgeber alles Guten
uͤber Alles liebend und verehrend, den Willen des Heiligſten ſeine hoͤchſte Richtſchnur in allen ſeinen Entſchließungen und Zwecken, und in allem Thun und Laſſen ſeyn laͤßt. Aehn⸗ lich dem Guten (der der Gute ſchlechtweg iſt und heißt — Gott, kann er nicht anders, als nach dem Maße dieſer Aehnlichkeit ſelbſt gut ſeyn. Er wird b) gut ſeyn und gut handeln in Hinſicht auf andere Menſchen, indem er, von der Liebe gegen Gott beſeelt, das Wohl der Menſchheit, in der ihm Gottes Bild zuruͤckſtrahlt, zu ſeinem ſtaͤten Au⸗ genmerfe macht, Gott in den Menſchen ehret. Das Gute ehrend und nachbildend, kann er nicht anders als nach dem Maße ſeiner Nachbildung gut ſeyn. Er wird o) gut ſeyn und gut handeln in Hinſicht auf ſich ſelber, indem er die Erhaltung und Vervollkommnung ſeiner ſelbſt als eine Bedingung, ohne die er das hoͤchſte Gemeingut der Menſch⸗ heit nicht foͤrdern koͤnnte, und als einen Ausſpruch des göttlichen Geſetzes anſtieht, und ſomit die Menſchheit in ſich ſelber und in der Menſchheit Gott ehrt. Das Gute (Gott) ehrend in Erhaltung und Vervollkommnung ſeiner ſelbſt, kann er nicht anders, als nach dem Maße wichen Vereh⸗
rung des Goͤttlichen, gut ſeyn.
3) Der Grundſatz: Liebe Gott von ganzem Herzen, den Naͤchſten wie dich, iſt als Beſtimmungsgrund des Ge⸗ muͤthes, als Maxime des Handelns a) ſo rein, und b) ſo vollſtaͤndig, daß er als Grundgeſetz des menſch⸗ lichen Willens angeſehen werden kann, d. i. wer den ge⸗ bietenden Entſchluß hat, Gott uͤber Alles, und den Naͤchſten wie ſich zu lieben, der hat die Gemuͤthsſtimmung, die ein Menſch haben kann und haben ſoll, um alle die einzelnen Gebote des Gewiſſens nach dem Geiſte dieſer Forderungen zu erfüllen; ‚denn a) wer dieſen gebietenden Entſchluß hat, der macht die Heiligung und Beſeligung des menſchlichen Ge⸗ ſchlechtes, die der ewige Wille Gottes iſt, zu ſeinem Zwecke, ſtrebt alſo das hoͤchſte Gemeingut zu realiſiren, ſtrebt alſo nach hoͤchſter fittlicher Gottaͤhnlichkeit in Geſinnung, Zweck, That; ſchlaͤgt alſo alle Herrſchaft ſelbſtſuͤchtiger Neigungen zu Boden, iſt alſo rein gut. Dieſer Entſchluß umfaßt
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b) als Liebe gegen Gott alle einzelne Gebote Gottes (alſo auch die der Selbſterhaltung, Selbſtvervollkommnung); die⸗ ſer Entſchluß umfaßt als Liebe gegen Andere nicht nur die ganze Menſchheit, ſondern auch alle Bedingungen, ohne die das hoͤchſte Gemeingut der Menſchheit nicht gefoͤrdert wer⸗ den kann (alſo auch die noͤthige Selbſterhaltung und Selbſt⸗ vervollkommnung). Wer alſo dieſen gebietenden Entſchluß hat, it vollſtaͤndig ⸗ gut. Die Liebe gegen Gott und die Menſchen iſt alſo als Prinzip des Willens ſo rein und vollſtaͤndig, daß es alles Sittlichgute ein⸗ und alles Sitt⸗ lichboͤſe ausſchließt. Sie gruͤndet alſo da, wo ſie gebeut, eine Gemuͤthsſtimmung, die rein⸗ gut und vollſtaͤndig⸗ gat iſt, kann alſo als Grundgeſetz des menſchlichen Willens angeſehen werden.
4) Wie das Geſetz der Liebe als Grundgeſetz des menſchlichen Willens angeſehen werden kann: ſo iſt ſie, die Liebe ſelber, wirklich ein praktiſches Moralprinzip, iſt das einzigguͤltige praktiſche Moralprinzip, und hat als praktiſches Moralprinzip den Charakter des Allgemei⸗ nen, des Nothwendigen, des Leichtanwendbaren und des Leicht verſtaͤnd lichen; denn”) die allgemeine, nothwendige Bedingung Alles, was wir ſittlich gut nennen, iſt a) der reingute Wille, weil ohne ihn auch die ausge⸗ zeichnetſten, ſowohl geiſtigen als phyſiſchen Guͤter des Men⸗ ſchen alles ſittlichen Werthes ermangeln, durch ihn aber auch das Unanſehnlichſte einen ſittlichen Werth erhaͤlt. Rein⸗ gut iſt b) nur jener Wille, deſſen Geſetze und Triebfedern weder aus der ſinnlichen noch aus der perſoͤnlich eigenen Natur, ſondern allein aus der hoͤhern geiſtigen Natur ge⸗ nommen ſind. Die hoͤhere geiſtige Natur des Menſchen iſt c) in ihrem unverderbten Zuſtande, Gottes Ebenbild. In ſofern die hoͤhere Natur des Menſchen Gottes Ebenbild iſt, ſtellet ſich d) das goͤttliche Weſen in dem menſchlichen dar. Das an ſich Gute des reinen Willens iſt alſo e) das goͤtt⸗ liche Weſen ſelber, ſich offenbarend in dem Menſchen. Alle 8 des Menſchen ſind alſo f) nur dadurch gut,
) Auch in dieſer Darstellung aus den Tiefen der Philoſophie, | * ſich der Scharfſinn des Prof. Widmer.
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daß fie mit dem goͤttlichen Willen, als dem Guten an ſich, und untereinander uͤbereinſtimmen. Denn, wie in dem ge⸗ ſunden, leiblichen Organismus das Leben und die Geſetze ſeiner Offenbarung, der Lebensprozeß und die einzel⸗ nen Lebeusfunktionen, in ungeſchiedener fortwährender Eins heit beſtehen: ſo muͤſſen auch in dem geſunden Zuſtande der | Sittlichkeit die einzelnen Handlungen des Menſchen in ſtaͤ⸗
ter Einheit mit dem Goͤttlichen, mit dem Guten an ſich, und untereinander beſtehen, und nichts anders ſeyn, als harmoniſche Offenbarungen des Goͤttlichen. Sind aber im Menſchen dieſe Handlungen von dem Goͤttlichen getrennt, ſind Handlungen und Triebfedern der Handlungen geſchie⸗ den von dem Goͤttlichen: ſo iſt g) die Menſchheit erkrankt, und ihre Geneſung kann nur aus Wieder vereini⸗ gung hervorgehen, indem nur dadurch der ſittliche Lebens⸗ prozeß wieder ſeine ungehemmte Wirkſamkeit gewinnen wird. Der Trieb zur Wiedervereinigung, der den ſittlichen Lebens⸗ prozeß wieder herſtellt, iſt h) die ſittliche Liebe. Da das Göttliche das Leben aller Sittlichkeit iſt: ſo kann i) die ſittliche Liebe in nichts Anderm beſtehen, als in dem Be⸗ ſtreben des goͤttlichen Ebenbildes im Menſchen, ſich mit ſei⸗ nem Urbilde zu vereinigen. Da nun in jedem Menſchen, der nicht mehr im Zuſtande der Rohheit ſchlummert, von Gottes Ebenbilde noch Spuren vorhanden ſind, z. B. in dem Gewiſſenstriebe: ſo muß k) in jedem Menſchen die Anlage zur ſittlichen Liebe vorhanden ſeyn, und zum Vor⸗ ſchein kommen, ſobald die im Wege ſtehenden Hinderniſſe gehoben ſeyn werden. Weil der Urſprung der ſittlichen Liebe — das Goͤttliche im Menſchen, ihr Zielpunkt aber Gott ſelber iſt, fo heißt J) die ſittliche Liebe — Liebe gegen Gott. Wenn das Sittliche eine Entfaltung und Offenbarung des Goͤttlichen im Menſchen iſt, das Goͤttliche aber nur durch die Liebe gegen Gott entfaltet und geof⸗ fenbaret wird: ſo iſt m) die Liebe gegen Gott ein Mo⸗ ralprinzip, weil ihr alles ſittliche Gute ſeinen Urſprung, Beſtand, Vollendung verdankt. Sie iſt n) praktiſches Moralprinzip, indem ſie nicht etwa wie ein theore⸗ tiſcher Grundſatz, ein allgemeines Geſetz auf einzelne Hand⸗ lungen bezieht, und ſie durch dieſe Beziehung als ſittlich
im Bewußtſeyn begründet, ſondern das ſittliche Leben ſel⸗
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ber iſt, das nur gute Handlungen erzeugen kann. Sie iſt o) einzig guͤltiges, praktiſches Moralprinzip, weil es außer ihr nichts giebt, was den Menſchen vor allem Boͤſem bewahrt, und zu allen ihm moͤglich guten Handlungen ſo kraͤftig antreibt. Sie hat als praktiſches
Moralprinzip p) den Charakter der Allgemeinheit,
weil ſie als Anlage in allen Menſchen vorhanden iſt, und als herrſchend, in allen Beziehungen des menſchlichen Le⸗ bens das Boͤſe vom Guten ausſcheidet. Sie hat als prak⸗ tiſches Moralprinzip 9) den Charakter der Nothwendig⸗ keit, weil jene Ausſcheidung ihr nicht zufaͤllig, ſondern
aus ihrer Natur hervorgehend iſt, ſo zwar, daß die Liebe
eher erloͤſchen wuͤrde, als daß in ihrem Wirkungskreiſe
etwas Boͤſes geſtattet werden koͤnnte. Sie hat als prak⸗
*
tiſches Moralprinzip r) den Charakter, daß fie leicht ans
wendbar iſt, indem ſie nach Art eines Inſtinktes ohne
kuͤnſtliche Reflerion, den Willen des Menſchen vom Boͤſen weg, zum Guten hinhaͤlt. Sie hat den Charakter s) des Leichtverſtaͤndlichen, weil Jedermann das, was in ihm lebt, leicht erkennen mag, die Liebe aber das eigent⸗
liche Leben des Menſchen iſt. Sie ſpricht nicht, wie eine
gegen Gott und die Menſchheit eine heilige Einheit
theoretiſche Formel, für Alle gleich, ſondern der Beſchaffen⸗ heit, ſomit der Faſſungskraſt eines Jeden angemeſſen. 5) Wenn die Liebe das praktiſche Moralprinzip iſt, ſo wird der Grundſatz der Liebe, wohl auch als ein theoretiſches Prinzip, als Erkenntnißgrund
für die Moral angeſehen werden koͤnnen. Denn in dem
Satze: Liebe Gott uͤber Alles (recht verſtanden), koͤnnen a) alle einzelne Pflichten in Hinſicht auf Gott mitbefaſſet
werden; in dem Satze: Liebe den Naͤchſten wie dich, koͤn⸗ nen b) alle Pflichten des eigentlichen Wohlwollens in Hin⸗ ſicht auf andere Menſchen gefunden werden. Da aber die Liebe gegen den Naͤchſten eine ſittliche, alſo eine vernuͤnf⸗
tige, alſo auch mit Achtung verknuͤpfte Liebe iſt, ſo faßt
der Satz: Liebe den Naͤchſten wie dich, in ſofern er Ach⸗ tung mit einſchließt, c) auch die Pflichten der Gerechtig⸗ keit in Hinſicht auf Andere in ſich. In wiefern die Liebe
ſey,
f
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ſey, und daß in dieſer Betrachtung d) die Liebe gegen Gott — zugleich Liebe gegen die Menſchheit ſey, bedarf keiner Wiederholung. Was die Pflichten gegen mich ſelbſt betrifft, fo können fie e) aus einem zweifachen Ge⸗ ſichtspunkte betrachtet werden. Denn alle Selbſterhaltung und Selbſtvervollkommnung kann man als Gebote Got⸗ tes, die wir als gottliebend zu unſrer hoͤchſten Richtſchnur machen ſollen, und als Bedingungen anſehen, ohne die wir die ſittliche Gottaͤhnlichkeit in uns nicht foͤrdern koͤnnen. In dieſer Betrachtung faͤllt die Selbſterhaltung und Selbſt⸗ vervollkommnung mit der praktiſchen Liebe gegen Gott in Eins zuſammen. Selbſterhaltung und Selbſtvervollkomm⸗ nung iſt aber auch die unerlaͤßliche Bedingung, ohne die wir das hoͤchſte Gemeingut, Heiligkeit und Seligkeit, nicht realiſiren, alſo die Pflichten gegen Andere nicht er⸗ füllen koͤnnen. In dieſer Betrachtung fällt die Selbſt⸗ erhaltung und Selbſtvervollkommnung mit der Liebe gegen Andere in Eins zuſammen. Es kann alſo Selbſterhaltung und Selbſtvervollkommnung als hervorgehend aus der Liebe gegen Gott, und als hervorgehend aus der Liebe gegen Andere betrachtet werden. 8
6) Indeſſen, wenn ſchon der Grundſatz der Liebe auch als Erkenntnißgrund der Moral angeſehen werden kann: ſo iſt er doch weder im Gange des Denkens der oberſte, weil wir ihn auf hoͤhere zuruͤckfuͤhren koͤnnen: noch zur Vollendung der Ethik ſelbſt der ſich allein genugſame, weil wir ihn mit hoͤhern Grundſaͤtzen der Vernunft, fo wie mit mancherlei klaren Ausſpruͤchen der chriſtlichen Offen⸗ barung verbinden muͤſſen, um die Ethik zu vollenden.
2) Der vollſtaͤndige Erkenntnißgrund der Moral fuͤr den Chriſten iſt theils ein innerer, naͤmlich die klaren Ausſpruͤche von dem Willen Gottes in der vernuͤnftigen Natur des Menſchen, in wiefern in ihr der Gewiſſens⸗ trieb ſchon lebendig und der Lichtfunke durch keine Leiden⸗ ſchaft getruͤbt iſt; theils ein aͤußerer, die klaren Aus⸗ ſpruͤche Chriſti von dem Willen Gottes, die in den Offen⸗ barungs⸗ Urkunden, in der Tradition und in der chriſtlichen Kirche hinterlegt ſind. Demnach iſt alles das Pflicht fuͤr dich, was dir in dem hoͤchſten Grundſatze des
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften, XIII. Bd. zte Aufl. 10
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Menſchen: gehörche der vernuͤnftigen Natur, und in dem hoͤchſten Grundſatze des Chriſten: gehorche dem Ausſpruche Chriſti, als Pflicht auferlegt iſt.
8) Es kann aber auch die Pflicht: gehorche dem Aus⸗ ſpruche Chriſti, als noch in dem Grundſatze: gehorche der vernünftigen Natur enthalten, angeſehen wer⸗ den. Denn, ſobald der Menſch den Ausſpruch Chriſti fuͤr Gottes Wort erkennet, ſo thut in ihm die Vernunft ſelber den Ausſpruch: gehorche dem Worte Gottes, das ſich durch Chriſtus ausſpricht, gehorche der hoͤchſten Wahrheit, fie mag ſich für dich zu⸗ naͤchſt in deinem innerſten Selbſtbewußtſeyn, oder durch Chriſtus ausſprechen. Somit waͤre der vernünftige Glaube des Chriſten nichts anders, als der Actus des Gehorſames gegen ſeine Vernunft, gegen ſein eigenes Gewiſſen, gegen die Stimme Gottes, die er in ſich vernimmt — drei Ausdruͤcke, die daſſelbe ausſagen. Der vollſtaͤndige Erkenntnißgrund des goͤttlichen Sittenge⸗ ſetzes iſt alſo auch für den Chriſten in dem Grundſatze zu⸗ ſammenfaßbar: gehorche der vernünftigen Natur.
9) Der vollſtaͤndige Erkenntnißgrund der Sittenlehre iſt alſo in dem Einen Grundſatze ausgeſprochen: gehor⸗ che der vernünftigen Natur, in ſofern a) der Lichtfunke, der ihr nach dem Falle noch gelaſſen iſt, von keiner Leidenſchaft, keinem Vorurtheile getruͤbt iſt; in ſo⸗ fern b) ſie in der urſpruͤnglichen Menſchheit aus Gott kam, oder in Chriſtus erneuert ward.
10) Daß dieſer Grundſatz: gehorche der ver⸗ nuͤnftigen Natur, der hoͤchſte ſey, erhellet daraus, daß er das Hoͤchſte im Begriffe, und das Hoͤchſte in der Idee in ſich faßt. Denn, da die vernünftige Natur das Ver⸗ mögen, das Goͤttliche, Ewige zu vernehmen, und das Vermoͤgen, beiderlei Wahrnehmungen, die ſinnlichen und uͤberſinnlichen, zu verſtehen, in ſich ſchließt, und in ſich ſchließen muß, in ſofern dem Menſchen mit einer verſtandloſen Vernunft ſo wenig, als mit einem 4 vernunftloſen Verſtande in feiner Laufbahn gedient ſeyn könnte: ſo faßt der Grundſatz: gehorche der ver⸗ nuͤnftigen Natur, das Hoͤchſte in ſich, was der Begriff 4
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ohne Bewußtſeyn des Goͤttlichen geben kann:
Menſch, ſey einſtimmig mit dir ſelber im Wollen, wie
im Denken, und das Hoͤchſte in der Idee: Menſch,
ſey einſtimmig mit der hoͤchſten Vernunft — mit Gott.
11) Daß dieſer Grundſatz: gehorche der vernuͤnftigen
Natur, der hoͤchſte und vollſtaͤndige Grundſatz aller Moral ſey, iſt gerade ſo einleuchtend, als es dem Forſcher ein⸗ leuchtend werden kann, daß derſelbe Grundſatz a) alle formale und reale Grundſaͤtze der Moral, b) alle Aus⸗ ſpruͤche von dem heiligen Geſetze, ſie moͤgen im Gewiſſen des Menſchen oder in der chriſtlichen Offenbarung gege⸗ ben ſeyn, und o) die Prinzipien einiger neuern Philoſo⸗
phen (in ſofern fü ſie, wenn auch einſeitig, etwas Wahres ausſprechen), in ſich faſſe.
I. Gienge die Erforſchung des Moraliſten nicht aus dem Menſchen heraus, ſo haͤtte bei ihm der Grundſatz: gehorche der vernuͤnftigen Natur, keinen hoͤhern Sinn, als den bekannten: „Menſch! ſey einſtimmig mit dir im Wollen, wie im Denken.“
*Dieß iſt der Grundſatz der ſittlichen Konſequenz, der gerade ſo
unzureichend iſt, den ſittlichen Menſchen zu bilden, * den ver⸗ nünftigen.
II. Wird die vernuͤnftige Natur in ihrer Verbindung mit der ſinnlichen und dieſe in ihrem Widerſtreite gegen jene betrachtet, jo erhält der Grundſatz: gehorche der vers nuͤnftigen Natur, den Ausdruck: „unterwirf die ſinn⸗ liche Potenz der vernuͤnftigen, und um die Un⸗ terwuͤrfigkeit jener unter dieſe zu behaupten, ſey ſtets kampfruͤſtig wider jene und für dieſe.“ * Diefer Grundſatz iſt real, ſagt ſchon mehr, alſo eine bloße Kon⸗ N ſequenz, und paßt auf den jetzigen Menſchen.
III. In wiefern die vernuͤnftige Natur nothwendig freithaͤtig iſt, und das intelligente Weſen mit der koͤrper⸗ lichen Huͤlle umgeben und von der Natur beenget iſt, mag der Grundſatz den Ausdruck erhalten: „Strebe, immer freithätiger, von Sinnlichkeit, von der Natur unabhängiger, und zum freien Vernunftge⸗ brauche tuͤchtiger zu werden.“ |
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* Fichte's Grundſatz, dem nur die Reduktion auf das Bewußt,
ſeyn Gottes (Vernunft), und auf das lebendige Gefühl un.
ſerer Abhängigkeit von Gott (Religion), mangelt.
IV. Wenn fuͤr vernuͤnftige Weſen ein Reich der Zwecke f ſtatuirt wird, fo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der ver- nuͤnftigen Natur, den Ausdruck: „Sey du und kein
vernuͤnftiges Weſen dir je bloß Mittel zum Zwecke.“ Behandle die vernuͤnftige Natur weder in dir noch in Anderen je als bloßes Mittel.
* Grundſatz der kritiſchen Schule, der volle Wahrheit gewinnt, ſobald das Reich der Zwecke ein lebendiges Ober haupt,
und in Gott das Eine Wahre bekommt, und der höchſte Zweck f
alles Handelns richtig beſtimmt wird.
V. Wird die Natur vorerſt nach ihrer Boa nö f keit, dann in ihrer Produktivitaͤt betrachtet, fo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der vernünftigen Natur, den
Ausdruck: „Widerſtreite du den Zwecken der Natur nicht, ſey vielmehr in deinem Theile, was die Natur im Ganzen iſt.“ |
a) Widerſtreite den Zwecken der Natur nicht. So bezweckt z. B. der Selbſterhaltungstrieb die Fortdauer des Individuums, der Fortpflanzungstrieb die Fortdauer der
Gattung. Nun aber gewiſſe Handlungen, z. B. Selbſt⸗ mord und die unnatuuͤrliche Wolluſt, widerſtreiten dieſen
Zwecken der Natur, ſie ſind alſo verboten.
b) Sey du vielmehr in deinem Theile, was die Natur im Ganzen iſt, das heißt hier: Ahme die Natur in ihren Bildungen nach. Wie die Natur, wenn ſie Blumen, Thiere ꝛc. bildet, lauter phyſiſche Tota bildet, und von innen her aus bildet: ſo bilde du ein geiſtiges Ganze aus dir — und bilde es von innen heraus. Ahme du nicht den Bildhauer nach, der nie am Ganzen zugleich, ſondern nur an einem
Theile, jetzt an dieſem, nachher an einem andern arbeitet;
ahme du die Natur nach, die in jedem Keime des Gan⸗ zen alle Theile zugleich anlegt, und fie mit einander her⸗ vorbringt — von ihnen herausſchaffet. Die Lauterkeit des Zweckes und die Macht des Vorſatzes vereint —
e
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bilden ein ſittliches Gange in dir, und bilden 18 von in⸗
nen heraus. ll 2
*) Baco hat vor andern dieß als Gründe aller moraliſchen Bildung in feinem Meiſterwerke de augmentis et dignitate
scientiarum am richtigſten erfaßt: ö Quam ob rem concludemus hane partem de cultura ani-
mi cum eo Bemedio, quod omnium est maxime compendio- sum et summarium, et rursus maxime nobile et eficax, quo animus ad virtutem efformetur et in statu collocetur perfe- etioni proximo.
Hoc autem est, ut fines vitae actionumque deligamus et nobis ipsis proponamus, rectos, et virtuti congruos, qui ta- men tales sint, ut eos assequendi nobis aliquatenus suppe- tat facultas. Si enim, haec duo supponantur: ut et fines actionum sint honesti et boni, et decretum animi de is as- sequendis et obtinendis fixum sit et constans, sequetur, ut continuo vertat et efformet se animus, una opera, in virtutes omnes. Atque haec certe illa est operatio, quae naturae ip- sius opus referat, cum reliquae, uti diximus, videantur esse ‚solummodo sicut Opera manus. Quemadmodum enim statua- rius, quando simulacrum aliquod seulpsit aut ineidit, illius - solummodo partis figuram effingit circa quam manus occupata _ est, non autem ceterarum: (veluti si faciem efformet, corpus reliquum rude permanet et informe saxum, donec ad illud quoque pervenerit); econtra vero natura, quando florem
molitur aut animal, rudimenta partium omnium simul parit
et producit: eodem modo, quando virtutes habitu acquirun- tur, dum temperantiae incumbimus, ad fortitudinem aut ali-
. quas partes non proficimus. Quando autem rectis et hone- stis finibus nos dedicaverimus penitus, et devoverimus: quae- cunque fuerit virtus, quam animo nostro commendaverint et imperaverint fines illi, reperiemus nos jamdudum imbutos et praedispositos habilitate et propensione nonnulla ad eam assequendam et exprimendam. De Augmentis scientiarum I. VII. p. 523. 524. Edit Lugd, Batav. +
Dieſer Grundſatz bekommt ſeine anſchauliche Richtigkeit und Anwendbarkeit in der Liebe zu Gott; denn die bildet ein ſitt⸗ liches Ganze und bildet von innen heraus.
VI. In wiefern die Vernunft als ergruͤndend ange⸗ ſehen wird, ſo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der ver⸗
a, 150 — nuͤnftigen Natur, den Ausdruck: „Wie das vernuͤnf⸗ tige Denken alles Wahre auf das Urwahre reducirt und am Urwahren alles Wahre bes währt: fo reducire der freie Wille als han⸗ delnd all fein Handeln auf das Urheilige.“
* * Reinholvs Grundſatz, der an die große Idee des Chryſippus er innert: tugendhaft leben, heißt nach ihm: „Leben in Ueber⸗ einſtimmung mit dem einem jeden einwohnenden Dämon, dem Willen des allgemeinen Weltenord⸗ ners gemäß.“
VII. In wiefern die Vernunft das All in's Auge faßt, ſo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der vernuͤnftigen Natur, den Ausdruck: „Achte und liebe jedes Weſen nach ſeiner Wuͤrde, alſo: die Gottheit uͤber Alles, die Menſchheit in Andern, wie in dir.“
* Fenelon's Grundſatz, der feinem philoſophiſchen Geiſte gerade ſo viel Ehre macht, als der Schönheit ſeines Gemüthes.
VIII. Werden ſowohl die goͤttlichen Gebote, welche vollkommene Pflichten gruͤnden, als die goͤttlichen Raͤthe, welche unvollkommene gründen, in den Begriff der Ethik aufgenommen, (in ſofern beide zwar Regeln find, obgleich nicht beide Gebote ſeyn koͤnnen): fo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der vernünftigen Natur, den Ausdruck: Gott in ſeiner Fuͤlle ſey a) das ge⸗ bietende Wohlgefallen deines Gemuͤthes; ſey dein Wohl⸗ gefallen b) nach dem ganzen Vermoͤgen deines Willens; ſey dein Wohlgefallen c) vor allen erfchaffenen Dingen, und d) nichts von dieſen fol dir wohlgefallen, außer wegen feiner Aehnlichkeit mit Gott.
* Dieß nennt Stattler das principium primum generale et ad- aequatum totius Ethicae: Deus solus tibi eximie prae rebus omnibus creatis et ex tota virtute tuae voluntatis placeat, “et nihil ex his tibi nisi ob similitudinem cum Deo unquam
‚placeat, In dieſem Wohlgefallen find Gebote und Räthe un-
geſchieden.
IX. Werden die Gebote von den Rathen geſchieden, und das hoͤchſte Geſetz in feiner Scheidung von den goͤtt⸗ lichen Räthen betrachtet: fo erhält es den Ausdruck: laß
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die Liebe gegen Gott ihre Herrſchaft in dir ſtets behaup⸗ ten, und ſo behaupten, daß dir mit Wiſſen und Willen ſeine geſetzgebende Macht nie mißfalle, und was 0 nen Geboten widerſtreitet, nie gefalle.
*Das drückt Stattler fo aus: sic semper in te Dei amor et honor habitu saltem perduret ac praedominetur, ut nunquam seienti ac volenti aut ipse displiceat, aut placeat, quod ejus perfectioni contrarie adversatur; und nennt es das lex prima naturae, seu principium primum ac generale to- tius legis naturae (Vernunftgeſetz).
X. Wird das Vernunftrecht, in ſeiner Scheidung von dem Geſetze der Moral, in die Ethik aufgenommen: ſo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der vernuͤnftigen Natur, in Beziehung auf das Vernunftrecht, den Ausdruck: Wenn deine Handlung weder in dem Inbegriffe der goͤttlichen Gebote mit » geboten, noch in dem Inbegriffe der goͤtt⸗ lichen Verbote mit⸗ verboten iſt: ſo haſt du das Recht zu handeln und nicht zu handeln.
* Dieß nennt Stattler prineipium primum ac generale juris na- turalis. Er hat alſo, wie fo viel Anders, auch den Grundſatz der Moral, in ſofern er mehr als das höchſte Geſetz für den
Willen ausſpricht, NORM erfaßt, wie die Numern VII. IX. X.
zeigen.
XI. Kommt die e höchſte Einheit und das All der Menſchheit zugleich in Betrachtung, ſo [öfet ſich der Grund» ſatz: gehorche der vernünftigen Natur, in das Geſetz auf: „Menſch! ſey Eins mit dir, mit Gott, mit dei⸗
nes Gleichen.“ Die Anwendbarkeit dieſes Geſetzes wird im zweiten Hauptſtücke der Moral beſonders erhellen.
XII. Wird das beſtimmte Daſeyn irgend eines Menſchen, und ſomit ſowohl das Allgemeine der Menſchheit, als das Beſondere eines Individuums in Erwaͤgung gezogen: ſo erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der vernuͤnftigen Natur, den Ausdruck: A. das Uni⸗ verſelle der Menſchheit (Vernunft, Freiheit) ſoll das Beſondere der Anlagen und Wirkungs⸗
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fphären in einem jeden Menſchen nicht ver, ſchlingen, und das Beſondere das Allgemeine | nicht unterdruͤcken; denn ein jeder Menſch ſoll ver⸗ nuͤnftig, und als dieſer Menſch, mit ſeinen Anlagen, an ſeiner Stelle, vernuͤnftig ſeyn, und die Allen gemeinſame Vernunft (das Univerſelle), ſoll ſich in dem Beſondern eines Jeden nur ſpiegeln. B. Das Eigenthuͤmliche F darf alſo erhalten, entwickelt, ausgebildet, dargeſtellt werden, aber nur als Traͤger des Univerſellen, und als Spiegel defſelben. C. Nur das, was im Beſondern dem Ideale des Univerſellen widerſtrebet, ſoll unter⸗ druckt werden, damit das, was mit demſelben einſtimmig iſt, herausgehoben werde.
1 Hierin liegt das Prinzip aller Moral, die man ſonſt die ange; wandte genannt hatte.
XIII. In ſofern die Natur und die Menſchheit aus ihrem Standpunkte betrachtet werden, gehet aus dem Grundſatze: gehorche der vernünftigen Natur, das Geſetz hervor: „Menſch! die Natur und die ganze Menſchheit iſt Gottes, und du ein Glied des Ganzen; auch du, ſo wie die ganze Menſchheit ſoll unter Gottes Auge zum goͤttlichen, ewi⸗ gen Leben entwickelt und gebildet werden, obgleich jetzt eingehuͤllt in das Sinnliche, und angebunden an das Zeitliche. Nur das Goͤtt⸗ liche iſt goͤttlichz nur das Ewige ewig: ſchließ alfo deinen Willen an das Goͤttliche, Ewige an, indem du dich gegen das Zeitliche wehreſt, und laß deinen freien Willen von nichts abs hängig ſeyn, als von Gott, dem Allerheilig⸗ ſten, dem allein aus Sich Unſterblichen.“
* Das höchſte Geſetz der menſthlichen Freithätigfeit. $. s2. XIV. In ſofern insbeſondere die vernuͤnftige Men⸗ ſchennatur ſelbſt fuͤr das angeſehen wird, wofuͤr ſie an⸗
geſehen werden muß, fuͤr das Bild des Goͤttlichen, des Ewigen in Anlage und Beſtimmung: ſo
— 0 —
erhaͤlt der Grundſatz: gehorche der vernuͤnftigen Natur, den allbefaſſenden Ausdruck: laß du nur das Goͤtt⸗ liche das Geſetz, den Beſtimmungsgrund und den Endzweck alles deines Seyns, Strebens und Handelns ſeyn, oder: Gottaͤhnlichkeit ſey dein Geſetz, dein Muſterbild, dein Endzweck, oder: „Wie die Natur kein anders Geſetz hat, als in allen
ihren zeitlichen Bildungen das Ewige Gott),
und in allen ihren Bildungen des unermeß⸗ lich ſchoͤnen Ganzen das Urſchoͤne (Gott), zu offenbaren: fo ſtrebe auch du, Wille, darnach,
—
daß du in allen deinen freien Handlungen die hoͤchſte Freiheit (Gott) und in allen Bil⸗
dungen des hoͤhern Schoͤnen, die hoͤchſte Schoͤn⸗ heit (Gott), offenbareſt.“ Oder: „Dein Leben ſey Liebe, und deine Liebe — eine heilige
Einheit, die in ihrer hoͤchſten Tendenz Liebe
gegen die Gottheit, und ihrer naͤchſten Thaͤ⸗ tigkeit Liebe gegen die Menſchheit iſt.“ Oder: „Arbeite nur mit Gott, fuͤr das Ewige, in der Zeit.“
* Nur andere Formeln deſſelben Geſetzes. G. 52. Nr. 440
XV. In ſofern die Vernunft die Thatſache der chriſt⸗ lichen Offenbarung, nach reifer Durchforſchung, als Wahr⸗ heit anerkennt, gewinnt der Grundſatz den Ausdruck: „Gehorche der hoͤchſten Vernunft, in fofern fie ſich in ihrem vollkommenſten Abdrucke, d. i. in der Perſon, in der Lehre, in dem Leben und in dem Einfluſſe Chriſti auf das Heil der Welt offenbaret; denn es iſt uͤberall die Eine hoͤchſte Vernunft, die Eine hoͤchſte Wahrheit, die ſich mittelbar oder unmittelbar in dei⸗ nem Bewußtſeyn kund thut.
* Grundſatz der rein ⸗chriſtlichen Moral.
XVI. Wird die vernuͤnftige Natur betrachtet, wie
ſie in Chriſtus nicht nur unter Menſchen gewohnt, gelehrt, gehandelt, gelitten, ſondern auch durch Tod und Aufer⸗
— 14 —
ſtehung verklaͤrt, den neuen himmliſchen Geiſt auf die
Menſchheit ausgegoſſen hat und noch immer an der Wie⸗
derherſtellung derſelben arbeitet und arbeiten wird bis
zur Vollendung: ſo erhaͤlt das Sittengeſetz den Ausdruck:
„Sey Bild Ch riſti im Geiſte Chriſti.“
* Derſelbe Grundſatz der chriſtlichen Moral wie Nr. XIV. nur ausgewickelt.
Endlich: wenn die e Natur nach der
Grundlehre des poſitiven Chriſtenthums beurtheilt wird, fo geht daraus für die chriſtliche Moral 1) die leis tende Idee des Ganzen, und 2) der vollſtaͤn dige Ausdruck des Geſetzes hervor.
Es gehet 1) hervor die leitende Idee des Ganzen:
„Nachdem die Menſchennatur in einem Abfall von Gott befangen iſt, und die Wiederherſtellung der gefalle⸗ nen Natur ohne den allbelebenden Geiſt Chriſti, dieſes göttlichen Wiederherſtellers, nicht bewirket werden kann: fo iſt die chriſtliche Moral keine Anleitung für die ge ſunde Menſchheit zum ſittlichen Handeln, ſondern vor⸗
erſt: eine Darſtellung des status morbi, des Abfalls;
zweitens eine Beſchreibung des Heilungsprozeſſes
ſammt Anweiſung an den Arzt zum Ausharren unter ſei⸗ ner Heilung; drittens eine Ermunterung zum dank⸗
baren Gebrauche der hergeſtellten Gliedmaßen in dem
Dienſte des Arztes.“ * Man wird in dieſer Beſtimmung der Moral die gegebene Ein⸗ theilung in drei Hauptſtücke nicht nur wiederfinden, ſondern auch in dem Gange der ſittlichen Bildung der Menſchheit, wie ſie jetzt iſt, gegründet finden.
Es geht 2) hervor der vollſtändigſte Ausdruck des gan⸗
zen Moralgeſetzes: „Erforſche vorerſt das Böfe in dir, und erforſche es im Lichte Chriſti, dann bekaͤmpfe es im Geiſte Chriſti und ringe nach voller Sinnesänderung, und ruhe nicht, bis die Herrſchaft der dankbaren Liebe gegen Gott in dir gegruͤndet, geſichert, und zur vol⸗
rr
— 155 —
len Frucht der Gerechtigkeit und des ages Lebens ausgebildet ſeyn wird.“ ;
Liebe den, der dich zuvor geliebet hat: das ſey dein Geſetz, dein n dein rde 1 (1 Joh. IV. 10—11.)
* Schon Ariſtoteles hat gelehrt, daß, was in uns vernunftlos iſt, von dem beherrſcht werden ſoll, was in uns vernünftig iſt. Man kann dieß ohne Bedenklichkeit als Grundſatz aller y hi⸗ loſophiſchen Moral gelten laſſen.
Wenn man nun annehmen darf, was kein Chriſt bezweifelt, daß nach der Idee des Chriſtenthums das Vernunftloſe in uns von der vernünftigen Natur und die vernünftige Natur von dem Geifte Gottes beherrſcht werden ſolle: jo kann man ohne Bedenklichkeit den Einen Grundſatz der Einen Moe ral der Vernunft und des Chriſtenthums ſo ausdrücken: „Laß das Vernunftloſe in dir von dem Vernünftigen, und das Vernünftige von der höchſten Vernunft — Gott, von dem Geiſte Gottes beherrſcht werden.“
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Des |
f
erſten Hauptſtückes der Moral | zweiter Abſchnitt.
Von dem, was im Menſchen iſt und nicht ſeyn fol, das iſt: von dem 4
DE, * . Nosce te FREE — Die Welt liegt im Argen. N Johannes.
35.
Da der Boͤſe nicht gut werden kann ohne Erkenntniß, daß er boͤſe iſt, ſo ſey die Aufgabe, die hier geloͤſet wer⸗ den ſoll, dieſe: Wie kann der Boͤſe zu einer ſolchen Er⸗ kenntniß des Boͤſen gelangen, die in Hinſicht auf die Wahr⸗ heit der Erkenntniß gründlich, in Hinſicht auf den Zweck der Erkenntniß, die ſittliche Verbeſſerung, hinreichend klar und hinreichend vollſtaͤn dig, in dem naͤchſten Geſchaͤfte, in Erforſchung des innern und aͤußern Lebens, leicht ans. wendbar iſt?
Dieſe Aufgabe iſt gelöſet, ſobald das Boͤſe in feiner Weſenheit, in feiner Geneſis, in feiner Steigerung und in feiner vollſtuͤndigen Wirkſamkeit erforfchet, und zwar nach dem Grundgeſetze aller Moral, und 9 dem ane ö der chriſtlichen Hforſcht iſt.
H. I. Das Böſe nach feiner Weſenheit.
Da die Weſenheit der Dinge in dem Einen er⸗ kannt und in dem Mannigfaltigen begriffen wird: ſo werden wir wohl auch das Boͤſe in ſeiner Weſenheit erkannt und begriffen haben, ſobald wir das Eine in dem mannigfaltigen Boͤſen, und das Mannigfaltige in dem Einen Boͤſen erforſcht haben werden. Alſo:
— .
A. Das Eine in dem Böſen⸗ Nominalbegriff dessen, was Boͤſe iſt.
1) Da das Licht eine Klarheit hat, die der Finſter⸗ / niß fehlen muß, indem nicht die Finſterniß das Licht, ſon⸗
dern das Licht die Finſterniß erhellet: ſo nimmt auch die Vorſtellung des Boͤſen ihr Licht von der Vorſtellung des Guten, obgleich die Moral, die nicht den Guten lehrt, wie er boͤſe, ſondern den Boͤſen, wie er gut werden kann, die ausfuͤhrliche Darſtellung des Boͤſen der ausführlichen Darſtellung des Guten vorangehen laͤßt.
2) Unterſcheidende Merkmale eines hoͤchſtbedeutenden Etwas. Es iſt etwas, das nur a) von der Vernunft in Vernunftweſen, und bei dieſem nur im freien Willen ge⸗ dacht werden kann, und in jedem Menſchen, den die Ver⸗ nunft aus dem Zuſtande der Rohheit gehoben hat, ein Soll, eine eigene Art Noͤthigung fuͤr ſich aufweiſen kann. Dieß Etwas hat b) in jedem Menſchen, in dem es iſt, eine eigene Wuͤrde und Unabhaͤngigkeit, die auch der, wel⸗ cher es nicht hat, anerkennen muß. Dieß Etwas erwirbt c) ſich und auch dem, in dem es iſt, eine Achtung in dem Auge des Kenners, und macht d) den einzigen Gegen⸗ ſtand des Lobwuͤrdigen aus, traͤgt allein den Charakter des Verdienſtes, des Belohnungswerthen. Dieß Etwas ſchwindet e) nicht mit den Thaten, die ſeinen Namen tra⸗ gen, ſondern behaͤlt auch nach den Thaten eine bleibende Herrlichkeit. Dieß Etwas hat k) ſtets die Billigung des eigenen Gewiſſens, und die Billigung des fremden ſittlichen Gefuͤhles fuͤr ſich. Dieß Etwas hat g) eben deßwegen auch dieß Eigene, daß es nie ein Gegenſtand der Scham und der Reue werden kann. Dieß Etwas macht b) den Menſchen, in dem es iſt, der Freude zwar faͤhig und wuͤr⸗ dig, iſt aber (das Gefuͤhl der Zufriedenheit mit ſich ſelbſt abgerechnet), in dem jetzigen Stande der Menſchheit, we⸗ der nothwendig mit dem Gefuͤhle des Angenehmen verbun⸗ den, noch weniger das Angenehme ſelbſt. Dieß Etwas iſt 1) vielmehr (wenigſtens in feinen Anfängen) mit einem Gefuͤhle des unangenehmen verbunden, und fordert den
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— 158 —
ſtärkſten Widerſtand der Vernunft gegen die Reize, gegen das Angenehme ſeines Gegentheils, bis es in feiner Reins heit errungen iſt, und damit es in ſeiner Reinheit erhalten werde, wird aber doch k) in der Ausuͤbung durch die Ausuͤbung immer leichter, und lohnt immer mit mehr Freude, bis es in feiner Vollendung, und in einem befs ſern Lande mit vollendeter Seligkeit Eins werden mag. 3) Was nun nur von der Vernunft, und nur in Ver⸗ nunftweſen, und bei dieſen nur im freien Willen gedacht werden kann, und in jedem gebildeten Menſchen ein Soll, eine Noͤthigung fuͤr ſich aufweiſen kann; was, wie es eine eigene Wuͤrde und Erhabenheit fuͤr ſich hat, alſo auch dem Menſchen, in dem es iſt, Achtung erwirbt, und in ihm den einzigen Gegenſtand des Lobes ausmacht; was bei den voruͤbergehenden Thaten, die ſein Gepraͤge tragen, nicht voruͤbergeht; was die Billigung des Gewiſſens und des moraliſchen Gefuͤhls fuͤr ſich hat und verdient; was nie ein Gegenſtand der Scham und der Reue werden kann; was den Menſchen der Freude faͤhig und werth, aber ihn nicht ſogleich der Freude theilhaftig macht, viel⸗ mehr ohne Gefuͤhl des Unangenehmen nicht errungen und behauptet werden kann, was aber doch durch Uebung leich⸗
ter wird, und in ſeiner Vollendung nicht anders, als be⸗
be tte eee eee eee te
feligend ſeyn kann, — — — — iſt das, was unſere Spra⸗
che das Gute, und um es von dem Angenehmen oder Nuͤtzlichen, das auch gut heißt, zu unterſcheiden, das Sitt⸗ lichgute nennt.
4) Boͤſe kann alſo all das, und nur das heißen, was außer dem freien Willen eines Vernunftweſens weder ge⸗ dacht, noch wirklich ſeyn kann, und mit dem Soll in noth⸗ wendigem Widerſpruche ſteht; was den Charaker der Un⸗ wuͤrdigkeit und Niedrigkeit in ſich hat, und den Menſchen, in dem es iſt, verachtungswerth macht; was der eigene und einzige Gegenſtand des Tadels- und Strafwerthen iſt; was bei ſchwindenden Thaten, die ſeinen Charakter tragen, nicht mitſchwindet, ſondern eine bleibende Verachtungs⸗ wuͤrdigkeit hat; was die Mißbilligung des eigenen Ge⸗ wiſſens und jedes fremden ſittlichen Gefuͤhls hat und ver⸗
dient, und eben deßwegen der einzige Gegenſtand der
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Scham und der Reue iſt und ſeyn kann; was den Men⸗ ſchen durch die Freude, die es ihm ſchaffet, der bleiben⸗ den Freude unwerth macht.
Das Boͤſe hat alſo die zwei unverkennbaren Merk⸗ male, daß der Boͤſe zu ſich ſelbſt ſagen muß: Ich bin ein Nichts wuͤrdiger, und ich bin ein Stra fwuͤrdiger, alſo in erſter Hinſicht ſich ſelbſt verachten, in der zwei⸗ ten ſich ſelbſt verdammen muß.
” Dieſe Merkmale des Böſen bezeichnen den dissensus actionum liberarum cum natura rationali, worin (ſiehe Einleit. $. IV.) alle Weiſen von jeher das Böſe geſetzt haben; nun ſoll gezeigt
werden, daß dieſer dissensus cum natura rationali nothwendig ein dissensus cum natura divina ſey.
| Ä 20 =:
Wenn dieſer Nominalbegriff von dem Boͤſen ein Real⸗ begriff ſeyn ſoll, wie er es iſt: ſo muß ein ewiges Ge⸗ ſetz ſeyn, das das Gute nothwendig vom Boͤſen ſcheidet, ſo muß eine ewige Ordnung der Dinge ſeyn, der das Boͤſe widerſtreitet, und ſo nothwendig widerſtreitet, daß es boͤſe iſt, weil es widerſtreitet, und widerſtreitet, weil es boͤſe iſt.
I. Es giebt wirklich ein ewiges Geſetz,“) denn das ewige Geſetz iſt die hoͤchſte Vernunft ſelber, die als Idee der Weltregierung im ewigen Gemuͤthe Gottes nicht an⸗ ders, als ewig ſeyn kann; und ſo, wie ſie die Wahrheit ſelber, alſo auch der ewige Wille ſelber — Gott ſelber iſt. Alſo: ſo gewiß Gott Gott iſt, ſo gewiß Gott die hoͤchſte Vernunft, die hoͤchſte Wahrheit, und die hoͤchſte Wahrheit der ewige Wille iſt, gerade ſo gewiß iſt es, daß ein ewiges Geſetz, und das ewige Geſetz die hoͤchſte Vernunft ſelber iſt.
II. Es giebt nur Ein ewiges Geſetz: Ein Gott, Eine hoͤchſte Wahrheit, Eine hoͤchſte Vernunft, Ein ewi⸗ ger Wille, Ein ewiges Geſetz.
III. Obgleich das Eine ewige Geſetz, was es in ſich und im göttlichen Gemuͤthe iſt, nur Gott allein aus Selbſt⸗
) Est aliqua lex aeterna, ratio videlicet gubernativa totius uni- versi in mente divina existens, Thom. Aquin. prima secun- dae quaest. XCI. artic. I.
— 160 —
anſchauung bekannt if, fo haben doch alle Vernuͤnftige, in ſo weit ſie vernuͤnftig ſind, einige Kunde von dem ewi⸗ gen Geſetze. Denn alle Erkenntniß der Wahrheit iſt eine Irradiation des ewigen Geſetzes, welches iſt die unwandel⸗ bare Wahrheit. Omnis cognitio veritatis est quaedam irradiatio et participatio legis aeternae, quae est veritas incommutabilis- Aug. de vera Religione, (c. 18—31.)
IV. Wenn das Eine ewige Gefeg in feinem gan⸗ zen Umfange begriffen wird: ſo iſt es außer Zweifel, daß, wie Gott die hoͤchſte Vernunft, und die hoͤchſte Ver⸗ nunft ſich ſelbſt das hoͤchſte Geſetz iſt, alſo auch dem ewi⸗ gen Geſetze alles Erſchaffene unterthan iſt; denn dem ewi⸗ gen Geſetze iſt unterworfen 1) die ganze Natur durch die innere Nothwendigkeit, der ſie unbewußt gehorcht; 2) die empfindende Natur insbeſondere durch den allgewaltigen Inſtinkt, dem ſie gehorchen muß; 3) der freie Wille durch Vernunft, der er gehorchen fol; 4) die Guten durch die Seligkeit, die den Guten, 5) die Boͤſen durch Unſeligkeit, die den Boͤſen wird. Denn auch das iſt ewiges Geſetz, daß die Guten ſelig, die Boͤ⸗ ſen unſelig ſind. Die alſo dem heiligen Willen Got⸗ tes nicht gehorchen wollen, muͤſſen dem gerechten gehorchen.
V. Alles, was in den zeitlichen Geſetzen (denn wie es ein ewiges Geſetz, ſo giebt es mancherlei zeitliche Geſetze in den Statuten der Voͤlker, der Regenten) von der rechten Vernunft abſtammt, das ſtammt bei aller Zeit⸗ lichkeit, bei allem Wechſel derſelben von dem ewigen Ge⸗ ſetze ab. Dieß hat wohl der Tiefblick des noch immer zu wenig gekannten Auguſtinus am tiefſten geſehen in der Idee der Gerechtigkeit, die er in dem ewigen Geſetze er; faßt hat. (Aug. de libero arbitrio lib. I.) Quid illa lex,
quae summa ratio nominatur, cui semper obtemperan-
dum est, et per quam mali miseram, boni beatam vitam merentur, per quam denique illa, quam temporalem vo- candam diximus, recte fertur, recteque mutatur, potest ne cuipiam intelligenti non incommutabilis aeternaque videri? f | i An 4
— 1561 N
6
77 An potest aliquando injustum esse, ut mali miseri,
boni autem beati sint, aut ut modestus et gravis popu- lus ipse sibi magistratus creet, dissolutus vero et nequam ista licentia careat ?
Simul etiam videre arbitror, in ista temıparali nihil esse justum, atque legitimum, quod non ex hac aeterna sibi homines derivaverint; nam si populus iste quodam tempore juste honores dedit, quodam rursus juste non dedit, haec vicissitudo temporalis, ut justa esset, ex illa aeterna lege tracta est, qua semper justum est gravem Ppopulum honores dare, levem non dare. —
Ut igitur breviter aeternae legis notionem, quae im- pressa nobis est, quantum valeo vobis explicem: ea est, qua justum est, ut omnia sint ordinatissima, Cum ergo haec sit una lex, ex qua illae omnes temporales ad ho- mines regendos variantur, num ideo ipsa variari nulla modo potest? |
Intelligo, omnino non posse: neque enim ulla vis, ullus casus, ulla rerum labes unquam n ut ju- stum non sit, omnia esse ordinatissims.
. In ſofern das Eine ewige Geſetz unſern freien Willen bindet, iſt es eben das Geſetz der Sittlichkeit, das wir als goͤttlich nach Abkunft, goͤttlich nach Inhalt und goͤtt⸗ lich nach Zweck erkannt haben. Denn das Eine ewige Geſetz umfaßt, als die Idee der Weltregierung, alle Dinge; ſobald es aber als Geſetz fuͤr den freien Willen der Intelligenzen betrachtet wird, ſo iſt es das unwan⸗ delbare, heilige Geſetz, das den aͤltern Lehrern lex naturae, den neuern lex rationis hieß, wodurch es von dem poſitiven unterſchieden werden ſollte. ei ..* Diefe lex naturae moralis wird eben deßwegen als participa- tio legis aeternae in rationali natura, und noch deutlicher als radius legis aeternae in mente refulgens vorgeſtellt.
VII. So wie es fuͤr den Menſchen ein ewiges Ge⸗ ſetz giebt, ſo iſt fuͤr ihn eben deßwegen eine ewige Or d⸗ nung der Dinge, die mit dem ewigen Geſetze gegeben iſt; die naͤmlich: Alles Leibliche ſtehe unter dem Geiſtigen,
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. zte Aufl. 11
— 162 =
alles Geiſtige unter dem Goͤttlichen, das Niedere unter
dem Hoͤhern, das Hoͤhere unter dem Hoͤchſten. Dieß iſt
die ewige Ordnung der Dinge, in ſofern es recht iſt,
und ewig recht iſt, und nothwendig recht iſt, daß das Niedere ſeinem wahrhaft Hoͤhern diene, z. B. die Na⸗
tur dem Geiſte, der Geiſt Gott, oder: das Sinnliche dem
Vernuͤnftigen, das Vernuͤnftige der hoͤchſten Vernunft. VIII. So gewiß es ein ewiges Geſetz giebt, das un⸗
ſern freien Willen bindet, ſo giebt es einen innern, un⸗
wandelbaren, ewigen Unterſchied zwiſchen gut und boͤſe.
Denn, wie das ewige Geſetz die hoͤchſte Wahrheit, alſo
unwandelbar iſt, ſo iſt Alles, was in unſern freien Hand⸗ lungen dem ewigen Geſetze widerſtreitet, nothwendig boͤſe; was mit ihm einig iſt, nothwendig gut.
IX. Der Menſch kann alſo nicht ſchauerlicher von
ſeiner eigenen Vernunft abfallen, als wenn er die Mei⸗
nung der Zuͤgelloſigkeit, die ſich in jeder Epoche des ſtei⸗
genden Verderbniſſes nur aus dem Schlamme der oͤffent⸗
lichen Geſetzloſi gkeit ausgebaͤren kann, die Meinung: daß
es keinen innern Unterſchied zwiſchen gut und boͤſe gebe, und aller Unterſchied nur von will⸗
kuͤhrlicher Feſtſetzung herruͤhre, dieß Grundfalſche für wahr halt. Dieſes Grundfalſche, dieſer Tod aller
öffentlichen Tugend, dieſer Hoͤllengeſang aller Ruchloſigkeit
erinnert mich an Cicero's Wort: Wer die Freundſchaft
aus der menſchlichen Geſellſchaft hinwegnimmt, der nimmt
die Sonne von dem Himmel. Denn ich darf kuͤhn ſagen: Wer den innern, unwandelbaren, ewigen Unterſchied zwi⸗
ſchen gut und boͤſe aus der Anſchauung der Menſchheit und Geiſterwelt wegnehmen koͤnnte, haͤtte die Sonne aller
Weisheit und Tugend aus dem Univerſum weggenommen.
X. So lange wir das Eine ewige Geſetz im Auge behalten, ſo lang iſt es einleuchtend, daß die hoͤchſte Ver⸗
kehrtheit alles menſchlichen Denkens ſich in jener Verken⸗
nung des innern, unwandelbaren, ewigen een pie
ſchen gut und böfe ausſpreche; denn
1) das Boͤſe iſt nicht boͤſe, weil es dieſe Men⸗ | ſchen unter dieſem Himmelsſtriche, in diefem Jahrhun⸗ g
1
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derte fuͤr boͤſe ausgegeben haben oder ausgeben, ſondern umgekehrt: weil es boͤſe iſt, ſo ſollten und wuͤrden es alle Menſchen unter allen Himmelsſtrichen, in allen Jahr⸗ hunderten, wenn die Vernunft in ihnen urtheilte und aus ihnen ſpraͤche, fuͤr boͤſe ausgeben.
2) Das Boͤſe iſt nicht boͤſe, weil es etwa von der Erziehung dem Menſchen als boͤſe vorgeſtellt wird, ſondern umgekehrt: weil das Boͤſe boͤſe iſt, ſo wird und muß es auch von jeder Erziehung, welche echte Menſchen⸗ bildung ſeyn ſoll, als boͤſe vorgeſtellt werden; denn wenn die Sittlichkeit nur in der Erziehung gegründet wäre, fo wäre die Moral nichts, als Charakteriſtik der herrſchen⸗ den Sitte, nur das Regiſter der Angewoͤhnungen. Aller⸗ dings beruht unſere fruͤheſte Annahme fittlicher Grundſaͤtze auf dem ersten Unterrichte, den die Erziehung giebt, und auf häuslicher Angewoͤhnung, die mit der Erziehung ge⸗ geben wird; aber jener Unterricht und dieſe Angewoͤhnung konnen nicht die Regel der Wahrheit fuͤr unſere ſi etlichen Grundſaͤtze ſeyn; denn wir fragen ja ſelbſt, ſobald wir zu denken anfangen: Iſt die Erziehung echt oder unecht? Alſo ſetzen wir bei dieſer Frage voraus, daß die Erzie⸗ hung nicht die hoͤchſte Regel von der Wahrheit der ſitt⸗
lichen Grundſaͤtze ſey, ob fie gleich der veranlaſſende und
wohl auch der beſtimmende Grund von der erſten An⸗ nahme gewiſſer ſittlicher Grundſaͤtze, und das naͤchſte Ent⸗ wicklungsmittel der ſittlichen Natur des Menſchen iſt.
3) Das Boͤſe iſt nicht boͤſe, weil es etwa von der buͤrgerlichen Geſetzgebung als boͤſe feſtgeſetzt worden, ſondern umgekehrt: weil das Boͤſe boͤſe iſt, fo muß es auch von der bürgerlichen Geſetzgebung, wenn fie ſich nicht mit dem ewigen Geſetze, dem Richtmaße aller menſchlichen Geſetze, entzweien will, als boͤſe vorausgeſetzt werden, damit ſie es wenigſtens in ſeinen fhechtrichzf Ausbruͤchen hemmen kann.
4) Das Boͤſe iſt nicht boͤſe, weil es von ber Gerechtigkeit geſtraft werden kann und ſoll und ge⸗ ſtraft wird, ſondern umgekehrt: weil das Boͤſe boͤſe iſt, ſo macht es den Menſchen ſtrafwͤrdig, und kaun und ſoll
11 *
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geſtraft werden, und wird von der Gerechtigkeit wirklich geſtraft. Nicht das Uebel der Strafe macht das Boͤſe des Boͤſen aus, denn das Boͤſe iſt die N und Verſchuldung Grund der Strafe.
5) Das Boͤſe iſt nicht boͤſe, weil es etwa von einer erträumten Konvention der Voͤlker für boͤſe wäre aus⸗ gegeben worden, ſondern umgekehrt: weil das Boͤſe boͤſe iſt, ſo kann das Boͤſe durch keine Konvention der Voͤlker gut, das Gute durch keine Konvention boͤſe gemacht werden.
6) Das Boͤſe i ſt nicht böfe, weil es die Men⸗ ſchen mit Unruhe, Scham, Selbſtverdammung, Furcht und andern ſchrecklichen Folgen zuͤchtigt, ſondern umgekehrt: weil das Boͤſe boͤſe iſt, ſo zuͤchtigt es mit Unruhe, Scham, Selbſtverdammung, Angſt und andern ſchrecklichen Folgen. Das Boͤſe zeugt Uebel, iſt aber nicht bloß Uebel, hat ſchauerliche Folgen, iſt aber nicht ſelber bloß Folge.
7) Das Boͤſe iſt alſo nicht boͤſe, weil die Sinn⸗ lichkeit ob ſeinen graͤßlichen Folgen ſchaudert, oder die Einbildungskraft ſie furchtbar malet, oder die ſittliche Be⸗ urtheilungskraft das Boͤſe als boͤſe ausgiebt, ſondern um⸗ gekehrt: weil das Boͤſe boͤſe iſt, ſo kann und muß es fuͤr die Sinnlichkeit ſchauerliche Folgen haben; weil es in ſich verabſcheuungswerth iſt, ſo kann und muß es der Einbil⸗ dungskraft Stoff zur Ausmalung ſeiner Haͤßlichkeit geben; weil das Boͤſe boͤſe iſt, ſo kann und muß die Beurthei⸗ lungskraft, in ſofern ſie nach der Wahrheit entſcheidet, die einzelnen boͤſen Handlungen als Abweichungen von der Idee des Guten, die in der Vernunft liegt, angeben.
XI. Das Boͤſe hat alſo eine innere Schändlich⸗ keit, Häßlichkeit, Nichtswuͤrdigkeit, hat eine in⸗ nere Disharmonie mit der vernuͤnftigen Na⸗ tur des Menſchen, hat einen innerlichen Wider⸗ ſtreit wider die hoͤchſte Vernunft — Gott, hat eine innere Ungoͤttlichkeit, Unähnlichkeit mit Gott, die nicht erſt ein willkuͤhrlicher Gegenſtand irgend eines willkuͤhrlichen Verbotes, ſondern ein nothwendiger Gegenſtand des nothwendigen Verbotes iſt.
1
A.
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* Diefe innere Schändlichkeit der menſchlichen Handlungen heißt
in Stattler's Sprache malitia intrinseea, objectiva, fundamen-
dalis, antecedens, in ſofern die böſen Handlungen einen innern,
im Gegenſtande liegenden Unwerth haben, der nicht erſt aus irgend einem Verbote kommen kann, ſondern ſelbſt nothwendi⸗ ger Grund des nothwendigen Verbotes iſt. !
en Man hat von jeher zweierlei Wege in Erforſchung des Böſen
eingeſchlagen. Bald hat man das Verhältniß des böſen Wil⸗ lens zum Geſetze im Augenblicke der Uebertretung, bald das Verhältniß des Geſetzes zum böſen Willen nach der Uebertre⸗ tung betrachtet. Im erſten Falle war es die Ordnung, wi⸗ der die das Böſe angieng, im zweiten die Ordnung, die wider den Böſen angieng, was die Forſcher erblick⸗
ten. In der erſten Betrachtung iſt es das Ordnungswidrige,
was das Böſe zum Böſen macht, in der zweiten iſt das Straf würdige beſonders hervorgehoben, das im Grunde Eines iſt mit. dem Ordnungswidrigen, und in der wirklichen Züchtigung hervorleuchtet. In der innern Schaͤndlichkeit der menſchlichen Handlungen vereiniget ſich beides, das Ordnungswidrige und das Strafwürdige. Thomas von Aquin n in ſeinem
r Blicke beides. Tom. II. Quaest. 82. art. 1.: „Cum pecca-
tum sit actus inordinatus, manifestum est, Asa quicunque en
peccat, ‚contra aliquem ordinem agit, et ideo consequens, quos ab ipso ordine deprimatur, quae quidem depres- sio poena est. Unde secundum tres ordines, quibus subdi-
tur humana voluntas, triplici poena homo potest puniri. Sub- ditur humana natura 1) ordini propriae rationis; 2) ordini
exterioris hominis; 3) universali ordini divini regiminis. Quilibet autem horum ordinum per peccatum pervertitur,
unde homo triplicem ineurrit poenam: unam a se ipso, "quae est conscientiae morsus, aliam ab homine, tertiam a
Deo. Es iſt dieſer ſchönen Darſtellung zufolge das Ordnungs⸗
N widrige, was das ‚Bofe zum Böſen macht, actus in ordina-
tus, agere contra ordinem ; es ift das Ordnung sgemäße, was den Böſen niederdrückt, die Strafe, die Züchtigung: qui
agit contra ordinem, ab ordine deprimitur.
Dieſe Idee der Ordnung, die dem Willen Geſetze giebt, und
die den Uebertreter der Uebertretung wegen züchtiget, die Folge des Böſen fühlen läßt, ſetzt das Böſe ſowohl in ſeinem reatus culpae, als in feinem. reatus poenae in das hellſte Licht.
Erkenntniß des Boſen. |
| gruen
1) Das Böſe kann dem Menſchen in ſeinen freien Ent⸗ ſchließungen nd Zwecken, in ſeinem Thun und Laſſen nur in ſofern einleuchtend werden, in wiefern er das heilige Geſetz (das ſoll ich, das darf ich nicht), die Freithaͤtigkeit ſeines Willens Das kann ich, ohne es zu muͤſſen), und den Ausſpruch ſeines richtenden Gewiſſens (mein Ent⸗ ſchluß, mein Zweck, mein Thun und Laſſen widerſpricht dem heiligen Geſetze) anerkennt und anzuerkennen Feſtig⸗ keit der Ueberzeugung, Re und a genug beſitzt.
2) Das Boͤſe wird ben Weichen deſto einleuchten⸗ der, je weiter er, bei feſtſtehender Ueberzeugung von Geſetz, Freithaͤtigkeit, Gewiſſen, es darin gebracht hat, als Selbſt⸗ prüfer in jener Beſonnenheit und Aufrichtigkeit, ohne die keine Anſchauung ſeines Innerſten werden kann, und als Verehrer Gottes in jener Geiſtesgewandtheit ſich zu Gott, als dem Heiligen, dem Urheber und Geſetzgeber der ſittlichen Natur, dem Richter und Vergelter der menſch⸗ lichen Handlungen, zu erheben, folglich in dem Sitten⸗ geſetze Gottes Geſetz, in dem Gewiſſen, das ihm das Ge⸗ ſetz ankuͤndet, und die Nichterfüllung des Geſetzes entſchei⸗ det, Gottes Ausſpruch, in der Freithaͤtigkeit ſeines Wil⸗ lens Gottes Gabe, Gottes Bild, und in feinen geſetzwidri⸗ gen Handlungen die Uebertretung des göttlichen Geſetzes anzuerkennen, und die Vergleichung ſeines innern und aͤu⸗ ßern Lebens mit Gott, der ſich ſelbſt Geſetz iſt, und mit dem heiligen Geſetze, das Gottes Wille iſt, fortzuſetzen.
ah >| Das Boͤſe wird dem Menſchen deſto einleuchten⸗ der, je parteiloſer er als Chriſt ſein Wollen und Nicht⸗ wollen, ſein Thun und Laſſen mit dem hoͤchſten Grund⸗ geſetze des Willens: Liebe Gott uͤber Alles, und den Nächſten wie dich, vergleicht je ſcharfſichtiger er die Widerſpruͤche zwiſchen jener Geſetzesſumme und ſei⸗ nem Verhalten erforſchet, je aufrichtiger er ſie anerkennt, | und je unerbittlicher er. fein geheimſtes Treiben im Auge behält, um jede Regung des Boͤſen wahrzunehmen.
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4) Nach dieſen drei verſchiedenen Standpunkken des Gewiſſens, der Religion, des Chriſtenthums erhaͤlt die Erkenntniß des Boͤſen wo nicht dreierlei Stu⸗ fen, Hoch dreierlei Formen.
Im Geſichtspunkte des Gewiſſ ens (in ſofern es noch als getrennt von Religion betrachtet wird; obgleich dieſe Betrachtung in der Grundanſicht der Dinge nicht Statt. hat, auch in keinem frommen Gemuͤthe Statt haben kann)
iſt böfe jedes Wollen und Nichtwollen, ke und Laſſen, /
das heilige Geſetz entweder gar nicht bestehen dan oder wodurch jenes Regiment und dieſe Achtung wenigſtens an⸗ | gegriffen und geſchwaͤcht wird. ITnm Geſichtspunkte der Religion iſt böfe ſowohl die Nichterhebung des Vernunftblickes zur hoͤchſten Wahrheit, des Willens zur hoͤchſten Heiligkeit, des Gemuͤthes zur hoͤchſten Liebe, die die Schoͤnheit und Seligkeit ſelber iſt, als die Wegwendung des Vernunftblickes, des Willens, des Gemuͤthes von dem hoͤchſten Gute — Gott; in ſo⸗ fern jene Nichterhebung und dieſe Wegwendung verknuͤpft iſt mit Hingebung und Anhaͤnglichkeit an Etwas, das den taͤuſchenden Schein von Wahr, Gut, Schoͤn, Selig hat, ohne es in der That zu ſeyn. Die Wegwendung des Geiſtes von Gott iſt boͤſe — in dem, der ſich ſchon zu Gott erhoben hatte; die Nichterhebung in dem, der von Gott ſchon weggewandt oder noch gar nicht hingewandt war. Dieſe Beſchreibung des Boͤſen paßt alſo ſowohl auf die, welche aus Guten boͤſe werden, als auch auf die, welche ſchon böfe find und boͤſe handeln. 555 Boͤſe im Geſichtspunkte des moraliſchen Chriſten⸗
thums iſt im Grunde daſſelbe, wie im Geſichtspunkte des
Gewiſſens und der Religion, nur ausdruͤcklich bezogen auf das Geſetz von der Liebe gegen Gott und den Menſchen. Boͤſe in dieſem Geſichtspunkte iſt alles Wollen und Nicht⸗ wollen, Thun und Laſſen, das die Liebe gegen Gott und die Menſchheit in ihrem gebietenden Einfluſſe auf Beſtim⸗ mung unſrer Willkuͤhr da, wo ſie iſt, ganz aufhebt oder wenigſtens ſchwaͤcht; da, wo fie noch nicht iſt, noch ferner ausſchließt, oder wenigſtens ihr Aufkommen erſchwert.
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Diefer dreifache Geſichtspunkt iſt Einer geworden im Chriſten, der nach dem Grundgeſetze ſeiner Beſtimmung lebt. Denn ſein Gewiſſen iſt die Stimme ſeines Gottes; ſein Geſetz: Liebe Gott in Gott und in der Menſchheit; ſein Leben: Gott in Gott und in der Menſchheit lieben.
5) Das Boͤſe muͤßte endlich dem Menſchen noch einleuchtender werden, wenn ihm das poſitive Chri⸗ ſtenthum neue Aufſchluͤſſe uͤber Geſetz, Freiheit, Gewiſ⸗ ſen, Vernunft gaͤbe, die das ud ne mehr enthuͤllten.
22.
Daß dieß wirklich der Fall ſey, darf hier als Heiſche⸗ ſatz aus der chriſtlichen Glaubenslehre vorausgeſetzt, und ſoll zur vollſtaͤndigen Erforſchung des Boͤſen ſo kurz und klar, wie möglich, angezeigt werden.
Aufſchlüſſe, die uns die chriſtliche Offenbarung über Geſetz, Freiheit, Gewiſſen, Vernunft giebt. |
1) Den doppelten Irrwahn, der unter dem Scheine der Philoſophie von jeher viele Menſchen bethoͤrt hatte und noch bethoͤrt, den Wahn: als wenn der Menſch, aus ſich und durch ſich, unabhaͤngig von Gott, ſich das Gute gebieten, und aus ſich und durch ſich, unabhangig von Gott, das Gebotene vollbringen Eönnte, erflärt das Chriſtenthum als das h dos in den bedeutendſten Angelegenheiten der Menſchheit.
Der Menſch (dieß iſt die Lehre des goͤttlichen Chri⸗ ſtenthums) kam unverdorben aus der Hand Gottes, und ſo wie er aus der Hand Gottes kam, und Gott — der ewigen Liebe, huldigte, und ſo lange er im kindlich treuen Umgange mit Gott, und unter der milden Leitung Gottes blieb, hatte er volles Vermögen, Gott zu erkennen und zun | lieben, Gottes Geſetz zu achten und zu vollbringen, und in dieſer Treue gegen Gott und Gottes Willen, in dieſem Umgange mit Gott und ſeinem Willen, Friede und Freude zu genießen, kurz: er war Gottes Bild, das iſt: voll⸗ kräftig, gut, weiſe, ſelig zu ſeyn. In dieſer Epo⸗ che hatte die Vernunft des Menſchen, in ſtaͤter Verbindung mit Gott, das volle Vermoͤgen, Gott, und was gut und
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heilig iſt, Gottes Gefeg zu erkennen; hun der Wille des Menſchen, in ſtaͤter Verbindung mit Gott, das volle Ver⸗
moͤgen, Gott zu lieben, und was gut und heilig iſt, zu achten und zu vollbringen; hatte das Gemuͤth des Men⸗ ſchen, in ſtaͤter Verbindung mit Gott, das volle Vermoͤgen, in Erkenntniß und Liebe Gottes, in Achtung und Voll⸗ bringung ſeines Geſetzes ſelig zu ſeyn. In dieſer erſten Epoche trug der Menſch in und an ſich das Bild der Hei⸗ ligkeit und Gerechtigkeit, der Heiligkeit im Innern, der Gerechtigkeit im Aeußern.) Aber der Menſch blieb nicht in dem Lichte, in der Wuͤrde, in der Seligkeit ſeines Ur⸗ Standes. Da ſein Wille frei war, ſo konnte er ſich von Gott weg und auf ſich, von der Unendlichkeit weg und auf die Endlichkeit hinwenden, das Geſetz ſeines Gottes uͤbertreten, und indem ſich ſein Wille von Gott und Got⸗ tes Geſetz weggewandt, hat er es wirklich uͤbertreten.
Aber jene Wegwendung von der Unendlichkeit und dieſe Hinwendung zur Endlichkeit, dazu in dem freien Wil⸗ len des Menſchen wohl die Moͤglichkeit lag, fand ihre Wirklichkeit nicht in der reinen Selbſtbeſtimmung des freien Willens, aus ihr und durch ſie allein, ſondern in einer Selbſtbeſtimmung aus Verführung und durch Verfuͤhrung eines andern Weſens, das durch feinen fruͤhern Abfall von Gott nicht nur das urſpruͤng⸗ liche Boͤſe, ſondern auch das Prinzip der Verfuͤhrung zum Boͤſen fuͤr die unſchuldige Menſchheit, und ſomit der Feind Gottes und aller Ordnung geworden war. Durch dieſe Macht des urſpruͤnglichen Böfen und durch die Ein⸗ ſtimmung des erſten Menſchen ſchwand in ihm, mit der geraden Richtung des Willens zu Gott, das Licht aus ſeiner Vernunft, der Friede Gottes und die heilige Freude aus ſeinem Gemuͤthe; da ward Finſterniß, Ohnmacht zum Guten, Unruhe und Luͤſternheit wider das Geſetz herrſchend in ſeiner Seele, und der Tod in ſeinen Gliedern. Das volle Vermoͤgen, Gott zu erkennen und zu lieben, Gottes Geſetz zu achten und zu vollbringen, in Gott und Gottes
) Dieſen Zuſtand nannte die Band: statum prime d institutio- nis, statum naturae completae.
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Geſetz Friede und Freude zu genießen, das er ehemals hatte, war jetzt mehr Ohnmacht als Vollmacht, mehr ge⸗ laͤhmtes als volles Vermoͤgen, mehr Funke als wirkliche Flamme.
Da nun auf uns, als Nachkommen des erſten Men⸗ ſchen, der boͤſe, finſter, ſterblich geworden war, kraft un⸗
ſrer Abſtammung von ihm, die menſchliche Natur nicht
beſſer kommen konnte, als ſie in ihm war: ſo finden wir als Erben ſeiner Menſchheit in uns, mit und in der menſch⸗
lichen Natur, zugleich das Erbtheil, das uns der Stamm⸗
vater hinterlaſſen konnte: Ohnmacht zum Guten, Anlage zum Boͤſen, vordringende Luͤſternheit nach dem Sinnlich⸗ angenehmen, die dem Geſetze nicht unterthan ſeyn mag; Mangel an Friede und heiliger Freude, gelaͤhmtes Ver⸗
moͤgen der Vernunft, des Willens, des een und in
unſern Gliedern Zwiſt und Tod.)
Doch darf der Menſch, der die Ohnmacht zum Guten,
die Anlage zum Boͤſen, Unerkenntniß in ſeinen hoͤchſten Angelegenheiten, Mangel an Friede und Freude in ſich findet, nicht verzweifeln; denn die ewige Erbarmung ward
mit dem Menſchen nicht mitohnmaͤchtig, die Liebe liebt ewig fort. Es ward Wiederherſtellung der geſunkenen
Menſchheit, Wiedereinſetzung der gefallenen Menſchheit in
ihre volle Wuͤrde verheißen, und die Verheißung konnte
nicht unerfuͤllt bleiben. Der als Logos die fallende Menſch⸗
heit nie verlaſſen konnte, und an ihren Nachkommen die Wunder ſeiner Huld auf unzaͤhlige Weiſe geoffenbaret hatte, iſt in der Fülle der Zeiten, als ein zweiter beſſerer Adam, in Menfchengeftalt erſchienen, hat ſich fuͤr fein
Brudergeſchlecht geopfert, und iſt nun vom Tode aufer⸗
ſtanden, als ein Hirt und Heiland ſeines Geſchlechts, zur
Rechten Gottes erhoͤhet. Aufhebung der Suͤnde und des
Todes iſt ſeine Herrſchaft, Umſchaffung der Menſchheit
zur Gerechtigkeit und zum ewigen Leben — ſein Werk, und was der Geiſt Gottes, der Geiſt Chriſti hienieden
durch die Sinnesaͤnderung anfängt, und durch die Heili⸗ j
«AD Dieſen Zuſtand nannte die Schule den statum destitntionis, statum peccati, statum naturae lapsae.
1 nr 2
Sri Sa Ans
11
g fortſetzt, das wird druͤben in dem Weich! np Au,
vollendet.)
2) Dieſe Lehre iſt als Thatſache nicht bi 10 un⸗ ſern heiligen Schriften, ſie iſt auch in der ganzen aͤltern Tradition aller Volker unverkennbar enthalten.
3) Nach dem Inhalte dieſer Lehre laſſen ſich die gro⸗ ßen Fragen uͤber Geſetz, Freiheit, Gewiſſen, Vernunft mit voller Richtigkeit und Beſtimmtheit aufloͤſen, und die Phi⸗ loſophie aller Moral vollenden. Denn, wie die Philo⸗ ſophie der Moral durch Voraus⸗ und Obenanſetzung des Hoͤchſten anfaͤngt, ſo kann ſie nur durch Einſtimmung mit den Ideen des Chriſtenthums, das einen dreifachen Zu⸗ ſtand der Menſchheit, den Urſtand der Würde, den Stand des Abfalls, und den Stand der Wiederherſtellung lehret, vollendet werden.
Nach dem Inhalte dieſer Lehre laßt ſich erſtens das heilige Geſetz im Menſchen aus einem drei⸗ fachen Geſichtspunkte betrachten. So lange der Menſch dem Geiſte des Geiſtes, das Gottes Geiſt helle und kraftvoll in ſein Gemuͤth geſchrieben hatte, mit unge⸗ brochener Treue anhieng, war der Menſch gut, heilig und bedurfte keines aͤußern buchſtaͤblichen Geſetzes; — er war von Gott geführt, und . in Liebe maten f ch ſel⸗ ber Geſetz. |
Aber, da ber Menſch dem Geſetze ſeines Geiſtes un⸗ treu geworden, und der milden Leitung Gottes ſich ent⸗ zogen hatte: da irrte er, außer ſich in's Elend verwieſen, umher, und bedurfte eines zweiten, eines Buchſtaben⸗Ge⸗ ſetzes, der Tafel, die wider den Frevler geſetzt iſt: das ſollſt du nicht. Dieß aͤußere Geſetz aber ſollte ihn nur wieder in ihn hineintreiben, damit er da wieder im Ge⸗ ſetze ſeines Geiſtes, was jetzt Gewiſſensgeſetz heißt, leſen lernen, ſich wieder dem Geiſte Gottes und dem erneuerten Geiſtesgeſetze zur Fuͤhrung uͤbergeben moͤchte, und ſomit das aͤußere Buchſtabengeſetz für. ſich wieder entbehrlich machte. Und ſo kann man ſagen: das Wie iſt vor und das
. Diefen neuen Zuſtand Eren Schule statum verinitinnis, statum regenerationis, statum naturae reparatae.
—
Boͤſe iſt nach dem Geſetze entſtanden. Das Boͤſe iſt dem Geſetze des Buchſtabens, der Tafel, und das iſt nach dem Geſetze des Geiſtes entſtanden.
1. Wie alſo der Menſch aus der Hand Gottes kam,
und ſo lange er, Gott huldigend, unter der milden Lei⸗ tung des goͤttlichen Geiſtes wandelte, war er gut, ee dem urſpruͤnglichen Geſetze des Geiſtes.
„HDieß iſt das lebendige, vollthätige Geiſtesgeſetz, lebendig, weil
das Gute im Menſchen wirklich lebte, vortthatt 9 weil der‘
Wille in der nen an d den Sei | Gottes W zu allem Guten war.
II. Als aber der Wesch f fündigte, wich von ihm das
Licht und die Geiſtesfuͤlle des Urſtandes, und es e ihm
nur das Soll des Gemüthes.
k Dieß Geſetz ift das jetzige innere Gewiſſ. Wen ere zwar ein gött⸗ licher Funke, aber unter Me Aſche und e von den Fin⸗ ſterniſſen des Lebens.
III. Sobald der Wensch a den ewigen Logos,
durch Chriſtus) wieder in die Gemeinſchaft des goͤttlichen
Geiſtes eintritt, ſo bekommt er ſein Geiſtesgeſetz wieder
in das Gemuͤth, das allmaͤlig lebendig und fuͤr die jetzige
Lebensperiode vollthaͤtig wird, bis es nach vollende⸗ ter Regeneration, die dem Menſchengeiſte eine paſſendere, verklaͤrte Huͤlle verſchafft, die ene des . des in ſich darſtellen wird. * Dieß Geſetz iſt das Geſetz der chriſtlichen Freiheit von Sünde und Tod, das eigentlich evangeliſche, das mit dem urſprüng⸗ lichen Geiſtesgeſetze in Eins zuſammenfällt.
4) Nach dem Inhalt dieſer Lehre laͤßt ſich zwei⸗
tens die Freiheit des Menſchen aus einem dreifachen Ge⸗
ſichtspunkt betrachten: a) die Freiheit des Urſtan⸗
ſtandes, die urſpruͤngliche, die in Verbindung mit
Gott und in Abhaͤngigkeit von Gott das volle Vermoͤgen war, das erkannte Geſetz Gottes zu erfüllen; b) die an geborne Freiheit, die uns als Nachkommen des ge⸗ fallenen Menſchen gegeben iſt, jene wohlbekannte Willkuͤhr,
liberum arbitrium, das großentheils gelaͤhmte, durchaus
unvollſtaͤndige Vermoͤgen, Gottes Geſetz zu achten und zu
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vollbringen; e) die wieder erringbare und errun⸗ gene Freiheit, erri 5 0 fuͤr alle edle Kaͤmpfer durch Willenstreue gegen Gottesgeſetz und durch Einſtim⸗ mung mit dem göttlichen Geiſte; ſchon errungen von den Auserwaͤhlten unſers Geſchlechtes. Sie iſt nach dem Ausdrucke der Schrift die Freiheit der Kinder Got⸗ tes, die von Stufe zu Stufe kraͤftiger wird, bis ſie in volle Thaͤtigkeit uͤbergeht.
5) Nach dem Inhalte dieſer Lehre laͤßt ſich drit⸗ tens auch die Vernunft des Menſchen aus einem drei⸗ fachen Geſichtspunkte betrachten, wie ſie a) im erſten Men⸗ ſchen unter den Einfluͤſſen des goͤttlichen Geiſtes ſtand, und ein lichthelles Bewußtſeyn Gottes und ſeines Geſetzes war; wie ſie b) in dem gefallenen Menſchen, ſich ſelbſt gelaſſen, ſtets umherirren wuͤrde, wenn ſie nicht im Gewiſſen, die⸗ ſem Anfange der wiedererneuerten Offenbarung Got⸗ tes, mit Gott in Zuſammenhang traͤte, Gottes durch Gott bewußt würde; wie ſie c) in dem zu Gottes Bilde er⸗ neuerten Menſchen wieder unter den Einfluͤſſen Gottes ſteht und zur urſpruͤnglichen ee zurückkehrt.
283. | ' Erklärung, des Boͤſen. Das Böſe als Erbverderben.
1) Das Boͤſe im Menſchen kann nicht begriffen wer⸗ den, wenn nicht der Hang zum Boͤſen, der in uns iſt, nach ſeiner doppelten Beziehung ruͤckwaͤrts und vorwaͤrts (ruͤckwaͤrts auf die Sünde des erſten Menſchen, und vorwaͤrts auf die Entwickelung des einzelnen Boͤ⸗ ſen aus dem gegebenen Hange zum Boͤſen) betrachtet wird. In der erſtern Beziehung iſt das Boͤſe Erbver⸗ derben, in der zweiten Radikalboͤſes.
2) Das Boͤſe im jetzigen Menſchen ſetzt alſo (nach der Lehre des Chriſtenthums) nicht nur das urſpruͤngliche Boͤſe in der gefallenen Engelwelt, in ſoweit der Fall des Menſchen eine Einwilligung in die Verfuͤhrung des boͤſen Engels war, ſondern auch einen Hang zum Boͤſen, eine Anlage zum Boͤſen voraus, die uns durch die Ab⸗ ſtammung von dem erſten Menſchen geworden iſt. Dieſe
Anlage zum Boͤſen wird in der 1 und Schulſpra⸗ che Erbſuͤnde genannt.
* Diefer Name veranlaßte einen großen Sprachkünſtler zur fel⸗ genden ſcharfſinnigen Zuſammenſtellung: „Die mediziniſche Fa:
kultät betrachtet die Vererbung der Sünde als Erbkrankheit, die ausgeſtanden, die juridiſche als Erbſchuld, die gebüßt, die theo⸗ logiſche als Erbſünde, die getilgt werden muß.“
30) Da Suͤnde in der gemeinſten Bedeutung fuͤr wirk⸗ liche und per ſoͤnliche Uebertretung des goͤttlichen Ge⸗ ſetzes genommen wird, die Erbſuͤnde aber, als angeerbet,
—
keine perſoͤnliche Uebertretung ſeyn kann: ſo iſt es der Muͤhe
werth, die mannigfaltigen Begriffe, die mit dem Wort,
Suͤnde, verbunden werden, als ſo viele Zweigbegriffe auf
ihren gemeinſamen Stammbegriff zurückzuführen. Dieſen Verſuch hat Stattler trefflich gemacht. Suͤnde in allgemein⸗
*
ſter Bedeutung iſt ihm Abweichung vom Zwecke, Verfehlung
des Zweckes. Dieſen Begriff hat auch das griechiſche Wort Knapria, von Auapray@: (Ts 6808), Zweck, Weg
verfehlen, abweichen von der Regel. Dieſes Zweckverfehlen
iſt entweder ein andauernder Zuſtand ( peccatum perdu-
rans), oder eine voruͤbergehende Handlung (peccatum actuale). Die voruͤbergehende Handlung iſt entweder ein Zweckverfehlen der bloßen Selbſtthaͤtigkeit (peccatum spontaneum), oder freien Selbſtthaͤtigkeit (Ppeccatum li-
berum); jenes iſt z. B. ein Fehler des Verſtandes, den ich
nicht haͤtte vermeiden koͤnnen, dieſes ein Fehler des Wil⸗
lens, den ich haͤtte vermeiden koͤnnen und ſollen. Das Zweckverfehlen der freien Selbſtthaͤtigkeit iſt Suͤnde in enge⸗ rer Bedeutung. In ſofern nun dieſes Zweckverfehlen der
7 freien Selbſtthaͤtigkeit als ein Abweichen von dem Geſetze, und zwar als ein Abweichen von dem Geſetze Gottes betrachtet wird, iſt es Suͤnde im gewoͤhnlichen Sinne der
Theologen ( peccatum theologicum). Das andauernde
Zweckverfehlen iſt uns entweder in und durch die Natur mit⸗ gegeben, oder durch eine freie Handlung geworden; jenes iſt angeborne Fehlerhaftigkeit, dieſes Gewohnheitsſuͤnde.
Für Mindergeübte mag die Tabelle nicht uͤberffüßig ſeyn.)
En RE NEE TE RE —
— 125 —
Defectus medii a line, N |
actuale 285 ‚habituale
consuetudinis
*
Anaturae
spontaneum
imperfectio (defectus a voluntate Dei imperfecte obli- gante). 5 N
ee | peccatum striete tale, (defectus à voluntate Dei perfecte obligante.)
4) Was den Begriff von der Suͤnde im theologiſchen Sinne betrifft, ſo kommt er auch bei den lateiniſchen Kir⸗ chenvätern vor, z. B. bei Ambroſius: quid est pecca- tum, nisi praevaricatio legis divinae, et coele- stium inobedientia praeceptorum? (Lib. de Pa- radiso, c. VIII.); bei Auguſtinus: peccatum est fa-
— 176 —
ctum vel dictum vel concupitum aliquid contra
legem aeternam (contra Faustum lib. XXII.). 5) Die Suͤnde im genannten Sinne, als freiwillige
Abweichung von dem Geſetze Gottes, hat dieſe weſentlichen
Merkmale:
J. Sünde iſt nicht bloß Begraͤnzung der Natur (limes
naturae); ſonſt waͤre jeder Mangel an Gaben, an Scharfſinn, an Wiſſenſchaft — Suͤnde.
II. Suͤnde iſt ebenfalls nicht bloß Unverſtand, nicht bloß Mißgriff, ſondern Abweichung der freien Willkuͤhr vom Geſetze.
III. Suͤnde iſt nicht jeder Mangel an Achtung fuͤr das Geſetz, ſondern ein ſolcher Mangel an Achtung, wo⸗ mit eine Verletzung des Geſetzes verknuͤpft iſt.
IV. Suͤnde iſt kein bloßes Uebermaß im Guten, iſt ein Widerſpruch und ein Widerſtreit wider das Gute. Es kann zwar das Gute im Menſchen, der ſeinen Eifer fuͤr das Gute nicht zuͤgelt, mit dem Boͤſen verknuͤpft wer⸗ den: aber das Gute als Gutes kann nie boͤſe ſeyn.
V. Die Sünde iſt ein ſolcher weſentlicher Wider⸗ ſpruch wider das N daß dieſes aus jener nie hervor⸗ gehen kann.
* Sünde iſt nach der Wortbedeutung etwas, das ausgeſühnet zu werden bedarf. Dadurch wird zu verſtehen gegeben, daß jede Sünde eine Art Entzweiung des Menſchen mit Gott iſt, alſo nicht aufgehoben werden kann, als durch Eineswerdung des
Entzweiten mit Gott, d. i. durch Ausſohnung. 25 a
Sünde kann vielleicht noch beſſer abgeleitet werden vom 1
Sondern, Abfondern: demnach wäre fie ſchon dem ha nne
i nach, Trennung von Gott.
er Sünde heißt ein Verbrechen im buchſtäblichen Sinne, wenn eine große Vergehung, wie z. B. der Diebſtahl, der mit Ein⸗ bruch verknüpft iſt, bezeichnet werden ſoll, im weitern Sinne jede Vergehung, die als äußere That die Ordnung aufhebt,
und als innere Handlung mit Bedachtſamkeit een e mit Bewußtſeyn und Freiheit beſchloſſen wird.
* Wo die äußere Geſetzgebung nur die Rechtswidrigkeit des Vorſatzes und Strafbarkeit der äußern Handlungen
in's Auge faßt, da findet die Moral ſchon die erſte leiſeſte
Abkehr
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Br
Abkehr des Gemüthes von dem heiligen Gefege und die erſte Hinkehr zum verbotenen Scheingute, fündhaft, ſtrafbar, wenn ſchon die Handlung im Menſchen drin bliebe, oder auch sul ſich herausgehend, kein Recht kränkte.
cer Die Sünde ward wohl auch am öfteſten als Beleidigung Set, tes vorgeſtellt. Stattler hat auch dieſem Ausdrucke feine rich. tige Bedeutung angewiefen, dieſe nämlich: jede Sünde iſt eine praktiſche Nichtachtung oder Verachtung des göttlichen Willens, iſt eine Nichtachtung und Verachtung der ewigen Gerechtigkeit, die nur als geſetzgebend und als geſetzhandhabend, und in letzterer Hinſicht, als belohnend den Gehorſam und ſtra⸗ fend den Ungehorſam, kann begriffen werden. Demnach be⸗ ſteht das Weſen der Sünde in dem contemtus practicus Dei, und dieſer contemtus practicus divinae legis et legislatoris ift eben das, was dem Ausdrucke „Beleidigung Gottes“ unterliegt, oder unterlegt werden fol. Dieſer contemtus practicas iſt aber wohl von dem formalis zu unterſcheiden; denn in⸗ dem jener in jeder freiwilligen Uebertretung des Geſetzes ipso facto mitbegriffen ift, fo ſetzt dieſer das beſondere Böfe voraus, daß die Verachtung des Geſetzgebers als bewußter Grund zur Geſetzübertretung den Willen ſtimmte. N
6) Im Sinne des neuen Teſtamentes wird durch das Wort „Suͤnde“ bezeichnet a) das ganze unwillkuͤhrliche Verderben der menſchlichen Natur, in ſofern es Quelle freier Uebertretungen des Geſetzes wird. „Ich fand ein anderes Geſetz in meinen Gliedern, welches dem Geſetze meines Geiſtes widerſtreitet, und mich gefangen nimmt un⸗ ter das Geſetz der Suͤnde, welches in meinen Gliedern herrſcht.“ (Roͤm. VII. 23.) Suͤnde bezeichnet b) die eins zelnen Uebertretungen des göttlichen Geſetzes mit Bewußt⸗ ſeyn und Freiheit. (Matth. VII. 30. XIII. 41. Roͤm. IV. 2. Hebr. VIII. 12.) „Sünde bezeichnet c) herr⸗ ſchende Zuſtaͤnde des Boͤſen. In dem Sinne ſpricht Chri⸗ ſtus von der Knechtſchaft deſſen, der Boͤſes thut (Joh.
VIII. 34.), und Paulus von dem Knechtsſtande, in dem der Boͤſe die Glieder des Leibes als Werkzeuge hingiebt zur Ausfuͤhrung deſſen, was die Suͤnde befiehlt. (Rom. VI. 6— 12.) Suͤnde bezeichnet d) alles Unterlaſſen des Sittlichguten, das man haͤtte thun koͤnnen. „Wer was J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 12
*
— 1716 — =
Gutes thun kann und nicht thut, dem iſt es Sünde. u (Jak. IV. 17.) Bei alle dem kann es e) nicht mit Grunde widerſprochen werden, daß Suͤnde in den neu⸗ teſtamentiſchen Schriften am oͤfteſten das Verſchulden des Menſchen in geſetzwidrigen Entſchließungen, Handlungen, oder mit einem Worte: die auf buͤrdliche Geſetz⸗ widrigkeit (anomia) bezeichnet, in welcher Hinſicht die klaſſiſche Stelle (1 Joh. III. 4.) ſtatt aller angeführt wer⸗ den kann: Wer Suͤnde thut, thut auch Unrecht, und die Suͤnde iſt das Unrecht. Die Geſetzwidrigkeit des Suͤnders wird f) als eine Widrigkeit des Gemuͤthes gegen den Ge⸗ ſetzgeber ſelbſt, und oft ſehr treffend als eine Feindſ chaft gegen Gott vorgeſtellt: Der irdiſche Sinn iſt eine Feind⸗ ſchaft wider Gott, indem er dem Geſetze Gottes nicht unterthan it. (Roͤm. V. 10. VIII. 2. Kol. I. 21.) Denn wer Boͤſes thut, haßt das Geſetz als den Schlagbaum, der ihm den Weg zur Befriedigung ſeiner Luſt verſchließt, alſo auch den Geſetzgeber, der dieſen Schlagbaum geſetzt hat, und vor deſſen Auge ſich auch die geheimſte Befrie⸗ digung der Luft nicht verbergen laßt; alſo wohl auch den hoͤchſten Richter, der die Wuͤrde des Geſetzes durch Be⸗ ſtrafung der Uebertretungen geltend macht. Dieſer innere Widerſtand gegen das Geſetz, gegen den Geſetzgeber und gegen die hoͤchſte Gerechtigkeit des Geſetzgebers iſt nicht bloß Mangel an Achtung fuͤr Geſetz und Geſetzgeber, ſon⸗ dern der Charakter der Feindſchaft, die wider die Zwecke deſſen, gegen den man feindlich geſinnt iſt, gewaltſam oder N liſtig angehet. |
2) Die wirkliche perſoͤnliche Suͤnde des Meuſchen, vitium pers onae, fteht mit dem Erbverderben, vi- tium naturäe, im unwiderſ prechlichen Zuſammenhange; f denn, wie man immer das angeborne, das Erbverderben erklären mag, ſo kommen denn doch die Ausſpruͤche der Schrift und der Kirche darin überein, daß die Menſchheit, i hingegeben dem Uebergewichte der niedern Natur uͤber die hoͤhere, das durch die Abſtammung von dem erſten ſün⸗ | digen Menſchen geſetzt iſt, alſo ſich ſelber gelaſſen, aus ſich und durch ſich allein, a) zur Erkenntniß der Wahr⸗ heit in ihren ewigen . b) zur ve i
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des Guten, und c) zum Genuſſe einer der fittlichen An⸗ lage anpaſſenden Seligkeit untaugſam ſey, und ſo lange untaugſam bleibe, bis dieſe Untaugſamkeit durch die Ein⸗ fluͤſſe des Erloͤſers ) gehoben iſt. Wenn nun aber dieſe dreifache Untaugſamkeit durch die Macht des Erloͤſers ge⸗ hoben iſt, ſo bleibt uns doch jener Hang zum Boͤſen noch, jene concupiscentia, die zwar den Kämpfer nicht ſchaden kann, ja ſogar die Sieger⸗Krone bereitet, ins deſſen nicht aufhöret, uns ſtets zur perfönlihen Sünde zu reizen, wie fie aus der perſoͤnlichen Sünde des er⸗ ſten Menſchen gekommen iſt.)
99 Das angeborne Verderbniß der menſchlichen Natur, auf das uns die poſitive Offenbarung aufmerkſam macht, beſtaͤtiget ſich ſehr durch das einfoͤrmige Zeugniß der Weltgeſchichte, ich meine a) durch die wirklichen, nach allen moͤglichen Richtungen ſich durchkreuzenden Irrungen der Menſchen in Sachen des hoͤchſten Gutes; b) durch die herrſchenden Aus b ruͤche des Boͤſen, die ſich in allen Laͤndern, zu allen Zeiten, an allen Menſchen zeigen; c) durch die Labyrinthe von Elend und Unſeligkeit, die theils mit jenen Irrungen, theils mit dieſen Ausbruͤ⸗ chen des Boͤſen gegeben ſind; d) durch die anerkannte Kraftloft gkeit aller ſchon verſuchten Mittel und Anſtalten, wodurch der Irrthum, das Boͤſe und die Unſeligkeit des menſchlichen Geſchlechtes ſollten aufgehoben werden.
9) Dieſes angeborne Verderbniß offenbart ſich nach Paulus beſonders dadurch, daß das oͤffentlich promulgirte Geſetz Gottes ſelber den Menſchen nur noch mehr zum Boͤſen reizet, und nach ſeinem genialiſchen Ausdrucke die Suͤnde durch das Geſetz erſt recht ſuͤndig wird, ſtatt daß ſie durch das Geſetz ſollten aufgehoben werden.
100) Die jetzige Menſchheit iſt alſo in dem Auge Got⸗ tes eine durch die Suͤnde des erſten Menſchen vergiftete,
*) Hieher gehört die unübertreffliche Erklarung der tridentiniſchen Synode: Adae peccatum, quod origine unum et propaga- tione, non imitatione, trans fus um omnibus inest uni- cuique proprium, non per humanae naturae vires, sed per meritum unius mediatoris Christi tolli. Sess. V. Nr. 3. *) Ex peccato est et ad peccatum inclinat. Sess. V. 12 *
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ihrer urſpruͤnglichen Wuͤrde entſetzte Menſchheit; und als ſolche ein Gegenſtand des Mißfallens. Von dieſer durch die Suͤnde vergifteten Menſchheit gilt das Wort des Apo⸗ ſtels: natura sumus filii irae. Die Sünde, die die menſchliche Natur vergiftet hat, heißt in dem erſten Men⸗ ſchen Ur ſuͤnde, perſoͤnliche Sünde, in feinen Nach⸗ kommen, in den Erben der vergifteten Menſchennatur: Erbverderben, Erbfünde, in ſofern jene bleibende Untuͤchtigkeit zur Erkenntniß des Wahren, zur Vollbringung des Guten, zum Genuſſe des Seligen, als Folge der Erb— ſuͤnde, mit der Menſchheit als Erbtheil (micht er gut) auf uns fortgepflanzt ward.
11) Jetzt wird wohl die Frage uͤberfluͤßig ſeyn: Wo⸗ zu die Lehre von der Erbſuͤnde in der Moral? Denn fie iſt offenbar dazu, damit ich und du und unſere Mit⸗ menſchen 1) uns durch die Romane von der vorgeblichen Unverderbtheit des menſchlichen Herzens nicht taͤuſchen, und in Erforſchung des Boͤſen, das ſich vor uns ſo kuͤnſtlich verſteckt, in Selbſtbewahrung vor dem Boͤſen, das uns ſo oft uͤberraſcht, in Bekauͤmpfung des Boͤſen, das uns fo maͤchtig angreift, nicht hindern laſſen; dazu, daß wir 2) in der Beſſerung des Menſchen bei dem rechten Anfange, nam? lich bei der Erkenntniß und Bekämpfung des Boͤſen an⸗ fangen, und 3) in der eee gegen das Döfe 2
- aufhoͤren.
Alle Einſlüſſe dieſer Lehre ſowohl auf die e Ausübung des Guten, als auf die Ausuͤbungslehre (Asketik) hat ſelbſt der Urheber der kritiſchen Philoſophie nicht in Abrede ſtellen koͤnnen: „Der Satz vom angebornen Boͤſen will in de
moraliſchen Asketik mehr ſagen, aber doch nicht mehr, als: wir koͤnnen in der ſittlichen Ausbildung der anerſchaffenen moraliſchen Anlage zum Guten, nicht von einer uns natür⸗ lichen Unſchuld den Anfang machen, ſondern muͤſſen von einer Vorausſetzung einer Bösartigkeit der Willkuͤhr in Annehmung ihrer Maximen, der urſpruͤnglichen Anlage zus wider, anheben, und, weil der Hang dazu unvertilgbar iſt, mit der unabläffi igen Wees gegen N . fortſchreiten.“ | 1
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74. Radikal⸗Verderben.
So wie das Verderbniß des Menſchen in Hinſicht auf unſere Abſtammung cruͤckwaͤrts) das angeborne heißt, ſo kann es in Hinſicht auf die fernere Entwicklung des ein⸗ zelnen Boͤſen (vorwaͤrts) das Radikal-⸗Boͤſe genannt werden. Demnach waͤre das menſchliche Boͤſe ruͤckwaͤrts Erb verderben, vorwärts ein freithaͤtiges Wurzel⸗ Boͤſe. Beides zuſammen giebt dem Begriffe von dem menſchlichen Boͤſen feine Voͤlligkeit. Denn das Boͤſe, das wir in uns herrſchen laſſen, iſt nicht der Abfall der urſpruͤng⸗ lichen Menſchheit von Gott, ſondern die Herr⸗ ſchaft des Boͤſen in der Natur, die ſchon abge⸗ fallen iſt. Die Herrſchaft des Boͤſen wird alſo nur dadurch voͤllig erkennbar, daß wir es als Erbverder⸗ ben und als Radikal⸗Boͤſes zugleich, das iſt, ſowohl in dem, was durch unſre Abſtammung gegeben iſt, als in der Zuthat des freien Willens betrachten.
10 Radikal iſt mir das Boͤſe im Menſchen, in ſo⸗ fern es ſelbſt boͤſe iſt, und als Wurzel den ganzen Baum unſrer uͤbrigen Geſinnungen, Zwecke, Maximen, Handlun⸗ gen vergiftet.
Radikal heißt insbesondere die Verkehrtheit des menſchlichen Herzens, und beſteht in der Fertigkeit, die Ordnung, welche durch das heilige Geſetz nach dem Sinne des Wortes geſetzt iſt, und deßhalb die ſittliche heißt, umzuſtoßen, d. i. das zuͤgelloſe Heer der Neigungen des Herzens uͤber das heilige Geſetz herrſchen zu laſſen, da das heilige Geſetz den Neigungen gebieten ſollte.
* Man könnte auch das angeborne Verderbniß ein Radikal⸗Ver⸗ 8 derbniß nennen; aber hier iſt nur vom rt Böſen die N Rede.
229) In ſofern das Böſe im Menſchen gputzelt iſt, hat der boͤſe Menſch, als boͤſe, einen boͤſen Hang zum ein⸗ zelnen Boͤſen. * Man hat angefangen, das Mengen, das ſich ſeines Segel ſtandes nicht bewußt iſt, Hang, und das Verlangen, das ſich ſeines Gegenſtandes bewußt iſt, Neigung zu nennen. Wohl
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das: indeſſen kann man mit dem Worte Hang ſowohl das er⸗ kenntnißloſe Verlangen, als das, welches ſich ſeines Gegenſtandes bewußt iſt, bezeichnen, und durch Beiwör⸗ ter: angeborner Hang, natürlicher Hang, und: Hang mit Bewußtſeyn, dem Mißverſtande wehren. So iſt in dem angeführten Satze: Der Böſe hat als böſe einen böſen Hang zum einzelnen Böſen, deutlich genug ausgeſprochen, daß hier nicht von dem angebornen, ſondern von dem perſön⸗
lichen, mit Bewußtſeyn und Freiheit verknüpften Hange die Rede iſt.
3) Dieſer Hang zum Boͤſen offenbart ſich auf eine dreifache Weiſe (die der Urheber der kritiſchen Philoſophie ) genau beſtimmt hat), und zwar erſtens: dadurch, daß ich das Gute, das ich thun ſoll und thun will, doch nicht thue.
Dieß iſt die Schwaͤche, die Gebrechlichkeit der menſchlichen Natur (kragilitas naturae). Das Gute iſt im Vorſatze ſiegend, wird aber, noch vor oder wenigſtens in der Ausfuͤhrung beſiegt, unterliegend. Der Hang zum Boͤſen offenbaret ſich zweitens: dadurch, daß ich das Gute, das ich thun ſoll und will und wirklich thue, im erſten Wollen ſchon, oder wenigſtens im Thun mit einer unrei⸗ nen Abſicht beflecke, unrein mache. Dieß iſt die Unlau⸗ terkeit des menſchlichen Herzens (Gimpuritas naturae). Es iſt das Gute im Vorſatze, und kommt zur That; aber es iſt entweder in dem Vorſatze ſchon nicht lauter, oder es bleibt es wenigſtens in der Ausfuͤhrung nicht. Der Hang zum Boͤſen offenbart ſich drittens: dadurch, daß ich das Boͤſe wirklich wolle, und auch thue; daß das Boͤſe nicht erſt aus Gebrechlichkeit den guten Vorſatz in der Ausfuͤhrung meiſtere, oder den guten Vorſatz und die Aus⸗ fuͤhrung beflecke, ſondern ſchon im Entſchluſſe liege, wel⸗ cher Entſchluß nicht als einzeln, ſondern als die Frucht der Denk⸗ und Handlungsart angeſehen werden muß.
Dieß iſt die Boͤsartigkeit des menſchlichen Herzens (vitiositas, pravitas), eine Verderbtheit des Her⸗ zens, in ſofern die Geſinnung des Menſchen verderbt iſt, und in ſofern ſie den Grund der Handlung werber
*) Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft.
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«corruplio); eine Verkehrtheit des menſchlichen Herzens, weil es die ſittliche Ordnung verkehrt, das Boͤſe ſtatt des Guten in den Vorſab aufnimmt (port yeraltas), Argſinn. Der Gebrechliche unterliegt mit . guten Vorſatze vor oder in der Handlung dem Reize des Boͤſen oder der Groͤße der Beſchwerniſſe, die mit dem Guten verbunden find; der Unlautere verunreiniget das Gute, das er will und wohl auch thut, mit unſittlichen Zwecken; der Boͤs⸗ artige iſt es dadurch, daß er die ganze ſittliche Denk» und Handlungsart aufhebt, und nicht bloß aus Gebrechlichkeit Gutes unterlaͤßt, oder aus Unlauterkeit Gutes befleckt, ſon⸗ dern Boͤſes zur Regel, zum Beſtimmungsgrunde des Wol⸗ lens und Thuns macht. | * Es gehört nicht zum Begriffe der Bösartigkeit, daß der Bös⸗ artige das Böſe wolle und thue, weil es böſe iſt, ſondern es iſt genug, daß er Böſes wolle und thue, obgleich es ihm als Böſe vorſchwebt. Dieß reicht hin zu einer menſchlichen Bösartigkeit, jenes würde einer außermenſchlichen Cataniſchen) Bosheit eigen
1 ſeyn. Dieſe drei Stufen des Böſen laſſen ſich im Leben des Menſchen überall nachweiſen.
Der edle, aber ſchwache Geſchaͤftsmann A. faßt den Entſchluß, jeden Klagenden gelaſſen anzuhoͤren. Dem Entſchluſſe getreu, hoͤrt er an einem Verhoͤrtage gelaſſen zu; auf einmal kommen fuͤnf neue Klaͤger, und der dritte macht ſo viele Umwege im Vortrage, daß dem Hoͤrenden endlich, nach mancherlei Kaͤmpfen mit ſich ſelbſt, der Ge⸗ duldfaden bricht. Er faͤhrt den Sprecher mit derben Worten an, und bricht das Verhoͤr ab.
Der unlautere Geſchaͤftsmann B. bezeuget entſchei⸗ dende Achtung fuͤr Gerechtigkeit, und ſpricht dem Waiſen, der eine gerechte Sache hat, den Rechtshandel zu, und dem Reichen, der ihm Geſchenke bot, ab. Allein, was ihn ſo ſtark machte, den Reichen zuruͤckzuſetzen, war nicht ſo faſt der Rechtsgrund, als die Hoffnung, daß ihm der RNuf eines gerechten Mannes die Gnade des Fuͤrſten, und dieſe eine beſſere Stelle verſchaffen wuͤrde. Der Leib ſei⸗ nes Richterſpruches iſt rein (geſeb mäßig), die Seele un⸗ rein (unſittlich). |
Der böfe Geſchaͤftsmann C. laßt, Eines mit feinem geheimen Unterhaͤndler, die Rechtsſpruͤche in Geheim an den Meiſtbietenden verkaufen. Er liebt das Geld uͤber Alles, und die Gerechtigkeit gar nicht. Das Boͤſe iſt bei ihm Regel, das Gute nicht einmal Ausnahme. Dieß ſein ungerechtes Verfahren weiß er aber dadurch vor ſich ſel⸗ ber zu beſchoͤnigen, daß er den Kranken im Spitale aus ſeiner Kuͤche gedeihende Koſt ſende, und in ſeinem geringen Jahresgehalte eine Art Noͤthigung zu ſolchen Selbſthuͤlfen zu finden glaube.
4) Die Gebrechlichkeit iſt nicht ſchuldlos, in wie⸗ fern der Gebrechliche ſeine Geiſtesmacht da, wo er ſie haͤtte vermehren koͤnnen, etwa ſelber verminderte. Unlau⸗ terkeit hat ſchon mehr Schuld in ſich, und gerade fo viel, als die Abſicht, die den Handelnden zum Handeln treibt, dem Geſetze widerſtreitet. Die Boͤsartigkeit wird durch die Stufe der Tuͤcke, die ihr inwohnet, noch ver⸗ dammens⸗ und ſtrafwuͤrdiger.
5) Das Tuͤckiſchboͤſe verhält ſich wie die Kunſtfertig⸗ keit, ſich zu betruͤgen und Andere zu beluͤgen. Der Tuͤ⸗ ckiſchboͤſe betruͤgt ſich, indem er vor der Handlung das Geſetz zum Nachtheile des Geſetzes deutet, und nach der Handlung die Uebereinſtimmung derſelben mit dem Geſetze zum Vortheile ſeiner Eitelkeit beurtheilt. Der Tuͤckiſchboͤſe beluͤgt Andere, indem er die innere Nichtswuͤrdigkeit, die er fühlt, mit den Farben des Guten, das ihm fehlet, uͤbertuͤnchet.
12 Jene Tücke, die ſich und Andere hintergeht, heißt nach dem Aus⸗ ſpruche des philoſophiſchen Seracrzngtes „der faule Fleck un⸗ ſerer Gattung.“
Die Rechtslehre ſieht den dolus malus in dem rechtswidrigen
Entſchluſſe, und in der Abſicht, die ſtrafbare Handlung zu
begehen, die ſchon im Entſchluſſe lag; dagegen die Moral ſieht
den dolus, die Tücke des Gemüthes, nicht bloß in rechtswidri⸗ gen Entſchlüſſen, Abſichten, Handlungen, ſondern auch in dem Gebiete des Sittlichen, und zwar ſchon a) in Deutung des Ge⸗ ſetzes vor der Handlung zum Nachtheile des Geſetzes, b) nach der Handlung im unrichtigen, ſich ſelbſt täuſchenden Urtheile über die Einſtimmung derſelben mit dem Geſetze, e) im Aus: hängen des Tugendſchildes vor Andern, und ganz beſonders d) in
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der verborgenen Fertigkeit, ſich und Andere auf Me genannte Weise zu hintergehen. | 5 0
3 60 Das Radikalboͤſe iſt alſo der allgemeine Hang f zum Boͤſen, das für uns reizend werden kann, und zwar ein Hang mit Bewußtſeyn und Freiheit, alſo perſoͤnlich, alſo verſchuldet, unterſcheidet ſich „alſo dadurch klar genug von dem angebornen Hange zum Boͤſen, daß dieſer na tuͤrlich, jener perſoͤnlich iſt. ER So anwendbar übrigens dieſe Lehre von der Gebrechlichkeit, Un⸗ 5 lauterkeit und Bösartigkeit der Natur zur Erforſchung des Bö⸗ ſen immer ſeyn mag, ſo wird doch der letzte Grund alles = ſen dadurch nicht enthüllt. ; * Gin anderer origineller Denker fand das Radikelböse u in einem andern Drei: der Menſch hat, in ſeiner Betrachtungsweiſe, mit der ganzen übrigen Natur die Kraft der Trägheit gemein. Dieß Widerſtreben gegen Alles, was ihn dringt, aus ſeinem Zuſtande herauszugehen, dieſe Tendenz, im angewohnten Geleiſe zu blei⸗ ben, dieſer Hang zur Ruhe und zur Gewohnheit, dieſer Schlen⸗ drian, aus dem wir uns nur mit großer Mühe losreißen und in den wir gleich wieder zurückſinken, wenn wir aufhören, zu wachen; dieß Servum pecus, dieſe Faulheit von Natur, die ſich durch lange Gewohnheit in's Unendliche reproducirt, und bald gänzliches Unvermögen zum Guten wird, iſt nach ihm das wahre, angeborne, in unſerer Natur ſelbſt liegende Uebel. Aus dieſer Trägheit entſpringt zunächſt die Feigheit, das zweite Grundlaſter der Menſchen. Feigheit iſt die Trägheit, in der Wechſelwirkung mit Andern unſre Selbſtſtändigkeit zu behaup⸗ ten. Jeder hat Muth genug gegen den, von deſſen Schwäche er ſchon entſcheidende Ueberzeugung hat; bekommt aber Jemand mit Einem zu thun, dem er mehr Stärke zutraut, als ſich ſelbſt, ſo erſchrickt er vor der Kraftanwendung, die er bedürfte, und beitarft ſich in dem Unvermögen, das er ſich beilegt, feine Selbſt⸗ ſtändigkeit zu behaupten. Daher entſteht die phyſiſche und mo⸗ raliſche Sklaverei unter den Menſchen, die Kriecherei und Nach⸗ beterei aller Art. Aus Feigheit entſteht das dritte Grundlaſter der Menſchheit, die Falſchheit. Nur der Feige iſt falſch. Der Menſch kann ſeine Selbſtheit nicht ſo ganz verläugnen und ei⸗ nem Andern aufopfern, wie er etwa vorgiebt, um der Mühe, ſie im offenen Kampfe zu vertheidigen, überhoben zu ſeyn. Er ſagt dieß daher nur fo, um ſich feine Gelegenheit deſto beſſer zu
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erſehen, und ſeinen Unterdrücker dann zu bekämpfen, wann die Aufmerkſamkeit deſſelben nicht mehr auf ihn gerichtet ſeyn wird. Dieß iſt das Bild des gewöhnlichen Menſchen; denn der Außergewöhnliche hat einen rüſtigen Charakter, ohne deß halb
im mindeſten ſittlichbeſſer zu ſeyn, er iſt weder träge, noch feige, noch falſch; er tritt übermüthig um ſich her nieder, und wird Unterdrücker derer, die gerne Sklaven ſind. (Das Syſtem der Sittenlehre von Fichte.)
* Diefe Erklärung it als Phänomen der Zeit merkwürdig; aber wenn der angegebene Grund der Eine, der letzte und der allenthüllende Grund des ſittlichen Verderbens ſeyn ſoll, ſo iſt er wohl keines aus allen dreien: denn er iſt a) nicht der Eine Grund, weil die außergewöhnlichen Menſchen den Denker wieder einen andern Grund aufzuſtellen nöthigen. Er iſt b) nicht der
letzte Grund, weil die neue Frage, woher die Trägheit in den Meiſten, oder der Uebermuth in den Wenigen komme, unver⸗ meidlich ſeyn dürfte. Er iſt c) nicht der allenthüllende Grund; denn es iſt viel Böſes in der Welt, das ſich weder aus Trägheit, noch aus Uebermuth erklären läßt, wie z. B. der Hang zur geſetzloſen Wolluſt, der die Trägheit ausſchließt, und den Uebermuth nicht nothwendig einſchließt.
7) Was ift alſo dieß Radikalboͤſe in feiner Weſen⸗ heit, in ſeinem letzten Grunde und in fear Voll⸗ endung?
Die beſtimmteſte Antwort auf dieſe beſtimmte Frage
-ift die: das Radikalböſe in ſeiner Weſenheit, in ſeinem letzten Grunde und in ſeiner Vollendung iſt (ſowohl in der Betrachtung der Vernunft, die alles Wahre auf das Urwahre reducirt, als nach der Lehre des Chriſtenthums) das Ich, in ſofern es ſich von Gott als dem Mittelpunkte alles Wahren, alles Guten, Se⸗ ligen (Schönen) losgeriſſen, und ſich ſelber zum Mittelpunkte alles Strebens und Handelns gemacht hat, iſt der allgebietende Egoismus (deutſcher: die allgebietende Selbſtſuͤchtigkeit des von Gott getrennten Willens). Die gegebene Antwort kann nur aus den Tiefen einer Philoſophie, die Religionslehre iſt, und aus einer Religionslehre, die Philoſophie iſt, voll⸗ ftändig erklaͤret und als richtig dargeſtellt werden. Wem
es nämlich klar werden ſoll, was es heiße: ſich von Gott iſoliren, ſich in ſich concentriren, und daß nur darein die Weſenheit, der letzte Grund und die Vollendung des Boͤſen geſetzt wer den koͤnne, dem muß vorher klar werden, was Gott fuͤr irgend eine Intelligenz (die nicht Gott iſt, die ein Engel oder Menſch iſt) ſey, und wie ſich die Intelligenz als freier Wille gegen Gott verhalten ſoll; dem muß es klar werden, daß Gott, ſo wie Er fuͤr bt Intelligenz nothwendig das ſchaffende Prinzip iſt, indem Alles, was Intelligenz heißen kann, ohne die hoͤchſte allſchaffende Intelligenz nichts = 0 waͤre: fo auch als der ewige Wille, der nichts wollen kann, als die Intelligenz zum Ebenbilde ſeiner Lauterkeit, Schoͤnheit, Seligkeit zu ma⸗ chen, fuͤr jeden freigebornen Willen das bewegende Prinzip, das hoͤchſte Exemplar, das letzte Ziel ſeyn ſoll. Ich ſage:
Gott iſt a) fuͤr jeden freigebornen Willen das ws gende Prinzip, dem er nachgehen, gehorchen ſoll; Gott iſt b) fuͤr jeden freigebornen Willen die leitende Re⸗ gel, das hoͤchſte Exemplar, dem er aͤhnlich werden ſoll; Gott iſt ©) für jeden erſchaffenen Willen das letzte Ziel, in dem er ruhen ſoll. Ich ſage: wenn der freigeborne Wille (er ſey der eines Engels oder Menſchen), Gott dem bewegenden Prinzip wirklich folget, Gott dem hoͤchſten Exemplare wirklich aͤhnlich, gleichend wird, in Gott als dem letzten Ziele, das allein Ruhe ſchaffen kann, wirklich ruhet, ſo iſt er gut. Die weſentlichen Bedingungen des guten Willens ſind alſo die: dem goͤttlichen Antrie⸗ be folgen, dem goͤttlichen Muſter ſich nachbil⸗ den, in dem goͤttlichen Ruhepunkte ruhen.
Der Grund dieſer Lehre, der jedem reinen Auge aus der Idee des Guten entgegenſtrahlt, kann auch fuͤr gemei⸗ ne Augen aus dem bloßen Gegentheile anſchaulich werden; denn folgte der Wille dem goͤttlichen Antriebe nicht, ſo waͤre er Gott ungehorſam; bildete er ſich nicht nach dem goͤttlichen Muſter, ſo wuͤrde er Gott unaͤhnlich; ruhete er mit feinem ganzen Wohlgefallen nicht in Gott, als ſeinem Ruhepunkte: ſo muͤßte er in ſich
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ſelber ruhen, — in fich ſelber, denn, wenn er auch in einem anderen endlichen Dinge ruhete, fo geſchaͤhe es doch nur um ſeines Selbſtes wegen, alſo waͤre doch nur er fein letzter Ruhepunkt, alſo müßte er ſich ſelbſt ver goͤttern, abgoͤttiſch ſich ſelbſt anhängen, alſo eitel, alſo boͤſe ſeyn. Der gute Wille iſt alſo das, was in den Intelligenzen ſich von Gott bewegen, von Gott leiten laͤßt, und in Gott den letzten Ruhepunkt fin⸗ det. Voluntas bona est, quae agitur a Deo, agit secundum Deum, agit propter Deum. Denn im guten Willen muß Alles gut ſeyn, die Triebfeder, das Muſterbild, der Endzweck.
Daß in dem guten Willen Alles gut fen muͤſſe, die Triebfeder, das Muſterbild, der Endzweck, und daß Gott der Beweger, das Exemplar und der Ruhepunkt des guten Willens ſey, iſt uns am ſchoͤnſten und am uͤberzeugend⸗ ſten in dem Leben Chriſti vor Augen gelegt. Der Wille Chriſti war offenbar der gute Wille im unvergleichba⸗ ren Sinne, und war deßhalb der gute Wille, weil er a) allen Anregungen des göttlichen Willens gehorchte; weil er b) in Allem dem Muſterbilde ſeines Vaters folgte (ſo wie er's auch uns zum Geſetze machte: ſeyd vollkommen, wie euer Vater im Himmel iſt), und ſich ſelbſt durch dieſe Darſtellung der goͤttlichen Vollkommenheit als den einge⸗ bornen Sohn feines Vaters erwies; weil er c) in Allem, was er gethan, nicht gethan, gelitten hat, nicht ſeine, ſondern ſeines Vaters Ehre ſuchte, in ſeinem Vater ruhete: ‚ah ſuche nicht meine Ehre, ſondern die Ehre deſſen, der mich geſandt hat.“ Dieß war denn auch das Eine Geſetz der urſpruͤnglichen Menſch⸗ heit: Gott als dem hoͤchſten Beweger zu gehorchen, Gott als dem hoͤchſten Muſterbilde aͤhnlich zu werden, in Gott, als dem hoͤchſten Ruhepunkte, zu ruhen. Alſo, wenn wir das Gute, nach der Idee der chriſtlichen Moral, nicht in der jetzigen, ſondern in der urſpruͤnglichen Menſchennatur, wie ſie aus Gott kam oder in Chriſtus erſchien, aufſuchen, fo: iſt es unwiderſprechlich, daß der gute Wille des Mens ſchen nur dann und nur dadurch der gute Wille werde und bleibe, wann und in ſofern er in Gott ſeinen hoͤch⸗
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ſten Beweger, in Gott ſein hoͤchſtes Muſter, in Gott ſei⸗ nen letzten Ruhepunkt findet, dem Beweger wirklich gehor⸗ chet, dem Muſterbilde wirklich gleichet, im Ruhepunkte wirk⸗ lich ruhet.
Nun iſt es klar, was es heiße: der Wille iſolirt fi ich
von Gott. Der Wille ifolirt ſich von Gott nur dann und dadurch, wann und in ſofern er Gott als dem bewegen⸗
den Prinzip nicht mehr nachfolget, Gott als der leiten⸗ den Regel, als dem goͤttlichen Muſter nicht mehr nachhan⸗ delt) in Gott als dem letzten Ruhepunkte nicht mehr ruhet. Daraus wird es aber auch klar, was es heiße: der Wille
concentrirt ſich in ſich. Der Menſch, der nicht mehr Gott
zum Beweger, zum Muſterbilde, zum Ruhepunkte hat, muß ſich ſelber zu ſeinem Beweger, zu ſeinem Muſterbilde, zu feinem Ruh epunkte, muß ſich ſel⸗ ber zum Mittelpunkte alles Wollens und Nichtwollens, Thuns und Laſſens machen. Daraus wird aber auch ſo⸗ gleich klar werden, was eigentlich der Hauptpunkt der
Unterſuchung iſt, daß die Gottloſigkeit und Selbſt⸗
ſüchtigkeit, oder mit andern Worten: die allgebie⸗
tende Selbſtfuͤchtigkeit des gottloſen Gemuͤthes das Boͤſe ſey, und zwar I. das Boͤſe in ſeiner Wefenhett; II. das Boͤſe in ſeinem letzten Grunde, III. das Boͤſe in ſeiner Voll⸗ endung. a
Ich ſage: Die gebietende Setspfüchigtei des gott⸗ loſen Gemuͤthes iſt:
IJ. Das Boͤſe in feiner Weſenheit; denn hielte ſich der freigeborne Wille am Mittelpunkte alles Wahren,
Guten, Seligen, Schönen, ſo würde er nie ſich ſelbſt
zum Mittelpunkte machen, alſo wuͤrde er, ſtets Eines mit dem Alleinguten, auch ſtets gut bleiben, d. h. nie boͤſe werden koͤnnen. Alſo liegt das Weſen alles Boͤſen in der Selbſtſuͤchtigkeit des fuͤr das Goͤttliche geſchaffenen und ſich von Gott losmachenden Willens.
Dieſe allgebietende Selbſtſuͤchtigkeit des von Gott ge⸗ trennten Willens iſt:
II. Das Böfe in feinem letzten Grunde: denn wie das vernuͤnftlge Denken in Ergruͤndung des
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Wahren uͤber den Urgrund des Wahren, uͤber das Ur⸗ wahre — Gott nicht hinausgehen kann, ſo kann er auch in Ergruͤndung des Boͤſen uͤber das Urboͤſe, uͤber den freithaͤtigen Willen, der ſich von dem Mittelpunkte alles Wahren, Guten, Seligen, Schönen los⸗ und ſich ſelber zum Mittelpunkte gemacht hat, nicht hinausgehen.
* Diefe Darſtellung des Böſen paßt auf die Entſtehung alles Böſen in der Geiſter⸗ und in der Menſchenwelt: denn der freigeborne Wille (in der Geiſter⸗ oder in der Menſchen⸗ welt), kann nicht ſündigen, außer er trennt ſich von dem Mit⸗ telpunkte des Göttlichen und macht ſich ſelbſt zum Mittelpunkte. Worin der Unterſchied zwiſchen dem Böſen des gefallenen Engels und dem Böſen des gefallenen Menſchen ſey, iſt ge⸗ ſchichtlich F. 72. ſchon angegeben worden. Hier ſoll nur der Satz dargelegt ſeyn: Das Böſe in ſeinem höchſten Ur⸗ ſprunge (des Engels oder Menſchen) betrachtet, kann in
nichts Anderm gefunden werden, als in einem freien Willen, der ſich von Gott trennt und ſich in ſich con⸗ centrirt. 0
Dieſe DEAHNgEEN des von Gott getrennten Tl lens iſt
III. das Böse in ſeiner Vollendung; denn fie iſt böfe, fie iſt das Boͤſe, fie iſt alles Boͤſe, das Ein und das All des Boͤſen. Denn ſich von Gott los machen, und ſich ſelbſt zum Mittelpunkte alles Strebens und Handelns machen, widerſpricht dem heiligen Geſetze, das dem Menſchen gegeben iſt, Gott uͤber Alles, und den Naͤchſten wie ſich zu lieben, iſt alſo boͤſe; ſich ſelbſt zum Mittelpunkte, ſich zum Hoͤchſten, ſich zum Idole ma⸗ chen, heißt an die Stelle des heiligen Geſetzes ſich ſelber ſetzen, alſo nicht etwa das heilige Geſetz in einer einzel⸗ nen Handlung uͤbertreten, ſondern die Uebertretung des Geſetzes zur Regel machen, 1 alſo nicht nur ein Boͤſes, ſondern das Boͤſe.
Sich zum Einen Mittelpunkte alles Strebens und Han⸗ delns machen, heißt endlich die Selbſtſuͤchtigkeit zum Unis verſaltriebe der Geſinnung und des Lebens machen;
itt alſo nicht nur ein Boͤſes, nicht nur das Boͤſe, ſondern
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faßt alles Boͤſe in ſich, wozu ein ſelbſtſuͤchtiges, von Gott iſolirtes Gemuͤth Anlaß und Reiz finden kann.
8) Demnach iſt es ſonnenklar, was das Boͤſe in ſei⸗ ner Weſenheit, was das Radikalboͤſe in feinem
letzten Grun de, was das Radikalboͤſe in ſeiner
Vollendung ſey.
I. Das Boͤſe in feiner Weſenheit iſt das Selbſt (im Engel oder in einem Menſchen), das frei⸗ geboren und fuͤr Gott geſchaffen, ſich von Gott weg und zu ſich ſelbſt kehret. Denn ſo lange ſich das Selbſt am Mittelpunkte alles Wahren, Guten, Se⸗ ligen, an dem Urſchoͤnen, an Gott feſt haͤlt, kann es nicht boͤſe ſeyn, iſt Eines mit dem Alleinguten, alſo gut.
* Die zwei Merkmale, das Centrum des Wahren, Guten, Seli⸗ gen, des Urſchönen verlaſſen, und ſich zum Centrum machen, müſſen in der Einheit betrachtet werden von dem, der das We⸗ ſen der Sünde erfaſſen will. Denn der für Gott erſchaffene Wille kann ſein wahres Centrum nicht verlaſſen, ohne auf einem ſcheinbaren, auf ſich ſelber ruhen zu wollen, und kann auf keinem ſcheinbaren, kann nicht auf ſich ſelbſt ruhen wollen, ohne das Wahre verlaſſen zu haben. Das Böſe iſt alſo, in Hinſicht auf Gott,
die dreifache Abweichung des Willens von Gott als dem bewe⸗ genden Prinzip, von Gott als der leitenden Regel, von Gott als dem alleinberuhigenden Zielpunkte.
Das Böſe iſt in Hinſicht auf den Willen (auf das Subjekt), eine Concentrirung des Selbſtes in dem Selbſte. |
II. Das Radikalboͤſe des Menſchen in few nem jetzigen Zuſtande, iſt in ſeinem Weſen und in ſeinem letzten Grunde das Selbſt, das von Gott als dem Mittelpunkte aller Gei⸗ ſter los- und Mittelpunkt alles feines Stre⸗ bens geworden iſt, iſt alſo die Selbſtſuͤchtigkeit des gottlos gewordenen Gemuͤthes; denn dieſe Selbſtſuͤchtigkeit iſt, ſo wie das weſentlich Boͤſe, alſo auch die Wur⸗ zel alles fernern einzelnen Boͤſen (das Radi⸗ kalboͤſe).
III. Das Radikalboͤſe in feiner Vollendung iſt die allgebietende Selbſtſuͤchtigkeit des Gott⸗ los gewordenen Gemuͤthes; denn wenn die Selbſt⸗
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ſüchtigkeit gib geworben ift, ſo hat fie ſich ſelbſt vollendet. =
* Daß die Selbſtüuchügkeit des Gott ⸗losgewordenen Gemüthes der Anfang des Böſen, und die Urſache alles weitern Böſen ſey, hat ſchon Thomas von Aquin mit ſiegender Gründlichkeit erwieſen (secundae quaest. LXXVII. art. IV.) „Alle Sünde
iſt eine Wegwendung von dem unwandelbaren Guten zu dem wandelbaren. Dieſe Wegwendung ſetzt eine unordentliche Liebe zu dem wandelbaren Gut; die ungeordnete Liebe zu dem wandelbaren Gut ſetzt die ungeordnete Liebe zu ſich ſelbſt voraus, alſo iſt die ungeordnete Liebe zu ſich (Selbſtſüchtigkeit) Anfang und Urſache aller Sünde.“ Am wenigſten konnte dieſe
Beſtimmung des Böſen dem ſcharfſinnigen Auguſtinus entgehen. Er fand fie ſchon in dem Worte Delictum: Fortassis pecca- tum est perpetratio mali, delictum autem desertio boni. Nam i ipsum vocabulum si discutiatur, quid aliud erit deli- etum, quam derelictum; et qui delinquit, quid derelin- quit nisi bonum. (Quaest. 20 in Levit.)
Noch umfaſſender war fein Blick, als er alles Vitium in einem Abfalle des Kunſtwerkes von der Idee des göttlichen Künſtlers erblickte: a Deo habent omnes naturae, quod na-
tiurae sunt: et in tantum sunt vitiosae, in quantum ab ejus, qua factae sunt, arte discedunt. (libr. 3. c. 15. de li- bero arbitrio.) f
Die beiden Merkmale des Böſen, Gottloſigkeit und Selbſtſ üchtigkeit hat aber derſelbe Auguſtinus de civ. Dei lib. 14. c. 28. deutlich ausgeſprochen: amor sui us- er. ad contemtum Dei facit civitatem Babylo-
nis. Beide Merkmale des Böſen kommen ſchon im Propheten Jeremias vor (Jerem. II. 13.) Obstupescite coeli super hoc et portae ejus desolamini vehementer, dieit Dominus. Duo
enim mala fecit populus meus: Me dereliquerunt fon- a tem aquae vivace, et foderunt sibi cisternas dis- sipatas, quae continere non valent aquas Die
Quelle des Lebens in Gott verlaſſen, und die Quelle des Todes in ſich aufſuchen — das iſt die Weſenheit des Böſen.
* Daraus erhellet denn auch, daß der Radikalböſe und das
‚irreligiöfe Prinzip eines und daſſelbe ſey, in ſofern näm⸗ lich das gottloſe Gemüth des Selbſtſüchtigen ſowohl in den Geſiumungen als Thaten nichts anders offenbaren kann, als ſich
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ſich ſelber, das gottloſe Gemüth, d. i. das irrefigiöfe Prinzip, dieſelbe Quelle in allen Aus und A b⸗ flüſſen.
a 9) Daß die ‚alfgebietende Selbſtſuͤchtigkeit des Gott: losgewordenen Gemuͤthes das Radicalboͤſe ſey, erhellet auch daraus, daß dieſe Selbſtſuͤchtigkeit ſich 1) als das Prinzip aller Gebrechlichkeit, aller Unlauterkeit, al⸗ ler Tuͤcke; 2) als das Prinzip aller Traͤgheit, Feigheit, Falſchheit erweiſe und nachweiſen laſſe.
10) Wenn die allgebietende Selbſtſuͤchtigkeit des Gott⸗ losgewordenen Gemuͤthes das Radicalboͤſe iſt, ſo wird uns die Geneſis, die Steigerung und die totale Wirkſamkeit des Boͤſen kein Raͤthſel mehr bleiben. In der Geneſis der
Selbſtſuͤchtigkeit werden wir die Geneſis alles Boͤſen, in dem Wachsthume der Selbſtſuͤchtigkeit das Wachsthum al⸗ les Boͤſen, in der Wirkſamkeit der Selbſtſuͤchtigkeit die Wirkſamkeit des Boͤſen, und in jedem einzelnen Boͤſen weiter nichts, als die Herrſchaft, die Offenbarung der i Selbſtſuͤchtigkeit erblicken.
11) Wenn die allgebietende Selbſtſüchtigkeit das Ra⸗ dicalboͤſe des Meuſchen iſt: ſo wird uns wohl auch ein⸗ leuchten, was das Gute in ſeiner Weſenheit ſey, naͤm⸗ lich eine Liebe, die das Urwahre ⸗„ Guter, Selige — das Urfchöne zu ihrem Mittelpunkte macht.
12) Wenn die allgebietende Selbſtſüchtigkeit das Ra⸗ dicalboͤſe des Menſchen iſt, ſo wird es uns einleuchten, was der Uebergang des Boſen zum Guten ſey, nämlich die Ertoͤdtung der Selbſtſuͤchtigkeit und die Umkehr zur Liebe, die das Urwahre, Gute, Selige — das Weiche zu ihrem Mittelpunkte macht. \
15) Wenn die allgebietende Selbſtſüchtigkeit das Nas dicalboͤſe des Menſchen iſt, ſo wird es uns einleuchten, was die Herrſchaft des Guten in dem gebeſſerten Men⸗ ſchen ſey, naͤmlich die vollendete Niederlage der Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit und der vollendete Sieg der heiligen Liebe. 14) Eines recht verſtanden macht alſo das Ganze leicht verſtaͤndlich; denn nicht nur der noch uͤbrige Inhalt des zweiten und der Inhalt des dritten Hauptſtuͤckes dieſer
J. M. v. Sailer's ſñmmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 13
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Moral erſcheinen in einer allbeleuchtenden Helle dem, der das Boͤſe in ſeiner Weſenheit richtig gefaßt hat.
0 * Bisher ward das Böſe, das ohne Trennung des menſchlichen
Willens von dem göttlichen, und ohne Selbſtſüchtigkeit, die ſich zum Mittelpunkte macht, nicht begriffen werden kann, alſo das Böſe, das den Menſchen des ewigen Lebens unfähig und un⸗
werth macht, folglich das Böſe ſchlechtweg dargeſtellt. Nun
aber kann es geſchehen, daß der menſchliche Wille ſich nicht
ganz los von Gott und eben deßwegen ſich ſelber nicht zum Mittelpunkte macht, doch aber, Gottes gleichſam vergeſſend, ſich entweder unmittelbar von ſeinem eignen Selbſte, oder von dem Organe deſſelben, dem Leibe, oder von der Welt, von der Na⸗ tur (von der Endlichkeit) hinhalten läßt. In dieſer Voraus⸗ ſetzung wäre weder die Trennung von Gott vollendet, noch die Selbſtliebe allgebietend. Darin liegt nun ſchon die Andeu⸗ tung eines geringern Böſen, das den Menſchen des ewigen Le⸗ bens nicht unfähig machte, aber doch die Tüchtigkeit dazu
ſchwächte. Davon $. 76. ausführlich; hier bemerke ich nur noch:
Wollte man dieß geringere Böſe und jenes Böſe ſchlechtweg unter Eine Gattung bringen, ſo würde man ſa⸗ gen müſſen: Böſe im allgemeinſten Sinne iſt die Ab
kehr des menſchlichen Gemüthes von Gott und die Hinkehr zu
ſich ſelbſt: nun dieſe Abkehr von Gott und Hinkehr zu ſich
kann mit einer Verwechslung des Mittelpunktes alles
Wahren, Guten, Seligen verknüpft ſeyn, oder nicht: im erſten
Falle iſt fie das Bo ſe ſchlechtweg, indem fie den Menſchen in
92 eine feindliche Oppoſttion gegen das Göttliche ſetzt; im zweiten “if es ein Böſes, das den freundlichen Zuſammenklang zwiſchen
dem göttlichen und menſchlichen Willen zwar nicht aufhebt, aber
doch ſchwächt. Die Einheit des Böſen im allgemeinſten Sinne wäre alſo: „Die Abkehr des menſchlichen Gemüthes von Gott und die Hinkehr zu ſich felbſt, fie mag ſich
ö hernach in einer vollkommenen Trennung von Gott, und in herrſchender Selbſtſüchtigkeit ausſprechen se
B.
nicht.“ Das Domigfatige im Böſen bei aller Einheit b 25.
| Das Eine in SER mannigfaltigen Böſen iſt die Weg⸗
wendung des menſchlichen Willens von dem unwandelba⸗
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ren, hoͤchſten Gute, von Gott, und die Hinwendung zum Wandelbaren, zu ſich ſelber. Was iſt nun das Ma n⸗ nigfaltige, in dem und var das ſich das Eine Boͤſe zu erkennen giebt? Das Mannigfaltige liegt entweder im Geſetze, von dem das Boͤſe eine Abweichung iſt, oder in der Ge⸗ fi innung, die von dem Geſetze abweicht, und mehr oder weniger verderbt ſeyn kann; oder in dem Bewußtſeyn, das verſchiedener Stufen faͤhig iſt, und ſomit den Kreis des Freithätigen erweitert oder verengert, aber ohne Selbſt⸗ verſchuldung bei dem Boͤſen nie ganz fehlen kann; oder - endlich in dem Thun und Laſſen, das die innere Suͤnde zur äußern macht, und entweder mir allein oder nicht allein aufbuͤrdlich iſt. Das Mannigfaltige des Einen Boͤ⸗ ſen wird alſo vollſtaͤndig erfaßt, wenn wir das Unter⸗ ſcheidende deſſelben f
I. im Geſetze, II. in der Geſtunung, III. in dem Bewußtſeyn, IV. im freien N und Laſſen > Braten, 2
unterſchied des Boͤſen in Hinſicht auf das Geſetz. In Hinfi icht auf das Geſetz iſt das Boͤſe eine Abs weichung von einem gebietenden oder verbieten⸗ den Geſetze; jene Suͤnde heißt peccatum omissionis, dieſe peccatum commissionis, Suͤnde des Unterlaſſens, Suͤnde des Thuns. 2 Die Betrachtung des Geſetzes hat die Sittenlehrer noch zu einer denkwuͤrdigen Unterſcheidung veranlaßt, die zwar in der Hauptſache richtig, aber in Hinſicht auf ihre Bezeichnung einer Miß deutung und in der Anwendung ſelbſt unzaͤhligen Mißgriffen unterworfen, alſo ei⸗ ner genauen Beſtimmung beduͤrftig iſt. Sie haben naͤmlich das Geſetz in ein ſchwerverbinden⸗ des und in ein leichtverbindendes, und ſofort die Suͤnde in eine toͤdtliche und laͤßliche ( Peccatum mortale, peo- catum veniale) eingetheilt. Dieſe Unterſcheidung nun iſt erſtens: in der Hauptſache richtig, d. i. einer richtigen Vorſtellung faͤhig: denn es laͤßt ſich, bei flachen und bei tiefen Blicken auf die innere Verſchiedenheit der Handlun⸗ ! 13 *
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gen nicht wohl widerſprechen, daß einige ſittliche Fehltrktte, z. B. ein wehethuendes Wort im Augenblicke der Unbe⸗ ſonnenheit, aber doch nicht ohne allen Widerſpruch des Gewiſſens hingeworfen, eine uͤberraſchende Selbſtgefaͤllig⸗ keit an eigener Trefflichkeit mit leiſer Geringachtung An⸗ derer, eine Weile nicht ohne Widerſpruch des Gewiſſens unterhalten, ꝛc. mit dem Entſchluſſe des Gemuͤthes, Gottes Willen und das Wohl der Menſchheit zur Richtſchnur un⸗ ſerer Geſinnungen und Handlungen zu machen und zu be⸗ halten, vereinbar ſind, ohne ihn geradehin aufzuheben, wenn er da iſt, oder nothwendig auszuſchließen, wenn er nicht da iſt; verein bar find mit der herrſchenden Liebe gegen Gott und den Menſchen, ohne ſie zu toͤdten, da wo ſie iſt, ohne ihr Aufkommen unmoglich zu machen, wo ſie noch nicht iſt: ob fie gleich eine Erſch wachung derſelben Liebe wünüefeh oder ihr Auf kommen er⸗ ſchweren.
Eben ſo kom laͤßt es ſich auf der andern Seite mit Grunde widerſprechen, daß andere Suͤnden und beſon⸗ ders gewiſſe Gemuͤthszuſtaͤnde, z. B. Verhaͤrtung gegen alle Aus ſpruͤche des Gewiſſens, die Verſunkenheit des Ge⸗ muͤthes in den entehrenden Laſtern der Unzucht, der Fuͤl⸗ lerei ꝛc. mit dem gebietenden Entſchluſſe, ſich Gottes Wil⸗ len und das Wohl der Menſchheit zur einzigen Richtſchnur aller Geſinnungen und Handlungen zu machen und zu be⸗ halten, mit der herrſchenden Liebe gegen Gott und den Menſchen durchaus unvereinbar ſind, ſo, daß ſie nie mit einander in demſelben Gemuͤthe beſtehen koͤnnen, alſo einander nothwendig ausſchließen.
Es giebt alſo ein Boͤſes, das die herrſchende Liebe gegen Gott und den Menſchen nothwendig aufhebt, wo ſie iſt, nothwendig ausſchließt, wo ſie noch nicht iſt; und es giebt ein Boͤſes, das zwar die Herrſchaft der Liebe gegen Gott und den Menſchen ſchwaͤcht, da, wo ſie iſt, oder ihr Aufkommen erſchwert, wo ſie nicht iſt, aber fie nicht noth⸗ wendig aufhebt, nicht nothwendig ausſchließt. Nun das Boͤſe, das mit der herrſchenden Liebe gegen Gott und die Menſchen nicht beſtehen kann, ſondern ſie nothwendig auf⸗ hebt, nothwendig ausſchließt, das nannten ſie den Gegen⸗
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ſtand des ſchwerverbindenden Geſetzes, und als Geſinnung und That eine toͤdtliche, toͤdtende, Tod⸗Suͤnde. Was aber mit der herrſchenden Liebe gegen Gott und Menſchen noch beſtehen kann, ohne ſie nothwendig aufzuheben oder auszuſchließen, doch aber die Herrſchaft derſelben Liebe ſchwaͤcht, oder ihr Aufkommen erſchwert, das war ihnen Gegenſtand des leichtverbindenden Geſetzes, und als Geſin⸗ nung und That eine geringe, laͤßliche EN) Suͤnde. Gegen dieſe Unterſcheidung laͤßt fi 0 nun nichts Er⸗ hebliches einwenden; denn ſie hat in dem innern Unwerthe freier Handlungen, in ihrem Gegenſatze gegen die Herrſchaft der Liebe, und ſomit in dem Widerſtreite gegen das hoͤchſte Geſetz der chriſtlichen Moral ihren unumſtoͤßlichen Grund, und laßt ſich in der Erfahrung nachweiſen. Sie hat uͤber⸗ dem das Anſehen und den Sprachgebrauch des heiligen Johannes für. ſich, der (1 Joh. V. 16. 17.) ausdruͤcklich die Sünde zum Tode unterſcheidet von der Suͤnde, die nicht zum Tode iſt. Ja, es ſcheint ſogar, die Be⸗ nennung der toͤdtenden und nich toͤdtenden Suͤnde ſey aus dem Briefe des Johannes in unſere Lehrbuͤcher uͤbergegangen. 1 Dieſe Unterſcheidung hat Bonaventura ') mit feltenem Scharfſinne ſo ausgedrückt: „Da jede Sünde, eine Ent,
*) Cum omne peccatum dicat recessum voluntatis a primo prin- eipio, in quantum ipsa voluntas nata est agi ab ipso et se- eundum ipsum et propter ipsum, ideo omne peccatum est "inordinatio mentis vel voluntatis. | Inordinatio autem ista aut est tanta, quae ordinem exter- minat justitiae, et sic dicitur peccatum mortale (quod natum est auferre vitam ab anima, separando ipsam a Deo, per f quem vivificatur anima justi), aut est tam modica, quae or- dinem justitiae non perimit, aut aliquantum perturbat, et sie dicitur veniale peccatum, quia de ipso cito possumus veniam obtinere, pro eo, quod ipsum non tollit gratiam, nec inour- ritur inimicitia Dei. ; i Ordo autem justitiae est, ut bonum aeternum praeferatur temporali, et Dei voluntas propriae, et judicium rationis praesit sensualitati humanae. Breviloquium THE part. III. 6. 8. a
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fernung des Willens von dem erſten Prinzip in ſich faßt, in ſofern der Wille dazu geboren iſt, daß ihn nur Gott als hoͤchſter Beweger, als Muſterbild und als Endzweck treiben ſoll: ſo iſt jede Suͤnde eine Unorduung des Gemuͤ⸗ thes oder des Willens. Dieſe Unordnung aber iſt entwe⸗ der ſo groß, daß ſie die Ordnung der Gerechtig⸗ keit ausſchließt, dann heißt ſie eine toͤdtende Suͤnde, weil ſie das Leben der Seele zu zerſtoͤren vermag, indem ſie dieſelbe von Gott trennt, durch den die Seele des Ge⸗ rechten belebt wird; oder die Unordnung iſt ſo gering, daß ſie die Ordnung der Gerechtigkeit nicht aufhebt, ſon⸗ dern ein wenig verwirrt: dann heißt ſie eine verzeihliche Suͤnde, weil wir ſchnell Verzeihung erhalten koͤnnen, deß⸗ halb, weil ſie die Gnade nicht ausſchließt, noch eine „ 159 0 gegen Gott herbeifuͤhrt.“ 0
„Die Ordnung der Gerechtigkeit aber beſteht abt, daß das ewige Gut dem zeitlichen, und der Wille Gottes dem eigenen vorgezogen werde, und das Urtheil der Vernunft als Vorſteher die menſchliche Sinnlichkeit beherrſche.“ Gleich tief iſt die Erklaͤrung des heil. Thomas von Aquin prima secunda quaest. LXXII. art. V. „Wie im Leiblichen jene Unordnung, die Tod heißt, weil ſie das Lebensprinzip toͤdtet, durch die Natur nicht gehoben werden kann, die Unordnung aber, die nur den Leib ſchwaͤcht, ohne das Lebensprinzip zu tödten, gehoben werden kann, weil das Lebensprinzip unzerſtoͤrt geblieben iſt: ſo verhaͤlt es ſich auch im Sittlichen. Wenn die Unordnung in der Seele ſo weit geht, daß ſie ganz abgewandt wird von ihrem letzten Ziele, von Gott naͤmlich, mit dem ſie durch die Liebe vereinigt iſt: dann iſt es eine toͤdtliche Suͤnde. Wenn aber die Unordnung keine Abwendung der Seele von ihrem letzten Ziele herbeifuͤhrt: dann iſt es eine laͤßliche Sünde.’
So gegründet aber dieſe Unterſcheidung immer ſeyn mag, ſo iſt ſie doch zweitens: in Hinſicht auf die gewoͤhn⸗ liche Bezeichnung einer Mißdeutung unterworfen, denn a) ſchon der Ausdruck, leichtverbindendes Geſetz, kann zu Nebendeutungen Anlaß geben, als wenn ſich die 1 aus Suͤnden wider ſo ein SIR, Ge⸗
fe nichts zu machen hätten; als wenn das Band dieſes Geſetzes ohne innere Verſchlimmerung und aͤußere Beſchaͤ⸗ digung koͤnnte und duͤrfte zerriſſen werden; als wenn es dem Geſetzgeber mit dieſer leichten Verbindung nicht ſon⸗ derlich ernſt waͤre. Eben ſo mißdeutlich iſt b) der Aus⸗
druck: laͤßliche Suͤnde, denn er koͤnnte auf die falſche Nebendeutung leiten, als wenn die Verzeihung dieſer ge⸗ ringen Suͤnde ohne innere Verbeſſerung ertheilt wuͤrde, oder als wenn die ſchweren Suͤnden gar nicht laͤßlich, RL
nachlaßbar, wären, gar nicht verziehen werden konnten. 0
Dieſe Vorſtellungsart iſt drittens: in der Anwendung unzähligen Mißgriffen unterworfen. Die Mißgriffe find zweierlei: didaktiſche und praktiſche. Die didaktiſchen Miß⸗ griffe haben die vielen Ungeheuer von Fragen und Ant⸗ worten in der Kaſuiſtik hervorgebracht, haben faſt Anfre ganze Moral in ein fortlaufendes Gewebe von Tod und laßlichen Sünden, unſere Sittenlehrer in ſogenannte Suͤn⸗ denmacher, Suͤndenzaͤhler, Sündenwäger verwandelt.
Die praktiſchen Mißgriffe erfuͤllen den e mit
Schauer und Mitleiden. a) Fromme Gemuͤther, die mehr warm, als helle ſind, plagen ſich, ſo lange ſie le⸗ ben, mit den unendlichen Unterſcheidungen zwiſchen Unvoll⸗ kommenheit, laͤßlicher Suͤnde, Todſuͤnde, ringen nach Ge⸗ wiſſensruhe und erringen ſie nie, laſſen die kuͤnſtliche Gold⸗ wage der Caſuiſtik nicht aus der Hand, bis ſie der Tod zur Wage der Ewigkeit hinſtellt. b) Schuͤchterne Ge⸗ muͤther, gleich unfaͤhig, ſich zu regieren, und ſich regie⸗ ren zu laſſen, fallen, von der Kaſuiſtik geleitet, in das Labyrinth der Gewiſſensangſt, und kuͤrzen ſich das Leben ab. Ach! mein Herz erinnert mich an mehrere edle Men⸗ ſchen, deren Gewiſſen goldrein, und deren Gewiſſensangſt unheilbar war oder noch iſt, weil ſie die Kaſuiſtik unheil⸗ bar gemacht hat. Zwei davon hat die Gewiſſensangſt ſchon gemordet, die andern ſchleppen ihr kummervolles Le⸗ ben noch mit ſich fort. c) Leichtſinnige Gemuͤther markten mit dem Gewiſſen, mit ihrem Gewiſſensfuͤhrer und mit Gott ſo lange, bis ſie eine Demarkationslinie ausge⸗ funden haben, innerhalb deren alle laͤßliche Suͤnden ohne
* *
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Scheu begangen werden duͤrfen, wenn nur keine ſchwere die Linie paſſſrt. c) Falſche Gemuͤther verſtehen die Kunſt, von ihrer Gewiſſenswage alle ſchwerere Gewichter zu entfernen, und ihre toͤdtlichen Suͤnden in laͤßliche zu verwandeln, und ſie auch von Gewiſſensfreunden als laͤß⸗ Br uͤnden taxiren zu laſſen.
Was alſo? Wenn der unterſchied an ſich richtig iſt, ſo wird der Uuterſchied beibehalten, und das Vieldeutige
von dem Ausdrucke geſchieden, und das Mißgreifende in der 0 entfernt werden ſollen. |
* Ob und wie dieß geſchehen könne — durch eine Lehrweiſe, die mehr Grund und Beſtimmtheit habe, ſoll (III. Hauptſt. §. V.) gezeigt werden. Hier mag es dem Leſer genügen, fi übers "zeugt zu haben, daß es in Anſehung des Geſetzes f chwerere 5 und geringere Sünden gebe.
Die Stelle Augustinus Enchirid. c. 78. quae sint lena peccata, non humano, sed -divino sunt pensanda judicio, kann unſere Sündenwäger auf die Trüglichkeit irgend einer ei⸗
genen Wage aufmerkſam machen, Gott ſieht das Herz, ſieht die
SQuünde in der Geſinnung, ſieht ſie in der Aeußerung, ſieht fie
in dem Umfange der Folgen, ſieht ſie in dem Grade ihrer
Schändlichkeit, ſieht ſie im Abfalle von ihm, und im Um⸗ ſturze der äußern Ordnung.
** Scharfſinnig und hieher gehörend iſt Geißhüttners Bemer⸗ kung in ſeiner Moral I. Thl. S. 196, daß die Eintheilung in Tod und läßliche Sünden nicht als Regel zur Vollbringung der Handlung, ſondern nur zur Beurtheilung der ſchon voll⸗ brachten gebraucht werden dürfe. In erſterer Hinſicht iſt ſie ſo viel als nicht vorhanden; hier heißt es: meide Alles, was im⸗ mer böſe, thue Alles, was immer gut iſt. Macht es ſich Je⸗ mand zur Regel, nur die Todfünden zu vermeiden, in An⸗ ſehung der läßlichen Sünden aber es eben nicht genau zu neh⸗ men: ſo iſt eine ſolche Denkungsart ſelbſt ſchon Sünde, ſie iſt
5 mit Gefahr, in wirklich ſchwere Sünde zu fallen, verbunden, und da in unzähligen Fällen, was ſchwer, was gering ſey, nicht genau beſtimmt werden kann, ſo giebt ein ſolcher auch
einen ſehr ſträflichen Leichtſinn in Anſehung ſeines Heiles zu erkennen.
* f . |
Unterſchied des Boͤſen in Hinfiht auf Geſinnung ). 1) Die Kraftanwendung, welche ich als nothwendig oder nuͤtzlich zur Erreichung meines Zweckes erkenne, iſt Fleiß. Wenn nun die Erfuͤllung des Geſetzes als Zweck gedacht wird, wie ſie gedacht werden ſoll: ſo gebeut das Geſetz all jenen Fleiß, ohne den es nicht ‚erfüllt werden kann. Der Fleiß nun, den das Geſetz als nothwendig gebeut zur Erreichung des Zweckes (der Geſetzerfuͤllung), iſt der ſchuldige Fleiß, diligentia debita, der geſetzmaͤßige Fleiß. Jede Unterlaſſung des ſchuldigen Flei⸗ ßes iſt ſtraͤfliche Nachlaͤſſi gkeit, negligentia; jede Suͤnde iſt alſo verknuͤpft mit ſtraͤflicher Nachlaͤſſigkeit, mit Unterlaſ⸗ ſung des ſchuldigen Fleißes in Erfuͤllung des Geſetzes.
2) Die Unterlaſſung des ſchuldigen Fleißes iſt entweder vorſaͤtzlich oder unvorſaͤtzlich; vorſaͤtzlich, wenn ſie mir Zweck iſt, unvorſaͤtzlich, wenn ſie, ohne mein Zweck zu ſeyn, doch bei meinem Vorherſehen, und durch mein Geſchehenlaſſen in Verknuͤpfung kommt mit einem andern Zwecke, den ich mir vorgeſetzt habe. 39) Das Boͤſe iſt entweder Suͤnde des Vorſatzes (pec- catum ex certo proposito), oder Suͤnde bloßer Nach⸗ laſſi igkeit (peccatum merae negligentiae). Wer vor⸗ ſaͤtzlich ſuͤndigt, iſt fleißig in Uebertretung, wer unvorſaͤtzlich ſuͤndigt, iſt bloß nicht fleißig genug in Erfuͤllung des Geſetzes.
4) Die Unterlaſſung des ſchuldigen Fleißes hat ihren Grund zunaͤchſt entweder im Erkenntnißvermoͤgen, oder im Willen, oder in beiden zugleich.
* Als freie Unterlaſſung hängt ſie immer vom freien Willen ab. Doch von dieſer Abhängigkeit iſt hier die Rede MATT es ift nur die nach ſte Abhängigkeit gemeint.
5) Die Unterlaſſung des ſchuldigen Fleißes hat ihren Grund zunaͤchſt im Erkenntnißvermoͤ gen, entweder, weil es uns mangelte an Kenntniſſen, die wir haͤtten ha⸗ ben koͤnnen und haben ſollen, oder weil die Kenntniſſe,
u ©. Stattlers Ethic. univ. und Reinhard's Sittenlehre, die dieſen Gegenſtand ſo viel als erſchöpfet haben.
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die wir hatten, unrichtig waren, da wir ſie doch haͤtten berichtigen koͤnnen und ſollen, oder weil wir uͤbrigens, bei gewiſſen und richtigen Kenntniſſen, nicht Alles ſo genau an wie wir es doch haͤtten uͤberlegen koͤnnen und ſollen. Im erſten Falle iſt es Unwiſſenheits⸗Sünde, im zweiten Irrthums⸗Sün de, im dritten ein Ver ſeh en. 60 Unwiff enheit überhaupt (als Mangel an ges wiſſer Kunde — defectus certae notitiae), und der Irrthum uͤberhaupt, als ein falſches Urtheil, ſind entweder unuͤberwindlich, in ſofern der Unwiſſende, der Irrende unvermoͤgend iſt, die Wahrheit inne, und des Irrthums los zu werden, oder uͤberwindlich, in ſofern das Nicht⸗ wiſſen, das Irren vom freien Nichtgebrauche oder Miß⸗ brauche der gegebenen Kraͤfte herkam. Bloß vorg eb⸗ lich iſt Unwiſſenheit oder Irrthum, in ſofern wir bei ge⸗ wiſſer oder richtiger Erkenntniß Unwiſſenheit oder Irrthum zum Vorwande und Deckmantel der Neigung, die wir dem Geſetze nicht unterwerfen wollen, oder zum Beſchoͤnigungs⸗ mittel der verletzten Pflicht machen. Das uͤberwindliche Nichtwiſſen oder Irren iſt manchmal auch bezweckt, aus Abſicht unterhalten, daß wir etwa ungeſtoͤrt unſern Luͤſten froͤhnen konnen Gignorantia affectata, error affectatus). Daraus erhellet von ſelbſt a), daß nur das uͤber⸗ windliche Nichtwiſſen oder Irren Suͤnde ſeyn kann; b) daß das uͤberwindliche Nichtwiſſen oder Irren ent⸗ weder eine Suͤnde bloßer Nach l aͤff igkeit, oder eine Suͤnde des Vorſatzes ſeyn kann, je nachdem das Nicht⸗ wiſſen, Irren als Zweck unterhalten wird oder nicht; 0) daß das bloß vorgeblich Nichtwiſſen oder Irren bein Nicht⸗ wiſſen, kein Irren, ſondern bloß Luͤge, Dichtung, leerer Entſchuldigungsverſuch iſt. — Chriſtus ſpricht von einem Knechte, der den Willen ſeines Herrn nicht erkannt, und doch gethan hat, was der Strafe wuͤrdig war (Luk. XII. 48.) Das Handeln des Knechtes alſo war eine Unwiſ⸗ fenheitsfünde, in ſofern er den Willen feines Herrn leicht hätte wiſſen koͤnnen und ſollen. Paulus ſchreibt von den Vorſtehern der Iſraeliten, daß fie, wenn fie, den Herrn erkannt haͤtten, ihn nicht gekreuzigt haben wuͤrden; denn,
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— BE
wenn ſie die Wahrheit Gottes erkannt Hätten, fo Hätten ſie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuziget. (1 Kor. II. 3.) Und der Herr der Herrlichkeit ſelbſt ſagt ſter⸗ bend am Kreuze noch: Vater! verzeih ihnen, denn ſie wiſ⸗ ſen nicht, was ſie thun. (Luk. XXIII. 34.) Der Mord des Meſſias war alſo eine Irrthumsſuͤnde, in ſofern ihre Meinung von Chriſtus irrig war, und der Fe im Herzen Grund hatte.
2) Das Verſehen iſt das Böse einer Pinne aus Mangel an Ueberlegung, aber nicht aus unfreiwil⸗ ligem Mangel an aller Ueberlegung; denn hätte der, von dem man ſagt, daß er etwas verſehen habe, gar keinen Blick auf das Gute und Boͤſe gethan, und keinen thun koͤnnen, und eben darum keinen thun ſollen: ſo ſiele alle Aufbuͤrdlichkeit weg, und der freie Wille hätte dabei auch nicht einmal etwas verſehen. Iſt aber das Verſehen ſitt⸗ licher Natur, ſo haͤtte er es nicht verſehen ſollen, alſo auch nicht verſehen koͤnnen. Wo alſo ein aufbuͤrdliches Ver⸗ ſehen iſt, da darf kein unfreiwilliger Mangel an aller Ueberlegung ſeyn. |
Einige verſtehen unter Verſehen den unaufbürdlichen Fehltritt;
aber als ſolches gehört es nicht in die Theilungen des Böſen,
wohl aber unter den Begriff des Verderbniſſes, des Fehlgreifens, das aufbürdlich oder unaufbürdlich ſeyn kann.
1 Ueb erlegung uͤberhaupt iſt der Subegeif aller Akte unſers Denkens und Sinnens, in fofern wir von eis nem Merkmale der Vorſtellungen zum andern uͤbergehen, von dieſem zu jenem wieder zuruͤckgehen (reflektiren), um klar zu entſcheiden, was wahr, falſch, gut, böfe, nuͤtzlich, ſchaͤdlich, möglich, unmöglich, wirklich, nicht wirklich, noth⸗ wendig, nicht nothwendig, ſchicklich, nicht ſchicklich ꝛc. ſey.
9) Die Ueberlegung iſt ſittlich, in ſofern wir dazu freies Vermoͤgen und Pflicht haben, und hier zunaͤchſt in ſofern wir das Sittliche oder Unſittliche unſers innern und aͤußern Lebens unterſuchen. Die ſittliche Ueberlegung (Acht⸗ ſamkeit) iſt vollſtaͤndig, in ſofern der Verſtand fo lange in ſeinen Unterſuchungen anhaͤlt, daß er entſcheiden kann: a) ob die Handlung, in ihrer Gattung betrachtet, unter
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dem Geſetze ſtehe oder nicht, daß alſo z. B. Menſchen⸗ mord verboten ſey; b) ob die ſo beſtimmte Handlung in dieſen Umſtaͤnden unter dem Geſetze ſtehe oder nicht, z. B. ob Menſchenmord als Nothwehr erlaubt ſey; c) ob die Handlung mit dieſen vorhergeſehenen Folgen unter dem Geſetze ſtehe oder nicht, z. B. ob der Mord eines Man⸗ nes, deſſen Waiſen vielleicht erhungern muͤßten, als Noth⸗ wehr erlaubt ſeyn koͤnne; d) ob die wirklich geſchehende Handlung mit dem Geſetze uͤbereinſtimme oder nicht, z. B. ob die Selbſtvertheidigung als Nothwehr, waͤhrend der Selbſtvertheidigung, die Grenzen der Nothwehr nicht uͤber⸗ ſchreite; e) ob die vollendete Handlung durchaus mit dem Geſetze uͤbereinſtimme oder nicht, z. B. ob die voll⸗ brachte Nothwehr nichts Boͤſes in ſich enthalte. 10) Die Ueberlegung, die vor der Handlung uͤber die Geſetzmaͤßigkeit der Handlung an ſich, uͤber die Geſetz⸗ maͤßigkeit der ſo beſtimmten Handlung, uͤber die Geſetz⸗ maͤßigkeit der mit ſolchen Folgen verknuͤpften Handlung entſcheidet, iſt die vorangehende; die über die Geſetz⸗ maͤßigkeit der geſchehenden entſcheidet, die begleitende; die uͤber die vollbrachte urtheilt, die nachfolgende. 110 Unvollſtaͤndig iſt die Ueberlegung, wenn ſie ſich nicht auf alle Objekte der Ueberlegung von a bis e aus⸗ dehnt. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die nachfolgende Ueberlegung nicht zur Sittlichkeit einer vorzunehmen⸗ den Handlung, ſondern nur zur Pruͤfung der geſchehe⸗ nen Handlung, und zur Erforſchung des ganzen ſitt⸗ lichen Zuſtandes des Menſchen, zur Beruhigung des Ge wiſſens, und hier zunaͤchſt nur zur Voͤlligkeit des Begrif⸗ fes von der vollſtaͤndigen, ſittlichen Ueberlegung gehoͤrt. Auch leuchtet es ein, daß die vorangehende Achtſam⸗ keit, die den Werth, die Umſtaͤnde und die Folgen der Handlung vor der Handlung beſtimmt, eigentliche Ueber⸗ legung, die begleitende Achtſamkeit eigentliche Beſonnen⸗ heit und Geiſtesgegenwart im Handeln, und die nachfolgende Achtſamkeit eigentliche Selbſtpruͤfung ſey. 12) Vollſtaͤndig waͤre im entgegengeſetzten Falle die Unachtſamkeit (äindeliberatio, inconsiderantia), wenn Jemand vor der Handlung weder den innern Werth *
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oder Unwerth, noch die Umſtaͤnde, noch die Folgen der⸗ ſelben zu Rathe zoͤge; in der Handlung ſelber zu keiner Beſinnung, und auch nach der Handlung zu keinem pruͤ⸗ fenden Ruͤckblicke auf die Sittlichkeit oder Unſittlichkeit der vollbrachten That kaͤme. Wer bloß auf die Individuali⸗ tät der Handlung unachtſam iſt, heißt unklug Gmpru- dens); wer die vorherſehbaren Folgen außer Acht laͤßt, heißt unvorſichtig Gmprovidus). | 13) Das Verſehen in unſern Handlungen iſt alfo zwei⸗ fach, entweder wenn wir vor der Handlung (in Hinſicht auf den innern Werth oder Unwerth der Handlung an ſich, oder in Hinſicht auf die Umſtaͤnde, oder in Hinſicht auf die Folgen derſelben) etwas außer Acht laſſen, das wir hätten beachten koͤnnen und follen, oder in und waͤ⸗ rend der Handlung etwas an der noͤthigen Beſonnenheit mangeln laſſen, ohne es zu muͤſſen. R 10 14) Manchmal liegt der Grund des unterlaſſenen Fleißes zunaͤchſt in dem Wollen, das ſich unvermoͤgend fuͤhlet, ihn anzuwenden. Und die Suͤnde koͤnnte in dieſer Hinſicht Schwachheits-Suͤnde, Gebrechlichkeits⸗ Suͤnde (peccatum infirmitatis) heißen: Wachet, ſpricht Chriſtus (Matth. XXVI. 41.), daß ihr nicht in den Falk ſtrick der Verſuchung tretet, denn der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt ſchwach, d. h.: wachet, damit dex an ſich zum Guten willige, aber durch das Uebergewicht des Flei⸗ ſches geſchwaͤchte Geiſt nicht den Reizen des Boͤſen unterliege. Es iſt offenbar, daß im weitern Sinne alle unvorſaͤtz⸗ liche Suͤnden Schwachheits-Suͤnden koͤnnen genannt werden; aber der gute Mann hat Urſache, mit dieſer Be⸗ zeichnung nicht ſonderlich freigebig zu ſeyn; denn wir ſind nur zu geneigt, uͤberall, um mit unſern Suͤnden der Zuͤch⸗ tigung des Gewiſſens zu entwiſchen, die Gebrechlichkeit der Natur vor die Luͤcke zu ſtellen, und um das Boͤſe recht weiß zu waſchen, die Schwachheit des Fleiſches recht ſchwarz zu brennen. Ferner ſind einige Schriftſteller ſo weit in der Hoͤflichkeit gegangen: daß ſie alle Suͤnden der Wolluſt Schwachheits-Suͤnden nannten. Allein dieß taugt gar nichts, denn das heißt, die Schwachen noch ſchwaͤcher machen und die Allgewalt der Wolluſt unter⸗
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ſtuͤtzen, indem wir das Maß unſerer Widerſtandskräͤfte zu gering anſetzen lernen. In Beurtheilung eigener Suͤnden iſt es am ſchaͤdlichſten, die Gebrechlichkeit der Natur zum Loosworte zu machen; in Beurtheilung fremder Sünden mag es hie und da beſſere Dienſte thun.
15) Wenn man weiter fragt, woher denn die Schwä⸗ hung des Wollens komme, ſo wird man eine innere und aͤußere Quelle angeben muͤſſen: naͤmlich die Uebermacht der Begierlichkeit von innen, und die des Reizes von au⸗ ßen, oder die Uebermacht der Furcht von innen, die durch Zwang, Gewalt, Drohung von außen bewirkt ward.
Allerdings kann Zwang, Gewalt, das freie Wol⸗ len nicht beruͤhren, Zwang, Gewalt aber vermehret und verſtaͤrkt doch den Angriff, den der Wille zuruͤckſchlagen muͤßte, um gut handeln zu können, und wozu er ſich, ohne neue Selbſtanmannung, zu ſchwach fuͤhlen wird.
160 Manchmal liegt der Grund des unterlaſſenen Flei⸗ ßes im Erkenntnißvermoͤgen, und im Willen zugleich; in ſofern wir uns naͤmlich nicht Zeit genug zum Ueber gen nehmen, und fo entſtehen Uebereilungs-Suͤnden. Ä
Uebereilung (praecipitantia) iſt die Beſtimmung zum Urtheilen, zum Wollen, zum Thun und Laſſen aus Gruͤn⸗ den, die unzureichend ſind, aber nicht als unzureichend ein⸗ leuchten, ob ſie gleich bei hinzukommendem Nachſinnen leicht als unzureichend haͤtten einleuchten koͤnnen. Es gehoͤrt zum Weſen der Uebereilung, daß der, welcher ſich uͤber⸗ eilet, der Uebereilung ſich nicht bewußt iſt; denn ſunſt wuͤrde er ſich wohl eines Beſſern beſi meat oder es Pr der Begriff von Uebereilung weg.
Es laͤßt ſich im Innern eine Abele des ur, theils denken, in ſofern mich unzureichende Gruͤnde zum Ja oder Nein beſtimmen; und eine Uebereilung des Wil⸗ lens, in ſofern mich unzureichende Gruͤnde zum Wollen oder Nichtwollen beſtimmen. Aus der Uebereilung des Ur⸗ theils und des Wollens folgt von ſelbſt * Uebereilung des aͤußern Thuns und Laſſens.
Die Uebereilung iſt als Uebereilung uraufbürdlich, kann aber aufbuͤrdlich werden, in ſofern ich aus mehreren Vorſpielen meines Lebens wohl weiß, daß ich zu Ueber⸗
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eilungen überhaupt Anlage, und wohl auch Fertigkeit habe, und ungeachtet dieſes Bewußtſeyns in einem gegebenen Falle doch dem Stoße zum Vorſchnell⸗Urtheilen, zum Vor⸗ ſchnell⸗Wollen, zum Vorſchnell⸗Thun und Laſſen nachgebe, auch da, wo ich ihm doch hätte widerſtehen koͤnnen. Ueber⸗ eilungs⸗Suͤnde iſt alſo das, was uns in unſerm vorſchnel⸗ len Urtheilen, Wollen, Thun und Laſſen aufbuͤrdlich iſt. 1:7) Die Unwiſſenheits⸗Suͤnde, das Verſehen, die for genannte Schwachheits⸗Suͤnde und die Uebereilungs⸗ Suͤnde find unvorſaͤtzliche, find Nachlaͤſſigkeits⸗Suͤnden. 18) Es verdient aber hier angemerkt zu werden, daß die Suͤnde, die Anfangs nur unvorſaͤtzlich war, in der Wiederholung gar leicht in eine vorſaͤtzliche uͤbergehe, denn bei der erſten Suͤnde iſt viel Unerfahrenheit und Zufall; dagegen aber, nachdem wir durch eine vorſaͤtzliche Suͤnde die Luſt des Boͤſen geſchmeckt haben: ſo gehen wir bei der zweiten Suͤnde nicht ſelten darauf aus, die Luſt des Boͤſen zu koſten. Die erſte Suͤnde findet uns, wie unge⸗ ſucht; die zweite Suͤnde ſuchen wir oft ſchon ſelbſt auf. 109) Auch dieß fol nicht uͤberſehen werden, daß, fo richtig der Grund iſt, der das Boͤſe im Boͤſen verringert, wie z. B. die Nachlaͤſſigkeit uͤberhaupt, die Uebereilung, die Schwachheit, die Unwiſſenheit, der Irrthum, das Ver⸗ ſehen: dennoch die Tuͤcke des menſchlichen Herzens beſon⸗ ders darin ihr Weſen treibe, daß ſie das Vorſaͤtzliche fuͤr unvorſaͤtzlich ausgebe, und Unwiſſenheit, Irrthum, Ver⸗ ſehen, Schwachheit, Uebereilung zu Feigenblaͤttern mache, welche die Boͤsartigkeit vor dem Auge der richtenden Ver⸗ nunft verhuͤllen muͤſſen. 6 | | we . . a | Unterſchied des Boͤſen in Hinſicht des Bewußtſeyns. 1) Die Suͤnde iſt mir wiſſentlich, in ſofern ich da, wo ich ſie begangen habe, das Bewußtſeyn hatte, daß Suͤnde ſey, was ich wolle und thue, und daſſelbe Bewußt⸗ ſeyn in mir wieder erneuern kann, und erneuere. Die Suͤnde iſt mir unwiſſentlich, in ſofern ich da, wo ich ſuͤndigte, aus eigener Schuld mir nicht klar genug bewußt war, daß ich ſuͤndigte, oder nachher aus Unachtſamkeit
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alles Bewußtſeyn der begangenen Sünde verloren hatte;
denn in einem andern Sinne kann es keine unwiſſentliche Suͤnde geben. Eine Suͤnde, deren ich mir, ohne Selbſt⸗ verſchuldung, durchaus unbewußt war und bin, kann nicht Suͤnde heißen.
2) Menſchen, die gleichſam in einem ſtaͤtigen Rau⸗
ſche dahinleben, der ſie nie zum vollkommenen Selbſtbewußt⸗
ſeyn erwachen laͤßt, begehen am meiſten unwiſſentliche Sünden. Denn, da ſie einen fo ſchweren Traum fort: traͤumen, daß ſie ihrer nie ganz bewußt werden: ſo leuch⸗ tet ihnen der helle Tag der Anſchauung weder zur voll⸗
ſtaͤndigen Ueberlegung vor ihren Handlungen, noch
zur genauen Pruͤfung nach denſelben. 3) Eben dieß iſt Charakter des Boͤſen, daß es den
Boͤſen immer außer ihn hinauswirft und nie zur klaren
Reviſion ſeines Suͤndenſtandes kommen laͤßt. Das iſt aber auch Charakter des Guten, daß es dem Guten immer ei⸗ nen hellern Blick in ſein Innerſtes gewaͤhrt; da es denn auch geſchieht, daß der beſſere Menſch, je beſſer er iſt, deſto leichter des Boͤſen bewußt wird, das ihm noch anklebt. 4) Aus dieſen Betrachtungen erklaͤrt ſich ein Wider⸗
ſtreit, der keiner iſt. Man kann naͤmlich ſagen: je we⸗
niger Bewußtſeyn, deſto mehr Suͤnde, und: je mehr Bewußtſeyn, deſto mehr Suͤnde. Je we⸗ niger Bewußtſeyn, d eſt o mehr Sünde; der Satz iſt wahr in dem Sinne: je mehr ich dem Taumel hin⸗ gegeben, mich ſelbſt unfaͤhig mache, des Boͤſen da, wo ich
fündige, und nachher, wo ich das Gewiſſen durchſuche, be⸗
wußt zu ſeyn, oder zu werden, oder je mehr ich das Be⸗
wußtſeyn des Boͤſen verdunkle, um vor mir ſelber nicht
erroͤthen zu duͤrfen: deſto mehr Boͤſes iſt in mir. Je mehr Bewußtſeyn der Suͤnde, deſto mehr Suͤn⸗
de; der Satz iſt wahr in dem Sinne: je heller der
Ernſt des Geſetzes, die Heiligkeit des Geſetzgebers, die Gerechtigkeit der Allvergeltung in meinem Bewußtſeyn lag, da, wo ich ſuͤndigte, deſto mehr Boͤſes.
* Davon das Nähere in der Lehre von der Steigerung des Bösen. 5
5) Daraus erhellet auch, daß vorzuͤglich die Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit, die in ihrem Auge gern beſſer ſeyn will, als
f
ſie
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* iſt, ſowohl da, wo wir das Boͤſe i als da, wo wir es erforſchen ſollen, die Zahl und die Groͤße des Boͤſen aus dem Tage des Bewußtſeyns in die Nacht des Nichtwiſſens zuruͤckdraͤngt.
6) Daraus wird es uns auch begreiflich, daß bei der wirklichen Verbeſſerung des Menſchen, in dem Maße, in welchem das Gemuͤth taͤglich reiner wird, auch der geringſte Flecken an der weißen Stola der Gerechtigkeit ſichtbarer und dem 9 näher geruͤckt werden muͤſſe.
29.
e des Boͤſen in Hinſicht auf Torn een
aſſen.
1) Wenn ich das Boͤſe auf das freie Thun und aß fen beziehe, fo bin ich entweder die ganze Urſache des Boͤ⸗ ſen im Thun und Laſſen, oder ich bin nur Miturſache.
Im erſten Falle wird es mir allein, im zweiten nur nach
dem Maße meiner Theilnehmung an dem Boͤſen zugerech⸗ net, und heißt deßwegen Theilnehmungs⸗Suͤnde.
* Es verdient die Theilnehmungs-Sünde eine ausführliche Dar⸗ ſtellung: die populäre Enumeration der Theilnahmen am Bö⸗ ſen iſt unter dem Namen „der neun fremden Sünden“ aus dem Katechismus bekannt.
2) Die Theilnehmung an fremdem Boͤſen iſt beſtimmt oder unbeſtimmt, je nachdem ich mit Bewußtſeyn zu einem
einzelnen beſtimmten Boͤſen mitwirke, oder zum Auen ten Boͤſen uͤberhaupt.
39) Die beſtimmten Tleibehnungsarben f ſind: a) ſinn⸗ liche Anreizung, wenn ich durch ein gegenwaͤrtiges Gut die Sinnlichkeit des Andern in's Intereſſe ziehe, um
ihn zum Werkzeuge eines boͤſen Zweckes zu machen, und wirklich mache Chieher gehören auch Ueberredung, Ue⸗
berliſtung); b) ſinnliche Betäubung, wenn ich durch erhitzende Getraͤnke die Leidenſchaft des Andern in's Intereſſe ziehe, um ihn deſto leichter zum Boͤſen zu ver⸗
moͤgen, und wirklich vermoͤge; c) Beiſpiel, wenn ich
durch Vormachung des Boͤſen den Nachahmungstrieb des
Andern mit in das Intereſſe ziehe, und die Nachahmung
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. zte Huf, 14
—
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der beſtimmten Handlung bewirke; 0 Rathgebung, wenn ich ein Boͤſes als erlaubt, als geziemend, als vers dienſtlich. in Vorſchlag bringe, und ſofort feinen Verſtand in das Intereſſe ziehe, daß er, das Boͤſe fuͤr gut anſe⸗
. 19 0 in das Werk fact, e) e
rk
br oder Shade oder Verluſt, womit ich ihn ſchre⸗ cke, feine in das Intereſſe ziehe, und ſo das Boͤſe durch ihn wir lich mache; g) Befehl, wenn ich meine
Gewalt,) zu befehlen, uͤber die Linie des Rechtes aus⸗
dehne, und Jemanden als Gebieter den Auftrag mache,
etwas Boͤſes zu thun, und ſofort durch den Schein des
Gehorſams, den das Boͤſe annimmt, ſeine Pflichttreue in
das Intereſſe ziehe, und die Uebertretung erziele; h) Auf
hebung ſinnlicher Abſchreckungsgründe, wenn ich
z. B. als Hausvater oder als Richter, um Jemanden zum Be beftimmten Boͤſen . e durch ben cherte Ungeſtraft⸗
BE ae
Boͤſen 9 7 mache; 1) 97 1759 Neun wenn ich als Thaͤter zur Vollbringung der That mit⸗ wirke; k) phyſiſche Theilnahme an dem Erwerbe oder dem Genuſſe, die als vorhergeſehen die Begierde zum
Boͤſen ſteigert; D Vorwand, eigentlich Vorwendung,
der Religion oder der hoͤhern Kultur, oder der Freund⸗ ſchaft oder des Patriotismus, oder der Weltbuͤrgerliebe, wodurch die Schlinge der Verfuͤhrung gedeckt, und der
Unverſtand des Getaͤuſchten zum Werkzeuge des Boͤſen
gemacht wird.
4) Die unbeſtimmten Theilnehmungen an dem frem⸗
den Boͤſen find ſelber unbeſtimmbar viele. Die vornehm ) Wenn ich ich durch Uebergewicht des Zwanges den Nachbar zur
Voubringung meines Böſen nöthige, fo iſt das Böſe im Grunde ganz mein, alſo bin ich nicht sowohl Theilnehmer, als 1 | = 1 g r
—
ſten ſind: a) entteäftänd zeligiöſes, ſittlicher Grun dſätze und Verbreitung lockerer Mari 5 wodurch unzaͤhliges Boͤſe in dem Maße geweckt, be⸗ guͤnſtigt, gefordert wird, in welchem das Uebergewicht der finnlichen Natur über die verſtaͤndige verſtaͤrkt wird; b) Vereinigung mit Boͤſen wider die Guten, wo⸗ durch der Muth, Boͤſes zu thun, geſtaͤrkt wird; o) oͤf⸗ fentliche Lobpreiſung oder gar kunſtreiche Ver⸗ theidigung der Boͤſen, wodurch das Boͤſe ausge⸗ ſchaͤmt (perfrictae frontis) wird; d) Erhebung des Boͤſen zu großen Wirkungskreiſen, und jede Öffentliche Verherrlichung des Laſters (z. B. wenn die Suͤnde in der Staatskaroſſe fahrt); e) Einſchlaferung der ſitt⸗ lichen Kräfte (ſie ſeyen vaͤterlich, politiſch, kirchlich), wodurch dem Boͤſen Eingang und Herrſchaft erleichtert wird; F Vermehrung und Erhöhung der An⸗ laͤſſe und der Reize zu Ausſchweifungen aller Art, die
der
Eigennutz, die Wolluſt, die Ehrſucht erfinden und or⸗
ganiſiren. — Dieß Alles iſt fuͤr mich Theilnehmungs⸗ Suͤnde, in ſofern ich mit Nie Allen zu fremdem Boͤſen mitwirke.
*
Schon daraus zeigt es ſich helle, daß das Böſe, das ein Re
thut, veranlaßt, fördert, wirket, allen Kalkul aller menſch⸗
lichen Rechnungskunde weit überſteige, daß alſo eine abſolute Integrität ſowohl des Sündenerkenntniſſes, als des Sünden⸗
bekenntniſſes unmöglich ſey, wie alle Kaſuiſtik, einbekennt.
* *
Neben dieſen bedeutenden Unterſchieden des Böſen, die von
dem Geſetze, von der Geſinnung, von dem Bewußtſeyn, von
dem Thun und Laſſen beſtimmt werden, hat ſich noch ein andes, rer in unſern Lehrbüchern erhalten, der eben in Hinſicht auf die Selbſtanklage im Beichtſtuhle und zur Beruhigung des Ge⸗ wiſſens gekannt ſeyn will. Den Moraliſten konnte nämlich in Erforſchung des Böſen der Unterſchied zwiſchen Art und Zahl f nicht entgehen. Der Art nach verſchieden (specie diversa peccata) waren ihnen jene böſen Handlungen, die verſchiede⸗ nen Geſetzen, und ſomit verſchiedenen Tugenden entgegengeſetzt |
ſind. So war ihnen zwifchen Diebſtahl und Trunkenheit
ein ſpecifiſcher Unterſchied, in ſofern jener dem Geſetze der Ge⸗ rechtigkeit, dieſe dem Geſetze der Nüchternheit, ſomit auch jener 14 *
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der Gerechtigkeit, dieſe der Nüchternheit, alſo zweien der Art nach verſchiedenen Tugenden entgegengeſetzt ſind. Der Zahl nach verſchiedene Sünden, peceata numero plura fanden ſie da, wo der Eine und ſelbe Willensakt, der das Böſe ausmacht, unterbrochen oder aufgehoben, und dann wieder erneuert, wiederholet ward. Dagegen der Zahl nach Eine Sünde, pec- catum numero unum waren ihnen auch mehrere Handlungen, in ſofern ſie zum vollſtändigen Begriffe des Einen Willensaktes, der das innere Böſe ausmacht, oder zur Vollfuͤhrung des Einen Willensaktes, der das äußere Böfe ausmacht, a8
S. II. Das Böſe in ſeiner Geneſi 8.
Das Entſtehen des Boͤſen mußte ſchon in der eee von der Weſenheit des Boͤſen mitgenannt werden, in ſofern dieſe ohne jenes nicht begriffen werden kann. Aber hier ſoll es eine aus fuͤhrliche vollſtäͤndige Darſtellung finden. |
80. Beſtimmung des Fragepunktes.
Das Boͤſe wird entweder als Urboͤſes (das Boͤſe in ſeiner Urſpruͤnglichkeit), oder als das Boͤſe in der jetzigen Menſchheit betrachtet. Das Urboͤſe kann wieder von ei⸗ ner zweifachen Seite betrachtet werden, naͤmlich, es kann gefragt werden, wie das Boͤſe in die Engelwelt, oder wie es in die Menſchenwelt gekommen ſey.
Was das Urboͤſe in beider Hinſicht ſey, iſt §. I. angegeben worden, und ſoll hier bloß dazu wiederholet werden, damit die Geneſis des Boͤſen in der jetzi⸗ gen Menſchheit verſtaͤndlicher werde.
Das Boͤſe kann naͤmlich nicht aus der Urquelle alles
Guten, aus Gott, kommen: das Boͤſe kann alſo nur aus einem freithaͤtigen Willen, der nicht der goͤttliche iſt, ge⸗ kommen ſeyn; denn der freithätige Wille (in der Geiſter⸗ welt und in der Menſchheit) kann ſich an die Urquelle al⸗ les Guten mit unbedingter Huldigung anſchließen, und mit unverruͤckter Treue anhalten: dann iſt er gut und bleibt gut, ſo lange er ſich daran haͤlt; oder er kann ſich von der Urquelle alles Guten losreißen, und ſich an ſich ſelbſt
| ES —
und an die uͤbrige Endlichkeit anſchließen und feſthalten, und dann iſt er boͤſe und bleibt boͤſe, ſo lange er ſich daran haͤlt. Das Boͤſe (in der Geiſterwelt, wie in der Menſchheit) iſt alſo nur die gebietende Selbſtſuͤchtigkeit des Gott⸗losgewordenen und in ſich wurzelnden Willens. Nun aber der Wille kann ſi ich nie allein von Gott losmachen und an ſich anſchließen: Geiſt und Gemuͤth machen ſich mit los von Gott, und ſchließen ſich mit an das End⸗ liche an. Was rein und unſchuldig aus Gott kam, wird alſo nur dadurch boͤſe, daß ſich das Geiſtesauge von dem Urwahren, der freie Wille von dem Urguten, das Gemuͤth N von dem Urſeligen, Urſchoͤnen, die ganze Intelligenz (im Menſchen oder Engel) von dem Centrum des Wahren, Guten, Seligen, Schoͤnen losreißt, und ſich ſelbſt, und durch ſich die uͤbrige Endlichkeit zum Centrum macht. Sobald ſich aber das Geiſtesauge von dem Wahren, der Wille von dem Guten, das Gemuͤth von dem Se⸗ ligen — Schoͤnen los und ſich ſelbſt zum Mittelpunkte macht, dann iſt mit der Suͤnde (dem Boͤſen) Finſterniß, Elend, Tod mitgegeben.
Das Boͤſe iſt alſo I. in ih ſelber ein Abfall von dem Einen Univerſal⸗Centrum des Wahren, Guten, Seligen — Schoͤnen, und eine Selbſtſüchtigkeit, die ſich ſelbſt zum Centrum macht; II. in ſeiner Umgebung und Gefolge Nacht, Tod, Unſeligkeit Hölle). Dieß gilt ſowohl von der Geiſterwelt, als der Menſchheit, nur mit dem Unterſchiede, daß nach der Lehre der Schrift das Urboͤſe in die Engelwelt ohne Einfluß eines andern Boͤſen, in die Menfchheit aber durch Einfluß eines andern ſchon boͤſe gewordenen Willens gekommen, daß alſo nicht der Menſch eigentlich Erfinder des Boͤſen, ſondern ein Geiſt außer dem Gebiete der Menſchheit der Erfinder des Boͤſen, und demnach der Menſch nur der Nachbild⸗ ner des Boͤſen, nur der Verfuͤhrte z u m Boͤſ en ſey, deßwegen das Boͤſe der Geiſterwelt das Urboͤſe im ſtreng⸗ ſten Sinne heißen kann. So viel von dem Urboͤſen.
Hier iſt aber nur die Rede von der Geneſis des Boͤſen im Menſchen, wie er jetzt iſt, als Kind, als Menſchen⸗ pflanze geboren wird, und allmaͤlig zum Menſchen reift.
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Wenn nun das Menſchlichboͤſe in ſeiner Genese, und | zwar in dem jetzigen Zuſtande der Menſchheit dargeſtellt werden ſoll: ſo wird vorerſt die Geneſis des Boͤſen von der Veranlaſſung des Boͤſen unterſchieden, und dann beides dargelegt werden muͤſſen. Denn der Anlaß iſt nicht die Geneſis, aber die Geneſis iſt doch auch nicht ohne den Anlaß. Es ſind demnach die zwei Fragen zu loͤſen: Was iſt das Menſchlichboͤſe in feiner: Geneſis ? Was it lung Ane zur ee, des Menſchüchböſen 10 4
4 *
Erſte ‚Frage; f | RE
Was it das 3 Wenſchicbofe in feiner Geneſts ? oder mit andern Worten: Wo kann ſie offen bar nicht gefunden werden? Wo muß ſie geſucht wer⸗ den? Wie kann ſie auf die elfe Weife gefunden werden? 13 nn
e gate ac 8
Wo ſie nicht gefunden werden .
1) Die Geneſi s des Menſchlichboͤſen kann nicht neh den werden in der bloßen Sinnlichkeit; denn die bloße Sinnlichkeit kann ja nicht ſuͤndigen, weil da, wo Sinnlichkeit für ſich und allein beſtuͤnde, nur das Gesch des Inſtinktes und die Nothwendigkeit der Wirkungen nach dem Geſetze des Inſtinktes zu auſe wäre; weil da, wo die Sinnlichkeit fuͤr ſich und allein beſtuͤnde, es an Ver⸗ nunft, am Bewußtſeyn des Geſetzes, und am freien Willen fehlte, der es befolgte oder nicht befolgt. 229 Wenn ſchon in der bloßen Sinnlichkeit die Geneſis des Boͤſen nicht gefunden werden kann, ſo iſt es doch nicht zu uͤberſehen, daß die Sinnlichkeit in dem ſinnlichen Ver⸗
nunftweſen den Weg zum Boͤſen bahnen, Aufl 1 7 Nr m geben kann, denn ſie reizt”) R
Erſtens: zum ruhigen, Anmut Be Geruſse ent⸗ fernet alſo jeden Gedanken, der die Ruhe des Genuſſes ſtort, oder Anſtrengung fuͤr Dinge fordert, die keinen Fette
se „„ 5
"A Auch dieſe fi ſinnvolle Darstellung haben wir dem Verfaſſer der Totalreviſton der Juden⸗ und Chriſtenbiblien zu verdanken.
4
1 gegen Wahrheit, zur
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* lichen Genuß gewaͤhren; erſchweret daher die Beſonnenheit, das Andenken an Pflicht, den Gedanken an Gott, als den hoͤchſten Geſetzgeber, und an eine vergeltende Zukunft, bahnt alſo den Weg zum Boͤſen uͤberhaupt, d. i. zur Nichtach⸗
N tung und zur Vergeſſenheit der Pflicht, indem ſie uns die
tuͤchtigſten Waffen zur Bekämpfung des A, and, den Händen ſchlaͤgt. Sie reizt 5
Zweitens: zu jedem Genuſſe, und N gern je Gedanken von der Schaͤdlichkeit des Uebermaßes, bahnt al⸗ 4 den Weg zu allem Boͤſen der Unmäͤßigkeit. Sie reizt
Drittens: zur Liebe, zur Beſitznahme und zum Ge⸗ blaue e jeden Mittels, das Czunaͤchſt oder in der Ferne) den Genuß fördert, bahnt alſo den Weg zu allem Boͤſen der Rechtskränkung. Sie reizt A
Viertens: zum Widerwillen gegen jedes Hindernig | des Genuſſes, der Luſtbefriedigung, bahnt alſo den Weg zu allem Boͤſen der 5 ſigkeit gegen Menſchen und
erfelgung der Segen 5 e
heit. Sie reizt 10
Fuͤnftens: wenn ia Organe tumpf, 19 55 ihre .
wohnlichen Genuͤſſe unmoͤglich werden, zu erzwungenen,
neuen Genuͤſſen, bahnt alſo den Weg zu allem Boͤſen des Wilden, Viehiſchen, Verkehrten, Unna tuͤrlichen im Genuſſe. ö
Wer alſo Böſes forſchen und es beflegen will, darf die Eh lichkeit (als den Inbegriff unzähliger Anläſſe und Reize zum
Böſen aller Art) weder als Forſcher, noch als Kämpfer aus
dem Auge laſſen. Und, o, wie oft laſſen beide ſie aus dem Auge! Daher ſo viel Unphiloſophie unter den Hoeſchern, ſo n Niederlagen unter den Streitern. N N
50 Die Geneſis des Boͤſen kann 925 at gefunden
werden in dem bloßen Vernunftweſen, noch in der bloßen
Freiheit des Willens, denn das Vernunftweſen, als das Vermoͤgen des Menſchen, Gottes und des goͤttlichen Ge⸗ ſetzes bewußt zu werden, folgt ſo nothwendig ſeinem Ge⸗ ſetze, als die Sinnlichkeit dem ihren. Der freie Wille aber kann ſich als ſolcher zum Guten, wie zum Boͤſen ſelbſt be⸗ ſtimmen; BE Können iſt aber an fi ih ſo wenig boͤſe als gut.
—
— 216 —
4) Die Geneſis des Boͤſen kann auch nicht gefunden werden in dem bloßen Beiſammenſeyn der niedern und hoͤhern Natur; denn bloßes Beiſammenſeyn des Hoͤhern
und Niedern kann en weder gut, noch boͤſe er
82. Wo die Gene s des Boͤſen geſucht werden muß.
Wenn nun das Menſchlichboͤſe weder in der niedern, ſinnlichen Natur, die an ſich nicht verwerflich iſt (Roͤm. XIII. 14. Tim. IV. 1—5.), noch weniger in der hoͤhern Natur, die uns eigentlich des Guten empfaͤnglich macht, weil ſie Vernunft und Freithaͤtigkeit in ſich faßt, und der Sitz des heiligen Geſetzes iſt (Roͤm. II. 4—15.), noch auch in dem bloßen Beiſammenſeyn beider gefunden wer⸗ den kann: ſo muß es lediglich darin gefunden werden koͤn⸗ nen, daß die niedere Natur der hoͤhern (vernuͤnftigen) nicht untergeordnet iſt, da ſie doch untergeordnet ſeyn koͤnnte und ſollte; denn die niedere Natur iſt nicht boͤſe, die hoͤhere auch nicht. Alſo bleibt nichts mehr uͤbrig, als daß das Boͤſe in dem Mangel der gehörigen Unterordnung geſucht werden ham |
83. ii
0 die Gene s des Boͤſen auf die ela gſte | Weiſe gefunden wird. |
Der Menſch, der fündigt, iſt keine Sinnlichkeit ohne Vernunftweſen, denn die bloße Sinnlichkeit koͤnnte nicht ‚ fündigen, folgte nur, und folgte nothwendig dem Geſetze des Inſtinkts; kein Vernunftweſen ohne Sinnlichkeit; denn dieſes haͤtte alsdann die Reize zum menſchlichen Böſen, die mit den ſinnlichen Beduͤrfniſſen gegeben werden, nicht. Aber der Menſch als Sinnlichkeit und Vernunftweſen in Einem fündigt, wie es Jeden die Erfahrung lehrt.
5 Wenn wir alſo das Boͤſe des Menſchen als menſch⸗ liches Boͤſe, und zwar als menſchliches Boͤſe in ſeinem je⸗ tzigen Zuſtande erforſchen und in ſeinem Entſtehen erforſchen wollen, ſo muͤſſen wir den Menſchen in einem beſtimmten Exemplare (in concreto) betrachten, d. i. a) mit dem beſtimmten Maße von Anlagen und Kraͤften; b) mit dem
—— . —
beſtimmten Grade von Entwicklung ſeiner Kraͤfte und An⸗
lagen; c) mit den beſtimmten Einfluͤſſen, die die Dinge außer ihm und ſein Koͤrper auf ihn haben. Nun aber kann der Menſch den Menſchen in dieſer voͤlligen Beſtimmtheit nicht wohl betrachten, außer ich in mir, du in dir, jeder in ſich. Hier alſo die Beſchreibung eines Menſchen, der ſich genau betrachtet hat, die uns das Entſtehen des Menſchlich⸗ et in der jetzigen Menſchheit nach machen kann.
84.
Ee e eines Menſchen, die jeder andere Menſch wahr finden kann, oder: eine Biogra⸗ phie des menſchlichen Boͤſen.
1) Ich fand und finde zwei Reiche in mir. Eines geht auf Angenehm und Suͤß, das andere auf Gut und Recht. Jenes iſt ein allgewaltiges, dieſes, in mir, ein ohnmaͤch⸗ tiges. Die Eigenliebe, d. i. jene Liebe zu mir, die Alles auf mich und auf das Meine, auf mich und meine Ehre, auf mich und meine Habe, auf mich und meinen Genuß, oder auf Mittel meines Genuſſes, oder auf Erhoͤhung mei⸗ nes Genuſſes bezieht, dieſe Eigenliebe, die als herrſchend Selbſtſuͤchtigkeit heißt und iſt, gebeut im erſten, das Gewiſ⸗ ſen im zweiten Reiche. Sobald nun die Befehle der Ei⸗ genliebe und die Gebote des Gewiſſens einander wider⸗ ſprechen, gerathe ich, gleichſam als ein Doppelweſen aus ſinnlicher und vernuͤnftiger Natur, in Streit mit mir ſelbſt. Das Ich meiner Eigenliebe kaͤmpft mit dem Ich meines Gewiſſens, und der Sieg neigt ſich bald auf eine, bald auf die andere Seite. Dieſer Streit heißt in der paſ⸗ ſenden Sprache eines Apoſtels: der Kampf des Geiſtes wider das Fleiſch, und des Fleiſches wider den Geiſt.“)
2) Dieſen ſchweren Streit macht die Sinnlichkeit mit ihren neuuͤberlieferten Eindruͤcken der Dinge von außen, und mit ihren neu aufſteigenden Reizen von innen immer
) Das Urböſe führt den Kampf zwiſchen Geiſt und Fleiſch in die Welt ein; das Menſchlichböſe im jetzigen Zuſtande ſetzt ihn voraus. Dieß iſt wohl der bedeutendſte g zwi⸗ ſchen jenem und dieſem.
— 116 —
ſchwerer; denn ſie tritt nicht erſt auf die Seite der mch liebe, ſondern iſt theils das Werkzeug der Eigenliebe, indem ſie ihr den Stoff des Angenehmen liefert und in ſich aufnimmt, theils ſelbſt Eines mit der Eigenliebe, in dem ſie das Angenehme fuͤhlt, und als ihr Gut, als Ans genehmes genießt. Jenes gilt t von der aͤußern, dieſes von der innern, beides von der ganzen Sinnlichkeit. | 3 Gelingt es der Sinnlichkeit nicht, den innern Men⸗ ſchen (der noch ein Vermoͤgen der Selbſtbeſtimmung in ſich i 55 obgleich 3 W und deßhalb freisthätig heißt, wenn er es gar oft nicht iſt, weil er nichts thut fuͤr das Geſetz des en nach der Forderung der Eigen⸗ liebe fortzuziehen: ſo ſpannt die dienſtfertige Einbil⸗ dungskraft ihre gefluͤgelten Roſſe an den Wagen der Seele, und eilt mit mir uͤber Moos und Stoppeln fort, daß mir meine Augen vergehen im Taumel, daß mir das Boͤſe in Geſtalt des Guten mit unendlichen Reizen wie be⸗ zaubernd erſcheint. Wenn die Sinnlichkeit nur an die Gegenwart, an das Wirkliche gebunden iſt: ſo umfaßt die Einbildungskraft Gegenwart, Vergangenheit, Zukunſt, um⸗ faßt das Moͤgliche wie das Wirkliche, ja ſelbſt das Un⸗ mögliche gewinnt durch ſie den Schein des Moͤglichen. 4) Wenn der Wille den Anforderungen der Eigenliebe, dem Andringen der Sinnlichkeit, dem gewaltigen Ziehen der Einbildungskraft noch widerſteht, ſo wagt die Eigen⸗ liebe den gefaͤhrlichſten Streich, der ihr am ſeltenſten miß⸗ lingt; ſie zieht ſelbſt den Verſtand in das Spiel, und ruhet nicht, bis er, der allemal die Sache des Gewiſſens (die gute Sache im ausnehmenden Sinne) verfechten ſollte, den Advokaten fuͤr die Neigung wider die Pflicht macht, bis er erweiſet, daß die Forderung der Eigenliebe erlaubt, das Gebot des Gewiſſens überſpannt, die si nur leerer Name ſey. | 50) Wo die reizenden Geſtalten der Dinge, die mir die Sinne zugeführt: haben, wo die lebhaften Bilder der Einbildungskraft, welche die matten Eindruͤcke der Sinne auffriſchen, wo die falſchen Demonſtrationen des beſtoche⸗ nen Verſtandes, den Widerſtand des freien Willens noch nicht uͤbermannen koͤnnen: da eilen nicht ſelten die Trie b⸗
. 4 E
4 7 Ä .
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federn der Geſchlechtsliebe, die maͤchtigſten unter allen ſinnlichen, den Forderungen der Genuß ſuchenden Ei⸗ genliebe zu Huͤlfe, und dieſe Huͤlfstruppen machen den Kampf des Gewiſſens nur noch heißer, das Uebergewicht der Eigenliebe entſcheidender. e, e een
jedem Augenblicke neue Macht, und in dem Maße mehr Uebermacht, je weniger ich ihren fruͤhern Forderungen Widerſtand gethan habe und thue, und je mehr ich ihre Er⸗ oberungsplane durch Nachgiebigkeit beguͤnſtiget habe und be⸗ guͤnſtige 186051 ir n f 3) Dieſe Uebermacht der Eigenliebe hat alſo fuͤr ſich die große (wegen des Unbeſtandes nicht ſo wie politiſche Allianzen verſchrieene) Quadrupelallianz mit maͤchtigen Nachbarn: I. mit der blinden aͤußern Sinnlichkeit, die⸗ ſer ſchnellwirkenden und gewaltſam vordringenden Potenz; II. mit der Einbildungskraft, die ſtets in geheimer oder oͤffentlicher Freundſchaft mit der Sinnlichkeit lebt, mit ihren Zaubergemaͤlden immer in die Gegenden der Sinnlich⸗ keit hineinſpielt und dadurch die Macht der Eigenliebe noch mehr verſtaͤrkt; III. mit dem beſtochenen Verſtan de, der, im Solde der Eigenliebe ſtehend, dem Gebote des Ge⸗ wiſſens den ſtaͤrkſten Abbruch thut; mit den ſinnlichen Reizungen der aͤußern Dinge (Menſchen, Geſtalten, Ge⸗ maͤlde, Bücher), die mit den finnlichen Reizen im Koͤrper
— 220 —
zuſammentreffend, die Eigenliebe theils wecken, theils it ihren Forderungen unterſtuͤtzen, theils befriedigen.
9) Die Uebermacht der Eigenliebe hat ferner für fid: aufzuweiſen die vier glaͤnzenden Rechtstitel, der Anciennete (des Ranges am Alter), des Beſitzes, der baaren Be⸗ zahlung, der phyſiſchen Angewoͤhnung.
Sie hat ſuͤr ſich den ſogenannten Rechtstitel: : a) der Anciennete: die Eigenliebe ward mit mir geboren, und hatte ihr Weſen lange getrieben, ehe Vernunft, Gewiſſen, Wille erwachten.
Sie hat fuͤr ſich den Rechtstitel b) des Beſttzes: me- lior est conditio possidentis. Die Eigenliebe herrſchte in mir ganz allein, ehe die Vernunft erwachte, und will ſich nun von der erwachenden Vernunft, als ihrer juͤngern Schweſter, das Scepter nicht mehr nehmen laſſen. a
Sie hat fuͤr ſich den Rechtstitel o) der baa ren de zahlung: das fittliche Gute giebt mir nur ein Aſſignat auf die ferne Zukunft und das ſicherſte auf die Ewigkeit, die Eigenliebe aber hat in der Zeit, und meiſtens in der Gegenwart ihre Welt, ihr Element, ihr Futter.
Sie hat fuͤr ſich d) das jus fortioris, den Rechts⸗ titel der Gewalt, der phyſiſchen Angewoͤhnung. Ehe ich mich nach dem Gebote des Gewiſſens zur ſittlichen Be⸗ herrſchung der ſinnlichen Triebe entſchließe, haben die Trie⸗ be ſchon eine phyſiſche Geſchmeidigkeit zum Herrſchen ge⸗ wonnen. Die Gefaͤße des Koͤrpers ſind z. B. ſchon zur phyſiſchen Unmäßigkeit gelenkig geworden, ehe ich die Pflicht der (ſittlichen) Maͤßigkeit in mir vernommen, oder den Ent⸗ ſchluß, ſie zu erfuͤllen oder nicht zu erfuͤllen, gefaßt habe. 10) Was aber die Sache des Guten noch ungleich ſchwieriger macht, ſo hat die Eigenliebe in mir nicht nur dieß Alles, nämlich die mächtige Quadrupelallianz und die glaͤnzenden Rechtstitel, ſondern uͤberdem noch vier hoͤchſt günſtige Thatſachen für ſich; erſtens: eine zur Gewohnheit gewordene Nachgiebigkeit des Willens gegen die Forderungen der Eigenliebe, und eine eingewurzelte Schlaͤfrigkeit deſſelben in Hinſicht auf die Ge bote des Gewiſſeus; zweitens: den durch Erfahrung bes kannt, und durch wiederholten Genuß faſt unwiderſtehlich
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— ZU —
gewordenen, und (um den Ausdruck der officiellen Sieges⸗ blaͤtter nachzuſprechen), Sieggewohnten Zauber des Boͤſen; drittens: die Allgewalt des Boͤſen, in ſofern es ſich durch die hinreißenden Beiſpiele von Alters- und Standesgenoſſen, und denn auch von hoͤherm und niederm Stande, als erlaubt, als beſeligend, oft gar als Philoſophie, ſtets als Lebensge⸗ nuß ankuͤndet, und der Eigenliebe den Sieg uͤber das Ge⸗ wiſſen faſt ohne Kampf in die Hand ſpielt; viertens: die Selbſtexkommunikation von aller Erweckung zum Kampfe wider das Boͤſe, die uns in dem öffentlichen Gottesdienſte angeboten wird. Es entflammte ſich in mir ein wilder Haß wider alle Religion und Religionsdiener, und die ganze Re⸗ ligionsanſtalt erſchien mir bloß als eine feindſelige, unge⸗ 0 rechte Kriegserklaͤrung wider meine Geſinnung und mein Leben. 11) Zu dieſem Haſſe gegen das Wahre der Religion, das mich ſtrafte, und im Genuſſe des Boͤſen ſtoͤrte, geſellte ſich allmaͤlig die Wuth, die Ueberzeugung, daß Gott iſt und das Gute ſelber iſt, eine Ueberzeugung, die ich als mei⸗ ne groͤßte Feindin anſah, aus meiner Seele, auszu⸗ reißen, und, weil ich die Wurzel dieſer Ueberzeugung nicht ausreißen konnte, ſo ward aus dem Haſſe des Wahren und aus der Wuth, die Ueberzeugung davon zu vernichten, die ſcheußlichſte aller Luͤgen geboren, daß ich wider mein beſſe⸗ res Wiſſen, mich ſelbſt beredete, als wenn ich glaubte, es ſey kein Gott. 12) Wie jener Haß gegen das Wahre, und dieſer Luͤgenſinn, dieſe Selbſtberedung, daß das Wahre nicht ſey, die Herrſchaft des Boͤſen faſt bis zur Allmacht erho⸗ ben: da konnte ſich der Haß des Wahren vollenden, und die Luͤge ſich ſelbſt entbehrlich machen. Ich bedurfte der Luͤge, daß kein Gott ſey, nicht mehr, denn es trat ein ſolcher Stumpfſinn meines Gemuͤthes fuͤr alles Goͤttliche ein, daß ich, verſunken in der Finſterniß der ſinnlichen Luͤſte, den Blick zum Lichte der Ewigkeit nicht mehr erheben konnte. Das Gewiſſen ward in mir ein ſtummer Goͤtze, konnte nichts mehr offenbaren, und der aus dem Ungehorſam gegen den hoͤchſten Geſetzgeber geborne Unglaube an den Geſetzgeber und an das goͤttliche Geſetz, hatte nur noch einen Schritt zu thun, um den Gipfel der Ruchloſigkeit zu erklimmen,
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auf dem ber Unterſchied zwiſchen gut und boͤſe in das
Nichts leerer Traͤume ſchwindet.
13) Auf dieſer ſchauerlichen Lebenshoͤhe, eigentlich in dieſer Tiefe des Verderbens, hoͤrte in mir faſt aller Streit zwiſchen Geiſt und Fleiſch auf. Denn was in mir ſprach und gebot und handelte, war nur Fleiſch, und was wi⸗ derſtreiten ſollte, der Geiſt, war, nach ſeiner e zu urtheilen, — 0,
* Dieß Geſtändniß will nicht das Entſtehen des urböſen erklären, ſondern die Lebensgeſchichte des Menſchlichböſen im Menſchen, wie er jetzt iſt, zeichnen; könnte noch wohl erweitert werden, iſt aber groß genug, nicht um den Grundknoten zu löſen, wie ſich der Wille zum Böſen beſtimme, ſondern um das Entſtehen des Menſchlichböſen zum Behufe der Selbſterkenntniß, die der TR ſerung vorangehen ſoll, klar genug darzuſtellen. N
ae 8 des Boͤſen nach dem Inhalte des Wee | den Selbſtbekenntniſſes. 1
85. |
Die Geneſis des Menſchlichboͤſen iſt angegeben, wenn ‚erklärt ſeyn wird, 1) wie Menfchlichböfes im Innern des Menfchen wer de, 2) wie Menſchlichboͤſes, das ſchon iſt, herrſchend werde, 3) wie aus dem herrſchenden Boͤſen einzelnes Boͤſes abſtamme, 4) wie einzelnes Boͤſe ſeine Linie von der erſten Rezung bis zur Vollbrin⸗ gung durchlaufe.
Geneſi s des Menſchlichböſen im Innern. |
80.
1) Das Boͤſe iſt da und iſt dann eren wo und wann der Wille, der mehr oder weniger freithaͤtig ſeyn kann, oder doch durch Entwickelung der hoͤhern Natur zu ei⸗ nigem Leben durchgedrungen ſeyn mag und muß, (denn ſonſt waͤre der Menſch noch lauter Begierde, und haͤtte keinen Willen, keinen Funken des hoͤhern Lebens in ſich), alſo: das Boͤſe iſt da und dann geboren, wo und wann a) der Wille (dieß Vermoͤgen des Guten und Boͤſen), b) im Kampfe zwiſchen Eigenliebe und Gewiſſen, c) das Gebot
des Gewiſſens nicht genug achtend, oder nicht mehr ach⸗
*
— ZUBE em
tend, oder ganz verachtend; d) die Forderung der Eigen⸗ liebe ſiegend werden laͤßt; indem er ſich gegen ſie nicht mannhaft genug wehret, oder gar nicht mehr wehret, oder ſie gar andringender macht, und ſofort e) ſtatt dem Gebote des Gewiſſens unbedingt zu gehorchen, 1) den Forderungen der Eigenliebe nach⸗ und ſich hingiebt, und ) nicht ohne Widerſpruch des Gewiſſens ſich hingiebt.
So wird das Boͤſe im jetzigen Zuſtande der Menſch⸗
heit erzeugt. Denn ohne alle Freithaͤtigkeit und ohne alle Regung des Gewiſſens koͤnnte kein Boͤſes entſtehen. Bei ſiegender und beharrender Achtung fuͤr das Gebot des Gewiſſens koͤnnte auch kein Boͤſes entſtehen. Alſo kann Boͤſes nur da und dann werden, wo und wann der Wille ſich gegen die Forderung der Eigenliebe wehren koͤnnte und ſollte; aber ſich entweder gar nicht wehret, oder nicht mann⸗ haft genug wehret, alſo die Forderung der Eigenliebe ſie⸗ gend werdend laͤßt, und ſich der ſiegenden hingiebt. Der Kampf zwiſchen Eigenliebe und Gewiſſen (lit. b.) macht das Boͤſie moͤglich; die Forderung des Gewiſſens nicht achten, gegen die Forderung der Eigenliebe ſich nicht weh⸗ ren, und ihr gehorchen macht das Boͤſe wirklich dit. 15 d. Gi f.).
Es ſind in dieſer Geneft 8 auch die drei Stufen des Boͤſen richtig angegeben; denn wie ſich der Wille gegen das Gebot des Gewiſſens verhaͤlt, ſo beſtimmt er die Stufen des Boͤſen, das er erzeugt. Das Gebot des Gewiſſens nicht genug achten, iſt die unterſte Stufe, das Gebot des Gewiſſens nicht mehr achten, iſt die mittlere, das Gebot des Gewiſſens verachten, iſt die oberſte Stufe des Boͤſen. Auch das Verhalten des Willens gegen die Forderungen der Eigenliebe beſtimmt mit — die Stufen des Boͤſen: ſich gegen die Reize deſſen, was die Eigenliebe fordert, nicht mannhaft genug wehren, iſt die unterſte, ſic gar nicht wehren, iſt die mittlere, die Reize durch die Imagi⸗ nation ſelbſt hervorlocken und erl jhen, iſt die hoͤchſte Sun fe des Boͤſen.
Das angegebene Verhalten des Willens ſowohl gegen das Gebot des Gewiſſens, als gegen die Forderung der Eigenliebe iſt die Einwilligung in die Begierde (consensus
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voluntatis) die das Boͤſe im Menſchen ausmacht. Dieſe Einwilligung, als die Wurzel des Boͤſen, offenbart ſich bald mehr negativ, bald mehr poſitiv; mehr nega⸗ tiv, wofern wir uns gegen die Reize nicht wehren, oder nicht genug wehren, und das Gebot des Gewiſſens nicht mehr achten, oder nicht genug achten; mehr poſitiv, in⸗ dem wir die Reize ſelbſt hervorlocken und ‚erhöhen, und das Gebot des Gewiſſens verachten.
2) Da nun aber das Gewiſſen nichts iſt, als das Vernehmen des goͤttlichen Wortes, das im Innerſten des Menſchen wiederhallt; da die Gebote des Gewiſſens wahr⸗ haftig goͤttliche Gebote ſind; da das Gebot des Ge⸗ wiſſens nicht genug achten, gar nimmer achten und ganz verachten nichts anders iſt, als Gottes Gebote nicht genug achten, gar nimmer achten, endlich ver⸗ achten; da aller Mangel an Achtung, alle Nichtachtung und alle Verachtung der goͤttlichen Gebote ſich genau ver⸗ halten, wie das Leben des Glaubens an Gott ſich ver⸗ hält: fo kann man ſagen: das Boͤſe iſt dann und dort geboren, wo der Glaube an Gott nicht thaͤtig genug, oder unthaͤtig, oder ſo viel als todt ward. Denn ſo lange der Glaube an Gott und Gottes Geſetz im Gemuͤthe le⸗ bet, und ſein Leben wider alle Reize des Boͤſen behauptet: da kann das Boͤſe nicht geboren werden. Sobald aber der Glaube an Gott erſchwachet, oder in ein Nichtglau⸗ ben, oder gar in Unglauben uͤbergeht: da tritt das Nicht⸗ achten und Verachten des Goͤttlichen, und das Ergreifen und Feſthalten des Ungoͤttlichen, d. i. das Boͤſe, ein. Deutlicher, wo der Glaube an Gott lebet, da lebet die Liebe gegen Gott; wo die Liebe, da der Gehorſ am; wo der Gehorſam, da keine Uebertretung der Gebote; wo keine Uebertretung, da kein Boͤſes. Wo alſo Boͤſes geboren wird, da mußte das Leben des Glaubens zu ſchwach, oder ganz ohnmächtig, oder gar geſtorben ſeyn.
3) Das Boͤſe wird alſo in der jetzigen Menſchheit gebo⸗ ren, wie in der urſpruͤnglichen. So lange unſere Stamm⸗ altern Gott glaubten, waren fie gut und ſtanden im Guten feſt. So bald ſie dem Verfuͤhrer mehr glaubten als Gott, da wankten und ſielen ſie endlich von dem Guten ab. Ja,
was
— s — f
was bei der Entſtehung der erſten Suͤnde Geſchichte
war, das iſt eine ewige Allegorie auf die Entſtehung jeder Suͤnde in der jetzigen Menſchheit. „Der Mann iſt das Gemuͤth, vorſtehend der menſchlichen Natur: die Sinnlich⸗ keit das Weib, dem ſich das Gemuͤth unbedachtſam hin⸗ giebt und, ſich hingebend, zu Grunde geht: die Schlange
iſt die Luft an der verbotenen Frucht, die zum verbotenen
Genuſſe lockt? Scotus Erigena de divisione naturae cap. II.) 0 4439) Ja, nicht nur kommt alles Boͤſe auch in der jetzi⸗ gen Menſchheit durch Schwachglauben, Nichtglau⸗ ben oder Unglauben an Gott in die Welt, ſondern nach Chriſtus iſt auch die unallegoriſche Schlange bei der Entſtehung des Boͤſen jetzt noch thaͤtiger als man glaubt; denn nach der Lehre, und wohlgemerkt, ſelbſt nach der Auslegung Chriſti, iſt es der Boͤſe, der Arge, der das Weizenkorn des ewigen Lebens von dem Herzen weg⸗ nimmt. Er iſt es auch, der Unkraut ſaͤet. (Matth. XIII. 19. 39.) N 5) Doch Ein Unte rſchie d zwiſchen der urſpruͤnglichen Suͤnde des Menſchen und zwiſchen unſerer Sünde bleibt, bei aller uͤbrigen Gleichheit des Entſtehens, unver⸗ kennbar: der erſte Menſch, erſchaffen in Unſchuld, fand von der Unſchuld den Uebergang zur Schuld; wir, geboren mit dem natuͤrlichen Hange zum Boͤſen, gehen von dem natürlichen Hange zur perſoͤnlichen, freiwilligen Liebe des Boͤſen uͤber.
* Daß dieſe Darſtellung des Böſen der Aufgabe 5 Moral ent⸗ ſpreche, die hier nur das Menſchlichböſe und dieſes nur zum Behufe der vorangehenden Selbſterforſchung, und der nachfol⸗ genden Beſſerung zeichnen ſoll, erhellet aus der Klarheit, An⸗ wendbarkeit und Gründlichkeit dieſer Zeichnung. Sie iſt a) klar genug zur Selbſtprüfung; denn ich verſtehe nun, wie Böſes in mir werden kann. Ich darf in mir nur das Nach⸗ geben des Höhern gegen das Niedere, und das Sichhingeben
a des Höhern an das Niedere erforſchen. Sie iſt b) leicht
aanwendbar, indem jeder die Duplicität- feines jetzigen Seyns,
Eigenliebe und Gewiſſen, den Streit zwiſchen beiden, und die
Entſcheidung des Streites durch den Willen in ſich anſchauen
8. M. v. Sajler's ſämmtl. Schriften XIII. Bd. Zte en 15
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kann. Sie iſt e) gründlich genug, indem jeder die Quelle des Böfen in dem Schwachglauben, Nichtglauben und Unglau⸗ ben an Gott wahrnehmen kann.
* 1
87. | Wie das Boͤſe herrſchend werde.
Das Boͤſe iſt ein Erzeugniß des Willens. Nun kann es in dem einen und demſelben Aktus, der es erzeugt, oder durch Wiederholung und Steigerung herrſchend werden. Das Boͤſe wird in Einem und demſelben Aktus herrſchend, wenn in dem erſten Aktus ſchon eine entſcheidende Verach⸗ tung des heiligen Geſetzes, und eine völlige Hingebung an die Forderung der Eigenliebe, alſo ein vorfäglicher Abfall von Gott, und eine Selbſtkoncentration in ſich, und in dem Gegenſtande der ſiegenden Luſt, gegeben iſt. Da muß das Niedere im Menſchen herrſchend, und das Hoͤhere un⸗ terdruͤckt und wie mit Sklavenfeſſeln gebunden werden.
Das Boͤſe kann durch wiederholte, geſteigerte Aktus herrſchend werden, in ſofern die Achtung des Geſetzes und der Widerſtand gegen die Forderung der Eigenliebe je laͤn⸗ ger, je ohnmaͤchtiger werden, bis endlich aus der Nicht⸗ achtung des Geſetzes, aus dem Nichtwiderſtehen gegen die Forderung der Eigenliebe eine volle Hingebung an ſie, und dadurch das Hoͤhere untenan, und das Niedere oben⸗ an geſetzt wird.
* Seit mehr als dreißig Jahren habe ich im ſtäten Umgange mit Jünglingen der werdenden Herrſchaft des Guten zugeſehen, oft auch der werdenden Herrſchaft des Böſen zuſehen müſſen, und die Erfahrung beſtätigte, was mir die Duplicität des menſch⸗ lichen Seyns geweiſſaget hatte. Je ſchneller der Blick nach oben, nach Gott, aus der jungen Seele ſchwand, deſto ſchneller entfaltete ſich die Begierde nach unten, nach der Endlichkeit. Je ſchwächer ſich der Wille wider die Begierde wehrte, deſto ſchneller wuchs die Uebermacht der Begierde, bis ſie bei erhöh⸗ ten Reizungen von außen und bei geſteigerten Reizen von in. nen, herrſchend ward. ö
O! es trauern die heiligen Wächter im Himmel und auf
Erden, wo immer ein ſchuldloſes Gemüth das Erſtemal ſich der
Warnung des Gewiſſens * und der Lockung der Eigen⸗
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— 222 —
liebe hingiebt! Zerriſſen iſt der Bund, den die Seele mit Gott geſchloſſen hatte, das Böſe herrſchend 1
— en
88.
Wie e Boͤſe aus dem herrſchenden Boͤſen | abſtamme. |
1) Iſt einmal das Boͤſe im Menſchen erzeugt und herrſchend geworden, ſo laͤßt ſich die Geneſis des einzelnen Boͤſen, in ſofern es von dem herrſchenden abſtammt, noch viel leichter unter die Anſchauung bringen; denn das herr⸗ ſchende Boͤſe iſt die Wurzel, die den ganzen Baum des einzelnen Boͤſen traͤgt, oder in der Sprache Chriſti, der Despot im Hauſe, und der ganze Menſch weiter nichts als ein Knecht dieſes nie ruhenden Gebieters. Das Boͤſe iſt die Seele des Menſchen geworden, und, was ſonſt ſeine Seele hieß, iſt, wie ſein Leib und die Natur, nur ein Werkzeug fuͤr die neue Seele, womit ſie ihre Entwuͤrfe zu
Stande bringt, oder beſſer, ihre Luͤſte befriediget. Wie die Seele in dem Herzen fuͤhlt, im Kopfe denkt, im Auge ſieht, im Ohre hoͤrt, in der Zunge ſpricht, in der Hand taſtet, in dem Fuße wandelt, und durch den Leib in der Natur waltet: ſo wirkt jest die Seele der Seele, das Boͤſe im Menſchen, fuͤhlt im Herzen, denkt im Kopfe, fi eht im Auge, hört im Ohre, ſpricht in der Zunge, taſtet in der Hand, wandelt im Fuße, waltet im Leibe, und durch den Leib in der Natur.
* Diefe durchgreifende Allherrſchaft der Sünde iſt (Röm. VI. 18. 16. 19.) am deutlichſten beſchrieben: Der Menſch, der ſich und ſeine Glieder Gott hingeben ſoll als Werkzeug zur Darſtellung der Gerechtigkeit, tritt aus dem Dienſte Gottes in den Dienſt
der Sünde, und giebt ihr ſich und ſeine Glieder hin als Werk⸗ zeug zur Ausübung der Ungerechtigkeit.
229) Demnach iſt fuͤr den innern Blick des Menſchen an
und für ſich nichts leichters, als das herrſchende Boͤſe
im Menſchen, und im herrſchenden Boͤſen das einzelne ab⸗
ſtammende Boͤſe zu erſehen; denn, wenn ich mit unver⸗
wandtem Blicke in meinem Gewiſſen, in meinem Gemuͤthe
und in meinem Leben forſche: ſo werde ich ohne ſonder⸗ 15 *
ar da —
liche Mühe unterfcheiden erſtens: in jedem einzelnen Boͤ⸗ fen das dominirende Boͤſe, das als primum und per- petuum mobile meines innern und aͤußern Lebens an⸗ geſehen werden kann, und deßhalb das Radikalboͤſe genaunt ward, weil es ſich in allen Zweigen und Aeſten meiner Thaͤtigkeit offenbart. Habe ich dieſes Radikalboͤſe erforſcht, ſo iſt der Schatz des Herzens und das Totalverderben mit erkannt; denn derſelbe unverwandte Blick wird eben ſo leicht unterſcheiden zweitens: wie das dominirende Boͤſe als die unreine Quelle, aus dem Herzen ausſtroͤ⸗ mend, alles einzelne Denken und Wollen, Thun und Laſ⸗ ſen verunreinige, und Wort, Blick, Geberde ꝛc. durchdringe. Derſelbe unverwandte Blick, wenn er außer Geiſt und Leib hinausgeht, wird eben ſo leicht unterſcheiden drittens: die aͤußern Gegenſtaͤnde, welche die boͤſe Wurzelneigung, und die abſtammenden Neigungen reizen, verſtaͤrken, befrie⸗ digen, durch Befriedigung gieriger nach wiederholter Stil⸗ lung und durch jeden Stillungsverſuch unbaͤndiger machen. Derſelbe Blick wird nebenbei leicht unterſcheiden jene Oer⸗ ter und Zeiten, die der Reizung, Verſtaͤrkung und Be⸗ friedigung der Wurzelneigung beſonders guͤnſtig oder un⸗ guͤnſtig ſind. Hat der forſchende Blick die Einfluͤſſe der aͤußern Dinge auf die Reizung, Verſtaͤrkung und Befriedi⸗ gung der Neigungen bemerkt, ſo wird er bei tiefer gehen⸗ dem Forſchen nach und nach unterſcheiden koͤnnen vier⸗ tens: die feinen, uͤberfeinen Meiſterſtreiche, die die tuͤcki⸗ ſche Eigenliebe und die Bilderkraͤmerin Einbildungskraft und der falſche Prophet in uns, der beſtochene Verſtand, in Harmonie ſowohl mit der innern Wurzelneigung, als mit den aͤußern Gegenſtaͤnden, welche die Neigung reizen, verſtaͤrken und befriedigen — (vor, in und nach der Be⸗ friedigung der Neigung) — zu ſpielen pflegen. Auf die⸗ ſem Wege kann ich das einzelne Boͤſe in mir „gene⸗ tiſch“ erkennen, in ſofern es aus einer herrſchenden Nei⸗ gung zum Boͤſen entſteht. „Nicht ohne Grund fagte ich: an und für ſich ſey nichts leich⸗ ter, als die einzelne Sünde, die aus der herrſchenden Neigung hervorgeht, zu erkennen; denn in Hinſicht auf die jedem Sün⸗ der nothwendig eingeborne Blindheit, und beſonders auf das
tückiſche Genie der Eigenliebe iſt die Selbſterkenntniß (wie wir in dem zweiten Hauptſtücke der Moral ſehen werden), das Allerſchwerſte für den wirklichen Sünder. N
50) Die gegebene Erklaͤrung, wie das Böse werde, wie \ das Boͤſe herrſchend werde, und wie aus dem herrſchen⸗ den Boͤſen einzelnes Boͤſe werde, koͤnnte uns durch die ſieben Kapitalſuͤnden unſers Katechismus anſchaulich werden, wenn wir den tiefen Grund dieſer Eintheilung erfaßt haͤtten.
* Vielleicht kann nachſtehende Darſtellung jenen Grund enthüllen: „die wirklichen Sünden haben Einen Anfang, eine zwei⸗ a fache Wurzel, ein dreifaches Foment und ein ſiebenge⸗ ſtaltiges Haupt. Der Eine Anfang aller Sünde iſt die Hof⸗ fart (Sirachs Sohn X. 14.); die Wurzel iſt zweifach, Furcht und Liebe; dreifach das Foment der Sünde, in Hinſicht auf jenes Drei, das in der Welt iſt, nämlich die Begierlichkeit des Fleiſches, die Begierlichkeit der Augen, die Hoffart des Lebens; fiebengeftaltig das Haupt: Hoffart, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Fraß und Füllerei, Wolluſt. Die erſten fünf ſind Sünden des des Geiſtes, die letzten zwei des Fleiſches. Der Grund der Lehre iſt dieſer: Weil alle Todſünde eine Abkehr von dem erſten Prinzip (und zwar eine Abkehr iſt, die von Gott trennt), ö dieſe Abkehr aber eine Verachtung des höchſten Prinzips vor⸗ ausſetzt, entweder in ihm ſelber, oder wenigſtens in ſeinem Ge⸗ bote; die Verachtung des erſten Prinzips aber Hoffart iſt: ſo folgt, daß alle Todfünden von der Hoffart ihren An⸗ fang nehmen. Weil aber Niemand das erſte und höchſte Prin⸗ zip verachtet, in ihm oder in ſeinem Gebote, außer in ſofern er etwas anders, das von dem erſten Prinzip verſchieden iſt, er langen will, oder zu verlieren fürchtet: ſo muß alle Sünde von einer doppelten Wurzel kommen, von der Furcht und Liebe, die die Wurzel alles Böſen find, obſchon nicht in gleichem Ran⸗ ge; denn jede Furcht hat ihren Urſprung von einer Liebe, in⸗ dem keiner fürchtet, etwas zu verlieren, außer er liebt und wünſcht, es zu behalten. Deßhalb die Furcht durch alles das, was die Liebe hegt und trägt, mitgehegt und getpanen wird.
Da nun aber die Liebe nur in Hinſicht auf das wandelbare Gut, ungeordnet ſeyn kann, und das wandelbare Gut entweder in uns, oder außer uns, oder unter uns iſt, alſo: die Erha⸗
benheit der eigenen Vorzüge, die Fülle des Geldes, die Luft des
N a
Leibes, fo kann es im Grunde nur drei Fomente geben, aus denen, in ſofern ſie die Seele unordentlich an ſich ziehen, alle wirkliche Sünden entſtehen.
Daß aber die Hauptſünde ſiebengeſtaltig ſey, laßt ſich fo be⸗ greiflich machen: Unſer Wille fällt von der Ordnung ab, ent⸗ weder, weil er verlangt nach dem, was er nicht verlangen foll, oder, weil er zurückflieht vor dem, vor dem er nicht fliehen ſoll. Nun aber das Gut, nach dem er verlangt, und nach dem er nicht verlangen ſoll, kann nur ein wandelbares ſeyn, alſo in uns ein Vorzug des Selbſtes, in den ſich die Hoffart ver⸗ liebt, außer uns Reichthum, dem der Geiz nachhängt, unter uns ein ſinnlich reizendes Gut, das zur Erhaltung des Indivi⸗
duums oder zur Fortpflanzung des Geſchlechtes geordnet iſt, de⸗ ren jenes die Un mäßigkeit, dieſes die Unzucht mißbraucht. Wenn der Wille zurückflieht vor dem, wovor er nicht zurück⸗ fliehen ſoll, fo iſt es entweder das ſcheinbare Gut des Andern, was ihn verwundet, oder der Angriff des Andern, was ihn zum heftigen Widerſtande reizt, oder eine große Beſchwerniß, die ihn zurückſchreckt. Im erſten Falle iſt es Neid, was ihn peinigt, im zweiten Zorn, was ihn empört, in dritten Träg⸗ heit, was ihn gefangen nimmt. (S. Bonaventurae breviloquium p. III. c. 9.) Mir iſt aus dem Gebiete der alten und der neuen Literatur keine Darſtellung des Böſen bekannt geworden, welche die voranſtehende an Scharf» und Tiefſinn überträfe.
89. 5 Wie das Boͤſe ſeine Linie von der erſten Regung bis zur Vollendung durchlaufe.
1) Wenn man das einzelne Boͤſe bloß an ſich betrach⸗ tet, ohne darauf zu ſehen, ob es aus einer Wurzelnei⸗ gung entſtanden ſey oder nicht: ſo unterſcheidet der par⸗ teiloſe Blick im Boͤſen erſtens: die Regung, zweitens: die Aeußerung, drittens: die Befriedigung.) Es
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) Das Boͤſe, das ſich in der Begierde reget, im Körper äußert, in der That vollbringt, gab Anlaß zu der bekannten Eintheilung der Sünden: peccata cor dis, oris, operis; die peccata oris verdienen vor allen andern Aeußerungen des Böſen genannt zu werden, weil die Zunge zur Aeußerung des Böſen, das ſich im Herzen reget, die Fraftigfte Mitwirferin
u
regt ſich nämlich das Boͤſe in der Bias durch Luſt und Unluſt. Aber die Begierde, in der ſich das Boͤſe regt, ſetzt ſchon die Einſtimmung des Willens voraus; es iſt nicht mehr das bloße unwillkuͤhrliche Begehren, ſondern das mit Bewußtſeyn und Zuſtimmung des freithaͤtigen We⸗ fens fortgeſetzte Begehren. Nur dieſes Begehren iſt das Element, in dem ſich das Boͤſe regen kann.
Das Boͤſe aͤußert ſich im Koͤrper durch Blicke, Mie⸗
nen, Geberden, Worte ꝛc. Blicke, Mienen, Geberden,
Worte ſind die erſten Botſchafter des Boͤſen, welche die Geburtsſtaͤtte des Boͤſen, und das Element des Boͤſen (die Begierde) verrathen, wenn nicht Heuchelei, Zwang, Plan ꝛce. die tauſend Verraͤthereien des Boͤſen im Werden ertoͤdten, oder wenigſtens mit aufgetragenen Farben uͤbertuͤnchen. Uebrigens kann keine Heuchelei, kein Plan und kein Zwang das tobende Meer hindern, daß es nicht gewaltſam an die Ufer anſchlage; keine Macht kann gebieten, daß das
gewaltſam anſchlagende Meer die Graͤnze nicht übers
ſchreite, und zuruͤcktretend gar keine Spur zuruͤcklaſſe. | Das Boͤſe befriedigt ſich durch Thun und Laſſen.
Die Befriedigung der Luſt iſt das letzte, was hervortritt, und war das erſte, was das Boͤſe im Augenblicke des Em⸗ pfaͤngniſſes bezweckte. Der Genuß iſt das, was die Schule von dem Endzwecke ſehr richtig ſagt, das primum in intentione, das ultimum in execeutione. Bis der bezweckte Genuß Thatgenuß werden kann, muß der Verſtand manchmal große und verwickelte Anſtalten treffen. Da kann denn der kalte Verſtand, der z. B. den Entwurf zum Menſchenmorde macht, und die Werkzeuge zu deſſen Ausfuͤhrung ordnet und in Bewegung ſetzt, mit der warmen Begierde ſich vereinen. Und dieſe Konſe⸗ quenz, die der Verſtand, der das Boͤſe organiſirt, in die Anſtalten zur Befriedigung der Luſt bringt, macht eigent⸗ lich den kalten uͤberlegenden Boͤſewicht aus, und macht ihn nur deſto verabſcheuungswerther, je weniger ihm die
iſt, und im Solde der Begierde ſtehend, nie zur Ruhe kommt. (Siehe III. Hauptſtück der Moral, von der Pflicht 0 Selbſt⸗ vervollkommnung. F. 161.)
der *
Hitze der Leidenſchaft und die Uebereilung der Bien zu Statten kommen wird.
2) Das Boͤſe in der Begierde iſt das, was
die innere Suͤnde ausmacht, was das Evan⸗
gelium als die eigentliche Suͤnde darſtellt. Jeſus ſieht in dem Bruderhaſſe, der noch bloße Begierde iſt, ſchon die Sünde des Todtſchlages, ehe die Begierde That werden kann; ſieht in der Luͤſternheit des Herzens, die nach einem fremden Weibe blicket, ſchon die Suͤnde des Ehebruches, ehe die Luͤſternheit That werden kann. (Matth. V. 20— 23.) Jeſus ſieht alſo alle boͤſen Tha⸗ ten als ſo viele Ausfluͤſſe aus den boͤſen Begierden, und das Herz als den Sammelplatz aller boͤſen Begierden,
fi ieht. in der That die Begierde, in der Begierde das Herz,
im Herzen das Boͤſe: Seyd denn ihr auch noch ſo un⸗ verſtaͤndig? wiſſet ihr denn noch nicht, daß Alles, was in den Mund hineinkommt, in den Unterleib geht, und
wieder ſeinen natuͤrlichen Ausweg nimmt? Was hinge⸗
gen aus dem Munde kommt, ſteigt aus dem Herzen em⸗ por, und verunreiniget den Menſchen, denn aus dem Her⸗
zen kommen boͤſe Gedanken, Mordthaten, Ehebruͤche, Hu⸗
rereien, Diebſtaͤhle, falſche Zeugniſſe, Laͤſterungen (wider Gott und den Menſchen). Das iſt es, was den Men⸗ ſchen verunreiniget. (Matth. XV. 16—21.) |
* pn diefer unübertrefflichen Darſtellung des Böſen ſcheint es nicht wohl begreiflich zu ſeyn, wie nach der Lehre Chriſti die Gedan⸗ ken aus dem Herzen kommen, da doch offenbar die Wünſche
des Herzens aus den Gedanken kommen. Allein Chriſtus re: det nicht von Gedanken, die weiter nichts als Gedanken ſind, die allerdings Begierden aufregen können; er redet von böſen Gedanken, und der böſe Gedanke muß, um böſe zu ſeyn, zuvor
in der böſen Begierde geweſen, muß aus dem böſen Herzen,
dieſem Sammelplatz aller böſen Begierden, als böſer Gedanke
* hervorgegangen ſeyn. Den Gedanken erzeugt das Denkvermo⸗ gen, das Böſe im Gedanken hat ſeine Geburtsſtätte im Herzen,
d. i. in dem Einſtimmen des Willens mit der Be⸗ 5 gierd e, hat ſeine Geburtsſtätte in den böſen Begierden, folg⸗ lich in dem Sitze aller boſen ee im Herzen des Men⸗
..
— 1 —
en Kurz: dem Gedanken giebt der Verſtand das logiſche, das Herz ſein ſittliches Gepräge.
5) Das Boͤſe in der Begierde iſt die ti Sünde, die das Evangelium nicht nur als ſolche dar— ſtellt, ſondern die es auch in ihrer Wurzel angreift, indem es uns das rechte Aug ausreißen, die rechte Hand, den rechten Fuß abhauen lehret, wenn das rechte Auge, die rechte Hand, der rechte Fuß uns aͤrgert, das heißt: was Runs immer, es ſey uns fo lieb als das rechte Auge, ſo brauchbar wie die rechte Hand, ſo nahe verwandt, wie die Glieder unſers Leibes, zum Boͤſen verſucht, was die boͤſe Begierde in uns wecken, unterhalten, verſtaͤrken, befriedigen läßt, dem ſollen wir allen Einfluß auf die Reizung oder Unterhaltung, auf die Verſtaͤrkung oder Befriedigung der boͤſen Begierden in uns verſagen, und deßhalb uns zu ei⸗ ner ſtaͤten Wachſamkeit und Gegenwehr gefaßt halten, wenn gleich jenes Verſagen und dieſes Gefaßtſeyn zur Wachſamkeit, zur Gegenwehr uns ſo viele und ſchmerz⸗ hafte Opfer koſtete, als der Verluſt des Ae der Hand, des Fußes. (Matth. V. 29. 30.) Ä
Auch die lateiniſche Schule ſah das Bae in der Be⸗ gierde als die Wurzel des Boͤſen an, naͤmlich: das Böfe iſt in der Begierde böfe, ſobald die Begierde aus dem Zu⸗ ſtande des thieriſchen Inſtinktes in den Zuſtand des Be⸗ wußtſeyns uͤbergeht, und der freie Wille die Begierde der Natur zum Wollen der Perſon ſtempelt. Damit wir nun dieſes punctum saliens der Sünde fo leicht nicht uͤber⸗ ſehen ſollten, praͤgte die Schule ein eignes, nachher ver⸗ ſchrienes, aber meiſtens mißverſtandenes Wort: Dele- ctatio morosa, deſſen Bedeutung der ſcharfſinnige Thomas von Aquin genau beſtimmt hat: Delectatio morosa nominatur non ex mora temporis, sed ex eo, quod ratio deliberans circa ea immoratur, nec tamen ea repellit, tenens ac volvens libenter, quae statim, ut animum attigerunt, respui debuissent. Prim. sec. Quaest. 47. Artic. 5. ad 3.) Nicht die Laͤnge der Zeit macht das Boͤſe, ſondern das Weilen, das Bruͤten des Denkens und des einſtimmenden Willens über der Begierde, das freie Wollen deſſen, was erſt un⸗
— 234 — freiwillige Begierde war, das Immorari rationis de- liberantis cum delectatione, das tenere et volvere libenter macht die Suͤnde aus.
4) Das Boͤſe in der Begierde iſt das Boͤſe, vans uns a) die Luſt locket, das b) die mit Bewußt⸗ ſeyn und Einſtimmung des freien Willens in Begierde uͤbergehende Luſt erzeuget, und das c) hernach dieſelbe Luft durch die Thaͤtigkeit der Seelen» und Leibesfräfte, die ihr zu Dien⸗ ſte ſtehen, vollbringet; denn Niemand geraͤth in Verſuchung, als wenn ihn ſeine eigene Luſt anreizet und herauslocket; demnach, wenn die Luſt empfangen hat, ſo gebiert ſie die Suͤnde, die Suͤnde aber, wenn ſie vollendet iſt, gebiert den Tod. (Jak. I. 15.) Die chriſtlichen Ur⸗ kunden geben uns alſo in eben dieſer Stelle eine gene⸗ tiſche Erklaͤrung des menſchlichen Boͤſen, die nicht be⸗ ſtimmter ſeyn koͤnnte.
5) Wenn das Boͤſe in der Begierde die eigentliche Suͤnde ausmacht, ſo wird wohl auch die Aeußerung und Befriedigung der boͤſen Begierde, als aͤußere Suͤnde, all ihr Boͤſes von dem Boͤſen in der Begierde, von der innern Suͤnde, nehmen. So richtig dieſe Lehre iſt, ſo iſt es denn doch kein ſeltener Fall, daß bei der äußern Sünde noch etwas Boͤſes zur innern hinzu⸗ tritt, in ſofern das innere Boͤſe, indem es vollbracht wird, von innen aus einen Zuwachs erhaͤlt, den es ohne den Anlaß der aͤußern Suͤnde nicht erhalten haben wuͤrde. Die Bedingungen, die dieſen Zuwachs herbeifuͤhren, ſind folgende: Es kann erſtens: die Vollbringung des Boͤſen
das Boͤſe in der Begierde nicht nur unterhalten, ſondern auch verſtaͤrken, erhöhen, und uͤberdem noch neue, boͤſe Be⸗ gierden erzeugen, unterhalten, verſtaͤrken, erhoͤhen. Es kann zweitens: das Gewiſſen, waͤhrend der Vollbringung des Boͤſen, neue Einreden dem boͤſen Willen machen, und mit neuem Trotze zuruͤckgewieſen werden, beſonders wenn zwi⸗ ſchen der Begierde und zwiſchen der Vollbringung derfel ben viel Zeit und Anſtalten liegen. Es kann drittens: die Vollbringung des Boͤſen zum Boͤſen locken, und gleich⸗ fam zum Boͤſen abrichten, und die unſchuldigen Werkzeuge
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der Suͤnde durch die That in dem Hange zum Boͤſen be⸗ ſtaͤrken. Unter dieſen Bedingungen gewinnt das Boͤſe in der Begierde waͤhrend der Vollbringung einen neuen Zu⸗ wachs, und gewinnt ihn aus ſich ſelber (aus dem Innern) nicht ohne das Aeußere. 6) Wenn es alſo die ſittlichen Lehren werth find, fo beſtimmt wie moͤglich vorgetragen zu werden, ſo laͤßt ſich die Frage: utrum malitia peccati interni augeatur peccato externo? ſo aufloͤſen: Die Aeußerung und Be⸗ friedigung der boͤſen Begierde (eigentlich die aͤußere Suͤnde) thut zur innern nichts mehr hinzu, außer in wiefern die Vollbringung des Boͤſen erſtens: die wirklich herrſchende boͤſe Begierde unterhaͤlt, verſtaͤrkt, erhoͤht, oder neue, boͤſe Begierden erzeuget, unterhält, verſtaͤrkt, erhoͤhet; zw eis tens: die neuen Warnungen des Gewiſſens, das waͤhrend der aͤußern Handlung neue Vorwuͤrfe dem Willen macht, mit neuem Trotze zuruͤckweiſet; drittens: die unſchul⸗ digen Zeugen der Suͤnde zum Boͤſen locket und zum Boͤ⸗ ſen abrichtet, und die ſchuldigen Mitgehuͤlfen der Suͤnde durch die That ſelbſt in dem Hange zum Boͤſen beſtaͤrkt. 2) Auch abgeſehen von dieſen Vergroͤßerungen der in⸗ nern Suͤnde, welche die aͤußere veranlaßt, wuͤrde die Voll⸗ bringung des Boͤſen die Geiſtes- und Leibeskraͤfte zum Boͤſen geſchmeidiger, die Reize zum Ruͤckfalle ſiegender, und die Ruͤckkehr zur Tugend ſchwieriger machen. Gruͤnde genug, die auch nach ſchon geſchehener Einwilligung in das Boͤſe, als innere Suͤnde, die Unterlaſſung der aͤußern Suͤnde noch gebieten koͤnnten. |
* Sp wichtig die gegebenen Erklärungen: Wie Böſes werde, wie es herrſchend werde, wie aus dem herrſchenden Böſen einzelnes Böſe abſtamme, wie das Böſe die ganze Linie von ſeiner erſten Regung bis zur Vollbringung durchlaufe, immer ſeyn mögen: ſo gewinnen ſie doch noch ein beſonderes Licht, wenn wir die Macht der menſchlichen Imagination in Beziehung auf das Böſe genau erwägen. Schon bei der Löſung der erſten Frage, von der Entſtehung des Böſen, habe ich die Geſchäftigkeit der Ima⸗ gination eine große Rolle ſpielen laſſen; weil ſie aber gleich großen Antheil, wie an der Erzeugung, ſo auch an der werden⸗ den Herrſchaft des Böſen, an der Abſtammung des einzelnen
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Böſen, und an der Durchlaufung der ganzen Linie ſeines Da⸗ ſeyns nimmt: ſo hab ich es hieher verſpart, die ganze Thatig⸗ keit der Imagination, und den ganzen Antheil, den ſie am Bo ſen nimmt, nach dem Leben zu zeichnen. :
Man hat ſich bisher die Vorſtellungen von Einbildungskraft meiſtens nur nach bloß pſychologiſchen Abſtraktionen gebil⸗ det. Nun hätte es aber ſchon aus der bloßen Verknüpfung des Leiblichen und Geiſtigen in der Einen Menſchenperſon einleuch⸗ tend werden ſollen, daß die Einbildungskraft nicht begriffen werden kann, wenn ſie nicht phyſiologiſch betrachtet wird. Es iſt alſo unerläßlich, hier vorerſt anzugeben, was Imagina⸗ tion in voller Bedeutung des Wortes ſey, damit ihr Antheil an Dem Ahern von Grund aus erfaßt werden möge.
N 9.
1). Die Einbildungskraft des Menſchen, im vollen Sinne des Wortes, iſt eine Art thaͤtiges, magiſches Prinzipiumz denn der Menſch kann ſich durch ſeine Imagination, feiner Willkuͤhr zur Folge, a) hinein bil⸗ den in ſein Ich, und ſo hineinbilden, daß er ganz ver⸗ eitelt, hingegeben dem Geiſte der Hochfahrt. Der Hoch⸗ fahrende iſt nicht das, hat nicht das, kann nicht das, wir⸗ ket nicht das, was er zu ſeyn, zu haben, zu koͤnnen, zu wirken waͤhnt. Sein Reich hat alſo ſeinen Umfang und feine Beſchaffenheit nicht der Wahrheit, ſondern der Ima⸗ gination zu verdanken. Ueberdieß wird er in dieſer fort⸗ waͤhrenden Einbildung immer leerer, windiger, nichtiger, weil er gerade ſo viel am wahren Werthe verlieren muß, als er ſich falſchen beilegt. Der Sinn fuͤr das Ewige wird in dem Hochfahrenden immer ſtumpfer, bis er dafuͤr ganz verblindet, und die Herrlichkeit des Goͤttlichen, die den reinen Herzen einleuchtet, wird durch die unreine Liebe des Eitlen ſo lange zuruͤckgedraͤngt, bis ſie ſchwindet.
Der Menſch kann ſich b) hineinbilden in die Luͤſt e der Sinnlichkeit, und ſo hineinbilden, daß er ganz thieriſch wird. Wie die Muttermale im Kinde wirk⸗ liche Gebilde ſind, und durch die Imagination der Mut⸗ ter geworden fi ſind: ſo wird in dem Wolluͤſtigen die Ge⸗ ſtalt des Thieres immer mehr gebildet, endlich ausgebildet, und durch die Imagination oder und ausgebildet.
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Der Menſch kann ſich c) hineinbilden in die Guͤter der Erde, und fo hineinbilden, daß er ganz erd⸗ haft wird; wie wir es an jedem habſuͤchtigen Menſchen ſehen koͤnnen, daß er fuͤr das hoͤchſte Gut der Menſchheit immer ungefühliger, und am Ende fo gefüͤhllos werde, wie die harten Thaler in ſeinem Kaſten.
Der Menſch kann ſich d) bine lden in Haß, Feindſeligkeit, Rache, Schadenfreude, Ligen haftigkeit, Naturingrimm, und ſo hineinbilden, daß er grundboͤſe, nach Art des Teufels, hoͤlliſch, gleich⸗ ſam entbrannt von dem Feuer der Hoͤlle wird. Ja, wahr⸗ haftig entbrannt, denn das milde Licht der heiligen Liebe iſt von dem Haſſe ausgeloͤſcht.
Daß der Menſch dieſer Hineinbildung faͤhig ſey, be⸗ weiſet in und durch die That die wirkliche Hochfahrt in jedem Hochfahrenden, die wirkliche Verſunkenheit in jedem Verſunkenen, die wirkliche Erdhaftigkeit in jedem Irdiſch⸗ geſinnten, und die wirkliche Zornwuth in jedem Grimmigen. Die Richtigkeit des Begriffes iſt alſo nicht erſt nachzuwei⸗ fen, ſondern in der That, in jeder Darſtellung des Boͤ⸗ ſen ſchon nachgewieſen. Die Einbildungskraft iſt alſo ein thätiges Prinzipium, weil ſie den Menſchen wirklich Hinz einbildet in die Gegenſtaͤnde ſeines Begehrens, und ein magiſches Prinzipium, weil ſie den Menſchen in das verwandelt, in was fie ihn hineinbildet.
* Dieß Hineinbilden iſt übrigens nicht bloß ein Bilden des Gegenwärtigen, es iſt auch ein Vorbilden des Zukünftigen, es iſt auch ein Ausbilden des ſchon Gebildeten, es iſt ein Verbilden des Thätigen.
\
Der Menſch kann aber nicht nur das, was a, b, e, d genannt iſt; er kann ſich auch, kraft ſeiner Freithaͤtigkeit, e) hineinbilden in das Göttliche, in das Reich des Lichtes, der Liebe, des Friedens, des ewigen Lebens, und ſo hineinbilden, daß er allmaͤlig geiſtlich, himmliſch, gott aͤhnlich wird, wie wir an allen edlen, auserwaͤhlten, rei⸗ nen Gemuͤthern ſehen. Dieß Einbildungs⸗ und Verwand⸗ lungsvermoͤgen koͤnnte man (wenn mit neuen Kunſtwoͤrtern
etwas zu gewinnen wäre) nicht unſchicklich die weiße, wie jene a, b, c, d die ſchwarze Magie heißen. a
2) Dieſen Begriff, von der Imagination vorangeſetzt, laͤßt ſich nicht wohl widerſprechen, daß ihr Antheil an dem Boͤſen ungleich groͤßer ſey, als man zu glauben, oder auch nur zu ahnen ſchien; denn davon will ich nichts ſagen, daß ohne dieſe Imagination ſelbſt das Urſpruͤnglichboͤſe nicht begriffen werden kann, indem ſich weder ein Engel, noch der Menſch von dem Mittelpunkte des Wahren haͤtte
losmachen koͤnnen, wenn er ſich nicht in ſich, in die End⸗ lichkeit, in den Schein haͤtte hinein⸗ und darin verbilden koͤnnen. Nur das muß hier geſagt werden: Das Boͤſe kann in der jetzigen Menſchheit ohne die Hineinbildung des Menſchen in das Reizende, das die Eigenliebe haben, be⸗ halten, genießen, wiſſen, ſeyn, darſtellen will, nicht erzeugt werden; kann ohne die Hineinbildung des Menſchen in das Angenehme der herrſchenden Neigung nicht herrſchend werden; kann ohne Hineinbildung in das Lockende des herrſchenden Boͤſen nicht energiſch zur Offenbarung def ſelben Boͤſen in einzelnen, aus der herrſchenden Neigung abſtammenden Handlungen werden; kann ohne Hineinbil⸗ dung in das Verfuͤhrende der wirklichen Befriedigung der Luſt, des Thatgenuſſes, die Linie von ihrer erſten Regung bis zur Vollendung nicht durchlaufen. Kurz: durch Imagination wurzelt, keimt, ſproſſet, bluͤhet, reifet — das Boͤſe in dem menſchlichen Willen, und geht aus dem in⸗ nern Menſchen in den aͤußern uͤber. Und hier iſt der Punkt, wo die Arzneikunde die Moral abloͤſet; denn, wie die Imagination die Seele verbildet und verwandelt in das Bild des Boͤſen, ſo ſetzt ſie ihr Verbildungs⸗ und Verwandlungswerk im Koͤrper fort, und erzeugt das große Heer von Krankheiten und den fruͤhen Tod. |
* Auch mag die Bemerkung nicht am unrechten Orte ſtehen, daß die ältern Asketen hierin weiſer waren, als einige neuere Mo⸗
raliſten; denn dieſe haben ihren Scharfſinn vorzüglich auf Er⸗ örterung der Pflicht verwenden zu müſſen geglaubt; da jene nicht genug zur Bewahrung der reinen oder zur Reinigung der befleckten Imagination ermuntern konnten.
„„
Zweite Frage: | Was iſt Anlaß zur Erzeugung des Boͤſen?
17 > 91.
Wenn ſchon der Wille des Menſchen dadurch, daß er, ſtatt freithätig für das Gute zu ſeyn, wider den Ruf des Gewiſſens in die Begierde einſtimmet, der eigentliche Selbſturheber, das Zeugungsprin⸗ zip des Boͤſen wird, und ſomit das Boͤſe ein Erzeugniß des freien Willens, der Selbſtbeſtimmung iſt: ſo laͤßt ſich doch fragen, wie heißen die Urſachen, die zwar von dem zeugenden Prinzip des Boͤſen verſchieden ſind, aber das Boͤſe doch begreiflich machen, indem ſie es veranlaſſen, und auf Einwilligung der Perſon in die Begierde Einfluß ha⸗ ben, ohne fie nothwendig zu machen? Es iſt ſchon (8. 77.) ein merkwuͤrdiger Unterſchied des Boͤſen aus der eigenen boͤſen Mitwirkungsart zum fremden Boͤſeſeyn entwickelt, und mancher Einfluß auf fremdes Boͤſe angezeigt worden, der aber doch als freier Einfluß mein Boͤſes war; es ward auch (§. 79.) die Sinnlichkeit als ein allgemeiner Anlaß, als ein allgemeines Reizmittel zu allem Boͤſen al⸗ ler Art angegeben; hier ſoll die Frage vollſtaͤndig ge⸗ loͤſet werden: Wie heißen die Urfachen, die von der Ein⸗ willigung der Perſon in die Forderung der Begierde ver⸗ ſchieden ſind, aber ſie doch begreiflich machen, weil ſie die⸗ ſelbe veranlaſſen und auf das Entſtehen des Boͤſen Ein⸗ fluß haben, ohne es nothwendig zu machen?
Dieſe Urſachen ſollen vorerſt vollſtaͤndig genannt, dann ihre Einfluͤſſe beſtimmt angegeben werden.
92.
Claſſification der Bae die auf Selbſtbeſtimmung \ Einfluß haben.
1) Diefe Urfachen find entweder univerſal oder nicht. Die Univerſalurſache iſt das Erdverderben, jener Hang zum Boͤſen, jenes Uebergewicht der niedern uͤber die hoͤ⸗ here Natur, das uns durch die Abſtammung vom erſten Sanders gegeben iſt. N
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2) Die nicht allgemeinen ſind entweder mehre⸗ ren Perſonen gemeinſam munen oder einem Indie viduum eigen (singulares).
5) Jene, die gemeinſamen, unterſcheiden ſich nach Raum oder nach Zeit. Die ſich nach Ort, Raum, Be⸗ zirk unterſcheiden, mögen die geographiſchen, die na⸗ tionalen heißen. Die geographiſchen, die nationalen heißen: Klima, buͤrgerliche Verfaſſung, Inhalt und Form der offentlichen und zwar der Volks⸗ Religion, in ſofern ſie in irgend einem gegebenen Be⸗ zirke ſchon verderbt iſt, und das Boͤſe beguͤnſtiget.
4) Die ſich nach der Zeit unterſcheiden, kann man be⸗ quem unter dem Worte: Geiſt der Zeit, zuſammenfaſſen.
5) Die einzelnen ſind: individuelle Struktur des Lei⸗ bes, das Temperament, mit individuellen Geiſtesanlagen vereint, individuelle Erziehung, individuelle Lebensart, Stand, Beruf, Verknuͤpfung mit gewiſſen Menſchen, indi⸗ viduelle Theilnahme an der Kultur, oder an der Berhn⸗ rei des Landes.
ö | 953. | Einfluͤſſe der gegebenen Urſachen.
1) Der Einfluß des angebornen Verderbniſſes auf un⸗ ſere boͤſen Geſinnungen und Handlungen kann ſich in eines jeden Gebrechlichkeit, Unlauterkeit, Boͤsartigkeit ſo hand⸗ greiflich erweiſen, daß alle fernere Beweiſe unnoͤthig wer⸗ den. Dieſen Einfluß auf die weitere Verſchlimmerung der Menſchheit hatte Chriſtus im Auge, als er das große Wort ausſprach: Was aus Fleiſch geboren iſt, iſt Fleiſch, d. i. was der ſinnliche, ſich ſelbſt gelaſſene Menſch, fern von den Einfluͤſſen des guten, heiligen Geiſtes, bloß nach dem Triebe der herrſchenden Sinnlichkeit denket, wuͤnſchet, redet, thut, iſt wie der Menſch ſinnlich, thieriſch, Fleiſch, aus den Beduͤrfniſſen ſinnlicher Neigungen geboren und auf Befriedigung derſelben abzweckend. Das Springwaſſer ſpringt nicht hoͤher, als es die erhoͤhende Bewegkraft des Druck⸗ werkes zu treiben vermag. Aus der vergifteten Wurzel ſteigen vergiftete Säfte in den Körper der Pflanzen auf.
f Tempera⸗
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Temperament.
BR Das Beſondere eines Menſchen, in ſofern es AR die Geſammtheit d s Individuellen beſtimmt wird, heißt Temperament. ) In ſofern das Temperament als Anlage des Koͤrpers betrachtet wird, heißt es das Temperament des Koͤrpers; in ſofern das Temperament des Koͤrpers als beſtimmend in Hinſicht auf das Empfindungs⸗, Bor: ſtellungs⸗, Begehrungs⸗ und Thaͤtigkeits⸗Vermoͤgen der Seele gedacht wird: heißt dieſe Beſtimmtheit, dieſe Anlage zu Empfindungen, Vorſtellungen, Begehrungen, Thaͤtigkei⸗ ten, das Temperament der Seele. Das Temperament des Menſchen iſt alſo ſowohl der Grad von Staͤrke oder Schwäche der ſtarren, und von Leicht⸗ oder Schwerbeweg⸗ lichkeit der fluͤſſigen Theile des Leibes, als die daraus kommende Anlage der Seele zu mean, Vorſtel⸗ lungen, Begehrungen, Thaͤtigkeiten. Ä
39 Das Temperament des Körpers beſtimmt alſo zum Theile das Schnelle oder Langſame, das Heftige oder Schwache, das Anhaltende oder Voruͤbergehende in der Erſchuͤtterung der Nerven. Davon haͤngt ab a) die Staͤrke oder Schwaͤche der Empfindung; b) die Lebhaftigkeit oder Mattigkeit, die Dauer oder Fluͤchtigkeit der Vorſtellungen; davon hängt ab c) die Heftigkeit oder Schwaͤche, die Schnelligkeit oder Langſamkeit, die Dauer oder Fluͤchtig⸗ keit der Begierde; davon haͤngt ab d) der Grad der Thaͤ⸗ tigkeit oder Unthaͤtigkeit.
4) Aus dem Temperamente erklaͤren ſich alſo die Träg⸗ heit und der Leichtſinn, dieſe zwei hervorſtechenden Unter⸗ ſchiede aller Unordnungen der Menſchen, und werden die zwei Grundfarben alles Boͤſen. Alle Fehler, die zunächſt in dem Temperamente, alſo in der natuͤrlichen Schwer ⸗ oder Leichtbeweglichkeit, Staͤrke oder Schwaͤche
der Empfindungswerkzeuge, in der Trägheit oder dem Leicht?
ſinne ihren Grund haben, heißen deßhalb T emperaments⸗ fehl er. Und dieſe Temperamentsfehler werden ſi ſi ttliche, in
) Das Wort Temperament deutet ſchon auf das Maß von Stärke oder Schwäche der ſtarren, und von Leicht⸗ oder Schwer⸗ beweglichkeit der flüßigen Theile. | J. M. b. Sailer's ſämmitl. Schriften. XIII. Bd. zte Aufl. 16
— . =
ſofern ſich der edlere Theil des Menſchen nicht dagegen wehret.
5) Bei alle dem iſt das Temperament kein Rechtfer⸗ tigungsgrund des Böfen, weil es nur eine Anlage und eine Leichtigkeit, aber nicht eine durchgängig unbeſiegbare Noth⸗ wendigkeit, zu fehlen, ſchaffet, die freie Selbſtthaͤtigkeit nicht aufhebt, nur erſchweret; obgleich die erſtern Bewegungen des Temperaments außer dem Gebiete der Freiheit liegen.
6) Das Temperament erzeugt nicht das Boͤſe, das nur durch Selbſtbeſtimmung, zur Nichtachtung oder Ver⸗ achtung der Pflicht, durch Einwilligung der Perſon in die Begierde der Natur erzeugt werden kann; aber es be⸗ ſtimmt a) die Reize der Begierde, die, aus dem Zu⸗ ſtand der Natur herausgehend, ein Wollen der Perſon wird; b) den Grad der Begierde; ch die 1
pfung der Begierde A. mit andern Begierden B. O D.; d) die Form der Offenbarung der Beglerbe So liegt z. B. in dem Temperament A. der veranlaſſende Grund, warum das Individuum mehr zum Geize als zur
Wolluſt, warum es mit groͤßerer oder geringerer Lebhaf⸗ tigkeit dazu verſucht wird, warum ſein Geiz mehr mit Stolz als Wolluſt, mehr oder weniger mit Niedertraͤchtig⸗ keit, Knickerei, Schmutzigkeit vereinbart ſeyn mag.
7) Dieſe Einfluͤſſe der Organiſation auf das Gute oder Boͤſe ſind ſo allgemein anerkannt, daß unſere Spra⸗ che die Praͤdikate des Förperlichen. Temperaments geradezu auf die Seele uͤbertragen hat. Man ſagt: eine . ch laͤf⸗ rige Seele, wie ein | chlaͤfriges Temperament, eine tem rige Seele, wie ein feuriges Temperament.
Es iſt uͤbrigens kein Temperament fo raſch, das nicht beaähmtz feines „fo träge, das nicht geſpornet; keines ſo trotzig, das nicht beſaͤnftiget; keines ſo ſanft, das nicht angefeuert werden kann, wenn nur die erforderliche Ue⸗
bermacht des Gemüthes ihre Herrſchaft ausübt, und zur rechten Stunde hervortritt, um ſie auszuuͤben. Und in dieſer Hinſicht kann man ſagen, daß das Tempera⸗ ment, fern, das Boͤſe zu erzeugen, nur die Materie zum Kampfe dem Helden darreichet und den Triumphwagen dem Sieger bereitet; wo und wie aber dieſe Uebermacht
2
— 243 —
des Geiſtes gefunden werde, davon an fee Orte, in der 8 von dem Guten.
Erziehung. i 8) Wie die umgebende Natur zunächſt auf den Leib, ſo wirkt die umgebende Menſchheit auf den Geiſt des ein⸗ zelnen Menſchen ein. Dieſer Einfluß iſt die Macht der Erziehung. Sie zeigt ſich ganz beſonders in ihrem Berhältniffe zum Keime des Boͤſen, den fie in der jungen Menſchenpflanze hervorlockt, den ſie groß ziehet, den ſie durch allmaͤliges Wachsthum zur Zeitigung draͤngt. 9) Die Erziehung fördert das Boͤſe auf zweierlei Weiſe, als nichtbildend, und als verbildend; nichtbildend in dem, was ſie verſaͤumt; verbildend in dem, was ſie thut. 10) Nichtbildend in Verſaͤumniſſen. Sie ver⸗ ſäumt a) den fruͤheſten Zeitpunkt der ſittlichen Bildung zu ergreifen, indem ſie viel zu ſpaͤt anfängt, das Boͤſe, daß ſich im Kinde regt, zu unterdruͤcken, und dadurch den Regungen des Guten Raum zu ſchaffen; b) dem Nach⸗ ahmungstriebe die Bilder des Guten, Schoͤnen vorzuhal⸗ ten und die Eindruͤcke des Boͤſen, Haͤßlichen von der wei⸗ chen Wachstafel fern zu halten; o) das zarte Gemuͤth auf die leiſeſte Stimme des Gewiſſens achtſam, der kind⸗ lichen Gefuͤhle gegen Gott empfaͤnglich zu machen, und im Glauben an Chriſtus, insbeſondere an das Reingute in der Geſinnung und in dem Leben Chriſti zu gründen; d) Lehre mit Ermahnung, Ermahnung mit Zucht, Zucht mit Uebung fo zu verbinden, daß der Zoͤgling alles deſ⸗ ſen, was boͤſe und unanſtaͤndig, entwoͤhnet, und ihm Alles, was gut und wohlanſtaͤndig iſt, d. i. Andacht und Ge⸗ horſam, Aufrichtigkeit und Liebe, Arbeitſamkeit und Sinn fuͤr Danang allmaͤlig eine naturaͤhnliche Gewohnheit werde.
11) Wenn nun irgend ein Menſchenkind eine ſo ver⸗ nachlaͤſſigte, d. in keine Erziehung erhalten hat, und mit dieſem Nichts von Erziehung in das Alter, das ſich mit dem Erwachen des unbandigften Triebes ankuͤndet, und in die Welt, die das Boͤſe in glaͤnzenden Beiſpielen zur Schau traͤgt, eintritt: wie ſchwer wird es einem fo vers | wahrloſeten Menfchen Wer" der Allgewalt des Re Ä 16*
— BA 9
Verderbens zu widerſtehen, da ihn die Erziehung weder gegen die Reize von innen, noch gegen die Reizungen von außen bewaffnet, ſondern wehrlos dem Boͤſen hingiebt? 12) Verbildend iſt die Erziehung, wenn ſie in Hin⸗ ſicht auf die Erziehungsweiſe verkehrt zu Werke geht, z. B. die Uebung des religioͤſen Gefuͤhles, was das erſte Hätte ſeyn ſollen, zum letzten macht. Aber die hoͤchſte Verkehrtheit der Erziehung be⸗ ſtand denn doch darin, daß man dem, was das Erſte haͤtte ſeyn ſollen, nicht etwa die letzte Stelle angewieſen, ſon⸗ dern daß man ſogar den Verſuch mit Vorſatz und aus Abſicht gemacht hat, die Menſchenbildung ohne die Baſis der Religioſitaͤt zu gründen, Denn gerade dadurch hat ſich die Macht des Boͤſen in unſern Erziehern und Erzie⸗ hungen auf das Schauerlichſte entfaltet und geſpiegelt, daß fle das Experiment machten, die zarte Menſchenpflanze ohne das Sonnenlicht und ohne die Sonnenwaͤrme ihres Himmelsſtriches zu kultiviren. Gerade dadurch hat ſich nicht nur die hoͤchſte Verbildung in den Bildnern ſelbſt be⸗ urkundet, ſondern auch das Grundboͤſe in den Produkten
ihrer Bildung nur zu maſſiv dargeſtellt. Denn da das
Grundboͤſe ſich genau verhaͤlt wie die Selbſtſuͤchtigkeit des von Religion entbloͤßten oder gar zur Irreligion uͤber⸗ gegangenen Gemuͤthes: ſo mußte der Verſuch, die Menſch⸗ heit ohne Religion zu bilden, das Boͤſe deſto kraͤftiger her⸗
vorlocken, je mehr die Gemuͤther durch den Unterricht, von der Religion iſolirt, und durch das Leben und durch
die nebeneinkommenden Beiſpiele der Gottloſi gkeit zur Ir⸗
religion verleitet wurden.
13) Verbildend iſt die Ethihung, wenn fie in Sin
ſicht auf den Zweck verkehrt zu Werke geht, wenn Zucht,
Beiſpiel, Unterricht, Angewoͤhnung keinen hoͤhern Zweit
haben, als den Zoͤgling entweder fuͤr die feine Welt pro⸗ ducirbar, wie faſt immer in vornehmen Stauden, oder nur zum Broderwerbe tuͤchtig, wie ſehr oft in den Staͤnden
der Mehrzahl, oder zum buntſchwaͤtzigen Raiſonneur, wie
nicht ſelten in Schulen der Fall iſt, zu machen; oder
wenn überhaupt die Menſchheit, deren hoͤchſtes Gut, das ache, ewige Leben, in jedem Individuum als Zweck
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dar geſtelt werden ſollte, in den Kindern zum bloßen Mit⸗ tel edge wird. — So ſieht der Seiltaͤnzer den Koͤrper ſeines Sohnes und die Geiſtestalente deſſelben bloß als Mittel an, dem Vater einen neuen Nahrungs⸗ zweig zu verſchaffen, indem er die zarten Beine, und die junge Aufmerkſamkeit zum Mitſpielen auf dem Kunſtſeile benutzt. Aber der Mann der Welt, der den Sohn ars leitet, durch eine feine Außenſeite den unendlichen Ehrgeiz zu decken, und dieſem Ehrgeiz alles Andere zu opfern, iſt im Grunde kein beſſerer Erzieher als der Seiltaͤnzer; denn jener bildet einen kuͤnſtlichen Seiltaͤnzer vor der gro⸗ ßen Welt, dieſer vor den Augen des Poͤbels.
149 Die individuelle Erziehung hat dadurch die maͤch⸗ tigſten Einfluͤſſe auf die ſittliche Verſchlimmerung des Men⸗ ſchen, daß fie den Zoͤgling ſetzet in ein unaus weich⸗ liches Verhaͤltniß des täglichen Umganges mit Eltern, Schweſtern, Bruͤdern, Hausgenoſſen, Freunden des Hauſes, die mehr oder weniger verderbt ſind, und mehr oder weniger Geſchicklichkeit beſitzen, dem jungen Gewaͤchſe ihr Verderben einzuimpfen. Während daß z. B. der Knabe den Herzensergießungen feiner Verwandten zuhorcht, und ihrem Lebenswandel zuſieht, druͤcken ſich alle die Ausdruͤcke des Boͤſen, die er an Andern wahrnimmt, in ſeine Seele ein und in feiner Seele ab. | Die individuelle Lebensart. | 15) Wie das Temperament und die Erziehung, fo hat auch die individuelle Lebensart, der individuelle Beruf, der individuelle Standpunkt in der Welt, und die individuelle Verknuͤpfung eines Menſchen mit andern ſchon verderbten Menſchen unzaͤhlige, unbeſtimmbare Einfluͤſſe auf die Un⸗ ſittlichkeit des Individuums. Durch die individuelle Le⸗ bensart giebt ſich der Menſch ſelbſt eine Erziehung, wie er im Hauſe oder auf den Schulen eine empfaͤngt, und dieſe Selbſt⸗Erziehung ſetzt, als vernachlaͤſſigt und als verkehrt, daſſelbe nur fort, was die e häusliche oder Schul⸗ Erziehung angefangen hat. | * So haben drei Menſchen einen wohlthätigen Einfluß auf meine Bildung gehabt, deren Einer mir das Bild der ſtäten Innig⸗
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keit, der Andere das Bild der ſtillfrehen Tugend, der Dritte das Bild wahrer Lebensweisheit vorhielt. Es iſt mir alſo ſehr begreiflich, was aus mir geworden wäre, wenn
ich drei andern Menſchen in die Hände gefallen wäre, die mir das Bild der ſiegenden Gottloſigkeit, des glänzenden Laſters, und der angebeteten Thorheit vorgehalten hätten.
Grad der individuellen Kultur.
16) Auch der Grad der individuellen Kultur oder Nichtkultur hat Einfluß auf die Verſchlimmerung einzelner a Menſchen. So iſt Barberei in Kenntniſſen mit Rohheit im Sittlichen; Empfindſamkeit, welche die Kuͤnſte verfei⸗ nern, mit Weichlichkeit und Schwärmerei, Unwiſſenheit mit Grauſamkeit, Wiſſenſchaft mit Kaͤlte gegen die eigentliche Ausbildung des Willens leicht verknuͤpfbar.
* So unterſcheidet der kritiſche Philoſoph ſehr richtig die Laſter der Rohheit, die auf die Anlagen zur Erhaltung des Lebens, zur Fortpflanzung des Geſchlechtes, und zur Gemeinſchaft mit Andern gepfropft werden, und in der höchſten Abweichung vie⸗ hiſche Laſter heißen, Völlerei, Wolluſt, wilde Geſetzloſigkeit im Verkehr mit Andern, von den Laſtern der Kultur, die auf die Anlage der Menſchlichkeit gepflanzet werden, und in ihrem höchſten Grade teufliſche Laſter heißen: Neid, W
keit, Schadenfreude, Feindſeligkeit.
„Klima.
17) Mit dieſen individuellen Urſachen der Verſchlim⸗ merung haͤngen die nationalen zuſammen. So hat das Klima zunaͤchſt a) auf den Nervenbau, auf die Komple⸗ xion, auf das ganze Temperament des Menſchen; b) auf ſeine mancherlei Beduͤrfniſſe und Anlagen zu Leidenſchaf⸗ ten; e) auf die Nahrungsmittel, deren Kaͤrglichkeit mit Rohheit, deren Ueberfluß mit Weichlichkeit, deren belebende Kraft mit Ausbruͤchen der Sinnlichkeit leicht verknuͤpfbar find, und dann durch Temperament, Beduͤrfniſſe, Nah⸗ rungsmittel, Anlage zu Leidenſchaften, 0 auf Sittlichkeit und Unſittlichkeit der Menſchheit bedeutende Einfluͤſſe. * Vielleicht könnte, wie ein altes Sprichwort den Franzoſen ſeine Sorgen verſingen, den Spanier verweinen, den Italiener ver⸗ ſchlafen, den Deutſchen vertrinken läßt, ein neues Sprichwort
*
— gr —
in den Sittengemälden dieſer vier We, ahnliche klima:
ische unterſchiede bemerken. e 19555 Bürgerliche Geſellſchaft.
1250 Die geſellſchaftlichen Verbindungen überhaupt koͤn⸗ nen durch die Macht der Beiſpiele unſere Urtheile, durch die vermehrten Beduͤrfniſſe unſere Begierden, durch die verſtaͤrkten Kraͤfte unſere Thaͤtigkeit verſchlimmern.
19099 Die bürgerlichen Vereine, Regierungen insbeſon⸗ dere foͤrdern die Unſittlichkeit durch Ver faͤumung der offentlichen Erziehung; durch ſteigende Bedruͤckung der Voͤlker, indem die Armuth des Volkes eine ſchlimme, und die daraus quellende Verzweiflung die ſchlimmſte Lehr⸗ meiſterin wird; durch herrſchende Willkuͤhr, die den fe⸗ ſten Rechtsfuſtand gefaͤhrdet, und das Unrecht durch Ge⸗ walt, welche die Form des Rechtes annimmt, geltend macht; durch oͤffentliche Nichtachtung der Öffentlichen Religion, wodurch in jenem Kaͤfige, der die wildeſten Beſtien einſchließt, eine Hinterthuͤr geoͤffnet wird, daß ſie un⸗ geſehen ausbrechen, und das Volk ungeſtraft e koͤnnen.
Religion.
m 200 Die National⸗Religion muͤßte die Unſttlichkett \ fördert, wenn die Führer des Volkes a) in den finftern Tagen eine mechaniſche, das Innere leerlaſſende Aeußer⸗ lichkeit, in den hellern Tagen (in jenen des freien Den⸗ kens) eine bloß geiſtige, das Aeußere verſchmaͤhende Inner⸗ lichkeit, alſo entweder einen Koͤrper ohne Geiſt, oder einen Geiſt ohne Koͤrper; in ſofern ſie b) in den Tagen
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der herrſchenden Kabinets-Orthodoxie den blinden Eifer
des Aberglaubens, in den Tagen der herrſchenden Ka⸗ binets⸗Heterodorxie die ſchreckliche Kälte des Unglaubens gegen alles Religioͤſe beguͤnſtigten. Geiſt der Zeit.“) 21) Den Geiſt der Zeit machen aus: a) die ausge⸗ zeichneten Kraͤfte, die in einer gegebenen Zeit wirken, und
2 Dieſe Schilderung ward am Schluſſe des vorigen Jahrhunderts entworfen; jetzt zählen wir 1827. Möge uns die neue politiſche Zeit, die im Werden begriffen iſt, einen beffern Zeitgeiſt gewähren!
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den Ton zum Urtheilen und Handeln in einem beſtimmten Zeitraume, der groͤßer oder kleiner ſeyn kann, angeben; b) die vornehmſten Wirkungsweiſ en dieſer Kraͤfte; c) die unverkennbaren Tendenzen jener Kraͤfte, und die⸗ ſer Wirkungsweiſen; d) die auffallendſten Wirkun⸗ gen, die ſchon hervorgebracht ſind. b
22) Unter den Kraͤften unſers Zeitalters ragen drei beſonders hervor: a) in Hinſicht auf das Reich der Sinne der regelloſe Luxus, der von der Hauptſtadt in die Pro⸗ vinzialſtaͤdte, und von dieſen in die Doͤrfer ſich immer weiter ausbreitend, ſich des denkenden, wie des nichtden⸗ kenden Theils der Menſchen bemaͤchtiget; b) in Hinſicht auf das Reich des Denkens, die durch ſteigende Kultur rege gewordene Raiſonnir⸗Luſt; c) in Hinſicht auf die ſtehenden Formen der Dinge — das durch r ene heiten geweckte Umwaͤlzungs⸗ Fieber.
25) Unter den vornehmſten Wirkungsweiſen ver⸗ dienen hier beſonders zwei genannt zu werden: a) die Pu⸗ blizitaͤt, die durch vernünftige Preßfreiheit beguͤnſtiget und durch unvernuͤnftige Preßfrechheit entweihet ward; b) die geheimen Verbindungen der Gleichgeſinnten, die wenigſtens den Geiſt des Mißtrauens allgemein, durch erregte falſche Hoffnungen, die ſie nicht befriedigen koͤnnen, die Zahl der Thoren übergroß, und manchmal auch durch verſteckte Fuß⸗ angeln den Boden hie und da unſicher gemacht haben moͤgen.
24) Die unverkennbare Tendenz, die bei jenen \ Kräften. und diefen Wirkungsweiſen in vielen Individuen zu Grunde liegt, iſt offenbar nur die: den Egoismus der Sinnlichkeit, den Egoismus der Meinung, den Egoismus der aͤußern Wirkſamkeit herrſchend zu machen. Ich nenne dieſe Tendenz mit Reinhold: die Unabhaͤngigkeits⸗ Tendenz, weil ich ſie nicht beſſer zu nennen weiß.
25) Die auffallendſte Wirkung iſt die bekannte Fer- mentatiospirituum, eine Gaͤhrung, die alle Gegen ſtaͤnde im politiſchen, moraliſchen, religioͤſen, ſcientifiſchen Fache befaßt, und in manchen Gegenden ſchon eine hohe Spannung der Kraͤfte bewirkt hat, die hie und da eine nahe Erxploſion befuͤrchten laſſen, und in andern — nicht bloß mehr befuͤrchten laſſen. ee MM
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26) Dieſe Gährung hat in Deutſchland drei Eigen, eiten: f Die Erſte: Es beginnt je laͤnger, je mehr eine Denk⸗ art in halb gebildeten Koͤpfen, die ſich fuͤr ganz gebildet halten, herrſchend zu werden, die darauf ausgeht, die Tu⸗ gend von der Religion, und die Religion von aller hoͤhern Offenbarung unabhaͤngig zu machen; und insbeſondere von dem Chriſtenthume nichts gelten zu laſſen, als was ihr zum Sittengeſetz zu gehoͤren, oder mit andern blendenden Vor⸗ ſtellungen, die heute ſo, morgen anders ſind, zuſammen zu haͤngen ſcheint, oder deutlicher: Das Evangelium der bloßen ſelbſtgemachten Vorſtellung an die Stelle des Evan⸗ geliums Chriſti zu ſetzen. Dadurch werden viele Juͤng⸗ linge von der Gottesfurcht, die bisher ihr Schutzengel war, weggeriſſen, und in ein unendliches Denk⸗ Labyrinth hin⸗ eingeworfen, oder vielmehr unfaͤhig darin zu verweilen, in den Zuſtand eines ungluͤcklichen Schwebens zwiſchen Himmel und Erde verſetzt. Indeſſen, da ihr Geiſt in ſei⸗ ner Region kein Heil finden konnte, machten die vordrin⸗ genden Reize des Luxus und der Luxuria auf ihren ſinn⸗ lichen Theil ſo ſtarke Eindruͤcke, daß ſie nach ſchwachem Widerſtande das Heil in der Sinnlichkeit ſuchen, das ſie in der Region des Denkens umſonſt geſucht zu haben glau⸗ ben. Dieſe Niederlage iſt dadurch ſchon ſehr erleichtert, daß eine ungewiſſe Religion der Tugend keine Haltbarkeit ſchaffen und die Tugend ohne Religion keinen feſten Fuß gewinnen kann.
Die zweite Eigenheit: Der Strom des fittlichen Ver⸗ derbens wird durch die Menge der boͤſen Beiſpiele, durch das Anſehen der Boͤſen, durch die Ungeſtraftheit des Laſters immer hoͤher angeſchwellt.
Die dritte Eigenheit: Unſere öffentliche Religionsanſtal⸗
ten werden immer unkraͤftiger, ſowohl jene herrſchende Ab⸗ neigung wider alles Poſitive in Sachen der Religion zu beſiegen, als dieſen Strom des ſittlichen Verderbens auf⸗ zuhalten, und werden deßhalb je laͤnger, je unkraͤftiger, weil die Unthaͤtigkeit der hoͤhern Kirchenvorſteher faſt Alles ungebeſſert und unbeſeelt laͤßt; weil der Unverſtand und die Traͤgheit einiger niederſtehenden Kirchenvorſteher auch
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das Gute, das in den ſtehenden Religionsanſtalten noch da iſt, offenbar unbenuͤtzt laͤßt; weil die Thaͤtigkeit der⸗ jenigen, die Religionsanſtalten verbeſſern wollen, nicht alle⸗ mal in Grundſaͤtzen einig, in der Verbeſſerungsweiſe be⸗ ſcheiden, in Zwecken der Umänderungen durchaus mit. dem Geiſte des Chriſtenthums harmoniſch und im Geſchaͤfte der wirklichen Verbeſſerung ſtandhaltend iſt; weil die bloß mo⸗ raliſchen Recepte, womit man die kranke Menſchheit heilen will, den Schaden nur vergroͤßern; weil dem ſinkenden
Amts⸗ Anſehen der Geiſtlichen durch. das perſoͤnliche Infehen der Geiſtlich⸗Geiſtlichen nicht hinreichend aufgeholfen wird.
Der Luxus iſt auf ſeinem Wege ſchon fo weit vorgerückt, daß, wenn ihm nicht durch Weisheit der Menſchevführer, und durch die höhere des Schickſals geſteuert würde, Armuth und Un ge⸗ rechtigkeit, ſeine zwei Leibadjutanten, durch die Hülfe eines dritten, der Verzweiflung heißt, in Kürze die Bande der Ord⸗ nung zu zerbrechen drohten. Die Raiſonnirluſt hat es in ihren Kandidaten ſchon ſo weit gebracht, daß Viele, von Anſchauung und Glauben iſolirt, nichts Heiliges mehr kennen, weder auf Erden noch im Himmel, weil ihnen die Erde und der Himmel nnichts find. Das Umwälzungsſieber ſoll, will's Gott, in dem Reiche, in dem es geboren ward, vorüber ſeyn: es werden alſo auch die Zuckungen, die es in dae menen Saale ver⸗
What bald nachlaſſen. | a er
9a.
Die genannten Urſachen, die das Böse zwar nicht er⸗ zeugen, aber veranlaſſen, ‚können. auf dreierlei Weiſe zur Entſtehung des Boͤſen mitwirken; je nachdem ſie, um mit
aulus zu reden, zunächft entweder das wider den Geiſt aͤmpfende Fleiſch unterſtuͤtzen, oder den wider das Fleiſch ſtreitenden Geiſt ſchwaͤchen, oder beides zugleich thun; mit andern Worten: zum Boͤſen trägt erſtens bei, was in uns die unendliche Begierde, zu haben, zu ſcheinen, zu genie⸗ ßen, wecket, unterhaͤlt, verſtaͤrket, befriediget. Zum Boͤſen traͤgt zweitens bei, was in uns den Widerſtand gegen die Begierde ſchwaͤchet, vermindert, aufhebt. Zum Boͤſen trägt drittens bei, was die Macht der Begierde verſtaͤrkt und
zugleich die Ve, der Freiheit ſchwaͤcht. 2 aid
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Unter dieſen veranlaſſenden Urſachen ſind die nuͤch⸗ ſten (causae peccandi proximae), welche die Suͤnde faſt immer herbeiführen, von den fernern (causae pec- candi remotae), welche die Sünde. herbeiführen koͤnnen, wohl zu unterſcheiden, in ſofern wir mehr Wachſamkeit und Widerſtand beduͤrfen, um jenen zu entkommen als dieſen.
Abgeſehen von dem nahen oder fernen Einfluſſe der veranlaſſenden Urſachen auf das Boͤſe, iſt es offen⸗ bar, daß Alles, was jn irgend einem Menſchen entweder die Begierde, die unter dem Regiment des Geiſtes gezuͤgelt ſeyn ſollte, aufregt, unterhaͤlt, erhoͤht, verſtaͤrkt, oder den Widerſtand gegen die Begierde ſchwaͤchet, oder beides zu⸗ gleich thut, den Menſchen in den Zuſtand der Ver ſu⸗ chung ſetzet, wie die Schrift ſich ausdruͤckt; denn das iſt der abſolute Unterſchied zwiſchen Gott und dem Menſchen (Jak. I. 13. 15.): Gott iſt vom Boͤſen unverſucht und unverſuchbar zum Boͤſen, verſucht auch Niemanden zum Bo⸗ ſen und kann Niemanden verſuchen: aber der Menſch iſt ver⸗ ſuchbar, wird verſucht, und verſucht auch Andere.
Weil die Verſuchungen entweder von innen oder von außen kommen konnen, und von außen entweder von einer | ſichtbaren oder unſichtbaren Macht: ſo giebt es nach der Lehre der chriſtlichen Offenbarung dreierlei Verſuchungen und dreierlei Verſucher, Fleiſch, Welt, Satan.)
Fleiſch bezeichnet in dem Sinne des Apoſtels nicht nur die ganze Sinnlichkeit des Menſchen, ſondern alle im Menſchen der Sinnlichkeit dienende Kraͤfte, wie z. B. die Einbildungskraft. Welt bezeichnet alles Aeußere in Perſonen, Sachen, Natur⸗ und Kunſtprodukten, was das Reich der Begierden erweitern, und das Reich des Geiſtes verengen kann. Chriſtus ſetzet die Suͤnde der Welt in das Nichtglauben an Ihn. (Joh. XVI. 9.) Es
*) Zu Owenus Zeiten waren die Dichter orthodoxer als jetzt viele Theologen nicht mehr ſind, wie es ſein Sinngedicht ver⸗
bürgt: Tres tentatores:
Tres, caro, et immundus mundus, Satanasque 8 op hi stae. Hie Logicus, xeliqui Rhetores ambo boni.
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wird alſo auch die vornehmſte Verſuchung der Welt darin beſtehen, daß ſie uns von dem Glauben an das Goͤttliche, wie es in Gott iſt, oder in Chriſtus erſchienen iſt, abwen⸗ dig zu machen ſtrebe. Da (nach 1 Joh. II. 16.) das Reich der Welt in Augenluſt, Fleiſchesluſt, Lebenshoffart beſteht, ſo werden alle Verſuchungen der Welt Verſuchun⸗ gen zur Augenluſt, Fleiſchesluſt und Lebenshoffart ſeyn. Die dritte Quelle von Verſuchungen haben die neuern Ausleger verſtopfet, aber nur mit geſprochenen, geſchrie⸗ benen und gedruckten Buchſtaben. Denn wozu wuͤrde uns Paulus ſo ſehr die goͤttliche Waffenruͤſtung wider die un⸗ ſichtbaren Maͤchte empfohlen haben, wenn ſie nicht mehr wirken koͤnnten? (Epheſ. VI. 11— 12.)
Ganz anders die wahre chriſtliche Philoſophie: wie fie die Beſchreibung der veranlaſſenden Urſachen des jetzi⸗ gen Boͤſen mit dem Erdverderben beginnt: ſo ſchließt ſie dieſelbe mit dem ae 27 der
Finſterniſſe.
Die Verſuchungen, die von Menſchen kommen, heißen, in ſofern ſie mir zum Anſtoße werden, Aergerniſſe, Steine des Anſtoßes (Causa ruinae spiritualis). Unter den Aergerniſſen fett Chriſtus, fo wie er überall den Glauben obenanſetzt, auch jenes Aergerniß ſehr hoch an, das dem Schwachen im Glauben gegeben wird. Wer einen dieſer Kleinen, die an mich glauben, aͤrgert, dem waͤre es beſſer, wenn er in's Meer geworfen würde, (Mark. IX. 42.) Wenn aber boͤſe Menſchen, welche ſchaͤdliche Pflanzen mit Gewalt im Garten Gottes feſthal⸗ ten wollen, ſich an dem Guten, der ſie ausrotten will, aͤr⸗ gern: ſo laͤßt Chriſtus dieß genommene Aergerniß fuͤr kei⸗ nen Grund gelten, der uns bewegen duͤrfte, deßhalb die Aus jaͤtung des Unkrautes zu unterlaſſen. (Matth. XV. 12. 13.) | | Ä
Ba. Zur Ueberſicht. Was das Böſe im Menſchen erzeugt, iſt alſo: I. nicht Gott, denn vom Guten kann nur Gutes kommen;
II. nicht die Natur, denn fie dient als Theater zur eien, des Guten, wie zur Darſtellung des Böſen;
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III. nicht das Erbverderben, denn dem Hange zum Böfem, der Begierlichkeit, die fi in uns regt, können un 955 wir widerſtehen;
IV. nicht der Geiſt der Welt, denn er kann 5 nur zum Böſen verſuchen durch Beiſpiele, Verheißungen, Drohungen, Lob, Tadel, Verfolgungen, aber zur Einwilligung in dis a geregte Begierde nicht nöthigen; Ä ?
v. nicht der Geiſt der Zeit, denn er iſt nur der in einem beſtimmten Zeitmaße herrſchende Weltgeiſt;
VI. nicht der von dem Dichter belobte logicus Satanas, den, wenn wir ihm nach dem Rathe des heiligen Petrus im Glau⸗ ben tapfer widerſtehen, und kein Ohr der finſtern Begierde leihen, ſo bleibt auch ihm aller Eingang und Einfluß verſchloſſen.
Was alſo das Böſe in mir erzeugt, iſt mein Selbſtwille, der, ſich trennend von dem Einen, ewigen, Univerſalwil⸗ len, von dem Göttlichen, und ſich hingebend den Beredun⸗
gen der Begierde, des Weltgeiſtes, des Zeitgeiſtes, ſich in ſich koncentrirt und das Objekt ſeines von dem gött⸗ lichen getrennten Wollens im Leibe, in der Natur, in der Zeit geltend macht, oder zu machen ſtrebt.
Vor dem Falle des Engels, des Menſchen, war nur Ein
Wille im Univerſum, der Eine, der ewige, der Univerſalwille, der Göttliche. Mit dem Falle des Engels, des Menſchen, kam ein zweiter, von dem Einen, ewigen Univerſalwillen Artrenniee Wille, der Cigenwilte, in die Welt. |
Dieſer zweite, dieſer Eigenwille zeuget jetzt noch alles wei⸗
tere Böſe, und iſt ſelbſt das Böſe. Nicht, daß wir freien Wil⸗
len haben, iſt böſe, ſondern daß wir ein von dem göttlichen
geſchiedenes en W das iſt ge 1 8 vas 712 Böf E. 7 6
H. II. Das Böſe in ſeiner Steigerung. Das Böſe in der Steigerung iſt erkannt, wenn die Suͤnde, das Laſter, die ee at three Größe kannt rr * ö 95. h Größe der Sünde. ;
Das Eine, das die Suͤnde zur Suͤnde macht, 4 5 nach Johannes im Unrechte (1 Joh. III. 4.), nach Ja⸗
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kobus im ungehorſam beſteht (Jak. II. 10 — 110, | ſchließt das Mancherlei der Größe nicht aus, 8 ein.
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Die Größe der Suͤnde (des Aktus) verhaͤlt ſich I. wie die Pflicht, die uͤbertreten wird, II. wie die Pflicht⸗ uͤbertretung ſelbſt, III. wie die Folgen der Pflicht⸗ übertretung, die dem Pflichtübertreter Agerechnet wer⸗ den koͤnnen.
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I. Die Größe der Sünde verhält ſich, wie die licht, die übertreten wird, d. h. je größer die Pflicht, oder je mehrere Pflichten zugleich uͤbertreten werden, deſto groͤ⸗ ßer iſt die Suͤnde. f 1) Die Groͤße der Pflichten verhaͤlt ſich erſtens: wie die Beſtimmtheit oder Unbeſtimmtheit der Pflichten. Die Pflichten ſind entweder ſchon beſtimmt, oder werden beſtimmt. Beſtimmt ſind ſie durch den innern Werth oder Unwerth der Handlung, in ſofern der unwandelbare Werth oder Unwerth derſelben meiner Thaͤtigkeit keinen freien (geſetzmaͤßigen) Spielraum mehr laßt. Solche beſtimmte Pflichten ſind immer groͤßer, als die unbeſtimmten, die meiner Freithaͤtigkeit noch freien Spielraum laſſen. So hat z. B. die Kraͤnkung der Menſchenrechte durch Laͤſte⸗ rung offenbar einen groͤßern Unwerth, als die negative Haͤrte, die einem Bittenden, der kein Recht zu fordern hat, eine ihm nicht ſonderlich noͤthige Gabe verſagt. Und die beſtimmte Pflicht: kranke die Ehre deines Bru⸗ ders nicht, iſt groͤßer als jene unbeſtimmte: Laß die Bitte des. Duͤrftigen nicht unerhoͤrt. Denn jene Pflicht will ſchlechtweg, daß die Kraͤnkung fuͤr im⸗ mer und uͤberall unterlaſſen werden ſoll, weil das, was in ſich und unbedingt boͤſe iſt, nie gut werden kann, nie erlaubt werden kann; dieſe aber gebeut nicht fuͤr immer und uͤberall, ſondern laͤßt meiner Thaͤtigkeit noch freien Spielraum, laͤßt mir noch eine Wahl, was, wie, welchem Bittenden, wann und wo ich geben ſolle.
229 Aber nicht alle Pflichten‘ fd’ durch ſich ſchon be⸗ ſtimmt, ſie werden erſt beſtimmt, und zwar a) dürch Per-
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fönliche gegenſeitige Selbſtbeſtim mung, BR durch Vertrag; ſo iſt z. B. in der Pflicht der Gerech⸗ Ra die mit dem Darlehen gegeben iſt: gieb das zu⸗ was du geborgt, und zur Zeit zurück, die du mit dem Glaͤubiger verabredet, und in der jenigen Sorte zuruͤck, dazu du dich anheiſchig gemacht haſt, Alles be⸗ ſtimmt: die Summe, die Perſon, die Zeit, die Sorte des Geldes, und iſt durch Vertrag ſo beſtimmt worden. Da⸗ gegen iſt in der Pflicht: Sey ein Freund der Armen, die Zeit, der Ort, die Huͤlfe, die Art und das Maß der Huͤlfe unbeſtimmt, obgleich die Handlung ſelbſt, dem Duͤrftigen beiſpringen, einen innern Werth hat, und nach Umftänden und Verhaͤltniſſen für ein beſtimmtes Indivi⸗ duum eine beſtimmte Pflicht werden kann. 3) Die Pflichten werden beſtimmt b) durch indivi⸗ duelle Selbſtbeſtimmung, d. i. durch Standeswahl, Beruf. So wird die Pflicht: ſey ein Freund der Leiden⸗ den, fuͤr den Arzt durch den Beruf des Arztes und die⸗ fer durch ſeine Wahl beſtimmt. Es gehen alſo nicht nur die allgemeinen Pflichten der Gerechtigkeit den Pflich⸗ ten der Guͤte vor, weil jene beſtimmt, dieſe unbeſtimmt ſind; es geht auch die Pflicht der Guͤte, die durch Beruf eine naͤhere, beſondere Beſtimmung erhaͤlt, den übrigen, unbeſtimmten Pflichten der Guͤte vor. So eilt der Arzt, von ſeinem Berufe gedrungen, zum Kranken, und laßt das Beduͤrfniß eines ihm nachſchreienden Armen unbefriedigt, um nur ſeinen Kranken nicht warten zu laſ⸗ ſen; davon nichts zu ſagen, daß die Pflicht, Kranken bei⸗ zuſtehen, die fuͤr den Menſchen eine Pflicht der Guͤte itt, für den Arzt, der die Heilung der Kranken bereits un⸗ ternommen hat, eine befondere Pflicht der Gerech⸗ | tigkeit wird. Wan Die Pflichten werden beſtimmt 00 durch das Be⸗ wußtwerden ſolcher Zufälle, die dieſe gegebene Handlung in Hinſicht auf den gegebenen no — — 1 Zweck zum nothwendigen Mittel machen. dein Nachbar in das Waſſer fallt, und du ihn ſchreien hoͤrſt, ſo wird die unbeſtimmte Pflicht, zu helfen, fuͤr dich durch us von dir wahrgenommene Ungluͤck dahin beſtimmt:
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ziehe du dieſen Leidenden in dem Momente aus dem Waſſer. Es find alſo die Pflichten, deren Ausuͤbung keinen Verſchub leidet, dringender, als die, welche zu an⸗ dern Zeiten koͤnnen ausgeuͤbt werden. So vertheidigte Jeſus ſeine Heilung des Waſſerſuͤchtigen am Sabbathe durch dieſen Grundſatz: Gutes thun da, wo dich der dringende Anlaß auffordert, es zu thun, kann nicht ver⸗ boten ſeyn: wer unter euch zoͤge nicht ſeinen Ochſen oder Eſel, der ihm in den Brunnen fiele, ſogleich Ku am Sabbathe heraus? (Luk. XIV. 2. 6.)
5) Die Größe der Sünde verhält ſich zweitens: wie die Subordination der Pflichten. Dieſe iſt mancherlei; alſo auch die Groͤße der Pflichten. Das Mittel iſt a) als ſolches immer dem Zwecke untergeord⸗ net, alſo auch die Pflicht, die ſich auf ein Mittel be⸗ zieht, jener, die ſich auf den Zweck bezieht, untergeordnet. So iſt Liebe, als Zweck betrachtet, erhaben uͤber das Foͤr⸗ derungsmittel deſſelben. Alſo geht die Ausuͤbung der Liebe, die mir eine beſtimmte Handlung auferlegt, der Öffentlichen Gottesverehrung vor, in ſofern dieſe als ein Erweckungsmittel der Liebe angeſehen werden kann.) Gehet hin, ſpricht Chriſtus, und lernet, was es heiße: Thaten der Erbarmung will ich und nicht Opfergaben. (Matth. IX. 13.) Und: Wenn ihr wuͤßtet, was es heiße: Ich habe Wohlgefallen am Erbarmen, nicht an Opfern, ſo haͤttet ihr meine unſchuldigen Juͤnger (die an dem Sabbathe ſich an den Aehren den Hunger ſtillten) nicht verdammt. (Matth. XII. 2.) Der niedere Zweck iſt b) allemal dem hoͤhern, der hoͤhere dem hoͤchſten unter⸗ geordnet; alſo auch die Pflichten. So iſt die Pflicht: Bilde deinen Zoͤgling zur herrſchenden Liebe des Guten, hoͤher, als die, bilde jene techniſchen Geſchicklichkeiten in deinem Lehrlinge immer mehr aus, die ihm zum Durch⸗ kommen durch das Leben dienlich ſind: und dieſe hoͤher, als die: Bilde deinen Zoͤgling zu einem feinen, et
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9 Denn, daß ſie auch als Zweck 8 5 5 weil ſie Zweck iſt, davon in der f von De bee a 0 pflichten. 1 3 e ee,
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Welt genießbaren Geſellſchafter. Denn Seyn iſt mehr, als Wirken, und Wirken mehr, als Scheinen.
6) Die Groͤße der Sünde verhält ſich, wie die Viel⸗ heit der Pflichten, die zugleich uͤbertreten werden. Denn jede einzelne Pflicht iſt, als ſolche, ein Band der Will kuͤhr, und ein Richtmaß der Thaͤtigkeit; je meh⸗ rere ſolcher Bande alſo zerriſſen, je mehrere ſolcher Richt- maße überfchritten werden, deſto mehr Boͤſes in der Nichte achtung jener Bande und dieſer Richtmaße. Wenn z. B. ein Großer, der die Pflicht haͤtte, im Namen ſeiner Na⸗ tion von einer Seite das Eigenthum, den Erwerb, das Leben und die Zufriedenheit der Buͤrger zu fichern, und von der andern Seite die Religion, Sittlichkeit und Kul⸗ tur in Wiſſenſchaft und Kunſt zu foͤrdern, von angebo⸗ tenen Summen beſtochen, den Regenten zur Kriegserklaͤ— rung bewegte: ſo wuͤrde der Eine Federzug des Letztern, der das Wort Krieg ſchriebe, die tauſendkoͤpfige Suͤnde ſeines Dieners unterzeichnen, die eine Uebertretung aller Pflichten waͤre, die ihn an das Wohl der Voͤlker baͤn⸗ den, und ein unzaͤhliges Heer unendlicher Suͤnden und Uebel nach ſich zoͤge.
* Sünden dieſer Art, deren Schändlichkeit Aten groß, de⸗ ren Schädlichkeit unermeßlich iſt, weil jede derſelben unzählige ‚Verbrechen in ſich ſchließt, kann man mit guten Gründen die unendlichen nennen (peccata infinita). Man nannte fie ſonſt auch peecata caudata, weil fie große rg von Sünden nach ſich ziehen.
Die Größe der Suͤnde verhält ſich II. wie die Be ſchaffenheiten der „„ Dieſe ſind: Erkennt⸗ niß des Geſetzeß und der Beweggründe zur Ges ſetzeserfuͤlung, U eberlegung und Vorſatz, Antheil an der That der Geſetzesuͤbertretung.
7) Alles, was das Maß der Freithaͤtigkeit erweitert, vergroͤßert auch das Maß der Zurechnung: es wird alſo die Suͤnde deſto groͤßer ſeyn, je mehrere und hellere Kennt⸗ niſſe ein Menſch von dem Geſetze hatte, oder haben konnte und ſollte; denn die Erkenntniß des Geſetzes be⸗ ſtimmt das Maß der Zurechnung, indem ſie das Maß der
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl, 12
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Freithaͤtigkeit beſtimmt: „Ich ſage euch, am Tage des Ge⸗ richts wird es den Bewohnern von Sodoma und Gomorrha ertruͤglicher gehen, als dieſer Stadt. (Matth. X. 15.) Waͤre ich nicht zu ihnen gekommen und haͤtte ich nicht zu ihnen geredet, ſo waͤre es ihnen nicht Suͤnde, aber jetzt laͤßt ihre Sünde keine Entſchuldigung zu.“ (Joh. XV. 22.) Eben deßwegen beſtimmen auch Anlaß, Zeit und Kraft zur Erkenntniß der Wahrheit zu gelangen, die man aber unbenuͤtzt vorbei ließ, die Groͤße der Suͤnde. Je mehr Gelegenheit, Zeit, Kraft zur Erkenntniß des Wah⸗ ren, die gegeben iſt, deſto groͤßer iſt deine Suͤnde, ſie unbe⸗ nuͤtzt gelaſſen zu haben, wie Chriſtus lehrt: „Jeruſalem, Jeruſalem! die du toͤdteſt die Propheten und ſteinigſt die, welche dir geſandt ſind. Wie oft habe ich deine Kinder verſammeln wollen, wie eine Henne ihre Kuͤchlein unter ihren Fluͤgeln verſammelt, und ihr habt nicht oo (Matth. XXIII. 37.)
8) Alles, was das Maß der Freithätigkeit erweitert, vergroͤßert das Maß der Zurechnung. Die Suͤnde muß alſo deſto groͤßer ſeyn, je mehrere und dringendere Be⸗ weggruͤnde und Ermunterungen zur Ausuͤbung meiner Pflicht, je mehrere und dringendere War⸗ nungen vor Uebertretung derſelben in dem Bewußtſeyn des Handelnden vorhanden waren; denn die Zahl und Kraft der Beweggründe und Warnungen erweitern das Maß der Freithaͤtigkeit, helfen alſo das Maß der Zurech⸗ nung vergroͤßern: „Haͤtte ich unter ihnen nicht Thaten gethan, die kein Anderer gethan, ſo waͤre ihre Schuld nicht ſo groß. Nun aber haben ſie dieß Alles geſehen, und haben doch mich und meinen Vater gehaßt.“ Joh.
XV. 24.) a 99 Alles, was das Maß der Freithaͤtigkeit wette vergroͤßert das Maß der Zurechnung: es wird alſo dieſe Sünde deſto größer ſeyn, mit je mehr Ueberlegung und Vorſatz das Boͤſe vollbracht worden. Denn Ueber⸗ legung und Vorſatz erzeugen jenen ſchauerlichen Fleiß in Uebertretung des Geſetzes, dem keine Uebereilung und kein Verſehen zur Milderung dienen kann: „Wehe euch, ihr
Heuchler, e und Phariſäer, weil ihr das
*
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N Himmelreich vor den Menſchen ſchließet, ſelbſt nicht hin eingehet, und Andere auch nicht hineinlaſſet.“ (Matth. XXIII. 13.) 10) Alles, was das Maß der Freithätigkeit erweitert, vergrößert das Maß der Zurechnung: die Sünde muß alſo für den Mitwirker deſto größer ſeyn, je größer der Antheil iſt, den ſein freier Wille an Vollbringung des Boͤſen genommen hat, indem die That nur das reali⸗ ſirte Wollen iſt, und die Mitwirkung als Autheil an der That das Boͤſe dem Andern ausfuͤhrbar gemacht hat. „Darum, ſprach Chriſtus zu Pilatus, hat der, welcher mich an dich ausgeliefert hat, die groͤßere Suͤnde.“ (Joh. XIX. 11.) | Die Größe der Sünde verhält fich III. wie die Folgen der Suͤnde, die dem Pflichtuͤbertreter zugerechnet werden koͤnnen, d. i. die Suͤnde iſt deſto größer, je verwuͤſtender und ausgebreiteter die Folgen ſind, die er a) vorherſehend veranlaßt, die er b) vorherſehend nicht bloß veranlaßt, ſondern ſogar bezweckt, oder endlich, die er c) nicht vor⸗ hergeſehen, aber leicht haͤtte vorherſehen koͤnnen, und aus eigener Schuld nicht vorhergeſehen hat! Denn die Fol⸗ gen a) und b) lagen als Gegengewicht der Sinnlichkeit wirklich auf der Wagſchale. Es mußte alſo der freie Wille das ganze Gegengewicht der Sinnlichkeit uͤberwin⸗ den, um das Boͤſe wollen und vollbringen zu koͤnnen; mußte alſo den Reizen des Boͤſen in dem Maße ſich bite gegeben haben, in wel hem die ſchrecklichen Folgen des Boͤſen das Abſchreckende fuͤr ihn verloren hatten; mußte alſo, damit ſie das Abſchreckende verlieren konnten, den Blick des Geiſtes von der Aernte, die aus dem Boͤſen her⸗ vorwachſen wuͤrde, weggewandt haben. Was die Folgen ch) betrifft, ſo lagen ſie zwar nicht als Gegengewicht mit auf der Wagſchale, aber eben dieß, daß ſie nicht darauf lagen, war ſeine Schuld.
Daß die genannten Folgen des Böſen a. b. c. die Größe des Böſen beſtimmen, erhellt ſchon daraus, daß das Böſe von den Folgen eigene Namen erhält, die ſeine Größe bezeichnen. So z. B. wenn ſchauerverbreitende Verwüſtungen als Folgen aus
der Sünde Wann heißt ſte ſelber eine Gräuelthat; 12. *
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wenn die Zerrͤttungen, die die Sünde anrichtet, auf Leichtſinn, n Muthwillen, Borſatz und Abſicht, zu beleidigen, zurückwei⸗ ſen, fo heißt fie eine Frevelthat; wenn die Sünde den Thäter
As öffentlich entehrt, ſo heißt ſie eine Schandthat. Schon dieſe Bene nnungen beweiſen, daß die vorherſehbaren, vorhergeſehenen „ und bezweckten Folgen die Größe der Sünde beſtimmen, indem Jia ein größeres Maß von Selbſtſüchtigkeit dazu gehöret, unter 8 Vorausſehung ſo ſchauerlicher Folgen eine böſe That zu beſchlie⸗ ßen, als dazu gehört haben würde, wenn die That im Blicke des
f Thaters keine fo ſchauerlichen Folgen gehabt hätte. Und ſo kom⸗ men wir auch hier wieder auf den einzig richtigen Maßſtab des Boöſen zurück, nämlich: das Maß der Selbſtſüchtigkeit, die ſich in einer einzelnen Handlung offenbaret, iſt das Maß der Sünde.
98. | .. Größe. des Laſters. aa e | Die Fertigkeit, irgend eine Suͤnde zu begehen, oder die zur Maxime gewordene Sünde, ein Laſter, z. B. die Spielſucht, Trunkenheit, Unzucht ꝛc. iſt deſto groͤßer, je groͤßer 1) die einzelne Suͤnde iſt, die ein Laſter als Laſter nur wiederholt, und je groͤßer zugleich die angraͤn⸗ zenden Sünden ſind, wozu es anreizt; je größer 2) übers haupt der ganze Umfang der Pflichten iſt, deren Verletzung es mit verurſachet, oder vorausſetzt; je groͤßer 3) die Fertigkeit der ſi innlichen Neigung iſt, ſich auch bei geringen Veranlaſſungen zu boͤſen Thaten beſtimmen zu laſſen, dabei die ſtaͤrkſten Einreden des Gewiſſens zu⸗ ruͤckzuweiſen, und ihre Herrſchaft in Hinſicht auf Starke, Dauer und Ausbreitung zu behaupten. So iſt die ‚ambeherrfchte Neigung zur Unzucht ein größeres Laſter, als die unbeherrſchte Neigung zum Spiel, die mancherlei Luͤge und Betruͤge herbeifuͤhrt; ſo wie denn auch das Spiel ſchuldlos ſeyn kann, aber nie die Unzucht. So iſt die Unzucht im Menſchen, die zugleich die Pflichten des Ehemanns, des Vaters, des Freun des ꝛc. aufs geopfert, ein noch größeres Laſter, als bei einem Andern, bei dem ſie keine dieſer Pflichten verletzt. So wird end⸗ lich die Unzucht in demſelben Menſchen nach der Stufe, die ſie auf der Leiter des Boͤſen jedesmal erſteigt, jedes⸗ mal größe. Das Maß der Selbſtſuͤchtigkeit, die fl 1
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in irgend einer boͤſen Fertigkeit een iſt af das Wen, 19 Laſters. EN au Ä Ä Größe der Laſterhaftigkeit. N . 1) Die Laſterhaftigkeit (der überwiegende Hang zum Boͤſen aller Art) iſt deſto größer, je mehrere einzelne ſuͤnd⸗ liche Neigungen im Menſchen gebieten, und je ſtaͤrker im Ganzen das Uebergewicht der niedern uͤber die hoͤhere Na⸗ tur iſt; je mehr ein Menſch zu dieſem Uebergewichte ſelbſt beigetragen hat, je mehr Beweggruͤnde zum Guten er nicht achten, je ſtaͤrkere Hinderniſſe des Boͤſen er uͤber⸗ winden mußte, um zu dieſer Stufe des Boͤſen zu gelangen.
2) Die Laſterhaftigkeit ſteigt in dem Maße, in welchem alle Achtung fuͤr das heilige Geſetz ſinkt, und ſinkend die Herrſchaft der Luft an dem Boͤſen immer weniger ſtoͤret; in welchem insbeſondere das Gefuͤhl von der Nothwendig⸗ keit der Sinnesaͤnderung (das von derſelben Gottesſtimme, die das Geſetz ausſpricht, angeregt wird), ohnmaͤchtig ges worden iſt. Denn jene Achtung fuͤr das heilige Geſetz, und dieſes Gefuͤhl von der Nothwendigkeit der Beſ⸗ ſerung ſind der einzige Damm wider den immer hoͤher anſchwellenden Strom des ſittlichen Verderbens — der einzige im Innern des Menſchen. Je mehr alfo dieſer Damm von ſeiner Wehrkraft verliert, deſto mehr Ueber⸗ macht gewinnt das ſittliche Verderben.
5) Den hoͤchſten Grad hätte die Laſterhaftigkeit als⸗ dann erreicht, wenn nicht nur die Achtung fuͤr das heilige Geſetz vollig erloſchen wäre, ſondern auch das Gewiſſen alle Kraft, zu gebieten und verbieten, zu warnen und zu ermuntern, und beſonders die Nothwendigkeit der Beſſe⸗ rung dem Boͤſen anzudringen, verloren haͤtte.
*) Cicero hat den Unterſchied zwiſchen Laſter und Laſterhaftigkeit genau bezeichnet: Virtutis contraria est vitiositas; sie enim malo N malitiam appellare eam, quam graeci xaquπjùꝭ,ů appellant. Nam malitia certi cujusdam vitii nomen est, vitiositas omnium, ex qua concitantur perturbationes, quae sunt turbidi animo- rum concitatique motus, aversi a ratione, et inimicissimi men- tis vitaeque tranquillae. Quaest. Tus. I. IV. e. 18. |
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4) Die fteigende Laſterhaftigkeit ſchaffet in mancherlei Menſchen mancherlei Zuſtaͤnde der Unſittlichkeit, je nach⸗ dem das Gefühl von der Nothwendigkeit der Beſſerung auf mancherlei Weiſe mancherlei Stufen der Abnahme er⸗ reicht hat.
* Reinhard nahm daher Anlaß zu einer ſcharftnnigen Theilung der Zuſtände des Böſen in mehreren Menſchen, die durchaus praktiſch if, und die Selbſterkenntniß ungemein er leich
tert. Hier der Grund der Eintheilung und ſie ſelber. Ent⸗
weder hat der Laſterhafte dieſes Gefühl von der Nothwendig⸗
keit der Beſſerung noch, oder er hat es nicht mehr. Wenn er
es noch hat, ſo fühlt er ſich entweder undermögend, demſelben 8
zu gehorchen, oder er iſt eigenliebig genug, es durch einen Aue
ßern Schein des Gutſeyns und insbeſondere des Frommſeyns, je länger, je mehr zu betäuben. Im erſten Falle iſt es der Zuſtand der Geiſtesknechtſchaft, die als ſolche gefühlt wird; im zweiten der Zuſtand der Heuchelei, in dem ſich der Böſe befindet. Hat der Laſterhafte das Gefühl von der Noth⸗
wendigkeit der Beſſerung nicht mehr, ſo wird er entweder die
Verſuche, welche die Vorſehung bei mehreren Anläſſen auf ſein Herz macht, das Gefühl von der Nothwendigeit der Beſſerung in ihm wieder zu erwecken, künſtlich zu vereiteln, und das Erwas
chen deſſelben Gefühls zu hindern wiſſen, oder er iſt ſo tief
geſunken, daß ihn kein gewöhnliches Erweckungsmittel mehr
rühren, zum genannten Gefühle mehr zurückbringen kann. Im
erſten Falle iſt es der Zuſtand der falſchen Sicherheit, im zweiten der Zuſtand der eigentlichen Verhärtung, in dem ſich der Böſe befindet.
K Geiſtes⸗Knechtſchaft, moraliſche Sklaverel.
5) Da jede herrſchende Suͤnde zuerſt den Geiſt des
Menſchen, und durch dieſen den Leib zum Sklaven des Boͤſen macht, alſo eine Knechtſchaft des Geiſtes iſt: ſo
kann hier nur jene Knechtſchaft des Geiſtes gemeint ſeyn,
die als ſolche gefühlt wird. Die meiſten fittlichen Skla⸗ ven tragen ihre Bande gern, weil ſie weder die Schmach ihrer Sklaverei, noch die Schwere ihrer Feſſeln empfin⸗
den. Aber es giebt unter den Sklaven des Boͤſen auch
einige, die ich die Auserwaͤhlten nennen moͤchte, die ſo 1 ſind, wenigſtens in den beſſern Augenblicken ihres
—
— 263 — si die Scnach und die Wie res Standes
fühlen.
Da dieſes Gefühl, — 2 den Ausdrucke Lines Stele das Hahnengeſchrei zur nahen Befreiung ſeyn ſoll: ſo mag es nicht unwichtig ſeyn, die Kennzeichen dieſes Zuſtandes genau anzugeben, deſſen Grände auf⸗ zufinden, und beides mit der „ eines Kenners zu bejtätigen. a . Kennzeichen dieſer Geiſtes⸗ Sklaverei.
00 Die Kennzeichen dieſes Zuſtandes ſind a) Ge⸗ wiffensunruhen, die aber keinen Vorſatz einer Um ‘änderung bewirken; b) Beſſerungsvorſ atze, die aber nicht That werden; 0) Beſſerungsverſuche, die ſich aber immer mit dem Siege der ſuͤndlichen Neigung endi⸗ gen; d) Ausbrüche des herrſchenden Boͤſen, die aber nicht ſelten mit einer großen Strenge im Mitmachen aͤußerlicher Religionsuͤbungen verbunden ſind, die dem ſchreienden Gewiſſen den Mund verſtopfen, und das Fie⸗ ber der innern Unkuhe ſtillen ſollten. Ein Knecht dieſer Gattung fuͤhlt als Knecht die Schmach ſeines Standes, findet aber im Blicke auf die ſchwer⸗ und feſtanliegenden Feſſeln nicht Muth genug, aus denſelben heraus zu treten. Indeſſen erzeuget das Gefuͤhl der Schmach doch das Wol⸗
len, derſelben wirklich los zu werden. Und, weil er der⸗
ſelben ohne Beſſerung nicht los werden kann, ſo gewinnt
das Gefuͤhl von der Nothwendigkeit der Beſſerung einiges
Leben, und erzeugt auch ein Wollen der Beſſerung. Aber
dieſes Wollen iſt nicht vollkraͤftig genug, wird nicht That.
Der Sklave bleibt alſo, was er war, Sklave. | Gründe dieſer gefühlten Geiſtes⸗ Sklaverei.
7) Dieſer Zuſtand gruͤndet ſich a) auf das zweifache Geſetz im Menſchen, das Geſetz der Sinnlichkeit und des Geiſtes, und auf die Energie des ſittlichen Gefuͤhles, das durch die Suͤnde noch nicht ganz unterdruͤckt werden konnte; b) auf die Reſte einer guten Erziehung, die das ſittliche Gefühl verſtaͤrkt haben mag; c) auf einige Ueberbleibſel des vergangenen ſittlich beſſern Zuſtandes; c) auf die Schickſale eines Menſchen, die ſein Gewiſſen nie ganz
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in Schlaf kommen laſſen; 4 auf einige beſondere Fuͤh⸗ rungen Gottes, die dem Gefuͤhle von der Nothwendig⸗ keit der Beſſerung einen beſondern Schwung gegeben m ben werden.
Zeugniß eines Kenners.
9) Paulus ſchildert den Zuſtand, als Aa ohne feines Gleichen. (Roͤm. VII. 14— 25.) „Wir wiſſen, daß das Geſetz geiſtig iſt, aber ich bin ein Fleiſch⸗Menſch, verkauft unter die Gewalt der Suͤnde, denn was ich thue, weiß ich nicht. Ich thue nicht das, was ich will, ſon⸗ dern ich thue das, was ich haſſe. Wenn ich aber thue, was ich nicht will, ſo gebe ich (durch mein Nichtwollen des Boͤſen) ein Zeugniß dem Geſetze, daß es gut ſey. Aber dann thue eigentlich nicht ich das Boͤſe, ſondern, die in mir wohnende Sünde (oikodoa Ev enoi c uapriq), d. i. der alte uͤberwiegende Hang zum Boͤſen, der mich ſtets zum neuen Boͤſen reizt, und der ſeine feſte Herberge in mir aufgeſchlagen hat; denn ich weiß es, daß in mir, d. i. in meinem Fleiſche das Gute nicht zu Hauſe it (oda Oln Das Wollen liegt mir nahe (iſt bei mir ſchon da), aber das Vollbringen des Guten, das finde ich nicht in mir; denn ich thue nicht, was ich will — das Gute, ſondern, was ich nicht will, das Boͤſe. Wenn ich aber thue, was ich nicht will — ſo thue ich es nicht, ſondern die in mir wohnende Suͤnde thut es. Ich finde es alſo wahr, daß mir, wenn ich Gutes thue, das Boͤſe anhaͤngt, (wie eine Klette, die, wenn ich fie vou einem Stuͤcke des Kleides wegſchaffen will, ſich an einem an⸗ dern anhaͤngt). Mein innerer Menſch hat Freude an dem Geſetze Gottes, aber ich, finde in meinen Gliedern ein anderes Geſetz, das dem Geſetze meines Geiſtes entgegen kaͤmpft (AVTISTPATEVONEVONV), und mich zum Krieges gefangenen CaixuaAwrıZorra) macht, gefangen nimmt unter das Geſetz der Sünde, das in meinen Gliedern wohnt. Mich elenden Menſchen! wer wird mich von die⸗ ſem Todesleibe (von dieſem Gliedergeſetze, das alles Leben des Geistes zu toͤdten ſtrebt), erloͤſen?“
In dieſer Schilderung ſind nach dem Leben e a) die zwei Geſetze, das Geiſtes⸗ und das Gliedergeſetz,
| — 268 — das Geſetz des Gewiſſens und das Geſetz des uͤberwiegen⸗ den Hanges zum Boͤſen; b) der Widerſtreit dieſer zwei Geſetze; o) die Uebermacht des Einen Geſetzes uͤber das andere in jedem ungebeſſerten Menſchen, und zwar die Uebermacht des n uͤber das Geiſtes⸗ geſetz.
* Da das Gefühl der Geiſtes⸗ Sklaverei der Zertrümmerung der Sklavenfeſſeln nothwendig vorangeht, ſo iſt es der höchſte Dienſt, den die Philoſophie als ſolche dem Nachbar thun kann, daß ſie ihm die Schmach und Läſtigkeit ſeines Sklavenſtandes fühlbar zu machen ſtrebt; denn die eigentliche Zertrümmerung der ef: ſel liegt in einer Hand, die die Philoſophie wohl ahnen, aber die ſie nicht ſelber ſeyn, auch nicht mit Erfolge nachmachen kann; den der Sohn frei macht, der iſt frei. (Joh. VIII. 36.)
B. Heuchelei.
9) Ein Heuchler (man mag mit Friſ ch das Wort ableiten von Hauch, einem einen Biſamhauch zuwehen, oder mit Adelung und Andern von Aeugeln, ein Aeug⸗ ler, wovon das Liebaͤugeln noch uͤblich iſt), ein Heuchler im Allgemeinen heißt ein Menſch, der durch Verſtellung An⸗ dern eine Geſinnung oder eine Ueberzeugung, die er nicht hat, vorſpiegelt (voraͤugelt), und ihnen die Meinung, als haͤtte er jene Geſinnung oder Ueberzeugung, beibringen moͤchte. Ein Heuchler in ſittlicher Bedeutung heißt ein Menſch, welcher den Schein des Guten annimmt, und zur Schau traͤgt, ohne gut zu ſeyn.
Dieſe Heuchelei iſt alſo die Fertigkeit, den Schein des Guten zur Schau zu tragen, ohne gut zu ſeyn, iſt Vor⸗ liebe zum Gutſcheinen, ohne gleichkommendes Intereſſe am Gutſeyn. Weil nun die Menſchen, kraft ihrer fittlichen Natur, gedrungen ſind, das Gutſeyn da vorauszuſetzen, wo ſie herrſchende Gottesverehrung wahrnehmen: ſo haͤn⸗ gen die moraliſchen Heuchler gern den Schein der Gottes ver⸗ ehrung aus, und tragen ihn zur Schau umher, ohne Gottes⸗ verehrer zu ſeyn. Der moraliſche Heuchler iſt alſo der, wel⸗ cher den Schein des Gutſeyns und der Gottes verehrung zur Schau traͤgt, ohne gut und Gottesverehrer zu ſeyn. Der
Heuchler iſt ein Gleiß ner, in ſofern er nicht nur durch Heuchelei Achtung, ſondern auch durch glänzende Handlan⸗ gen Bewunderung erregen will.
Die Heuchelei ſetzt alſo eine Falſchheit leine Tücke ) des menſchlichen Gemuͤthes voraus, unterhaͤlt und ver⸗ mehrt ſie.
10) Nun kann aber dem Menſchen dieſe Falſchheit ſelbſt mehr oder weniger verborgen ſeyn; denn es iſt der Falſchheit weſentlich, ſich im Bewußtſeyn des Menſchen zu verbergen, unſichtbar zu machen, und dieß Mehr oder Weniger in dem Geheimſeyn der Falſchheit ſcheidet die Heuchler in zweierlei Gattungen. Bei wem das Bewußt⸗ ſeyn dieſer Falſchheit des Gemuͤthes noch ſo dunkel iſt, daß er ſich ſelbſt (ohne ſich in der Rolle des Dichters, des Luͤgners ertappen zu muͤſſen) einbilden kann, gut und fromm zu ſeyn: bei dem iſt die Heuchelei eine betro⸗ gene und der Heuchler der erſte Getaͤuſchte. Bei wem aber jenes Bewußtſeyn ſchon mehr aus dem Schat⸗ ten in das Licht hervorgetreten iſt, der alſo mehr Wider⸗ ſtand gegen das Licht noͤthig hat, um das Boͤſeſeyn unter dem Gutſcheinen nicht helle ſehen zu muͤſſen: bei dem iſt Heuchelei eine betruͤgende. In ſofern die Heuchler ih⸗ res Boͤſeſeyns ſich helle genug bewußt ſind, und den Schein des Gutſeyns in der Abſicht aushaͤngen, um das er⸗ kannte Boͤſeſeyn zu decken, und Andern eine gute Mei⸗ nung von ſich beizubringen, iſt die Heuchelei eine vor⸗ fätzliche; außer dieſer Abſicht und jenem heben N yet ſeyn iſt fie eine un vorfaͤtzliche.
V Betrügende, vorſaͤtzliche Heuchelei.
11) Den Heuchler dieſer Art malet Chriſtus mit den lebhafteſten Farben in dem ſchlimmſten der Phariſaͤer: a) Sein Inneres iſt Wolfsgier, fein Aeußeres Lamms⸗ wolle. (Matth. VII. 15.) Das Boſe, deſſen er ſich be- wußt iſt, deckt er mit dem Scheine des Guten, um An⸗ dere zu täuſchen, u und feine Raubplaue ungehindert durch⸗ ſetzen zu konnen (Volker, wir bringen euch Freiheit, ſchrien,
J) Tüde iſt Falſchheit auf einer ge Er, der TION und 9
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juͤngſt ganze Heere, und brachten neue Sklaverei). b) Für die Hauptſache, d. i. fuͤr Gerechtigkeit und Menſchlichkeit, Treue und Glauben hat er keine Achtung; aber fuͤr das Unweſentliche (fuͤr die Verzehndung des Kuͤmmels, der Münze und des Anis) ſorgt er mit ernſtem Fleiße (Matth. XXIII. 239), weil ihm dieſe Genauigkeit in Beobachtung gewiſſer Gebräuche den Schein des Religioͤſen und des Guten giebt. c) Die Kamele großer Suͤnden verſchlingt er mit einer fuͤrchterlichen Leichtigkeit; Muͤcken kleiner Ob⸗ ſervanzen aber ſeiget er mit ängſtlicher Puͤnktlichkeit durch (Matth. XXIII. 24.0; denn mit dieſem Genauigkeits⸗ geiſte, der kein Muͤckchen durchlaͤßt, lenkt er das Auge des Volkes ſeitwaͤrts, daß es dem Verſchlingen der Kamele nicht ſo leicht auf die Spur kommt. d) Schuͤſſel und Becher, das, was in die Augen faͤllt, haͤlt er rein; aber das Herz und Gewiſſen, das nur Gott ſieht, beſleckt er mit Raub und Unrecht. (25— 26.) e) Eine Gruft, voll Tod und Verweſung, iſt ſein Geiſt und Herz, aber die Gruft iſt ſchoͤn uͤbertuͤncht von dem Scheine der Heiligkeit. (22.) ) Schwere Laſten legt er als Geſetzlehrer dem Nachbar auf, aber als Menſch, als Unterthan des Ge⸗ ſetzes kommt er nie dazu, ſie auch nur mit einem Finger zu berühren. (A.)
Ihr t Grund. ee
12) Der Grund dieſer Heuchelei, wie alles Böſen, iſt die Selbſtſuͤchtigkeit, die ihre Abſichten und Plane un⸗ ter der Decke des Guten verſteckt, und unter dieſer Decke am ſicherſten durchzuſetzen hofft. Dieſe Abſichten und Plane gehen zunaͤchſt auf Ehre, die ſie durch Tugendſchein am ſicherſten und auf die Dauer zu finden glaubt; oft iſt die Ehre auch das letzte und einzige Ziel der Heuchelei; oft ſind es noch andere Vortheile der Zeit, die mit der Ehre, oft auch durch die Ehre bezweckt werden. Dieſer geheime Grund der Heuchelei bleibt aber nicht immer ſo geheim, daß er ſich nicht verraͤth. Er offenbart ſich dem Kenner⸗ blicke durch gute Handlungen, die ſich mit Gepraͤnge an⸗ kundigen, um deſto gewiſſer geſehen, und mit mehr Haͤnde⸗ klatſchen bewundert zu werden, und durch ſtrenge Beob⸗
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achtung der geringſten Religionsgebraͤuche (Matth. XXIII. 20—28.); durch Reden, die erlaubte Handlungen ver dammen, Andere ſcharf richten, Ungluͤcksfaͤlle fuͤr Straf⸗ gerichte in Beziehung auf Andere angeben, und die ſie ſelbſt beſtrafende Wahrheit laͤſtern, um den Schein der Tugend fuͤr ſich und ihre Gleichgeſinnten ausſchließlich zu behaupten (Matth. VII. 3. 4. XXIII. 2 — 4. 29. 30. Luk. XVIII. 11—12.); durch Geberden der Froͤm⸗ migkeit, denen zwar die Seele der Froͤmmigkeit fehlet, die aber doch geſchickt ſind, uͤber die Bloͤßen eine Art Huͤlle zu werfen; durch boͤſe Thaten, die ſie im Geheim ver⸗ richten, aber nicht genug verbergen koͤnnen, weil das in⸗ nere e Feuer am r ohne Rauch ſeyn kann.
Ihre Mannigfaltigfeit
| 130 Die Heuchelei unterſcheidet ſich durch das Boͤſe, und durch die Weiſe, es zu decken. In Hinſicht auf das Boͤſe ſelbſt iſt die Heuchelei grob oder fein; jene begeht im Geheim allerlei Laſter, die ihre haͤßliche Geſtalt nicht wohl verbergen koͤnnen, ungeſcheut; dieſe ergiebt ſich etwa nur einer ſolchen Leidenſchaft, die ihr Luͤgenantlitz verſteckt: z. B. dem Ehrgeize, der als Ehrgefühl erſcheint, oder der unreinen Liebe, die ſich als Freundſchaft ankuͤndet. In Hinſicht auf die Weiſe, das Boͤſe zu decken, iſt die Heu⸗ chelei eine plumpe oder eine geſchliffene; jene hat es nicht gelernt, das Schild des Guten kuͤnſtlich auszuhaͤngen; dieſe hat es gelernt, die Himmelsgeſtalt der Tugend uͤber den Hoͤllengrund des Laſters aufzutragen.
Ihre Strafbarkeit.
5 140 Die Heuchelei iſt hoͤchſt ſtrafbar, in ſofern ſie mit Bewußtſeyn und Entſchloſſenheit Boͤſes thut unter dem Scheine des Guten, Andere in Sachen der Gottesvereh⸗ rung und Tugend um des eigenen Vortheils wegen betruͤgt, ſich zum Zwecke, alles Andere zum Mittel macht; das Heiligſte zum Feigenblatte des Unheiligen herabwürdiget, und Andere zu gleicher Heuchelei verfuͤhrt, indem ſie ſie zu Proſelyten ihrer Suͤnden macht. (Matth. XXIII. 15.)
Ihre Schwerbekehrlichkeiit. 15) Der vorſaͤtzliche Heuchler iſt Außerft ſchwer be kehrſam; denn der Kranz der Scheinheiligkeit iſt der Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit ſo theuer, wie die Selbſtſuͤchtigkeit der Seele, und dieſer Kranz müßte zerftört werden, wenn der Menſch ſich in ſeiner ganzen Bloͤße ſchauen, als ein Luͤgner in ſei⸗ nem Auge erſcheinen ſollte. Darum werden, wie Chriſtus
ſagt, Hurer und Ehebrecher eher in das Himmelreich ein, gehen, als die Heuchler. (Matth. XXI. 51.295
Betrogene und unvorſaͤtzliche dae
16) Auch den Heuchler dieſer Art malet Chriſtus mit lebhaften Farben. (Luk. XVIII. 9— 14.) Er ſtuͤtzt ſich feſt auf die Meinung, gerecht zu ſeyn, und erſcheint in dieſer Ueberzeugung kuͤhn vor Gott; er haͤlt ſich genau an die hergebrachten Andachtsuͤbungen, und befeſtigt ſich dadurch mehr im Wahne, gerecht zu ſeyn: „ich faſte zweimal in der Woche;“ er enthaͤlt ſich grober Laſter, und dieß erhebt ihn noch uͤber Andere in ſeinem Wahne; eben daher entſteht die Selbſtzufriedenheit und der geiſtliche Stolz, der Andere ſtreng richtet: „ich danke dir An daß ich nicht bin, wie andere Leute.“
* Das Meiſterſtück der Selbſtſüchtigkeit, das fie in dieſem Kunſt⸗ gebiete liefern kann, beſteht darin, daß ſie das Auge des Heuch⸗ lers blendet, und geſchickt macht, die Heuchelei in Andern, wo fie nicht iſt, zu ſehen, und in ihm ſelber, wo ſie iſt, nicht zu ſe⸗ hen, und dieſe Geſchicklichkeit macht den Böſen immer böfer, das Laſter immer unheilbarer, die Lüge ſtets ſi egender.
** Ein Mißbrauch, deſſen ſich mancher Böſe mit dem Worte: Heu⸗ chelei, ſchuldig macht, darf hier nicht ungerügt bleiben. Um ſich vor dem Vorwurfe, er ſey laſterhaft, gottlos, zu ſi ſichern, bringt
er wider die beſten und gottſeligſten Menſchen ſeines Kreiſes, deren ſtummes Beiſpiel ihn ſtraft, das gehaſſigſte Brandmal: das ſind Heuchler, in das öffentliche Gerücht. Dadurch werden nicht nur jene Edlen, ſondern mit ihnen ſelbſt Tugend und Gottſeligkeit verſchwärzt und verſchrieen. Dieß iſt eine der höchſten Fineſſen des Böſen; beſonders die Jugend wird leicht an der lauterſten Tugend und Gottſeligkeit irre, wenn jene Füh⸗ rer, die ihrem Leichtſinne am beſten ſchmeicheln, auch noch die
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Kriegsliſt anwenden, daß fie die entgegenſtehenden Beiſpiele der Guten als Geberden der Heuchelei verdächtig machen.
C Falſche, fleiſchliche, erküͤnſtelte Sicherheit.
170 Dieſe Sicherheit iſt ſo ſchauerlich in ihrem We⸗ ſen, als in ihren Folgen. Wer ſich in dieſem Zuſtande befindet, fuͤhlt weder Reue uͤber ſeine Vergehungen, noch Furcht vor Strafen, noch Trieb zur Beſſerung, weil er bei allen Verſuchen, die die Providenz macht, jenes Gefuͤhl zu wecken, das Erwachen deſſelben kuͤnſtlich zu hindern weiß.
Er kann zwar nicht hindern, daß ſein Gemuͤth manch⸗ mal erſchuͤttert werde, aber er thut ſein Aeußerſtes, daß das zartſchlummernde Gefuͤhl von, der Nothwendigkeit der Beſſerung nicht ganz erwache; er weiß es durch maͤchtige Gruͤnde wieder einzuwiegen, verſchanzt ſich z. B. hinter die hochgethuͤrmten Bollwerke ſeiner Ehrlichkeit, Biederkeit, daß in ihm keine Reue aufkommen kann, weil er ſeine Vergehen fuͤr keine oder geringe, keiner ſonderlichen Reue werth haͤlt; daß in ihm keine Straffurcht aufkommen kann, weil, wo kein Laſter iſt, keine Strafe Statt finden kann; daß in ihm kein Trieb zur Beſſerung ſich regen kann, weil er in ſeinen Augen entweder keiner be⸗ darf, oder ſie ſich in ſeiner Gemuͤthsverfaſſung von ſelbſt macht. Dieſer Zuſtand heißt: falſche Sicherheit. Er heißt Sich erheit, weil der Suͤnder uͤber verdeckte Ab⸗ gruͤnde wandelnd, die Brechlichkeit des feſtſcheinenden Bo⸗ dens nicht ahnet, oder nicht daran glauben mag. Dieſe Sicherheit iſt eine falſche, weil ſie auf unſicherem Grunde beruht; der Boͤſe iſt ſich gut genug, fo lange er das Böfe nicht, in feiner mahren Geſtalt erblickt. Da nun der Irr⸗ thum nicht ewig ſeyn kann, ſo hat auch dieſe Sicherheit keine Dauer, iſt alſo, da ſie als Sicherheit erſcheint und Unſicherheit iſt, falſch. Dieſe Sicherheit heißt eine fleiſch⸗ liche, weil ſie von dem Uebergewichte des Fleiſches, der Materie uͤber den Geiſt kommt, und nur in verſunkenen Gemuͤthern, die fait nichts als Materie find — wenigſtens ſo handeln, als wenn ſie lauter Materie waͤren, ſich einige Weile halten kann. Dieſe Sicherheit heißt endlich eine bloß erkuͤnſtelte, weil ſie wider die Verſuche der Wahr:
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heit, das Gemuͤth zum Gefuͤhle von der Nothwendigkeit der Beſſerung zu bringen, in einer ſtaͤten Gegenwehr ſeyn muß, ſich alſo in der größten Unſicherheit für ſicher Hält. Wenn nun die Unſicherheit eine bloß erkünſtelte iſt, ſo muß
ſie einmal ein Ende nehmen; dann aber kann auch die |
Gemüͤthsverfaſſung, die in ihrem Weſen ſo ſchauerlich iſt, in dem Augenblicke des hellen Erwachens, keine andere, als die ſchauerlichſten Folgen haben. Aber eben um dieſen Augenblick zu entfernen, laͤßt der Unſichere nichts unverſucht; er ſieht immer auf Menſchen, die nach ſeiner Rechnung noch boͤſer ſind, als er, oder die er leicht zu boͤſeren machen kann; er vergroͤßert das Gute, das er, ohne feinen Neigungen Abbruch thun zu muͤſſen, in feinem Kreiſe immer noch verrichtet, und verſaͤumt nichts, was den eiſernen Maulkorb, den er dem Gewiſſen angelegt hat, theils befeſtigen, theils vor ihm verbergen kann. Zerſtreu⸗ ung in vielaͤſtige Geſchaͤfte, die ihn ohne Unterlaß außer ihn hinauswerfen; Vertiefung in Ausfuͤhrung unendlicher Entwuͤrfe, ſie betreffen das Gebiet des Staats — oder gar der Weltreformation, ein Taumel unaufhoͤrlicher Luſt⸗ barkeiten, die kein Beduͤrfniß nach Selbſterkenntniß und Beſſerung wach werden laſſen, helfen mit bei, die falſche Ruhe des Boͤſen zu unterhalten. Endlich, wenn dieſe Mittel nicht mehr ausreichen wollen, entſteht aus der boͤ⸗ ſen Praxis eine falſche Theorie uͤber Gott, Pflicht, Ge⸗ wiſſen, Freiheit, Unſterblichkeit, wodurch die Pfeile der Wahrheit, denen er außer dem Syſteme dieſer erkuͤnſtelten und zerruͤtteten Denkart nicht ſo leicht ausweichen koͤnnte, abgeſtumpft und abgelenkt werden. Und ſo wird das Boͤſe ein Lehrmeiſter des Falſchen, das als Betäubungsmittel des Gewiſſens geglaubt, geprediget und mit aller Schaͤrfe des egoiſtiſchen Verſtandes unterſtuͤtzt wird. So wird die falſche Sicherheit, die Anfangs aus dem Fleiſche kam, eine Angelegenheit des Verſtandes, und, wenn anders das 3 diefer ſchlimmen Bedeutung faͤhig iſt, ſyſtematiſch.
And darin liegt das Boͤſe der falſchen Sicherheit, daß der Sichere jede Wahrheit, die ihm das Auge uͤber die Unſicherheit ſeines Zuſtandes oͤffnen will, gefangen nimmt, und lieber das Grundfalſche erfindet, und da er es nicht
D Ze erfinden kann, ſich vorluͤget: Es ſey kein Gott, keine Ewig⸗ keit, kein Gewiſſen, als daß er das an ſichklare, das Un⸗ ſichere ſeiner Sicherheit enthuͤllende Grundwahre: Gott iſt und iſt die Ewigkeit ſelber, und dein Gewiſſen iſt die Stimme, in der ſich Gott, die Ewigkeit aus⸗ Aprächtz Eingang in ſein Gemuͤth finden ließe.
Wie der boͤſe Diener des ſchwachen Fuͤrſten alle Wahr⸗ her, die zum Fuͤrſten will, gefangen nimmt, daß ſie nicht zum Fuͤrſten vorwaͤrts dringen kann, um ihm das Boͤſe zu verrathen, und nicht zum Volke ruͤckwaͤrts, um es wi⸗ der die Umgebung des Fuͤrſten aufzuregen: ſo ſperrt der Gernſichere alle Wahrheit, die ihm feine Unſicherheit ver⸗ rathen möchte, in das fernſte Gefaͤngniß, damit ihr Laut ihn nicht mehr ſchrecken kann. Uebrigens in dieſe Ge⸗ fangennehmung der Wahrheit theilen ſich mit der falſchen Sicherheit die Geiſtesſklaverei, die Heuchelei, und, Mien * ſogleich erhellen wird, auch die Verhaͤrtung.
D. Die Verhaͤrtung.
| 160 Die Verhärtung heißt in ihrem höchſten Grade Verſtockung, d. i. was der ausgedorrte Stock (der Reſt eines laͤngſt abgehauenen Baumes) gegen die zartempfind⸗ liche Pflanze, das iſt das verhaͤrtete Gemuͤth des Gott⸗ loſen im Vergleiche mit dem Zartgefuͤhle des Gottſeligen. Verſtockung iſt alfo- der Zuſtand des Menſchen, der das Gefuͤhl der Nothwendigkeit, ſich zu beſſern, durch fortge⸗ ſetztes, entſchloſſenes Suͤndigen ganz verloren hat, und durch kein gewöhnliches Ruͤhrungsmittel zu dieſem Gefuͤhle mehr zuruͤckgebracht werden kann: „Der heilige Geiſt hat ſich ſchon durch den Propheten Iſaias treffend gegen eure Vaͤter ‚erklärt, indem er ſprach: Geh zu dieſem Volke, und ſprich: Euer Ohr wird hoͤren, aber euer Verſtand wird es nicht vernehmen; 3 euer Auge wird ſehen, aber der Verſtand wird es nicht einſehen, denn dickhaͤutig iſt der Sinn dieſes Volkes, ſchwerhoͤrig ſind ſie geworden, und haben ihre Sinne feſt zugedruͤckt, damit ſie ja nicht mit ihren Augen ſehen, u und mit ihren Ohren hoͤren, und mit ihrem Verſtande wemnahwen, und ſich etwa bekehren und
von
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un mir geheilt werden moͤchten.“ GApoſtelg. XXVII. 26— 22.)
Dieſe Stelle ſagt ung mehr, als nicht leicht eine Schulbeſtimmung ſagen kann, was Verſtockung ſey. Sie iſt ſoviel, als eine vollſtaͤndige Gefuͤhlloſi igkeit fuͤr das Gute, und die daraus entſtandene vollſtaͤndige Unfaͤhigkeit zum Uebergange aus dem Boͤſen zum Guten, eine Erſtorben⸗ heit des heiligen Gefuͤhles. Der verſtockte Menſch iſt in
inſi icht auf Gott und Unsterblichkeit, auf Freiheit und flicht beinahe todt, ein quasi cadaver.
Ich ſagte, ſo viel als Erſtorbenheit, denn ob ſich gleich der Keim des hoͤhern Lebens im Verſtockten nicht mehr reget, ſo iſt er doch noch in ihm, kann auch wie⸗ der regſam werden.
19) Die Sünde der Verſtockung hieß Sünde in den heiligen Geiſt — bei jenen Sfraeliten, die bei hellleuchten⸗ der Beweiskraft: „dieſe Thaten hat der Geiſt Gottes durch Chriſtus gewirkt,“ ſich gegen alle dieſe, in dem Leben Jeſu ſtets wiedertoͤnenden Stimmen des heil. Geiſtes vorſaͤtzlich verhaͤrteten, und die Thaten Gottes dem Teufel I zus ſchrieben, um ihren lichtſcheuen Neigungen des Haſſes, des Neides, der Ehrſucht ungeſtoͤrt nachhängen zu koͤnnen. (Matth. XII. 24— 30.)
Die Phariſaͤer konnten der Goͤttlichkeit der Thaten Jeſu im Gerichtshofe ihres Gewiſſens nicht wohl wider⸗ ſprechen; aber weder Jeſus, noch ſeine Lehre, noch ſein Wandel, noch ſein Einfluß auf das Volk konnte ihrem ſtolzen Selbſte zuſagen. Da ſie ſelbſt Alles ſeyn woll⸗ ten: ſo machten ſie es ſich zur Maxime, gegen ihre beſ⸗ ſere Erkenntniß, fuͤr jeden Fall Jeſu, ſeinen Thaten und ſeinem Anſehen feindſelig entgegen zu arbeiten, und ihn fuͤr einen Mitgehuͤlfen der Hoͤlle auszugeben. Dieß heißt den heiligen Geiſt laͤſtern, nämlich das, was nach ihrer innerſten Ueberzeugung (die wie ein Blitz ihre Seele durch⸗ leuchtete, aber ſich ſelber nicht feſthalten und keine blei⸗ bende Helle verbreiten konnte) der Geiſt Gottes wirkte,
) Videns in virtutibus Deum, Beelzebub calumniatur i in factis. i ene. 1 J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. xn Bd. gte Aufl. 18
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als eine Wirkung der Holle brandmarken. Und eben dieſe Verderbtheit ihres Charakters machte ſie der le empfaͤnglich, ihre Suͤnde aͤußerſt ſchwer vergeblich.
20) Die Suͤnde der Iſraeliten in den heiligen Geiſt war alſo: a) Verhärtung des innerſten Sinnes; b) Verhärtung gegen alle Eindrücke der Wahrheit, gegen alle Erweiſe höherer Geiſteskraft; c Ver⸗ haͤrtung aus herrſchender Selb füchtig keit; d) Ver⸗ härtung, bis an's Ende des Lebens Ae verbunden mit Unbußfertigkeit.
* Dieß letztere Merkmal hatte Augustinus nach feinem. Saar.
ſinne nicht unbemerkt gelaſſen: PERF
Non utique omne, quod in spiritum sanctum Peckafur: ar
eto. sive dicto, sed. aliquod certum et proprium intelligi vo- luit. Haec est autem duritia cordis usque ad NN an vitae. (Epist. 185. edit. eongregz S. Mauri.)
21) Wenn man den Begriff von der Sünde ih den heiligen Geiſt erweitert, wie ihn viele Lehrer mit Bon ventura erweitert haben: ſo wird man die Aufz Ale lung der ſechs Suͤnden in den heiligen Geiſt, die in unſern Katechismen vorkommt, grund lich, voll⸗ ſtaͤn dig und tuͤchtig finden, uns den Blick in das ſitt⸗ liche Verderben des Menſchen zu ſchaͤrfen. * In einigen Sünden, bemerkt derſelbe Kirchenlebrer, iſt es meht Ohnmacht, Schwachheit, in andern mehr Un vernunft und Unwiſſenheit, in andern mehr böſer Wille, was herpor⸗ tritt In dem Sinne kann man ſagen, daß es Sünden. gebe wider den Vater, andere wider den Sohn, und andere wi⸗ der den heiligen Geiſt, in ſofern wir die Macht dem Bas mi ter, die Weisheit dem Sohne, die Heiligkeit des Willens dem Geiſte zuſchreiben, und in einigen Sünden mehr Ohnmacht, in ‚andern. mehr Un» ernunft, und in den letztern, mehr 858, je „art tigkeit fih offenbart. Was die Sünden in den heiligen Geiſt betrifft, fo heißen ſt fe 4 unverzeihlich, nicht als könnten ſi ſie auf keine Weiſe nachzelaſſen er werden, fondern weil fie geradezu wider das Arzneimittel, durch das wir Verzeihung erhalten, angehen. Nachlaß der Sün⸗ den kommt von Gott, wird durch die Gnade der Buße gege⸗
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ben, und in der Kirche Voten empfangen. Daraus gehen h
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nun die mancherlel Sünden in den heiligen Geiſt hervor. Denn entweder widerſtreben ſie der Gnade der Buße, an und für ſich betrachtet, oder in Beziehung auf Gott, oder in Beziehung auf die Einheit der Kirche. Die Einheit der Kirche if die Einheit des Glaubens und der Liebe, die Einheit der Gnade und der Wahrheit. In dieſer Betrachtung giebt es zweier⸗ lei Sünden wider den heiligen Geiſt: der e rkannten Bahr beit widerftreiten, und: dem Bruder wegen der Gnade Gottes miß günſtig, neidiſch ſeyn. Sieht man auf Gott, der Nachlaſſung der Sünden ertheilt, und in Gott auf die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die ſich in Nachlaſſung der Sünden offenbaren: ſo giebt es in dieſer Hin⸗ ſicht wieder zweierlei Sünden in den heiligen Geiſt, eine wi⸗ der die Barmherzigkeit, die Verzweiflung, die andere wider die Gerechtigkeit, das vermeſſene Hoffen auf Gottes Barmherzigkeit. Streitet die Sünde geradezu wider die Gnade der Buße, an und für ſich betrachtet: fo iſt es eben dieſe Gnade, die uns von dem Böſen, das wir ſchon begangen haben, zurückruft, und wider das, was wir in Zu⸗ kunft begehen könnten, bew affnet. In dieſer Betrachtung giebt es wieder zweierlei Sünden in den heiligen Geiſt, die Verhärtung des Gemüthes und die Unbußfertigkeit, deren die erſtere keine Reue über das begangene Böſe, die letztere keine Bewahrung vor dem zukünftigen aufkommen läßt. (Breviloquii part. III. c. 11.)
22) Pharao iſt durch die Geſchichte ſeiner Verhär⸗ tung gegen die Eindruͤcke der höhern Wirkungen Gottes, die ſich durch Moſes darſtellten, ein Symbol der Be ſtockung für alle Jahrhunderte geworden.
25) Die Vollendung des Boͤſen, welche die Her chelei, die falſche Sicherheit und die Verhärtung gemein haben koͤnnen, heißt ‚finalis impoenitentia, die Behar⸗ rung im Boͤſen ohne Beſſerung bis zum Tode.
Et sie omne peccatum initium sumit a su- Para et ſinem a finali impoenitentia. (Bonav. de puritate conscientiae. cap. XVII.) | N
Und fo nimmt alle Suͤnde ihren un in der Hoffart, und endet mit der Unbußfertigkeit.
24) Der letzte und graͤßlichſte Akt, womit Heu⸗ chelei, falſche Sicherheit, cen hienieden ihre Lauf⸗
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bahn enden können, iſt die Verzweiflung, bie ſchauer⸗
lichſte Form der Unbußfertigkeit; der hoͤchſte
Grad und die ſchauerlichſte Form der Verzweiflung aber iſt der Selbſtmord, ſchauerlich als vollendete Verirrung an ſich, an Gott und Gottes Schoͤpfung; und ſchauerlich als bewaffneter Selbſthaß, der, das Tageslicht und das Leben zu ertragen unfaͤhig, ſich ſelber morden kann, und wirklich mordet. Unter allen den gräßlichen Arten der ernwei, iſt die des Judas die allergräßlichſte. „Er (ſiehe Daub's Judas Is⸗ kariot. S. 471.) entſagt aller Liebe zum Guten: fie geht in ein ewiges Verkennen und Haſſen des Gu⸗ ten; hiermit zugleich geht ſeine Liebe zum Böſen in den Haß des Böſen über, und erreicht feine Vers zweiflung den höchſten Grad; das Tageslicht, die „Schöpfung und ihren Urheber haſſend, und das Böſe, deſſen Grund und ſich ſelber verabſcheuend, bringt er ſich um, ſo, daß in dieſem Selbſtmorde der durch Gottes Haß bedingte Selbſthaß des Sa⸗ tans, welchem dieſer Selbſtmörder gleich gewor⸗ den, geſchichtlich vor Augen liegt.“
285) Wenn die Heuchelei, falſche Sicherheit, Verhaͤr⸗ tung nicht mit Verzweiflung enden, ſo fuͤhren ſie nicht ſelten den vollſtaͤndigen Unglauben an das Göttliche her⸗ bei, der nicht noͤthig hat, zu verzweifeln, weil er nach dieſem Leben nichts hofft, und dem Leben keinen andern Werth zugeſteht, als der in der Verlaͤngerung des ariſtippiſchen Genuſſes beſteht, und keine Tugend anerkennt, als die Kälte und Klugheit, die den Genuß maͤßiget, um ihn zu verlängern, und die Neigungen be⸗ ſchraͤnkt, um ihre Herrſchaft zu ſichern.
26) Der Fuͤhrer zu den vornehmſten Zuſtaͤnden des ſittlichen Verderbens, zur Heuchelei, falſchen Sicherheit, Verhaͤrtung, und deßwegen zur endlichen Unbußfertigkeit, zur Verzweiflung oder zum vollſtaͤndigen Unglauben iſt der Leicht⸗ und Stumpfſinn; der Leichtſinn, der alles ernſte Denken an das Ewige verſchmaͤht; der Stumpf⸗ ſinn, der alle Reizbarkeit fuͤr das Licht der Ewigkeit ver⸗
loren hat; der Leicht- und Stumpfſinn, den Jeſus
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in ſelner fuͤrchterllichen Größe und in gleichem Gefolge ſchildert. (Luk. XVII. 26. XVIII. 8.)
27) Die Zuftände des Boͤſen find alſo die Zuftände der Selbſtſuͤchtigkeit, und die Vollendung des Boͤſen iſt nichts als die Vollendung der Selbſtſuͤchtigkeit.
23) Jene Aeußerungen der Selbſtſuͤchtigkeit, die wis
der die Menſchheit ſchauerlich angehen, hat die heilige Schrift und nach ihr der Katechismus nicht ohne Grund die himmelſchreienden genannt. Sie find vier: vorſaͤtz⸗ licher Todtſchlag, ſtumme oder ſodomitiſche Suͤnde, Unter⸗ druͤckung der Armen, der Wittwen, der Waiſen, Vorent⸗ haltung des verdienten Tag⸗ und Arbeitslohnes. — Wohl ſchreien alle Suͤnden gen Himmel: aber die, welche die heiligen Rechte der Menſchheit zertreten, die rufen mit e Stimme zur Be ee empor. 2090 Wenn wir die hoͤchſte Stufe des Boͤſen ausdrü⸗ cken wollen, ſo ſagen wir: So etwas kann nur ein eingefleiſchter Teufel thun. Dieſe Sprache iſt ver⸗ nuͤnftiger, als Viele, die ſie hoͤren und nicht verſtehen. Denn, wer ſo ſpricht, unterſcheidet, bewußt oder unbewußt, zwiſchen dem Boͤſen des Menſchen und zwiſchen dem Dir. fen des Teufels. Das Boͤſe des Menfchen iſt immer noch mit etwas Gutem verſetzt; im Teufel aber iſt ab les Gute durch das Boͤſe vernichiſtz
$. IV. ro Böſe in feiner vollſtändigen Wirk⸗ ſamkeit. 100.
Die Wirkſamkeit des Boͤſen iſt zweifach: Boͤſes er
zeuget nur Boͤſes, Boͤſes ſchaffet nur Uebles. Das Boͤſe zeugt Boͤſes: dieß iſt ſeine unmittelbare; das Boͤſe ſchaffet nur Uebles: das iſt ſeine mittelbare Wirk⸗ ſamkeit. ö 101.
Die unmittelbare Wirkſamkeit des Boͤſen.
Wer das Boͤſe in ſeiner Weſenheit erblickt hat, der wird eben darum das einzelne Boͤſe in dem Einen Boͤſen,
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und das Eine Böfe in dem Einzelnen ohne Mühe erſehen. Er mag ſtromaufwaͤrts bis zur Quelle zuruͤck, oder von der Quelle ſtromabwaͤrts gehen: auf jedem „Wege erkennt er die Quelle im Strome, und den Strom in der Quelle. Wir begnuͤgen uns mit dem Letztern, mit der Reduktion des Boͤſen auf das Eine Boͤſe, denn mit ihr iſt auch die Deduktion des Boͤſen gegeben. 19) Johannes, der erleuchtete Kenner des Boͤſen im Menſchen, reducirt ausdruͤcklich alles Boͤſe auf Lebenshoffart, Augenluſt und Fleiſchesluſt: Alles, was in der Welt iſt, Fleiſchesluſt, Augenluſt und Hoffart des Lebens, iſt nicht von dem Vater, ſondern von der Welt. (1 Joh. II. 16.) 2 Das herrſchende Boͤſe im Menſchen waͤre alſo in die⸗ fer Betrachtung erſtens: ein thoͤrichtes Wohl gefallen an dem Ich, eine Art Verliebtſeyn in fein Selbſt, das von Gott abgewandt und in ſich gekehrt, nur in Selbſterhebung und Selbſtverherrlichung lebt und ſchwebt CH offart, von Hof oder Hoch abgeleitet, Hof⸗ Art, Hoch⸗Fahrt); zweitens: ein unaufhoͤrliches Trei⸗ ben und Jagen nach Sinnenluſt aller Art (Fleiſchesluſt, Wolluſt, ungeordnete Sinnenluſt); drittens: ein zuͤgelloſes Streben, zu haben, zu beſitzen, zu erobern, zu behalten, zu vermehren (Augenluſt, Habſucht). a 22 Wenn die Ausdrucke in dieſer Allgemeinheit und Beſtimmtheit genommen werden, ſo ſind ſie die drei gro⸗ ßen geraͤumigen Gefäße, in die alles einzelne Boͤſe hinein, gelegt werden kann; denn das thörichte Verliebtſeyn in das bezaubernde Selbſt faßt Alles in ſich, was unſere Sprache der Wahrheitsliebe in Beſtimmung um ſeres ſittlichen Werthes und Unwerthes ent gegenſetzt, z B. Hochmuth, Stolz, Aufgeblaſenheit, Herrſch⸗ ſucht, Neidſuͤchtigkeit, Rang⸗ und Titelſucht, Heuchelei, Eitelkeit — lauter Kinder der Selbſterhebung, Selbſtaus⸗ zeichnung, die das Weſen der Hoffart ausmacht. 3) Das Jagen und Treiben nach ſinnlichem Genuſſe
faßt in ſich: alle Suͤnden des regelloſen Genuſſes ſinnlicher, an ſich ſchuldloſer Vergnuͤgungen, Selbſt⸗ betaubung im Volltrinken, Fuͤllerei, Schwelgerei, Leckerhaf⸗ tigkeit; alle Sünden des Genuſſes verbotener Lifte
(der eigentlichen Unzucht), Fornikation, Adulterium, Onante, Paͤderaſtie, Sodomie, Beſtialitaͤt — — daß doch alle dieſe Suͤnden ſo fremde unter uns wären, als die Namen aus⸗ ländiſch find! alle Suͤnden des Hanges nach Bequemlich⸗ keit, des Muͤßiggangs, der Scheu vor regelmäßiger und vor ermuͤdender Anſtrengung.
nd Die Habſucht faßt in ſich: alle Haͤrte gegen 2 n die durch meine Gabe Erleichterung finden koͤnnten; alle Strenge gegen ſich ſelbſt in Verkuͤmmerung des Lebens⸗ bedarfes, und alle Schmutzigkeiten, die mit der Knickerei verbunden ſind; alles Unrecht im Erwerben, Erhalten, Vermehren, Anwenden der Habe. Ä
5) Hoffartsſinn, Habſucht und geſetzloſes Streben
nach Sinnengenuß ſind nicht nur als Begriffe geraͤumige Gefaͤße, in die man das einzelne Boͤſe hineinlegen kann, ſondern als lebendige Prinzipien ſind ſie auch Er⸗ zeuger des Boͤſen. So erzeugt z. B. Hoffart den Lu⸗ xus der Ambition, Wolluſt den Luxus der Ueppigkeit, als Mittel zum Genuſſe, beide Verſchwendung. So erzeugt Hoffartsſinn Haß gegen den, der ihm widerſteht, aber auch die Habſucht, ſo wie das Streben nach Sinnengenuß erzeugen Haß gegen die, welche ihnen in den Weg treten; Haß wird Zorn, Zorn Rache, Rache Menſchenmord. So macht den Einen die Hoffart, den Andern die Habſucht, den Dritten die Wolluſt undankbar gegen den Wohl⸗ thaͤter. So macht Hoffart, Wolluſt, Habſucht ge fuͤhl⸗ los fuͤr Gott, Ewigkeit, erzeugt Wahnſinn, Ver⸗ zweiflung, Selbſtmord. So macht nicht nur der Geiz ungerecht, ſondern auch Hoffart, Wolluſt.
So erzeuget der Hoffartsſinn den Luͤgengeiſt, Tuͤcke, Falſchheit, aber auch die Wolluſt erſinnt Luͤgen, auch die Habſucht erſinnt neue Lügen und Truͤgereien, um durch ſie zu gewinnen; denn gewinnen wollen alle drei, der Hof⸗ fartsſinn neue Anbetungen, die Wolluſt neue Reize und neue Friedigungen derſelben, die Habſucht neue ug und Zinſen.
60 Was Johannes ausdruͤcklich auf Drei reducirt, das wird von ihm ſelbſt, gleichſam un bewußt, in Eines zuſammengefaßt; denn er ſagt: Alles, was in der Welt
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itt, Fleiſchesluſt, Augenluſt, Hoffart des Lebens, ruͤhret nicht von dem Vater her, ſondern von der Welt. Die Welt vergeht mit ihrer Luft. (1 Joh. III. 15— 12.) Hof fart, Augenluſt, Fleiſchesluſt ſind alſo der Eine Welt⸗ geiſt, der nicht von dem Vater iſt, der eben deß⸗ wegen vergaͤnglich iſt; der Eine Geiſt der Welt, der ſich in drei Grundgeſtalten offenbart und in jeder vergaͤnglich iſt, und in keiner aus dem Vater ſtammt, alſo, weil er kein Kind Got⸗ tes iſt (1 Joh. III. 3.), nothwendig ein Kind des Böfen ſeyn muß; der Eine Geiſt der Welt, von dem Chriſtus ſagt, daß ſie den heiligen Geiſt nicht em⸗ pfangen, nicht ſehen kann. (Joh. XIV. 12.)
2) Dieſer Eine Weltgeiſt iſt, wie der heilige Geiſt ſiebenfach in ſeinen Gaben, wohl auch ſieben⸗ fach in der Offenbarung ſeines Weſens. Er iſt I. in Hin⸗ ſicht auf Gott, Abfall von Gott, Irreligion, Gott⸗ loſigkeit; II. in Hinſicht auf das ganze Individuum,
das er beherrſcht, Selbſtſuͤchtigkeit, die ſich in ihm
zum Mittelpunkte macht; III. in Hinſicht auf das denkende Selbſt, Hoffart, Selbſtvergoͤtterungz IV. in Hinſicht auf das leibliche Selbſt, Hang zum körperlichen Genuſſe, zur Sinnes⸗ und Fleiſches⸗ luſt; V. in Hinſicht auf das Gut der Erde, irdiſcher Sinn; VI. in Hinſicht auf die Nachbarn, auf fremde Menſchheit, Liebloſigkeit, Haß, Herabwuͤrdigung derſelben als eines bloßen Mittels zur Stillung der gereizten Triebe, oder zur Ausfuͤhrung ſelbſtſuͤchtiger Ent⸗ wuͤrfe; VII. in Hinſicht auf die vernunftloſe und beſon⸗ ders auf die empfindende, thieriſche Natur, Gefuͤhlloſig⸗ keit, Wildheit in Behandlung der Natur wider 25 Zweckmaͤßigkeit.
8) In ſofern der Eine Weltgeiſt Nr. 6. ) ſich als Lieblofigkeit, als Haß, als Suͤnde an und mit Menſchen offenbaret, zielt es jedesmal auf Verderbung, Zerſtoͤrung, Vernichtung, praktiſche Verlaͤugnung des Mens ſchen. Es iſt in dem ſtrengſten Sinne wahr: wer feinen Bruder haßt, iſt ein Todtſchlaͤger. (1 Joh. III. 15.)
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9) Diefer Eine Geiſt der Welt hat als herrſchende Selbſtſuͤchtigkeit den ſcheußlichen Doppelzug, daß er, indem er den Einen wahren, lebendigen Gott verlaͤugnet, zugleich entweder das Selbſt des Menſchen vergoͤttert, oder den Bauch und das Fleiſch zu ſeinem Gott macht, oder dem Mammon abgöttifch dient. a
10) Das Eine herrſchende Boͤſe iſt alſo wahre Ab⸗ goͤtterei, ein wahrer Goͤtzendienſt, verbunden mit Unglau⸗ ben an den wahren, lebendigen Gott; denn ob der Menſch ſich ſelbſt, oder den Reichthum, oder die Luſt des Leibes, oder zwei oder alle drei zu ſeinem Gotte macht, das iſt im Grunde dieſelbe Abgoͤtterei, derſelbe Goͤtzendienſt. Ue⸗ berall iſt der Menſch von ſeinem Gott ab⸗ und falſchen Goͤttern heimgefallen.
11) So wie dieſe Abgoͤtterei, dieſer Götendienſt den Menſchen recht eigentlich verunreinigt, ſo iſt der Ausdruck Abgoͤtterei, Goͤtzendienſt im Blicke der Philoſophie keine Metapher, keine Allegorie, ſondern in eigentlicher Bedeu⸗ tung zu nehmen; denn, wer immer ſich von dem wahren, lebendigen Gott abwendet, und zu ſich, zum Leibe, zum Gut der Erde, zur Menſchheit — — zur Natur hinwen⸗ det und mit ganzer Seele daran haͤngt: der iſt und thut Alles, was der wahre Anbeter vor ſeinem wahren Gott iſt und thut, vor dem falſchen.
12) Dieſe wahre Idololatrie iſt, als die Selbſtſuͤch⸗ tigkeit, das Eine und All des Boͤſen, iſt der Eine herr⸗ ſchende Trieb nach Ehre, nach Luſt, nach Habe, obgleich nicht nur in mehreren Menſchen, ſondern auch in demſel⸗ ben bald mehr der Trieb nach Ehre, bald mehr der Trieb nach Luſt, bald mehr der Trieb nach Habe hervortritt. 1:3) Wenn dieſe wahre Idololatrie, als die dreieinige Selbſtſuͤchtigkeit, das Ein und All des Boͤſen iſt: ſo kann es nicht fehlen, ſo muß ſie in ihrer Erweiterung nothwen⸗ dig erzeugen jene dreifache Feindſeligkeit, jene weſent⸗ liche Oppoſition gegen die Menſchen, die ihr im Wege ſtehen, gegen jede Wahrheit, die die Thorheit und Laſterhaftigkeit ihres unerſaͤttlichen Strebens aufdeckt, und gegen Gott ſelbſt, deſſen Heiligkeit und Gerechtigkeit jedem ſuͤndlichen Genuſſe widerſteht. So iſt denn mit der
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gebietenden Selbſtſuͤchtigkeit der dreifache Haß, Mens Ache e deten Gotteshaß geboren.
Ä Diefe Spolölattie, die herrſchende Selbſtſüchtigkeit, dieß Eine und All des Boͤſen, iſt wohl auch Selbſtlie be, aber eine ſolche, die von jeder andern Selbſtliebe, die ſie nicht ſelber iſt, unterſchieden werden muß. Es giebt naͤm⸗ lich 1) eine ſogenannte mechaniſche Selbſtliebe, jene, die ohne Einfluß des Denkvermoͤgens wirkt, und deß⸗ halb die natuͤrliche heißen ſollte. So regt ſich, unab⸗ haͤngig von aller Erkenntnißkraft, der Trieb, zu eſſen, zu trinken, zu ſchlafen, und überhaupt der Naturtrieb nach Wohlſeyn in allen ſeinen Zweigen. Die Regungen dieſes Triebes ſind Natur, und liegen in ihrem Anfange, ſo wie außer dem Gebiete des Bewußtſeyns, alſo auch außer je⸗ nem der Sittlichkeit. Es giebt 2) eine kaufmaͤnni⸗ ſche, ſpekulirende Selbſtliebe, die den Verſtand des Menſchen zur Befriedigung ihres Strebens gebraucht, die gut oder boͤſe ſeyn kann, je nachdem ſie im Eintrei⸗ ben ihrer Vortheile das heilige Geſetz achtet, oder nicht, an ſich betrachtet aber weder nothwendig gut, noch noth⸗ wendig boͤſe iſt. Es giebt 3) eine ſittliche Selbſtliebe, die ſich kein Streben nach Genuß, nach Ehre, nach Habe erlaubt, als in ſofern es mit der Achtung fuͤr das heilige Geſetz beſtehen kann. Nun die ſogenannte mechaniſche Selbſtliebe iſt offenbar weder gut noch boͤſe; die morali⸗ ſche kann nicht boͤſe ſeyn, weil ſie als ſolche unter dem Geſetze des Guten ſteht; die kaufmaͤnniſch⸗ſpekuli⸗
rende Selbſtliebe iſt nicht nothwendig boͤſe, denn ich darf ja, und ſoll ſogar meinen Verſtand gebrauchen, um z. B. mein Leben zu erhalten. Aber es giebt neben dieſen drei Arten der Selbſtliebe 4) noch eine andere, die ihrem We⸗ fen nach zwar kauf maͤnniſch⸗ſpekulirend iſt, und dem Triebe nach Wohlſeyn dient, aber ſo dient, daß da⸗ bei die Achtung fuͤr das heilige Geſetz ausgeſchloſſen bleibt, indem vielmehr Nichtachtung und Verachtung deſſelben ih⸗ ren Charakter ausmacht. Und dieſe Selbſtliebe, die ſich von der natuͤrlichen, von der kaufmaͤnniſch⸗ſpekulirenden und von der moraliſchen Selbſtliebe unterſcheidet, iſt eben
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jene Selbſtſuͤchtigkett, die ſich als das Eine und An des Boͤſen erweiſet.
Unter allen lebenden und ſchreibenden Philosophen hat Reinhold das Boͤſe am richtigſten dargeſtellt (in ſeinen Bei⸗ traͤgen zur leichtern Ueberſicht des Zuſtandes der Philo⸗ ſophie II. Heft S. 13. Hamb.) „Unſere hauptſaͤchlich⸗ ſten Seelenkrankheiten, ſagt Pascal, ſind Stolz, der uns von Gott losreißt, und die Luͤſternheit, die uns an der Erde feſthaͤlt. — Die Philoſophen haben dabei nichts an⸗ ders geleiſtet, als daß ſie immer wenigſtens Eine dieſer Krankheiten unterhalten haben. Sie ſahen naͤmlich bald die eine, bald die andere fuͤr den natuͤrlichen Zuſtand des Menſchen an, und ſuchten bald den Stolz durch Luͤſtern⸗ heit, bald dieſe durch jenen zu verdraͤngen. Jene beiden Hauptuͤbel ſind indeſſen doch nur verſchiedene Symptome von Einem und ebendemſelben Grunduͤbel, welches die Willkuͤhrlichkeit, die Selbſtſucht, die Gottesvergeſſenheit im Menſchen iſt.
„Die bisherige Philoſophie hat wenigſtens groͤßtentheils in dem Verſuche beſtanden, jenes Grunduͤbel dem Verſtande unſichtbar, und in ſofern im Willen unheilbar zu machen.
„So wurde der Menſch auch ſogar bei dem, was er das Ergruͤnden der Wahrheit nannte, und wobei er von der Selbſterkenntniß ausgehen zu muͤſſen, und auszugehen glaubte, durch ſeine Selbſtliebe hintergangen. Dieſe, im⸗ mer mehr und mehr in Selbſtſucht uͤbertretende, Selbſt⸗ liebe zog ihn allmaͤlig, und auch dort, wo er es am aller⸗ wenigſten vermuthete, in der Theorie, immer tiefer und tiefer in den Abgrund alles Irrthums, der im Menſchen iſt, aber von ihr bald in dieſer, bald in jener Vorſpiege⸗ lung fuͤr den Urgrund der Wahrheit gehalten, und als ſolcher behandelt wurde.
„Da das ſich lediglich auf ſich ſelber verlaſſende Ich dieſer Grund ſelber iſt, ſo kann auch ſein Ich ſich ſelbſt nicht uͤber dieſen Abgrund erheben — uͤber jenen Abgrund kann der Menſch, theils nur durch das im eigentlichen Ver⸗ ſtande religioͤſe Handeln, das wahre Selbſtverlaͤugnung iſt, und wobei er nur Gott und die Natur unter Gott vor Augen hat; theils nur durch dasjenige Denken hinaus⸗
gehoben werden, welches im menſchlichen Bewußtſeyn vom wahren Abſoluten ausgeht, nur auf daſſelbe zuruͤckgehet und alſo ebenfalls und unverruͤckt Gott vor Augen hat, und in ſofern wahres Denken im Menſchen, Offenbarung des Urwahren am Wahren, und des Wahren durch's Urwahre iſt. Nur dieſes Denken kann und ſoll das philoſophiſche, und nur jenes Handeln das moraliſche heißen.“
Das Boͤſe in feiner. mittelbaren Wirkſamkeit. 102. Klaſſifikation der Folgen. Die Folgen des Boͤſen ſind entweder
1) im Gemüthe ) des Menſchen, als a) Verfinſterung des Erkennens; b) Degradirung der Freiheit; e) Unfriede des Gewiſſens; d) Unruhe des Herzens, d. i. Seelenleiden, die von der Pein des ſtrafenden Gewiſſens verſchieden find; oder ſie gehen
2) aus dem Geiſte in den Leib uͤber, und ſind a) Zer⸗ ruͤttung des Innern, der Kraͤfte; b) Verhaͤßlichung des Aeu⸗ ßern, der Geſtalt; e) früher Tod; oder fie verbreiten ſich
3) zwar außer unſerm Geiſte und Leibe, aber doch noch auf unſere Guͤter, als a) Entehrung unſers Namens in den Augen des ſittlich urtheilenden Publikums; b) Ver⸗ engerung unſers Wirkungskreiſes; 0) Zerſtoͤrung des zeit⸗ lichen Vermoͤgens, das dem guten Willen zur Ausführung ſeiner Beſchluͤſſe als Werkzeug haͤtte dienen ſollen; oder ſie verbreiten ſich
4) auf fremdes Gut und Wohlſeyn; oder |
5) fie erſtrecken ſich über Hees Leben bene und heißen: Vergeltung. | |
A. Verfinſterung und Zerrüttung des Erkennens.
103. 10 Die urſpuͤngliche Verfinſterung der Vernunft liegt im Weſen der Suͤnde, wird alſo mit der Suͤnde geboren;
) Die Folgen des Böſen, die im Menſchen ihre Strafgewalt ausüben, ſollen hier eine ausführliche Darſtellung erhalten, die übrigen werden dem 3 an dem Nachdenken des über laſſen.
denn wo die Selbſtſuͤchtigkeit (die eigentliche Suͤnde in der Suͤnde) herrſchet, da iſt der ganze innere Menſch von Gott geſchieden (alſo auch das Vernunftauge geſchieden von Gott, der das Licht, die Sonne fuͤr alle Geiſtesaugen iſt), und ſomit heruntergeworfen in die Nacht der Zeitlichkeit. Abgeſchnitten von Gott, iſt er alſo gedrungen, ſein Licht ſich von außen, aus der Sinnenwelt, und aus ſich zu holen. In ſich findet er nur mehr einen ſchwachen Licht⸗ funken, der von den heftigen Gemuͤthsbewegungen, dieſen Toͤchtern und Dienerinnen der Selbſtſuͤchtigkeit, je laͤnger, je mehr gedraͤngt, verfinſtert, oft wie begraben wird. Wenn nun auch der Schimmer, welchen der uns noch ge⸗ laſſene Lichtfunke dem ſtillen Gemuͤthe gewährt, ‘in dem unruhigen Gemuͤthe (und die Selbſtſuͤchtigkeit laͤßt es nicht ruhig werden), verfinſtert wird: wie groß, koͤnnen wir mit Chriſtus fragen, muß die Finſterniß im Menſchen ſeyn? Solche Menſchen nennt Paulus nicht etwa bloß ver⸗ finſterte, er nennt ſie Finſterniß. Ihr waret ehedem Fin⸗ ſterniß; jetzt ſeyd ihr Licht geworden. (Epheſ. V. 8.) Als Finſterniß entweiheten ſie a) die Majeſtaͤt Gottes durch das Bildniß von Menſchen, Voͤgeln, Wuͤrmern, die ſie ab⸗ göttifch verehrten; als Finſterniß fchändeten fie b) ihre eigenen Leiber, den Luͤſten ihres Herzen hingegeben; als Finſterniß wurden fie, ) gegen Andere voll Neid, Tuͤcke, Treuloſigkeit, Ungerechtigkeit (Roͤm. I. 21—52.); als Fin⸗ ſterniß ſahen ſie d) die Wahrheit Gottes fuͤr Thorheit an (1 Kor. I. 23. II. 14.); als Finſterniß hören fie e) von Chriſtus leſen, fingen, predigen, aber koͤnnen die Klarheit im Angeſichte Chriſti nicht ſchauen, weil die Decke der Blindheit Über dem ihrigen hängt. (2 Kor. III. 13— 18.) 2) So wie mit der urſpruͤnglichen Suͤnde die Ver⸗ finſterung in die Welt kam, ſo faͤhrt die in den Nachkom⸗ men des erſten Menſchen wirkende Suͤnde fort, den ihnen gelaſſenen Lichtfunken zu verdunkeln. Daher kommt es, daß ſich der Verſtand, den ſie den geſunden nennen, in den Erſcheinungen des täglichen Lebens fo krankhaft be weiſet. Der Blick des Verſtandes kann naͤmlich an ſeinem Gegenſtande a) nur die Seite ſehen, die ihm vorliegt, und kann ſie b) nur dann ſehen, wenn er den Blick wirklich
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auf ſie hinrichtet und darauf haͤlt; und kann fie 00 ſo ſehen, wie ſie ihm vorliegt, ſieht ſie d) wirklich ſo, wenn nicht ein geheimes Intereſſe, das wir haben koͤnnen, die Dinge anders zu ſehen, als ſie ſind, eine andere Seite hervorſucht, und ſuchend auch vorfindet, und die gefundene dem Verſtand vorhaͤlt. Nun aber die Selbſtſuͤchtigkeit kann nicht nur ein ſiegendes Intereſſe erzeugen, die Dinge anders zu ſehen, als ſie ſind, und dem Verſtande einen andern Gegenſtand unterſchieben, oder an dem gegebenen Gegenſtand eine andere Seite hervorſuchen; fie kann auch den Blick des Verſtandes vor dem Gegenſtande ſchließen and auf einen andern hinheften. 152 % In allen dieſen Faͤllen fieht der Verſtand das, was die Selbſtſuͤchtigkeit will, und ſo, wie ſie will. Der Ver⸗ ſtand wird alſo in ſeinen Operationen von der Selbſtſuͤch⸗ tigkeit, die mit ihm ſpielt, gemeiſtert, und dieſe ihre Meiſter⸗ ſchaft kann nichts anders als Finſterniſſe erzeugen. 5) Das Böfe verfinftert alſo den Verſtand, indem es ihm erſtens: den Geſichtspunkt verruͤckt, aus dem allein die Wahrheit geſehen werden kann, und den Blick des Verſtan⸗ des auf das unterſchobene Objekt hinhaͤlt. So richtet die Selbſtſuͤchtigkeit, in die ſchmeichelnde Denkart der Zeit ver⸗ liebt, den Tubus auf das traveſtirte Evangelium der Zeit, und was der Verſtand, durch den ſo geſtellten Tubus ſieht, iſt nur das Evangelium der Zeit, aber nicht das Evan⸗ gelium Chriſti. Nun aber dieſe herbeigefuͤhrte Angewoͤh⸗ nung des Verſtandes, die Gegenſtaͤnde aus verruͤcktem Ge⸗ ſichtspunkte anzuſehen, iſt nothwendig verknuͤpft mit Ver⸗ engung und Verfinſterung des eigentlichen Sehkreiſes, in⸗ ſofern der zuſehende Gegenſtand gar nicht mehr in den Aug epunkt des Verſtandes kommt. 0 Das Boe verfinſtert den Verſtand, indem es zwei- tens: das Auge vollends zuſchließt vor der Wahrheit, die außerdem leicht geſehen werden koͤnnte, und den Blick auf den Lieblingsgegenſtand richtet und heftet. Aus Verliebt heit in unſere Trefflichkeit wollen wir z. B. unſere Thor⸗ beit nicht ſehen, bis wir nach und nach den freien Ge brauch der Aufmerkſamkeit in Bemerkung derſelben vollends aufgehen, und alſo fie nimmer ſehen koͤnnen, weil uns *
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ward), den Blick des Geiſtes von der Geiſterſonne hin⸗ weg, ſondern ſie verſchließt auch dieß innerſte Auge des Geiſtes gegen alle goͤttliche Irradiationen mit einer ſolchen Uebermacht, die die Blindheit des Geiſtes un⸗ heilbar macht. Und dieſe Verfinſterung iſt es vor⸗ zuͤglich, die Paulus, Johannes und ſelbſt Chriſtus als den Charakter des Boͤſen (Epheſ. IV. 17—19. 1 Joh. II. g. Joh. III. 19— 21.) angegeben haben. Und dieſe Verfin⸗ ſterung iſt deßhalb die bedeutendſte, weil der Boͤſe, von dem Lichte des heiligen Geiſtes abgeſchnitten, weder ſeine Geiſteskrankheit, noch ſeinen Arzt, noch den Pro⸗ zeß der Heilung kennen lernen kann — ſo en er in A dee umherwallet. i
1195 * Degradirung der Freiheit.
9) Der r Menſch, den die Bildung aus der Unmün⸗ digkeit emporgehoben, hat nicht nur Freiheit, Gutes oder Boͤſes zu thun, er hat uͤberdem ein freies Vermoͤgen über feine Freiheit, dehn er vermag nicht nur, Gu⸗ tes oder Boͤſes zu waͤhlen, zu thun, er vermag auch die⸗ ſes ſein Vermoͤgen zu ſtaͤrken oder zu ſchwaͤchen, zu er⸗ hoͤhen oder zu degradiren; denn der Gute ſtaͤrket und er⸗ hoͤhet ſein freies Vermoͤgen wirklich dadurch, daß er gut iſt und Gutes thut; der Boͤſe ſchwaͤcht und degradirt ſein freies Vermoͤgen wirklich dadurch, daß er boͤſe iſt und Boͤſes thut.
10) Der Menſch ſtaͤrket und erhoͤhet feine: Freiheit, indem er a) mit ernſtem Entſchluſſe an dem Geſetze ſei⸗ nes Weſens: ſey Gottes Bild auf Erden, ſich feſt anhaͤlt, und um ſich feſt daran zu halten, allen Reizen, es zu uͤbertreten, Widerſtand thut; indem er b) um ſtets Wi⸗ derſtand gegen alle Reize des Boͤſen thun zu koͤnnen, ſich ſtets in Ruͤſtung zum Kampfe, in Beſonnenheit und Wach⸗ ſamkeit des Geiſtes erhaͤlt; indem er, o) um ſich ſtets in Beſonnenheit und Wachſamkeit des Geiſtes zu halten, den Gedanken an die Allgegenwart Gottes in ſich feſthaͤlt. Dadurch wird offenbar die Herrſchaft des Menſchen uͤber ſeine Neigungen und die Dinge außer ihm, wie das Ge⸗ biet feiner Freiheit, ſtets erweitert: alſo hat der Menſch
in
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in dieſem ſo beſtimmten Sinne — eine freie Gewalt, ſein freies Vermögen zu ſtaͤrken und zu erhöhen.
11) Der Menſch ſchwaͤcht und degradirt ſeine Frei⸗ heit, indem er a) Gutes unterlaͤßt, Boͤſes vollbringt; b) die Unterlaſſung des Guten, die Vollbringung des Boͤſen wie⸗ derholt, und die Wiederholung allmaͤlig zur Gewohnheit macht; c) hiebei und hiedurch den Entſchluß zum Wider⸗ ſtande gegen das Boͤſe, und den Gedanken an Gott je laͤn⸗ ger, je ohnmaͤchtiger werden laͤßt, und d) von dem ohn⸗ mächtigen Glauben zum Unglauben an Gott, oder wenige ſtens zur Gottesvergeſſenheit uͤbergeht, und ſich je laͤnger, je mehr von Gott und aller Gemuͤthsrichtung zu ihm los⸗ macht: der Menſch hat alſo in dem ſo beſtimmten Sinne — eine freie Gewalt, ſein freies Vermoͤgen zu ſchwaͤchen und zu degradiren.
12) Der Menſch iſt alſo nicht nur ſeiner Potenz nach frei, ſondern er kann ſogar jeden Augenblick ſeine wirkliche Freiheit herabwuͤrdigen, indem er durch die geringſte Nach⸗ laͤſſigkeit, die er ſich im Kampfe wider das Boͤſe erlaubt, ſich den Kampf ſelbſt erſchwert, und in dem Maße, in welchem er ſich den Reizen des Boͤſen hingiebt, das Uebergewicht des Boͤ⸗ ſen vermehrt und ſeine Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt vermindert.
13) Das herrſchende Boͤſe degradirt alſo den freien Willen des Menſchen, und vermindert den Umfang ſeiner ſittlichen Freiheit immer mehr, bis ſie ſich verwandelt in eine naturaͤhnliche Gewohnheit (oonsuetudo altera na- tura), in eine von den Schulen richtig ſogenannte ne- cessitas consequens, in eine Art von ſelbſtzu⸗ gezogenem Fatalismus ), und dieſer ſelbſtzugezogene Fatalismus ſetzt den Zuſchauer in den Stand, daß er in beſtimmten Faͤllen die ſittlichen Handlungen ſei⸗ nes Nachbars, wie die Wirkungen der Natur weiſſagen kann. Er weiß z. B., Dr der Dieb A. da, wo ihn keine
) Den Stufengang zu dieſem ſelbſtgemachten Fatalismus hat Au⸗ guſtinus ſchön beſchrieben: Ex voluntate perversa facta est libido, et dum servitur libidini, facta est consuetudo, et dum consuetudini non resistitur, facta est necessitas (lib. 8. Conf. c. 5.) . a
J. M. v. Sailer's ſammtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 19
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a Gefahr ſchreckt, und keine Gewiſſensrüͤge anders ſtimmt, in dem offenen Zimmer die koſtbarſten Sachen, die er mit⸗ nehmen kann, mitnehmen wird; ſo gewiß er weiß, daß die Flamme a. brennen wird. Dieß Vorwiſſen menſch⸗ licher Handlungen verleitete den kritiſchen Hume, die Freiheit zu laͤugnen, da es, recht verſtanden, den ſtaͤrkſten Beweis ) fir die Freiheit geliefert hätte. 15
14) Alſo: der Boͤſe iſt uͤberall im Knechtsſtande der menſchlichen Natur, der Gute im Beſitze wahrer Koͤnigs⸗ wuͤrde. Ueber jenen haben die aͤußern Dinge und die Nei⸗ gungen die Herrſchaft gewonnen; dieſer hat ſie uͤber die Neigungen, die in ihm, und Ae die Dinge, die wg ihm find, erſtritten. | ?
C. Unruhe des Gewiſſens. (Gewiſſensrügen, Gewiffensbiffe.)
15) Es iſt in dem Menſchen ein doppeltes Uneins⸗ ſeyn wohl zu unterſcheiden. Ehe er, von dem Reize des Boͤſen angelockt, in das geſetzwidrige Begehren einwil⸗ liget, iſt bloß das Aesehnen in . uneins mit dem
0 Dieſer fefbfigemasite Fatalismus iſt es, der die dae am Fräftigſten beweiſet; denn wie die Feſſel am Beine des Miſſethä⸗ ters nichts wider die bürgerliche Freiheit der übrigen Bürger beweiſet, ſondern vielmehr für die bürgerliche Freiheit ſpricht, indem der, welcher die bürgerliche Freiheit ſeiner Miſſethat we⸗ gen verloren hat, vorher ein freier Bürger geweſen ſeyn müſſe: ſeo beweiſet die Feſſel an dem Geiſte des Menſchen, daß er ne geweſen, und durch Mißbrauch feiner Freiheit ſich jene konſequente Nothwendigkeit ſelbſt zugezogen habe. And, wie die Sterblichkeit, der wir Alle unterworfen fi ſt nd, eein Beweis iſt, daß der urſprüngliche Menſch feine urſprüngliche a paradieſiſche Freiheit verloren: ſo beweiſet der ſelbſtzugezogene 42 Jatalismus, dieſe über die alte Feſſel neuhingeſchmiedete Feſſel, daß der jetzige Menſch auch feine ihm noch gelaſſene reibeit ER durch Mißbrauch derſelben, dahingegeben habe.
QAuis nostrum dicat, quod primi hominis peceato perierit liberum arbitrium de humano genere? libertas quidem periit per peccatum, sed illa, quae in paradiso fuit, habendi ple- . nam cum immortalitate justitiam, propter quod natura huma- na divina indiget gratia. Aug. lib. 2 ad Bonifacium. 2
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heiligen Geſetze, und uneins mit dem freien Willen, der dem Reize widerſteht; ſobald aber der Menſch dem Reize zum Böfen nachgegeben hat, dann iſt das Gewiſſen uneins mit dem Willen. Dieſe neue Discordia zwiſchen der Machtſtimme, die nur Heiliges gebie⸗ ten und nur Unheiliges verdammen kann, und zwiſchen dem unheiligen Willen iſt Strafe und gerechte Strafe des Boͤſen; iſt Strafe, weil fie Folge des Boͤ⸗ ſen und peinliche Folge des Boͤſen iſt; iſt gerechte Strafe, weil in dieſer neuen Discordia die Stimme des hoͤchſten Richters wiederhalle: du haft geſuͤn⸗ diget! — Dieſe Discordia iſt aber nicht bloß an ſich ſchon Strafe des Boͤſen, ſondern ſie iſt noch uͤber⸗ dem verknuͤpft mit Furcht einer kommenden Stra⸗ fe; denn das Wort des hoͤchſten Richters: du haſt ge⸗ f ündiget, ſpricht durch die ebengenannte Discordia auch das noch aus: weil du geſuͤndiget haſt, ſo biſt du aller Freude unfähig und unwerth; du biſt der ewigen Gerechtigkeit heimgefallen, die das Boͤſe ſieht, richtet, verdammt, vergilt. Und, weil die ewige Gerechtigkeit auch ſchon hienie⸗ den vergelten kann und vergilt: ſo fuͤhrt jene Discordia, die ſchon ſelbſt Strafe und mit Furcht vor wei terer Strafe verknuͤpft iſt, zugleich eine Furcht vor Menſchen als Werkzeugen der Gerechtigkeit, und ſelbſt vor der Natur als einer Dienerin der Ge⸗ rechtigkeit mit ſich.
16) Dieſer Discordia, die ſchon ſelbſt Sirgft und Furcht vor weiterer Strafe, und Furcht vor Menſchen, vor der Natur als Werkzeugen der Gerechtigkeit iſt, kann der Menſch auf zweierlei Wegen los werden; entweder, wenn er die Anklage des Gewiſſens als Ruͤckweiſung zu dem verlaſſenen Pfade des Guten anſieht und, der Ruͤck⸗ weiſung folgend, ſich wieder mit Gott ausſoͤhnt, und ſo⸗ mit der Entzweiung ein Ende macht — durch die Wiedervereinigung mit Gott, oder, wenn er in den Ab⸗ grund des Boͤſen verſunken, das Gewiſſen, wenigſtens auf eine unbeſtimmte Zeit ſtumm, oder ſich gegen die Stimme des — taub gemacht hat, welches aber, ſo wie
19 *
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die hoͤchſte Sünde, auch die hoͤchſte Strafe am
gleich iſt.
17) Diefe Discordia, die ſich in dem boͤſen Menfcher reget, iſt ein Beweis, daß zwar der Menſch von Gott, aber Gott nicht von dem Menſchen abgefallen iſt, inden Gott nicht aufhoͤren kann, ſelbſt durch die Unruhe des Gewiſſens den Abgefallenen zu ſich zuruͤckzurufen, fe wie durch jeden Ausſpruch des Gewiſſens das hei: lige Geſetz auch in der gefallenen Menſchennatur a | offenbaren,
18) Die Stimme des 3 Bewitiene, als Wiederhall des ewigen Wortes, das nicht nur das heilige Geſetz aus— ſpricht, ſondern auch die Suͤnde im Menſchen richtet, ſtrafet, verdammet, zuͤchtiget, iſt alſo das göttliche Prinzipium, das den Menſchen jetzt noch in feinem weſentlichen Vorzuge uͤber die ganze Natur und uͤber die l Thierwelt insbeſondere darſtellt. Ich ſage, jetzt noch; denn wie der heilige Geiſt als inwohnendes Prinzipium zur urſpruͤnglichen Menſchennatur, in ſofern ſie Gottes
noch unverderbtes Ebenbild war, gehoͤrte: ſo iſt in der jetzigen Menſchennatur die Stimme des Gewiſſens, als
Nachhall des ewigen Wortes, das ſich in der Menſchen⸗
vernunft ausſpricht, das Hoͤchſte, das uns gelaſſen oder
wiedergegeben iſt — der Grundkeim aller Religion und Tugend, Weisheit und Seligkeit, deren der Nef jetzt noch fähig iſt.
10) Der Unfriede des Gewiſſens (den die Volks⸗ ſprache ſehr richtig uͤberſetzt in Gewiſſens biſſe, Biſſe, nicht Biß, weil das Wort des Richters wieder- und wie⸗
derſtrafend den Pluralis erheiſchet), iſt alſo unter al⸗
len Suͤndenfolgen die wohlthätigfte, indem fie der wei⸗ tern Verſchlimmerung widerſteht, und in dem furchtbar⸗ ſten Labyrinthe des Lebens noch einen Faden darbeut, an dem wir die Ruͤckkehr zu dem Pfade des Lichtes und der
Freiheit wiederfinden koͤnnen — wenn wir wollen; die
wohlthaͤtigſte, weil ohne dieſen göttlichen Propheten in uns, der mit einer Hand auf die verdammende Ewig⸗ keit hinaus, und mit der andern auf den verlaſſenen Pfad
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des Hells zuruͤckweiſet, die andern gungen des vb keine Umkehr zu bi veranlaſſen koͤnnen.
D. Herzens + Unruhen. (Setlenteiden
200 In dem boͤſen Menſchen gehorchen die Neigungen; die in ihrem brauſenden Zuftande Affekte (quia afliciunt animum), in ihrem Anhalten Leidenſchaften (quia animus patitur), in ihrem hoͤchſten Momente Furien heißen (weil ſie gleichſam als Hoͤllengoͤttinnen den Men⸗ ſchen außer ſich mit unwiderſtehlicher Wuth forttreiben von Abgrund. zu Abgrund), der Vernunft nicht mehr, ſon⸗ dern jede ſtrebt blind nach Befriedigung.
Hier ſind zwei Faͤlle moͤglich: entweder iſt eine Nei⸗ gung ſo ſtark, daß ſie ausſchließend das Scepter führt, oder es find mehrere, die die Herrſchaft theilen, und um die Oberherrſchaft kaͤmpfen. Im erſten Falle iſt es der Des⸗ potismus der Neigungen, im zweiten die Anarchie, was die vornehmſten Begebenheiten im Meuſchen beſtimmt. Nun jede herrſchende, oder nach Herrſchaft ſtrebende Nei⸗ gung iſt ihrer Natur nach unerfaͤttlich, und wird durch jede Befriebigung nur noch gieriger nach Genuß; erzeugt immer neue Begierden, die, wieder befriediget, wie⸗ der neuen heißen Durſt nach Befriedigung entzuͤnden, und ſo in's Unendliche. Jede Befriedigung erweitert den Schlund der Begierde, ausfuͤllen kann ihn keine; jede Lei⸗ denſchaft iſt ein Tantalus, dem der Apfel des faͤtti⸗ genden Genuſſes nie zu Theil werden kann. Natuͤrlich muß die Eine Seele bei dem ſtaͤten Streben nach Befrie⸗ digung und bei der ſtaͤten Erfahrung der Nichtſaͤttigung ihrer Beduͤrfniſſe leiden, denn fie fühlt die zweifache Pein, die das Gefühl der Leere nach dem Genuſſe, das Ge⸗ fuͤhl der Unerſaͤttlichkeit durch den Genuß, und der Durſlt nach neuem Genuſſe erzeugt.
21) Die Leidenſchaften find aber nicht nur unerſaͤtt⸗ lich, ſondern ſie ſelbſt widerſtreiten einander; und jede einzelne Leidenſchaft erzeugt mehrere widerſtreitende Be⸗ gierden, die das Gemuͤth durch dieſen Widerſtreit auf eine fuͤrchterliche Weiſe zerreißen. So liegt es z. B. in der Weſenheit des Hochmuthes und des Geizes, des Hoch⸗
1.
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muthes und der Wolluſt, daß ſie nicht nur einander wi⸗ derſtreiten und einander wechſelſeitig beſchraͤnken, ſondern jede einzelne Leidenſchaft in demſelben Menſchen unzaͤhlige widerſprechende Affekte (Freude, Kummer, Furcht, Hoff⸗ nung, Liebe, Haß, Eiferſucht, Verdruß, Ueberdruß) erzeuget.
22) Die Leidenſchaften eines Menſchen finden nicht nur unter ſich großen Widerſtreit, ſondern auch theils in der aͤußern Natur, theils in den einzelnen Neigungen an⸗ derer Menſchen, theils in der Verfaſſung der Geſellſchaft häufigen Widerſtand. Zu dieſem kommt das mannig⸗ faltige Leiden der Ungewißheit, d. i. das Leiden der un⸗ gewiſſen Zukunft, und das Eine Leiden der Gewißheit, das des gewiſſen Todes, der allem ſinnlichen Genuſſe ein Ende macht.
Dieſes vierfache Seelenleiden, das a) aus der Uner⸗ ſaͤttlichkeit und dem Widerſtreite der Neigungen, b) aus den Hinderniſſen ihrer Befriedigung, o) aus der Ungewiß⸗ heit der Zukunft, und d) aus der bevorſtehenden Aufhe⸗ bung alles ſinnlichen Genuſſes entſteht, iſt in hohem Grade bei boͤſen Menſchen inwohnend; denn die Guten unter⸗ werfen die Sinnlichkeit dem Geiſte, und den Geiſt — Gott, erſparen ſich alſo viele Leiden, und gerade die pein⸗ lichſten, mildern. fi ich En und an ſich die unver⸗ meidlichen ertraͤglich. | ' 1
E. F. G. Die übrigen Folgen. |
23) Daß das herrſchende Böfe, wie es die Harmonie des Geiſtes mit ihm und mit dem Endzwecke ſeines Da⸗ ſeyns, mit Gott und der Ewigkeit aufhebt, alſo auch die Harmonie der koͤrperlichen Kraͤfte unter einander und mit dem Zwecke ihres Daſeyns zerſtöre, das Lebensprinzip im Leibe unwiederbringlich ſchwaͤche, die Außenſeite deſſelben verwuͤſte, endlich den Tod vor der Zeit herbeiführe, bes darf keiner Darſtellung in Büchern, da es in den Ange⸗ ſichtern der Menſchen, in Spitaͤlern, auf Krankenlagern, und in Kirchhoͤfen nur zu viele Darſtellung taͤglich bekommt.
* Man thut wohl daran, daß man der Heilkunde auf Lehranſtal⸗ ten und in großen und kleinen Städten aufhelfe, aber man
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2 ſehr übel daran, daß man durch Duldung und Begänſti⸗ gung einer allentnervenden Zügelloſigkeit den Krankheiten und dem frühen Tode mit aufhelfe.
24). Daß die Herrſchaft des Bbſen nicht nur i m a und am Menfchen, ſondern auch außer ung Zerſtoͤrung, Verwuͤſtung verbreite; daß das Boͤſe den Boͤ⸗ ſen im Auge des ſittlichen Publikums entehre, ſeinen Wir⸗ kungskreis in's Kleinere ziehe, indem es ihm Muth und Kraft zur Thätigkeit und das Zutrauen der Beſſern raubt,
auch mit Schmach und Armuth zugleich lohne; daß es
die Nachbarn mit dem Hauche des Beiſpiels gleichſam verpeſtete und ihnen mit der Suͤnde das ganze Elend der Suͤnde einimpfe, iſt uns in der Geſchichte des 1 ſo richtig, als allgemein beurkundet. 285) Die volle Vergeltung liegt zwar in einem fuͤr uns jetzt unzugaͤnglichen Lande. Aber, wenn wir aus biefem, auch nur den Einen Laut durch Chriſtus und Pau⸗ lus vernommen. hätten: Was der Menſch im Lande der, Ausſaat auf das ihm anvertraute Acker⸗ feld gejäet hat, das wird er im Lande der Ernte einſchneiden indem einem jeden nach feinem, Werke wird vergolten werden, fo hätten wir Licht genug und die edlen Saͤemaͤnner Trieb genug, nur Gutes zu ſaͤen und reichlich zu fen, um einer reichlichen Ernte des Guten wuͤrdig zu werden.
Der Menſch kann uͤberdem in ſich ſelber und in der ganzen Natur die Idee der Vergeltung wahrnehmen, wenn er nur Augen hat, Ni ARE zu 3 die Schrift:
I. Menſch! du kannt den Geiſt des milden Lichtes in dir erwecken, oder den Geiſt des wilden Feuers.
II., Welchen Geiſt du in dir erweckeſt, deſſen Fruͤch⸗ te bringſt du auch, und keine andern.
III. Weſſen Geiſtes Früchte du bringſt, deffen Früch⸗ te wirſt du auch eſſen, und keines andern. 1
F
Am hellen treten die be benen; Folgen des Bösen dem in's Auge, der das Weſen und die Geburtsſtatte
„„
des Boͤſen richtig erfaſſet hat und im Auge behalt. Das Böfe wird naͤmlich dadurch geboren und beſteht we⸗ ſentlich darin, daß Geiſt, Wille und Gemuͤth des Men⸗ ſchen ſich wegwenden von dem Mittelpunkte des Wahren, Guten, Seligen, Schoͤnen, und ſich im Scheine des Wahren, Guten, Seligen, Schoͤnen konzentriren, mit einem Worte: den Mittelpunkt verwechſeln, einen falſchen
an die Stelle des wahren ſetzen. Mit dieſer Verwechs⸗ lung, mit dieſer Verſetzung des Mittelpunktes iſt die Suͤnde, und mit der Suͤnde Finſterniß, Schwäche,
Unfriede, Tod (des Geiſtes und des Leibes) und
ch e geboren, 1 04
Rückblick au klaſſiche Schriftſtellen von 1 Böen.
Wer das Boͤſe in ſeiner Weſenheit, Geneſis, Steige⸗ rung, Wirkſamkeit erkannt, und das erkannte in der Geſchichte ſeines Herzens und in der Geſchichte der Welt als nachgewieſen wiedererkannt hat, dem wird die heilige Schrift beſtaͤtigen, was ihm in der Kunde der Welt und ſeines Herzens anſchaulich geworden, beſon⸗ ders in den angeführten Stellen: a) Joh. III. 19—-21.5 b) Gal. V. 16—21.; c) Roͤm. VIII. 5—8.; d) Ephef. IV. 22.; e) Roͤm. VI. 12—20.; Roͤm. VII. 14—24.; Joh. VIII. 34.5 f) Epheſ. II. 1. 3 8) Jak. I. 14. 15. h) 1 Joh. II. 16.; i) 1 Joh. I. 6. k) Joh. XVI. 9 Epheſ. II. 2.; denn nach a) iſt das Boͤſe de Vorliebe zu den Finſterniſſen und allwalten⸗ der Haß des Lichtes, weil er es iſt, was uns verdammt. Nach b) iſt das Boͤſe Werk, Frucht des Fleiſches, das nicht nur dem Geiſte widerſtreitet, ſondern auch im Widerſtreite ſie Nach c) iſt das Boͤſe ein fleiſchliches Geſinntſeyn, das ſich Gott nicht unterwirft, und nicht unterwerfen kann, alſo auch Gott nicht gefallen mag, iſt eine wahre Feindſchaft wider Gott. Nach d) iſt das Boͤſe der alte Menſch, der, in der Entfernung von Gott lebend, ſich ſtets noch mehr verderbt durch Luͤſte, denen er im Irrthum ſich hingiebt. Nach e) iſt das * die Hertſchake des Ae en
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tzes über das Geſetz des Geiſtes, die den Leib, ja den ganzen Menſchen zum Sklaven, zum Werkzeuge macht, nachdem ſie dem Geiſte die Herrſchaft abgerungen hat. Nach 1) iſt das Boͤſe ein wirkliches Todtſeyn fuͤr das Gute, indem der Wille, von Gottes Geiſt iſolirt, und ſich in ſich gruͤndend, kein Leben mehr aus Gott haben kann. Nach g) iſt das Boͤſe die Uebermacht der blinden Luſt, welche zur Suͤnde reizet, die Suͤnde als eine Frucht gleichſam empfängt und ausgebiert, und mit der Suͤnde den Tod. Nach h) iſt das Boͤſe der arge Geiſt der Welt, der in der Welt die Welt aus⸗ macht und von dem die Welt beherrſcht wird. Nach ) iſt das Boͤſe ein Wandeln in der Nacht, indem das Gemuͤth, aus Haß des Lichtes, von dem Lichte abgeſchnitten, in dem dunklen Elemente der Begierde umherirret. Nach k) iſt das Boͤſe der Unglaube an Gott, und das Nicht glauben an Chriſtus, ſtammend aus dem Geiſte der Fin⸗ ſterniß und fruchtbar in Werken der Finſterniß.
So ſind denn das Gemuͤth des Menſchen die Weltgeſchichte und die Bibel der Chriſten drei Buͤcher, die dreierlei zuſammenſtimmende Zeugniſſe von
der Weſenheit, Geneſis, Steigerung und aa des Boͤſen geben!
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Gut iſt Niemand, als Gott, ſagt Chriſtus, d. h. Gut iſt nichts, „als das Göttliche in Gott, und das Göttliche von dem freien Willen freitha ae Weſen nachgebildet.
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105.
Wenn das Gute im Menſchen vom Grunde aus er⸗ kannt werden ſoll, ſo muß das Gute im Ak ktus, im einzelnen Handeln und Thun, und das Gute als Geſin⸗ nung, als bleibender Charakter, als Tugend er⸗ forſcht werden.
F. I. Das Gute als Aktus, in der Einzelnheit betrachtet.
106.
Sinnvoll iſt der Grundſatz der lateiniſchen Schule: bonum ex integra causa; malum ex quolibet de- fectu: im Guten und am Guten iſt Alles gut. Dieß Alles bedarf einer genauen Eroͤrterung, und wird nur durch eine Analyſe des Guten im Handeln und Thun gefunden.
107. Analyſe des Guten.
1) Wenn das einzelne Handeln ſittlich ſeyn fol: ſo muß dem Handelnden vorerſt entſchieden und in ſeinem
innerſten Bewußtſeyn entſchieden ſeyn: dieſe Handlung, unter dieſen Umſtaͤnden der Zeit und des Ortes ꝛc. und in Verknuͤpfung mit dieſen vorhergeſehenen Folgen, von mir vollbracht, ſtimmt mit der ewigen Ordnung der Dinge, mit dem ewigen Geſetze uͤberein; denn ohne dieſes Be⸗ wußtſeyn, daß die Handlung nach ihrer Weſenheit, nach den Umſtaͤnden, z. B. des Ortes und der Zeit, und nach den vorhergeſehenen Folgen betrachtet, mit dem ewigen Geſetze uͤbereinſtimme, koͤnnte er nie aus dem Meere der Bedenklichkeiten, der Zweifel, ob ſie gut ſey oder nicht, heraus⸗ und auf den feſten Boden der Zuverſicht kom⸗ men. Nun aber im Zuſtande des Zweifels, ob die Hand⸗ lung ſittlich ſey, handeln, waͤre ſelbſt ſchon unſittlich, in ſofern es mit der Würde eines vernünftigen Weſens nicht uͤbereinſtimmen kann, ſich der Gefahr r e wider das Gefe der Vernunft au handeln. 1 0,
Es muß alſo erſtens: die Me ſenheit der Hane lung zu Rathe gezogen werden, ob ſie, fuͤr ſich betrach⸗ | tet, das innere Merkmal des Ehrwuͤrdigen, des Schönen in ſich habe, mit dem ewigen Geſetze uͤbereinſtimme. So iſt die Wahrhaftigkeit, die Treue an ſich, von Unſtluden und Folgen abgeſehen, ehrwuͤrdig, ſchoͤn.
Es muß zweitens: das Verhaͤltniß der Hande lung zu den Umſtaͤnden, z. B. des Ortes und der Zeit, zu Rathe gezogen werden, ob dieſelbe Handlung, unter dieſen Umſtaͤnden geſetzt, mit dem ewigen Geſetze uͤbereinſtimme. So iſt zwar die Krankenpflege an ſich edel und ſchoͤn, aber ich entziehe mich doch der kranken Mutter, die meiner Huͤlfe bedarf, um das fremde Kind, das in das Waſſer gefallen iſt, vom Tode zu retten; denn, wo es um die Rettung eines Menſchenlebens Hi thun if, da kann mir die augenblickliche Milderung des Schmerzens, der nicht toͤdtlich iſt, wenn die Leidende gleich noch ſo viel Anſpruͤche auf meine Liebe hat, nicht geboten ſeyn, indem es ein Vernunftausſpruch iſt, das groͤßere
Gut dem geringeren, alſo die Rettung des Lebens N andern minder wan -den der wog N ziehen.
— u —
Es muß drittens: das Verhaͤltniß der Haudlung zu den vorhergeſehenen Folgen zu Rathe gezogen werden, ob dieſelbe Handlung, mit dieſen Folgen verknuͤpft, mit dem lege aeterna uͤbereinſtimme. So kann die Mit⸗ theilung einer bedeutenden Wahrheit an ſich nicht böfe ſeyn, und doch gebiete ich mir, der kranken Tochter den Tod ihres Vaters ſo lange zu verſchweigen, bis die Mit⸗ theilung fuͤr ſie gefahrlos ſeyn kann. Wenn nun aber die Weſenheit der Handlung, die Umſtaͤnde, die vorher⸗ geſehenen Folgen derſelben mit dem ewigen Geſetze uͤber⸗ einſtimmen: ſo mag der Handlung als Handlung das Gepraͤge des Gutſeyns nicht wohl abgeſprochen wer⸗ den. Chriſtian z. B. wird heute, da er ſeinen Monat⸗ gehalt zu 50 Gulden eingenommen, von der Wittwe mit ſieben Kindern, deren Elend und argloſes Weſen ihm gleich entſchieden iſt, um ein Darleihen von 25 Gulden gebeten. Sein Gemuͤth ſagt, im Aufblicke zu Gott: Ja, denn Gott iſt die Liebe, und die Liebe giebt. Die Selbſt⸗ liebe wendet ein: du reichſt mit 50 Gulden kaum fuͤr dich und die Deinen aus: ſey doch du dein erſter Freund und laß die Reichen geben. Die Naͤchſtenliebe antwortet: die verlaſſene Wittwe mit ihren ſieben Kindern hat nichts — wenn du nicht mit ihr theilſt, iſt ganz verlaſ⸗ ſen; und, was dich betrifft, ſo gilt das Wort: mit Vie⸗ lem halt man Haus, mit Wenigem kommt man aus. Das Gemuͤth ſiegt — und Chriſtian theilt mit der Wittwe, und dieß Theilen iſt a) au ſich gut, iſt b) unter dieſen Umftänden gut; denn die dringende Noth macht den Leis denden zum Naͤchſten jedem, der helfen kann, iſt c) nach allen vorherſehbaren Folgen gut; denn das erquickte Elend auf einer, und das Haushalten mit Wenigem * der anden Hate, iſt wohl beides untadelig. Aer
. Wenn mir alſo das genannte Gutſehn einer Hand⸗ lung entſchieden ſeyn ſoll, ſo muß ich durch Ueberlegung und reife Wuͤrdigung der Beweggruͤnde zum Handeln, die von der Weſenheit, von den Umſtaͤnden und den Folgen der Handlung dargeboten werden, zur feſten Ueberzeugung gekommen ſeyn: der Vorſatz, meinen Gehalt mit der
3
Wittwe zu theilen, in 10 Wesenheit, den Umpän den und den Folgen nach gut.
3) Was die Umſtaͤnde und die Folgen Auer Hand⸗ lung betrifft, ſo koͤnnen ſie nur dadurch erkannt werden, daß das ganze Verhaͤltniß des Allgemeinen (der Hand⸗ lung), mit dem Beſondern (des Handelnden), und der Andern, auf die ſie bezogen werden kann, erforſcht, und gleichſam durchſchauet wird, und gerade dieſes Verhaͤltniß iſt es, das am flachſten angeblickt wird. So iſt der Unter⸗ richt, der die Wahrheit in das horchende Gemuͤth eins fuͤhrt, und wie das Gemuͤth, ſo das Leben zu bilden verſucht, fuͤr ſich betrachtet, ohne Widerrede gut; ſobald aber der Lehrer vorausſehen kann, daß der Unterricht ent⸗ weder ihn, oder den Zoͤgling, oder beide zugleich von der Unſchuld des Herzens und der kindlichen Furcht des Herrn abfuͤhren werde: ſo iſt es hohe Zeit, ihn aufzugeben. So haͤtte Abaͤlard gar bald einſehen koͤnnen, daß die in ſeinem Herzen beginnende Liebe zu Heloiſe und dieſer zu ihm, die der Unterricht einmal veranlaßt hatte und taͤglich erhoͤhen mußte, ſie beide in einen Abgrund ſchleudern werde. Aber gerade dieſe Neigung hat das ſiegende Ta⸗ lent, den Vernunftblick fern zu halten und das Herz allein entſcheiden zu laſſen, und der feine Dialektiker, der in aller Disputation ſeinen Gegner ſtumm machte, hat der noch feineren Dialektik der Liebe unterliegen muͤſſen.
* Bisher waren bloß die Materie der Handlung, die Umſtände z. B. der Zeit und des Ortes, und die vorherſehbaren Folgen zu Rathe gezogen. Allein bei einer guten Handlung muß der Handelnde ſelbſt auch gut ſeyn. Davon nun das Nähere.
4) Es kann die einzelne Handlung, die nach Weſen⸗ heit, Umſtaͤnden, Folgen betrachtet, gut waͤre, durch die Gemuͤthsrichtung des Handelnden ſo verſchlimmert werden, daß ſie, anſtatt unter die guten Handlungen zu gehoͤren, unter die unlautern gezaͤhlt zu werden verdiene. Wenn z. B. Cajus, der kein Chriſtian waͤre, ſeinen Ge⸗ halt mit der Wittwe theilte, mitunter wohl auch, um in der Gemeinde den Ruf des Großmuͤthigen zu erlangen: ſo wuͤrde dieſe Unlauterkeit en 1 icht, als Seele der Hand⸗
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— 302 | — K lung, den Handelnden ſelbſt verunreinigen. Es muß alſo das einzelne Handeln, um gut zu ſeyn, von ed unlau⸗ tern Abſi icht rein ſeyn. | |
5) Es giebt aber auch Faͤlle, wo das Gnte der Hand⸗ ung nicht nur durch unlautere Zwecke getruͤbt, ſon⸗ dern durch boͤſe Zwecke vollends aufgehoben wird. Wenn z. B. ein Ariſtipp die Wittwe unterſtuͤtzte, um ſie ſelbſt zum Werkzeuge ſeiner boͤſen Luſt zu machen: ſo wuͤrde, was bei Chriſtian eine gute, was bei Cajus eine unlau⸗ tere Handlung geweſen waͤre, bei Ariſtipp eine verdeckte Schlinge des Verfuͤhrers, alſo boͤſe und ein vorausbe⸗ zahlter Sold der im Geiſte ſchon begangenen Suͤnde feyn. Da nun an einer guten Handlung Alles gut ſeyn muß, ſo wird erfordert, daß das Gutſeyn der Handlung von keiner unlautern Abſicht des Handelnden getruͤbt, und von keinem boͤſ en Zwecke aufgeh oben werde.
6) Wenn nun Alles an einer guten Handlung, nicht nur ihre Weſenheit, ihre Einzelnheit, ihre vorhergeſehenen Folg en, ſondern auch die Richtung des Gemuͤthes, gut ſeyn muß, ſo fragt es ſich: was iſt denn aber dieſe Ge⸗ muͤthsrichtung, dieſe Intentio recta voluntatis? Wenn die Moralphiloſophie beſſerer Art lehrt: man muͤſſe das Gute um des Guten wegen achten, lieben und voll⸗ bringen: fo lehrt die chriſtliche Moraltl yeologie- mit Pau⸗ lus und wohl auch mit Chriſtus: bei treuer Vollbringung des goͤttlichen Willens nichts anders wuͤnſchen, als daß der Name Gottes geheiliget werde, ſey die beſte Intention,
und das Gebet: geheiliget werde dein Name, in That geſetzt, der Eine ſchoͤnſte Chriſtenzweck in allen ihren Hand⸗ lungen. Daraus mag ſchon erhellen, was fuͤr ein allge⸗ waltiger Kampf gegen die Selbſtſuͤchtigkeit, die nach einem geistreichen Manne ſich uͤberall ſuchet, ſich uͤberall findet und ſi ich uͤberall verbirgt, um ja nicht entdeckt zu werden, vorausgehen muͤſſe, wenn auch nur Eine gute Handlung aus reiner Abſicht vollbracht werden ſolle.
2) Wenn gleich die Weſenheit der Handlung und die Gemuͤthsrichtung des Handelnden gut ſind: ſo kann doch der Fall eintreten, daß das, was im Vorſatze gut, und
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in der Intention lauter iſt, keine That werde, weil die Gebrechlichkeit des menſchlichen Willens, unvermoͤgend, das Handeln in ein Thun zu verwandeln, den Vorſatz in ſich erſterben läßt, ehe er That werden konnte. Da⸗ mit alſo das Gute im Vorſatze ein wirkliches Thun werde, darf keine Art Laͤhmung des Willens eintreten, die den Vorſatz, gut zu handeln, unerfuͤllt ließe. Der gute Wille wird alſo energiſch genug ſeyn muͤſſen, um das innere Handeln in's Thun zu verwandeln. | 3) Wenn das Handeln, das im Vorſatze 8 und in der Gemuͤthsrichtung lauter iſt, auch wirklich That wuͤrde: ſo koͤnnte es doch noch geſchehen, daß das gute Handeln keine gute That wuͤrde: wenn naͤmlich die Handlungsweiſe im wirklichen Thun nicht rein bliebe; denn es muß der, welcher eine gute That beſchloſſen hat, im wirklichen Thun das Spiel ſeiner Gedanken be⸗ herrſchen, die Bewegungen ſeines Herzens re⸗ gieren, und die aͤußern Sinne bewachen, damit weder von den Eindruͤcken der Sinne, noch von den Ge⸗ danken ſeines Verſtandes, noch von den Neigungen ſeines Herzens etwas in ſeinem Innerſten aufgeregt werde, das nicht etwa bloß die Oberflaͤche der That faͤrbte, ſondern ſogar den Geiſt der Handlung truͤbte. Daher die weiſen Raͤthe der Salomone aller Zeiten: Mein Sohn! bewa⸗ che dein Herz, bewache deine Gedanken, bewa⸗ che deine Sinne.
900 Demnach iſt es nicht genug, daß die recta in tentio im Entſchluſſe des Handelnden mitlebendig ſey; ſie muß auch im Fluſſe der That noch ſeyn und Beſtand haben.
10) Auch, wenn weder von den Eindruͤcken der Sinne, noch von dem Spiele der Gedanken, noch von den Be⸗ wegungen des Herzens im Handelnden etwas angeregt
wird, das die That beflecken koͤnnte: ſo moͤgen noch Faͤlle
eintreten, die nach dem Ausſpruche aller Vernunft den Handelnden noch beſtimmen ſollen, die That (bei allem Gutſeyn der Handlung, bei aller Lauterkeit der Abſicht), vollends zu unterlaſſen. Wenn ich z. B. gerade vor der That die unerwartete Aufklaͤrung erhielte, daß durch mein
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Thun, das ich beſchloſſen habe, Schwache im Glauben, oder Schwache im Gewiſſen geaͤrgert, oder Leidende in ihren Herzen, da, wo ich Wunden heilen wollte, noch tie⸗ fer verwundet wuͤrden: ſo wuͤrde mich, dieſer zufaͤl⸗ ligen Ereigniſſe wegen, die ich in Faſſung des Entſchluſ⸗ ſes noch nicht vorausſehen konnte, die Schonung, die ich dem Glauben, dem Gewiſſen und dem Herzen Anderer ſchuldig bin, noͤthigen, die beſchloſſene Handlung, die zwar gut, aber zu keinem nothwendigen Zwecke noth⸗ wendiges Mittel waͤre, zu unterlaſſen. Verdirb nicht durch dein Eſſen den, fuͤr welchen Chriſtus geſtorben iſt: Alles iſt zwar rein, aber es wird dem Menſchen ver⸗ derblich, der zum Anſtoße der Andern ißt. a XIV. 20. 21.) .
11) Demnach gehoͤrt zur Ueberzeugung, daß mein Thun durchaus ſittlich ſey, auch noch die Ueberzeugung, daß mich keine Ruͤckſicht auf die Gewiſſens⸗ oder Glau⸗ bensſchwaͤchen, oder auf die Herzensleiden Anderer zur Unterlaſſung des Thuns beſtimmen duͤrfe.
12) Demnach ergeben ſich zum Gutſeyn eines ein⸗ zelnen Aktus als ſo viele unerlaͤßliche Erforderniſſe,
I. daß das Handeln nach Weſenheit, Umſtaͤn⸗ den, Folgen betrachtet, — II. daß die Intention des Handelnden, — III. daß das wirkliche Thun, und IV. die ganze Aeußerlichkeit deſſelben Thuns Reli feyen.
13) Dieſe Erforderniſſe ſetzen aber das Eine voraus, daß in der Sprache Chriſti der Baum, der gute Fruͤchte bringen ſoll, ſelbſt zuerſt gut ſeyn muͤſſe, oder in der Sprache der Philoſophie, daß die gute That nur aus einem guten Willen kommen koͤnne, daß der Menſch, der gut handeln, Gutes thun will, zuerſt ſelbſt gut ſeyn muͤſſe, oder in der Sprache der Kirche, der Theologie, daß der Menſch, der gut handeln ſoll, im Stande der Guade ſeyn müͤſſe; denn, wo ſollte die Uebereinſtimmung der Hand⸗ lung mit dem ewigen Geſetze (Nr. 1. 3.) jene Lauterkeit der Abſicht (Nr. 4. 8. 6.), jene Staͤrke des Willens
(Nr. 7.), jene Selbſtherrſchaft über die Spiele der Ges danken, über die eigen des Herzens und uͤber die
innern
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innern und äußern Sinne (Nr. g. 9.), jene kräftige Scho⸗ nung des Glaubens, des Gewiſſens und der Herzensbe⸗ duͤrfniſſe Anderer zunächst herkommen koͤnnen (Nr. 10. 110% als aus dem vorherrſchenden guten Willen? 71 Alſo: der gute Wille, aus dem alle einzelue gute 5 Handlungen, gute Thaten kommen, iſt als Charakter der Perſon, als bleibende Stimmung des Gemuͤthes ſelbſt Pflicht, in ſofern ohne ihn keine andere Pflicht er⸗ füllt werden kann, iſt Pflicht der Pflichten, weil ohne ihn keine beſondere Pflicht begriffen, keine erfuͤllt werden kann. Die zwei wichtigſten Fragen aller Tugendlehre ſind alſo die: J. Was iſt der gute Wille? II. Wie wird der gute Wille in einem boͤſen Menſchen geboren?
Die erſte Frage iſt ſchon (im zweiten Abſchnitte §. 24. Nr. 7.) gelöst worden, und ſoll ſogleich noch ausfuͤhr⸗ licher im nachſtehenden §. II., ſo wie die zweite im dar⸗ auf folgenden zweiten Hauptſtuͤcke der Moral, beantwortet werden.
14) So gewiß das Gute im einzelnen Handeln. und Thun des Menſchen zunaͤchſt von dem guten Willen, als der Quelle aller Sittlichkeit, ſtammt: ſo gewiß iſt es, daß ſich die feſte, alle Gewiſſenszweifel ausſchließende Ueber⸗ zeugung; die wir von dem Gutſeyn der Handlung haben müſſen (Nr. 1—5.), auch auf den guten Willen, und auf alle Erforderniſſe der Sittlichkeit (Nr. 11. 12, werde ausdehnen muͤſſen, indem, wie mit Paulus alle Vernunft lehrt, alles Handeln, was nicht im Glauben, in jener feſten Ueberzeugung von dem e 8 unſers Thuns geſchieht, Suͤnde iſt.
Ich darf alſo nicht zu Are "einer That ſchreiten,
wenn ich nicht vorher den letzten Ausſpruch des innerſten Gerichtshofes, das dietamen ultimum conscientiae | practicae von dem vollſtaͤndigen Huter, meines Thuns, in mir vernommen habe. 15) Dieſen Eroͤrterungen zufolge kane, He Vernunft das Gutſeyn eines menſchlichen Aktus nur dann guͤltig beſtimmen, wenn ſie 1) die Handlung. nach Weſenheit, Umſtaͤnden und Folgen betrachtet (materiam, adjuncta ‚et consectaria actionis), mit dem ewigen Geſetze ein⸗
J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 0
1
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ſtimmig; 2) den Willen des Handelnden gut, und 3) rein gut, und 4) ſo energiſch, daß er Quelle des guten Han⸗ delns werden konnte, und 5) das Thun ſelber, und 9) die ganze Aeußerlichkeit des Thuns mit dem guten Willen uͤbereinſtimmend gefunden, und von dem Allen 2) eine feſte Ueberzeugung im Handelnden, die vor dem Thun da war und im Thun beharrte, wahrgenommen hat.
16) Dieſen Eroͤrterungen zufolge kann nur das eine vollends beſtimmte Pflicht ſeyn, was gut iſt a) nach Weſenheit, nach Umſtaͤnden, nach Folgen der Handlung betrachtet; was gut iſt b) in Hinſicht auf den Willen, der gut, reingut, und energiſch ſeyn muß, um gute Tha⸗ ten hervorzubringen; was gut iſt c) in Hinſicht auf das Thun und die ganze Aeußerlichkeit deſſelben und dieß vollſtaͤndige Gutſeyn a. b. o. in dem innerſten Bewußt⸗ ſeyn des Handelnden behauptet.
* Der Meg der Analyſe in Beſtimmung des Guten iſt übrigens
auch hier, wie überall, mühſam und lang, wird aber durch Ge⸗ wiſſenhaftigkeit und Religioſttät gar ſehr erleichtert und ver⸗ kürzt für den Blick eines jeden geſunddenkenden Menſchen; denn
er erſchaut wie auf einmal die Merkmale des Guten, die der
Begriff nur langſam und ſehr allmälig zuſammenfindet.
H. II. Das Gute im Menſchen als Sefinnung, " als e als eigentliche Tugend.
108. Von dreierlei Momenten der Tugend. De
1) Nicht wenige Lehrer ſetzten die Tugend bloß in den Kampf, und in die Kampfruͤſtigkeit des Willens fuͤr die Pflicht. Dieſe Betrachtung, ſo wahr ſie in bloßer Be⸗ ziehung auf den Menſchen in ſeinem hieſigen Zuſtande ſeyn mag, hat denn doch drei Gebrechen. Erſtens: iſt ſie nicht ergruͤndend; denn wie kein Denken das Wahre ergruͤnden kann, wenn es daſſelbe nicht auf das Urwahre, (Gott) zuuͤckfuͤhrt: ſo kann auch kein Denken das Gute im Menſchen ergruͤnden, wenn es daſſelbe nicht auf das f Urgute, auf das Heilige — Gott zuruͤckfuͤhrt. Zweitens: dieſe Betrachtungsweiſe eich wacht das Weſen der
=— — 1
Tugend; denn wenn ſchon die Tugend, in ihrem ganzen Lebenslaufe hienieden, als kaͤmpfend und kampfruͤſtig er⸗ ſcheint, und nicht bloß erſcheint, ſondern auch iſt, ſo kann doch der wirkliche Kampf nicht das Weſen der Tugend, ſondern nur Status der Tugend ſeyn, indem der Kampf einmal wegfallen muß, eben weil es einmal ausgekaͤmpft ſeyn wird, und ſich gerade die beſten Menſchen nach einem Feierabende, nach dem großen Sabbath, ſehnen, das Weſen der Tugend aber nicht anders, als ewig ſeyn kann. Schon dieß allein deutete darauf, daß, wer die Tugend bloß und ausſchließend als Wehrkraft des Gem thes, als Stärke des Vorſatzes zum Kampfe für die Pflicht vorſtellte, das Weſen der Tugend noch nicht er⸗ blicket hätte. Drittens: dieſe Betrachtungsweiſe trägt ebendeßwegen, weil ſie nicht auf den Urgrund und das Weſen des Guten zuruͤckgeht, das Gepraͤge der Unbe⸗ huͤlflichkeit, der Untuͤchtigkeit zur Anwendung an ſich, weil fie den Menſchen, der kaͤmpfen ſollte, ohne Licht und Rath läßt, wie er es anzufangen habe, um zum Kampfe fuͤr die Pflicht ſtark zu werden. b
Indeſſen iſt denn doch fo viel wahr: die Tugend iſt wirklich in ihrem hieſigen Zuſtande Wehrkraft des Gemuͤ⸗ thes, Staͤrke des Vorſatzes, zu kaͤmpfen fuͤr die Erfuͤllung des heiliges Geſetzes; obgleich eine Tugendlehre, die da⸗ bei ſtehen bliebe, weder das Gute im Menſchen er⸗ gruͤnden, noch das Weſen der Tugend errei⸗ chen, noch Licht und Rath zur Anwendung ver⸗ ſchaffen wuͤrde, alſo weder gruͤndlich, noch e noch anwendbar ſeyn wuͤrde.
2) Demnach fanden ſich die gründlichen Forſcher RR drungen, die Tugend nicht mehr ausſchließend in ihrer Be⸗ ziehung auf den Menſchen als Wehrkraft des Geiſtes, als Staͤrke des Vorſatzes, ſondern, um eine vollſtaͤndige, er⸗
ruͤndete Vorſtellung zu gewinnen, auch und vorzuͤglich in
ihrer Beziehung auf das Heilige, in ihrem Berhält-
niſſe zum Goͤttlichen darzuſtellen. Dadurch gelang
es ihnen, das Gute zu ergruͤnden und bis zum Weſen
der Tugend vorzudringen, denn ſie fanden Grund und 20°
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Weſen des Guten — in dem eee des Mane zum Goͤttlichen.
“sy Durch dieſe Aufhellung ward alſo das Weſen
(die innere Moͤglichkeit) der Tugend erreicht, aber bei allem dem blieb doch noch die Frage, an deren Loſung Alles gelegen ſeyn mußte, ungeloͤst, die Frage: wodurch die Tugend, die in ihrer Weſenheit ſo herrlich iſt, im Menſchen zum Seyn gebracht werden koͤnne? Demnach wurden die Forſcher, die Muth genug hatten, dem Ge⸗ nius der Wahrheit treu zu bleiben, noch um einen Schritt weiter gedrängt, um das Weſen und das Seyn der Tugend in der Einen Urquelle des Guten aufzuſuchen und zu finden. Ich will ſagen: To, wie es untiefe Geiſter gab, die den eitlen Verſuch machten, die Tugend als ein Ganzes ohne Religion werden zu laſſen; wie es tiefere Geiſter gab, die das Weſen der Tugend in dem Weſen der Religion erblickten, und ſie in und durch die Reli⸗ gion werden ließen, ſo gab es auserleſene Geiſter, welche die Tugend auch in ihrem Seyn von dem hoͤchſten Gute ſelber ableiteten, d. i. durch Gott werden ließen.
Aulgnter den Letztern ſtanden die chriſtlichen Weiſen oben an. Die Tugend hätte demnach ein ſittliches, ein re⸗ ligiöſes, ein goͤttliches Moment. Es ſey mir ges gönnt, eines nach dem andern zu betrachten, und die Fragen fo zu ſtellen: Was iſt Tugend? — Was ift die Tugend ? — Was iſt die chriſtliche Tugend? |
Dieſe Betrachtung wird uns nicht nur zu einer vol l aden, er gruͤndenden Erkenntniß von dem Ganzen der Tugend, ſondern auch zur Erkenntniß ſowohl we dem Be en als dem Wer den der Tugend hes,
A. Was it Tugend? |
Ä 109. 9 5 als z behteſ, des Genüthee, als Staͤrke des Vorſatzes, Tugend in ihrem militaͤriſchen Berufe. a
1) Gut iſt das, was in unſerm freien Wollen und Denken, Thun und Nichtthun, Genießen und Leiden, und
*
* 309 Dr
vorzuͤglich in den Triebfedern, und Zwecken des freien Wollens und Denkens, Thuns und Nichtthuns, Genießens und Leidens mit dem ewigen Geſetze uͤbereinſtimmt. Eh 229 In ſofern das Gute herrſchende Geſinnung iſt, alſo Entſchluß des freien Willens, und feſter, ſchon bewaͤhrter Entſchluß, das heilige Geſetz zur hoͤchſten Richtſchnur alles fernern freien Wollens und Denkens, Thuns und Nicht⸗ thuns, Genießens un Leidens zu e heißt es ac gend: h - aN 918 5 83) Tugend 1 N 4 Sinne, des lateiniſchen Aus dru⸗ des Cvirtus a viro), heißt Mannheit, Mannhaftigkeit des Gemuͤthes, Staͤrke der Geſinnung (robur animi), zur Erfuͤllung des heiligen Geſetzes. Wird aber das deut⸗ ſche Wort: Tugend, nach ſeiner Ableitung vom alten Worte: tigen, taugen, betrachtet, fo iſt Tugend, des Mens ſchen ſo viel, als die Tuͤchtigkeit, die Tau igſamkeit feines freifhätigen Willens zur Erreichung der erhabenſtenn Zwecke, die von der Menſchheit an der Menſchheit erreicht wer⸗ den koͤnnen, d. i. zur Foͤrderung der gemeinsamen "Heilige keit und Seligkeit ſeines Geſchlechtes. Das griechiſche Wort apern bezeichnet ſowohl die Starke des Tu⸗ Eule als das Geling en der Tugendwerke. Homer ſagt: „Oöon e a,, aged Ar ug dei. het das Boſe. i Wir kehren aber NEE Bedeutung nie (lateinischen Wortes zuruck, weil es den eigentlichen Charakter der Tu⸗ gend in ihrem hieſigen Lebenslaufe am beſten bezeichnet. Tugend des Menſchen iſt Staͤrke des Willens, iſt Mann⸗ haftigkeit des Gemuͤthes, ) die zur Beobachtung des hei⸗ ligen Geſetzes tuͤchtig macht, die es 5 en ſtreb, | und wirklich beobachtet. PER“ TE er
) Deßwegen beißt Lion. in der kantiſchen Sprache die einzige unbedingt lobenswerthe Tapferkeit. Bellum cum vitiis, non cum hominibus, ſpricht der Sittlichtapfere mit Ludovicus Vi- ves. Uebrigens wird es dem Kenner von ſelbſ einleuchten, in wie fern die Begriffe von Tugend, die lit. A. gegeben werden, mit denen der kritiſchen 8 Wee oder davon abweichen. |
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4) Diefe Stärke, die Tugend heißt, fett Feinde vor⸗ aus, die bekaͤmpft werden muͤſſen. Dieſe Feinde ſind: a) Die Neigungen des Herzens, die dem heiligen Geſetze Abbruch thun wollen; b) die Spekulationen des Verſtandes, welche die Weiſung des Gewiſſens entweder mißdeuten, oder gar verfaͤlſchen, oder wenigſtens, in das Intereſſe der Neigungen verwickelt, die Befolgung der Gewiſſens⸗Ausſpruͤche erſchweren; c) die Reize im Koͤrper, die den Neigungen entſprechen; d) alle Rei⸗ zungen zur Geſetzubertretung, die außer uns ſind, aber auf uns wirken, und ſofort in uns Reize werden. Tu⸗ gend iſt alſo Willens ⸗ und Gemuͤthsſtaͤrke, wider alle Neigungen, Spekulationen, Reize und Reizungen (die der Geſetzerfuͤllung Abbruch thun), und fuͤr die Wen zu kaͤmpfen.
5) Dieſe Staͤrke kann nicht mit Worten gelehrt, ſon⸗ dern muß geuͤbt, durch Verſuche in Bekaͤmpfung geſetz⸗ widriger Neigungen, Spekulationen, Reize und Reizungen errungen werden. Tugend iſt alſo ſelbſterworbene Ge⸗ muͤthsſtaͤrke.
* Gewiß auch in dem Sinne lehrten die Alten, daß die BR nicht gelehrt werden kann; fie ift kein Artikel der Schule und der Schulübung. Aber ſie wollten mehr; ſie winkten mehr auf den Urſprung alles Guten. (wovon lit. C.) Hieher gehört, was der Philoſoph von Genf von der Tugend behauptet: Tu⸗ gend iſt die Macht eines Weſens, das von Natur ſchwach, Au Selbſtüberwindung ftarf geworden.
BR 50 Dieſe Starke wird nicht auf dem Wege des hal⸗ ben Wollens (der Halbherzigkeit zwiſchen gut und boͤſe), gefunden, ſondern ſetzet eine unbedingte, alle Kapitulation mit dem Boͤſen verſchmaͤhende Unterwuͤrfigkeit unter das heilige Geſetz voraus, iſt alſo die Staͤrke eines Vorſatzes, der alles Gute ein⸗ und alles Boͤſe ausſchließt.
2) Dieſe Stärke iſt das Regiment des heiligen Ge⸗ ſetzes in uns, gehandhabt durch den freien Willen, der ſich dem heiligen Geſetze unterworfen hat, und dieſe Unter⸗ wuͤrfigkeit durch Kampf wider alle Forderungen der Be⸗
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gierden, die dem heiligen Geſetze widerſprechen, geltend macht.
60) Dieſe Staͤrke iſt eine Fertigkeit. des ge Willens, die nicht aus einem Mechanismus der blinden Gewohnheit, ſondern aus dem lichten Grundſatze: „Ich ſoll alle meine Geſinnungen und Handlungen, Zwecke und Triebfedern dem heiligen Geſetze unterwerfen,“ und aus dem unerſchuͤtterten Entſchluſſe, der dieſen Grund⸗ ſatz zur Maxime gemacht hat: „Ich will alle meine Geſinnungen und Handlungen, Zwecke und Triebfedern dem heiligen Geſetze unterwerfen,“ hervorgegangen iſt (ha bitus libertatis, non merae assuetudinis, wie es Kant richtig nennt).
9) Dieſe Staͤrke hat einen zweifachen Kreis der Thaͤ⸗ tigkeit; einen unmittelbaren, in ſofern ſie den ſittlichen Entſchluß, wider alle geſetzwidrige Neigungen und Trieb⸗ federn zu kaͤmpfen, lebendig und von allen befleckenden Einfluͤſſen derſelben rein bewahrt; einen mittelbaren, in ſofern ſie das Thun und Laſſen nach der Richtſchnur der Pflicht beſtimmt. Im erſten Wirkungskreiſe arbeitet fie fuͤr den Geiſt der Pflicht; im zweiten fuͤr den Buchſta⸗ ben der Pflicht; in jenem und dieſem fuͤr die Pflicht⸗ erfuͤllung, die, wie der Menſch, aus Leib und Seele be⸗ ſteht. 100 Die Begeiſterung (ſonſt auch Enthuſiasmus genannt) iſt nicht die Tugend ſelbſt, kann aber, in wie⸗ fern. fie aus dem Guten ſtammt und unter dem Leitſeile des Guten bleibt, nicht nur Vorſpann in Ausuͤbung ſittlicher Entſchließungen, ſondern auch Anregung zur Faſſung derſelben werden.
11) Eben ſo iſt die Ap athie, die Gleichguͤltigkeit gegen Luſt und Schmerz, nicht die Tugend ſelbſt, nicht die Staͤrke des Vorſatzes; ſie kann aber aus der Tugend kommen, und kommt wirklich aus Tugend, in ſofern ſie eine Frucht der vorhergegangenen Selbſtverlaͤugnungen iſt, die das Gute zum Zwecke hatten. Die Apathie, die hier gemeint iſt, iſt alſo weder die natürliche, die des Temperaments, noch die erkuͤnſtelte, wie die bei vie⸗
.
len Athängern der Stoa, ſondern die ſittliche, die Folge des Guten. Abm 120 Enthuſias mus und Apathie koͤnnen alſo als wei Tugendformen angeſehen werden, die die Eine Tu⸗ gend in ihrer ı Doppel» Offenbarung darſtellen, in wie fern in dem Einen Manne, der das Niedere befieget, hat und vom Hoͤhern begeiſtert wird, ee ki n bald mehr dieſe Begeiſterung hervortritt. 800 dn
* 1 die wahre Begeiſterung des Tugendhaften einen Aufſchwung des Gemüthes zum Göttlichen vorausſetze, und eine Belebung
des Gemüthes durch das Göttliche in ſich faſſe, ſoll keiner Ex⸗ wähnung bedürfen, da beides ſchon von dem Worte: 3 1 iaamn $, für den Sprachforſcher angedeutet W * ip
130 80 können auch das, gemäßſgte Feuer i im Eifer vollen und der hervortretende ei in dem Sanftmüͤthi⸗ gen als zwei Formen der inen Tugend angeſehen werden, in ſofern es Stärke. des Vorſatzes iſt, was dort das Feuer gemäfiget, und hier das hegen 1
geitählet, „e |
14) Wenn dagegen den Handlungen, die das Geprä e 3 Sanftmuth an ſich tragen, ‚eine ſtillſchweigende 0 gung des Unrechtes, eine ‚gunfbentelnde Anſchmiegung an die glänzende Partie, und eine Willensſchwäches 15 lauten Erklaͤru 8, für, das Recht, sr wenn Handlungen, die das Gepre ge des geſchärften Eifers an ſich tragen, das Feuer der ungemäßigten Leidenſchaft und die Willens⸗ ohnmacht zur Seſbſtbetampfung eigener, und zur Erdul⸗ dung fremder Schwäche zu Grunde liegt; fo ſind dieſe Erſcheinungen keine Erſcheinungen der Einen Willensstärke, die Tugend iſt, die bald nachzugeben, bald gerade anzu⸗ greifen weiß, ſondern Formen der Einen Willens ſchwaͤche, die weder den Zaum noch den Spokn au ge⸗ brauchen weiß.
15) Die Starke des Berit die die Tugend ‚ans | macht, kann ſich in mancherlei aͤußere Formen paſſen, ohne
die weſentliche Form der Tugend zu verlieren; kann ſich zuruͤckhalten, ohne furchtſam, kann ſchweigen, ohne bloͤd⸗ ſinnig zu ſeyn. Deßwegen tragen Furchtſamkeit und
— 313
ben Schein. Aub
16) Da die Stürte des Wenden d. die hene 5 Stärke des freien Willens iſt, "fo iſt Tugend der Frei⸗ heitsſtand und der Freiheitscharakter des menſchlichen Wil⸗ lens, fo wie das Laſter der Sklavenſtand des menſchlichen Willens ft, Tugend allein bildet in dem Reiche der Gei⸗ ſter Frei⸗ Herren. 2
12) Ebendeßwegen iſt Tugend das Gut, das allein dem Menſchen wider ſeinen Willen nicht entriſſen wer⸗ den kann; in dieſem großen Sinne ſagt Chryſoſtomus: nemo laeditur nisi a se ipso.
18) In ſofern die Tugend, als Willensstärke, Sinn⸗ lichkeit und Begierde und alle Kraͤfte in und an dem Menſchen, die unter der Macht des freien Willens ſtehen, dem heiligen Geſetze unterwirft: ſchaffet ſie im Menſchen Ordnung — Einheit im Mannigfaltigen, und dieſe Einheit iſt, da, wo ſie als ſolche erſcheint, Sch oͤnheit, ſchoͤner Schein. Die Tugend iſt alſo ſittliche Ord⸗ nung im Menſchen und hat Schoͤnheit. Tugend iſt alſo nicht nur in ihrem Innern Erhabenheit und Wuͤrde; ſie hat auch in ihren Aeußerungen eine Art von Anmuth, die ſich aus dem Innern uͤber das Aeußere des Tugend⸗ haften verbreitet. Die Schoͤnheit iſt alſo erſt im Tugend⸗ haften ein ganz wahres Symbol der Menſchenwuͤrde 109) Wie Tugend Ordnung iſt und Anmuth hat, ſo ſchaffet ſie Einigkeit, Einsſeyn des Menſchen mit ſich ſel⸗ ber — Einfalt im Innern, und Einfachheit (Kunſt⸗ Loft igkeit, unaffektirtes Weſen, Lee er im Aeußern, in Blick, Miene, Geberden.
20) Wie die Tugend Ordnung if und Annuth hat, ſo hat ſie, als erhaben uͤber die Bewegungen der Sinn⸗ lichkeit, auch Ruhe 0 Innern N ee im Aeußern zum Charakter.
5 21) Wenn alſo Jemand den tugendhaften Charakter
zeichnen wollte, und nach dem Leben treffen ſollte, ſo müßten Stärke und Schönheit, Erhabenheit und Anmuth, Freiheit und Ordnung, Thaͤtigkeit und 1 rg dem Leben gezeichnet werden koͤnne.
u
* Auguſtinus hat dieß Alles und wohl noch mehr in der Tugend erblickt. Er betrachtet fie in allen moglichen Beziehungen, be⸗ ſonders in Hinſicht auf Vernunft, Wille, Gemüth. In der er⸗
ſtern iſt ſie ihm die ſchoͤne Gleichheit des Lebens, ſt a m⸗ mend aus feiner. völligen Uebe reinſtimmung mit
dem Ausſpruche der. Vernunft; in der zweiten iſt fie ihm der gute Wille, in der dritten die Ordnung der Liebe. Virtus est aequalitas vitae rationi undique consen-
„Henne; virtus est bona e virtus est ordo amoris. 0 pi 1
B. Was if die Tugend? | Pia
110.
| Die PER in ihrer Beziehung zu Gott.
Tugend iſt Staͤrke des Vorſatzes, der die Erfuͤllung des heiligen Geſetzes umfaßt. Dieſe Vorſtellung iſt groß, aber nicht befriedigend; denn woher dieſe Staͤrke? wozu dieſe Staͤrke ? wie verhält ſie ſich zu Gott, zur Ewigkeit? Befriedigend fuͤr die Vernunft und fuͤr das Gemuͤth des Menſchen iſt die Vorſtellung von der Tugend, die das Weſen, die ganze mend der Tugend darlegt; die Vor⸗ ſtellung: Wenn irgend ein Menſch 1) die Natur tale: ſich, die Menſchenwelt außer ſich, und die Natur und Menſch⸗ heit in ſich auf Gott, als das Urſeyn und die Urquelle alles andern Seyns bezieht; wenn er 2) in dem ſoge⸗ nannten Gewiſſensgeſetze das Geſetz der hoͤchſten Heilig⸗ keit und Gerechtigkeit, und in ſeinem freien Willen die Kraft und den Beruf, Agent im Reiche Gottes zu ſeyn, anerkennt; wenn er 3) jenſeits dieſes Lebens ein zweites, ein unſterbliches, das eigentliche Leben ergreift, in dem ihm Vollendung hinterlegt und aufgeſpart iſt, und das er hienieden zu anticipiren da iſt; wenn er 4) das Goͤttliche und Ewige (Nr. 1. 2. 3.), das er erfaßt hat, feinem Vernunftblicke und ſeinem Gemuͤthe ſo vergegenwaͤrtiget, daß es ein Beſtimmungsgrund ſeines Wollens und Nicht⸗ wollens werden kann; wenn er 5) in dieſer Erfaſſung und Vergegenwärtigung des Goͤttlichen und Ewigen ſich uͤberlegen fuͤhlt uͤber das Ungöttliche und Zeitliche; wenn er 6) im ſiegenden Gefuͤhle ſeiner Ueberlegenheit wirklich
in —
den Entſchluß faßt, Gott, den Heiligen, und deſſen Wil⸗ len in jeder einzelnen Begebenheit des Lebens im Auge zu behalten, und die Vollbringung deſſelben ſein einziges Geſchaͤft ſeyn zu laſſen; wenn endlich 2) dieſer Entſchluß (durch die unzaͤhligen Verſuche, ihn zu erneuern, zu befe⸗ ſtigen, auszufuͤhren), ſo viel Leben, Beſtandheit und Herr⸗ ſchaft gewonnen hat, daß er zu jedem Unheiligen ſpricht: „du biſt nichts Heiliges,“ und in dieſer geheimen Geiſtes⸗ ſprache den klaren Willen des Heiligen wirklich vollbringt: dann hat ein ſolcher Menſch, und unter ſolchen Bedingungen nicht nur Tugend, ſondern die Tugend, welche ſie die religioͤſe nennen, und welche ich wohl auch ſo nennen kann, und noch lieber ſo nennen wuͤrde, wenn nicht die zweifache Mißdeutlichkeit in der Naͤhe laͤge: die erſte, als wenn es eine irreligioͤſe Tugend, und die zweite, als wenn es eine Tugend geben koͤnnte, die werth waͤre, die Tugend des Menſchen zu ſeyn, ohne Erfaſſung des Goͤtt⸗ lichen und Ewigen (ohne Religion).
Das iſt die Tugend, in ihrer weſentlichen Beziehung zu Gott betrachtet, und es bedarf keiner weitern Unter⸗ ſuchung oder Erweiſung, daß die Tugend, in ihrer weſent⸗ lichen Beziehung betrachtet, die wahre, die eigentliche Tugend ſey; denn es ſpringen die drei Charaktere, welche die Tugend in ihrer weſentlichen Beziehung zu Gott hat und haben muß, von ſelbſt in die Augen; dieſe drei Charaktere namlich: das Goͤttliche, das Ewige iſt 1) das Geſetz; das Göttliche und Ewige ift 2) der Beſtimmungsgrund; das Goͤtt⸗ liche, das Ewige iſt 3) der Endzweck der Tugend.
Du, Menſch! ſollſt in und außer dir nur Goͤttliches, Ewiges nachbilden: dieß iſt das Eine Tugendgef etz des Menſchen. Ich will das Goͤttliche, das Ewige in mir und außer mir nachbilden: dieß iſt die herrſchende Geſinnung, die das Eine Weſen der Tugend ausmacht. Ich will das Goͤttliche, das Ewige in und außer mir nachbilden, um das Göttliche, das Ewige zu verherrlichen: dieß iſt der Eine Endzweck des Tugend⸗ haften, der die Lauterkeit der Tugend ausmacht.
Die Tugend iſt alſo da, und nur da geboren, wo das Goͤttliche, das Ewige das Geſetz, die Maxime, der
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Endzweck ene inneren und eu. Ne en ge | n iſt. 5 F
Die Nat (die weſentlch teligide m, und deßpwe⸗ gen die Tugend zu heißen werth iſt), die Tugend ift alſo überwiegende Starke des Vorſatzes, die Geſete der höchſten Heiligkeit und Gerechtigkeit, die Gott ſelber iſt, als ſolche anzuerkennen und zu vollbringen, und eine Stärke des Vorſatzes aus und in dem ſeſten Blicke ‚gu das ‚Sorte und Ewige: che |
2 4248 Wan 4 1
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fee 15 erſtens!: die Mr gel, Weider die 40 Vorstellung CA) unbeantwortet laſſen mußte, die Frage: wie es der Menſch anzufangen habe, um ſtark zum Kam⸗ pfe für das heilige Geſetz zu werden; denn, wer das gie, das Zeitliche uͤberwinden will, muß das Goͤtt⸗ 855 das Ewige ergriffe en, und es zur Geiſteswaffe ge⸗
macht. haben. Kaͤmpfen für das heilige Geſetz heißt dem⸗ nach nichts anders, als das Göttliche, Ewige ergriffen haben, und durch die Uebermacht des Goͤttlichen, des Ewi⸗ gen, das Ungoͤttliche, das Zeitliche zurückſchlagen, u dem a, Ewigen unverruͤckt anzuhängen. a
Hiemit iſt zw eitens: auch die andere Ba was | 1995 Weſen der Tugend ſey, ſoviel als _gelöfet, Daß der Kampf wider das Boͤſe zum Lebenslaufe der Tugend gehoͤre, und den eigentlichen Status der Tugend hienie⸗ den, aber nicht ihr Weſen ausmache, ward ſchon erinnert.
Auch iſt es außer. Zweifel, daß, wo die Tugend geſetzt iſt, auch die drei Charaktere geſetzt ſeyn muͤſſen; die Nach⸗ bildung des Goͤttlichen, Ewigen als Gef, etz, als Bes ſtimmungsgrund, als Endzweck. Man wird alfo nicht umhin können, in dieſen drei Charakteren das We⸗ fen h r Tugend zu erſehen. Es koͤnnen alſo nur noch die b immteſten Aus druͤcke zur We des Tugend⸗ weſens geſuchet werden.
1) Wenn nun Jemand die benkarnteiten: Ausdrücke zur Bezeichnung des Tugendweſens nicht vergeblich ge⸗ ſucht haͤtte, ſo wuͤrden ſie vielleicht ſo ase .
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Die Tugend iſt I. eine Richtung des Willens, II. eine unwandelbare Richtung des Willens, III. eine unwandelbare Richtung des Willens zu den ewigen Ideen des Guten, IV. eine unwandelbare Richtung des Willens zu den ewigen Ideen des Guten, die in Gott ewig real ſind, und‘ im n Menſchen nal werden ſollen.
Dieſe Wilensrichtung iſt das Weſen ders Ben denn mit dieſer Willensrichtung iſt die Staͤrke des Ge⸗ muͤthes, die Staͤrke des Vorſatzes zur Erfuͤllung des Ge⸗ ſetzess zum Kampfe wider alle geſetzwidrige Neigungen, Spekulationen, Reize, Reizungen ꝛc. gegeben.
2) Wenn wir die ewigen Ideen des Guten, die in Gott ewig real ſind, die ewige Gerechtigkeit nennen duͤrf⸗ ten mit den Weiſen der Vorzeit: ſo koͤnnte das Tugend⸗ weſen am kuͤrzeſten und richtigſten ſo bezeichnet werden: die Tugend iſt die unwandelbare Richtung des menſchlichen Willens sn ewigen; a tigfeit.
3) Wenn wir endlich mit Wien Weiſen der Vor⸗
zeit (S. 70. VII.) in der ewigen Gerechtigkeit zugleich das ewige Geſetz (lex aeterna Dei) erblickten: ſo wuͤr⸗ den wir die Tugend ihrem Weſen nach ſo beſtimmen koͤn⸗ nen: die Tugend iſt die unwandelbare Richtung des Wil⸗ lens zu dem ewigen Geſetze, und die fortdauern⸗ de Uebereinſtimmung deſſelben Willens mit dem ewigen Geſetze.
4) Wenn das Weſen der PR in dießet Michtung 5
des Willens zu den ewigen Ideen des Guten beſteht: ſo iſt es klar, daß die Sittlichkeit nicht bloß be ſchraͤn⸗ kend ſeyn könne, d. i. lediglich nur die Ratuneieht, zu eſſen, zu trinken wi zu beſchränten habe. 8 Was iſt die Hriſtliche Tugend? 112. | Die igel im Sinne und Geiſte des Evangeliums.
Die lit. B. gegebene Darſtellung der Tugend, die fuͤr Vernunft und Gemuͤth ſo befriedigend iſt, in Hinſi cht
— 313 —
auf das Weſen und das Leben der Tugend, iſt in Hin⸗ ſicht auf die Geneſis der Tugend noch bedingt, alſo in ſofern noch nicht voͤllig befriedigend; denn es hieß ja: Wenn ein Menſch das Goͤttliche, Ewige ſo erfaßt und ſich ſo vergegenwaͤrtiget, daß es ſein Geſetz, ſeine Ma⸗ xime, ſein Endzweck wird, dann iſt die Tugend geboren. Dieß Wenn, dieſe Bedingung muß eben realiſirt werden, wenn die Geneſis und das Seyn der Tugend begriffen werden ſoll; denn das iſt gerade die Frage: Wie in einem ſinnlichen, an das Boͤſe hingegebenen Menſchen das Gute geboren werden könne? deren Loͤſung die bedeutendſte ſeyn muß.
Nun aber dieſe Frage loͤſet das goͤttliche, apoſtoliſche Chriſtenthum, ſowohl durch Lehre als Geſchichte auf das vollkommenſte; denn nach der Grundlehre und Geſchichte des Chriſtenthums iſt es Gott ſelber, der ſich
I. dem Geiſte des Menſchen als Wahrheit, dem Wil⸗ len und Gemuͤthe als Heiligkeit, Seligkeit, Schoͤnheit offenbart. Gott iſt es ſelber, der | |
II. das heilige Gefeß in das Gemuͤth des erſten Men⸗ ſchen ſchrieb, und noch jetzt in aller Menſchen W zu erkennen giebt. Gott iſt es ſelber, der
III. dem Menſchen, der, von Gott getrennt, in der Trennung von Gott die Hölle findet, den lebendigen Trieb, die Trennung aufzuheben und zu ihm zuruͤczukehren, in die Seele legt. Gott iſt es ſelber, der
IV. jeden Suͤnder, der ſich ihm im Glauben nahet, und in Reue und Zuverſicht unbedingten Gehorſam ange⸗ lobet, wirklich gerecht macht. Gott iſt es ſelber, der V. die Liebe als das ewige Leben, durch den Geiſt Chriſti in jedes Chriſtenherz ausgießt.
Alle Unterſuchungen uͤber die Geneſis der Wed wer⸗ den alſo durch die Lehre und die Geſchichte des Chriſten⸗
thums vollendet, wie es die Darſtellung der chriſtlichen Tugend darthun wird.
Die Tugend, die werth iſt, die Tugend zu heißen, und die man zur Bezeichnung ihres Unterſchiedes von der bloßen Sittlichkeit die religioͤſe nennen maß heißt die chriſtliche Tugend, in ſofern ſie in den Juͤngern und
Freunden Chrifti iſt, und die uͤberwiegende Starke des Vorſatzes iſt, nach der Lehre Chriſti, nach dem Beiſpiele Chriſti, nach dem Geiſte Chriſti und mit dem Geiſte Chriſti die Geſetze der hoͤchſten Heiligkeit und Gerechtigkeit zu er fuͤllen.
1) Wo demnach die chriſtliche Tugend iſt, da iſt das Goͤttliche, Ewige durch Gott, durch den Geiſt Gottes, durch den Geiſt Chriſti das Geſetz, die Maxime, der End⸗ zweck des innern und aͤußern Menſchenlebens geworden. Die chriſtliche Tugend iſt alſo jene himmliſche Einheit, die die uͤberwiegende Gemuͤthsſtaͤrke zur Erfuͤllung des ganzen Geſetzes (A) und das Leben der Religion (B) in ſich faßt, und von Gott, von dem Geiſte Gottes, von dem Geiſte Chriſti abſtammt (C).
2) Die chriſtliche Tugend vereiniget alſo in ſich I. das ethiſche (die Staͤrke des Vorſatzes), II. das reli⸗ gioͤſe (die Richtung des Willens zu den ewigen Ideen), III. das göttliche Moment . Richtung des Willens zu Gott durch Gott).
3) Die chriſtliche Tugend iſt alſo die unwandelbare Richtung des menſchlichen Willens z u Gott, um Gottes wegen, und durch Gott. Sie iſt a) eine Richtung zu Gott; denn wie ſollte der Menſch Goͤttliches in ſich⸗ und außer fi ſich nachbilden koͤnnen, ohne dieſe unwandel⸗ bare Richtung ſeines Willens zu Gott? Sie iſt b) eine Richtung zu Gott um Gottes wegen; denn, ſobald ſie durch Nachbildung des Goͤttlichen etwas anders will, als das Goͤttliche verklaͤren: ſo wird ihr Auge truͤbe, ihr Herz befleckt. Sie iſt o) eine Richtung zu Gott durch Gott; denn, wie ſollte der von Gott getrennte und der durch die Trennung gelaͤhmte Wille die gerade Richtung zu Gott wieder gewinnen und ſie ſtets behaupten koͤnnen, wenn Gott den Gefallenen nicht aufrichtete, Gott den Ge⸗ laͤhmten nicht beweglich machte, Gott den Getrennten nicht zu ſich zuruͤckfuͤhrte? Gott iſt alſo das bewegende Prin⸗ zip fuͤr den Menſchen, daß er das Goͤttliche nachbilden wolle; Gott iſt das Muſterbild des Tugendhaften, daß er es nachbilden koͤnne; Gott iſt der Ruhepunkt fuͤr den
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Menfchen, daß er bei der Nachbildung des Goͤttlichen nicht in ſich, nicht in der Nachbildung des Goͤttlichen 4 e Werke, fondern nur in Gott ruhe.
4) Die chriſtliche Tugend iſt alſo die Richtung des 8 green in uns zu Gott, um Gottes wegen und durch Gott. Denn der menſchliche Wille kann nur als Freithaͤtigkeit jene Richtung zu Gott, die ſeine Tugend ausmacht, gewinnen und behaupten. Die Rich⸗ tung des menſchlichen Willens zu Gott, um Gottes we⸗ gen und durch Gott — ſchließt alſo. die ve e des Wenschen nicht aus, ſondern ein. 1
* Jetzt iſt die Vorſtellung von der Tugend für ehe und Ge⸗ müth völlig befriedigend; denn nun ſagt ſie nicht nur das We⸗ ſen und die Energie, ſondern auch die Geneſis der Tu⸗ gend aus. Dieſe Tugend, die chriſtliche nämlich, ſoll nun zuerſt als ein Ganzes, dann nach ihren einzelnen, eigenthüm⸗ ne eee e e werben. 2
* 2
113:
Die chriſtliche Tugend als ein Ganter g
1) Nachdem Chriſtus die gebietende Liebe zu Gott als das erſte und die Liebe des Naͤchſten, der Selbſtliebe gleich, als das zweite, dem erſten an Sinn und Wurde gleiche Gebote aufgeſtellt hat cl. Abfchnitt) : ſo it, es au⸗ ßer allem Streite, daß die. chxiſtli che zugen. nichts anders ſey, als die uͤberwie gende St ke d des orſatzes in dem Junger Chriſti, na ch der eh nach dem Beiſpiele und nach dem Geiſte und mit dem Geiſte Chriſti Gott aus allen Kräf ten ꝛc. und den chen wie ſich, falk zu in a en), Da die Liebe, die . uſpr derts * * "Grmbgefege: der chriſtlichen Moral), hoͤchſtes, vernuͤnfti⸗ ges Wohlgefallen an Gott als dem Urſchoͤnen, und dieß Wohlgefallen in Hinſicht auf die Heiligkeit Gottes hoͤchſte Verehrung; in Hinſicht auf die ur⸗ und allvoll⸗ kommene Liebe, hoͤchſte Dankbarkeit und Zuverſicht 3 in Hinſicht auf . und Wührungen Gottes — hoͤchſte
Unter⸗
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Unterwitrfigfeit, Gehorſam und Ergebung; in Hinſicht auf Chriſtus — hoͤchſte Liebe, Verehrung, Dankbarkeit, Zuverſicht, Gehorſam, Ergebung gegen Ihn als den ein⸗ gebornen Sohn Gottes und den Erloͤſer der Menſchen; endlich in Hinſicht auf unſere vernuͤnftigen Mitgeſchoͤpfe — thaͤtige Menſchen⸗ und Naͤchſtenliebe iſt, ſo liegt es au⸗ ßer allem Zweifel, daß die chriſtliche Tugend, ſo beſtimmt, eben dieſes gebietende Wohlgefallen an dem
Urſchoͤnen ſey.
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3) Da die Liebe, die Chriſtus fordert, eine anfüng⸗ liche Vereinigung des Menſchen mit Gott, von dem uns die Suͤnde getrennt hat, und zugleich ein lebendiges Seh⸗ nen nach vollendeter Vereinigung mit Gott iſt: ſo leuch⸗ tet es ein, daß die chriſtliche Tugend der leben⸗ dige, gebietende Wiedervereinigungs-Trieb ſey, der Geiſt, Willen und Gemuͤth mit Gott hienieden ſchon vereiniget, und ſich nach voll⸗ endeter Vereinigung ausſtreckt, bis ſie im Lande der Vollendung mit» vollendet ſeyn wird.
4) Da die heilige Liebe, die Chriſtus fordert, die Er⸗ fuͤllung des ganzen Geſetzes iſt, und eine ‚Erfüllung, die Gott zum bewegenden Prinzip, zum leitenden Muſterbilde, zum ruheſchaffenden Zielpunkte hat: ſo iſt ſie (ſo wie die Selbſtſucht das Boͤſe und alles Boͤſe iſt), als die heilige
Liebe eben deßhalb das Gute und alles Gute. Da
nun Alles, was von der heiligen Liebe gilt, auch von der chriſtlichen Tugend gilt und gelten muß, indem Liebe und
Tugend nur zweierlei Ausdruͤcke der Einen und derſelben
Sache ſind: ſo faßt die chriſtliche Tugend das Gu⸗ te und alles Gute nothwendig in ſich.
5) Da die heilige Liebe ein Sehnen nach vollendeter
Vereinigung mit dem Urſchoͤnen iſt, und die vollendete
Vereinigung mit dem Urſchoͤnen die hoͤchſte Wonne ge währen muß: fo iſt es klar, daß die vollendete heilige Liebe und die vollendete Seligkeit im Lande der Vollen⸗ dung ganz Eines und daſſelbe ſeyen; daß alſo die hei⸗ lige Liebe, ſo wie ſie die hoͤchſte Religion iſt, als Wie⸗ J. M. b. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. gte Aufl. 21
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dervereinigung mit Gott, alſo auch als vollendete Liebe, die hoͤchſte Seligkeit ſey, daß alſo die chriſtliche Tu— gend in ihrer Vollendung gedacht, zugleich die hoch ſte Liebe, die hoͤchſte Religion und die hoͤch⸗ ſte Seligkeit ſey.
* Unſere heiligen Schriften haben aber die chriſtliche Tugend nicht nur als Ein Ganzes (als die heilige Liebe) dargeſtellt; ſie haben auch die einzelnen Merkmale der Tugend in ihren man⸗ nigfaltigen Veziehungen ſo muſterhaft gezeichnet, daß das Eine
Weſen in jedem Merkmale, das Ganze in jedem Theile durch⸗ ſcheinet. Um nun die Würde der chriſtlichen Tugend noch an⸗ ſchaulicher zu machen, habe ich ihre einzelnen Merkmale, wie ſie in der Schrift zerſtreut vorkommen, geſammelt, geord⸗ net, und mit den paſſendſten Schriftſtellen belegt.
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Die chriſtliche Tugend nach ihren einzelnen Merk⸗ malen dargeſtellt.
I. Die chriſtliche Tugend wird in den heiligen Schrif⸗ ten als Geſinnung, als ein inneres, permanen⸗ tes, alle einzelne Gedanken, Wuͤnſche, Ent⸗ ſchluͤſſe regierendes, frei beſtimmendes Leben, betrachtet. Als Geſin nung ſchließt fie 1) alles ſitt⸗ lich Gute als Gegenſtand ihrer Achtung, Wahl und Thaͤ⸗ tigkeit ein, und alles Boͤſe davon aus. Paulus ſtellt ſie dar, wie fie alles Gute einſchließt (Phil. IV. 8.), und Jakobus, wie fie alles Boͤſe ausſchließt. Jak. II. 11— 12.) Als Geſinnung unterwirft fie 2) den ganzen Menſchen mit allen ſeinen Gedanken, Begierden, Worten, Handlungen dem heiligen Geſetze; für jedes muͤ⸗ ßige Wort (Matth. XII. 37.), fuͤr Alles, was aus dem guten oder boͤſen Schatze des Herzens hervorkommt (Matth. XII. 34—36.); für jeden Gebrauch des Leibes, der ihn zum Werkzeuge der Suͤnde oder der Gerechtig⸗ keit macht (Roͤm. VI. 12—19.), fo wie für jeden Ge brauch der uͤbrigen erſchaffenen Dinge ſind wir dem hoͤch⸗ ſten Geſetzgeber verantwortlich. Deßhalb ſind wir ange⸗ wieſen, daß wir Geiſt, Leib und Seele heiligen und auf
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den Tag des Herrn unbefleckt bewahren ſollen. (1 Theſſ. V. 23.) Als Geſinnung unterwirft ſie 3) den Men⸗ ſchen, nach allen ſeinen Verhaͤltniſſen, den Freien und den Sklaven, den Juͤngling und die Jungfrau, den Mann und das Weib, die Aeltern und die Kinder, die Herren und die Diener (1 Kor. VII. 20. 24. Epheſ. V. 22. 23 VI. 1. 9.), dem heiligen Geſetze. Als Geſinnung hat ſie 4) keine Triebfeder als die lauterſte, keinen Zweck, als zur Ausfuͤhrung des ewigen Rathſchluſſes, zur Erfüllung des heiligen Willens, und zur Herbei⸗ fuͤhrung des ſeligen Reiches Gottes mitzuwirken. (Matth. V. 8. VI. 9. 10.) Als Geſinnung tritt fie endlich nie aus der Waffenruͤſtung, um von den Rei⸗ zen des Boͤſen nicht uͤberfluͤgelt oder uͤberwunden zu wer⸗ den. (Matth. XXVL 41.)
II. Die chriſtliche Tugend wird in den heiligen Sch ten als inneres Leben betrachtet, aus dem die aͤußern guten Werke, als Fruͤchte der innern guten Geſinnung von ſelbſt hervorgehen. Sie iſt der gute Baum, der lauter gute Fruͤchte bringt, der gute Schatz, aus dem nur Gutes hervorkommt. (Luk. VI. 43 — 45.) Und, wenn Paulus einen lebendigen Glauben fordert, der durch die Liebe wirkſam iſt (Gal. V. 6.), ſo verdammt Jakobus mit Recht den todten Glauben (Jak. II. 26.0, der deßhalb, weil er ohne die Werke, die ſein Leben be⸗ weiſen ſollten, fuͤr todt gehalten werden muß, und wirk⸗ lich todt iſt.
III. Die chriſtliche Tugend wird in 11 heiligen Schriften durchaus in Beziehung auf Gott betrach⸗ tet, und in ſolcher Beziehung heißt ſie 1) kindlicher Sinn gegen Gott, der nur Vater, Vater ruft (Roͤm. VIII. 15. 16.); DI Gottesverehrung, unbefleckte Religion, die Wittwen und Waiſen beſucht, und ſich vor den Verderbniſſen der Welt rein bewahret (Jak. J. 26. 27.); 3) Gehorſam gegen Gott, gegen Chriſtus aus Liebe zu Gott, zu Chriſtus (1 Joh. V. 2. 3. Joh. XIV. 23. Matth. VII. 21.); 4) Gottſeligkeit, wel⸗ che die Verheißung dieſes und des kommenden Lebens hat
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a Tim. IV. 3.); 5) Nachahmung Gottes und Chriſti Euk. VI. 36. Phil. II. 5— 15.); 6) Gottes⸗ dienſt, nicht Augendienſt, um Menſchen zu gefallen (Koloſſ. III. 22. 24.); 2) Annäherung zu Gott und Vereinigung mit Gott: Nahet euch zu Gott, und er wird ſich zu euch nahen (Jak. IV. 3.); wer dem Herrn anhaͤngt, wird ein Geiſt mit ihm. (1 Kor. VI. 12.)
IV. Die chriſtliche Tugend wird in den heiligen Schrif⸗ ten nicht nur auf Gott als ihren Gegenſtand, ſondern auch als ihren Urſprung bezogen, und in dieſer Hin⸗ ſicht heißt ſie 1) Frucht des heiligen Geiſtes, Inbegriff der Geiſtesfruͤchte (Gal. V. 22.); 2) Sinn und Leben nach dem Geiſte, der in den Chriſten als Geiſtestempeln wohnt, eigentlich der Geiſt Chriſti iſt, und die Kinder Gottes treibt (Roͤm. VIII. 9. 14.); 3) Leben Gottes in uns, Leben Chriſti in uns, Ritas in uns. (Gal. II. 20.) |
Aber, wie kann die Tugend Stärke aus menſchlicher Selbſtbeſtimmung ſeyn, wenn ſie die Frucht des heiligen Geiſtes iſt? So fragt immer und immer der im Cau- salnexus befangene Verſtand. Vielleicht kann ihn nach⸗ ſtehendes Gleichniß aus ſeiner Gefangenſchaft erloͤſen:
Die Frucht des Baumes (das Obſt, das auf deinem Tiſche liegt), ward zur Reife gebracht durch die frucht⸗ bringenden Kräfte des Baumes. Aber, wenn der Him⸗ mel den Regen, die Sonne ihre Waͤrme, die Luft ihre Einwirkungen dem Baume verſagten, was wuͤrden die Kräfte des Baumes ausrichten koͤnnen? Liegen fie! denn nicht ſelber, ſo lange der Winterfroſt anhaͤlt, im Schlum⸗ mer, ſind nicht die Saͤfte des Baumes von Kaͤlte wie gebunden? Was wecket nun die ſchlafenden Kräfte auf, was bringt die ſtockenden Saͤfte in Bewegung? Was anders, als der Fruͤhling mit dem waͤrmenden Sonnen⸗ ſtrahle, mit dem befruchtenden Regen, mit dem beleben⸗ den Lufthauche? Gerade ſo verhaͤlt es ſich mit dem, was Paulus die Frucht des Geiſtes und die gemeine Sprache Tugend nennt. Der gute Wille des Menſchen iſt aller dings die Tugend ſelber; aber was beweget den ſchlafen⸗
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den Willen, daß er ſich aufmache und gegen das Boͤſe tapfer wehre? Was reiniget den boͤſen Willen, daß er rein, was ſtaͤrket den ſchwachen Willen, daß er ſtark werde? Der Gute iſt ſich ſelber Geſetz, beſtimmt ſich ſelber zum Guten: aber was weckte dieß ſein Selbſtbe⸗ ſtimmungsvermoͤgen, was gab ihm dieſe Reinheit und Ener⸗ gie, was anders als der Geiſt Gottes mit ſeinem erwaͤr— menden Strahle, mit ſeinem befruchtenden Regen, mit ſei⸗ nem belebenden Hauche? Wie die Fruͤchte der Erde ihre Sonne, ſo haben die Fruͤchte des Menſchen ihre Sonne. Und, wie die Sonnenwaͤrme die Kräfte des Baumes nicht lähmt, fondern bandenlos macht und belebet, fo laͤhmt der Geiſt Gottes die Freithaͤtigkeit des Menſchen nicht, fondern belebet fie vielmehr zu allem Guten, hebt die Selbſtbeſtimmung nicht auf, ſondern wecket, her, er⸗ hoͤhet ſie.
V. Die Tugend wird in den heiligen Schriften auch nach ihrer Geneſis aus dem Glauben vorgeſtellt, als Glaube, thaͤtig in Liebe. (Gal. V. 6.)
»Da der Glaube der Chriſten Gott in Chriſtus, und in Chri⸗ ſtus vorzüglich die Liebe, die ſich für die Menſchheit opferte, zu ſeinem Augenmerk hat, ſo iſt ſehr begreiflich, daß die Liebe der Chriſten, welche die chriſtliche Tugend ausmacht, vorzüglich von der Liebe Chriſti, der ſich für die Menſchheit opferte, angezündet werde. Deßhalb heißt es (1 Petr. II. 9.): Ihr ſeyd das Volk, das ſich der Herr erwarb, daß ihr verkünden ſollet die Kräfte deſſen, der euch von der Finſterniß zu dem wunderbaren Licht berufen hat. In dem Sinne könnte man ſagen: Die chriſtliche Tu⸗ gend iſt der Glaube an die Liebe Chriſti, thätig durch die Liebe gegen Gott und die Menſchen.
Vl. So wie die chriſtliche Tugend in ihrer Geneſis nichts anders iſt, als Glaube, durch Liebe thaͤtig, ſo ſin⸗ det ſie in Allem, was den Glauben belebet, auch ein Belebungsmittel fuͤr ſich. Sie belebet ſich, wie der Glau⸗ be, 1) durch den Umgang des Geiſtes und Herzens mit Gott und Chriſtus, durch das eigentliche Gebet: Betet ohne Unterlaß (1 Theſſ. V. 17.); 2) durch Geiſtnaͤhrende Betrachtung der Lehre des Evangeliums (1 Petr. II. 2.93
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3) durch feſten Hinblick auf das Beiſpiel Jeſu und gu⸗ ter, weiſer, heiliger Menſchen von Abel bis auf die jetzt lebenden beſſern Menſchen (Hebr. XII. 1 — 3. Jak. V. 10 — 11); 4) durch weiſen Gebrauch, der ſich vom Leis den machen laͤßt, indem die Kraft Gottes durch die Ohn⸗ macht verherrlicht wird (2 Kor. XII. 9— 10); 5) durch Umgang mit guten Menſchen, mit frommen Chriſten, und beſonders durch Mitgenuß der oͤffentlichen Gottesverehrung cHebr. X. 23—25.); durch fortſchreitende Uebung des Geiſtes in Zuverſicht auf Gott und in Furcht vor ſich ſelber und in beharrender Treue, die Alles pruͤft und Gutes behaͤlt (Phil. II. 12. 13. 1 1 Theſſ. V. 21—25. Hebr. XIII. 21.)
VII. Die chriſtliche Tugend wird in unſern heiligen Schriften als wahrer Heroismus in dreifacher Hin⸗ ſicht, in Hinſicht auf den ungemein en Aufwand von Muth und Kraft, den ſie zu machen, in Hinſicht auf die großen Opfer, die ſie zu bringen hat, und in Hinſicht auf die Ausdauer, die dem Vorſatze nicht fehlen darf, d. h. in Hinſicht auf Intenſion, Extenſion und Proten⸗ ſion geſchildert.
Chriſtus macht dieſen Heroismus zum Siegel ſei⸗ ner Juͤngerſchaft (Matth. X. 32 — 39. XVI. 24. Luk. IX. 23.); die Apoſtel Jeſu beleben ihn (Hebr. XII. 1— 14. 1 Petr. IV. 12. V. 8. 9.); Paulus malet ihn befon- ders in feiner ganzen Ruͤſtung aus (Epheſ. VI. 10— 12), und ſtellt ihn dar als Glaubenskampf, der bis zur Erlangung der Krone ausharrt. (1 Tim. VI. 12. 2 Tim. II. 1— 15.)
VIII. Die chriſtliche Tugend iſt nach der Vorſtellung unſerer heiligen Schriften 1) mehr ein ſtaͤtiges Wachſen im Guten, als ein geſchloſſenes Reifſeyn, indem die Fruͤchte der Gerechtigkeit fortreifen ſollen, ſo lange der Menſch lebt (Epheſ. I. 1922. Koloſſ. IJ. 9—11.), und Chriſtus im Herzen durch den Glauben wohnend, das Wachsthum der Liebe nach der Hoͤhe und Tiefe, nach der Breite und Länge fördert (Epheſ. III. 14. 20.); 2) mehr ein An nähern zum Ziele, als ein Ziel⸗Errei⸗
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chen, mehr ein ſtaͤtiges Vorwaͤrtsringen, als ein wirk⸗ liches Ergreifen des Preiſes (Phil. III. 11. 15.), und 3) mehr eine fortſchreitende Reinigung, als ein Reinſeyn, mehr ein Streben nach Heiligung, als nach Heiligſeyn (Hebr. XII. 14.), mehr ein demuͤthiges Bitten um Nachlaſſung der Schulden, als ein ſchuldenfreies Wandeln vor dem Herrn.
IX. Die chriſtliche Tugend ſteht nah der Vorſtellung der heiligen Schriften in trauter Verbindung mit dem Seligkeitstriebez denn ſſe iſt zunaͤchſt verknuͤpft mit dem Zeugniſſe des guten Gewiſſens (2 Kor. I. 12.) mit dem Zeugniſſe des heiligen Geiſtes, daß wir Gottes Kinder ſind, und Gottes Erben ſeyn werden (Roͤm. VIII. 16. 17.); mit dem Zeugniſſe deſſelben Geiſtes, daß den Gottliebenden alle Dinge zum Beſten dienen muͤſſen (Roͤm. VIII. 28.), daß alfo die guten Kinder des Vaters un⸗ ter der Aufſicht, Leitung und Regierung der allmaͤchtigen Liebe ſtehen. Nun aber die Verknuͤpfung der Tugend mit dieſem dreifachen Zeugniſſe macht ſie zur Quelle in⸗ nerer Zufriedenheit, getroſter Ausſicht, ruhiger Erwartung. Weil die chriſtliche Tugend Liebe gegen Gott iſt, ſo bringt ſie 2) nach bezaͤhmten ſinnlichen Neigungen, ein uͤberwiegendes Frohſeyn des Geiſtes mit, das all⸗ maͤlig ein uͤberwiegendes Frohſeyn der Seele wird, und auch dem Leibe eine Art Munterkeit ertheilet, die der todten Pflichtachtung fremde bleibt. Weil die chriſtliche Tugend Liebe gegen die Menſchheit iſt, ſo ge⸗ waͤhrt ſie 5) in dem gebildeten Chriſten den Genuß der reinen Freundſchaft, der lautern Bruͤderliebe, welcher als die hundertfaͤltige Wiedergabe fuͤr Alles, was wir im Dienſte der Wahrheit geopfert haben, ſchon in dieſem Leben ſich einfindet. Die chriſtliche Tugend iſt alſo von dem ſauerſehenden Stoicismus der Vorzeit, der mit ſeinen verbiſſenen Lippen die geheime Unluſt uͤber die verſchmaͤhte Luſt nicht genug verbergen konnte, oder was eines iſt, von dem erzwungenen Ras tionalismus unſerer Tage, der ohne Aufſicht zu Gott und ohne Ausſicht auf die Ewigkeit, die Neigung der Pflichtachtung ſo muͤhſam als ungern unterwerfen
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wollte und nicht unterwerfen kounte, gerade ſo fern, als
von dem Epikureismus der Mehrzahl, der keinen Gott als den Genuß kennt, und dem nichts heilig iſt, als die unhei⸗ lige Luſt. Sie, die chriſtliche Tugend, behauptet ihre wahr⸗ haft koͤnigliche Mitte zwiſchen einem Wohlſeyn, das tu⸗ gend⸗ und gottlos, und zwiſchen einem Gutſeyn, das freude» und hoffnungslos iſt; fie iſt Liebe mit Freude und Zuverſicht, die muthvoll die unedlen Freuden ver⸗ ſchmaͤhet, und in dem Zeugniſſe des guten Gewiſſens, und in dem Vorgenuſſe der Ewigkeit den ſchoͤnſten Erſatz dafuͤr hat. Die chriſtliche Tugend iſt alſo nicht bloß ernſt als Pflichterfuͤllung, fie iſt auch mild als Liebe, freundlich als Tröfterin im Leiden, und lieblich als Mutter der reinſten Freude. Die chriſtliche Tugendlehre ſetzt alſo nicht die Pflicht der Neigung, nicht die Tugend der Freude, nicht den Trieb nach Gutſeyn dem Triebe nach Wohlſeyn entgegen, ſondern nur die ſuͤndlichen, ge⸗ ſetzloſen, ungebaͤndigten Neigungen ſetzt ſie der Pflicht, nur die ſuͤndlichen Freuden der Tugend, nur den unge⸗ ordneten Trieb nach Wohlſeyn dem Naeh nach Gutſeyn entgegen.
Die chriſtliche Tugend haͤngt alſo a der Vorſtel⸗ lung unſerer heiligen Schriften), ruͤckwaͤrts mit dem Glau⸗ ben (Nr. V.), vorwaͤrts mit der Freude (Nr IX.) zuſam⸗ men, und die chriſtliche Tugendlehre iſt nur ein Mittel⸗ glied, das ruͤckwaͤrts in die Glaubenslehre, vorwaͤrts in die
Seligkeitslehre eingreift, und recht verſtanden, nicht bloß eingreift, ſondern ſie ſelber iſt.
EX. Die chriſtliche Tugend iſt nach der Vorſtelung der heiligen Schriften einig und mannigfaltig, einig als Entſchluß, das ganze Geſetz zu erfüllen (Jak. II. 8— 13.) und als Liebe, die das ganze Geſetz wirklich erfuͤl⸗ let (Roͤm. XIII. 3 — 10.); mannigfaltig in Aeußerung des Entſchluſſes, in Offenbarung der Liebe a) nach der allgemeinſten Verſchiedenheit der Gegenſtaͤnde,
auf die ſich unſere Pflichten beziehen; b) nach der ſpe⸗ cifiſchen Verſchiedenheit des Berufes; o) nach der individuellen Beſchaffenheit des Anlaffes, des Beduͤrf⸗
a niſſes, des Kraftvermoͤgens. Ale alle beſondern San
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Manifeſtationen der Einen Univerſalſuͤnde, der Einen Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit ſind, alſo ſind alle beſonderen Tugenden Mani⸗ feſtationen der Einen wegn der Einen Liebe Gottes.
Das Eine der chriſtlchen Tugend hat ebene am ſchoͤnſten dargeſtellt, denn der Juͤnger der Liebe mußte wohl der beſte Maler der Liebe ſeyn. Er hat in Chri⸗ ſtus das Ebenbild der Liebe geſehen, aus ſeinem Her⸗ zen die Farben genommen, und im erſten Briefe ſie, die Liebe ſelber, dargeſtellt. Das Mannigfaltige hat Petrus im zweiten Briefe (J. 35 — 10.) unuͤbertrefflich ge⸗ ſchildert: „Wendet allen euren Fleiß darauf, daß ihr (wie ein guter Baum ſeine Fruͤchte) darreichet mit eurem Glauben den Heldenmuth, mit dem Heldenmuthe die Weis⸗ heit, mit der Weisheit die Enthaltſamkeit, mit der Ent⸗ haltſamkeit die Geduld, mit der Geduld die Gottſeligkeit, mit der Gottſeligkeit die Bruͤderliebe, mit der Bruͤderliebe die allgemeine Menſchenliebe; denn, wenn dieſe Tugen⸗ den in euch ſind, und immer wachſen, ſo werden ſie euch als Menſchen darſtellen, die bei der Erkenntniß unſers Herrn Jeſu Chriſti nicht muͤßig und unfruchtbar geblieben ſind. Wer aber dieſe Tugenden nicht hat, der iſt blind, und tappet nur im Finſtern, und hat vergeſſen, daß er von ſeinen vorigen Suͤnden rein geworden iſt.“
Selbſt die Stellung des Mannigfaltigen, die Petrus hier aus ſeinem innerſten Selbſtbewußtſeyn nahm, verdient eine beſondere Aufmerkſamkeit. Tugend iſt ihm a) in ih⸗ rer Grundlage Glaube, Erfaſſung des Goͤttlichen, des Ewigen; b) in ihrer weſentlichen Eigenſchaft Geiſtes⸗ ſtaͤrke, Heldenmuth; e in Hinſicht auf den Endzweck, auf den ſie Alles bezieht, Weisheit; d) in ihren Vers haͤltniſſen zum Angenehmen und Unangenehmen Enthalt⸗ ſamkeit und Geduld; e) in ihrer Beziehung auf die Gottheit und Menſchheit Gottſeligkeit, Bruͤderliebe, Menſchenliebe. Auch Paulus weiß dieſe Mannigfal⸗ tigkeit faßlich darzuſtellen. (Roͤm. XII. XIII.)
XI. Die chriſtliche Tugend hat nach der Vorſtellung der heiligen Schriften einen innern Werth, der ſelbſt
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im Urtheile Gottes gilt, und dem in bet Ewigkes eine Belohnung hinterlegt iſt.
Die Tugend hat a) einen innern Werth, denn ſie iſt das Gut, dem die allzermalmende Zeit nichts an⸗ haben kann (Matth. VI. 19. 20.); dem alle anderen Schaͤtze nachgeſetzt und gegen das die koͤſtlichſten Dinge als Aus⸗ kehricht angeſehen werden ſollen (Matth. XIII. 44. Phil. III. 8. 9.); das den hoͤchſten Gewinn für dieſes und das beſte Fundament fuͤr das ewige Leben ausmacht (1 Tim. VI. 6. 17. 18. 19.); das den Charakter des Ewig⸗ bleibenden, und in Hinſicht auf die jetzige Erkenntniß, Glaube, Weiſſagung ꝛc. den Charakter des Alleinblei- benden hat. (1 Joh. II. 17. 1 Kor. XIII. 8. 9.) Die Tugend hat b) einen Werth, der im Auge Gottes gilt; denn ſie iſt der Schmuck des verborgenen Herzens⸗ menſchen, des ſtillen, ſanften Sinnes, der bei Gott hohen Werth hat (1 Petr. III. 3. 4.), und die Quelle der Zus verſicht und Freudigkeit, die vor dem Herrn, wenn er als Richter erſcheint, nicht zu Schanden wird. (1 Joh. II. 28.) Die chriſtliche Tugend hat c) einen innern Werth, dem Chriſtus als Lehrer und Geſetzgeber eine eigent⸗ liche Belohnung verheißen und hinterlegt hat. (Matth. VI. 1 — 18. Luk. VI. 35. VII. 23. XIV. 13 — 1403 und dem Chriſtus als Weltrichter die verheißene und hinterlegte Belohnung zutheilen wird, indem er alle Dien⸗ ſte der Liebe, die man ſeinen Bruͤdern erwieſen haben wird, ſo anſieht und ſo vergilt, als wenn ſie ihm ſelber erwieſen wären. (Matth. XXV. 34— 40.)
* Diefer Werth der Chriſtentugend, der ein innerer, ein im Auge Gottes geltender, und ein ſolcher Werth iſt, dem Chri⸗ ſtus die Belohnung verheißen, verpfändet, hinterlegt hat, heißt
in der Schul⸗ und Kirchenſprache Meritum, Verdienſt, ein Ausdruck, vor dem fromme, unerleuchtete Gemüther zurück⸗ beben, weil ſie wähnen, es werde der Gnade und dem Ver⸗ dienſte Chriſti dadurch etwas entzogen. Aber ſie wähnen es nur, denn der Werth der Tugend kommt ja ſelbſt aus Gott, aus der Gnade, aus dem Verdienſte Chriſti. Alſo nicht die Wahrheit, daß die guten Handlungen einen innern, im Auge Gottes geltenden und für die ewige Belohnung entſcheidenden
Werth haben, entkräftet die Gnade, das Verdienſt Chriſti, ſon⸗ dern der Stolz der Menſchen, der die Werke der Selbſtſucht für Tugend hält, oder das Vertrauen der Schwachen auf das Ich in ihren Werken, da doch das Vertrauen auf Gott allein ruhen ſollte, ſetzet die Gnade, das Verdienſt Chriſti in den Schatten. (Vergl. die zweite Anmerkung zu $. 131.)
XII. Die chriſtliche Tugend hat neben dem innern Werthe auch einen aͤußern, und der aͤußere beſteht in dem, was die gute Geſinnung außer uns theils durch ſich wirkt, theils durch dieſe Wirkung veranlaßt. Ein vol⸗ les, eingedruͤcktes, geruͤtteltes und uͤbergehendes Maß wird man euch in euren Schooß ſchuͤtten; denn mit welchem Maße ihr ausmeſſet, mit demſelben wird man euch wieder einmeſſen. (Luk. VI. 32— 38.)
XIII. Die chriſtliche Tugend hat nach der Vorſtelung der heiligen Schriften nicht nur in mehreren Menſchen, ſondern in demſelben Menſchen, in verſchiedenen Zeit⸗ abſchnitten eine verſchiedene Groͤße, die durch die Be⸗ ſchaffenheit des innerſten Lebens und durch Beſchaf⸗ fenheit der aͤußern Umſtaͤnde, die mehr oder weniger Hinderniſſe und Beſchwerniſſe entgegenſetzen, beſtimmt wird.
Was das innerſte Leben gottgefaͤllig macht, iſt die Lauterkeit (Phil. I. 10.), die Wiltig en g Kor. IX. 2.), und die Feſtigkeit. (Jak. I. 25.) Je law terer, je williger, je feſter die Geſinnung, deſto groͤßer die Tugend; je weniger Einfluß der Trieb nach eigener Ehre, Luſt, Habe auf die Geſinnung gewinnen kann, deſto lau⸗ terer iſt ſie; je mehr Aufopferung, deſto williger, wie bei Chriſtus (Matth. XXVI. 39.); je anhaltender, deſto feſter; deßwegen ermahnet uns Paulus, daß wir mann⸗ haft im Glauben und im Gutesthun unermuͤdlich ſeyen. (1 Kor. XVI. 13. Gal. VI. 9.)
Die Beſchaffenheit der Umſtaͤnde beſtimmt in ſofern die Groͤße der Tugend, in ſofern ſie es dem Men⸗ ſchen erſchweren, mit Lauterkeit, Willigkeit, Feſtigkeit dem Guten allein anzuhaͤngen. Je mehr Temperament, Erzie⸗ hung, Gelegenheit, Beiſpiel, Verfuͤhrung, Angewoͤhnung die Tugenduͤbung hindert und erſchwert, und je muthiger wir
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dieſe Beſchwerniſſe, Hinderniſſe uͤberwinden, und je beharr⸗ licher bei allen Hinderniſſen wir im Guten ſind, deſto groͤ⸗ ßer iſt die Tugend. (Roͤm. VIII. 35. Phil. III. 7.)
115. Schlußanmerkungen.
I. Ueber die Methode in der Lehre von dem Guten.
Wollte ſich Jemand das Gute in ſeinem Weſen, in feiner Geneſis, in feiner Steigerung, in feiner to⸗ talen Wirkſamkeit anſchaulich machen, wie ſich ihm das Boͤſe dargeſtelkt hat: ſo e er es in folgender Ueberſicht:
1) Das Gute hat die drei N Merkmale: das Gute iſt eine Nachbildung des Goͤttlichen in Geſinnung und That; eine Nachbildung des Goͤttlichen durch das Goͤttliche; eine eee des Goͤttlichen um des Goͤttlichen willen.
Aus dem erſten Merkmale folgt, daß das Gute ſich gleich, gleich gut ſey, es mag in dem Ruhenden der Ge⸗ ſinnung, oder in dem Beweglichen des Thuns gefunden werden; denn, wenn das Goͤttliche im Gemuͤthe erfaßt und nachgebildet iſt, ſo iſt es daſſelbe Goͤttliche, es mag in der Geſinnung ruhen, oder in die That übergehen, So iſt das reine Wohlwollen gegen unſers Gleichen, im Ge⸗ muͤthe lebend, ein Nachbild der goͤttlichen Philanthropie, alſo gut, wenn es auch, aus Mangel des Anlaſſes oder des Vermoͤgens, nicht That werden kann. Aus dem z wei⸗ ten Merkmale folget, daß das Gute (wenn es im boͤſen Menſchen realiſirt werden ſoll) eine neue Schoͤpfung ſeyn muͤſſe. Aus dem dritten Merkmale folget, daß, anſtatt daß das Gute durch den Trieb nach Seligkeit beflecket werden ſollte, vielmehr das Gute die hoͤchſte Lauterkeit beſitzen muͤſſe, um mit der Seligkeit Eins ſeyn zu koͤnnen.
2) Wenn die Geneſis des Guten beſonders ange⸗ geben werden ſoll, denn ſie iſt ſchon in und mit den we⸗ ſentlichen Merkmalen des Guten als das zweite Merkmal
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gegeben: fo iſt gewiß keine Stammtafel ſo zuverlaͤſſig wie die: | RER. y
Der Geift Gottes erzeugt in dem Menſchen, der ſich er Fuͤhrung anvertraut und gehorcht, Glaube; Glaube erzeugt Liebe; Liebe erzeugt alle gute Werke. Ohne Gottes allbelebenden Geiſt — keine Erweckung des ſchla⸗ fenden, keine Staͤhlung des ſchwachen, keine Haltung des ſiegenden Willens. Und nur der geweckte, geſtaͤhlte, ſie⸗ gende Wille ergreift das Goͤttliche im Glauben, und bil⸗ det es in Liebe nach. Und nur der freie Wille, der das Goͤttliche, Ewige nachbildet, iſt tugendhaft.
3) Die Steigerung des Guten iſt eben ſo leicht begreiflich: je williger zu Aufopferungen, Dargebungen aller Guͤter, ſelbſt des Lebens, je lauterer in Aufopfe⸗ rungen, Dargebungen ꝛc., je beharrender in Willigkeit
und Lauterkeit die Liebe aus Glauben, deſto größer die Tugend.
4) Die unmittelbare Wirkſamkeit des Guten: Wie ſich alles Boͤſe in und mit der gottvergeſſenen Selbſt⸗ füchtigfeit entwickelt, ſo entwickelt ſich alles einzelne Gute in und mit der gottverehrenden Liebe.
5) Die mittelbare Wirkſamkeit des Guten: Die Chriſtentugend hat nicht nur innern Werth, dem Be⸗ lohnung in der Ewigkeit aufbehalten iſt, ſondern auch aͤußern Werth, indem das Gute aus dem guten Menſchen auf Andere wohlthaͤtig hin aus- und von außen auf den Guten wohlthaͤtig zu ruͤck⸗ wirket.
II. Ueber ein Zuviel ah ein Zuwenig.
Ein Forſcher unſrer Tage ſcheint die Religion zur Muſik, die die Tugend begleitet, zu machen. Allerdings iſt die Religion ein Lied der Engel, auf Erden nachge⸗ ſungen; eine Harmonie aus der ewigen Welt, in die un⸗ ſere herübertönend, die die harte Arbeit der Zeit mildert — und in ſofern iſt ſie eine Muſik, welche die Tugend auf ihrem Kreuzwege accompagnirt und der heißen Kaͤmpferin friſche Lebensluft zuwehet. Aber fie iſt nicht bloß Mu⸗
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ſik, die das Gemuͤth hebt und heitert; ſie iſt ſelbſt das Leben der Tugend, indem das Gemuͤth nur durch Ver⸗ einigung mit der Ewigkeit ſtark genug werden kann, die Anfechtungen der Zeit zu uͤberwinden.
Demnach, wenn Jemand die Religion nur zur Muſik der Tugend machte, ſo waͤre dieß zu viel und zu wenig; zu viel fuͤr die Religion, da ſie hienieden nicht immer ſo ſelig ſeyn kann, in den Choͤren der Engel mitzuſingen; zu wenig fuͤr die Tugend, die keinen Augenblick des belebenden Athems der Religion entbehren kann, e den Geiſt aufzugeben.
III. Die Euſebia der Chriſten. (1 Tim. V. 6.)
Wenn man in der Tugend des Chriſten mit Paulus die Gottſeligkeit, welche die Verheißung dieſes und des zu⸗ kuͤnftigen Lebens hat, erblickt, und ſie in ihrem Weſen und in ihrer Offenbarung betrachtet: ſo kann man ſagen, daß die Euſebia der Chriſten das Raòp der Griechen und das Honestum der Roͤmer (beides im be- ſten Sinne genommen) in ſich faſſe, denn ſie iſt lauter Wuͤrde in ihrem Weſen und lauter Schoͤnheit in ihrer Offenbarung. Lauter Wuͤrde in ihrem Weſen, denn die Seele, die in Gott ſelig iſt, hat ſich von der Herr⸗ ſchaft aller vergaͤnglichen Dinge unabhängig gemacht, und iſt abhaͤngig nur von dem Hoͤchſten, deſ⸗ ſen Wille ihr Wille geworden: ſie iſt frei, Koͤnig in ſich, Eines mit dem Erhabenſten, erhaben uͤber Alles, was nicht Gott iſt. Lauter Schoͤnheit in ihren Offenbarungen, denn da ſie Eines iſt mit Gott in Liebe, ſo kann ſie nichts offenbaren, als was ſie iſt, reine Liebe des rein⸗ ſten Weſens; und reine Liebe in ihren Offenbarungen kann doch nicht anders als ſchoͤn ſeyn.
IV. Ju wiefern die Tugend die höchſte Kunft”) des Mens ſchen ſey.
1 Die Tugend iſt treue Nachbildung des Göttlichen in
uns, treue Darſtellung des Goͤttlichen an uns und außer
) In Hinſicht auf Weiler's Rede: Tugend die höchſte Kunſt. 14 1816.
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uns. Nun dieſe Nachbildung des Goͤttlichen (der goͤtt⸗ lichen Guͤte, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit) in uns und an uns und außer uns iſt ja ſelbſt die hoͤchſte Kunſt, in ſo⸗ fern wir das bildende Gemuͤth, iſt das hoͤchſte Kunſt⸗ werk, in fofern wir das e in, an und außer uns betrachten.
V. Das denkwürdigſte Alſo, das ſich uns aufdringt, wenn wir Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit, Gott und den Menſchen zuſammenfaſſen.
Alſo iſt die Tugend, die werth iſt, die Tugend und die chriſtliche Tugend in ihrer Vollendung zu heißen:
1) in ihrem Urſprunge Reli 1 55 (ein Leben in Gott und durch Gott); |
2) in ihrer Vollendung Seligkeit;
3) in ihrem Lebenslaufe Kampf wider alles Ungoͤtt⸗ liche und Nachbildung alles Goͤttlichen.
Deus caritas est, et qui in caritate manet in. Deo manet.
d
6 —
Zweites Hauptſtuͤck der Moral.
Von der Regeneration des Menſchen, oder ſeinem Yebergünge von dem Boͤſen zum e Emenda te ipsum. f
.
Ich taufe mit Waſſer, der aber nach mir kommt, 1500 mit Geiſt und Feuer.
Johannes.
Was aus Fleiſch geboren iſt, das iſt Fleiſch, was aus dem Geiſte, das iſt Geiſt. C öriſtus. Bringt würdige Früchte der Buße! , Johannes, Chriſtus, die Apoſtel.
Die Buße ift das zweite Brett nach dem Schiffbruche. Die Kirchenväter. ‚Die Buße iſt eine mühvolle Taufe. g Trient. Kirchenrath.
116. Juhalt und Zuſammenhang des zweiten Hauptſtuͤckes.
Nachdem das erſte Hauptſtuͤck der chriſtlichen Moral das Grundboͤſe der Menſchheit nach ſeiner Wurzel und allen Verzweigungen, und mit dem Grundboͤſen, das im Men⸗ ſchen herrſcht, auch das Gute, das im Menſchen herr⸗ ſchen ſoll und nicht herrſchet, dargelegt hat: ſo wird das zweite Hauptſtuͤck den Uebergang des Menſchen von dem Boͤſen zum Guten darlegen muͤſſen, weil dieſer Ueber⸗ gang die Aufgabe aller Aufgaben fuͤr den Boͤſen und zu⸗ gleich die Grundbedingung iſt, ohne die keine einzelne Pflicht im Geiſte der Pflicht erfuͤllet werden kann; und deſto einleuchtender darlegen koͤnnen, je gruͤndlicher und vollſtaͤndiger das Boͤſe und das Gute nach Weſenheit und Geneſis, nach unn und Wirkſamkeit enthuͤllet wor⸗
den iſt. | Inhalt
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Inhalt des zweiten Hauptſtückes.
Der Ausdruck: beſſer werden, ſich beſſern, iſt doppel⸗ ſinnig, kann erſtens: von denen, die vom Boͤſen zum Gu⸗ ten, zweitens: von denen, die vom Guten zum Beſſern uͤbergehen, verſtanden werden. Aber Gutwerden iſt ein⸗ ſinnig, und aus einem Boͤſen ein guter Menſch werden, hat den beſtimmteſten Sinn. Da nun hier nur vom Gut⸗ werden des Boͤſen (von ſittlicher Beſſerung in erſterer Be⸗ deutung) die Rede ſeyn kann, ſo ſind es auch nur die zwei Fragen, um deren vollſtaͤndige Aufloͤſung es hier zu thun iſt: 1) Wie die Bedingungen heißen, ohne die kein Uebergang von dem Boͤſen zum Guten werden kann; 2) wie die thätigen Prinzipien heißen, die dieſen Uebergang anbahnen, foͤrdern, beſchleunigen, bewirken, kurz:
was dieſen Uebergang moͤglich, was ihn wirklich mache.
Die Auflöſung dieſer zwei Fragen theilt das zweite Hauptſtuͤck in zwei Abſchnitte. . *
Der Uebergang vom Boͤſen zum Guten iſt nicht moͤg⸗ lich, ohne richtige Selbſterkenntniß des Menſchen, in Hin⸗ ſicht auf das Boͤſe, das ihm inwohnet und nicht inwoh⸗ nen ſoll, und in Hinſicht auf das Gute, das ihm mangelt und nicht mangeln ſoll. Dieſe richtige Selbſtkenntniß iſt nicht moͤglich, ohne die herrſchende Gemuͤthsſtimmung des Menſchen, ſich ſehen zu wollen, wie er iſt, d. h. ohne De⸗ muth, die hier bloß in Beziehung auf den Menſchen, der gebeſſert werden ſoll, und in Hinſt cht auf die Beſſerung
ſelbſt, betrachtet wird.
Der erſte Abſchnitt enthaͤlt alſo: §. I. Die Lehre von der Selbſterkenntniß. §. II. Die Lehre von der
zur n e Gemuͤthsſtimmung: Demuth.
Was den Uebergang vom Boͤſen zum Guten bewirkt, i ift genau das, was jene Umänderung im Innerſten des Menſchen, und jene Veranderung im Aeußern des Men⸗ ſchen, die allein gut macht den Boͤſen, — bewirkt. Dieſe FJ. M. v. Sailer's ſämmtt. Schriften. XIII. Sd. ste Aufl. 22
125
U
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Umänderung*) und Veränderung kann aber in dreifacher Hinſicht betrachtet werden, und wird es hier auch:
§. I. Was die Lehre der allen Menſchen ge⸗
meinſamen Vernunft, F. II. was die Lehre der al⸗
len Chriſten gemeinſamen Offenbarung, . III.
was der katholiſche Lehrbegriff von dieſer Um⸗ Anderung und er se ſey. * l
) Ein Philosoph nannte dieſe Unändelhng Revolution (ſein Le⸗
ben fiel eben, wie ſein Syſtem, in die Zeit der Revolution); das Chriſtenthum nennt ſie Regeneration! in jeder Hinſcht it fie Umwandlung, — Palingeneſie. .
) Die Lehre von der Abſolution iſt Gegenſtand der Dogmatik; die Lehre von der Sinnesanderung als Bedingung, Gegenftand der Moral. |
u
Erſter Abſchnitt. Von den Bedingungen, die den Uebergang von dem Boͤſen zum Guten moͤglich machen.
F. I. Lehre von der Selbſterkenntniß.
Initium est salutis notitia peccati. Seneca Epist, 28, E coelo descendit yyadı oewvrov. Juvenal.
7
117.
Die RR von der (fi ittlichen) Selbſterkenntniß iſt die Lehre von dem, was ich ſeyn ſoll, und von dem, was ich m Vergleich mit dem SE wirklich bin.
9 Lehre von dem, was ich ſeyn ſoll. 15
Seyn ſoll ich — als ein Weſen, das Religions⸗ und Tugend⸗faͤhig, und das in die Geſellſchaft mehrerer Men⸗ ſchen verſetzt iſt, Eins mit mir ſelber, Eins mit Gott, Eins mit meines Gleichen. |
Wenn ich Eines mit mir, mit Gott und meines Glei⸗ chen ſeyn ſoll, wenn dieſes Einsſeyn das Geſetz meines Seyns und meiner Beſtimmung iſt: ſo muß ich wiſſen,
was die richtige Bedeutung dieſes Geſetzes 72 und worin der Grund deſſelben liege.
5
118. Nate Was es heiße: ich ſoll Eines ſeyn.
1) Eins mit mir kann ich nicht werden, bis in mir die niedere Natur, die ſich in der Begierde äußert, der hoͤhern Natur, die ſich vornehmlich in der Stimme des
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Gewiſſens ankuͤndet, unterworfen werden — durch den freien Willen, der ſich dem heiligen Geſetze, das in der Stimme des Gewiſſens gegeben iſt, ſelbſt unterworfen hat;
denn, ohne jene gewaltſame Unterjochung, und ohne dieſe freiwillige Selbſtunterwerfung unter das heilige Geſetz, iſt nichts als Zwiſt in mir, und kann nichts als Zwiſt (Uneinigkeit) in mir ſeyn: Zwiſt der Begierde und des Gewiſſens, Zwiſt der Sinnlichkeit und der Ver⸗ nunft, Zwiſt des Triebes nach. Wohlſeyn und des Trie⸗ bes nach Gutſeyn, — ein ewiger Krieg. Ohne jene Un⸗ terjochung und dieſe Selbſtunterwerfung kann keine Ein⸗ heit im Mannigfaltigen, keine Fond hergeftellt werden im Menſchen, der dem ſchmaͤhlichſten Dualismus hingege⸗ ben iſt, nämlich jenem: des unaufhoͤrlichen Widerſtreites zwiſchen der niedern und hoͤhern Natur. f
2) Eines mit mir kann ich nicht werden, bis ich Ei⸗ nes mit Gott geworden bin; denn, ſich der Stimme des Gewiſſens unterwerfen, heißt nichts anders, als ſich Gott ſelber unterwerfen, der a) in der Stimme des Ge⸗ wiſſens nur ſich offenbaret, der b) fi ſich ſelber das hoͤchſte Geſetz iſt, der o) das heilige Geſetz in die urſpruͤngliche Menſchheit geſchrieben, der d) den Willen 72 und fuͤr fi A geſchaffen hat,
Es muß in mir die niedere Natur der hoͤhern, und die höhere (die ſich zwar vornehmlich durch die Stimme des Gewiſſens ankuͤndet, aber uͤberdem das ganze Vermoͤ⸗ gen der Selbſtthaͤtigkeit im Denken, und der Freithaͤtigkeit im Handeln in ſich faßt) Gott gehorchen, wenn un hergeſtellt, wenn Einheit behauptet werden ſoll; denn horcht in mir nicht die niedere Natur der höhern, ſo bin ich ein unbaͤndiges Thier; gehorcht in mir die hoͤhere Natur nicht Gott, ſo bin ich ein zuͤgelloſer, rebel⸗ liſcher Geiſt. Die Ordnung in mir hat alſo die For⸗ mel: unterwirf die Sinnlichkeit deinem Gei⸗ ſte, und deinen Geiſt Gott, dem Vater der Gei⸗ ſter. Sensum rationi, rationem Deo, sum- mae rationi zuhjios. Kuͤrzer: Res tibi, te Deo 0
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* Am kräftigſten hat dieſe Formel des heiligen Geſetzes Auguſti⸗ nus ausgeſprochen: Du (o Menſch) unter Gott, — das Fleiſch unter dir! Was könnte ſchöner ſeyn, als dieſe Stellung? Du unter den Höhern, das Niedrige unter dir: diene du dem, der dich gemacht hat, damit dir diene, was um deinetwillen ge⸗
macht iſt!
30 Dieſes Einsſeyn mit t Gott iſt (einem jetzigen Wer⸗ den nach) erzwungen und freiwillig, erzwungen nach unten, abwaͤrts, in Hinſicht auf die Begierde; frei⸗ willig nach oben, aufwaͤrts, in Hinſicht auf den freien Willen. Denn die niedere Natur, die blinde Begierde, muß mit Gewalt (mit Zwang) der hoͤhern unterworfen, eigentlich unterjocht werden; die hoͤhere unterwirft ſich da, wo ſie vollkraͤftig geworden iſt, von ſelbſt.
4) Dieſes Einesſeyn iſt hienieden allemal un voll⸗ kommen, ſowohl in Hinſicht auf die Begierde, die im⸗ mer fertig iſt, wider den Zwang auszuſchlagen, als in Hinſicht auf den freien Willen, der das Regiment uͤber die Begierde (nach den Bekenntniſſen der beſten Men⸗ ſchen) ohne hoͤhern Beiſtand weder erkaͤmpfen, noch ſich darin feſthalten kann, und uͤberdem, auch bei hoͤherm Beiſtande, ſich die Zuͤgel nur zu oft aus der Hand rei⸗ ßen laͤßt.
5) Dieſes Einesſeyn mit Gott it, nach der Vorſtel⸗ 8 lung der heiligen Schriften, ein wiedergewordenes Einsſeyn mit Gott, dem Vater, durch Chriſtus, den Sohn, in dem heiligen Geiſte; denn das Chriſtenthum loͤſet die Frage: was ich ſeyn ſoll, fo auf: Werde wieder Eines mit Gott, dem Vater, durch den Sohn Gottes, in dem heiligen Gei⸗ ſte. Werde Eines, denn ohne Eineswerdung iſt lau⸗ ter Entzweiung. Werde wieder Eines; denn der ur⸗ ſpruͤngliche Menſch war Eines mit Gott, fiel aus dieſer Einheit heraus, und pflanzte dieſes Uneinsſeyn auf ſeine Nachkommen fort. Werde wieder Eines mit Gott; denn das verlorne Einesſeyn der menſchlichen Natur mit Gott, dieſe ewige Ordnung der Dinge bezwecken, das iſt Weisheit, ihr nachſtreben, das iſt Religion und
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Tugend, ſie erſtreben — Heiligkeit, ſie erſtrebt haben — Seligkeit. Einesſeyn mit Gott iſt alſo die ſchoͤnſte Ein⸗
heit, deren die menſchliche Natur N iſt; BEN dieſe Einheit iſt
I. hoͤchſte Weisheit, als Strebeziel;
II. hoͤchſte Religion, als wirkliches Ringen des Ge⸗ muͤthes nach Einigung;
III. hoͤchſte Tugend, als Widerſtreit wider alle Ent⸗ zweiung;
, IV. hoͤchſte Seligkeit, als errungenes Ziel.
Werde Eines mit Gott, dem Vater; denn, wer in Gott nicht den Vater erkannt, der hat Gott noch nicht erkannt, weil das Weſen Gottes das Weſen der Liebe iſt. Werde Eines mit Gott, dem Vater, durch Chris ſtus; denn Gott iſt der Vater des Erſtgebornen und al⸗ ler ſeiner Kinder im Himmel und auf Erden, und Chri⸗ ſtus, der Erſtgeborne, iſt nach dem klaren Zeugniſſe der heiligen Urkunden des N. T., nach dem Glauben aller Chriſten und nach der Erfahrung der Gottſeligen der Wiederherſteller der durch Suͤnde zerruͤtteten Ordnung, indem er ſich fuͤr die Menſchheit erniedriget und geopfert hat, und dieſer Erniedrigung und Opferung wegen ver⸗ herrlicht und erhoͤhet zur Rechten Gottes — die Macht in Haͤnden hat, die Entzweiung aufzuheben, und die Ord⸗ nung wieder herzuſtellen. Werde Eines mit Gott, dem
Vater, im heiligen Geiſtez denn der Geiſt Gottes, der uns durch Chriſtus verheißen ward und gegeben wird, iſt es eigentlich, durch den wir neu belebt werden, daß die Liebe gegen Gott und den Naͤchſten in uns das
Scepter uͤbernehmen, und die 2 8 Einheit in uns (dar fen koͤnne.
3 S0 iſt denn Gott — der Alleingute in ſich und in allen Gott⸗ ähnlichen Weſen. So auillt denn alles Gute aus Ihm, fiept durch Ihn und ruhet in Ihm. a
— Indeſſen iſt auch dieſes Eineswerden mit Gott, dem Vater, dazu uns das Chriſtenthum verpflichtet und die Hand beut,
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mehr ein Werden und eigentlich ein fortwährendes Streben nach dem Werden, als ein Seyn, mehr ein Kampf wider Al⸗ les, was mich uneins mit mir und mit Gott macht, als volle Einigkeit. (H. 114. Nr. VIII.) Und deßhalb iſt dieß die aller Vernunft und den Urkunden des Chriſtenthums gemäßeſte Vor⸗ ſtellung: Eins mit Gott werden iſt die Beſtimmung dieſes Lebens; Eins mit Gott ſeyn, die Beſtimmung des kommen⸗ den; Eins werden und Eins . die ganze Beſtim⸗ mung der Menſchheit. g
6) Wenn ich Eines mit mir und mit Gott bin, ſo
bin ich mit der Gemuͤthsſtimmung, Eines mit mei⸗ nes Gleichen ſeyn zu wollen, und ſo viel es von
mir abhaͤngt, auch Eines zu ſeyn; denn, wenn die nie⸗
dere Natur der hoͤhern, und die höhere Gott gehorcht, fe bin ich a) wirklich Eines mit dem Guten, Eines in dem erhabenſten Zwecke, und Eines in dem Ringen nach die⸗ ſem Zwecke. Eines im Zwecke; denn ich will, was alle Gute wollen, die Unterwürfigkeit der niedern Natur unter die hoͤhere, und der hoͤhern unter Gott, als die hoͤchſte Vollkommenheit der Menſchheit, und als den Grund zur hoͤchſten Beſeligung derſelben Meunſchheit, uͤberall aus⸗ breiten, befeſtigen, erhoͤhen. Eins im Ringen nach die⸗ ſem Zwecke; denn ich will, was alle Gute wollen, mich ſelbſt opfern, um Unwiſſenheit und Irrthum, Gottloſigkeit und Laſterhaftigkeit, die der Erreichung des Zweckes uͤber⸗ all im Wege ſtehen, in allen ihren Richtungen zu bekaͤm⸗ pfen. Nun aber die Einheit des Zweckes und die Ein⸗ heit des Ringens nach dem Zwecke vereiniget die Gemuͤ⸗ ther. Wenn in mir die niedere Natur der hoͤhern, und die höhere Gott gehorchet, ſo bin ich b) negativ Eis nes mit den Menſchen als Menfchen, in ſofern in mir alle Leidenſchaften, beſonders die Hab⸗ und Herrſchſucht, die die meiſten Entzweiungen, Sekten, Spaltungen zwi⸗ ſchen Menſchen und Menſchen anrichten, als wilde Beſtien gefeſſelt ſind. Wenn in mir die niedere Natur der hoͤ⸗ hern, und die hoͤhere Gott gehorcht: fo bin ich o) poſi⸗ tiv Eines mit den Menſchen als Menſchen, in ſofern die Liebe (dieſer Kitt der menſchlichen Weſen und zwar der vollkommenſte Kitt vinculum perfectionis) unge⸗
U
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hindert in mir herrſchen kann, und im Eifer für die große Seligkeit der Menſchen, die aus Religion und Tugend quillt, und am Ende mit Religion und Tugend zuſam⸗ menfließt, zu arbeiten nicht vergißt, fuͤr die kleine Freude der Menſchen, als ſinnlicher Weſen, zu ſorgen. Wenn die niedere Natur in mir der hoͤhern, und die höhere Gott gehorcht, ſo bin ich d) kraft der herrſchenden Liebe tuͤch⸗ tig und geſchaͤftig, auch dem Boͤſen wohl zu thun, und ihm durch alle Beweiſe der großmuͤthigſten Güte — den Ruͤckweg zur Tugend und zur Freude des 8 zu oͤffnen und offen zu halten. is
Das ſol ich ſeyn — Eines mit 8 mit ou, mit meines Gleichen. 5 5
| 119. wi Worin der Grund dieſes Geſetzes liege.
9) Dieß Geſetz bedarf keiner beſondern Gruͤndung 5 denn es iſt nur ein anderer Ausdruck des Grun dgeſe⸗ tzes: Du ſollſt Gott von ganzem Herzen, und den Naͤch⸗ ſten wie dich ſelbſt lieben. Nur ein anderer Ausdruck; denn die herrſchende Liebe gegen Gott einiget den Men⸗ ſchen mit Gott; die herrſchende Liebe gegen Andere ent get ihn mit feines Gleichen.
8) Indeſſen liegt denn doch in der Chart ui BR in dem Geiſte der. göttlichen Stiftung der Kirche ein neuer Beweis, der dieſes Geſetz in's hoͤchſte Licht ſetzet; denn der Sohn Gottes iſt in der Fuͤlle der Zeit als Menſch unter Menſchen erſchienen, um durch ſich und ſei⸗ nen Geiſt, durch ſeine Boten und ihre Nachfolger ein Reich Gottes auf Erden zu gruͤnden, einen Gottes⸗Staat, einen goͤttlich⸗menſchlichen, wahrhaft katholiſchen Verein, deſſen Weſenheit darin beſteht, daß alle Glieder deſſelben, Eines unter ſich und Eines mit Gott, keine andere Auf⸗ gabe kennen, als alle Hinderniſſe eben derſelben allumfaſ⸗ ſenden Einigung in ſich und außer ſich zu befämpfen, und dadurch ihn, den geſchloſſenen Verein, immer zu erweitern und fortzupflanzen, bis Gott Alles in Allem ſeyn wird.
— 8 —
9, Man kann alſo, wenn man das Alerwichtigſte in wenige Worte zufammengedrängt haben will, Tagen:
I. Das Einsſeyn des Menſchen mit fi ch, mit Gott,
mit ſeines Gleichen, dieſe ie Harmonie iſt en Beſtimmung. |
II. Diefe Harmonie iſt nur da, wo die niedere Na⸗ tur der hoͤhern, die hoͤhere Gott gehorcht.
III. Wie dieſe Harmonie an Innigkeit, Ausbreitung und Beſtand zu⸗ oder abnimmt, ſo das Reich Gottes im menſchlichen Geſchlechte.
IV. Das Reich Gottes neu zu begruͤnden kam chris
W e Chriſti Geiſte wirkten A EN Freunde, die Apoſtel. 8
VI. In dieſem Geiſte fortzuwirken bis an's Ende der Welt, iſt die Beſtimmung, ze Talent und der . der chriſtlichen Liebe. *
*Nicht ohne Abſicht iſt hier dem Ausdrucke des Geſetzes: Menſch! ſey Eins mit Gott, mit dir, mit deines Gleichen, vor allen an⸗ dern Formeln, welche die Beſtimmung der Menſchheit bezeich⸗
nen, und am Ende des 1. Abſchnittes des I. Hauptſtückes ge⸗ nannt ſind, der Vorzug gegeben. Denn hier oder nirgends iſt die wahre Formula concordiae. Ich kenne einen Seher, der dieſe Formula concordiae im n Lichte Singen und was er ſah, erzählte.
„Plötzlich erhob ſich vor meinem Auge ein Hoher Fels, den nie eine Wolke berührte, nie eine erreichen kann; denn ſein Fuß ſtand außer dem Gebiete der Reitlichkei, in einem Lande,
wo es keine Nebel giebt. 8
Auf dem Felſen thronet das große Geheimniß verhüllt im heiligen Dunkel. Ich ſah Weſen ohne Zahl, flimmernd wie Lichtfunken, glänzend wie Sterne, leuchtend wie Sonnen, die ſich alle nach dem ewigen Geheimniſſe, als ihrem Mittelpunkte, hinneigten, vorwärts nach dem Mittelpunkte ſtrebten, dem Mits
telpunkte immer näher und näher kamen, und ſich Lage) im Mittelpunkte verloren.
Indem mich dieſe Anſchauung mit glühender Freude durch⸗ drang, erblickte ich, in dieſer unüberſehlichen Weſenkette umher⸗
— Bu
ſchauend, wie Funken auf einmal ihren Schein, Sterne ihren Glanz, Sonnen ihr Licht verlieren — vom Mittelpunkte ent⸗ fernt, zurückgeſchleudert. Da ſah ich weinend zum Felſen hin⸗ auf — und ſieh! da brach aus dem großen Geheimniſſe die Sonne der Sonnen hervor, und durchleuchtete die Nacht. Ihr ö alldurchdringendes Lichtfeuer gab den Funken ihren Schein, den Sternen ihren Glanz, den Sonnen ihr Leben wieder. Und alle Funken, und alle Sterne, und alle Sonnen, die von ihr — Schein, Glanz, Leben nahmen, umſchlang Ein Band, das ſie Alle untereinander, und mit dem großen Geheimniſſe vereinigte, und der Fels bekam den Namen: Concordia.
um das große Geheimniß ſelbſt war heller Tag, im Glanze dieſes triumphirenden Lichtes, und ein neuer Himmel und eine neue Erde ſangen ein neues Lied, das wohl nie mehr verſtum⸗ men wird. Jetzt trat ein heiliger Wächter zu mir, und deutete dem Staunenden, was er ſah und nicht verſtand: Der Fels, außer dem Gebiete der Zeit, iſt ſie, die Ewigkeit, ſelber. Das große Geheimniß, ruhend auf dem Felſen, iſt das ewige Gemüth, thätig im All, das ſein Spiegel, ſelig in ſich — das ſein Himmel iſt. Das große Geheimniß iſt Gott ſelber. Die Weſen, die ſich zu dem großen Geheimniſſe als ihrem Mittel⸗ punkte hinneigen, die ihm entgegen ſtreben und näher ko m⸗ men, bis fie ſich in ihm verlieren, find die Auserwähl⸗ ten, die zuerſt als Funken, dann als Sterne, endlich als Son⸗ nen erſcheinen. Die ſtäte Hinneigung und das ernſte Stre— ben nach dem Mittelpunkte iſt der Anfang, das Näherkom⸗ men iſt der Fortſchritt, das Sichverlieren im Mittel⸗ punkte — die Vollendung ihrer Laufbahn. Am Ende ver⸗
u Tieren fie ſich in dem Mittelpunkte, aber der Mittelpunkt wer⸗
den ſie nie; ſie nehmen ewig ihr Licht aus der Geiſterſonne,
97 Hot, e
werden nie ſie ſelber — bleiben Kinder der Sonne. Schon ſe⸗ lig in der Hinneigung und Annäherung zum ewigen Gemüthe, was können fi ſie in der Einigung mit ke anders, als lauter Seügkeit ſeyn? ; Daß Funken ihren Schein, Sterne ihren Glanz, En nen ihr Licht verloren, weiſet auf den Abfall der Geifter, auf den Abfall des erſten Menſchen, und auf den Abfall, der ſi 0 im Menſchengeſchlechte ſo oft wiederholt. 770
Die Sonne der Sonnen, hervordringend aus dem großen Ge⸗ heimniffe, die den Funken ihren Schein, den Sternen ihr Licht,
— DH
den Sonnen ihr Leben wiederbringt; die unter Engeln und Menſchen die heilige Concordia ſtiftet; die endlich das große Geheimniß ſelbſt zum hellen Tage macht, Gott im All und das
All in Gott MEERES iſt Gott mit uns, Emmanuel, Chri⸗ ſtus
Ich . und betete an, und ſehnte mich nach dem hel⸗ len Tage und nach dem neuen Liede, und ging getroſt an mein Tagewerk, hier im Lande des Nebels, das mir jenes ge⸗
heime Sehnen mildern muß — bis ich mitſchauen vor mitſin⸗ gen werde.“ Ä
Daß diefe Formel, recht gefaßt, die Selbſterkenntniß, um die es hier zu thun iſt, mehr als jede andere erleichtere, mag die An⸗ wendung jedem ſogleich Fahner machen.
AI. Was ich bin? dn Vergleich mit dem ern gun
120. Deprehendas te oportet, ante quam emen des. — Ideo, quantum potes te ipsum ‚coargue,
inquire in te; accusatoris primum, partibus fun-
gere, deinde judicis, novissime deprecatoris. Se nec. Ep. 28.
Dieſe Frage kann ſich Keiner fuͤr den Andern, ſon⸗ dern jedes Ich nur fuͤr ſein Ich loͤſen. Der Lehrer der Moral kann alſo nur die Geſetze der Selbſterkenntniß (die Form) geben, den Inhalt (das Materiale) derſelben muß jeder Andere aus ſich ſelbſt. nehmen. Der Lehrer kann zwar auch das Materiale in einem Beiſpiele vor⸗ zeichnen, aber dieß iſt eben wieder nur ein Schema der Selbſterforſchung, in das jeder Selbſtforſcher den e lichen hald Legen muß.
3421. Die Geſetze der Selbſterkenntniß ſind: 1) Vergleiche dich mit dem heiligen Geſetze: Du ſollſt Eines mit dir, mit Gott, mit deines Gleichen feyn.
2) Vergleiche dich ganz, d. i. all dein freies Wollen, Nichtwollen, Thun, Nichtthun, Leiden, Bee mit die⸗ ſem heiligen Geſetze.
*
— 3486 —
3) Gehe in dieſer Vergleichung bis er: den erſten Zeitpunkt deiner erwachenden Vernunft ruͤckwaͤrts, und bis auf den jetzigen Zeitpunkt des Selbſtbewußtſeyns vor⸗
waͤrts.
4) Vergleiche dich nur mit dieſem heiligen Geſetze, alſo nie mit den Beiſpielen Anderer, außer in ſofern ſie bewaͤhrte Spiegel des heiligen, ſich in ihnen abdruͤckenden, Geſetzes ſind; nie mit den Wuͤnſchen in dir; nie mit den zweideutigen Lebensmaximen deiner Zeitgenoſſen; nie mit den Tugendprinzipien, die den Repraͤſentanten des Zeit⸗ geiſtes in den Mund, und den Leſern in das Herz gelegt
werden.
5) Vergleiche dich in heitern Stunden deines Lebens und in truͤben, in jedem Wechſel deiner W mit dieſem heiligen Geſetze.
6) Haft du dich mit dieſem heiligen Geſetze vergli⸗ chen, dann erforſche das Boͤſe in dir, das du durch die Vergleichung inne geworden, und erforſche es nach feiner Weſenheit, nach ſeiner Geneſis, nach ſeiner Steigerung, nach feiner totalen Wirkſamkeit (J. Hauptſt. II. Abſchnitt).
2) Um ſowohl in jener Vergleichung deines ganzen innern und aͤußern Lebens mit dem heiligen Geſetze, als in dieſer Durchforſchung und Beurtheilung des ſchon er⸗ kannten Boͤſen richtig zu ſehen, unternimm, wiederhole und ſetze dieſe Unterſuchung wie vor dem Auge Gottes fort, und ende ſie nicht, bis du eine zur vollen Beſſerung hinreichend gruͤndliche, klare und vollſtaͤndige Erkenntniß von deiner Gebrechlichkeit, Unlauterkeit, Boͤsartigkeit, von dem Erbverderben, von dem Radikalboͤſen in dir und von allen Zweigen deſſelben, von deinen Suͤnden aus Vorſatz und aus Fahrlaͤſſigkeit, von deinen Unwiſſenheits ⸗„ Irr⸗ thums⸗ und Uebereilungs⸗Suͤnden, von den einzelnen Res gungen, Aeußerungen und Befriedigungen des Boͤſen in dir, von deinen innern und aͤußern Suͤnden, von den mancherlei Einfluͤſſen der Dinge auf dein Gemuͤth, die deine Selbſtbeſtimmung zum Boͤſen begreiflich machen, ins⸗ beſondere von der Tyrannei, die der Zeitgeiſt uͤber dich ausübt. von der Größe deiner Suͤndhaftigkeit, von den
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Spuren der Knechtſchaft deines Geiſtes, der Heuchelei, der falſchen Sicherheit, der Verhaͤrtung, der Augenluſt, Fleiſchesluſt und Hoffart des Lebens, von deiner Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit, die unbeherrſcht und allbeherrſchend das Boͤſe und alles Boͤſe in dir iſt, erworben haben wirſt (I. Haupt⸗ ſtuͤck II. Abſchn.).
8) Um das Boͤſe in dir am gruͤndlichſten zu erken⸗ nen, erforſche, wie das allgemeine Grundverderben der Menſchheit, das einen Abfall der urſpruͤnglichen Menſch⸗ heit vorausſetzt, und in dem Abgrunde der Selbſtſuͤchtig⸗ keit beſteht, in dir ein individuelles, durch deine Wurzel⸗ neigungen, deine Vorurtheile, Irrthuͤmer, Angewoͤhnungen, | Temperament, ee N. . N e . gewor⸗ den iſt.
9) Um das Boͤſe in dir noch heiter. zu e ver⸗ gleiche ſowohl deine offenbaren Geſinnungen, Handlungen, als deine geheimſten Zwecke, Triebfedern, Neigungen nicht bloß mit dem Ideale der chriſtlichen Tugend (I. Haupt⸗ ſtuͤck III. Abſchn.), ſondern auch und vorzüglich mit dem reinſten Muſterbilde des Goͤttlichen, das uns in dem Le⸗ ben Chriſti aufgeſtellt iſt, und beurtheile das Boͤſe in dir nach dem Lichte dieſes Muſterbildes. 5 | 10) Wenn dir im Gebete vor Gottes Angeficht, oder
im ſtillen Leſen des neuen Teſtamentes, oder eines an⸗ dern geiſtvollen Buches, ein beſonderes Licht uͤber das Grundverderben in dir aufgeht: ſo bewahre dieſes Sa⸗ menkorn des neuen beſſern Lebens, damit es dir weder deine Eitelkeit, noch der Leichtſinn deines Nachbars, noch eine unſi chtbare feindliche Macht aus dem Herzen Ich» len moͤge. (Matth. XIII. 19.)
11) Kannſt du zum vertrauten Umgange mit einem erleuchteten, gottſeligen Manne gelangen, ſo wird dir ſein himmliſcher Wandel wie ein treuer Spiegel werden, der dir deinen irdiſchen Sinn aufdecket.
12) Biſt du von Vielen geliebt und von Vielen ge⸗ haßt, von Freunden gelobt, von Feinden gelaͤſtert: ſo er⸗ ſchaue in dem, was die einen an dir lieben und loben, das Gute, das dir etwa mangelt, aber von den Lieben⸗
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den und Köbkhben als pie inwohnend vorgusgeſetzt oder wenigſtens vergroͤßert wird; und in dem, was die Andern in dir haſſen und laͤſtern, das Boͤſe, das von dir aus Selbſtliebe vielleicht nicht ſcharf genug ins Auge gefaßt, und von dem ſpaͤhende Blicke der Andern mr 9 Br e worden. ;
122.
0 Der Juhalt Gas Materiale) der Salaten in
einem Beiſpiele vorgezeichnet.
Als Schema der Selbſterforſchung. Wem die Biographie des Boͤſen noch im Andenken
iſt, der wird in dem e N nichts überz trieben finden:
1) Ich bin uneins mit mir; denn was ich in mir wahrnehme, iſt ein Kreis des Boͤſen, aus dem ich nicht herauskomme. Aus Begierden, Triebfedern, die wider das heilige Geſetz ſtreiten, werden Gedanken, Zwecke, wie die Begierden und Triebfedern, aus Gedanken, Zwecken, Entſchluͤſſe und Geſinnungen, wie die Gedanken und Zwecke; 5 aus Entſchluͤſſen und Geſinnungen, Thaten, wie die Ent⸗ ſchluͤſſe und Geſinnungen; dann erheben ſich wieder Be⸗ Nerden und treiben ſich und mich in derſelben Linie um⸗ her. In dieſem fortwaͤhrenden Uneinsſeyn mit mir wird
a) das Hoͤhere in mir (das intelligente Weſen) immer mehr Solddiener der Begierde, die Begierde immer mehr
Tyrannin, die ihre Befehle wider das heilige Geſetz und das Gewiſſen allgewaltſam durchſetzet. In dieſem Uneins⸗ ſeyn wird b) die Gewohnheit, der Begierde zu gehorchen, und der Vernunft zu widerſtreiten, immer mehr Natur, und mein ganzes ſo hochgeruͤhmtes Freiheits⸗ und Selbſt⸗ ſtaͤndigkeits⸗ Soſtem ein ſelbſtgemachter Fatalismus ($. 104.
er. 12.). In dieſem Uneinsſeyn werde ich, c) indem die Begierde herrſcht und die höhere Natur zum Knech⸗
tesdienſte herabgewuͤrdiget iſt, nicht nur ein Geſell des
Thieres, in ſofern ich gerade ſo handle, als wenn ich
bloß Inſtinkt, ohne Vernunft ware; ſondern ich ſinke noch unter das Thier herab, in ſofern 1h die WiN Na⸗
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tur bloß zum Werkzeuge mache, die ſchlafende Begierde ſelber aufzureizen, neue kuͤnſtliche Befriedigungsmittel der⸗ ſelben auszuſinnen, und ſo die Graͤnzen, die die Natur der Begierde geſetzt hat, zu erweitern.
2) Ich bin uneins mit Gott. Gott iſt nach dem klaren Buchſtaben des Chriſtenthums der Schoͤpfer und Geſetzgeber, der Erhalter und Regent des Uni⸗ verſums, der Richter und Vergelter aller unſerer Geſinnungen und Handlungen. Und ich ſtehe im Ver⸗ haͤltniſſe mit Ihm als Schöpfer und Geſetzgeber, als Erhalter und Regent, als Richter und Vergelter. Nun
bin ich uneins mit Gott in Hinſicht auf alle dieſe Verhaͤltniſſe; denn ich ſehe in mir a) unzaͤhlige Proben von Untreue gegen feine Geſetze, die Er mir durch das Gewiſſen, durch Chriſtus, durch die Kirche Chri⸗
ſti, und durch gute, weiſe Menſchen aller Zei⸗ ten kund thut; b) unzaͤhlige Proben von Undank ge⸗ gen feine Wohlthaten, die er mir als Schoͤpfer, Erhalter, und Regent durch das Organ der Menſchheit, durch das Organ der chriſtlichen Kirche bis auf dieſe Stunde erwie⸗ ſen hat; c) unzaͤhlige Proben von Unzufriedenheit mit den goͤttlichen Fuͤhrungen, die ſich wirklich in der Welt enthuͤllen, und von Mißmuthigkeit, die ſich in thoͤ⸗ richten Begierden nach andern Geſtalten der Dinge um⸗ hertreibt; d) unzaͤhlige Proben von Mißtrauen auf ſeine Fuͤhrungen, die die Zukunft zum Theile, und die Ewigkeit ganz enthuͤllen wird; e) unzaͤhlige Proben von Unglauben an ſeine Gerechtigkeit, die jedem nach ſeinen Werken vergilt, oder wenigſtens Proben von Vergeſ⸗ ſenheit und Nichtachtung des Ewigen.
3) Ich bin uneins mit Gott. Gott iſt, nach dem Geiſte des Chriſtenthums, das Licht, die Liebe, das Leben. Und ich bin uneins mit dem Lichte, mit der Liebe, mit dem Leben, bin getrennt und fern von Gott.
Dieſe Trennung, dieß Ferneſeyn von Gott offenbart ſich mir bei tieferem Forſchen a) als Erblindung des Gei⸗ ſtes, entſtanden aus dem ſtaͤtigen Widerſtreite gegen das Urlicht, das Gott iſt und das in mir wider meinen Willen
B
meine Bloͤßen enthuͤllete; b) als Verſtockung des Ge⸗ muͤthes, entſtanden aus dem ſtaͤtigen Widerſtreite gegen 4 Eindruͤcke der Liebe, die Gott ift, und die mich wider
illen von mir losmachen wollte; c) als wahrer Gei⸗ ſtestod, werdend aus dem ſtaͤtigen Widerſtreite gegen das Leben, das Gott iſt, und das mich wider Willen von aller Ohnmacht des Geiſtes erloͤſen, und zum 1 ve ben tuͤchtig machen wollte.
4) Ich bin uneins mit meines Gleichen. a) Uneins mit den Guten, die mein Zoͤſes. bald ſtill⸗ ſchweigend tadeln, bald pflichtgemaͤß ſtrafen, jedesmal in ihren Endzwecken, Geſinnungen, Handlungen, Unterlaſſun⸗ gen mir widerſtreiten muͤſſen, wie das Licht der Fin⸗ ſterniß, die Liebe dem Haſſe, das Leben dem Tode. b) Uneins mit den Boͤſen, weil dieſe auch bei gleichem Intereſſe, das ſie unter einander und mit mir verbindet, doch weder unter ſich, noch mit mir auf die Dauer Eines bleiben koͤnnen, indem jeder der erſte Sklave ſeines Egoismus iſt, und der Egoismus der Einzelnen wieder den Bund aufloͤſet, den der Egoismus Aller, d. i. der Schein des gemeinſamen Intereſſes geknuͤpfet hatte. c) Uneins mit den Menſchen uͤberhaupt, (ſie ſeyen gut oder boͤſe, oder ſie ſchwanken noch zwiſchen Gut⸗ und Boͤſeſeyn, ſpielen noch keine entſcheidende Rolle); weil das herrſchende Boͤſe mich mit allen denen entzweit und entzweien muß, die mir entweder die verlangten Werk⸗ zeuge zur Befriedigung meiner Luſt entziehen, oder die geforderte Mithuͤlfe zur Durchſetzung meiner Zwecke ver⸗ ſagen, oder durch ihre eigene Abſichten, Unternehmun⸗ gen ꝛc. die meinigen durchſchneiden.
50 Ich bin uneins mit mir, mit Gott, mit 1 Gleichen, weil es mir an Liebe fehlt, die mich mit Gott und mit meines Gleichen einigte, und alſo auch an Selbſtbeherrſchung, welche die Ordnung in meinem Weſen herſtellte und aufrecht hielte.
60 Ich bin nicht nur uneins mit mir, mit Gott, mit meines Gleichen, ſondern habe uͤberdem durch meine Einfluͤſſe auf Andere 0 e uneins mit ſich, mit Gott und
ihres
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ihres Gleichen gemacht, und dieſen Zwiſt da, wo er ſchon | war, vergrößert und erhalten.
2) Theils die Proben, theils die Folgen dieſes Un⸗ einsſeyns mit mir, mit Gott, mit meines Gleichen, offens baren ſich nicht nur in meinem Geiſte und in meinem Leibe, ſondern auch in dem Kreiſe a) meines Hauſes, b) meines Amtes, o) meines Vaterlandes, d) meines Zuſammenhanges mit andern Menſchen, die außer dem Kreiſe meines Hauſes, meines Amtes, meines Vaterlan⸗
des liegen.
* Diefe Lineamente des Böſen darf jeder nur aus feinem. eigenen Bewußtſeyn zum vollen Körper ausmalen, und mit Fleiſch und Blut bekleiden und jeder hat ſich ſeine ſittliche Verdorbenheit ad vivum dargeſtellt. Wenn nun dieſe Selbſterkenntniß (in Hinſicht auf die Form) ſo richtig, klar und deutlich, und (in Hinſicht auf den Inhalt) ſo vollſtändig iſt, als ſie ſeyn muß, um den Uebergang vom Böſen zum Guten möglich zu machen, ſo iſt ſie hinreichend vollkommen zum Zwecke der Beſſerung.
* Diefer in ſieben Numern dargelegte Sündenſpiegel wird die,
welche ſich ſelbſt unter böſe, verderbte, ſchlechte Menſchen zäh⸗
len, ihre eigentliche Seelengeſtalt unſchwer erblicken laſſen.
Aber die, welche böfe find, und aus einer fortdauernden Illu⸗
ſion ſich unter gute Menſchen zählen und zählen laſſen, die müſſen vor Allem ihr Gutes in Geſinnungen und Thaten, das
ſie aus Selbſtbetrug für gut halten, unterſuchen. Dieſen hat
Fenelon in feiner Rede de la veritable et solide piété (oeuvres philosophiques à Amsterdam. Tom. II. p. 455 — 469.) die
Unterſuchung ſehr erleichtert, weil er fie e ſich zu
prüfen,
I. ob der Eifer für Tugend nicht nur eine durch den Man⸗
tel der Religion verhüllte Selbſtſüchtigkeit,
II. ob ihre Klugheit nicht eine fleiſchliche Staatskunſt,
III. ob ihre Andacht nicht das Werk der Laune, des Humors,
IV. ob ihre Liebe nicht Zeitvertreib und Dienſt der Eitelkeit
N || * |
Aber auch dieſe Selbſtpruͤfung wird fie nicht mit der wahren Seelengeſtalt bekannt machen, ſo lang es ihnen fehlt an der zur Selbſterkenntniß noͤthigen Gemdahener
mung. Davon im folgenden . II. | J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 23
— 38654 —
H. II. Lehre von der nothwendigen Gemüthsſtim⸗ mung zur Selbſterkenntniß.
125.
Was dieſe hinreichend vollkommene Selbſterkenntniß vorzuͤglich hindert und erſchwert, iſt die Selbſtſuͤchtigkeit.
* Wo das Grundböſe enthüllt werden ſollte, zeigt es ſich, daß dieß Grundböſe nichts anders iſt, und nichts anders ſeyn kann, als
die Selbſtſüchtigkeit des gottloſen Gemüthes: hier, wo das vor: nehmſte Hinderniß und Erſchwerniß der Selbſterkenntniß ent⸗ hüllt werden ſoll, zeigt es ſich wieder, daß dieß Hinderniß und Erſchwerniß der Selbſterkenntniß nichts anders iſt, und nichts anders ſeyn kann, als die Selbſtſüchtigkeit des gottloſen Ge. müthes. ö
Die Selbſtſuͤchtigkeit hindert und erſchwert das Selbſt⸗ erkennen 1) als Bequemlichkeitsliebe, denn als ſolche ſcheuet ſie die Muͤhe der Unterſuchung; 2) als Selbſtbetruͤgerin zur Unterhaltung der Zufriedenheit mit ſich ſelbſt, denn als ſolche ſcheuet ſie die Reviſion ihrer Fehler, und moͤchte ſich gern das Schamgefühl er⸗ ſparen, ſich ſo lange mit dem Scheine des Beſſern ge⸗ taͤuſcht zu haben, — indem ſich jeder fuͤr beſſer haͤlt, als er iſt, und es fuͤr einen Theil ſeiner ertraͤumten Se⸗ ligkeit hält, aus dieſem Traume ja nicht aufgeweckt zu e 5) als Heuchlerin, die dem Nachbar das ſchoͤne Bild von ihrem Selbſt vorhaͤlt, und die wahre Geſtalt ihres Selbſtes vor ihm verbirgt; denn als ſolche ſcheuek fie die Schande, in ihrer Bloͤße vor Andern er ſcheinen zu muͤſſen; 4) als Sachwalterin ihrer Recht⸗ fertigung vor dem Richterſtuhle des eigenen Gewiſſens, und des hoͤchſten Geſetzgebers — Gottes, denn als ſolche ſcheuet ſie die Pein, ſich ſelber verdammen zu muͤſſen. Die Selbſtſuͤchtigkeit hindert und erſchwert uns alſo das Selbſterkennen hauptſaͤchlich dadurch, daß ſie uns traͤge und parteiiſch macht. Als träge fangen wir die Un⸗ terſuchung nicht an, oder ſetzen ſie nicht fort, oder voll⸗ enden fie nicht. Als parteiiſch wollen wir uns am
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ders ſehen, als wir ſind, und ſehen, was wir wollen, —
uns beſſer, als wir ſind. Als traͤge und parteiiſch weichen wir jedem Verſuche aus, den die Wahrheit macht, unſere geheimſte Tuͤcke uns ſelbſt zu offenbaren, oder ſuchen ihn zu vereiteln.
In jedem Boͤſen iſt alſo gerade ſo viel Boͤſes, als Selbſtſuͤchtigkeit in ihm iſt, und die Selbſtſuͤchtigkeit hindert und erſchwert das Erkennen des Boͤſen gerade ſo ſehr, als feſt ſie in Mitte des Gemuͤthes thronend, den
Boͤſen träge zur Enthuͤllung des Boͤſen und par⸗ teiiſch zur Verhuͤllung des Boͤſen macht. 9291
Trägheit Selbſtſüchtigkeit: Parteilichkeit Tr ET 272 Z-
Wer alſo zur hinreichend vollkommenen Selbſterkennt⸗ niß zu kommen hoffen darf, muß nicht nur den feſten Entſchluß in ſich tragen, die Selbſtſuͤchtigkeit, die uns zur Selſterforſchung parteiiſch macht, zu baͤn di⸗ gen, ſondern ſie wirklich ſchon in ſoweit gebaͤndigt ha⸗ ben, daß er die Unterſuchung ſeines ſittlichen Zuſtan⸗ des anfangen, fortſetzen, vollenden, und ſich in Bezug auf das heilige Geſetz f ehen kann, wie er iſt. Er muß alſo fuͤr die Wahrheit in Unterſuchung und Be⸗ urtheilung ſeiner Unſittlichkeit eine ſolche uͤberwiegende Achtung und Liebe gewonnen haben, daß er alle Ver⸗ ſuche der Selbſtſuͤchtigkeit, wodurch ſie ihm das Selbſt⸗ erkennen erſchwert und das Streben darnach hemmt, uͤber⸗ 1 450 und ſich ſehen 5 wie er u.
124.
Dieſe überwiegende Achtung und eie be der Wahrheit, in Unterſuchung und Beurtheilung meiner ſittlichen Faun, Wk Ge Sünden — it Demuth.
* Zum vollen Begriffe der Dent gehören noch mehrere Merk⸗ male, aber in ſofern Demuth als Bedingung zur Selbſterkennt⸗ niß unentbehrlich iſt, iſt ſie hier richtig genug beſtimmt.
23 *
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I. Demuth iſt alſo die eine unentbehrlichſte Bedingung zur Selbſterkenntniß, weil wir ohne ſie zur Selbſterfor⸗ ſchung weder Muth noch Parteiloſigkeit genug mit⸗ bringen koͤnnen, und ohne Selbſterforſchung, die mit Muth und Parteiloſigkeit angefangen, fortgeſetzt und voll⸗ endet wird, kein richtiges Selbſterkennen werden kann.
II. Demuth muß alſo auch kein bloßer Vorſatz mehr ſeyn, ſie muß Faſſung des Gemuͤthes, bleibende Ge⸗ muͤthsſtimmung geworden ſeyn, wenn das Selbſter ken⸗ nen gedeihen ſoll; weil die richtige Selbſtkenntniß keinen flüchtigen Blick, ſondern eine ruhige, behars rende Anſchauung meines Innerſten, und dieſe Auſchauung eine bleibende Entſchloſſenheit, mich zu ſehen, wie ich bin, voraus ſetzet.
Jene Geſetze der Selbſterkenntniß (F. 121.) find und bleiben alſo unkräftig ohne den Beitritt der Demuth, und es darf ſich jeder Selbſterforſcher vor ſeiner Selbſterforſchung davon überzeugt halten, daß jede richtige Selbſterkenntniß für ihn fd viel als unmöglich, und jede Selbſterforſchung im Grunde nur Täuſchung ſeyn werde, bis er ſich der Demuth, als der unentbehrlichen Gemüthsſtim⸗ mung bewußt ſeyn wird, und wirklich das Gefühl der überwiegenden Achtung für die Wahrheit leben⸗ dig in ſich hat, und zur Selbſterforſchung mitbringt.
III. Iſt aber nun die Demuth bleibende Gemuͤthsſtim⸗ mung geworden, ſo kann der innerſte Menſch nicht mehr ſeyn, was er war; es muͤſſen in ſeinem Erkennen, in ſeinem Wollen, in ſeinem Gewiſſen ſchon große Ver⸗ änderungen vorgegangen ſeyn; denn Demuth (als un⸗ entbehrliche, bleibende Gemuͤthsſtimmung zur Selbſterkennt⸗ niß), bringt nach und nach 1) Wahrheit, Realität in un ſer Bewußtſeyn von uns ſelbſt. Wir wol⸗ len jetzt das Gute, das nicht in uns iſt, nicht ſehen; wir wollen alles Boͤſe, das in uns iſt, ſehen, und ſehen, wie es iſt, in ſeiner ganzen Haͤßlichkeit und Groͤße. Dieſer Vorſatz zertrümmert alſo nach und nach alle Larven des Guten, die wir fuͤr das Gute hielten, und reißt alle Schminke des Guten, mit denen wir das Boͤſe uͤber⸗
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tuͤnchten, von dem Angeſichte des Boͤſen ab. Das fal⸗ ſche Bild von uns ſelbſt, das eine Karikatur war, geht alſo in ein Bi de Parken von uns uͤber. ‚
Demuth (als eine ehrliche bleibende ae ſtimmung), bringt nach und nach 2) Geradheit, Auf richtigkeit in unſer Wollen. Vorher war die Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit die falſche Prophetin in uns, die uns ſelbſt taͤuſchte, Andere belog, und ſelbſt vor dem Rich⸗ terſtuhle des Gewiſſeus und Gottes den Schein des Gu⸗ ten zu behaupten ſtrebte. Dieſe dreifache Unredlich⸗ keit, die in Hinſicht auf uns Gernblindſeyn, in Hinſicht auf Andere Falſchheit, in Hinſicht auf Gott Selbſt gerechtigkeit, Selbſtheiligſprechung, hei⸗ ßen kann, wird je laͤnger je mehr verfolgt, je laͤnger je maͤchtiger bekaͤmpft, und endlich beſiegt. Wie dieſe dreifache Unredlichkeit aus dem Gemuͤthe weicht, ſo macht ſie fuͤr die Aufrichtigkeit eine leere und reine Stelle. Das Gemuͤth, das krumm war, wird gerade, und was ſich zur Selbſthintergehung erniedrigte, wird aufgerichtet zur feſten Anſchauung der ſtrafenden Wahrheit. Der Menſch tritt aus dem Lande des Schei⸗ nes in das Land der Wahrheit ein; er liebt das Gerade und haßt das Krumme, wird dadurch ſelbſt ge⸗ rade, aufrichtig.
Demuth, als unentbehrliche, bleibende Gemuͤthsſtim⸗ mung zur Selbſterkenntniß, raͤumt nach und nach 3) dem Gewiſſen das bisher beſtrittene und aͤußerſt ges fränfte Recht, uns anzuklagen, zu richten, zu verdammen, zu ſtrafen wieder ein. Denn die Aus⸗ ſpruͤche des Gewiſſens wurden, fo lange die Selbſtſuͤch⸗ tigkeit dominirte, entweder nicht gehört — im betäus benden Getöfe der Begierden, oder durch Dialek⸗ tik des beſtochenen Verſtandes, und der keiner Beſtechung beduͤrftigen Einbildungskraft verfäl ſchet, oder im uͤberwiegenden Hange zum Boͤſen trotzig verachtet. Nun aber, da die Demuth die Selbſtſuͤchtig⸗ keit in Banden legte: ſo kann das Gewiſſen alles
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Boͤſe namhaft machen, und nach feiner ganzen Größe darſtellen, d. h. den Boͤſen anklagen, richten, verdammen, ſtrafen. ,
IV. Demuth iſt alfo nicht nur eine unerläßliche Be dingung, eine unerlaͤßliche Gemuͤthsſtimmung zur richtigen Selbſterkenntniß, ſondern ſchon ſelbſt ein Beginnen der Beſſerung und Vorbote des ee Ueberganges vom Boͤſem zum Guten.
V. Demuth iſt alſo nicht ohne Grund von allen Weiſen als Anfang der Weisheit, und das nosce te ipsum als das beſte Wiſſen alles Wiſſens N f l 125.
Wenn aber durch Demuth Wahrheit in unſer Erken⸗ nen, Aufrichtigkeit in unſer Wollen, Freimuͤthigkeit in un⸗ ſern innerſten Gerichtshof gebracht, und alfo der Anfang aller Weisheit und Beſſerung gemacht werden ſoll: ſo iſt einleuchtend, daß 1) eine Demuth, die ſo große Dinge thun kann, ſchon ſelbſt tiefgegruͤndet und allherrſchend ſeyn muͤſſe; daß ſie, 2) um ſo tiefgegruͤndet und allherrſchend werden zu koͤnnen, die heißeſten Kaͤmpfe wider die Selbſt⸗ ſuͤchtigkeit beſtanden haben muͤſſe; daß ſie 3) um jene großen Dinge zu bewirken, und ſich zu dieſer Wirkſamkeit zu befaͤhigen, ſelbſt des hoͤhern Beiſtandes, ohne den nach den Urkunden des Chriſtenthums kein Heil werden kann, beduͤrftig und alſo (bei aller Treue des mitarbeitenden Menſchen) Gabe Gottes ſey. Wenn Demuth ſo großen Werth in ſich hat und ſo große Dinge thut: ſo mag es
4) uns nicht mehr auffallen, daß und warum Chriſtus uͤberall fo ſehr auf Demuth gedrungen, wider Phariſaͤer und die ſtolzen Selbſtgerechten ſo ſchreckliches Wehe aus⸗ gerufen, und die Demuth ſtets als die Fundamental⸗ : Ges ſinnung des Chriſten gegolten habe.
* Demuth ſchrieb die ältere Zeit Diemut, Thiemuth. Nun heißt Theu ein Knecht, Thiu eine Magd. Demuth bezeichnet alſo nach der Wortleitung den geringen Muth, den niedern Sinn, im Gegenſatze mit dem hohen Muthe (Hochmuth), worauf e die demissio animi der Lateiner weiſet.
ae
+ Wenn Demuth vor der Selbſterkenntniß, als Gemüthsſtim⸗ mung zur Selbſterkenntniß, die erſt werden ſoll, betrachtet wird: ſo iſt ſie überwiegende Wahrheitsliebe in Selbſterforſchung und Selbſtbeurtheilung; wenn ſie aber als permanent in und nach der Selbſterforſchung betrachtet wird: ſo iſt ſie eben das, was die Wortleitung angiebt — Gefühl des Geringeſeyns in eigenen
Augen. Demuth alſo in dieſer Beziehung iſt das Gefühl des, Geringeſeyns im feſten Blicke auf das, was ich ſeyn ſoll, Eines mit mir, mit Gott, mit meines Gleichen, und im parteiloſen Blicke auf das, was ich bin, uneins mit mir, mit Gott, mit meines Gleichen. Es darf aber weder jenes Gefühl erkünſtelt, oder bloß vorgegeben, noch dieſes Geringeſeyn erdichtet, oder übertrieben, oder nur geheuchelt ſeyn. Wahre Demuth iſt wah⸗ res Gefühl des wirklichen Geringeſeyns im eigenen Auge.
r Wenn Demuth als Gemüthsſtimmung zur Selbſterkenntniß nothwendig iſt: ſo wird ſie wohl auch dazu unentbehrlich ſeyn, daß der Sünder ein anderes Auge, als das ſeine, in ſein Herz und Gewiſſen ſehen laſſe, wovon im dritten Abſchnitte die Rede ſeyn wird.
/
=. Be
Zweiter Abſchnitt.
Von dem wirklichen Uebergange vom Boͤſen zum Guten.
H. I. Lehre der allen Menſchen gemeinſamen Ver⸗ nunft von dieſem Uebergange.
126. Erſter Lehr punkt.
Im Menſchen, der boͤſe (im Abfalle von Gott, in der Selbſtſuͤchtigkeit begriffen) iſt, herrſcht das Boͤſe, und wo das Boͤſe herrſcht, da iſt ſittliche Unord⸗ nung. Sittliche Ordnung iſt da, wo herrſcht, was herr⸗ ſchen ſoll, und dient, was dienen ſoll. Ordnung iſt alſo im Menſchen, wenn in ihm die niedere Natur der hoͤhern, und die hoͤhere Gott gehorcht. Alſo iſt die Unordnung da, wo die Begierde zuͤgellos, und der Gedanke geſetzlos, d. i. die Begierde dem Regimente der hoͤhern Natur, und dieſe dem Regimente Gottes entruͤckt iſt. Nun, dieſer Zuſtand iſt der Zuſtand des Boͤſen: alſo iſt das herr⸗ ſchende Boͤſe der Zuſtand der Unordnung im Menſchen.
Zweiter Lehrpunkt.
Der Menſch, in dem das Boͤſe herrſcht, in dem alſo ſittliche Unordnung iſt, hat, als boͤſe, das Eine Geſetz: keinen Augenblick laͤnger in dieſer Unordnung zu verwei⸗ len, und alle ihm noch beiwohnende Kraͤfte darin zu kon⸗ centriren, daß in ihm die ſittliche Unordnung gehoben, und die ſittliche Ordnung wieder hergeſtellt werden moͤge; denn das Geſetz, das allen Menſchen gegeben iſt: gehor⸗
che der vernuͤnftigen Natur, hat fuͤr den Boͤſen nur den Sinn: thue, meide, entbehre, leide Alles, was gethan,
7. v7
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gemieden, entbehrt, gelitten, die Oberherrſchaft der hoͤhern Natur uͤber die niedere in dir herſtellen, oder wenigſtens die Herſtellung derſelben foͤrdern kann, und verſchiebe dieß größe Werk keinen Augenblick. Er kann ja der vernuͤnf⸗ tigen Natur nicht gehorchen, ſo lange er ausſchließlich der ſinnlichen dient. Damit er alſo der vernuͤnftigen Natur im Einzelnen gehorchen kann, muß die Oberherrſchaft der⸗ ſelben im Ganzen vorerſt wieder hergeſtellt werden. Im Bilde: wenn z. B. der Zeiger deiner Uhr dir die zwoͤlfte Stunde richtig anzeigen fol: ſo muß vor Allem das ins nere Uhrwerk ſo verbeſſert, und der Zeiger ſo geſtellt werden, daß er die zwoͤlfte Stunde richtig zeigen kann. Die Ordnung des Einzelnen ſetzet die ee des Gan⸗ zen voraus.
* Daraus wird alſo von einer neuen Seite klar, daß die Stimme des Gewiſſens, als das Wort Gottes in uns, nicht nur das Böſe von der Handlung uns zu verbieten, und in und nach der Handlung zu verdammen, ſondern auch die Nothwendigkeit der Rückkehr zu Gott den Abgefallenen an's Herz zu legen habe. Und das iſt der geheime Sinn der ſogenannten Gewiſſensbiſſe:
Kehre um zu dem, von dem du dich weggewandt haſt, rufen ſie nach ihrer Art.
Dritter .
Der Menſch, der boͤſe iſt, hat nur alsdann den Ueber⸗ ſchritt vom Boͤſen zum Guten gemacht, iſt nur alsdann aus einem boͤſen ein guter Menſch geworden, wann in ihm die ſittliche Unordnung ganz gehoben, und die ſittliche Ordnung ganz hergeſtellt iſt; denn der Zuſtand des Boͤſen iſt ein Zuſtand der Unordnung, und der Zuſtand des Guten ein Zuſtand der Ordnung. Es kann alſo der Uebergang zum Guten nicht geſchehen, au⸗ ßer durch vollſtaͤndige Herſtellung der Ordnung, und die Ordnung kann, bis die Unordnung vollſtaͤndig gehoben iſt, unmoͤglich vollſtaͤndig hergeſtellt | eyn.
Vierter Lehrpunkt.
Der Uebergang vom Boͤſen zum Guten iſt eine ſolche Umwandlung im Menſchen, daß ſie durch den Aus⸗
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druck Revolution einigermaßen bezeichnet werden kann. Revolution iſt eine Umaͤnderung im Staate, die das Uns terſte zum Oberſten, und das Oberſte zum Unterſten kehrt. Nun eine ähnliche Umänderung muß in dem Gemüthe vor ſich gehen, das aus einem boͤſen gut werden ſoll. Es muß das, was oben iſt, untenab, was unten iſt, oben⸗ auf geſtellt werden; es muß die herrſchende Begierde der hoͤhern Natur des Menſchen, und dieſe der hoͤchſten Wahr⸗ heit — Gott, unterworfen werden. Die blinde Begierde muß unter die Herrſchaft des denkenden (ſehenden) Prin⸗ zips, dieſes unter die Herrſchaft Gottes zu ſtehen kom⸗ men. Die Begierde, die uͤberall obenan war, muß das Unterſte, und die hoͤhere Natur, die unterdruͤckt und un⸗ ten war, und nur der Begierde diente, das Senn werben, is ine ;
er So aſſend 6 Ausdruck Revolution von einer Seite iſt, die große Umänderung, ohne die kein Böſer gut werden kann, zu bezeichnen, fo unpaſſend wäre er von der andern Seite, in der gültigen Vorausſetzung nämlich, daß kein Böſer ohne Got⸗ tes allumfaſſende Kraft, aus einem böſen ein guter Menſch werden konnte; denn Revolution wird durch die Kräfte, die ſchon in den Gliedern des Staates, als Menſchen, liegen.
Revolution als Bild bezeichnet alſo nur das Menſch⸗ liche, das Untenab, und Obenauf in der ſittlichen Umwand⸗ lung, aber nicht das Göttliche, das Höchſte. Das Göttliche in der Umwandlung würde offenbar ſchicklicher angedeutet diurch den Aus druck Regeneration; denn, wie das, was
Fleiſch iſt, nur aus Fleiſch gezeuget werden kann, ſo kann das,
was Geiſt it, nur aus Geiſt gezeuget werden. Wenn nun die
f unentbehrlichkeit des göttlichen Prinzips zur ſittlichen Umwandlung des Menſchen unter die Grund lehren des Cphriſtenthums gehört, wie es im F. IT. ausführlich gezeigt wer: den ſoll: fo hat es offenbar den paffendern Ausdruck für die Sache gewählt, indem es die Beſſerung des Menſchen ſchlecht⸗ weg Wiedergeburt, Regeneration, nennet. Doch hier genügt es mir, die Umwandlung im Menſchen von ihrer menſch⸗ | lichen Seite zu zeigen, und deß halb hieß es auch im vierten
Lehrſatze: Die Umwandlung kann einigermaßen .
das Wort Revolution aten werden. |
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15 Fünfter Lehrpunkt.
Der Uebergang vom Boͤſen zum Guten iſt als Revolu tion im Innern nothwendig mit einer Reformation im Aeußern verknuͤpft; denn es kann in einem Men⸗ ſchen unmöglich die niedere Natur der hoͤhern, und die hoͤhere Gott unterworfen werden, ohne daß dieſe entſchei⸗ dende Umänderung in Geſinnung und Zweck, als ein lebendiges Prinzip auch eine Veraͤnderung im Thun und Laſſen, in Blick und Geberde und in dem ganzen aͤußern Leben des Menſchen hervorbringe. Wie das Aeu⸗ ßere uͤbergll nur Ausdruck des Innern ſeyn kann, fo auch hier, eine andere Seele, ein anderer Leib, ein an⸗ derer Geiſt, ein anderer Buchſtabe, ein anderer Kern, eine andere Schale. Nun aber, jene Veraͤnderung im Thun und Laſſen, in Blick und Geberde, in dem ganzen äußern Leben, iſt eine Umgeſtaltung, eine Reformation.
Sechster Lehrpunkt.
Der Uebergang vom Boͤſen zum Guten iſt eine Cen⸗ tral⸗ und eine Total⸗ Aenderung in und an dem Menſchen; eine Central⸗ Aenderung im Menſchen, weil nicht etwa bloß in der Peripherie ſeines aͤußern Le⸗ bens etwas anders erſcheinen, ſondern das Centrum ſei⸗ nes innerſten Lebens, ſeine herrſchende Geſinnung, ſein gebietender Zweck, das geheimſte Treiben des Geiſtes, das primum mobile aller einzelnen Gedanken, Wuͤnſche, Strebungen umgeaͤndert werden muß; eine Total⸗Aen⸗ derung in und an dem Menſchen, weil das Innere und Aeußere, Mittelpunkt und Umkreis geaͤndert werden muß, weil ein Umwandlung und eine Umgeſtaltung vorgehen muß, wenn die Unordnung gehoben, die Ordnung herge⸗ ſtellt, der Boͤſe gat werden ſoll. Der wirkliche Ueber⸗ gang von dem Boͤſen zum Guten iſt alſo eine Umwand⸗ lung und Umgeſtaltung, eine Umaͤnderung des Innern, eine Veraͤnderung des Aeußern nach dem Gebote des Innern.
Siebenter Lehrpunkt.
Die Central⸗ und Total ⸗ Aenderung, die Umwand⸗ lung und Umgeſtaltung, die den Uebergang vom Boͤſen zum Guten ausmacht, iſt a) gerade ſo entſchieden
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unerflärbar in Hinſicht auf das Wie, als entſchie⸗ den nothwendig in Hinſicht auf das Daß; iſt b) gerade ſo un beſtreitbar in Hinſicht auf die Moͤg⸗ lichkeit des Ueberganges vom Boͤſen zum Guten, als unerklaͤrbar in Hinſicht auf das Wie. Sie iſt a) ſo nothwendig in Hinſicht auf das Daß, als un⸗ erflärbar in Hinſicht auf das Wie; denn, ſo gewiß keine Vernunft widerſprechen kann, daß das Gut⸗ werden des Boͤſen ohne und jene Umwandlung und Um⸗ geſtaltung nicht gefunden werden kann: ſo wenig kann ſie das Wie der Umwandlung und Umgeſtaltung in einem beſtimmten Begriffe darſtellen, weil ſie groͤßer iſt, als alle Begriffe, weil ſie unbegreifbar iſt.
Unbegreifbar iſt 1) das Göttliche in der Umwand⸗ lung des Menſchen, denn die Umwandlung iſt wie der Aktus der Schöpfung, und der Aktus der Schoͤpfung kann nur dem Schoͤpfer, aber nie dem Geſchoͤpfe (aus ihm ſelber) begreiflich ſeyn. Unbegreifbar iſt 2) auch das Menſchliche in der Umwandlung des Menſchen. Denn dieſe Umwandlung iſt von Seite des Menſchen eine Selbſtunterwerfung unter die Herrſchaft der ewigen Wahrheit, der ewigen Liebe, des ewi⸗ gen Friedens, und dieſe Selbſtunterwerfung iſt als das primum im Gebiete der Freiheit wohl dem gebeſſerten Menſchen gewiß, aber aus keinem prius begreifbar, eben weil es als freie Selbſtunterwerfung das Pri-
mum iſt und ſeyn muß.
So unbegreifbar das eigentliche Wie des Uebergan⸗ ges vom Boͤſen zum Guten immer ſeyn mag: ſo kann doch b) die Moglichkeit des Ueberganges nicht wohl beſtritten werden; denn, da wir nicht widerſprechen koͤnnen, daß boͤſe Menſchen in der Welt ſind; da wir ferner annehmen muͤſſen, daß das Boͤſe, eben weil es boͤſe iſt, nicht durch Gott ſelbſt in die Welt gekommen ſey, ſondern vielmehr der Menſch den Uebergang aus dem Zuſtande der Unſchuld in den Zuſtand des Böfen gemacht habe, und da wir den Uebergang von
der Unſchuld zur Suͤnde eben ſo wenig erklaͤren koͤnnen, als den Uebergang vom Boͤſen zum Guten, jo haben wir
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keinen Grund, die Moͤglichkeit des Webergunges vom ö fen zum Guten zu bezweifeln. |
Aus dieſen Lehrpunkten der Vernunft erhellet fer ner: Die ſittliche Verbeſſerung des Menſchen, die wir im Auge haben, iſt 1) keine bloße Entwicklung der menſchlichen Natur; denn ſie wird ja durch das Boͤſe auch entwickelt, wie durch das Gute. Ein ent⸗ wickelter Boͤſewicht iſt ja eben das ſcheußlichſte Ungeheuer unſers Geſchlechtes. Eben ſo wenig iſt ſie 2) eine bloße bald ſo, bald anders verſuchte Bekaͤmpfung einzel⸗ ner Neigungen ohne Umſchwung des ganzen Ge⸗ muͤthes zum Guten, denn es kann der Boͤſe einzelne Neigungen bekaͤmpfen, um die herrſchende befriedigen zu koͤnnen; es kann der Boͤſe eine einzelne boͤſe Neigung aus dem ſchwachen Reſte einer uͤbriggebliebenen Achtung fuͤr das Geſetz unterdruͤcken, und doch im Grunde boͤſe bleiben. Eben ſo wenig iſt 3) die ſittliche Verbeſſerung des Menſchen bloß eine Zurechtmachung des Aeu⸗ ßern, des Thuns und Laſſens nach dem Buchſtaben des Geſetzes, ohne Zurechtſtellung des Innern, des Entſchluſſes und Zweckes, nach dem Geiſte des Geſetzes; denn das hieße nur die Seite der aͤußern Geſetzlichkeit reinigen, ohne die unreine Quelle des Boͤſeſeyns zu ver⸗ ſtopfen. Die ſittliche Verbeſſerung des Menſchen geht 4) von innen heraus, nicht von außen hinein; denn nicht die Reformation im Aeußern iſt eine Quelle der Umwand⸗ lung im Innern, ſondern umgekehrt. Nicht, um das ſchon erwaͤhnte Bild nochmal zu benutzen, nicht das Anders⸗ ſtellen des Zeigers verbeſſert das Uhrwerk, ſondern die Verbeſſerung des Uhrwerkes macht den Gang des recht⸗ geſtellten Zeigers ordentlich und ſicher. Die ſittliche Ver⸗ beſſerung des Menfchen iſt 5) kein Sprung von dem einen Punkte der Peripherie zum entgegengeſetzten andern, bei dem der vorige Mittelpunkt, aus dem die Strahlen ausgehen und die Peripherie bilden, unverruͤckt bliebe, ſon⸗ dern ſie iſt eine Veraͤnderung, die den ganzen vorigen Zirkel zerbricht, Peripherie ſammt allen Radien, und zu⸗ erſt das Zentrum ſelbſt nicht etwa nur verruͤckt, ſondern ein ganz neues ſchaffet. Die ſittliche Verbeſſerung des
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Menſchen iſt 6) kein todtes Ideal, aufgehaͤngt in dem Begriffskaſten, oder in der Bildergallerie des Menſchen, nach dem er etwa ſeine einzelnen Gedanken bildete, ſon⸗ dern eine Umwandlung, ein neues, ein lebendiges Seyn des Menſchen, das das Ideal ſelbſt in den beſtimmteſten Umriſſen anſchaubar macht. Die ſittliche Verbeſſerung des Menſchen iſt endlich kein halbes Wollen, ſondern ein gan⸗ zes, und kein bloßes Wollen, ſondern ein Kraft- und That⸗Wollen, ein „Werde, und es ſtand da!“
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Freundliche Zwiſchenerinnerung an einige meiner er Zei genoſſen. (Non ut veniam, sed ne praeteream,)
Alle, die wiſſend das Poſitive der chriſtlichen Heils lehre weggeworfen haben, oder unwiſſend, wie ſie dazu ge⸗ kommen ſeyen, ſich im Unglauben an die chriſtliche Offen⸗ barung verſtrickt fuͤhlen — — moͤchte ich bitten: Wenn ihr noch an eure Vernunft glaubet, ſo werdet ihr dieſe ſieben Lehrpunkte der Vernunft nach der ſtrengſten Pruͤ⸗ fung unwandelbar richtig finden. Wenn ihr nun aber dieſen Lehrpunkten der Vernunft (dieſer moraliſchen Ver⸗ nunftlehre) eine unwandelbare Richtigkeit zutraut, und zu⸗ trauen muͤſſet: ſo beſchwoͤre ich euch, fraget euch ſelbſt: ob in und an euch jene große Umwandlung und Umge⸗ ſtaltung (Revolution und Reformation) ſchon vorgegangen ſey, oder nicht, und im Falle, daß ſie noch nicht geſche⸗ hen ſey, ob ihr euch ein wichtigeres Tagewerk denken koͤn⸗ net, als darauf auszugehen, daß jene Revolution und Reformation in euch und an euch bewirkt werde, und ſo⸗ gleich an dieß Werk der Werke (chef d' Oeuvres) Hand anzulegen? Und, wenn ihr dieſe beiden Fragen bejahen muͤſſet, fo bitte ich euch, eurem eigenen Urtheile zu gehor⸗ chen, und das Werk muthig anzugreifen, das ihr fuͤr das Eine nothwendige halten muͤſſet. Und, wenn ihr enerm
Vorſatze treu bleibt, ſo gebe ich euch meine Hand darauf: I. Ehe ihr auf dem Wege dieſer ſittlichen Revolution und Reformation ein Dritttheil Bahn zuruͤckgelegt haben
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werdet, wird euch die Wahrheit des goͤttlichen Ehriſten⸗ thumes wuͤnſchenswerth, und II. ehe ihr die Haͤlfte der Bahn hinter euch ſehen werdet, wird euch die Woher
des goͤttlichen Chriſtenthumes entſchieden ſeyn. |
Ich kehre zum Texte meines Lehrberufes zuruͤck.
F. I. Die allen chriſtlichen Konfeffionen gemein⸗ ſame Lehre der Offenbarung von dem Uebergange aus dem Böſen zum Guten.
128.
Dieſe Lehre faßt in ſich: 10 die Idee alles Gutwer⸗ dens; 2) die ſinnvollſten Bilder von dem Gutwerden; 3) den Begriff von dem wirklichen Gutwerden, der die unterſcheidbaren Merkmale des Gutwerdens unter Einheit bringt. Was die Idee fuͤr die Vernunft, das iſt das Bild fuͤr die Ciahilduugswaft der Begriff fuͤr den We i
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129. Die Idee des Gutwerdens in eee Schrift. ftellen angedeutet und in zwei Hauptſaͤtze zuſammen⸗ gefaßt. Die Idee des Gutwerdens.
19 Gut iſt der Menſch, in ſofern die hoͤhere Natur des Menſchen, d. i. der Geiſt, der Wille, das Gemüth, Eines iſt mit Gott, alſo Gott der Mittelpunkt des Men⸗ ſchen, alſo Gott als Licht in der Vernunft, als Liebe im Gemuͤthe, als Leben in dem Willen des Menſchen waltet.
2) Boͤſe iſt der Menſch, in ſofern der Geiſt, der Wille, das Gemuͤth nicht mehr Gott zum Mittelpunkte hat, ſondern der Menſch ſich ſelbſt ſein Mittelpunkt ge⸗ worden. Gut iſt alſo der Menſch in und durch die hei⸗ lige Liebe, die ihn mit Gott, als dem Mittelpunkte des Wahren, Guten, Seligen — Schoͤnen vereinigt. Boͤſe it alſo der Menſch in und durch die unheilige Selbftfüchtig- keit, die den Menſchen uneins mit Gott, und g auch mit ihm ſelber macht und hält
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3) Aus einem Böfen gut geworden — iſt der Menſch alsdann, wann er zu jenem Einesſeyn mit Gott zuruͤckgebracht, Gott ſein Mittelpunkt geworden, an die Stelle der Selbſtſuͤchtigkeit die heilige Liebe getreten iſt.
4) Die beharrende Einigung (Wieder - Einigung) des von Gott getrennten Menſchen mit Gott, iſt alſo die Beſ⸗ ſerung in ihrer Vollendung, in ihrem wahren Seyn, in
der Idee betrachtet.
Die Idee des Gutwerdens, in verſchiedenen Stellen der Schrift angedeutet.
5) Eben dieſe Ruͤckkehr zum Einesſeyn mit Gott, dieſe hienieden bewirkte Wieder- Einigung mit Gott, wird in den heil. Schriften des neuen Teſtamentes auf mancher⸗ lei Weiſe bezeichnet. Die vorzuͤglichſten Bezeichnungen, die das Weſen der Beſſerung aufſchließen, ſind die:
Der Uebergang von dem Boͤſen zum Guten heißt:
I. Exispooh, Bekehrung von der Finſterniß zum Lichte, von der Satansgewalt zu Gott, wodurch ſie Ver⸗ gebung der Suͤnden empfangen mit Allen, die durch den Glauben an Chriſtus geheiliget werden (Apoſtelg. XXVI. 18.) Bekehrung von dem Irrthume ſeines Weges (Jak. V. 20.) : eine entſcheidende Veränderung im Seyn, Er⸗ kennen, Wollen, Handeln; heißt II. Sinnes⸗Aende⸗ rung, uerdvora, eine Veraͤnderung im Innern, im Geiſte, in der Geſinnung (Matth. IV. 12. Luk. III. g. XV. 2. XXIV. 47. Apoſtelg. V. 31. Roͤm. II. 4. 2 Kor. VII. 9. Hebr. VI. 6.); heißt III. der Suͤnde ſterben und in einem neuen Leben wandeln, der Suͤnde ſterben und Gott leben lernen Röm. VI. 2. 4. 11): eine entſcheidende, vollſtaͤndige, ſchmerzhafte Veränderung, wie die des Ueberganges vom Leben zum Tode; heißt IV. freigelaſſen werden von der Knechtſchaft der Suͤnde, und ein Knecht Gottes werden (Roͤm. VI. 18 22.): eine Veränderung der Oberherrſchaft, eine Abfegung des alten Gebieters, Einſetzung eines neuen; heißt V. eine Erneuerung des Menſchen, eine Veraͤnderung, die
die ganze Denkungs⸗ nd bn neu macht (Epheſ. IV. 23.
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IV. 28. Tit. III. 5.), eine Umbildung durch Erneuerung des Gemüͤthes, AEFRNOPGWOIS er ri q vahH ger rod vod (Röm. XII. 2.): eigentliche Umwandlung; heißt VI. eine Ausziehung des alten und Anzie⸗
hung des neuen Meuſchen mach dem Ebenbilde deſ⸗ ſon, der ihn geſchaffen hat, a einova. Tod: arioar- ros abr (Epheſ. IV. 22— 24. Koll, III. 10.): eine Veraͤnderung, die das Alte ganz abthut, und an die Stelle des Alten etwas ganz Neues ſetztz heißt VII. eine neue Schoͤpfung, neue Aug, neue Geburt, Wieder⸗ 1 (Joh. I. 15. III. 5 5. Tit. III. 5. 1 Petr.
I: 250 Jak.) J. 18. Gal. VI. 18,): eine Veraͤnderung, die eine ſchoͤpferiſche, eine zeugende, eine goͤttliche Kraft vorausſetzt; heißt VIII. eine A uferweckung von dem Tode durch den ‚Seit, Gottes, und eine Verſetzung in's himmliſche Leben mit Chriſtus (Epheſ. II. 5. 6. 2): ein Wunder der Allmacht, wie jenes der Auferſtehung Christi, eine ſolche Verwandlung, wie die Neubelebung eines Tod⸗ ten; heißt IX. in das große liebliche Verhaͤltniß mit Gott treten, daß wir ſeine lieben Kinder ſeyen, und als ſolche von ſeinem Geiſte getrieben werden, und an dieſem Geiſte ein Unterpfand des unverwelklichen Erb⸗ gutes haben (Roͤm. VIII. beſonders 15. 100 17, 28 28.): eine Veränderung, wie die Umkehr und Wiederauf; nahme des verirrten oder enterbten Sohnes. hen
N 60 Wenn wir dieſe Schriftſtellen 2 verglei⸗ chen, fo bemerken wir, daß die von 1— VI. den Ueber⸗ gang des Menſchen vom Boͤſen zum Guten in Beziehung auf den Menſchen, die von ert in Beziehung auf Gott betrachten.
2) In der erſten Betrachtung it das Gutwerden eine Belehrung I., eine Sinnesaͤnderung II., eine Erneuerung ö V., ein Ausziehen des alten Menſchen und Anziehen des neuen VI. ein Freiwerden von dem Boͤſen, ein Todt⸗
1 Dieſe Stelle iſt beſonders merkwürdig, weil ſie die Begriffe von Zeugung und Schöpfung vereiniget: „Es war ſein Wille, daß wir durch das Wort der Wahrheit neugezengt, und bie Erftlinge feine Schöpfung werden ſollten.“
J. M. v. Sailer's ſaͤmmtl. Schriften. XIII. Bd. gte Auft. 24
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werden fuͤr das Boͤſe, eine Gruͤndung der Herrſchaft des neuen Sinnes, des neuen Wandels III. IV.
8) In der Auen Betrachtung it das Gutwerben Zeugung aus Gott, eine neue Geburt durch den Geiſt Gottes, eine „ eine dene Wen den heiligen Geiſt . r- 5
Was dieſe Bahenheg en andeuten, in zwei Daurihe. ig ©
9) Die Schriftichee ſetzt alſo zwelerlei feſtt
I. Kein Gutwerden des Boͤſen ohne graf Gottes; denn, was unſere Sprache Gutwerden nennt, iſt in der Schriftſprache eine neue Schoͤpfung Gottes, iſt eine neue Zeugung aus Gott, iſt eine neue Geburt aus Gott, iſt eine Erweckung aus dem Tode, iſt ine" er belebung durch den heiligen Geiſt.
II. Kein Gutwerden des Boͤſen AR un änderung in dem Menſchen und durch den Men⸗ ſchen; denn es iſt a) Bekehrung, Sinnes änderung, Er⸗ neuerung, Umbildung des Menſchen; iſt b) eine Bekeh⸗ rung, Aenderung, Erneuerung, Umbildung des ganzen Grundes, aus dem ſein ‚fi ſittliches Denken, Wollen, Han⸗ deln kommt; und c) eine Aenderung, Erneuerung, Um⸗ bildung alles ſeines einzelnen ſitllichen 9 Woltens, Handelns ſelbſt.
10) Die Schriftlehre iſt alſo die: „Lein ‚Sit werden des Boͤſen ohne umwandlung des gan⸗ zen innern, und ohne Veranderung des Au- ßern Lebens, und keine Umwandlung des in⸗ nern, keine Veränderung des äußern Lebens ohne Gottes neuſchaffende, neuzeugende, neu⸗ | belebende Kraft.“
11) Die gemeinſame Lehre des Chriſtenthumes nn alſo zur Vernunftlehre: Kein Gutwerden des Boͤſen ohne Revolution im Innern und Reformation im Aeußern nach dem Geiſte der Revolution, noch die hinzu: Keine Um⸗ wandlung im Innern und keine entſprechende Umgeſtaltung
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im Akußern, ohne den Beiſtand des heiligen Geiſtes, un⸗ ter dem die genannte Umwandlung und entſprechende Um⸗ geſtaltung angebahnt, bewirket, vollendet wird.
* Die Ausdrücke n. VII.: Gutwerden heißt: todt für das Böfe und neugeboren für das Gute werden, haben flache Seelen ſchwärmeriſch genannt, weil ſie den tiefen Sinn, der darin liegt, nicht ahnen konnten.
Gerade die bedeutendſten Ereigniſſe in der ſichtbaren Men- ſchenwelt, die Extreme unſers ſinnlichen Daſeyns, Geburt und Tod, weihet das Chriſtenthum zu Symbolen unſers höhern, göttlichen Seyns ein. Und gerade dieſe Symbole ſind die ſinn⸗ vollſten und die paſſendſten. Denn die Symbole von Tod und Geburt bezeichnen in der Werdung des himmliſchen Menſchen
a) die Wehen, ohne die kein Böſer gut werden kann. Die Wehen der Gebärenden, und die Wehen des Sterbenden drü⸗ cken etwas von dem aus, was der Menſch leiden muß in der umwandlung aus dem alten in einen neuen Menſchen. Die Symbole von Tod und Geburt bezeichnen in der Werdung des himmliſchen Menſchen b) die Unentbehrlichkeit der Umwandlung. Wie ohne Geburt des Menſchenkindes kein Menſchenleben, wie ohne Tod kein Anfang des freien geiſtigen Lebens, ſo iſt kein
Gutwerden ohne Ertödtung. des alten, ohne Ausgebärung des
neuen Menſchen. Die Symbole von Zeugung und Geburt ins beſondere bezeichnen in der Werdung des himmliſchen Menſchen, daß e) zum Gutwerden ein anderes Prinzip, als der Menſch ſelbſt iſt, und kein geringers, als das göttliche, erfordert werde. Wie kein Kind ſich ſelbſt erzeuget, ſo kann kein Böſer aus ſich und durch ſich allein gut werden. Die Symbole von Zeugung, Geburt und Tod bezeichnen das, was ſie von der Umwandlung andeuten, d) auf die paffendfte, ſprechendſte, erinnerndſte Weiſe, ſo daß, wenn eine Preisfrage an die Philoſophen und Di *
von Europa aufgegeben würde, für die Umwandlung d ſen in einen Guten, die paſſendſten, ſprechendſten, — ſten Symbole aufzuſuchen, ſie ſicherlich in dem großen Umfange der Symbolik nichts Paſſenderes würden auffinden können, als was uns in der Schriftlehre ſchon gegeben iſt. Denn, wenn überhaupt die Natur ein Typus des Geiſtes iſt: ſo iſt das natürliche Prinzip beſonders in Erzeugung des irdiſchen, th hierk. 5 ſchen Lebens ein Typus des göttlichen Prinzips in der Eigen gung des himmliſchen, geiſtlichen Lebens. Und * nur haben
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die Weiſen aller Zeiten dieſen Typus anerkannt, ſondern er dokumentirt ſich auch in allen Sprachen aller gebildeten Völker. Endlich iſt die durch dieſe Symbole ausgedrückte Wahrheit, ſo wie ſie keiner künſtlichen, mühſamen Deutung bedarf, und ſich wie von ſelbſt ausleget, alſo auch von allen chriſtlichen Kirchen, in allen Konfeſſionen, bis auf dieſe Stunde anerkannt worden. Denn, was die neue, den Kern verhüllende und nur die Schale heraushebende ſogenannte Auslegung betrifft, ſo widerſpricht ſie dem Geiſte des Chriſtenthums, ſo wie aller Vernunft zu ſehr, als daß ſie ihr ephemeriſches Daſeyn über das 1 ihrer Ge⸗ burt ausdehnen könnte.
| 150 | Bilder, Gleichniſſe, Schilderungen der ſittlichen Ver⸗ n die im neuen Teſtamente vorkommen.
Eine Gleichnißrede bildet das Ganze des Beſſerwer⸗ dens ab, die ‚übrigen Einzelnes, was dazu vorbereitet, ober, bog; gehöre dc. a
a . Porabel, die das Ganze des Beſſerwerdens derſtelt.
Das Ganze der ſittlichen Verbeſſerung (der Bekehrungs⸗ geſchichte) wird uns von Chriſtus vorgeſtellt in dem Bilde eines irregegangenen, dann aber wieder heimkehrenden Soh⸗ nes, und in dem Bilde der väterlichen Huld, die den Sohn wieder aufnimmt, umarmt, und ſo behandelt, als wenn er große Verdienſte um den Vater hätte, (Luk. XV.) Die tiefen Blicke in die Weſenheit des Boͤſen, in die Fol⸗ gen des Böſen und in den Geiſt aller Beſſerung, die die⸗ ſer Parabel zu Grunde liegen, haben in Allem, was Men⸗ ſchen gedacht und geſchrieben haben, nicht ihres Gleichen koͤnnen. Der große Sinn, der in der Seele Jeſu lag, als er dieß ruͤhrende Bild ausmalte, verbreitet Licht uͤber die wichtigſte ere, des Menſchen — er ö die Beſſerung des Boͤſen.
Nachſtehende "Säge ff das Klare und Große r unvergleichbaren Gleichnißrede: 5 ) Das urſpruͤngliche Verhältniß des Menſchen zu iſt das. e eines Sohnes zu nen Vater.
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— 375 — 2) Leichtſinn des Sohnes, der die Liebe des Vaters nicht mehr achtet, und Thorheit des Sohnes, der etwas Beſ⸗ ſeres, als die Liebe des Vaters — außer dem Hauſe zu finden waͤhnt, iſt der Anfang der Suͤnde; Undank gegen den Vater, Verlaſſung des Vaters, Entfernung aus dem Hauſe des Vaters iſt die wirkliche Suͤnde ſelbſt; Miß⸗ brauch der Gaben des Vaters iſt fortgeſetzte Suͤnde.
3) Die Folgen der Suͤnde ſind die Folgen des ver⸗ laſſenen vaͤterlichen Hauſes, ſind Leiden, die den Leicht⸗ ſinnigen zur Beſinnung, den Thoren zur Erkenntniß ſei⸗ ner Thorheit, den Undankbaren zur Erkenntniß ſeines Un⸗ dankes zuruͤckbringen koͤnnen, und wenn er ſich weiſen laͤßt, wirklich zuruͤckbringen.
4) Mit der Beſinnung und der Erkenntniß der Thor⸗ heit, des Undankes wacht in dem irregegangenen Sohne das Gefuͤhl ſeines ganzen Elendes, und mit dieſem Ge⸗ fühle das Scham- und Reu⸗Gefuͤhl deſto mehr auf, je mehr er ſein jetziges Uebelſeyn außer dem Hauſe des Va⸗ ters mit dem Wohlſeyn in dem Hauſe des Vaters ver⸗ gleicht. (V. 17.) Er mißbilliget nicht nur ſeinen Leicht⸗ ſinn und ſeine Thorheit, er verdammet ſie, und moͤchte das Geſchehene ſo gern ungeſchehen machen.
5) Bei dieſem Zuruͤckſehen auf das verlaſſene vaͤter⸗ liche Haus vereinigen ſich in ihm mit dem Gefuͤhle ſeines Elendes und mit dem Scham⸗ und Reu⸗Gefuͤhle die er⸗ wachenden Erinnerungen an die Guͤte ſeines Vaters, die ihm durch die ſteigende Empfindung der Noth noch beſon⸗ ders aufgedrungen werden. Dieſe Erinnerungen ſammt jenem Gefuͤhle ermannen ihn zur Zuverſicht auf das Vater⸗ Herz. (17. 18.) Die Folgen des Boͤſen weiſen alſo den Boͤſen zuerſt in ihn hinein, und von ihm zu Gott zuruck.
6) In dieſer Zuverſicht auf die Güte des Vaters, und gedrungen von dem Gefuͤhle ſeines Elendes, faßt er den Entſchluß, zum Vater zuruͤck zu kehren, und unter Be⸗ kenntniß ſeiner Suͤnde, und unter Gelobung eines neuen Gehorſames, ſich ihm in Arm und Schooß zu werfen. (18. 19. 20.) Dieſer Entſchluß, zum Vater zuruͤck zu kehren, iſt der Geiſt der Beſſerung im Sinne Chriſti.
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2) Voll Reue, Scham und Zuverſicht ſetzt der Ent⸗ ſchloſſene ſeinen großen Entſchluß in das Werk, und kehrt wirklich zum Vater zuruͤck. Wirkliche Ruͤckkehr zum Bas ter iſt alſo die wirkliche Beſſerung im Sinne Chriſti.
9) Die Ruͤckkehr zum Vater wird dem kommenden Sohne durch die bevor⸗ und entgegenkommende Liebe des Vaters erleichtert, angebahnt, verſuͤßet und zum vollſten Segen gemacht. (21 — 52.) Die Bekehrung iſt alſo im Sinne Chriſti Ruͤckkehr und Wiederaufnahme des Irre⸗ gegangenen in die Arme des Vaters. Und dieſe Wieder⸗ aufnahme iſt mit den praͤgnanteſten Symbolen bezeichnet: a) der Kuß des Vaters deutet auf die vollſtaͤndige Vers geſſenheit des Leichtſinnes, der Thorheit, des Undankes, des Fortgehens aus dem vaͤterlichen Hauſe, — auf volle Vergebung. b) Das beſte Kleid am Leibe des Neugekom⸗ menen, der Ring an ſeiner Hand, die Schuhe an ſeinen Füßen deuten auf keine bloß aͤußerliche Aufhebung der Strafe, ſondern auf die innere Verſchoͤnerung der Seele, und ihre Tuͤchtigmachung zu allem Guten. 0) Das feſt⸗ liche Mahl deutet auf die Grunderfreuung des menſchlichen Gemuͤthes, die als ein Nachhall der vollen Bekehrung ſo wenig fehlen darf, als der Strahl dem Lichte.
9) Das Loſungswort beim Mahle: „Laßt uns froͤh⸗ lich ſeyn, denn dieſer mein Sohn war todt, und iſt wie⸗ der lebendig geworden, war verloren, und iſt wieder ge⸗ funden,“ iſt gleichſam die Inſchrift, die auf den ganzen Geiſt der Gleichnißrede nicht bloß hinweiſet, ſondern ihn klar ausſpricht; denn ſie ſpricht aus a) das Weſen der Suͤnde (Suͤnde iſt Geiſtestod); b) das Weſen der Be⸗ kehrung (Bekehrung iſt eine Auferweckung von dem Tode); c) die nothwendige Folge der Bekehrung, die Freude des Bekehrten und die Mitfreude aller Guten an der Beſſe⸗ rung eines Boͤſen und an der Freude des Gebeſſerten. Jene Freude iſt, wie die des wiederaufgenommenen Soh⸗ nes, und dieſe Mitfreude iſt, wie der Jubel der Verwand⸗ ten bei Wiederauflebung ihres Geliebten.
10) Wenn wir die Bilder der Erzaͤhlung unſere Cora. che seen, laſſen, fo erklärt fie fi ch, wie folgt, von ſelbſt:
„ I. Wenn und ſo lange der Menſch den kindlich zarten, und den maͤnnlich ſtarken Sinn eines Sohnes gegen Gott als ſeinen Vater beibehaͤlt, daß er ihn uͤber Alles liebt, deſſen gebietenden Willen treu erfuͤllet, und deſſen regie⸗ rendem Willen in Allem ſich unterwirft, alſo durch Ge⸗ horſam und Ergebung feine Liebe gegen ihn beweiſet, kurz, wenn und ſo lange dem Menſchen das Verhaͤltniß eines Sohnes gegen Gott als Vater heilig, d. i. das Hoͤchſte, das Wichtigſte iſt: alsdann und ſo lange iſt der Menſch gut.
II. Sobald und in ſofern der Menſch aus dieſem Verhältniſſe eines Sohnes gegen Gott als Vater austritt, Undank die Stelle der Liebe, Vergeſſenheit die Stelle der Verehrung, Mißtrauen die Stelle der Zuverſicht, Nicht⸗ achtung, Verachtung des Geſetzes die Stelle des Gehor⸗ ſams und der Ergebenheit einnehmen laͤßt: dann und in ſofern ſuͤndigt er, iſt boͤſe.
III. Sobald der Suͤnder, angezogen von den Erbar⸗ mungen der ewigen Liebe, die ihre Arme unablaͤſſig nach uns ausſtreckt, wieder in das urſpruͤngliche Verhaͤltniß ei⸗ nes Sohnes zu Gott als Vater zuruͤcktritt; ſobald er ſeine Suͤnde mit Scham⸗ und Reu⸗Gefuͤhl und in Zuverſicht auf die Huld des Vaters bekennt, und unter den werden⸗ den Geſinnungen neuer Liebe und neuer Verehrung ſich ihm wieder ergiebt: dann iſt er gebeſſert, dann iſt ihm die Suͤnde verziehen, dann hat ſeine Seele das Gewand der Gerechtigkeit wieder angezogen, dann genießt er wieder die Rechte des Sohnes, und fuͤhlt ſich doppelt ſelig — als ein Erſtandener von dem Tode, als ein Wieder⸗ gefundener.
# Ihr Alle, die euer Fragen und Forſchen nach Wahrheit un⸗ glücklicher Weiſe über die Sphäre des Chriſtenthums hinaus, oder neben vorbei geſchleudert hat, warum konntet ihr den Geiſt dieſer Heils⸗ und Troſtlehre des menſchlichen Geſchlechts nicht verſtehen, oder nicht werthſchätzen, oder nicht werth behalten! Was kann all euer Denken und Sinnen aus ſich ſelbſt nehmen, das hier nicht ſchon gegeben wäre?
Und, wie iſt in dieſer Parabel Alles fo klar, fo anf Gau⸗ lich für den Menſchen, dem das Verhältniß des Sohnes zum
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Vater das allerklaͤrſte ſeyn muß, der, aus Sinn und Vernunft beſtehend, ſeines Gottes ſo wenig entbehren kann, als ein Le⸗ bendes des belebenden Athems, und der ſeinen Gott nicht würs diger denken kann, als unter vn Bilde: Vater, Wil in Liebe!
Wie klar und allumfaſſend: „Wem das Verhaͤltniß des Eob⸗ nes zu Gott als Vater heilig iſt, der iſt gut; wer aus dieſem
VPeerhältniſſe austritt, iſt böͤſe; wer in dieſes Verhältniß wieder
FbDiurücktritt, der iſt wieder gut, oder: Tugend iſt Kinderſinn
gegen Gott, als den heiligen Vater der Menſchen, und Brüder ſinn gegen Menſchen, als Kinder deſſelben Hauſes. Sünde iſt Undank gegen Gott als Vater, und Mangel an Liebe, oder Haß gegen Menſchen, als Kinder deſſelben Vaters; Be ſſe⸗ rung iſt Wiederkehr zum Kinderſinne gegen Gott als Vater, und zum Brüderſinne, zur Liebe gegen die Menſchen, als . der deſſelben Vaters. 2
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Wie Chriſtus in dieſer Gleichnißrede das Gun der Beſſerungsgeſchichte rein und lichthell dargeſtellt hat, ſo fehlt es nicht an vielen andern Gleichniſſen und Bil⸗ dern, die das Einzelne, das die ſittliche Verbeſſerung entweder anbahnet und foͤrdert, oder mit amen oder begleitet, darſtellen.
I. Alles, was den Menſchen auf die Tan Kg und die Gefahren feiner Anhänglich⸗ keit an die irdiſchen Dinge, und auf den gro⸗ ßen Unterſchied zwiſchen zeitlichen und ewigen Guͤtern aufmerkſam macht, leitet ein und bah⸗ net an — feine ſittliche Beſſerung.
* Diefen Zweck hat die Gleichnißrede Jeſu vom reichen Manne, der immer neue Vorrathshäuſer baute, bis er in der Nacht ſtarb, und ſeine Güter, ungenoſſen, mene Erben hinterließ. (Luk. XII. 16— 22.)
3 Schlüſfel, den Chriſtus ſelbſt daran 1 fo geht es Jedem, der ſich Schätze ſammelt und keinen Reich⸗ thum bei Gott hinterlegt hat, ſchließt uns die Wahrheit auf: daß es Unfinn ſey, unbekümmert für den Reichthum bei Gott, für den Reichthum des Tages zu ſorgen, da jeder
Tag der letzte ſeyn kann; daß es dem zur Ewigkeit geſchaffenen
0
= ME =
Menſchengeiſt nöthig ſev, zuerſt für Weisheit, für den Reich⸗
tbum der Ewigkeit zu ſorgen. Wie ſich nun in dem Menſchen
die Aufmerkſamkeit auf die Sorge für den Reichthum bei Gott,
für Gottähnlichwerdung, für Gutſeyn und Rechtthun verſtärkt:
fo bahnt ſich die ſittliche Beſſerung an, und wie die
Anhänglichkeit an den Reichthum der Erde alle Achtung und
Sorge für den Reichthum bei Gott, je länger, je mehr ſchwächt,
deſto weiter und tiefer wirkt die Grundverſchlim⸗ merung des Menſchen fort. |
II. Alles, was uns die Folgen des Wohl lebens ohne Gutſeyn, und des Gutſeyns ohne Wohlleben, die ſich nach dem Tode des Men⸗ ſchen offenbaren, nahe bringt, hilft uns die überwiegende Neigung für das Wohlleben ohne Gutſeyn zu ſchwaͤchen, und bahnt in HEBT die ſittliche Verbeſſerung an.
Das war die Abſicht Jeſu, als er die Parabel vom reichen und armen Manne erzählte (Luk. XVI. 19—31.), und dadurch zu verſtehen gab: daß Wohlleben ohne Gutſeyn mit Uebelſeyn, Gutſeyn ohne Wohlleben mit Wohlſeyn ende, und beides nach der ſtrengſten Vergeltungsregel. Dieß iſt Geiſt der Parabel. Das Gutſeyn ohne Wohlſeyn iſt in Lazarus, das Wohlſeyn ohne Gutſeyn in dem reichen Manne, die ſtrengſte Vergeltung in den
Schickſalen beider perſonificirt. In der Erzählung n. I. ruft Jeſus den Tod herbei, um die thörichten Erwartungen des Boͤ⸗
ſen in ihrer Blöße darzuſtellen; in dieſer n. II. geht er in die Ewigkeit über, um die Folgen des Böſen noch eindringlicher zu machen. Daraus zeigt es ſich, wie der vertraute Gedanke an den Tod, und der vertrautere an die Ewigkeit hinter dem Tode, die Umkehr des Menſchen zu Gott beſchleunigen konne.
Denn auf den ſinnlichen Menſchen macht nichts ſo tiefen Ein⸗ druck, als der Tod, der uns alles Zeitliche nimmt, auf den ver⸗ nünftigen nichts, als die Ewigkeit, die nach Gerechtigkeit vergilt.
III. Alles, was den Glauben des Menſchen wecket und belebet, daß es ein himmliſches Reich, ein hoͤchſtes Gut gebe, das alle andere Guͤter unvergleichbar übertreffe; daß dieſes hoͤchſte Gut eben deßhalb werth ſey, mit Darangebung
alles Uebrigen erkauft zu werden, und daß es nur mit Darangebung alles Uebrigen er⸗ kauft werden konne, bas 8 e zur vollen Beſſerung.
„Dieſes hob Jeſus hervor, als er b Ace von dem im Acker verborgenen Schatze erzählte. (Matth. XIII. 44.) Dieſer Schatz iſt (nach Matth. VI. 33.) die Vereinigung des Menſchen
mit Gott, die ſich hienieden als Gerechtigkeit darſtellt, und drüben in volle Seligkeit verklärt. Was nun die Menſchen
auf dieſen Einen himmliſchen Schatz aufmerkſam und das Stre⸗ ben darnach rege macht: das fördert die Beſſerung des Menſchen.
IV. Alles, was den Weüſchen⸗ in der Lebe digen Ueberzeugung beſtaͤrkt, daß es bei der ſittlichen Beſſerung auf den entſchloſſenen Willen ankomme, Allem, was nicht gut, nicht Gottes Wille iſt, mit einem Male abzuſagen, und Allem, was gut, was Gottes Wille iſt, anzuhaͤngen, fördert die ſittliche Duke ne des Menſchen. | k * Diefe entſcheidende Willensfeſtigkeit gab Jeſu die Parabel (Luk.
XIV. 28—34.) von dem unvollendeten Thurmbau und den unbe⸗
rechneten Kriegskoſten in den Mund, die er mit dem bedeuten⸗
den Worte ſchließt: So kann keiner, der nicht Allem,
was er fein nennt, entfagen kann, mein Jünger ſeyn. Wie man vor Anfang eines Baues die Baukoſten, vor Anfang eines Krieges die Kriegsmacht berechnet, ſo ſoll
der Menſch vor ſeiner Annahme der Lehre Jeſu, die eine voll⸗ ſtändige Verbeſſerung fordert und herbeiführt, tief in fein Herz ſchauen, und ſich ſelber gleichſam den Puls fühlen, ob er den All⸗ entſagungsmuth in ſich finden möge, der das Prinzi⸗ pium aller ſittlichen Verbeſſerung iſt. |
V. Alles, was den Menſchen von Benin kung und Vergrößerung fremder Fehler weg⸗ und zur Bemerkung und Erwägung der eige⸗ nen, in ihn ſelber hineinkehrt; was den Men⸗ ſchen mit ſich ſelbſt unzufrieden macht; was ihn in Hinſicht auf Gott, deſſen Wohlgefal⸗
—
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len er durch Uebertretung ſeines i verwirket hat, erniedriget; was dieß 1 des Geringſeyns, in ſeinem und in Gottes
ge, belebet und unterhält, fördert die Ge⸗ müthsſtimmung, ohne die die ſittliche Verbeſ⸗ ſerung nicht kann gedacht werden. |
* Diefe Gemüthsſtimmung malt Jeſus (Luk. XV. 13-14), in dem Zöllner, der es nicht wagend, gegen Himmel aufzu⸗ ſchauen, niedergebeugt von der gefühlten Laſt ſeiner Sünden, auf ſeine Bruſt anſchlug, und kein Wort ſprechen konnte, als: Herr! ſey mir Sünder gnädig, — in ſich nur Sünde erblickte, und ſich von Gott nur Gnade ausbat und Gnade fand, indem er mehr gerechtfertigt nach Hauſe gieng als jener Selbſtge⸗ rechte, der vor Gott ſeine Tugenden auslegte; denn, ſetzte Chri⸗ ſtus bei: jeder, der ſich ſelbſt erhöhet, wird erniedri⸗ get, wer ſich aber ſelbſt erniedriget, der wird er⸗ höhet werden. ö
So wie alſo in Hinſicht auf das Gegenwärtige und bn mende der Allentſagungsmuth weſentlich iſt (Nr. IV.): fo. iſt in Hinſicht auf das Vergangene dieſe Selbſterniedrigung ein Ingredienz der 17 ſittlichen Verbeſſerung.
j VI. Wenn jener Allentſagungsmuth in ſei⸗ ner ganzen Ausdehnung gefaßt wird, ſo be⸗ greift er auch die Entſchloſſenheit des Wil⸗ lens in ſich, alle aufhebbare Folgen der Suͤn⸗ de aufzuheben, und allen verguͤtbaren Scha⸗ den zu verguͤten.
»* Diefe Entſchloſſenheit verſinnlichet uns das Evangelium zwar mit keiner neuen Parabel, aber deſto mehr durch die Bekeh⸗ rungsgeſchichte des Zachäus, der von feinem göttlichen Gaſte gehoben und begeiſtert, das große Wort ſprach:
Sieh, Herr! die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von Jemand zu viel gefordert habe, gebe ich es ihm vierfach zurück. (Luk. XIX. 8.) Wir ſehen hier: der Beſſerungsgeiſt iſt kein algebraiſcher Geiſt, kein ängſtlich marktender Kaufmannsſinn; er iſt ein freier, großer Geiſt, der das Fremde vierfach zurück⸗ giebt, und die Hälfte der Güter den Armen giebt, alſo mehr
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giebt. als er ſchuldig iſt, und auch da giebt, wo kein nn Recht die Gabe fordert. ö
VII. Wie fuͤr jeden Suͤnder die Vergebung der Sünde Gnade iſt, fo antwortet der gebeſ⸗ ſerte Menſch dieſer Gnade mit dankbarer Liebe, und dieſe dankbare Liebe wird das Funn: aller Pflichterfuͤllung für die Zu⸗ kunft.
“ Diefe, dankbare Liebe ſchildert Jeſus in dem ſchoͤnen Gieichniß von zwei Schuldnern, deren einem fünfhundert, dem andern fünfzig Denare nachgelaſſen worden, und deren der erſtere mehr Liebe bezeugte, weil ihm mehr vergeben war. (Luk. VII. 36 — 50.) Wo der kalte Phariſaer tadelt — die Liebe der Sünderin, die Gnade gefunden hatte, und die Liebe Chriſti, die ſich die zar⸗ ten Ergießungen der Dankbarkeit gefallen ließ: da ſtraft Chri⸗ ſtus die Kälte und die Ungerechtigkeit des Phariſäers, und ruͤhmt und vertheidiget den Ausdruck der dankbaren Liebe in
der Sünderin. \
VIII. Unter dem, was uns des Suͤndennach⸗ laſſes empfänglich macht, ſteht nach dem kla⸗ ren Aus ſpruche Jeſu oben an: der Nachlaß aller Schulden aller Art gegen unſers Glei⸗ chen, und die volle Wiederausſoͤhnung mit unſern Bruͤdern.
* Diefe Bedingung des Sündennachlaſſes macht uns Cbriſtus an⸗ ſchaulich in der Gleichnißrede von dem Verwalter, der zuerſt von dem gütigen Könige einen Nachlaß ſeines großen Rech⸗ nungsreſtes von zehntauſend Talenten erhielt, darnach aber, weil er ſeinen Mitdiener wegen der kleinen Schuld von hun⸗ dert Zehnern in das Gefaͤngniß werfen ließ, von dem gerechten Könige zur Gefängnißſtrafe und Vergütung der ganzen großen Schuld verdammt ward. (Matth. X VIII. 21 — 35.)
So, ſetzte Chriſtus bei, wird mein himmliſcher Vater auch mit jedem von euch verfahren, der ſeinem Mit⸗ menſchen nicht alle ſeine Fehler von Herzen verzeiht. Vergebung macht alſo der Vergebung em⸗ pfaͤnglich, denn wer noch Menſchenhaß im Herzen trägt, wie ſollte der Gottes Liebe in ſich aufnehmen koͤnnen?
Der Wille des Menſchen muß doch wohl zum Frie⸗ den mit den Menſchen umgebeugt ſeyn, um des Friedens mit Gott faͤhig zu werden. — — Dieß Alles leh⸗ ren uns die Parabeln, wenn wir. fie aus dem Geiſte der Erſcheinung Jeſu dolmetſchen; und daraus muͤſſen ſie ge⸗ dolmetſchet werden; denn wie Jeſus nur gekommen iſt, die gefallene Menſchheit zu Gott zuruckzufuhren, ſo konnte er auch, als lehrend, kein anderes Ziel im Auge haben, als dieſe Zuruͤckfuͤhrung uͤberall ahunleste angubshten zu beſchleunigen, zu foͤrdern.
Wenn wir nun den Sinn der he Parabeln aus dem Herzen Chriſti dolmetſchen und zuſammenfaſſen, ſo iſt 1) Ruͤckkehr des Menſchen zu ſich ſelber im fe⸗ ſten Blicke auf Tod und Ewigkeit (Nr. I. II.); I Seh⸗ nen und Ringen nach dem, was das hoͤchſte Gut und des Darangebens aller Schaͤtze werth "HET (Nr. III.) z 3) Gefuͤhl der Selbſterniedrigung in Hinſicht auf Vergangenheit (Nr. V.) 3 4) Allentſagungsmuth in Hinſicht auf Gegenwart und Zukunft (Nr. IV.); 5) Allverguͤtungstrieb in Hinſicht auf das Ver⸗ guͤtbare (Nr. VI.) 36) Sinn für Schulden ala ch⸗ laß gegen Menſchen (Nr. VIII); und 2) dankbare Liebe gegen Gott, wegen des Suͤnden⸗Nachlaſſes (Nr. VII.) das, was uns Jeſus als Anbahnung, als Be ſtandtheil, als Begleitung der Buße lehrt. |
Ruͤckkehr des Menſchen zu ſich, Ringen nach dem Allerkoͤſtlichſten, und Gefuͤhl der Selbſterniedrigung, (1. 2. 8.) find als Anbahnung der Beſſerung; Gefühl der Selbſterniedrigung, Allentſagungsmuth, Allverguͤtungstrieb und Sinn fuͤr Schulden ⸗ Nachlaß (3. 4. 8. 6.) ſind als Beſtandtheil der Beſſerung; Allverguͤtungstrieb und dankbare Liebe (5. 7.0, fi ind als . der DER era
2 22 144. Aufzählung der RR, BERN Meitiale, die den Begriff der ſittlichen Beſſerung ausmachen.
1) Die Geneſis der ſittlichen Verbeſſerung iſt die Geneſis jener neuen Faſſung, die das ganze
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Gemuͤth des Menſchen genommen hat, jener Faſſung, die als ein Prinzipium einer neuen Seyns⸗ und Sim nesart, Denk⸗ und Handlungsweiſe angeſehen werden kann. Dieſe neue Gemuͤthsfaſſung iſt eben die neue Richtung, die der freithaͤtige Wille genommen hat, und die darin beſteht, daß er von allem Boͤſen a bs gewandt, zu allem Guten hin gewandt, und daß dieſes Abgewandtſeyn vom Boͤſen und Hinge⸗ wandtſeyn zum Guten nicht mehr voruͤbergehend oder ſchwankend, vielmehr zur bleibenden, entſcheidenden und allherrſchenden Geſinnung geworden iſt.
2) Da nun nach der Lehre Chriſti die g rde Liebe Gottes und des Menſchen, das Ein und All (das durchaus unverdaͤchtige Ev. n ri alles Guten, und der Abfall von jener Liebe alles Boͤſe iſt: ſo kann die Geneſis jener neuen beſſern Gemuͤthsfaſſung nichts anders als die Geneſis jener heiligen Liebe ſeyn. 3) Was von der Geneſis dieſer heiligen Liebe die Apoſtel lehrten, konzentrirt ſich, nach dem einſtimmigen Bekenntniße der Chriſten, darin: Sie verkuͤndeten den Suͤndern a) die Nothwendigkeit der Sinnesaͤnde⸗ rung; ruͤckten ihnen b) ihre verborgenen oder ver⸗ geſſenen ‚Sünden vor das Auge; bezeugten, c) daß im Namen Jeſu, der ſich fuͤr das Suͤndergeſchlecht ge⸗
opfert hat, und von den Todten auferſtanden iſt, alle Suͤnden vergeben werden; thaten d) die Verhei⸗ ßungen kund, daß die Gabe des heiligen Geiſtes Allen, die an Chriſtus glauben, ihre Suͤnden bekennen, ſich auf ſeinen Namen taufen laſſen, und ein neues Le⸗ ben fuͤhren wollten, zu Theil werden wuͤrde; unter⸗ richteten ſie e) in der Weiſe ein neues Leben zu fuͤhren, Geiſt, Seele und Leib Gott zu weihen, Eins mit Chriſtus und mit allen Chriſten in Glauben und in Liebe zu ſeyn. (Siehe die Geſchichte und die 1 5 der Apoſtel. .
40 Wie dieſe Geneſis der heiligen Liebe vor ft ch gieng, d. i. wie die Boͤſen gut wurden, davon lehren die heiligen Schriften Folgendes: "Während die Apoſtel pres digten, 25 1) der heilige Geiſt denen, die von Grund
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aus beſſer wurden, vorerſt das innere Gehoͤr, das in⸗ nere Verſtändniß, den verſchloſſenen Slam bensſinn auf, daß ſie aufmerkten auf die Predig⸗ ten der Apoſtel, verſtanden was ſie lehrten, und glaubten dem Worte; da ſahen ſie denn 2) ihre Suͤnden ein, und wurden deßhalb von in nern Schmerzen durchſchnitten, und bekannten fie. So ſchamhaft aber und unzufrieden mit ſich ſelbſt ſie in ſich blickten, ſo voll Zuverſicht war 3) ihr Aufblick zu Gott in Chriſtus, aus deſſen Huld ſie die Vergebung der Suͤnden nahmen, und ſo ſtark und großmäthig war 4) ihr. Entſchluß, Gottes heiligen Willen zu vollbrin⸗ gen. Dieſer Entſchluß war ſchon ſelbſt 5), Liebe, die durch die Kraft deſſelben Geiſtes ein Uebergewicht uͤber alle andere Neigungen bekam, und ſie dem Geſetze unterwarf. Dieſe Liebe war 6) verknüpft mit der Ge⸗ wiſſensruhe, mit dem innern Zeugniſſe: Wir haben Friede mit Gott durch Chriſtus, und mit der getroſten Erwartung kommender Herrlichkeit. Eben dieſelbe Liebe erfüllte 2) die Pflichten des neuen Lebens dankbar ⸗ froh, und unter dieſen auch die Pflicht der Verguͤtung alles Schadens, den die Suͤnde angerichtet 1155 und den die Liebe des Gebeſſerten verguͤten konnte.
5) Wenn wir alſo die chriſtliche Offenbarungslehre in ſofern zu Grunde legen, in ſofern fie von allen chriſt⸗ lichen Konfeſſionen e inſtimmig angenommen wird: ſo faßt der Begriff von der e folgende ee chene Merkmale in ſic nn
1) Ein zu ſich ſelber kommen, zur Beſin⸗ nung gebracht werden. So lange der Menſch, au⸗ ßer ſich umhergeworfen, dahintaumelt im Gedraͤnge blin⸗ der Neigungen, iſt es unmoͤglich, daß er mit ernſtem, feſtem, parteiloſem Blicke in f ch ſelbſt ee pre ſi 0 ſelbſt kennen lerne
2) Ein Erkennen Nin ſelbſt, ein Erkennen feiner ſittlichen Fehler und Schwächen, Suͤnden und Suͤnd⸗ haftigkeit. So lange es das Aas ſeines Verderbniſſes nicht kenut, ſo ge Nas er ee In los N. e wollen.
3) Ein Anerkennen der Suͤnde und Suͤndhaf⸗ tigkeit, und ein damit verknuͤpftes Selbſtverdam⸗ men, und ſelbſtverdammendes Bekennen vor Gott: ich habe geſuͤndigt. So lange der Boͤſe ſich nicht als boͤſſe, alſo der Strafe wuͤrdig, der Seligkeit un⸗ werthlerkennt, anerkennt, bekennt vor Gott, fo lange kann in ihm nicht der Heldenſpruch werden: ich Ta un, ich ſoll, ich willrein anderer Menſch werden.
Das Erkennen des Boͤſen geht nämlich aus dem Bewußtſeyn in den Willen uͤber, und 3 ein Aner⸗ kennen, ein Seltſtverdammen; geht in das Ge⸗ mich. über, und witd im Menſchen, der aus Geiſt und Leib beſteht, ein Neugefühl, ein Schmerzgefühl; geht in den Mund über, und wird ein aufrichtiges Beken ge en vor Gott, ein Bekennen deſſen, was im in⸗ nerſten Selbſtbewußtſeyn als boͤſe erkannt, im Willen anerkannt, im Gemuͤthe das Objekt des 5 5 und Reuge tiles geworden .
6 Dieß Reugefuͤhl, dieß Schmerzgefühl über bie began; N genen Suͤnden, das aus dem Erkennen ſeiner ſelbſt her⸗ vor⸗ „und der Anerkennung ſeiner Strafwuͤrdigkeit, ſo wie dem Bekennen des Boͤſen ſtets zur Seite geht, . sich mit dem Wunſche, die Suͤnde nie begangen zu haben, oder ungeſchehen machen zu koͤnnen. Dieß Reugefuͤhl, das ein flacher Blick unvernünftig, u n: nuͤtz, zeitverderbend, niederſchlagend, klein lich, und auf dem Wege der Beſſerung mehr hindernd als foͤrdernd gefunden hat, iſt, recht verſtan den, das ges radeſte Gegentheil von dem Allen. Denn dieß Reuge⸗ fuͤhl iſt a)hvernuͤnftig, in ſofern es das Urtheil der Selbſtverdammung, das die Vernunft vorgeſprochen hat, gleichſam nur nachſpricht; iſt nicht nur nicht ſchaͤdlich, ſondern vielmehr b) ſittlich-heilſam, in ſofern es dem Haſſe alles deſſen, was ein Gegenſtand der Reue wer⸗ den kann, Platz machet und vorarbeitet; iſt c) kein Zeit⸗ verluſt, ſondern wohlthaͤtige Zeitbenuͤtzung, in ſofern es die Ruͤckkehr zum Niegereuenden beſchleuniget; iſt ) nicht muthraubend, in ſofern es das Gemuͤth zu dem treibt,
1
treibt, der vom Boͤſen erloͤſen kann; iſt e) nicht klein⸗ lich, ſondern ſittlich groß, in ſofern es ein mannhaf⸗ tes Erroͤthen des Menſchen vor ſich ſelber (das Scham⸗
‚gefühl, mit ſich führt, und den Akt der Selbſtdemuͤthi⸗ gung!) vor dem heiligen Geſetze vorausſetzt; iſt 1) ſo gar
kein Umweg zur Beſſerung, daß es vielmehr ſogar ein Be⸗
ginn der Beſſerung wird, in ſofern es ſich mit dem
werdenden Entſchluſſe, nicht mehr zu e dem es Bahn machet, wirklich einiget.
4) Glaube und Zuverſicht, daß uns der Vater
durch ſeinen Sohn Jeſus Chriſtus die Suͤnden vergeben,
*
die Strafe aufheben, Kraft zum neuen, heiligen Leben darreichen und das ewig ſelige Leben ertheilen werde. Ohne Glauben an und ohne Zuverſicht auf die ver⸗ gebenden, verguͤtenden, neu belebenden un d ewig beſeligenden Erbarmungen Gottes kann weder der Entſchluß, ein neues Leben zu fuͤhren, noch der Muth, ihn auszuführen, noch der Frie de des Ger wſſſens⸗ in dem Suͤnder geboren werden.
N) Feſter Entſchluß, ſich der ganzen Ordnung Gottes (die ſich auf die Heiligung und Beſeligung des menſchlichen Geſchlechtes bezieht), zu unterwerfen, d. h. das allbefaſſende Geſetz des Chriſtenthums von der Liebe gegen Gott und den Naͤchſten, zu erfuͤllen. |
x Daß dieſer feſte Entſchluß ſchon ſelbſt herrſchende Liebe gegen Gott und den Menschen in ſich falle, bedarf hier keiner Erin⸗
nerung mehr.
6) Gefuͤhl der Gewiſſensruhe, Geſchmach des Friedens mit Gott, Borgefühl der kommen⸗ den Herrlichkeit; denn der Geiſt bezeugt uns, daß wir Gottes Kinder ſind und Gottes Erben ſeyn werden.
7) Neues Lebenz denn, weil die Umwandlung der Grundgeſi mn im Innern va zu Stande ge
w—
10 Dieß Reugefühl e die Väter der tridentiniſchen Synode, als fie die Reue definirten, quod sit animi dolor de peccato commisso et detestatio (peccati), cum proposito non peccan· di de caetero. N RR M. v. Sailer's lamm. Schriften. XIII. Bd. Ste Aufl. 25
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kommen, und ſofort die Liebe gegen Gott und unſers Gleichen durch die Kraft des heiligen Geiſtes und durch Einſtimmung unſers Willens in die Ordnung Gottes herr⸗ ſchend geworden iſt, ſo kann es nicht fehlen: die herr⸗ ſchende Liebe im Innern umgeſtaltet von ſelbſt das Außere Thun und Laſſen, wandelt vorſich⸗ tig, meidet alle meidbaren An laͤſſe zum Ab⸗ falle von Gott, bekaͤmpfet die unvermeidba⸗ ren Reize zum Boͤſen, verguͤtet, ſo viel ſie ver⸗ mag, den Schaden der vorigen Suͤnde, leidet froh, was zu leiden iſt, verfündet die Huld Gottes und erweitert das fich hr ache Vermögen. | «
* Dieſe Merkmale, die der Begriff der Beſſerung in ſich faßt, wei⸗ ſen auf die bekannte Ordnung des Heiles, die Paulus in drei Worten ausſprach: Glaube, thätig in Liebe. Glaube, 2 thätig in Liebe iſt nach ihm die neue Schöpfung, das alleingeltende im Auge Chriſti, die weſentliche Ordnung des Heils. Möge der Leſer den Sinn des gro⸗
ßen Apoſtels in den nachſtehenden v . fuer Paulus lehrt demnach: „
1) Nicht Liebe und Glaube, ſondern Glaube und Nabe
Y nicht Glaube ohne Liebe, ſondern Glaube und Liebe; 3) nicht Liebe ohne Glaube, ſondern Glaube und Liebe; 4) nicht Glaube und Liebe, als bloße Gefühle, pe Glau- be, thätig in Liebe; 5) nicht Thaͤtigkeit ohne Glaube, er Stauke, RR in Liebe; 6) nicht Thätigkeit ohne Liebe, fondern Glaube, thätig in ea ebe“? BI Are 7) nicht thätige Liebe ohne Glaube, fondern Stauße, 2 tig in Liebe. .
Wr Es würde nicht ſchwer ſeyn, alle cherlegiſche und b vlog Verirrungen, die die Lehre von der Juſtifikation entſtellten, hier angedeutet zu finden. Am meiſten würden ſich von dem großen Sinne des Apoſtels jene verirren, die im Buchſtaben befangen, die Gerechtmachung des Sünders in der bloßen
äußern Zurechnung der Gerechtigkeit Chriſti, ohne Reinigung und Heiligung des Innern ſuchten. Wenn ich, ſagt Thomas
— ‚ . * ir
— 387 — Burnet (de fide et oficiis Christianorum p. 141 * dem Mog, ren die weiße Farbe bloß zurechnete, und in ſeinem Leibe und an ſeiner Haut keine phyſiſche Veränderung geſchähe, ſo würde ungeachtet der weißen, ihm von mir zugerechneten Farbe, ſeine Farbe ſchwarz bleiben. Auf gleiche Weiſe würde die bloß äu⸗ ßere Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit nutzlos ſeyn, in⸗ dem ſie keine reelle Veränderung, keine Erneuerung in dem Gemüthe deſſen, dem die Gerechtigkeit bloß e en d hervorbrächte.
Gleichweit von dem großen Sinne des Apoſtels würden Er jene verirren, die den Glauben an Chriftus, in Liebe thätig, vorbeigehend, den Sünder durch bloßes äußeres Thun gerecht machen wollten und wollen; denn ſollten die Werke gottgefäl⸗ lig ſeyn, ſo müſſen ſie ja ſelber aus gutem, gottgefälligen Grun
de kommen. Nun aber der gute, gottgefällige Grund iſt ja
eben der Glaube, in Liebe thätig. So wenig man einen ungeſunden unfruchtbaren Baum durch allerlei glänzende von au⸗ ßen angehängte Früchte geſund und fruchtbar machen kann, ſo wenig kann der Böſe durch bloßes äußeres Thun, ohne Glau⸗ be, in Liebe thätig, der den Baum geſund und früchtbrinzend macht, gerecht werden.
Gleichweit würden ſich von dem großen Sinne des Woſels | jene verirren, die in den guten, gottgefälligen Werken weder ihre rechte Wurzel, noch ihre rechte Krone erkannt hätten, da doch Chriſtus und ſeine Apoſtel beides ſehr genau beſtimmt haben. Sie. beſtimmten die guten Werke nach ihrer Wurzel. So find die guten Werke a) nach Chriſtus die, welche in Gott gethan ſind, und als Früchte des guten Bau⸗ mes nur aus dem guten Baume kommen; fie find b) nach Paulus die, welche aus dem Glauben, in Liebe thätig, alſo aus Gott kommen; fie find c) nach Jakobus die, ohne welche der Glaube todt iſt, zu denen der Glaube mitwirket, und durch die der Glaube ſelber bewahrt wird; ſie ſind d) nach “ Sohannes die, welche aus Gott, und weil Gott die Liebe
ſelber iſt, aus der Liebe geboren find, die aus dem weltüber⸗ windenden Glauben, der unſere Sacher und aus SR geboren iſt, kommen.
„Die Wurzel aller guten, gottgefällgen Werke legt 10
zunächſt in der Liebe, die den Böfen gut macht, und die ſich
denn in lauter guten Werken ofeltir, alſo in dem Glauben, 25
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der in Liebe wirkſam iſt; alſo in Gott, in Gottes Geiſte, in Gottes unverdientem Wohlwollen, in der eigentlichen Gnade, die im Glauben wirkſam iſt und die Liebe im Herzen ausgießt.
Chriſtus und ſeine Freunde beſtimmen auch die Krone, die der Beharrlichkeit in guten gottgefälligen Werken fo wenig feh⸗ len kann, als die Wurzel. So iſt der Gerechtigkeit, dem Almoſen, dem Gebete, dem Faſten, allem Guten, das auf Men⸗
ſchenbelohnung Verzicht thut und aus Tanterem, gottverehrendem
Herzen kommt, die Vergeltung des himmliſchen Vaters, der in's
Verborgene ſieht, verheißen. (Matth. VI. 1—8.) So ſieht Pau⸗ lus in der ewigen Seligkeit ausdrücklich die Krone der Gerech⸗ tigkeit, die ihm hinterlegt iſt. (2 Tim. IV. 8.) So haben alſo die guten Werke in der Gnade ihre Wurzel und in ewiger Herrlichkeit ihre Krone. Demnach iſt es unwiderſprechlich, daß die Beſtimmung der guten Werke, die in dem Can. XXXIII. sess. VI. des tridentiniſchen Kirchenrathes ausgeſprochen iſt, die gen aueſte und vollſtändigſte ſey; denn nach dieſem Aus⸗ ſpruche haben die guten Werke deſſen, der da gerecht worden, den doppelten Charakter, daß ſie find: D Gaben, Geſchenke Gottes, dena Dei, daß ſie 2) als Handlungen des freien
Willens, der mit der Gnade einſtimmte und wirkte, einen in⸗ nern, einen im Auge Chriſti, des höchſten Richters gelten⸗
den und für das ewige Leben, für die Hinterlegung der Krone der Gerechtigkeit entſcheidenden Werth haben A
hominis).
§. III. gehrbegriff der ehetifitäen Kirche von der |
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255 132. nid ve eehte von der Beſſerung des Menschen
(von der Juſtifikation des Suͤnders durch Buße)
wird hier aus dem Geſichtspunkte der Moral betrachtet;
denn, wenn die Dogmatik beſtimmt, was Einſetzung
Chriſti, was Anſtalt der Kirche ſey, ſo fragt die
Moral, wie jene Einſetzung und dieſe Anſtalt mit dem
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ewigen Heile der Welt, d. i. mit der Erleuchtung, Hei⸗ ligung und Beſeligung der Menſchheit zuſammenhaͤnge. Dieſer e kann dem Geiſtmenſ e wie
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ihn Paulus dem Thiermenſchen entgegen ſetzt, nicht ver⸗ borgen bleiben; denn der Geiſtmenſch denkt, handelt und ſpricht in und aus dem Elemente des Geiſtes, wie der Thiermenſch in und aus dem Elemente des Thieres; und, wie der geiſtige Menſch geiſtig denkt, handelt, ſpricht, ſo faßt er auch Alles geiſtig auf, alſo auch die Beicht⸗ anſtalt und beſonders die Beichtanſtalt, weil ihr Verhaͤltniß zum Leben des Geiſtes nur vom Geiſte beur⸗ theilt werden kann. (1 Kor. II. 15.) Wenn nun die Buß⸗ und Beichtanſtalt von einem Geiſtmenſchen geiſtig beurtheilt wird, ſo begegnet ſie ihm als hervorgehend 1) aus dem Geiſte Chriſti; denn, wie Chriſtus in den Tagen ſeiner Erſcheinung auf Erden als der gute Hirt in Perſon umhergieng, ſuchend und ſeligmachend, was verloren, was unſelig war: ſo ſucht er, als ver⸗ klaͤrter Menſchenſohn, durch ſeine Hirten, was verloren, macht ſelig, was unſelig iſt, reiniget, was ſuͤndig, und loͤſet, was gebunden iſt, nach jenem Worte: Wahrlich, ſage ich euch, was ihr immer binden werdet auf Erden, das wird auch gebunden ſeyn im Himmel, und was ihr immer löfen werdet auf Erden, das ſoll auch geloͤſet ſeyn im Himmel“) (Matth. XVIII. 18.); 2) aus dem Geiſte der Kir⸗ che, die als eine lebendige Gemeinſchaft unzaͤhliger Glie⸗ der an Einem Leibe und unter Einem Haupte zur ge⸗ meinſamen Belebung der Einzelnen und zur Erhaltung des Ganzen angeſehen werden muß, und durch ihre ausge⸗ fonderten Glieder, die deßhalb Cleriei heißen, überall
) Hieher gehört die Lehre des Trident. Kirchenrathes: Dominus autem Sacramentum poenitentiae tune ‚praecipue instituit, . cum a mortuis excitatus, insufflavit in discipulos suos; di- 7
cens: accipite spiritum sanctum: quorum remiseritis peccata, h remittuntur eis, et quorum retinueritis, retenta sunt. Quo tam insigni facto et verbis tam perspicuis, potestatem remit- tendi peccata ad reconciliandos fideles, post baptismum lap- sos, Apostolis et eorum legitimis successoribus fuisse com- municatam, universorum Patrum consensu semper intellexit. (sess. XIV. c. 1.)
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Licht, Liebe, Leben ausbreitend, mit Chriſtus das Verlorne ſuchet, und das Unſelige ſelig machet; 3) aus dem Geiſte der Religion, die Alles, was ſich von Gott losgeriſ⸗ ſen hat, an Gott wieder anknuͤpfen will, und dieſe ihre Wiederanknuͤpfungs⸗Tendenz, die allen religiöſen Einſe⸗ tzungen echter Art weſentlich iſt, ganz beſonders in der Buß ⸗ und Beichtanſtalt offenbart; 4) aus dem Geiſte der Tugend, die ſich von einer Seite als die hoͤchſte Aufrichtigkeit in Entfaltung der geheimſten Wunden, und von der andern als die zaͤrtlichſte Samaritansliebe in Ver⸗ bindung und Heilung derſelben erweiſet; 5) aus den Be⸗ duͤrfniſſen des Suͤndergeſchlechtes, das nur durch gliederliche Beihuͤlfe zur tiefern Selbſtkenntniß, zum reifern Tugendſinn, zum innern Frieden, und zur neuen Lebensweisheit gebracht werden kann, und aus dem Geiſte der Weisheit, die dieſe Beduͤrfniſſe nicht unbefriedigt laſſen kann.
Aus dem letzten Geſichtspunkte, den ich den mora⸗ liſchen nenne, wird vornehmlich hier die Buß⸗ und Beichtanſtalt betrachtet, obgleich alle anderen Geſichtspunkte ſich in ihm vereinigen, und der dogmatiſche voraus ) geſetzt wird, wie es die naͤhere Beleuchtung des Gegen⸗ andes zeigen wird. |
133.
Der Lehrbegriff der katholiſchen Kirche ſetzt 1) als gewiß voraus, was als Vernunftlehre uͤber die ſittliche Verbeſſerung (S. I.) erklaͤrt ward; legt 2) zu Grunde, was als allgemein erkannte Schrift⸗
) Unſere Moraliſten betrachteten die Sinnesänderung (poeniten- tia), als Tugend und als Sakrament. Eigentlich iſt fie mehr als Tugend, indem fie den Tugendſinn ſelbſt wieder her: ſtellt, und die Ausübung aller einzelnen Tugenden bedinget und begründet. Indeſſen, weil ſie ohne Uebermacht des Geiſtes über die Sinnlichkeit nicht gedacht werden kann, ſo liegt auch der Begriff der Geiſtesſtärke, Virtus, in ihr. Die Ra- tio Sacramenti entwickelt die Dogmatik, und die Moral ſetzt ſie in der moraliſchen e des ane Lehr⸗ begriffes voraus. N
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lehre uͤber die ſittliche Verbeſſerung der Menſchen ($. II.) angefuͤhrt ward, denn dieß iſt ja die gemeinſame Lehre alles Chriſtenthums, und fuͤget 3) dieſem Allen nur noch hinzu, was (ſo wie es der Einſetzung Chriſti und dem Geiſte des Evangeliums durchaus
gemaͤß iſt), alſo auch nach ihrer ſo vernuͤnftigen als
rein = chriftlichen Anſchauung, die Be duͤrf niff e des Suͤn⸗
dergeſchlechtes noch erheiſchen. — — Was er⸗
heiſchen denn aber dieſe Beduͤrfniſſe?
Erſtens: der Menſch als Sünder bedarf geiſtiger i
Huͤlfe, um zur Exkenntniß und Beſſerung feiner ſelbſt zu gelangen: dazu iſt zunaͤchſt das geheime Suͤn⸗ denbekenntniß (die Beicht) beſtimmt. Ich ſage zu: naͤchſt: denn die Beruhigung und weitere indivi⸗ duelle Belehrung deſſelben ſetzt fo wie den Beſſe⸗ rungsernſt, alſo auch das Suͤndenbekenntniß voraus.
Zweitens: der Menſch als unfaͤhig, ſich ſelbſt ohne Täuſchung und auf die Dauer zu beruhigen, bedarf goͤttlicher Huͤlfe, um zum feſten Bewußtſeyn, daß ihm die Suͤnde nachgelaſſen ſey, und ſomit zur gruͤndlichen Be⸗
ruhigung ſeines Gewiſſens zu gelangen: dazu iſt zu⸗
naͤchſt die Abſolution beſtimmt.
Drittens: auch der ſchon gebeſſerte und im Inner⸗ ſten beruhigte Menſch iſt doch noch unwiſſend und ſchwach in Hinſicht auf die Zukunft, iſt entbloͤßt von aller wah⸗
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ren Lebensweisheit, bedarf geiſtiger Huͤlfe zur kuͤnftigen
Fuͤhrung ſeines Lebens, bedarf Handleitung, wie er vor Gottes Auge wandeln, ſich vor Wiederfall ſichern, und ſeine Heiligung fortſetzen ſoll: dazu dient ihm die individuelle Belehrung und insbeſondere die ges nauere Beſtimmung jener Pflicht, die aus der That⸗ ſache der Suͤnde hervorgeht; das, was die Kirchen- und Schulſprache Buße auflegen heißt, was im Grunde nur eine naͤhere Feſtſetzung der Satis faktion iſt, die die Gebeſſerten Gott und ihrem Gewiſſen ſchuldig ſind, und was hier mit dem nicht umallenben Ausdrucke: weitere Führung des gebeſſerten s In dividuume, a wird. |
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134. A. S der Suͤnde eich)
Der Sünder kennt 1) als Sünder. feine Suͤnde nicht, kennt ihre Weſenheit, ihren Urſprung, ihre Größe, ihre Folgen nicht; kennt das Grundverderben der Menſch⸗ heit, die Verzweigung deſſelben in ſich, das Wachsthum, die Ernte und die ganze Hoͤlle nicht, die damit gegeben iſt. Denn haͤtte er eine lebendige Anſchauung von dem Allen, ſo muͤßte er eines aus beiden, entweder der Ver⸗ zweiflung ſich hingeben, oder mit allem Ernſte ein anderer Menſch werden wollen. Ein ‚Sünder hat 2) als Suͤnder ſchon gar nicht den ſiegenden Willen, die Ketten der Suͤnde zu zerbrechen; hat 3) nicht einmal die Gemuͤthsſtimmung dazu, in der er ſeyn muͤßte, um ſeine Suͤnde kennen, und ein anderer Menſch werden zu wollen; iſt vielmehr 4) als Sünder unzähligen Taͤuſchungen und Verblendungen und einer an Na⸗ tur⸗Nothwendigkeit angraͤnzenden Gewohnheit, Suͤnde auf Suͤnde zu haͤufen, hingegeben. ö | Das iſt das wahre Bild von dem Zuſtande des Suͤn⸗ ders, ſo lange er in dieſem Zuſtande beharrend gedacht wird. Er iſt alſo aus ſich (theils wegen ſeiner Selbſttaͤuſchung und Verblendung, theils wegen der Verderbtheit ſeiner Nei⸗ gungen und vor Allem wegen ſeiner Selbſtſuͤchtigkeit, die ihn in Taͤuſchung und Verblendung hält, und die ſich felber durch die Gewohnheit zu fündigen, ſtets neu reproducirt), uns tuͤchtig, zur Selbſterkenntniß und zur Beſſerung zu gelangen. Er bedarf alſo eines Freundes, der ihn erſtens: zwiſchen vier Augen feine Sünde nach Weſenheit und Urſprung, nach Groͤße und Fol⸗ gen wie im neuen Lichte ſchauen, und ſomit den Zuſtand feiner Taͤuſchung und Verblendung erkennen lehrt; er ber darf zweitens: eines Freundes, der ihm unter vier Au⸗ gen zu jener Gemuͤthsſtimmung verhuͤlflich iſt, in der er ſeyn muß, um feines ſittlichen Verderbens inne und los werden zu koͤnnen, inne⸗ und loswerden zu wol⸗ len, und mit ganzem Ernſte zu wollen.
Dieſer zweifache Freundesdienſt kann dem Sin der nur alsdann und unter der Bedingniß geleiſtet
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werden, daß und wenn er den Mann mit hellem Auge und reinen Sitten, mit der Liebe Johannes, und mit dem Geiſte Chriſti, in ſein Innerſtes ſehen, und darin leſ en laßt, d. i. daß und wenn er ihm ſo viel von ſei⸗ nem innern und aͤußern Leben bekennt, als dieſer zu wiſ⸗ ſen noͤthig hat, um uͤber deſſen Suͤnde und Suͤndhaftig⸗ keit ein richtiges Urtheil zu faͤllen, ihn in tiefere Selbſt⸗ kenntniß einzuführen, und ihm zu jener Gemuͤthsſtimmung zu verhelfen, in der er ſeyn muß, um des ſittlichen Ver⸗ derbens los zu werden. Dieſer Seelenumgang, dieſe Geiſtergemeinſchaft zwiſchen vier Augen, die keinen andern Zweck hat, als die vollſtaͤndige Selbſterkennt⸗ niß, und die totale ſittliche Beſſerung, und die da⸗ von abhaͤngige Beruhigung, und die weiter damit ver⸗ knuͤpfte Belehrung, Fuͤhrung deſſen, der mit ſich nd her bekannt, der gebeſſert, beruhigt und in Sachen ſeines ewigen Heils fuͤr die Zukunft belehrt, gefuͤhrt werden ſoll; dieſer ſo beſtimmte Seelenumgang zwiſchen vier Augen, und aus dieſem ſo beſtimmten Zwecke iſt die verſ chriene, oft ſchlecht benützte, manchmal auch gemißbrauch⸗ te Gewiſſensbeicht, Geheimbeicht, Ohrenbeicht, Selbſtanklage, an ſich das Heilſamſte, was in der Kirche Gottes, die ihre Glieder aus dem Suͤnderge⸗ ſchlechte nimmt und nehmen muß, ſeyn kann, wie es aus dem Verſuche, die Beicht⸗ und Beſſerungsanſtalt im neuen Lichte darzuſtellen, Nr. 139. erhellen wird. Hier nur noch dieß: Die ſo beſtimmte Gewiſſensbeicht (und jede andere Beſtimmung iſt der vernuͤnftigen Betrachtung gerade ſo fremde als dem Geiſte der Kirchenlehre), die ſo beſtimmte Gewiſſensbeicht hat alſo einen Leib und einen Geiſt: der Leib iſt die Offenbarung der bereits erkannten Suͤn⸗ de und Suͤndhaftigkeit; der Geiſt iſt die tie⸗ fere Selbſterkeuntniß, die ſittliche Beſſerung, die ſittliche Beruhigung, die ſittliche Belehrung CFuͤh⸗ rung) des Menſchen, — iſt das, was durch jene Offen⸗ barung bezwecket, und in ſofern beide Theile das Ihre thun, auch erzwecket wird.
Aus dieſem Geiſte der Geheinbeicht erhellet 1) daß alles das, und nur das dem Gewiſſens freunde
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geoffenbart *) werden ſoll, was er zu wiſſen bedarf, um das ſittliche Verderben des Suͤnders kennen zu ler⸗ nen, und zur tiefern Selbſterkenntniß, zur wirklichen Beſ⸗ ſerung, Beruhigung und Belehrung (Fuͤhrung) deſſelben
mitwirken zu koͤnnen.
Aus dieſem Geiſte der Geheimbeicht erhellet 2) daß das geheime Suͤndenbekenntniß nie Endzweck, fondern nur Mittel, und zwar Mittel nur zur Foͤrderung der ſittlichen Selbſterkenntniß, Beſſ erung, Beruhigung und wei⸗ tern Belehrung (Fuͤhrung) in Sachen des ewigen Heiles angeſehen werden darf.
Aus dieſem Geiſte der Geheimbeicht erhellet, 3) daß das geheime Suͤndenbekenntniß a) nie als Tor⸗ tur des Nichtbekennenwollenden; b) nie als Be⸗ friedigungsmittel der Neugier, die gern in fremde Haͤndel blicken oder Notizen ſammeln möchte; c) nie als Kunſtgriff, wodurch etwa irgend ein geheimer Orden gutwilligen Menſchen ihre Gewiſſens⸗Geheimniſſe
er ablockte, um fie dadurch näher an ſich anzuſchließen
und feſtzuhalten: indem der bekannte oder unbekannte Obere zum Nichtgehorchenwollenden ſagte: du mußt, denn ich habe deine Schande im Pulte; d) nie als Staats ma⸗ rime zur Ausforſchung der zweideutigen Geſinnungen der Buͤrger; e) nie als ein verſtecktes Beherrſchungs⸗ mittel der Gewiſſen, fondern ſchlechtweg nur 1) als eine Bedingung zur Befoͤrderung der ſittlichen Selbſt⸗ erkenntniß und Beſſerung, Beruhigung und Belehrung in Gewiſſens ⸗ Angelegenheiten betrachtet und benutzt werden darf und ſoll. Aus dieſem Geiſte der Geheimbeicht erhellet, 4) daß es in der Gewiſſensbeicht nie um das bloße Bekennen der
* Dieſe Offenbarung der Sünde dehnt ſich, dem Ausſpruche des Tridentinums gemäß, auf die tödtlichen Sünden, ihre Zahl und jene Umſtände aus, die einen ſpeziſiſchen Unterſchied des Böſen ausmachen, oder ſonſt das Böſe ſonderlich ſteigern, in ſofern wir uns deß Allen, nach aufrichtiger Erfor⸗ ſchung des Gewiſſens, noch bewußt werden können:
quorum post diligentem sui discussionem conscientiam habent
Sels. XIV. c. V.
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Suͤnde, ſondern um ein ſolches Bekennen der Suͤnde zu thun ſey, das a) mit dem Scham⸗ und Reugefuͤhle, b) mit dem Haſſe der Sünde, o) mit dem Beſſe⸗ rungsernſte, d) mit dem vollſtaͤndigen Vorſatze, fi ſich dem ganzen Rathe Gottes und mit allen Heilmitteln unbedingt zu unterwerfen, alſo e) mit einer Gemuͤthsfaſſung, die den Beichtenden der Los ſprechung, der Beruhigung,
der neuen Leb ens führ ng aunzfängläch Wah ver⸗ bunden iſt.
*Dieſe Gemüthsfaſſung läuft nicht fetten drei Stufen durch; in der unterſten iſt ſie Scheu vor der Gerechtigkeit (Straffurcht), in der mittlern wird ſie, durch Hülfe des Glaubens und der Zuverſicht, anfangende Liebe zu Gott (amor initia- lis), auf der oberſten wird ſie überwiegende Liebe, die
das Gemüth von allem Böſen weg⸗ und zu allem Guten hinkehrt.
Aus dieſem Geiſte der Geheimbeicht erhellet, 5) daß, wenn die Predigt als die Handlung des Sie mannes, der goͤttlichen Samen auf das Erdreich ſtreuet, betrachtet werden kann, die heilige Dienſtleiſtun g des Gewiſſens⸗Freundes, die er in der Gewiſſensbeicht ſeinem Anvertrauten angedeihen laͤßt, als die Handlung des Schnitters, der einſchneidet, was der Prediger als Saͤeman ausgeſtreuet hat, angeſehen werden kann. Je mehr der Prediger in ſeinen Zuhoͤrern das Beduͤrfniß nach tieferer Selbſterkenntniß, Beſſerung, Beruhigung und wei⸗ terer Belehrung (Fuͤhrung) rege gemacht hat, deſto er⸗ wuͤnſchter wird ihnen ein Mann ſeyn, der ihnen dieß vier⸗ fache Beduͤrfniß wirklich befriedigen hilft; und dieſe Be⸗ friedigung kann ſchlechterdings nur unter vier Augen, und nur unter der Bedingung einer Aufrichtigkeit, die die Wun⸗ den unverhuͤllt zur Heilung darſtellt, geſchehen. * Gin trefflicher Mann wurde vom Predigtſtuhle faſt immer in den Beichtſtuhl geholt. Da pflegte er denn zu ſagen: aus⸗
geſäet habe ich, nun will ich einschneiden, was ich oder Andere gefaet haben.
Dabei iſt es aber auch 1 1 6) daß, wenn der Gewiſſensfreund in Hinſt icht auf den Prediger, der goͤtt⸗ lichen Samen ausgeſtreut hat, und in Hinſi cht auf die
— 396 — | a, reife Frucht, die daraus gewachſen iſt, die Stelle eines Schnitters vertritt, er in Hinſicht auf den Sünder lichen Samens angeſehen werden muͤſſe, indem er das Wort der Wahrheit, und zwar das treffendſte Wort in die weng we: legt. | 5
135%. | i
B. Die Abſolution.
1) Für Herzen, die von Scham, Reue und Schmerz in Hinſicht auf die begangenen, und nun vor ihrem Blicke ſtehenden Suͤnden zermalmt, von den ſchauer⸗ lichen, theils ſchon erfahrnen, theils noch drohenden Fol— gen des Boͤſen erſchreckt, von den geſchaͤrften Be ſtraf ungen des verdammenden Gewiſſens uͤber man⸗ net, bei allem Ernſte des Entſchluſſes, nimmer zu ſuͤn⸗ digen, von den unzaͤhligen Proben ihrer Gebrechlich⸗ lichkeit und Untreue ſchuͤchtern und bloͤde gemacht (und das find die meiſten, und gerade die beſtmeinenden Herzen, die zur Beſſerung erweicht und vorbereitet ſind), kann wohl nichts Troͤſtenderes und Erquickenderes gedacht werden, als das Wort Ch riſti: Sohn, Toch⸗ ter! die Suͤnde iſt dir vergeben: Gott iſt dein Vater, Chriſtus dein Heiland, Gottes Geiſt deine Staͤrke; das Wort, das von dem Diener Chri⸗ ſti im Namen Chriſti und im Namen der Kirche, die ihn dazu bevollmaͤchtiget hat, a) Chriſto nachgeſprochen wird, und geſprochen wird b) erſt alsdann, wann der Gewiſſens⸗ freund den Zuſtand des Beichtenden genau gepruͤft, ſeinen neuen Ernſt und Vorſatz, ein neues Leben zu fuͤh⸗ ren, ungeheuchelt und ſtark genug gefunden hat; und aus⸗ geſprochen wird c) in die zerſchlagene, nach Beruhi⸗ gung ſchmachtende Seele ſeines Bruders, fuͤr den Chriſtus fein Leben geopfert hat; — und dieß Wort Chriſti: Sohn, Tochter! deine Suͤnde iſt dir verziehen, von dem Diener Chriſti nach reifer Erkenntniß und Pruͤ⸗ fung deſſen, der ihm ſein Gewiſſen aufſchloß, Chriſto nach⸗ geſprochen und nachgeſprochen im Namen Chriſti und im Namen der chriſtlichen Kirche, iſt das, was wir Abi lution (Losſprechung) nennen.
4
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Die Abſolution iſt alſo nicht als das Werk des Lip⸗ pen mechanismus, nicht als todter Buchſta be, ſon⸗ dern als das Wort Chriſti ſelbſt, im Munde ſeines Dieners und im Geiſte Chriſti ausgeſprochen, anzuſehen. Wer die Abſolution, im Geiſte Chriſti und ſeiner Kir⸗ che ertheilet, fuͤr eine leere Ceremonie, oder fuͤr eine bloße Erklärung, I: daß die Suͤnde vergeben ſey, halten koͤnnte, der muͤßte nicht wiſſen, was es heiße, im Namen Chriſti handeln, und ein Gewiſſen zum feſten Bewußtſeyn von Vergebung der Suͤnden und von dem e mit Ane zu bringen. AA hen
29 Daß die eigentliche Formel der acer chung: ich ſpreche dich von deinen Sünden los im Namen des Vaters, des Sohnes und des, heiligen Geiſtes, — — keinen andern Sinn und Geiſt 1 als den oben genannten: Hohn, Tochter! die Suͤnde
0 Deßhalb hat das Eridentinung im 9. Canon de Poewitenua erkläret, daß die absolutio sacramentalis Sacerdotis kein nu- N dum ministerium declarandi et pronuntiandi, Pre: actus judicialis ſey. f %) Die ganze Formel des Rituale Homann ift die: J. ‚Miserca- tur tui omnipotens. ‚Deus et dimissis peccatis tuis perducat te ad vitam aeternam, amen. Indulgentiam, absolutionem et remissionem peccatorum. tuorum tribuat tibi ‚omnipotens et. misericors Dominus, amen, Dominus noster Jesus Christus te absolvat et ego auctoritate ipsius te absolvo ab omni vin- culo excommunicationis, suspensionis ei interdieti, in quan- tum possum et tu indiges. Deinde II. ego te absolvo a 2288 catis tuis in Nomine Patris et Filii et Spiritus sancti, amen. — III. Passio Domini Nostri Jesu Christi, et Merita B. Mariae Virginis et omnium sanctorum et quidquid boni feberis et mali sustinueris, sit tibi in remissionem peccatorum, 3 tum gratiae et praemium vitae acternae, amen. . Uebrigens haben die Moraliſten einſtimmig erinnert, daß in n. II. das Nothwendige ausgeſprochen ſey, und was n. I. und n. III. ſteht, mehr zur Andacht, als zur Weſenheit des Sacramentes gehöre; auch iſt es sess. IV. c. 3. conc. Trident. wörtlich erfläret. 5
1 7 *
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ift dir vergeben. Gott iſt dein Vater, Chriſtus dein Hei⸗ land, Gottes Geiſt deine Staͤrke, bedarf keiner weitern Erklaͤrung; ſo wie dieſe Lehre keiner Rechtfertigung. Daß aber der Gewiſſensfreund, in ſofern er den Suͤnder, wel⸗ cher von Reue durchdrungen, vom Beſſerungsernſte belebet, und von Zuverſicht auf Gottes Erbarmungen ergriffen, ſeine Suͤnden aufrichtig und demuͤthig bekannt hat, von denſelben losſpricht, im Namen Chriſti handle, hat auch die gemeinſte Kaſuiſtik deutlich ausgeſprochen in der Lehre von der ſogenannten Intention des Gewiſſens⸗ freundes: Volo facere, quod facit ecelesia. Nur muß dieſes: Volo facere, ſelbſt kein leeres Wort, ſondern wahre Gemuͤthsſtimmung (Intentio animi) ſeyn. Denn, wenn der Beichtvater mit der Kirch 7 ſo wie die Kirche mit Chriſtus uͤbereinſtimmt, ſo handelt der Die⸗ ner Chriſti offenbar im Namen Chriſti.
5) Der weiſe Gebrauch der Abſolution iſt ihrem Weſen nach (von beſondern Verordnungen der Kirche, die Abſolution betreffend, kann hier die Rede nicht ſeyn) an dieß dreifache Geſetz geknuͤpft, daß ſie a) verf cho ben werden ſoll, ſo lange der Geiſt der Beſſerung in dem Beichtenden fuͤr den Gewiſſensfreund unentſchieden ft; daß fie b) vollends verſagt werden ſoll, wenn der Mangel an gehoͤriger Gemuͤthsſtimmung zur Sinnesaͤnde⸗ rung in dem Beichtenden fuͤr den Gewiſſensfreund entſchie⸗ den iſt; c) daß fie nicht verſchoben, noch weni⸗ ger verſagt werden darf, fondern ertheilt wer⸗ den ſoll, wenn der Beichtende die Gemuͤthsſtimmung hat, und erwieſen hat, die eine Umaͤnderung ſeines Kues und Lebens verbuͤrgen kann.
4) Was aber die wenigſten Beichtvaͤter genug be⸗ herzigen, iſt dieß: ehe fie das Recht haben, den Suͤn⸗ der der Abſolution unwürdig zu erklaͤren, und ſie ihm zu verſagen, muͤſſen ſie die ſchwere Pflicht im vollen Maße erfuͤllt haben, die Pflicht: den Beichtenden Abſolutions⸗ faͤhig zu machen, dadurch, daß ſie kein ſittlich verſuch⸗ bares Mittel unverſucht laſſen, ihm a) zur Selbſter⸗ kenntniß, b) zur Selbſtverdammung des erkann⸗ ten Boͤſen, c) zum Glauben und zur Zuverfidt auf
die vergebende, alle Suͤndenfolgen zernichtende, und zum Guten neubelebende Huld Gottes, die uns in Chriſtus er⸗ ſchienen iſt, und d) zum ernften Entſchluſſe, der die ganze Sinnes⸗ und ehen dene umfaßt, verhuͤlf⸗ lich zu ſeyn.
* Wohl ſcheint Vielen das, was lit. c. genannt iſt, 15 fremde zu ſeyn. Sie guälen den Beichtenden zu ſehr mit dem Erzählen des Unerzählbaren, indem ſie auf eine unmög⸗ liche Vollſtändigkeit des Sündenbekenntniſſes dringen; oder ſie belaſten ihn nur mit äußern todten Werken, die weder himm⸗ liſches Leben, noch Gewiſſensfrieden ſchaffen können, weil ſie ſel⸗ ber todt find, und verfäumen hiermit das in Bewegung zu ſetzen, wovon alles Heil ausgeht, ich meine den Glauben an Chri⸗ ſtus, der ſelbſt leben muß, um in Liebe thätig werden zu können, und der in Liebe thätig ſeyn muß, um den Sünder gerecht, heilig, ſelig z u ces
i Alſo auch der Beichtvater, und gerade 15 Beichtvater, der den Suͤnder im Namen Chriſti losſprechen ſoll, muß ihn auf die ewige Erbarmung, die uns in Chriſtus erſchie⸗ nen iſt, hinweiſen, und auch in dieſem Vieraugenumgange hinweiſen, damit er glauben, hoffen, lieben e 8. i. abſolutionsfaͤhig werden koͤnne. |
5) Alſo: der Beichtvater hat die unabweisliche 11 0 Alles zu verſuchen, was er verſuchen kann und darf, um ihn abſolutionsfaͤhig zu machen, ehe er ihm die Ab⸗ ſolution verſagen darf. Und, wenn die Gewiſſensfreunde
dieſe erfte, ſchwerſte Pflicht erfüllten, fo wuͤrden fie felten oder nie im Falle ſeyn, einen Beichtenden Abſolutions⸗
unfähig zu erklaͤren, und als ſolchen unabſolvirt fortgehen zu laſſen. i
6) Allein, um dieſe erſte und ſchwerſte aller Pflichten erfuͤllen zu koͤnnen, müßte der Gewiſſensfreund a) Zeit und Anlaß haben, ſich lange genug mit dem, der gebeſ⸗ ſert werden ſoll, zu beſchaͤftigen, und ſich nie genoͤthigt
ſehen, die wichtigſte Sache, beſonders in den Tagen des Volks⸗Zuſammenlaufes, in wenigen Minuten abzuthun: etwas, das zu den Vorſtehern der Kirche um Abhuͤlfe
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ſchreiet. Um dieſe erſte und ſchwerſte aller ſeiner Pflich⸗ ten erfüllen zu koͤnnen, müßte b) der Gewiſſensfreund nicht nur in guten Bildungsauſtalten des kuͤnfti⸗ gen Klerus erzogen, und in Religionswiſſenſchaft und Men⸗ ſchenkunde beſſer unterrichtet worden ſeyn, ſondern uͤber⸗ dem die himmliſche Kraft der Gottſeligkeit in ſeinem In⸗ nerſten ſelbſt zum Voraus erfahren, und die Erforderniſſe zur chriſtlichen a aus dem g Haff Re ſtudirt haben.
136.
0. Individuelle Belehrung individuelle Fihrano, naͤ⸗ bere Beſtimmung der Satisfaktion, injunctio poenitentiae). ar
19 Es entſtehen aus der Suͤnde Ver bind hichtei⸗ ten, die der gebeſſerte Menſch zu erfuͤllen hat, 240 deren Erfuͤllung die fortſchreitende Sinnesaͤnderung (spiritum perpetuae poenitentiae) ausmacht. Dieſe Verbindlich⸗ keiten laſſen ſich als Eine Pflicht ſo ausdruͤcken: Du ſollſt alle Folgen deiner Suͤnde, die du auf⸗ heben kannſt, aufheben. Dieſe Eine Pflicht: hebe alle aufhebbaren Suͤndenfolgen auf, liegt ſchon in der einzigen Pflicht des Boͤſen, werde gut! Denn Gutwerden heißt: die Suͤnde nicht nur in ihrer Wurzel, ſondern auch in allen ihren Verzweigungen und Fruͤchten verfolgen; heißt einen Vertilgungskrieg wider die Suͤnde fuͤhren, einen Krieg, der einwärts die. unſichtbare Wurzel ausrottet, auswärts das Leben des Baumes in Stamm, Aſt und Frucht toͤd⸗ tet. Sobald alſo der Gebeſſerte irgend eine Suͤndenfolge wahrnimmt, und ſie tilgen kann, ſo hat er auch die Pflicht,
ſie zu tilgen.
2) Dieſe Eine Pflicht hat in naͤchſter Hinſicht auf den Neugebeſſerten den Sinn: Du ſollſt alle die Zerruͤttungen, die die Suͤnde in deinem Erkennt⸗ nißvermoͤgen, in deinem Willen und Ge muͤthe, in deinem Koͤrper angerichtet hat, nach Vermoͤgen heben. Die Denk⸗ und beſonders die Einbildungs⸗ und Genäbrnis-Hrait hat auch in dem Gebeſſerten noch
einen
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einen Reſt von Fertigkeit, Bilder des veruͤbten, in der Erinnerung noch reizenden Unrechtes zu erneuern und auszumalen. Dieſem Reſte von Fertigkeit kann er da⸗ durch entgegen arbeiten, daß er ſeine ganze Denkkraft mit den lebendigen Gedanken von Gott und Unſterb⸗ lichkeit, von Chriſtus und Chriſti Geiſte, von der Schoͤnheit der Tugend und ihren Verheißungen, von der Schaͤndlichkeit der Sünde und ihrem Ver⸗ derben beſchaͤftiget, daß er dieſe lebendigen Gedanken durch immer wieder erneuerte Meditation zu ſeinen ver⸗ trauteſten Gedanken macht, und ſie mit Bildern von dem, was die Religion Heiliges, die Tugend Erhabenes, die Hoffnung der Frommen Erhebendes, die Suͤnde Haͤßliches, und die Suͤndenfolgen Schreckendes has ben, verſinnlicht, belebt und verſtaͤrkt, und da⸗ durch der Einbildungs⸗ und Erinnerungs- Kraft das Amt, dieß Alles zur rechten Stunde ihm zu vergegenwaͤrtigen, theils auftraͤgt, theils erleichtert. Dieß kann er, alſo ſoll er es.
Der freithaͤtige Wille wird auch in dem gebeſ⸗ ſerten Menſchen noch gedruͤcket von den Sorgen des Le⸗ bens, fühlt ſich oft noch ſelbſt träge, und wie gelaͤhmt zum Guten, eine Folge theils der vorigen Lebensweiſe, theils der natuͤrlichen Gebrechlichkeit. Jenem Drucke der Lebensſorgen und dieſer Laͤhmung zum Guten kann der Gebeſſerte dadurch entgegenarbeiten, daß er a) durch Selbſt⸗ erhebung zu dem Goͤttlichen und Ewigen den Sinn fuͤr das neue beſſere Leben weckt und hebt; b) ihn durch treues ſtetes Aufmerken auf die Warnungen des Gewiſſens, auf die Zeugniſſe des heiligen Geiſtes; c) durch begleitende Selbſtverluͤugnung nach dem Gebote des Gewiſſens, und d) durch wirkliches Rechtthun ſiegend macht. Dieß kann er, alſo ſoll er es.
In dem Koͤrper koͤnnen dreierlei Spuren der
Suͤnde ſeyn: Schwaͤchung, Zerruͤttung im Ins
nern des Leibes, Verhaͤßlichung, Verwuͤſtung im
Aeußern, uͤbermaͤchtiger Reiz zur Luſt, die mit der
Suͤnde verknuͤpft war. Lauter Folgen der Herrſchaft, die J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. zte Rufl. 26
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die Suͤnde, aus der Seele ausgehend, in dem Leibe aus⸗ geuͤbt hat. Dieſe Folgen kann der Gebeſſerte heben oder wenigſtens mindern, oder gewiß ſeiner Tugend unſchaͤd⸗ lich machen durch Arbeitſamkeit, durch Bewahrung der Sinne, durch Beherrſchung der ungeordne⸗ ten Eßluſt, vor Allem durch Enthaltſamkeit vom Wiedergenuſſe der verbotenen Luſt, und durch willige Erduldung unvermeidlicher (obgleich veefchulbenee) Leiden. Dieß kann er, alfo fol er es.
3) Die Verbindlichkeit, die ſich zunaͤchſt auf ſei⸗ nes Gleichen bezieht, iſt die: Du ſollſt gut machen alle Beſchaͤdigungen, die deine Suͤnde außer dir an⸗ gerichtet hat, deren du bewußt werden und die du gut machen kannſt, und gutmachen denen, die deine Suͤnde beſchaͤdiget hat, und ſo gutmachen, wie du ſie gutmachen kannſt; die Beſchaͤdigungen mögen übrigens an den Guͤ⸗ tern der Seele (an Wahrheit, Unſchuld, Tugend und allen den Freuden, die damit verknuͤpft ſind), oder an den Gütern der oͤffentlichen Ehre, oder an den Gütern des zeitlichen Gluͤckes geſchehen ſeyn.
Was du an den Beſchaͤdigungen, die du angerichtet haſt, gut machen kannſt, das kannſt du gut machen, alſo ſollſt du es auch.
4) Wenn ſchon die Sünde in den Zerruͤttungen und Beſchaͤdigungen, die ſie anrichtet, Gottes unwandelbare Majeſtaͤt nicht erreichen, ihr nichts anhaben kann: ſo geht doch aus der Thatſache der Suͤnde, auch in Bezie⸗ hung auf Gott, eine Verbindlichkeit für den Gebeſſer⸗ ten hervor, und zwar eine ſolche, welche auch die zwei ſchon erklaͤrten Pflichten von Aufhebung aller Suͤndenfolgen in und außer dem Suͤnder in ſich faßt. Dieſe Verbind⸗ lichkeit laßt ſich fo darſtellen: Menſch! du haft geſuͤn⸗ diget, du haſt Gnade gefunden, du kannſt wieder ſuͤndigen, du biſt, fo lange du lebeſt, mancherlei Leiden ausgeſetzt. Du haft gefündiget, denn die Suͤnden⸗ folgen, Suͤndenſpuren liegen noch in deinem Geiſte, in deinem Leibe, außer dir. Du haſt Gnade gefunden, denn Gott hat dir (ohne und wider dein Verdienen) zur
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Beſſerung verholfen, und hat dir die Sünde ver⸗ geben. Du kannſt wieder fündigen, denn du traͤgſt auch als Gebeſſerter noch die Narben des Falles, traͤgſt die Reizbarkeit zum Boͤſen noch in dir, kannſt alſo, ſo lange du auf Erden lebeſt, nie außer Gefahr kommen, wieder zu ſuͤndigen. Du biſt mancherlei Leiden aus⸗ geſetzt, Leiden, die aus dir, aus der menſchlichen Geſellſchaft, aus dem Naturlaufe OR RER aber alle unter Gottes Leitung ſtehen.
Du ſollſt alſo, weil dir Gott zur Beſſerung geholfen und deine Suͤnden vergeben hat, a) den, der dich zuvor geliebt hat, von ganzem Herzen entgegen lie⸗ ben; du ſollſt b) dieſe Dankbarkeit dadurch beweiſen, daß du mit aller Wachſamkeit und mit aller Gewiſſens⸗ treue, die der Liebe und nur der Liebe moͤglich iſt, dich vor der Wiederuͤbertretung des heiligen Geſetzes bewah⸗ reſt; du ſollſt c) die Hebung aller Zerruͤttungen, die die Sünde in dir, die Gutmachung aller Beſchaͤ⸗ digungen, die ſie außer dir angerichtet hat, als Gottes Gebot anerkennen, und dieſes Gebot im Geiſte derſel— ben dankbaren Liebe erfüllen; du ſollſt d) ins⸗ beſondere die Leiden, die dich im Laufe des Lebens tref⸗ fen, als fo viele vaͤterliche Zuͤchtigungen Gottes anſehen, und an dir zur hoͤhern Reinigung und Befes ſtigung deiner Geſinnung wirkſam werden laſſen, indem du ſie, im Triebe der dankbaren Liebe, wie aus der Hand Gottes annimmſt, und zu ſeinem Zwecke, dich rein zu ma⸗ chen und rein zu erhalten, mitwirkeſt. Das kannſt du, alſo ſollſt du es. 5
5) In wiefern nun der Gewiſſensfreund dieſe Ver⸗— bindlichkeiten, die aus der Suͤnde hervorgehen, dem Gebeſſerten als wichtige Wahrheit erfläret, als unerlaͤßliche Pflicht einſchaͤrfet, als Fraf tige Arznei vorſchreibet, als Wahrheit, als Pflicht, als Arznei nach den individuellen Beduͤrfniſſen, Lagen, Umſtaͤnden des Gebeſſerten ſo genau wie moͤglich beſtimmt, und ſo dringend wie moͤglich an's Herz leget, und ſofort das Werk der Heiligung in dem
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Gebefferten theils anbahnet, theils for bert theils ſichert: in ſofern laͤßt der Gewiſſensfreund dem Geber ſerten die Wohlthat der individuellen Belehrung (der individuellen Fuͤhrung) angedeihen, eben dadurch, daß er ihm alles das zur Pflicht macht, was er der dankba⸗ ren Liebe gegen Gott, was er den Forderungen der hei— ligen Gerechtigkeit ſchuldig iſt, was ihn vor dem Ruͤckfalle ſichern, was die Reſte der Suͤnde tilgen, und das Werk der vollkommenen Beſſerung fördern kann. (Dieß heißt in der Kirchen⸗ und Schulſprache: Buße auflegen än- jungere poenitentiam).
6) Das ſo eben genannte Verhalten des Gewiſſens⸗ freundes beſteht alſo darin, daß er alle Verbindlichkeiten, die aus der Suͤnde hervorgehen, dem Gebeſſerten nach deſ— ſen Lage und nach der Summe ſeiner Beduͤrfniſſe in ih⸗ rer ganzen Wichtigkeit und Anwendbarkeit darlege.
Er lehrt ihn alſo a) die Verguͤtungs-Pflicht gegen ſeine beſchaͤdigten Mitmenſchen kennen und aus⸗ uͤben: das fordert die Gerechtigkeit gegen deines Gleichen von dir, alſo leiſte es. Er lehrt ihn b) die Ergaͤn⸗ zungs⸗ und Bewahrungspflicht, die er gegen ſich ſelber hat, kennen und ausuͤben; die Ergaͤnzungspflicht gegen ſich ſelbſt: du haſt ſo viel Zeit verſaͤumt, bringe die Verſaͤumniſſe durch gedoppelten Eifer herein; du haſt durch die Suͤnde in deinem Verſtande, Willen, Gemuͤthe und an deinem Leibe ſo viele Verwuͤſtungen angerichtet: raͤume alle ag Ruinen des Boͤſen in dir und an bir hinweg; die Selbſtbewahrungs- Pflicht in Hinſicht auf Gegenwart und Zukunft: das thue, das meide, das entbehre, das dulde, was gethan, gemieden, entbehrt, geduldet — dich vor dem Wiederfalle ſichern kann. Er lehrt ihn c) die Pflicht der dankbaren Liebe gegen Gott, gegen Chriſtus kennen und ausuͤben; dein ganzes Leben ſey ein Dankopfer; liebe den, der dich von der Suͤnde und dem Elende frei gemacht hat; nach⸗ dem dich die Barmherzigkeit gerettet hat, ſo thut die Ge⸗ rechtigkeit ſtrenge Forderungen an dich; bewahre dein Herz mit ernſter Treue, denn es find dir nun neue Kraͤfte geſchenkt, neue Pflichten auferlegt. N
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2) In ſofern die dankbare Liebe gegen Gott in dem gebeſſerten Menſchen die Forderungen der goͤtt— lichen Gerechtigkeit erfuͤllet, thut ſie das, was die Schule satisfacere (genugthun) nennt. Eben dieſe dankbare Liebe ſieht die Leiden, die aus der Suͤnde folgen, als Zuͤchtigungen der Gerechtigkeit an, und unterwirft ſich ihnen willig, und erfuͤllet hiemit das, was die Schule satisp ati (genug leiden) nennt.
Dieß Satis facere, dieß Satispati tritt dem Opfertode Chriſti nicht zu nahe; denn, nachdem uns Gott in Chriſtus von der Suͤnde erloͤſet hat: ſo iſt es ja bil⸗ lig, daß wir die aus ſtaͤter Gnadenfuͤlle uns zufließende göttliche Kraft, Gutes zu thun und Widriges zu leiden, in dankbarer Liebe dazu anwenden, wozu ſie uns geſchenkt iſt, naͤmlich zur Erfuͤllung aller Forderungen, die die ewige Gerechtigkeit an die Geretteten macht. Himmliſch- milde ſind die Ausdruͤcke des Tridentinums hieruͤber: Neque vero ita nostra est satisſactio haec, quam pro peccatis nostris exsolyimus, ul. non Sit per Chri- stum Jesum; nam qui ex nobis tanquam ex no- bis nihil possumus, eo cooperante, qui nos con fortat, omnia possumus. Ita non habet homo, unde glorietur, sed omnino nostra gloriatio in Christo est, in quo vivimus, in quo meremur, in quo salisfacimus, facientes fructus dignos poeni- tentiae, qui ex illo vim habent, ab illo offe- runtur Patri, et per illum acceptantur a Patre, sess. XIV. c. VIII.
Was die erleuchteten Vaͤter der Kirche die partes tres integrantes poenitentiae nannten, iſt genau einſtimmend mit dem, was hier uͤber die Beſtand— theile der Buße geſagt ward. So lehrt Bonaventura: Ipsius (poenitentiae) autem partes integrantes sunt contritio in animo, confessio in verbo, satisfactio in facto. Ex quibus tune poeni- tentia integratur, cum peccator omnem culpam perpetratam et facto deserit, et verbo acta et a nimo detestatur. Se 8
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Die Gruͤnde, wozu dieß Alles, findet er in der Weisheit des hoͤchſten Arztes: „In unſerer Heilung muß offenbar werden die hoͤchſte Weisheit unſers erfahrenſten Arztes, die durch entgegengeſetzte Mittel heilet, wodurch nicht nur die Krankheit gehoben, ſondern auch die Urſache der Erkrankung entfernt wird. Die Suͤnde wider Gott wird im Herzen, im Munde, im Werke vollbracht.
„Dieſe dreifache Unordnung muß nach den Vorſchriften des Arztes gehoben werden durch den Schmerz der Buße, den das Herz in der Zermalmung fuͤhlet, der Mund aus druͤckt in der Beicht, das Werk vollendet in der Genugthuung.“ (Breviloquii SORTE parte.)
Vortrefflich hat Geißhüttner den Geiſt der Bußanſtalt (Theol. Moral III. Thl. S. 45. 46.) angedeutet: Die kirchliche Bußanſtalt muß dem Beduͤrfniſſe des Suͤnders gaͤnzlich angemeſſen ſeyn. Dieß Beduͤrfniß iſt die Wieder⸗ herſtellung in den Stand der Gnade oder die Wieder⸗ verſoͤhnung Creconciliatio), deren ſich der Buͤßer bes wußt werden ſoll. Dieſe Bußanſtalt muß ſich alſo auf Alles beziehen, was immer zur erwähnten Wiederverſoͤh⸗ nung und zum Bewußtſeyn derſelben gehoͤrt; alſo 1) auf Tilgung der Sünde a) nach ihrer Strafwuͤrdigkeit oder Schuld durch Sinnesaͤnderung, Reue, Vorſatz, neuen Lebenswandel; b) nach ihrer moraliſchen Folge, oder nach der Strafe durch Genugthuung; 2) auf Ver⸗ ſicherung der getilgten REN: der Schuld und der Strafe nach.
137.
Was bisher von der individuellen Fuͤhrung des Reumuͤthigen behauptet ward, laͤßt ſich aus dem weſent⸗ lichen Inhalte aller Ethik in einem neuen Lichte darſtellen.
Wenn der Böfe eines guten Willens empfuͤng⸗ lich und habhaft geworden; wenn der Unruhige Ruhe und Friede vor Gott gefunden hat, und nun den erſten Schritt auf die neue Lebensbahn thun ſoll: ſo kommt Al⸗ les darauf an, daß er ſich eine neue Lebensweiſe
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entwerfen und nach dieſem Entwürfe das Le—
ben fuͤhren lerne. Nun ſowohl in jenem Entwurfe der neuen Lebensweiſe, als in dieſer Fuͤhrung des Lebens kommt ihm der Beiſtand eines en Gewiſſens⸗ a trefflich zu Statten. in
Er ſteht ihm bei 1) im Entwürfe einer neuen Lebens weiſe; denn er lehrt ihn in Hinſicht auf Vers gangenheit die zuruͤckgelaſſenen Spuren der Suͤnde verwiſchen, und die Folgen der Suͤnde aufheben. Er lehrt ihn in Hinſicht auf die Zukunft die dankbare Liebe gegen feinen Erretter in ſtaͤtiger Unterwuͤrſigkeit unter alle Gebote des hoͤchſten Geſetzgebers und unter alle Fuͤhrungen des hoͤchſten Regenten, nach allen Er⸗ forderniſſen ſeines Berufes und feiner ganzen Lage, ers weiſen. Er lehrt ihn in Hinſicht auf den gegen waͤr⸗ tigen Augenblick (und jede Zukunft wird Gegen⸗ wart) ſich ſelber anmannen zur Wachſamkeit des Gei⸗ ſtes, damit ihn das Boͤſe nicht uͤberraſche; zur Kaͤmpfer⸗ treue, damit ihn das Boͤſe nicht wieder uͤberwinde; zum Gebete, damit ihm ſtaͤts neue Kraft zum Wachen und Kaͤmpfen zufließe.
Er ſteht ihm bei 2) in wirklicher Führung des neuen Lebens, indem er mit ihm in einen heiligen Freund ſchaftsbund tritt, und in demſelben Bunde bleibt bis zum Tode; denn, wie der Vater der erſte und der ewige Freund ſeines Sohnes iſt: ſo iſt auch der Beichtvater durch den Einfluß auf das neugeborne Heil des Beichten⸗ den ſein Freund geworden, und als ſein Freund warnet, bittet, ſtaͤrket, troͤſtet, belehret er ihn — außer und in dem Beichtſtuhle, bis ſie der Tod ee u
—
138. Eine Frage und drei Folgen.
Das iſt alſo der große und mannigfaltige Dienſt, den der Gewiſſensfreund unter der Bedingung der Ge⸗ wiſſensbeicht dem Suͤnder, im Namen Chriſti und der Kir⸗ che, thun kann, und ich darf fragen: welcher Dienſt
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der Menſchheit heilſamer ſeyn koͤnnte, als dieſer, wodurch die ſittliche Selbſterkenntniß und Beſſerung, die Beſſerung und Beruhigung und individuelle Belehrung Führung) deſſen, der zur Selbſterkenntniß gebracht, der gebeſſert, beruhiget, belehrt und gefuͤhrt werden ſoll — erzielet werden kann, und, wenn der Beichtvater und der Beichtende ihre Pflicht erfüllen, auch erzielt wird?
Drei Folgen.
Da der Zweck der Gewiſſensbeicht kein anderer 728 darf, als die tiefere Selbſterkenntniß, die voll⸗ ſtaͤndige Beſſerung, die gruͤndliche Beruhigung und paſſende Belehrung, Fuͤhrung des Beich⸗ tendenz die Mitwirkung zu dieſem großen Zwecke aber nicht nur Erkenntniß, ſondern auch Liebe, Ge⸗ duld und lauteren Sinn Chriſti, und vor Allem Er⸗ fahrungs⸗ Weisheit in dem, was zur Foͤrderung des Seelenheiles gehoͤrt, in dem Gewiſſens-Freunde voraus⸗ ſetzt: ſo erhellet daraus eine beſondere Verbindlichkeit fuͤr Kirchenvorſteher, Beichtvaͤter, Beichtende, die die Moral hier nicht verſchweigen darf.
1) Eine beſondere Verbindlichkeit fuͤr die Kirchen⸗ vorſteher: nur Maͤnner, nicht Kinder, nur Maͤnner von Einſicht, nicht Unwiſſende, nur Maͤnner, ausgeruͤſtet mit dem Geiſte der Liebe und Geduld, nicht Flatterlinge, und bewaͤhrte Maͤnner, nicht Neulinge zu dieſer allerwich⸗ tigſten Angelegenheit zu bevollmaͤchtigen;“) denn die Hand⸗ lung, die nur in dem Elemente des Vertrauens gedeihen kann, ſetzt Vertrauenswuͤrdigkeit voraus, und Vertrauens⸗ wuͤrdigkeit Gaben und Charaktere, die Vertrauen einflößen können.
2) Eine beſondere Verbindlichteit fuͤr die Veen ſich keine Frage, keine Geberde, keine Handlung, keine Aeußerung zu erlauben, die nicht als Bedingung zur tie⸗ fern Selbſterkenntniß, vollſtaͤndigen Beſſerung, gruͤndlichen Beruhigung und nöthigen na des ee e von
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) In der Kircenfprace: curanı animarum verteilen.
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„= 409 —
dem * Zwecke der Oeifenbeicht geboten, ‚ober empfohlen wird.
ö 3) Eine beſondere Verbindlichkeit fuͤr die Beichten⸗ den, ſich nur den Mann zum Gewiſſensfreunde zu waͤh⸗ len, der ihr Vertrauen verdienen, und zur Foͤrderung ih⸗ rer Selbſterkenntniß, Beſſerung, Beruhigung, Belehrung (Fuͤhrung) benuͤtzen kann und will; den gewählten und tuͤchtig gefundenen nicht leicht gegen einen andern zu vertauſchen, und ihm durch Vertrauen, Offenherzigkeit und Folgſamkeit die Erfuͤllung ſeines großen Amtes moͤglich, leicht und ſegensreich zu machen.
139.
Noch einige Erinnerungen.
So einleuchtend dem nuͤchternen Gemuͤthe ſeyn mag, was bisher von dem Geiſte der Konfeſſion, der Abſolution, der Satisfaktion erklaͤrt ward: ſo moͤgen ihm doch die Zugaͤnge in das Herz manches Juͤnglings ver⸗ mauert ſeyn. Es liegt auf der Wahrheit viel Staub, den theils Unwiſſenheit und Mechanismus, theils Ekel an allem Heiligen, theils boͤſe Laͤſterung mit der Wahrheit gleichſam amalgamirt haben.
Ich will die Scheidung des Wahren vom anhäͤngen⸗ den Falſchen anbahnen, indem ich zuerſt die Einwuͤrfe des Zeitalters zu entkraͤften, dann die Anſtalt ſelber in einem neuen Lichte darzustellen, und zuletzt noch Einiges, was in der Naͤhe liegt, in's Andenken zu bringen und zu wanne, ten verſuchen werde.
I. Nichtigkeit der Einwürfe. 0
Wider das geheime Suͤndenbekenntniß haben ſich den Juͤnglingen, die dieſer Huͤlfe gerade am meiſten beduͤrf⸗ ten, drei Vorurtheile in den Kopf und noch mehr in das Herz geſetzt.
Das erſte: Du wirfſt dich weg, wenn du ein Weſen deines Gleichen in dein Herz und Gewiſſen ſehen laͤſſeſt. Antwort: Suche vor⸗ erſt den Mann, bei dem dein Gewiſſens- und Herzens⸗ Geheimniß ſicherer hinterlegt iſt, als bei dir ſelber, und
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der fein Mitwiſſen deines Elendes (denn Suͤnde iſt Elend und zeugt Elend), nur zu deinem Heile benutzt, und wenn du ihn gefunden haſt, dann laß dich vor ihm ſehen, wie du biſt. Einen ſolchen Mann nicht aufſuchen iſt Leichtſinn; ihn finden iſt Segen, und dem gefundenen ſich anvertrauen das Vernuͤnftigſte, was ein Kranker thun kann. Wer einem ſolchen Arzte ſeine Suͤnden aufdeckt, wirft nicht ſich ſelbſt weg, ſondern ehrt ſich ſelbſt, indem er das Heil nur in dem Heile ſuchet.
Wer ſich aber vor dem bewaͤhrten Arzte, und dem Meſſer, das in die Wunde ſchneidet, fuͤrchtet, mag ſein Leben auch noch wegwerfen, nachdem er ſich ſchon weg⸗ geworfen hat.
Das zweite: Du ſetzeſt deine Ehre und dei⸗ ne Ruhe und dein Gluͤck in Gefahr, wenn du deine ſchlechte Seite zu Markte bringſt. Ant⸗ wort: Wer das verſchwiegene Auge eines Johannes in ſein Innerſtes blicken laͤßt, bringt ſein Boͤſes nicht zu Markte, ſondern in ein Heiligthum, wo es ſicherer iſt, als im Buſen des Suͤnders. Und, wer die Weisheit Ehrifti in dem Jünger Chriſti wiederglaͤnzend, zum Hei⸗ lungsmittel ſeiner Thorheit macht, ſetzt Ehre, Ruhe, Gluͤck nicht in Gefahr, ſondern kommt dadurch, daß er ſeine Schande und die Unruhe feines Gewiſſens, und das Uns heil, das aus der Suͤnde hervorgeht, offenbaret, zur Ehre, zur Ruhe, zum Heile, indem er die Quellen der Schande, der Unruhe und alles Unheils kennen und zerſtoͤren lernt — an der Hand eines Freun⸗ des, der Ehre, Ruhe und Heil bei Chriſtus gefunden hat d und finden lehrt. f
Das dritte: Was dir ein Anderer thun 27 das kannſt du dir ſelber thun, und beſ⸗ ſer, als er. Antwort: Die unheilige Selbſtſuͤchtig⸗ keit, welche die Suͤnde deiner Suͤnde ausmacht, kann 1) nicht thun, will 2) nicht thun, und wird 3) nie thun, was die heilige Liebe eines Andern mit dem Geiſte Chriſti einſtimmig, in dir anbahnen, durch dich und in dir vollenden kann, will, wird. — — Aber das verſchwiegene Auge eines Johannes
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aa doch ſehr ſchwer zu finden ſeyn. Ver⸗ ſchwiegenheit wirft du überall leicht finden, aber den
liebenden Johannes im Beichtvater nicht fo leicht. Doch
ſuche du nur: auch das Seltene findet die Treue des Suchenden, und dann werde du ſelbſt ein Johan⸗ nes, damit der Suchende leichter finde. Endlich bitte den Vater der Ernte, daß er mehrere 1 Arbei⸗ ter auf ſein Feld ſende.
II. Berfuhz die Beihte und Befferungsanftält in neuem
N Lichte darzuſtellen. Die Beicht⸗ und Beſſerungsanſtalt aus dem Get chts⸗ punkte der ſittlichen Selbſterkenntniß, Beſſerung, Beruhigung und weitern Fuͤhrung des Menſchen betrachtet, hat an Erhabenheit, Lauterkeit und Vollſtaͤn⸗ digkeit des Zweckes, an innerer Energie auf den Menſchen und in dem Menſchen zu wirken, und an wirk⸗ lichen Einfluͤſſen auf das Heil des ſuͤndigen Geſchlech⸗ tes unter allen Anſtalten nicht ihres Gleichen; ſie iſt
1) eine Anſtalt zur individuellen Bearbeitung des Men⸗ ſchen durch ein ſelbſtgewaͤhltes vertrauenswuͤrdiges Indivi⸗ duum, dem wir die Macht zutrauen, uns in dem wich⸗ tigſten Geſchaͤfte des ewigen Heils die wichtigſten Dienſte zu thun. Sie iſt
2) eine Anſtalt zur Bearbeitung des ganzen Men⸗ ſchengeiſtes, indem ſowohl das Erkennen als das Wollen und das Gefuͤhl des e ee re werden ſoll. Sie iſt
3) eine Anſtalt zur religioͤſen Beärbeitung des Men⸗ ſchen, zur Aufloͤſung des großen Raͤthſels, wie der Menſch ſich ſelber erkennen lernen, beſſer, ruhig, vollkom⸗ men werden kann; ein praktiſches Nos ce te ips um, Vince te ipsum, Emenda te N een Per. fice te ipsum. Sie iſt
4) eine Anſtalt zur Bearbeitung des Menſchen, die ſehr wohl berechnet iſt auf die ſchreiendſten Beduͤrf⸗ niſſe des Suͤndergeſchlechtes, indem der Suͤnder, als blind und böfe, Erweckung zur Selbſterforſchung und
zur Beſſerung, deren er bedarf, als unruhig Beru⸗
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bigung, deren er bedarf, als unwiſſend Belehrung Führung), deren er bedarf, erhaͤlt. Sie iſt
5) eine Anſtalt, die von einer Seite in den wichtig⸗ ſten Angelegenheiten auch dem verſunkenſten Men⸗ ſchen noch Huͤlfe anbeut, und wenn er ſie annimmt, auch ihn noch aus dem Abgrunde des Verderbens retten kann, und von der andern die Gefahren der Unſchuld und Tugend in dem bluͤhenden und noch unverderbten Alter auf die kraͤftigſte und ſchonendſte, oft auch auf die einzig moͤgliche Art heben oder mindern kann. Sie iſt
60 eine Anſtalt, die man den allerreinſten Chri⸗ ſtianismus in feiner ſchoͤnſten und kraftigſten An» wendung nennen kann; denn, wie Chriſtus kam, ſelig zu machen, was verloren war: ſo haben die Gewiſ⸗ ſens freunde den ſchoͤnen Beruf, in feinem Ra men und mit ſeinem Geiſte zerriſſene Gewiſſen zu heilen, geheime Wunden zu verbinden, und ſeine Stelle in ſeiner Kirche auf die wuͤrdigſte Weiſe zu vertreten. Sie iſt 7) eine Anſtalt, die die un entbehrlichſte Aufhel⸗
lung in Sachen der Ewigkeit aus dem Wolkenhimmel der Allgemeinheit in das Heiligthum des Einzel⸗ nen herabzieht, dem Einzelnen anpaßt und dadurch etwas leiſtet, was keine Philoſophie und ſelbſt auch kein chriſtliches Predigtamt leiſten kann. Wahrhaftig, ein ungenannter Vortheil der Beichtanſtalt: alle Fehler, alle Luͤcken des oͤffentlichen Unterrichtes koͤnnen durch einen weiſen Beichtvater auf die leichteſte, ſicherſte, und faſt immer auf die einzige Weiſe ee ert, ergaͤnzt werden. Sie iſt
3) eine Anſtalt, die nach dem Geiſte Christi be nüt t goͤttliche und ewige Freundſchaft ſtiftet, zwiſchen den Beichtenden und dem Gewiſſensfreunde, und ſtiften muß; denn, wenn zwei Menſchenſeelen einander ihr Innerſtes ſehen laſſen; wenn der Unwiſſende durch den Weiſen, der Boͤſe durch den Guten, der Ge aͤngſtigte durch den Gottſeligen zur Freundſchaft mit Gott, zuruͤck gefuͤhrt wird: ſo muß durch den Akt und durch die Weiſe dieſes Zuruͤckfuͤhrens in beiden
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nothwendig eine Befreundung entſtehen, die von Gott ausgehend, und zu Gott zuruͤckfuͤhrend — nicht an⸗ ders als goͤttlich und ewig (ſo rein und ſo beſtehend wie Gott), ſeyn kann. Sie iſt endlich |
9) eine Anftalt, wodurch nicht nur dem Suͤnder als Suͤnder zur Selbſterkenntniß und Beſſerung, zur Beruhi⸗ gung und Belehrung in Sachen des Gewiſſens verholfen, ſondern dem Menſchen als Menſchen, der mit unge⸗ nannten und unnennbaren Leiden zu kaͤmpfen hat, Rath, Troſt, Huͤlfe ertheilet wird. Denn mit dem Gewiſſen thut ſich auch das Herz auf, und thut ſich, wegen der weſentlichen Verknuͤpfung zwiſchen beiden, nothwendig auf, und der Gewiſſensfreund, der im Namen Chriſti das Gewiſſen beruhiget hat, weiß auch im Namen Chriſti Troſt in das kranke Herz zu legen. Nur Engel und Engel-Menſchen ſind es werth, die Thraͤne zu ſehen, die im Auge des Erquickten ſchim⸗ mert, der den Beichtſtuhl verlaͤßt, und den ene Johannes im Prieſter gefunden hat.
Ob alſo gleich die Gewiſſensbeicht nur als Bedingung zur Selbſterkenntniß, Beſſ ſerung, Beruhigung und Beleh— rung in Sachen des Gewiſſens angeſehen werden muß: ſo macht doch die Nachbarſchaft des Herzens und des Gewiſſens, daß aus der Gewiſſensbeicht gar oft eine Herzensbeicht werden muͤſſe, und der Troſt Gottes in Geiſt und Herz zugleich ausgegoſſen werde.
III. Winke zur Verſtändigung über Naheliegendes, das gar nicht oder nicht genug beachtet ward.
1) Nun wird auch wohl von ſelbſt einleuchten, war⸗ um alle apoſtoliſche Männer in unſerer Kirche fo ſehr anf. den frequens usus sacra mentorum po e- nitentiae et communionis gedrungen haben. Weil ſie naͤmlich in der Beichtanſtalt das beſte Mit— tel zur ſittlichen Erleuchtung, Beſſerung, Beruhigung und Fuͤhrung der Menſchen, und in der Kommunion ein goͤttliches Himmelsbrod zur Naͤhrung des geiſt⸗ lichen Lebens fanden: ſo konnten ſie nicht wohl umhin, die zwei maͤchtigſten Belebungs- und Staͤrkungsmittel des
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himmliſchen Sinnes mit dem erſten Nachdrucke der Nan meinen Anwendung zu empfehlen.
2) Daraus erhellet auch, daß die Abſolution keine bloße Ankuͤndigung der Suͤndenvergebung, ſondern wahre Abſolution nach dem Sinne des Tridentinums ſey, denn die Suͤndenvergebung bloß ankuͤnden kann nicht nur jeder Prediger als Prediger an alle Zuhoͤrer, ſondern jeder Chriſt als Chriſt an jedes einzelne Chri⸗ ſtenherz. )
5) Hier leuchtet auch im Ruͤckblicke auf das Ganze der Unterſchied zwiſchen der dogmatiſchen und mora⸗ liſchen Betrachtung des Lehrbegriffes von dem Sakramente der Buße, ſo wie das Zuſammenfallen beider, wie in neuem Lichte ein. Denn, wenn die Dogmatik a) die Einſetzung Chriſti, b) die Gnade Chriſti, c) das Weſen des Sakramentes, und ſomit d) das opus operatum darleget: ſo ſtellet die Moral a) den Einfluß, den die Beicht⸗ und Bußanſtalt und die Adminiſtration des Sa- kramentes auf die Erleuchtung, Heiligung und Beſeligung des menſchlichen Geſchlechtes hat, b) die ſittlichen Bedin⸗ gungen, ohne die jener Einfluß von Seite des Beichten⸗ den und Beichthoͤrenden nicht Statt haben kann, und ſo⸗ mit c) das opus operantis dar, ohne die Einſetzung Chriſti, die Gnade Chriſti, das Weſen des Sakramentes
*) Eben deßhalb iſt die Gewalt, von Sünden loszuſprechen, und überhaupt die Gewalt, die Sakramente zu ſpenden, eine potestas ministerialis, die nicht dem
SChriſten als Chriſten, ſondern dem Prieſter als Prieſter zukommt. Der Prieſter handelt als Minister Christi et Ecclesiae Die entgegengefegte Meinung iſt grundlos, ſektenartig und dem Geiſte der Univerſalkirche durchaus wider— fideitend. Das Weib ſoll im Haufe die Kinder zu Chriſtus führen, aber in der Kirche muß es ſchweigen. Den Apoſteln, nicht den Weibern. iſt die Gewalt, zu predigen, zu löſen, zu binden, gegeben worden. Dieß iſt die geſunde Lehre des Evangeliums und der Kirche. Und: es wäre eine der giftigſten Läſterungen, die entgegengeſetzte unchriſtliche Meinung frommen Männern, die ſie nicht haben und nicht haben können, aufbürden wollen.
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auszuſchließen, indem ſie d) dieſes Alles vielmehr voraus⸗ ſetzt und vorausſetzen muß, in ſofern es ohne dieſe Vor⸗— ausſetzung des dogmatiſchen Geſi chtspunktes der morali⸗ ſchen Betrachtungsweiſe an Grund und Boden fehlen muͤßte.
4) Der Fortſetzer der Mutſchell'ſchen Moral mag wohl auch den Werth der Beichtanſtalt in unſerer Kirche gefuͤhlt haben, wenn er ſich ſo ausdruͤckt: das Bußſakrament ſoll die Beſſerung und Buße des Mens ſchen theils vorbereiten, theils uns een theils ſichern und befeſtigen.
5 5) Das Allertrefflichſte aber iſt, was die ſchon angeführte Stelle des Kichenrathes von Trient das von ausſagt: es ſey Baptis mus laboriosus, womit ſowohl das Goͤttliche (Baptismus), als das Menſchliche ([aborios us), und beide in Einheit (Baptis mus laborios us) bezeichnet werden.
6) Wenn die Moralphiloſophie in der Bekehrung des Menſchen das Menſchliche, den Umſchwung des Innern und die Umgeſtaltung des Aeußern betrachtet; wenn das gemeinſame Chriſtenthum in der Bekehrung des Menſchen das Goͤttliche, die Regeneration erblickt: fo ſieht die katholiſche Kirche in der Bekehrung des Menſchen das. Goͤttlich⸗-Menſchliche, was Gott durch ſich und durch den Menſchen im Menſchen wirkt.
2) Erſt, wenn wir die Lehre der Vernunft, die Lehre des gemeinſamen Chriſtenthums, und die Lehre der katholiſchen Kirche in Eine zuſammen faſſen, geht uns der vollſtaͤndige Begriff uͤber das auf, was neravoıa, Poenitentia, Buße, Sig | nesänderung iſt. Sie iſt naͤmlich:
A. die Wiederherſtellung der durch die Suͤnde zerruͤt— teten Ordnung in der Geſinnung und dem Leben des Menſchen; — B. eine Wiederherſtellung der Ordnung durch Chriſtus und durch die mit Chriſtus wirkſame Frei⸗ thaͤtigkeit des Menſchen; — C. eine Wiederherſtellung der Ordnung durch den Dienſt der Kirche Chriſti.
8) Die Suͤnde und die Wiederherſtellung des Suͤnders, aus der Grundlehre des Chriſtenthums betrach⸗
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tet, beleuchten einander wechſelweiſe. Die Suͤnde kam durch Hoffart (ihr werdet wie Götter ſeyn), in die Welt: es wird alſo auch der Gegenſatz der Suͤnde, die Gerechtigkeit, durch den Gegenſatz der Hoffart, die Demuth, in das Gemuͤth des Menſchen kommen muͤſſen. Der Menſch wollte Gott gleich ſeyn; das war ſeine Suͤnde, ſeine Entzweiung mit Gott. Der Suͤnder erniedrigt ſich vor Gott und dem Menſchen, bekennt ſeine Schuld und ehrt in dem Menſchen den Stellvertreter Got⸗ tes: dadurch ſoll die Ausſoöͤhnung mit or angebahnt Rn bewirkt werden.
9) Die Schamloſigkeit des Suͤnders im Suͤndigen und die Schamhaftigkeit des Beichtenden im Beichten hat einem trefflichen Lehrer der Kirche den ſchoͤnen Gegenſatz einge⸗ geben: Wie der Teufel den Verſuchten die Scham ſtehle, daß ſie ſchamlos ſuͤndigen: ſo ſtelle er ſie den Beichtenden wieder zuruͤck, damit je ie ihr Elend verſchweigen, und die Errettung entfernen .... So beginnt denn das wahre Heil mit Demuth, Ak Selbſtuͤberwindung der falſchen Scham. Si non erubuisti peccare, cur erde eis confiteri?
10) Wenn die Beicht⸗ und Bußanſtalt in der katholiſchen Kirche recht viele Suͤnder zu Gott zuruͤckfuͤh⸗ ren, und das große Werk der Umwandlung aus boͤſen in gute Menſchen zu Stande bringen ſoll: fo wird die Pre digtanſtalt der Beichtanſtalt in die Haͤnde arbeiten, jene und dieſe gleichſam als Eine goͤttliche Anſtalt von apoſtoliſchen Maͤnnern mit gleichem Eifer belebet, und das lebendige Wort an Alle mit dem lebendigen Worte an Einen verbunden werden muͤſſen; denn, wo nicht ir⸗ gend ein Apoſtel Chriſti das Geſetz und das Evangelium zugleich verkuͤndet, und durch die Drohung des Geſetzes das Gewiſſen in wohlthaͤtige Unruhe, und durch die Verheißung des Evangeliums das Gemuͤth in ein Gott⸗ ſuchendes Vertrauen zu verſetzen weiß: da wird kein Hun⸗ ger und Durſt nach Vergebung der Suͤnden, kein Sehnen nach Erloͤſung von den Suͤnden entſtehen.
Wo aber irgend ein Petrus die Suͤnde im Herzen auf⸗ ſchreckt, und die Vergebung der Suͤnde, und die Sen⸗ dung
dung des * Geiſtes durch Chriſtus verheißet: da werden die zerſchlagenen Gemuͤther ſich von der Kan⸗ zel weg, zu dem Beichtſtuhle hindraͤngend, nicht nach Haufe gehen wollen, bis ihnen der Gewiſſensfreund den ſchwer⸗ druͤckenden Stein vom Herzen genommen, und Chriſtus durch ihn Gnade, Vergebung der Suͤnden, ewiges Leben in die offenen Seelen ausgegoſſen haben wird. 11) Was iſt alſo der beſte Rath der Weisheit, der einem Gemuͤthe, das beſſer werden moͤchte, gegeben! werden kann? Ich kenne keinen beſſern als den: 22727. Wer aus einem boͤſen Menſchen ein guter werden will, der halte ſich genau an die Vorſ chrüft, daß er a) den froͤmmſten und geiſtreichſten Prieſter in nahen oder fernern Gegenden, zu dem ihm Gott ein beſonderes Ver⸗ trauen in das Herz legt, zu ſeinem Beichtvater waͤhle; daß er b) in Demuth und Zuverſicht vor ihm erſcheine und durch vollſtaͤndiges, reuevolles Bekenntniß ſeiner Suͤnde die Errettung von Suͤnde moͤglich mache; daß er o) dem Evangeliſten, der ihm die ewigen Erbarmungen in Chriſtus und durch Chriſtus enthuͤllt, dem Apoſtel, der ihn der Suͤnde ſterben und fuͤr Gott allein leben lehrt, dem Arzte, der ihn vor Wiederfall ſichert, und zum neuen Wandel im Augeſichte der Kirche ſtaͤrket, mit willi⸗ gem Gemuͤthe zuhorche, und Unter wuͤrfigkeit u ter die ganze Ordnung des Heiles angelobe; daß er d) alle Zweifel, Furcht, Angſt, die ihm aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft entgegen gehen moͤgen, mit ungetruͤbter Aufrichtigkeit darlege und das Wort Gottes, das ihm durch den Mund des Stellver⸗ treters Chriſti an das Herz geſprochen wird, in ſich auf⸗ nehme und walten laſſe; daß er e) die Abſolution und die Vergebung der Suͤnden, die ihm Gott durch den Men⸗ ſchen ertheilt, wie aus dem Vaterherzen Gottes empfange; daß er aus dem Beichtſtuhle ſogleich auf die neue Lebens⸗ bahn uͤbertretend, ) nach dem Winke Chriſti nicht mehr umſehe und die Hand vom Pfluge nicht mehr entferne, die beſondern Auftraͤge, die ihm der Beichvater gemacht hat, treu entrichte, und g) eingedenk des neuen Freund⸗ ſchafts⸗Bundes, den er mit Gott, mit ſeinem Gewiſſen J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. XIII. Bd. Zte Aufl. 22
und feinem Gewiſſensfreunde aufgerichtet hat, bei jedem Anſtoße, bei jeder Gefahr, bei jedem Fehltritte, da Licht und Starke hole, wo er ſie bei dem großen Ueberſchritte von dem Boͤſen zum Guten gefunden hat. Dieſe Vorſchrift oder Vorſchriften der Weis⸗ heit haben ſich durch unzählige gruͤndliche Bekehrungen tief verſunkener Menſchen in unſerer Kirche als wahr, als hoͤchſt wohlthaͤtig, als wahrhaft göttlich erwieſen. Und ich darf geradezu ſagen: wer etwas Beſ⸗ ſeres weiß, der nenne es. Und, wer dieſe Vorſchriften mit willigem Herzen befolget, und ſie nicht wahr, micht wehtun: nicht goͤttlich befunden hat, der nenne ſich. 12) Wenn durch die Beicht⸗ und Bußanſtalt in der katholiſchen Kirche all das Goͤttliche, das durch ſie werden ſoll, all das Goͤttliche, das in Selbſtkenntniß und Beſſe⸗ rung / in Suͤndennachlaß und Beruhigung daruͤber, in in⸗
dividueller Belehrung und in neuer, gottgefaͤlliger Lebens
fuͤhrung beſteht, bewirkt werden ſoll: ſo muͤſſen nicht nur die Beichtenden mit Demuth, Zuverſicht, Ernſt und Be⸗ lehrſamkeit zum Beichtſtuhle hinzutreten, ſondern vor Allem die Beichtvater von dem todten ‚Media nis mus und dem kalten Unglauben gleich fern, im Lichte und in der Liebe Chriſti binden und loͤſen, hoͤ⸗ rc und antworten, erſchuͤttern und troͤſten gelernt haben. Der Mechanismus thut nur dem B urhſtaben genug,
vn Unglaube nicht einmal dem Buchſtaben. In Mitte zwiſchen dem todten Mechanismus und dem kalten Un⸗ glauben wandelt der Glaube in Liebe thätige der aus dem Beichtvater ſpricht: Es iſt Goͤttliches in der Beicht = hund Bußanſtalt; es kann Goͤttliches gewirkt werden; es ſoll gewirkt werden; es werde durch mich. 135) Wenn gleich die Umwandlung des Boͤſen in einen guten Menſchen als Zweck der Beicht⸗ und Buß⸗ anſtalt, als das Bedeutendſte in der ganzen Beſſerungs⸗ lehre angeſehen werden muß: ſo iſt doch die Ueberzeugung, daß ſie wirklich geſchehen ſey, und daß ſie eine wahrhaf⸗ tige Beſſerung ſey, nicht unbedeutend, und ich darf ſagen, nicht minder bedeutend. Denn, wenn wir hieruͤber zu keiner feſten Ueberzeugung kommen koͤnnten, ſo wuͤrde uns
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das kraͤftigſte Ringen auh Beſſerung in ein uteri, | 22 Meer von Angſt und Zweifel hineinwerfen. h Br ai klar gezeigt werden een wie
Auf r eee jeher) weben nicht Bacher pe es ſich leichter und beſtinmder ergebe, worauf ” eigent⸗ | 12 * and Aus: 100 gun > 305 am er 101 Worauf) ſte micht beruhe ⸗ % im eng
Sie den nicht auf bloßem Gefühle, bas leere Ein⸗ bung ſeyn koͤnnte; fie beruht ni icht auf dem Bewußt⸗ ſeyn einzelner guter Regungen, die auch dem aue . nicht immer fehlen; ſie beruht nicht auf Unterla affın ein⸗ zelner boͤſer Handlungen, die ſelbſt mit der Vene des Böſen beſtehen konnte; ſie beſteht endlich auch nicht in Ausübung einzelner fittlicher Handlungen, weil auch der Boͤſe in leichtern Faͤllen den Aufforderungen der aͤu⸗ ii Geſetzmaͤßigkeit entſprechen kann.
Worauf ſie beruhe.
Sie beruht 1) auf dem beharrenden Bewußtſeyn der umgewandelten Geſinnung, die der vorigen ganz entge⸗ gengeſetzt iſt, und ihr Entgegengeſetztſeyn erweiſet; 2) auf dem beharrenden Bewußtſeyn des veraͤnderten Wandels,
der dem vorigen ganz entgegengeſetzt iſt, und fein Entge⸗ gengeſetztſeyn behauptet; 5) auf dem beharrenden Bewußt⸗ ſeyn der Früchte, die mit der umgewandelten Geſinnung und mit dem veraͤnderten Wandel zuſammenhaͤngen; Fruͤch⸗ te, die nach Paulus Friede und Freude im heiligen Geiſte f heißen; die beide durch peinliche Leiden, durch Zerſtreuung in Gefchäften, Lebensſorgen, durch unvermeidliche Geiſtes⸗ laͤhmungen auf einige Zeit verdunkelt, getruͤbet werden koͤnnen, aber deßungeachtet ſich als ſeyend wieder ankuͤn⸗ den, z. B. in dem Momente der Andacht ꝛc., die ſich mit muthigem Widerſtande gegen alle Reizungen der Suͤnde, mit Treue im Gebete und ſo fort mit dem Zeugniſſe des 8 N verbinden. (Roͤm. VIII. 16.)
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Von dieſer Ueberzeugung hat Paulus noch zwei merk⸗ windige Ausſpruͤche: ich habe wohl ein gutes Gewiſſen (bin mir nichts Boͤſes bewußt), aber dadurch werde ich nicht gerecht; der Herr iſt es, der mich gerecht macht, (1 Kor. IV. 4.) und: wirket euer Heil in Furcht und Zit⸗ tern. (Phil. II. 12.) Alſo nicht ſo faſt das Negative im Bewußtſeyn: ich weiß mich nichts ſchuldig, als das Poſi⸗ tive: der Herr iſt es, der mich gerecht macht, iſt der Fels ſeiner Beruhigung. Das Nichtbewußtſeyn des Boͤſen iſt mehr eine Bedingung der Beruhigung; das Bewußtſeyn, daß mich der Herr gerecht macht und geſprochen, iſt der N ſelbſt. Dieſe Beruhigung kann aber wohl und Ent auch mit der urcht vor mir ſelber, und mit dem
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