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Geſchichte

des

achtzehnten Jahrhunderts * des neunzehnten bis zum Sturz des franzöſiſchen Kaiſerreichs.

Mit beſonderer Rückſicht auf geiſtige Bildung.

Von

F. C. Schloſſer,

Geheimenrath und Profeſſor der Geſchichte zu Heidelberg.

Vierter Band: Bis auf den geſcheiterten Verſuch der Auflöſung der franzöſiſchen Parlamente um 1788.

Vierte durchaus verbeſſerte Auflage.

Heidelberg.

Alkademiſche Verlagshandlung von I. C. B. Mohr. 1853,

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Inhalt des vierten Bandes.

Geſchichte des achtzehnten Jahrhunderts. Dritter Zeitraum.

Zweiter Abſchnitt.

Gang und Beſchaffenheit der geiſtigen Bildung und Literatur.

8weites Kapitel.

Frankreich. Seite '$. 1. Diderot, Marmontel, Raynal 1—21 4 Rouſfeau, Büffon 2143

3. Philoſophiſche Staats dtonomen und Polititer 43-57

Des zweiten Abſchnitts drittes Kapitel. Deutſche Literatur im Verhältniß zum deutſchen Leben.

51 —— 1:91 und Fieeligp bis * Fichte.

. 0} 57 87 B. Theologie 88—100

$. 2. Bafedow und die Philanthropiums zu Deſſau, Marfchling, Heidesheim. C. F. Bahrdt und feine Bibelüberſetzung.

I. U. Eberhard und feine Apologte des Sokrates .„ . 100-120

$. 3, Nitolat und die allgemeine deutſche Bibltethef, Wieland,

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$. 6 8.7

die Brüder Jacobi und der deutſche Mercur . 120—136 4, Göttinger Barden. Idylle. Empfindſamkeit, Zärilichtei

mitten im deutſchen Leben. Werther, Siegwart, Campe,

Salzmann, Peſtalozzi, Romanfabrifen . 136—168 5. Leffing und Herder. Verftändiges und poeliſches Chriſten

thum. Lavater und RN: Schwärmeret und Satyre 168—220

. Sefhihte . 220—236

. Verhältnig der Siöriftfteler zu den Regierungen. Jour

naliſtil. Staatswiſſenſchaft.. 236-268

Gefchichte des achtzehnten Jahrhunderts. Vierter Zeitraum.

Vom Abfall der nordamerikaniſchen Provinzen bis 1788.

Erſtes Kapitel.

Zeiten des Kriegs bis * des jüngern Pitt Mini⸗ ſterlum, um 1784

Seite

$. 1. England, Franfreih, Spanien bis auf die ——— Neutralität . N 269—293 $. 2. Bewaffnete Neutralität und Krieg mit Holland N 293—320

$. 3. Englifhe Geſchichte. Seekrleg. Belagerung von Gibraltar. Minifterien bis auf Pitts India⸗Bill um 1784 320—345 $. A. Kampf zwifchen For und Pitt bis 1784 ; i . 345—377

weites Kapttel.

Betten der unruhigen Bewegung im Innern der Staaten des feften Landes bis auf die erften Anzeichen der franzöfifchen Nevolution.

$s 1. Katfer Joſeph II. vom Tode feiner Mutter bis auf den Türfenfrieg . . 377—416 $. 2. Innere Bewegungen und politifche "Streitigkeiten in Bel: gien, Holland, Frankreich bis zum ** 1788. —— a. Belgien 417—436

b. Holländifche Unruhen "und Zrichrich Wilhelm I. von Preußen + . 0 E + 436—465 c. Sranfreih , s * * > * 465—512

Berichtigung Bg. 16, Seite 256, unten, fehlt: angehörte,

Dritter Zeitraum des achtzehnten Jahrhunderts

Zweiter Abfchnitt. Gang und Befchaffenheit der geiftigen Bildung und Kiteratur,

Zweites Kapitel. Frankreich.

8.4.

Diderot, Marmontel, Raynal.

Wir werden zwar weiter unten die Hauptſchriftſteller dieſer Zeit, welche das, was man jetzt in ganz Europa Staatswiſſenſchaft und Staatswirthſchaft nennt, erfanden und in die Mode brachten und ſich dadurch große Verdienſte um Staatsverwaltung und po— litiſches Leben erwarben, anführen müſſen, jedoch zuerſt noch ein— mal auf die Rhetoren und Sophiſten zurückkommen. Es wird ſich zeigen, daß das Treiben der berühmten Prediger des Unglau— bens und der Freiheit ebenfo Teer, declamatorifch und Yaftig war, als in unfern Tagen das der Prediger des blinden Glaubens und der Knechtfchaft nur immer fein kann. Uns irrt weder ein berühmter Name, noch Prahlen auf Beredfamfeit und Poeſie; uns find Chateaubriand, Quinet, Michelet, "Victor Hugo u. |. w. nicht beffer als Diderst, Naynal und Gonforten.

Wir erkennen an, daß Alles, was wir tadeln, objectiv be= trachtet, wie man in Deutfchland Kühe, oder aus ** franzöſiſchen Standpunkte angeſehen, ganz anders ausſehen mag, wir beharren aber darauf, daß Redensarten und aus aller Welt hergeholtes

Anfpielen auf Wiffen und Wiffenfchaft weder wahre —— Schloſſer, Geſch. d, 18, m, 19, Jahrh. IV. Th, 4, Aufl,

2 Franzöſiſche Literatur: Diderot.

noch wahre Poeſie iſt. Uebrigens iſt vom Talent, oder von der literariſchen Bedeutung der anzuführenden Männer, von dem äſthetiſchen oder wiſſenſchaftlichen Werth ihrer Bücher hier die Rede nicht, ſondern nur von dem Ton und Geſchmack der fürſt— lichen und hochadeligen Kreiſe, denen ſie ausſchließend angehörten, und welche unter ihre vielen Privilegien auch das zählten, dieſe Schriftſteller ausſchließend bewundern, leſen, verſtehen zu können. Wir nennen ausdrücklich nur die Schriftſteller, welche vor der Revolution in den Salons herrſchten, und nur in dieſen, nicht vom Volke bewundert wurden. Wir übergehen vorerſt die ſpäter zu erwähnenden geiſtreichen aber ganz verworfenen Genoſſen des elenden und feigen Herzogs von Orleans, die durch ihre Romane berühmten Roués; einen La Clos, eigentlich Choderlos de la Cloſe, . einen Sillery, Fabre d'Eglantine und des Königs Ludwig Philipp faubere Grzieherin, die Gräfin Genlis. | Die Aufzählung der Arbeiten, welche in den parifer Kabi- netten für den Gebrauch der fürftlichen, Hochadeligen oder vor— nehmen und reichen Gefellfchaften von ganz Europa auf diejelbe Weiſe verfertigt wurden, wie aus den Putzmacherläden der Fran— zofen damals die Kleidungen der Damen aller Höfe hervorgingen, beginnen wir mit denjenigen Schriften des unerfchöpflichen Dide- vot, deren wir an den Stellen, wo wir feiner andern Arbeiten gedachten, nicht erwähnt haben, Diefe Schriften find für den Ton der jett zum Schein der Frömmigkeit und Kirchlichkeit oft auf eine höchſt Lächerliche Weiſe zurückfehrenden Kreife um jo bedeutender, als ſowohl die Katjerin Katharina als der gothaifche Hof den ganz zum Franz zofen gewordenen Grimm bejonders darım in Baris befoldeten, da— mit ſie von jedem Wifch von Diderots Feder cher Nachricht erhielten, als er noch im Publikum befannt wurde. Des großen Friedrich) ganz franzöſiſcher Bruder: Heinrich Faufte ſogar die Romane in der Handiehrift und hatte das fonderbare Verdienſt, einen der Ihändlichiten derjelben, der in Frankreich verloren war, noch in unferm Jahrhundert ans Licht gebracht zu haben. Der Herzog yon Braunfchweig war nicht weniger von Diderot ald son Mar- montel und fpäter von Mirabeau bezaubert, Grimm war das _ Organ der franzöſiſchen Salons für die Höfe, denn er ließ fich, wie es dem Höfling gebührt, zum Baron machen und glänzte als

Sranzöfifche Literaturs Diderot. | 3

ſolcher, während er und feine Genoffen alles Alte und alles Hohe verhöhnten und verlachten, oder vielmehr als Blendwerk, das nur für bürgerlichen Pöbel geeignet fei, verachteten! N)

Wir wollen übrigens von den auch in unferm Jahrhundert noch viel gelefenen und nen gedruckten Arbeiten Diderotd nur ein Baar anführen, um zu beweifen, daß Ton und Manier der nach— ber als jacobinifch verfchrieenen Bücher, nicht von Volfsichriftitel- lern, fondern von. fürftlichen Kreifen und son den von der großen Welt gehegten und gefeierten Schriftftellen ausging. Wir ver— weilen hier zunächſt bei den Schriften Diderots, welche im zehn- ten, eilften und zwölften Bande der von Natgeon veranftalteten Ausgabe?) feiner Werfe enthalten find, das heißt bei den Roma— nen, Der Grfte, den Diderst Schon als junger Mann. und zwar in Zeit von vierzehn Tagen gefehrieben hatte (Les Bijoux indis- erets) ift von dev Art, daß man nicht einmal den Sinn des

Titels erklären darf, und daß Seder, dev nicht zu der Gattung -

verdorbener Taugenichte der großen Welt gehört, die ſich des lockeren Lebens rühmen, deſſen fich dev Bürgersmann ſchämt, yor dem Inhalt zurücichaudert, Der zweite Noman (Jacques le Fataliste) wird nicht einmal von dem Mann gebilligt, der be— haupten fonnte, Diderot ſei von feiner Zeit nicht gehörig aner— kannt worden; wir wollen indeflen einige wenige Stellen aus dem

1) Ein Franzofe, der Alles bewundert, was wir als dürr proſaiſche und proteftantifche, von ihm verfpottete Menſchen verachten, fagt uns, daß es in den von ihm bewunderten Kretfen noch tmımer Lappalien gibt, die man fi nad) Petersburg ſchicken läßt, La Bussie par le marquis de Custine Vol. HI. p. 431. On veut recesoir les anecdotes de Paris et rester au courant des moindres commerages relalils ä la société, à la litterature ephemere de la France. Ces details, tout miserables g’ils nous paroissent sont cependant ce qui’ interesse le plus les cours,

2) Die Ausgabe, welche Natgeon beforgte, deſſen Bewunderung feines Lehrers Diverot Feine Grenzen kennt und der auch fein: atheiftifches Geſchwätz preifet, erfchten 1798 in 15 Theilen in 8,, und ward feitbem oft wieber ges druckt. ine fihönere Ausgabe, die vollftändiger tft, erfchten 1822 in 22 Th. in 8. Der lebte enthält die Memoires philosophiques et historiques sur la vie et les ouvrages de Diderot von Naigeon. Im Jahre 1830 erfchtenen, gleichſam als wenn man des Zeugs nicht genug befommen könnte: Mémoires, corxrespondance et ouvrages inedits de Diderot, II, Vol; 8.

1*

*

BR Franzöſiſche Literatur: Diderot.

erſten Theile ausheben, um zu zeigen, was unter der vornehmen Welt als Philoſophie galt. Wir dürfen übrigens bei dem Buche ſchon aus dem Grunde nicht verweilen, weil nur das Schlüpfrige darin dem Verfaſſer und ſeiner Zeit angehört, das Uebrige aber eine ſchlechte durchaus verunglückte Nachahmung des Triſtram Shandy iſt.

Das Buch hat die Form eines Dialogs und beginnt mit der Verſpottung der chriſtlichen Vorſtellung von Vorſehung und göttlicher Weltregierung. Was politiſche Grundſätze angeht, ſo findet man unter dem elenden Geſchwätze Zoten, und neben der hie und da ſichtbaren Dialektik überall einzelne Anſpielungen auf die damals beſtehende Ordnung, Einrichtung, Hierarchie, die den folgenden von dem Schloſſe, wo Jakob und ſein Herr einkehren, gleichen. Was Jakob und ſeinen Herrn, heißt es, dort am mei— ſten ärgerte, war, daß ein Schock dreiſter Kerle ſich der ſchönſten Zimmer bemächtigt hatten, und immer meinten, ſie wären gleich— wohl noch zu eng und zu ſchlecht quartiert, ſo daß ſie gegen den Sinn der Inſchrift über dem Eingang des Schloſſes und gegen das natürliche Recht und den geſunden Menſchenverſtand behaup— teten, das Schloß ſei ihnen als Eigenthum vermacht worden. Sie hatten daher mit dem Beiſtand einer Anzahl von Taugenichten, die von ihnen beſoldet wurden, eine große Zahl anderer Tauge— nichte in Sold genommen, die für ein klein Stück Geld jeden an den Galgen hingen oder todtſchlugen, der es wagte, ihnen zu widerſprechen. Doch gab es zu Jakobs und ſeiner Zeit Leute, die es zuweilen wagten. ... Ungeſtraft? .... Das iſt, wie es gerade trifft... . Nach ſolchen Stellen, welche für jene drei Viertheile des Buchs, die, wie ſogar Naigeon gefteht, nie hätten gedruckt werden müſſen, tröſten follen, folgen Gefpräche und Ge— jchichten, welche ung von, der loſen und lockern Art Unterhaltung der Kreife Diderot3 und feiner Genoffen einen Begriff geben. Unter die matten Wite find nicht ohne Kunft die Stücke einge- fehoben, welche verſteckt werden mußten, wenn man der Polizei entgehen wollte,

Es würde und zu weit führen, wenn wir durch eine voll⸗ ſtändige Analyfe zeigen wollten, welche Kunft in der Nachläffigkeit und welche Kenntniß des Iofen und lockern Leſepublikums, das

Srangöftfehe Literatur: Divers, 5

man von hergebrachten und eingetrichterten Begriffen befreien wollte, in dem aphoriftifchen oder obfeönen Gerede liegtz mir wollen daher nur noch eine von den Stellen ausheben, welche die: neue Weisheit populär verfündigen. Es ift die Nede von Sperates, freilich gegen allen Zufammenhang und alle Veranlaffung. Det der Gelegenheit heißt e8: Gr war ein Weifer zu Athen, feit langer Zeit aber tft die Rolle des Weiſen unter Narren eine fehr gefährliche. Seine Mitbürger verdammten ihn, den Schirlings— trank zu trinken. Sofrates machte e8, wie du es eben gemacht haft; er war ungemein höflich gegen den Henker, der ihm den Tranf reichte, Jakob gefteh es nur, du bift eine. Art Philoſoph. Ich weiß recht wohl, daß diefe Menfchengattung den Großen durchaus verhaßt tft, weil fie vor ihmen nicht die Knie beugt. Den im Obergericht ſitzenden Suriften - tft fie zuwider, weil fie Borurtheile verfolgt, welche von den Gerichten in Schuß genom= "men werden; den Pfaffen, weil fie fich felten an ihren Altären blicken läßt; den Dichtern, weil in dem Dichtervolf Fein ernfter Sinn ift. Sie betrachten die Philoſophie nur als ſchöne Kunft, und wollen nicht, daß man ihnen fage, daß auch fogar diejenigen unter ihnen, welche fich mit der gehäffigften Gat— tung der Dichtung, mit der Satyre, abgeben, doch am Ende nur Schmeichler waren. Den Völkern find die Philoſophen verhaft, weil das Volk von jeher fich felavifch hingab, den Tyrannen, die es unterdrücten, den Spisbuben, die e8 betrogen, und den Schalks—

mnarren, die es beluftigten. Sch kenne alfo, wie du ſiehſt, die

Gefahr deines Gewerbes und die Wichtigkeit des Eingeftändnifieg, ‚welches ich von div verlange, ganz vollftändigz; aber ich werde feinen Mißbrauch davon machen, Mein Freund Jakob, du bijt ein Philoſoph. CS ift mir leid um deinetwillen, und wenn man aus dem, was gegenwärtig gefchteht, auf dasjenige fchließen darf, was eines Tages gefchehen muß, und wern das, was da oben gefchrieben fteht, fich zumwellen den Menfchen lange vorher offen— bart, che es fich ereignet, fo vermuthe ich, daß du den Tod eines Philoſophen fterben mußt, und daß du den Strang mit ebenſo— viel Würde empfangen wirſt, als ocrates die Schale mit dem Schierlingstrank.

Beſſer ſowohl durch Inhalt als Form iſt der Dritte derje—

6 Franzoöſiſche Literatur: Diderot.

nigen Romane Diderots, die wir vor andern als Muſter des Tons und Geſchmacks der vornehmen Herrn und Damen, die ſich an der Unterhaltung dieſer Art ergötzten, anzuführen verſprochen haben. Dies Buch enthält eine Darſtellung der Verderblichkeit

der Einrichtung der Nonnenklöſter und ihrer Disciplin, eingefleis

det in die Form von Geſtändniſſen einer Nonne, welche ihr eig— nes Leben beſchreibt. Darauf bezieht ſich der Titel des Buchs, die Nonne (la Religieuse), In dem Styl und in der an— ziehenden und anvegenden Erzählung wird Niemand den Mann der güten Zeit der franzöſiſchen Literatur verfennen, der fich weder die Flüchtigkeit zu Schulden kommen laßt, die er ſich oft in den Arbeiten feiner Jugend erlaubte, noch die Nachläſſigkeit und Verachtung des Publikums, welche fich im Jacques le Fata= Hifte und in andern ähnlichen Büchern zeigt. Die Gefchtehte tft jo genau aus den Erfahrungen jener Zeit und aus dem, was alle Tage in gewiffen Bamilten vorging, entlehnt, daß man wirt liche Denfwürdigfeiten zu leſen glaubt. Jede fühlende Seele fchaudert und wird innig ergriffen und von Rührung durchdruns gen, fie muß einen Zuftand des Staats und der Kirche verab- ſcheuen, der Dinge, wie die hier erzählten möglich machte. Diefer letzte Punkt ift der Ginzige, der hier in Betrachtung kommt, weil eigne Erfahrung uns gelehrt hat, wie mächtig die Spradye und- die ganze Darftellung den jugendlichen mit Welt und Menfchen unbekannten, gegen rein menschliche Empfindung im harten Leben noch nicht abgeftumpften Geift ergreift. Diderot Hat mit einer - bewunderungstwirdigen Kunft die Erzählung vom Anfange bis zum Erde jo durchgeführt, daß er nie aus dem Ton gefallen tft, Tone dern ihm immer fo gehalten Hat, wie etiwa feine Fromme Tochter, welche nach feinem Tode viele feiner Schriften dem Feuer ge— opfert Hat, würde gefchrieben haben. Er fällt nie in feinen eig- nen frivolen Ton, bis er an den Punkt kommt, wo er ſeine Kunſt an ein Gemälde verfchwendet, melches die Verſe eines Aretin und die Zeichnungen eines Julius Romanus weit hinter

fi läßt. Das Buch warnt auf diefelbe Weife vor Defpotismug des Aberglaubens, wie in unſern Tagen eine Amerikanerin‘ vor dem Deſpotismus dev Habfucht in Negergefchichten gewarnt hat, in welchen eben fo wie in der Nonne viel Fiction aber doch kein Schmus ift.

Franzö ſiſche Literatur: Diderot. 7

‚Wir begleiten die Nonne aus dem elterlichen Haufe, wo fie gequält ward, bis fie fich fcheinbar freiwillig zum geiftlichen Stande entfchließtz wir fehen die gute und fehlechte Abtiffin und die Wirkung der durch den Nechtsgang möglichen Schritte gegen die Tyrannei der Klofterzucht. Alles dies ift durchaus hiſtoriſch und auch anwendbar auf Deutfchland und auf Mönchsklöſter; man darf nur vergleichen, was Bronner, Schad, Fehler in ihren Lebensbefchreibungen ausführlich berichtet Haben, Die Quälereten, welche dev. Aberglauben erfonnen hat, wenn eine freie Seele fich nicht in den Kreis bannen laſſen will, wo jedes menschliche Ge— fühl im mechantfchen Gottesdiefte erftirbt, werden auf eine andere Art aber eben fo geiftreich und anregend gefchtldert, als in un— jern Tagen im Spiridion gefchehen tft. Diderot fteht dabei der Hiftorifchen und afltäglichen Wahrheit näher, weil von ihm weni— ger philoſophiſche und poetifche Phantasmagorie aufgeboten wird, Das Klofterleben und Klofterwefen der Zeit kurz vor der Revo— lution tft in feinem Buche mit mehr Wahrheit und Lebendigkeit gefchtldert, als in diefem Noman, der eine belehrende Lectüre fein könnte, wenn nicht die zweite Hälfte des Buchs mit furchtbarer Wahrheit und mit einer teuflifchen Kıumft Scenen im Innern der Klöſter ſchilderte, welche auch fogar ein Juvenal und Petronius ſich ſcheuen würden, mit der Ausführlichkeit und Lebendigkeit zu beſchreiben, wie ſie hier beſchrieben werden. Die Anſtößigkeit der Scenen und Abſichtlichkeit bei Erregung der Sinnlichkeit ver- dient um fo mehr Tadel, als Diderot Feine Freude am ausgelaf- jenen Leben hatte, Er, der Sohn eines Mefferfchmidts, den man in die höheren Kreife aufgenommen hatte, fühlte tur einen hef— tigen, aber wahrhaftigen Unmillen gegen die in denſelben herr- {chende Heuchelet und ließ diefe bei jeder Gelegenheit mit revolu— tionärer Heftigfeit aus. Das mißfiel einem Manne wie d'Alem— bert, der als Markis und DVerfertiger akademiſcher Lobreden, den Ton des Sansculotismus nicht billigen konnte. Er und die große Welt zogen fich von Diderot zurück, der ange vor feinem Tode (ex ftarb 1783) das Salonsleben aufgegeben hatte und im ſtillen häuslichen Kretfe lebte.

Diderot, wie Perſius und andere Dichter der letzten römi— ſchen Zeit und wie ſein Freund dAlembert, vereinigte mit Leicht⸗

8 \ Franzöfifihe Literatur: Diderot.

fertigkeit des Ausdrucks und der Obfeönität der Geſellſchaft, in welcher er lebte, die Bewunderung ber ftotfchen Strenge umd der gefuchten und epigrammatifchen Kürze der ftoifchen Nhetoren und _ Gefchichtfchreiber. Die Spuren diefer fcheinbar ganz widerſpre⸗ chenden Richtungen wird man ſchon in einer. feiner früheren Schriften, in der Beurtheilung dev Künftlerarbeiten von 1765 bis 1767 (Salon de 1765—1767) antreffen, In dieſer Schrift eifert er mit großer Strenge gegen die Fünftlerifche Darftellung derfelben Gegenftände und Scenen, die er ſelbſt ſpäter in feinen Romanen vorzugsweiſe auszumalen oder errathen zu laſſen bemüht geweſen iſt. Die Aehnlichkeit der Zeiten des Kaiſers Tiberius und König Ludwigs XV. in Rückſicht auf übertriebene Strenge der Rede, und unerhörte Ausſchweifung im Leben zeigt ſich aber am deutlichſten in der Bewunderung, welche Diderot in ſeiner Schrift über Seneca und d'Alembert in feiner Bearbeitung des Tacitus für Senecas Rhetnrif und Philofophie ausgefprochen haben.

. Die heftigften Aeußerungen Diderots über das entartete Sy— ſtem des Mittelalters, welches im achtzehnten Jahrhundert in allen Staaten Europas mit einer monarchifchen Strenge der Polizei und einer Straflofigfeit vornehmer Verbrecher verbunden war, find erft in unferm Jahrhundert in dem Gedicht die Eleuthe— romanen veröffentlicht worden. Wir würden jogar zweifeln, ob diefe gräßliche Dithyrambe der Gleutheromanen. wirklich von Diderot herrühre, wenn wir fein anderes Zeugniß dafür hätten, als Naigeons DBerficherung. 3) Von welcher Art diefe Dithyrambe war, kann man aus den berüchtigten zwei Verſen ſehen, welche man immer anzuführen pflegt, wenn vom Canibalismus der fo- genannten Gordeliers die Rede ift.?)

3) Diefe Eleutheromanes ou les Furieux de la liberte wurden ſchon 1796 als Diverots Arbeit gedrudt, erft in der Decade philosophique, dann im Journal d’economie politique. Dies zeugt für Natgeon, befonders aber, daß Fragmente der Eleutheromanen ſchon insgeheim befannt wurden, als Diderot und Holbad noch Himmelftürmend converfirten. Das Gedicht ver: fündigt Anarchie jeder Art.

4) Ste lauten in den Eleutheromanen, wie folgt:

Et ses mains ourdiraient les entrailles d’un prötre A defaut d’un cordon, pour etrangler les rois.

Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 9

Diderot wählte in jener Dithyrambe ausdrücklich die Form bachantiſcher Muth und Raſerei, die ihm fonft keineswegs eigen war, um nicht blos Tyrannei und Tyrannen, fondern auch Kö— nigthum und Könige überhaupt zu verwünfchen. Die Männer der Schreckenszeit und die furchtbaren Ochlokraten, welche diefe um 1841 in Parts zu ernenen drohten und dadurch die Herr- ſchaft der Doctrinärs befeftigen halfen, beviefen fich daher auch immer auf dte berühmten Namen von Diderot und Holbach als auf die Apoftel ihres Evangeliums. Diefe furchtbaren Anarchiften eitiren einen uns fonft ganz unbefannten Sylvain Marechal als denjenigen, der aus Didernts Schule herporgegangen bie Lehre son. Gott und göttlicher Weltvegterung wie die von einer bürgerlichen Ordnung und Unterordnung am fühnften verjpottet habe. 5) Auf eine ganz andere Weiſe als Diderot, Holbad) und an— dere befämpfte Marmontel das beftehende hierarchtifche und mo— narchtfch militärische Syſtem feiner Zeit. Er mußte ſelbſt eigent- lich nicht, was er that und feine im Alter gefchriebenen Denf- wiürdigfeiten zeigen ung, wie fehr er erſchrack und zurückſchauderte, als er fpäter inne wurde, was er gewollt und wohin er gearbei- tet habe. Gr bedurfte des Ruhms eines DBelletriften und Schau— fpieldichters, dazu war ihm Voltaire unentbehrlich, er mußte ihm daher huldigen und das konnte nicht gefchehen, ohne fich der Richtung der Zeit anzufchließen und Verbeſſerung des Beftehenden zu fordern. - Das hinderte bekanntlich Voltaire nicht, der Pompa— dour ‚gelegentlich zu Huldigen, er konnte daher auch Marmontel nicht übel nehmen, wenn er Wohlthaten von ihr fuchte und ans

5) Die fanatifirten Anarchiften begannen um 1841 ein Journal heraus: zugeben, unter dem Titel ’Humanitaire (das freilich feinen Fortgang haben fonnte), darin heißt es: Marechal figura avec aväntage parmi les Diderot, les d’Holbach, il publia en 1781 sans y metire son nom un poöme phi- losophique, dont la hardiesse souleva contre lui les hommes de mauvaise foi interesses à l’erreur et la colere des devots. C’etoit un requisitoire foudroyant contre l’opinion qui admet l’existence d’un &tre au dessus de la nature et un plaidoyer plein d’eloquence en faveur du materialisme etaye sur les principes de la plus austere: vertu et embellie des charmes d’une poésie mäle et &nergique.

| 10 Franzöſiſche Literatur: Marmontel.

nahm und ſtolz darauf war, ihr Schützling zu ſein. Vom Gehalt der Schriften, deren wir hier erwähnen, kann nicht die Rede ſein, weil hier blos ihre muthmaßliche Wirkung in Betracht kommt. Es iſt daher genug, wenn die Thatſache unläugbar feſt ſteht, daß Marmontel in ganz Europa berühmt war, daß er eine große Leichtigkeit hatte, ſich innerhalb eines engen Kreiſes von Ideen leicht zu bewegen und daß er den Hofton zu treffen wußte. Marmontel war aus den geiſtlichen, auf rhetoriſche Abrich⸗ tung und auf Hebung des Gedächtniſſes und Fertigkeit in zier— lichen Redeformen eingerichteten Schulen hervorgegangen; er hatte von Kindesheinen an gelernt, mehr auf die Form der Rede und des Ausdrucks, als auf das Weſen der Sachen zu merken; er durfte daher das, was er zum geiftlichen Gedrauche erlernt hatte, nur weltlich anwenden, fo war der Rhetor und Sophift fertig. Marmontel macht Diderot den Vorwurf, daß er nicht verftanden habe, ein Buch zu machen, wie man das in Frankreich zu nennen pflegt; darin war er allerdings gefchiefter, denn Niemand Fannte das Publikum beffer als er. Er war Allen etwas, Gr befang und lobte Ludwig XV. und behauptete fich in der Gunſt des Die d'Aiguillon und der Bompadour, während er zugleich in den Pariſer Salons als Philoſoph glänzte. Im Allgemeinen war fein Ruhm größer unter den fentimentalen Deutfchen, als unter den witzigen und verftändigen Franzoſen. Unter den Letztern war er zuerſt als Schauſpieldichter bekannt, weil ihn Voltaire auf jede Weiſe zu heben ſuchte, da er ſeinem Glanze als Folie dienen konnte. Wir übergehen ſeine dramatiſchen Arbeiten, weil wir nicht wagen, ihnen irgend einen Einfluß zuzuſchreiben, reden daher nur von feinen moraliſchen Erzählungen, weil fie ebenſo ſchlaffe Moral enthalten, als unfere deutfchen Bücher für Damen. Ä Die moralifch genannten Erzählungen, welche von den immer nach Paris blickenden Deutfchen alsbald unter dem Titel die Tugendfchule überfet wurden und fogar In umfern Tagen aufs neue überſetzt find, erfchtenen zuerft im Mercure de France, den Marmontel durch diefe Erzählungen fehr hob, fobald ihm. die Pompadour das Privilegium der Redaction diefes Journals ver— lieben hatte, In diefen Erzählungen wird jene Gefühlstugend gepredigt, welche ung Deutſche entnervt Hat, weil fie die Schran—

Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 11

ken zwiſchen Tugend und Laſter verkennen lehrt. Dies wirkte in der fentimentalen Zeit der Educationstheorie beſonders verderblich, weil die Reformatoren der Erziehung wie die Väter und Mütter ſtatt den Geiſt durch Arbeit zu ſtärken, ihn durch Gefühlſamkeit ſchwächten.

Die Tugend wird von Marmontel nicht, wie von ſeinen akademiſchen Brüdern geſchieht, (d. h. beſonders wenn ſie in reli— giöſer Form erſcheint) verhönt, und dem Laſter wird nicht durch witzige Wendung die Form derſelben gegebenz aber fie wird fo leicht, fo angenehm gemacht, Fehler und Vergehungen erfcheinen in Nücficht ihrer Wirkung auf die menfchliche Seele und auf den Charakter fo unbedeutend, daß die ungeheure Kluft zwifchen Selbſtbeherrſchung und finnlichem Leben unmerklich verſchwindet. Ernſt und ſtrenge Zucht werden als gehäfftge und finftere Refte einer vergangenen Zeit, weiches Gefühl, finnliches Mitleid, ein— zelne Handlungen der Mildthätigkeit, finnliche Liebe und Erbar— men ans der Inbehaglichkeit des Anblicks der Leidenden ent=- fprungen, alſo die finnlichen Anregungen und natürlichen Bewe— gungen, die allerdings zur Tugend leiten und helfen können, gel- ten fir dag, mis am fich, vor Gott und vor dem Gewiſſen recht und gut iſt. Dies Alles würde, wie in fo vielen deutfchen Bü— chern, das. fühlte Marmontel wie Wieland, nur eine für die große Welt Iangweilige Reihe unfchuldiger Preuden, rührender Handlungen, Gefchichten voll Kiebenswirdiger Güte an die Hand gegeben haben, Marmontel Half fich daher wie Wieland. Beide mifchten unter ihre Tangweilige Sentimentalität eine gute Dofis Immoralität, und beide bewirkten dadurch gerade unter den Beſ— fern, Aufklärung wünfchenden Zeitgenoffen eine völlige Verände— rung der aus dem. vorigen Sahrhundert überlieferten und auf den Kanzeln verkündigten Anficht des Lebens. Diderots Nomane er— vegten bei befferen und reineven Seelen Widerwillen und Abfchen; Marmontels fchlüpfrige Sittlichkeit lockte die Unſchuldigen an. Marmontel Argerte Niemand durch Atheismus wie Diderot, er befämpfte aber den religiöſen Jeſuitismus durch einen eben jo serderblichen moralifchen, Es tft unnöthig, dies an den einzelnen Grzählungen, welche zuerſt Marmontels Ruhm begründeten, nach— zuweiſen, da wir in Deutfchland an diefer Art Literatur Ueberfluß

12 Franzöfifche Literatur: Marmontel.

haben; wir wollen Tieber auf die beiden größeren Werke, den Beltfar und die Incas, aufmerkffam machen, in. denen das den moralifchen Erzählungen zum Grunde liegende Syſtem unmittel= bar auf den Staat und deſſen größere DVerhältniffe angewendet wird. Die Aufnahme diefer nicht einmal dem franzöſiſchen Ge—

ſchmacke oder dem Pariſer Zeitgeifte entfprechenden Bücher beweifet

am beten, wie unmöglich e8 war, gegen die allgemeine Stim— mung des gebildetiten und angefehenften Theil der Regierenden und der Gehorchenden das alte Syftem aufrecht zu erhalten. 6) Mir möchten nicht behaupten, daß die beiden Bücher, von denen wir reden, dev Beliſar und die Incas, auf ihre Zeit ein- wirkten, dazu waren fie zu jchwach und zu unbedeutend, wir reden nur von ihrer Aufnahme tm Publikum und son der Stim— mung und Richtung der höheren Stände, worauf fie berechnet waren. Marmontel jelbft gibt uns über diefe Aufnahme und Tendenz des Belifar befonders die befte Auskunft. Die Tendenz des hiftorifchen Romans erkannte König Friedrich IL eben fo richtig als der orthodor=fatholifche Doktor der Sorbonne, der mit aller möglichen Höflichkeit die Billigung des Drucks verfagte. Die allgemeine Stimme war aber fchon damals mächtiger als das Geſetz, denn es fand fich doch ein anderer rechtglaubiger Thenlog,

6) Marmontel jagt im 8. Bude ber Memoires (ed. Paris 1805. Vol. IH. p. 31.) Tandis que la Sorbonne, plus furieuse encore de se voir harcelde travailloit de toutes ses forces à rendre Belisaire heretique, deiste, impie, ennemi du tröne et de Fautel (car e’etoient ses deux grands chevaux de bataille) les lettres des souverains de l’Europe et celles des hommes les plus &claires et les plus sages m’arrivoient de tous cötes, pleines d’eloges pour mon livre, qu’ils disoient &tre le bre- viaire des rois. L’imperatrice de Russie, l’avoit traduit en langue russe, - et en avoit dedie la traduction ä un archev&que de son pays. L’impera- trice reine de Hongrie, 'en depit de l’archev&que de Vienne, en avoit ordonne l’impression dans ses &tats, elle qui etoit si severe A l’egard des ecrits qui attaquoient Ja religion. Wozu dies diente und wie fohlau man es benußte (wie in unfern Zeiten Fromme und Philofophen die entgegenge- fette Stimmung) fagen die folgenden Worte: Je ne negligeai pas, comme vous pensez bien, de donner connoissance à la cour et au parlament de ce succ&s universel; et ni l’une ni l’autre n’eurent envie de partager le ridicule de la Sorbonne. h

Franzöfifche Literatur: Marmontel. 13

der die Approbation ertheilte. Marmontel berichtet ung mit gro= ber Selbftgefälligkett in feinen Denfwürdigfeiten, welche Bedeu— tung deutfche Fürften auf franzöfifche Nhetorif und oberflächliche Gleganz legten, die fie damals noch nicht wie jegt unter ihren eigenen Landsleuten finden Fonnten. Der Herzog von Braun— ſchweig, damals noch Erbprinz, und feine Gemahlin Huldigten dem Glienten der Pompadour auf diefelbe Weife, wie derfelbe Erbprinz hernach als Herzog einem Mirabeau fchmeichelte, der als Spion des franzöſiſchen Miniſteriums nach Deutfchland ge— jchieft war, Die’ Fürften brachten ihre Huldigung zu derſelben Beit den revolutionären parifer Sophiſten, als Klopfto nach Dä= nemark wandern mußte, als Schiller mit Mühe eine diürftige Exiſtenz fand, als Voß lange Zeit im Lande Hadeln Schulmeifter blieb, und Leffing, der nie wie Mirabeau Frevel begangen oder vertheidigt oder wie Marmontel dem Lafter die Geftalt der Tu— gend gegeben hatte, wegen philofophticher, Hiftorifcher und kriti— jeher Zweifel verfolgt ward. Blos in Beziehung auf den deut— ſchen Geift und die Manier der Fürften der Zeit feen wir Daher Marmontel3 Worte unter den Tert,)

Der hiftorifch = politifche Roman, von deffen Tendenz wir reden, erjchten gerade in dem Augenblicke, als Marmontel Aka— demifer geworden war (1767), als er daher wie feine Kollegen zur Zerſtörung des herrfchenden Syſtems, jedoch nur auf feine MWeife, mitwirken wollte. Cr benutzte die Fabel von Belifars Blindheit und von feinem Betten, Juſtinians Ungerechtigkeit und . anderes, was fich damit verbinden ließ, um gewifje polittfche Leh— ven und gut gemeinte gegen die herrfchende Staats- und Kirchen- polizet gerichtete Rathſchläge unter das große Publikum zu bringen. Er iſt nach feiner Art in den erſten Kapiteln mit dem hiftorifchen Theile bald fertig; die Hauptfache darin ift eine durchaus unbe ftimmte moralifche Politik, Diefe fand am ruffifchen, ſchwediſchen, öfterreichtfchen Hof lauten Beifall, wahrſcheinlich, weil es fehten,

7) Außer der Extafe, in welche nad) ‚Marmontel (p. 49.) der Erbprinz noch in Aachen über die pariſer Gelehrten-Geſellſchaft gerieth, ſtellte er ihn ſeiner Gemahlin mit den Worten vor: Madame, vous désiriez tant de con- noitre lauteur de Belisaire et des Contes moraux. Le voici, je vous le presente.

14 Franzöfifche Literatur: Marmontel.

als wenn der, welcher ihr folge, tugendhaft fein könne, ohne fih zu beffern, und veformiven, ohne etwas Wefentliches zu ändern. Nur eines Abjchnitts wollen wir erwähnen, weil man den Gon- traft der Regenten unferer Zeit, beſonders gegen die Kaiferin _ Katharina, gegen Zofeph II. und Friedrich II. vecht auffallend an der Aufnahme erkennen wird, die diefer Abſchnitt damals in Rußland fand, was jetzt gewiß der Fall nicht fein wide. Es iſt der fünfzehnte Abfchnitt, der gegen die Anfichten und gegen die gefeliche Strenge des Parlaments und der Geiftlichkeit in Nüd- . ficht der herrfchenden Religion gerichtet iſt. Dieſen Abfchnitt über Toleranz, ließ Katharina IL in die ruſſiſche Sprache über— jegen, oder vielmehr, fie überfegte ihn ſelbſt und ließ ihm in dev Ueberſetzung im Reiche verbreiten, Dies wiirde man in unfern Tagen nicht allein in Rußland nicht dulden, fondern auch in vielen deutſchen Staaten zu verhindern fuchen. Wie wenig man damals in Frankreich tiber das Negierungsiyftem einig war, wie

mächtig ſelbſt auf Obfenranten die herrfchende Stimmung ein= wirkte und wie gewandt Marmontel und Seinesgleichen waren, jehen wir daraus, daß die Sorbonne diefen Abſchnitt über Toles vanz verdammte und daß der Herzog von Aiguillen, der doch, wie fein König, den Bigotten fpielte, den Verfaſſer defjelben zum Hiſtoriographen machte, Gelefen wird freilich der Beliſar nicht mehr viel von den Frangofen, gelobt wird er aber immer noch; denn dies Buch war für die Salons feiner Zeit, was der Tele-

mach, der nad) und nach aus dev Mode Fam, für die frühere

Zeit gewejen war. Man begreift übrigens leicht, daß das Buch unter denjenigen Leuten, welche Marmontel beſonders zu befriedi= gen wünfchte, um fo mehr Lefer fand, je weniger Philoſophie oder auch Gefchichte Darin war, man erftaunt aber, wie e8 ben Leuten, denen die Pariſer Salons höchſte und unwiderfprechliche Auetorität und Unterhaltung und Witz letzter Zweck war, entgehen konnte, daß als Roman betrachtet das Buch weder Wahrſchein⸗ lichkeit noch Abwechſelung habe.

Der zweite Roman iſt nur in Deutſchland viel geleſen wor— den. In Frankreich war bekanntlich, ehe durch die Stael, Chateau— briand und andere eine neue Art Poeſie in Proſa Mode ward, ſentimental ſchwülſtige, poetiſche Proſa durchaus nicht angebracht;

Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 15

doch verfchaffte dev gegen das Mlte gerichtete Zeitgeift, vielleicht auch der Ruhm des neugebackenen Hiftoriographen, dem Buche unter den Franzofen einen augenbliefichen Erfolg, wie ihn damals _ viele ähnliche Bücher hatten, Diefer Roman in ſchwülſtiger Brofa erfihten unter dem Titel: die Incas, zehn Jahre nach dem Erſten (177.

Die befannte Gefchichte der von den. Eroberern von Beru gegen die unglücklichen Indianer verübten Greuel gibt Gelegen— heit, militärische Gewaltregterung, autofratifche Herrſchaft und empörenden veligidfen Fanatismus rührend und fchaudererregend darzuftellen, An diefem Buche iſt „nicht einmal der redneriſche Theil zu loben; denn die Proſa befteht, wie Geßners Idyllen und Ähnliche Bücher, aus aufgelöfeten DVerfen, die Sprache tft eigentlich ein Zwitterding von Profa und Berfen, der Inhalt iſt weder Dichtung noch Gejchichte, fondern bald Eins, bald das Andere, fo daß beide ſich abwechjelnd fehaden. Schon die Form bezeichnet daher ganz paſſend eine Zeit der Auflöſung, es tft idyl— liſche Poeſie mitten im verdorbeniten parifer Leben. Wenn es eines Beweiſes dafür bedürfte, daß Marmontels Poeſie und Phi- loſophie noch viel weniger werth war als Diderots Stoicismus, Cynismus und Unglauben, jo würden wir ihn aus den in unferm Sahrhundert erſchienenen Denkwirdigfeiten (Memoires d’un pere pour servir à l’instruction- de ses enfans 4 Vol. 8. 1804.) des berühmten Akademikers und Hiftoriographen führen können. Man fieht dort, wie hohl die Philoſophie, wie eitel und erbärm— lich dieſes Salonleben war, und mie höfifch die ganze Stimmung der von Breiheit -und Aufklärung auf diefelbe Weife wie von der neueiten Oper und dem Fetten Ballet ſchwatzenden Clienten Vol— taires war. Marmontel fucht in den reuigen Befenntniffen Di- derot zu vertheidigen, Dies iſt aber auch Alles, fonft ſtimmt ex, wie auch, Morellet thut, den Ton des Befehuten und Renigen an. Der alte Mann erhebt die vorher in feinen Hauptwerken von ihm aus jehr guten Gründen getadelten Cimrichtungen der alten Staatsform und der alten Kirche und Hierarchte mit großem Lobe, er. gefteht daher wie Morellet, und noch auffallender Raynal in feinem berühmten Briefe an die Nationalverfammlung ganz dffentlich, daß er und die andern Afademifer noch im fünfzigften

16 Franzöſiſche Literatur: Raynal.

Jahre nicht gewußt hätten, wohin ſie eigentlich mit ihrer Philo— ſophie wollten. Wir ſehen in unſern Tagen in Deutſchland hun— derte von ähnlichen reuigen Sündern. Ueberall ſpricht dort der alte Mann ſich ganz unbefangen darüber aus, wie bedeutend und ehrend ihm ein freundlich Wort der Pompadour, ein Blick Lud— wigs XV. und eines Herzogs von Aiguillon war, die Gunſt der Gebrandmarkten ſcheint ihm auch noch im hohen Alter unter ganz veränderten Umſtänden ein großer Troſt. Ueberall zeigt er, daß die Weichheit und Schmiegfamteit feines Charakters, der ganz und durchaus am Hofe, in den Salons und in der großen Ge— jellfchaft gebildet war, die er fo naiv und ohne Schen fchildert, ihn zum alten Werbe machen, dem alle Lappalten und Gitelfeiten, son denen er und unterhält, mehr find als alle Weisheit der Welt. |

Neben den beiden vorhergenannten Afademifern und Philo— jophen, welche durch Ahetorif verfchiedener Art einen Ruhm er- langten, der fie zu hiſtoriſchen Berfonen gemacht hat, melche ihren Platz behaupten werden, was auch immer Schriftiteller, die nur den Innern Gehalt ihrer Arbeiten in Anfchlag bringen, yon ihnen urtheilen mögen, verdient aus vielen Gründen zunächſt der Abbe Raynal einen Platz. Dieſes gutmüthige Mitglied des Kreifes der Geoffrin, Holbachs und Helvetius war täglicher Genoſſe von Marmontel und Diderst und ward auf eben die Weiſe durch eben die Mittel und mit eben dem Nechte oder Unrecht als Hiſto— vifer der europälfchen Colonien in Indien berühmt, wie feine Freunde als Philoſophen und Schaufpieldichter, Auch er war in den auf. grammatifche und rhetorifche Künfte gerichteten Schulen der Jeſuiten erzogen wie Voltaire und Marmontel, er hatte, wie diefe, nicht den Geift dev Griechen, fondern die glatte und gefeilte Adsofatenberedfamkeit dev Lateiner erlernt und diefe anfangs auf Kanzeldeflamation angewendet, Als er des Predigens einer Lehre, an die er nie geglaubt hatte, fatt war, erlangte er die Redaktion des Sötterboten der Damen (Mercure de France), nach deſſen Mufter Wieland feinen deutfchen Merkur einrichten wollte, Gr ſchrieb hernach ganz in Didersts Manier, wir müffen ihn ſchon darum unmittelbar heben Diderot ftellen, außerdem hatte er als uner- müdlicher Schwäter viel Aehnlichkeit mit ihm, Gin befonderer _

Franzöfiſche Literatur: Raynal. 17

Umſtand iſt noch, daß man allgemein behauptete, daß der beſte Theil der erſten Ausgabe des Werks, wegen deſſen Raynal aus Frankreich verbannt wurde, dem er aber auch den Ruf verdankte, deſſen er zum Theil noch genießt, von Diderot herrühre. Man muß nämlich geſtehen, Diderot heuchelte und höfelte nicht wie Marmontel, er war wirklich Enthuſiaſt für ſeine dreiſten und himmelſtürmenden Lehren, wegen deren am Ende ſogar d'Alem— bert mit ihm brach; er arbeitete daher gern und unerſchöpflich für jeden, der ſeine freche Rede zu verantworten übernehmen wollte,

Marmontel, Diderot, Raynal, Morellet beweiſen hinreichend, daß das bloße Gedächtnißwerk, die Ahetorik, Dialektik, Gramma— tif, Furz der ganze Mechanismus des Lehrens und Lernens der jefuitifchen Schulen, zu welchem die Jugend dreſſirt ward, um für die Kirche zu ſtreiten, eben jo gut gegen diefe Kirche ange— wendet werden fonnte, wie umgekehrt im neunzehnten Jahrhun— dert die Rhetoren, Sophiften, Dialektifer der eiteln Schulweisheit wieder diejenigen gewejen find, welche Aberglauben und Vorur— theile durch Redensarten geftüßt Haben. Raynal war in Pezenas ſchon Jeſuit geweſen; er meinte, ev habe gar nicht übel gepredigt, doch gab er, als er nach, Paris Fam, das Predigen ganz auf, weil er, wie er fich ausdrückt, einen Accent von allen Zeufeln gehabt habe. Seit der Zeit ward er ein Bücherfchreiber von Profeſſion und fand, weil damals Hiftorifch-politifche Bücher Mode wurden, in der Gefchichte der Europäiſchen Golonifatton in In— dien * Gegenſtand, den er in der der ſogenannten Oeconomiſten behandeln konnte.

Die erſte Ausgabe von Raynals phileſophiſcher Geſchichte der Handelsniederlaſſungen der Europäer in bei— den Indien, muß jedoch von der zweiten wohl unterſchieden werden. Die erſte Ausgabe iſt eine ganz leere Deklamation, die zweite ein in gewiſſer Hinſicht auch praktiſch brauchbares Werk, gleichwohl hat nicht die zweite, ſondern gerade die erſte Ausgabe dem Verfaſſer einen Platz neben den Diderots, Marmontels u. ſ. w. verſchafft, dies iſt für die Charakteriſtik der Zeit der Salons und ihrer Sophiſtik von Bedeutung. Die erſte Ausgabe erſchien um 1770, und Diderot diktirte dem Abbe Dinge in die Feder, die

er ſelbſt nicht die Dreiſtigkeit hatte, dem Publikum mitzutheilen, Schloſſer, Geſch. de 46. u, 19, FJahrh. IV. a 4, Aufl, 2

48 Franzöſiſche Literatur: Raynal.

er erſchrack ſogar darüber, daß es Raynal wagte. Dafür machten die Akademiker einen ſolchen Lärm über das ſeichte Werk, daß nach neun Jahren, welche zwiſchen der erſten und zweiten Aus— gabe verfloſſen, ſtatiſtiſche Angaben und andere für ein ſolches Werk ganz unentbehrliche Notizen aus allen Ecken und Enden dem Verfaſſer zufloſſen. Da Raynals Buch Dinge enthielt, welche Diderot, der ſie ihm eingab, nicht würde gewagt haben, bekannt zu machen, ſo erregte es daſſelbe Aufſehen, wie alle Werke, welche damals aus dem Widerwillen gegen Pfaffenthum, der durch die radikalen Deelamatoren in Haß des Chriſtenthums ausartete, und aus dem Streben nach Freiheit vom Drucke politiſcher Willkühr, welches oft Verachtung des Sittengeſetzes und der bürgerlichen Ordnung erzeugte, hervorgingen. Türgot urtheilt über das Buch in einem Briefe an Morellet, der ſich damals in England befand, um in Türgots Auftrag die Betriebfamkett, den Handel, die Fabrifen u. ſ. w. näher kennen zu lernen, ſehr verſtändig.

Ich bin neugierig, zu erfahren, ſchreibt er, was wohl die Engländer von der Geſchichte der beiden Indien gedacht haben. Ich geſtehe, daß ich zwar das Talent des Verfaſſers und ſein Werk bewundere, daß ich aber an dem Mangel an Zuſammen— hang der Ideen Anftoß nehme, Er trägt PBaradorien vor, die fih einander geradezu. widerfprechen und vertheidigt die Einen mit derfelßen Warme, mit derjelben Beredfamfeit, demſelben Fa— natismus wie die Andern Bald tft er firenger Prediger der Sittenzucht (Rigoriste), wie Richardſon, bald Feind aller Moral (immoral) wie Helvetius, bald voll Enthuſiasmus für fanfte und zarte Tugenden, bald wieder für wilde Ausſchweifung und trotzi— gen rohen Muth, Er nennt die Sklaveret eine verruchte Sache und doch verlangt er wiederum Sklaven, er bringt unfinniges Zeug über die Naturlehre, unfinniges Zeug über Metaphyſik und und zuweilen auch über Politit vor. Das ganze Buch zeugt von ‚einem geiftreichen und gut unterrichteten Berfaffer, der aber gar nicht davan denkt, daß in einem Buche eine Yettende Idee fein müffe, oder daß e8 einen beftimmten Zweck haben folle. Er läßt ſich vom Enthuſtasmus eines jugendlichen Rhetors von Einem "zum Andern fortreißen. Er feheint fich die Aufgabe gemacht: zu vhaben, hinter einander alle die Paradorien zu vertheidigen, welche

Franzöſiſche Literatur: Raynal. 19

er beim Leſen der Bücher anderer Schriftſteller aufgeſtellt hat, oder. die ihm in feinen wachenden Träumen eingefallen find. Gr hat mehr Kenntniffe, mehr Gefühl und mehr natürliche Bered- ſamkeit als Helvetiusz; es tft aber, um die Wahrheit zu fagen, eben fo wenig Zufammenhang im feinen Ideen, und er kennt das eigentliche Wefen des Menfchen eben jo wenig: als dieſer. Wir laſſen ausdrüclich einen Franzofen und zwar einen Mann wie Türgot über die Seite des Buchs: reden, mit der wir es eigentlich Hier nicht zu thun Haben, unterfchreiben das Urtheil aber ohne Bedenken, und müffen nur noch dazu bemerken, daß Türgot gleichwohl in Beziehung, auf feine Zeit und auf feine Nation ganz Recht Hatte, wenn er dennoch dazu beitrug, das Buch, beſonders die zweite Ausgabe in Ruf zu bringen. Der damals in flatiftifchen, ſtaatswiſſenſchaftlichen und ſtaatswirth— fchaftlichen Dingen gang unwiſſende Haufe der Lefer, Leute, die fein Buch ohne hochklingende Phrafen, feine Gefchichte ohne das, was man Zauber des Styls nennt, würden. geleſen haben, ward durch Diderots und Naynals Geſchwätz mit Dingen bekannt, mit deren wahrer Beichaffenheit dies Publikum es nicht jo genau nehmen durfte, weil es vorher gar nichts davon wußte. Wir reden hier nämlich vom jenen Zeiten, wo Deutfchland und Ruß— land auf gleiche Wetfe der Norden hießen, der von Barbaren . bewohnt, feiner Notiz werth ſei. Diefe Zeiten find befanntlich verfchtwunden, man wird aber die Spuren derfelben noch immer nicht blos in den geleſenſten parifer Zeitungen finden, fondern felbft in den Berichten dev neulich yon den Doctrinärs auf Un— foften der armen Franzoſen fo zahlveich auf Reifen geſchickten Literaten. Raynal brachte auf einmal viel ftatiftifche Gelehrfam- fett, Zahlen, einzelne Angaben über Handel, Berfehr und Staats- kunſt, zugleich mit ‚allerlei: nenen Vorſtellungen, wenn auch; ganz unveifen, über Toleranz und Fanatismus wicht blos an die Wet- ber und Schwätzer der Salons, fondern am Handelsleute und Geſchäftsmänner verfchtedener Art und überhaupt an das Volk. Dies gilt auch vom Könige von Preußen, dev ſonſt nicht gerade Raynals Bewunderer war. Auch diefer Tas das Werf und be- Handelte den Schwätzer ungemein freundchaftlich, während ev mit ‚feinen deutfchen, fleißtgen, genauen, durchaus zuverläſſigen, aber 2*

0 Franzöſiſche Literatur: Raynal.

freilich langweiligen und nicht von Paris aus empfohlenen Mei— ſtern in dem Fach, in welchem Raynal ſtümperte, mit einem Süßmilch und Büſching ziemlich unſanft umging.

Die ſogenannten Wighs der Engländer, die bei Raynal, wie bei Montesquieu, ein glänzendes Lob der Engländer, ihrer Plutokratie und Induſtrie und ihrer ganzen ſelbſtſüchtigen Weis— heit fanden, empfingen ihn, als er von der Sorbonne verurtheilt und vom Parlamente verbannt nach England kam, mit offenen Armen, wie er auch in Holland und in Berlin empfangen ward. Durch die Reiſen und durch die Verbindungen mit allen denen, welche Alles, was von Paris aus empfohlen ward, als vortveff- lich anfahen, erhielt Naynal die Gelegenheit, der zweiten um 1781 erfchtenenen Ausgabe feines Werkes einen reelleren Werth zu geben, als die erfte durch Diderotd Deklamation vorher erhalten hatte. Die vielen ftatiftifchen, abminiftrativen, commercielfen guten Notizen, die man ihm in Holland nnd England aus zum Theil nicht Leicht zugänglichen Quellen mittheilte, machten das Merk, bis beffere erichtenen, faft umentbehrlich und brachten es auch in die Hände foldher Männer, welche die hohlen Deklama- tionen der Encyklopädiſten vecht gut durchichauten. In dem Zeit- raum zwifchen den, beiden Auflagen war der amerikanifche Krieg ausgebrochen und die Demokratie war in Paris Mode geworden, danach ward der Ton der neuen Ausgabe eingerichtet, Diefer Ton war heftig, das Buch mußte deßhalb in Genf gedruckt wer— den, wie Rouſſeaus Bücher in Holland, Die Tächerliche Berfol- gung, die man hernach über das Buch und den Verfaſſer ver- hängte, gaben ihm eine Bedeutung, die es fonft fchwerlich würde erhalten haben. Die Sorbonne verdammte endlich das Buch, das Parlament ließ es nach feiner alten Art durch Henkershand verbrennen und einen Verhaftsbefehl gegen den Verfaſſer ausfer- tigen, der dann das Land verließ und im Auslande einen Triumph über Parlament und Sorbonne feierte, bis er 1788 ruhig zu— rüdfehren konnte. Alle franzofifch gebildeten und franzöſiſch re— denden deutjchen Zürften, wie die englifche Ariftofratie behandelten den Franzofen ganz anders, als König Friedrich Büſching behan- delte, als er ihm mit einer ftattfttfchen Zudringlichfeit beſchwerlich fiel, wie ung Büfching felhft mit Fomifcher Naivetät berichtet,

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 21

Uebrigens iſt es allerdings wahr, daß Raynal mit ſeiner Dekla— mation, aus leicht begreiflichen Urſachen, weit mehr zur Verbrei— tung einer geſunden Philoſophie des Lebens, zur Beförderung des Handels, der Gewerbe der neuern Zeit und zur Zerſtörung der Vorurtheile des Mittelalters gewirkt hat, als Schlözer und Bü— ſching mit aller Gründlichkeit. Eine andere Frage iſt die, wel— ches Verdienſt der ernſte Mann vorziehen ſoll?

$. 2. Rouſſeau. Büffon.

Bei der Erwähnung Nouffeaus in den beiden erften Banden diefes Werkes find feine Briefe vom Berge aus dem Grunde übergangen worden, weil fie der Zeit und dem Inhalte nach der demofratifchen Bewegung des lebten Viertels des Jahrhunderts . angehört; diefe Schrift muß Hier nachgeholt werden. Rouſſeau fehrieb dies demofratifche und heftige Buch, welches wir mit Ju— nius Briefen und den Schriften des Doktor Price und mit Tho— mas Paynes Invective gegen Theologie, Hierarchie und Ariſto— fratie in eine Linie ftellen, ald Advofat feiner genfer Bürger. Er wollte in den Briefen gerichtlich und dofumentartfch beweiſen, daß die genfer Ariftofraten die Dligarchie, welche damals in Genf beftand, ufurpivt hätten. Was er früher in feiner Philoſophie der Entftehung dev gefellfehaftlichen Verbindung unter den Men- ſchen (d. 5. im Contrat. social) dialeftifch und ſpekulativ ent- wickelt, alfo jedem nicht ftreng philofophifch gebildeten Leſer ent= rückt hatte, trägt er in den Briefen vom Berge, von denen wir Hier reden, jedent gewöhnlichen Bürger, wenn er nur von Zugend auf an öffentlichen Angelegenheiten Theil genommen hat, faßlich vor.

Der genfer Heine Rath hatte nämlich, wie ſchwache Negie- zungen oft einzelne Staatsbürger aus Gefälligfeit gegen mächti- gerd, oder auch aus Schwäche, preiszugeben pflegen, aus Gefäl- Vigfett gegen Frankreich auch in Rouſſeaus Angelegenheit dem Rathe des Caiphas gemäß gehandelt. Für die Ertheilung diefes Raths (Che convenia porre un uomo per il populo a martiri)

Jaßt bekanntlich Dante den Hohenpriefter in der unterften Hölle

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

auf dem Boden gekreuzigt zertreten. Der genfer Magiſtrat, um ſich und die genfer Pfarrer von jedem Schein eines Antheils an Rouſſeaus Vernunftreligion zu befreien, hatte das Beiſpiel des Parlaments und des Erzbiſchofs Chriſtoph de Beaumont bes folgt. Die Genfer ließen nämlich Rouſſeaus Emile wegen der darin enthaltenen ganz unſchuldig naturaliſtiſchen, oder, wie man jetzt ſagt, rationaliſtiſchen, Geſtändniſſe eines ſavoyiſchen Pfarrers vom Henker verbrennen und gegen des Verfaſſers Perſon einen Verhaftbefehl ausfertigen. Beide Beſchlüſſe konnten und durften nach der Genfer Verfaſſung gegen einen Bürger nicht auf die Weiſe gefaßt werden, wie ſie gefaßt wurden. Zu der Zeit, als dieſes in Genf geſchah, hielt ſich Rouſſeau im Neuenburger Lande auf, deſſen Statthalter, Lord Keith, einſt Erblandmarſchall son Schottland, ihn mit König Friedrichs Bewilligung in Schu nahm. Bon dort aus machte er im Frühjahr 1793 den furchtbaren Brief gegen den Hirtenbrief des Erzbiſchofs von Paris befannt, der die fen zermalmte, ohne daß der Verfaſſer deffelben grob ward. Ge— gen die genfer Oligarchie ſchrieb Rouſſeau nicht, weil er erwar— tetete, daß die Bürger von Genf in feiner Sache die ihrige ers fennen würden, Er war aber damals ‚doppelt gegen die engher= zigen genfer Dligarchen exbittert, die ihn ungehört verdammt hatten, weil fie gewiffermaßen mit den gnädigen Herm von Bern gegen ihn confpirirten, da ihn auch dieſe in Yerdun micht hatten dulden wollen, Diefe ganze Verfolgung in Frankreich wie in der Schweiz war eben jo ohnmächfig- als lächerlich; fie gab dem damals ganz ungefährlichen Mann eine Bedeutung, die feine Perſon nicht hatte, und den Druck feiner Schriften konnte man ja doch nicht hindern. Gr ward durch die Verfolgung zu einer wichtigen Staatsperfonz; die Pfaffen und Juriſten des alten Sy— ſtems, die ihn verfolgten, machten fich aber auch bei denen lächer— lich und verhaßt, die des fonderbaren Mannes Meinungen durch= aus nicht theilten, Man darf nur die Umftände kennen, um “einzufehen, wie die Behörden fich und den Schlendrian, den fie befolgten, gewiſſermaſſen vorfäglich dem Haſſe und der Verachtung preisgaben.

Die vornehmften Herren und Damen in Paris hegten und pflegten Rouſſeau und konnten ihre Bewunderung nicht laut genug

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

äußern; der Direktor des geſammten Bücherweſens in Frankreich, der edle Malesherbes, hatte die Reviſion des Drucks des Emile beſorgt. Das Buch, welches der Erzbiſchof und das Parlament verdammten, mußte in Holland gedruckt werden, und der Miniſter forderte eine Schrift, die das Parlament verbrennen ließ, welche Berwirrung!! Der Brinz von Gonti hatte Rouſſeau vom Dekret de8 Parlaments die erfte Nachricht gegeben, der Herzog von Lu— xemburg bot ihm ein Aſyl an und war ihm zur Flucht behülflich, der König von Preußen gab ihm Schub, Milord Marfchall wollte ihm eine Benfion verfchaffen. Tauſende von Briefen wurden son allen Seiten her an ihn gerichtetz man wallfahrtete zu dem ſon— derbaren Mann, wie einft zu den Anachoreten der Wüſte. Rouf- fean war fchon damals gewiffermaßen geiftesfranfz; er war voll Griffen und Mifanthropte, was einem gefunden und Fräftigen Manne nie begegnen wird, und doch verfolgten ihn die Seren des alten Syſtems gleich einem Räuber, Ste gaben ihm durch diefe Verfolgung ein politifches Gewicht in Genf, ftatt daß fie nur hätten warten dürfen, bis der Schwindel der Mode, der den Haufen der Menfchen durch Teeren Schall der Worte bald: zur Servilität und zum: Aberglauben, bald zum Fanatismus für Frei- heit von geiftlichen und weltlichen Banden fortreift, vorüber jet. Rouſſeau Hatte erwartet, die Bürger von Genf, ‚welche längſt unzufrieden waren, daß die Bewohner der obern Stadt ſtolz wie die gnädigen Herrn von Bern auf fie hernteder blickten, würden ſich feiner annehmen, oder doch wenigſtens die Geiftlichfeit dage- gen proteftiven, daß proteftantifche Juriſten verführen, ‚wie bie Sorbonne und das Parlament verfahren waren; er ſah fich ge= täuſcht und Fündigte deshalb fein Bürgerrecht auf. Am zwölf— ten Mat 1763 ſchrieb er den in der Gefchichte der Republik Epoche machenden Brief an den Herrn von Favre, erften Syn— difus der Republik, in welchem ex feinem Bürgerrechte entſagte. Diefer meifterhafte, mit großer Kunft und ganz befonderer Mäßi— gung abgefaßte Brief?) ward das Signal bürgerlicher Unruhen

8) Er Tautet wörtlih: Revenu du long dtonnement ou m’a jete de la part du magnifique conseil le proced& que j’en devais le’ moins at- tendre, je prends enfin le parti que l’honneur et la raison me prescri-

94 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

im Innern der Republik Genf, und zwar aus einem doppelten Grunde. Zuerſt wollte die Bürgerſchaft von Genf, mochte ſie auch zum Theil noch ſo orthodox calviniſch ſein, Rouſſeau, den ſie als den Lobredner ihrer Stadt und als den Stolz derſelben ſehr werth hielt, nicht als einen Verbrecher, ſondern als einen Irrenden behandelt haben; dann glaubte fie auch, daß das Ver— fahren des Fleinen Raths nicht verfaffungsmäßig geweſen ſei. Wir ‚wollen, weil nur vom Literarifchen die Rede tft, die damalige ‚innere Ginrichtung von Genf, welche, wie die der mehrften Kan= tone der Schweiz und der deutſchen Neichsftädte des vorigen Jahrhunderts jehr zufammengefegt und verwicelt war, nicht voll- ftändig mittheilen, einige Punfte müffen wir jedoch angeben. Wir ‚heben befonders folche Punkte hervor, welche für den Zufammen- hang des an fich unbedeutenden Streit8 der Bürger von Genf gegen ihren oligarchifchen Magiftrat, mit der allgemeinen Richtung von ganz Europa, wichtig find. Es wird fich hernach von ſelbſt er— geben, daß die Briefe vom Berge durch Entwicklung der demo— ‚Lratifchen Grundſätze des Gontrat forial mit den Neben eines Burke, For, Barre und den Schriften eines Franklin, Payne, Price einerlei Wirkung hatten, und daß fie, wie diefe im Nor- den thaten, das Feudalſyſtem im Herzen von Europa furchtbar erichütterten.

Die Bürger von Genf bildeten damals fünf Klaffen, jede ‚berfelben Hatte verſchiedene Nechte und Pflichten und ſogar ver—

vent, quelque cher qu’il en coüte à mon coeur. Je vous declare done,

-Monsieur, et je vous prie de declarer au magnifique Conseil, que j’ab- dique ä perpetuite mon droit de bourgeoisie et de cit& dans la ville et republique de Geneve. Ayant rempli de mon mieux les devoirs atlaches ä ce tilre sans jouir d’aucun de ses avantages, je ne crois point être en reste avec l’etat en le quittant. J’ai täche d’honorer le nom genevois; .Jai tendrement aimé mes compatriotes; je n’ai rien oubli6 pour me faire aimer d’eux; on ne sauroit plus mal re&ussir, je veux leur complaire jusque dans leur haine. Le dernier sacrifice qui me reste ä faire est celui d’un nom qui me fut si eher. Mais, Monsieur, ma patrie en me devenant etrangere, ne peut me devenir indifferente; je lui reste attache par un tendre souvenir et je n’oublie d’elle que ses outrages. Puisse-t- elle prosperer toujours et voir augmenter sa gloire! Puisse-t-elle abon- der en eitoyens meilleurs, et surtout plus heureux que moi!

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. =.

fchiedene Namen. Diefe Namen waren: Staatsblirger (eitoyens), Gewerbsbürger (bourgeois), Einwohner (habitans), Eingeborne (natifs) «and endlich Unterthanen. Nur die beiden erſten Klaffen hatten Antheil an der Regierung und Gefebgebung, nur der fo ‚genannte Staatsbürger allein konnte aber ein obrigkeitliches Amt befleiden. Die Zahl der Bürger der beiden erſten Klaſſen zu— fammen mochte etwa höchſtens fechzehnhundert betragen, die ber dret ausgefchloffenen Klaffen gab man zu vierzigtaufend an. Diefe Mehrzahl der Bürger war nicht blos von allem Antheil an der Derwaltung des Staatsweſens ausgefchloffen, fondern auch in jeder Rückſicht ſtärker belaftet, fie genoß vieler Vortheile nicht, deren die fechzehnhundert genoffen. Selbft die beiden, gewiffermaßen privtlegirten Klaffen wurden aber in der Regel über die Maß— regeln der eigentlichen Oligarchte nicht befragt, ja nicht einmal gehört, wenn fie ihr eignes Necht geltend machen wollten. Man hatte, ohne durch die Berfaffung dazu berechtigt zu fein, durch eine fünftliche und nach Genfer Art ſpitzfindig ausgedachte Ein— richtung der Regierungscollegien alle Gewalt im Staat an ehr wenige Bamilien gebracht. Dieſe regierten dann auf- diefelbe Weiſe, wie die ehemaligen Berner PBatrizier und viele andere ariftofratifche Regierungen in der That väterlich und vielleicht beſſer als demofratifche Obrigkeiten wiirden gethan habenz aber

es war ihren Mitbürgern doch Tränfend, daß fie ald Kinder immer unter dev Zucht der Herrn in der obern Stadt fanden. Ste hätten gerne etwas phyfiiche Behaglichkeit und einigen mate- riellen Wohlftand weniger gehabt, wenn ihnen ihre wohlmeinen— den väterlichen Regenten moralifch mehr zugetraut und fie für mündig gehalten hätten. Die Einrichtung war ungefähr folgende: Es beſtand zuerft ein eigentlicher Senat, der zugleich oberftes Gerichts= und Regierungscollegium war, wie in unfern deutfchen Reichsftädten, wentgftend in den mehrjtern Diefer Fleine Rath beftand aus fünfundzwanzig Mitgliedern, aus welchen alle Jahr durch den großen Gemeinderath vier Syndies gewählt wurden, die in den verfchtedenen Gollegten oder Aemtern den Vorfit hatten. Der erfte Syndie war Präſident aller der vier Näthe, wodurch man den Schein einer beſchränkten Oligarchie erfünftelte, ohne irgend jemand zu täufchen. Der erſte diefer vier Näthe war der

26 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

große Gemeinderath, der aus den ſämmtlichen Bürgern der beiden erſten Klaſſen beſtand. Ohne Zuſtimmung dieſes Raths konnte keine Auflage ausgeſchrieben und kein Geſetz gemacht werden, er konnte aber nur über die Vorſchläge berathſchlagen, die ihm der kleine Rath that, er ſelbſt durfte keine machen, auch ſtand er unter der Aufſicht des Raths der Zweihundert. Dieſer dritte Rath der kleinen Republik war im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts etwas erweitert worden, denn er beſtand ſeit 1738 nicht mehr aus zweihundert, ſondern aus zweihundert und fünfzig Mitgliedern. Er war das Wahlcollegium für den kleinen Rath, und dieſer ernannte die Mitglieder des Raths der Zweihundert. Alles blieb daher in einem Kreiſe. Außer der Wahl des kleinen Raths hatten die Zweihundert auch das Begnadigungsrecht und das Münzrecht, ſie waren dabei Gericht zweiter Inſtanz. Dieſer Rath der Zweihundert konnte dem kleinen Rathe Vorſchläge ma— chen, durfte aber ſelbſt über nichts berathſchlagen, als über das, was ihm der kleine Rath vortragen ließ. Der vierte Rath, der der Sechzig, war keine eigentliche Behörde, ſondern bloß ein geheimer Ausſchuß, zuſammengeſetzt aus den fünfundzwanzig Mit- gliedern de8 Heinen Raths und fünfunddreißig Mitgliedern des Raths der Zweihundert. Diefer Ausschuß war für geheime An— gelegenheiten und für auswärtige Verhältniffe. Eine Hauptperjon in dieſer Verfaſſung war ber Generalftscal (procureur general) der auf je drei Fahre aus dem großen Gemeinderath son den Zweihundert erwählt ward. Diefer hatte nicht allein alle jurifti- ſchen Gefchäfte zu beforgen, fondern war auch der Staatsſophiſt, d. h. er mußte philoſophiſch beweiſen, daß Alles, was die vor— nehmen, regierenden Herrn anordneten, vortrefflich ſei. Der große Rath durfte allerdings dem kleinen und dem der Zweihundert

Vorſtellungen machen; aber dieſe konnten dann ihr ſogenanntes Recht des Abſchlagens (droit négatif) gebrauchen, d.h. fie konn— ten, ohne auch nur einen Grund anzugeben, bei ihren Beſchlüſſen Heharren. Der große Rath ward daher auch“ nur ein paarmal im Sabre verfanmelt, bloß der Wahlen wegen, denn im Uebri— gen wußte man mit ihm fertig zu werden. Schon 1738 hatte man gefühlt, daß diefe ariſtokratiſch-oligarchiſche Regierung, die fich ftets aus den Gliedern einiger wenigen Familien ergänzte,

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau— 27

mit dem Bedürfniſſe der Zeit und mit den Veränderungen, welche dieſe, beſonders in einer Handelsſtadt, unaufhörlich herbeiführt, im Widerſpruche ſtände. Die Bürger geriethen daher mit den Dligarchen in Streit. Die Unruhen hatten zur Folge, daß. Die Oligarchie um ein Weniges erweitert ward; dafür aber ward das, was vorher nur Ufurpation war, jetzt zum geſchriebenen Recht. Die Genfer Oligarchie ward damals dadurch feſter gegründet, daß die adelige Ariftofratie von Bern und Die weit ärgere bür— gexliche und Anufmänntfche von Zürich, nebſt dev militäriſch mo— nacchifchen Regierung von Frankreich Bürgen der beitehenden Dligarchte wurden. Seit diefer Zeit hatte daher der franzöſiſche Nefident in Genf und die gnädigen Herrn von Bern großen Ein— fluß, und dieſe beiden hatten um 1762 eben fo gut Gründe, in Rouffeau den Propheten der Demofratie zu verfolgen, als bie genfer Oligarchie ſelbſt. Bet diefer Gelegenheit zeigte Friedrich IL, als er den DVeriheidiger dev Demokratie gegen die Oltgarchen in Shut nahm, auf eine glänzende Weife, daß ein Monarch, der auf feine Kraft und fein Verdienſt traut, Feiner Ariſtokratie gegen fein Volk bedarf. Er erlaubte dem verfolgten DVertheidiger der Demokratie nicht allein, Sich in Motiers Travers aufzuhalten, fondern auch von dort aus einen wüthenden Kampf mit den er zu Gunſten des Genfer Volks, zu beginnen.

Der Brief, wodurch Rouſſeau feinem Bürgerrechte weckte nämlich endlich den großen Gemeinderath aus ſeinem Schlummer. Er gebrauchte ſein Recht und machte Vorſtellungen dagegen, daß man einen in ganz Europa geachteten Bürger ver— dammt habe, ohne daß man ihn gehört oder auch nur vorgeladen hätte. Der kleine Rath machte es wie ſonſt, er bediente ſich ſei— nes Rechts, Feine Antwort zu geben. Dadurch kam es zwiſchen beiden Räthen zum förmlichen Bruch, und der große Rath ver— anlaßte einen Stillſtand der Geſchäfte durch die Weigerung, die vier Präſidenten oder Syndies zu wählen. Zu dem Zank über Rouſſeau kamen dann noch andere Urſachen des Zwiſts hinzu, und die bürgerlichen Unruhen in Genf dauerten über vier Jahre lang fort. Wir können und dürfen hier der Geſchichte der Zwi— ſtigkeiten der Bürger einer einzelnen Stadt mittlerer Größe nur in Beziehung auf Rouſſeaus demokratiſch aufregende Briefe

23 Sranzöfifche Literatur: Rouſſeau.

erwähnen, e8 mag daher genug fein zu bemerken, daß der Streit erit um 1763 beendigt ward. Die Bürgen der Verfaſſung von 1735 hatten fich in die Sache gemifcht, fie vermittelten einen Vertrag, deſſen Refultat das fogenannte Friedensediet (édit de pacification) war, wodurch der große Nath einige im Ganzen unbedeutende neue Nechte erhielt, während die große Mehrzahl der Genfer Unterthanen der herrfchenden Familien blieb.

Gleich anfangs mifchte fich Rouſſeau in diefen Streit nicht; er ergriff exit die Feder, als ihn Deputirte des großen Raths ausdrücklich darum erfuchten, weil alle gefchieften Federn des klei— nen Staats der Regierung verpachtet waren. Der damalige Ge= neralfiscal Tronchin, ein Mann von ausgezeichneter Bildung und Talent, fchten der Sache der Demokratie durch die Aufſätze, die er unter dem Titel: Briefe vom Lande herausgegeben hatte (lettres de la campagne), endlich den Todesitreich verſetzt zu haben, als fich die Bürgerfchaft ganz im Stillen an Rouſſeau wandte. Rouſſeau ſchrieb dann gegen diefe Schrift Tronchins, bie er ſelbſt meifterhaft nennt, Hinter einander neun Briefe, welche ganz in der Stille gedruct wurden, und denen er den Titel gab, Briefe vom Berge (lettres 6crites de la mon- tagne) weil fie den Briefen vom flachen Lande (campagne) ent- gegengefett waren.) Der Druck ward in Holland beforgt und

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9) Wir wollen für die Leſer, denen feine Confeſſions nicht gerade zur Hand find, feine eignen Worte herfegen. Er fagt livre XII. de la II. par- tie: Ces altercations (tie Genfer Unruhen) produisirent diverses brochu- res, qui ne decidoient rien, jusq’ à ce que parurent tout d’un coup les leitres ecrites de la campagne, ouvrage &crit en faveur du conseil avec un art infini, et _par lequel le parti representant reduit au silence, fut pour un tems &crase. Cette piece, monument durable des rares talens de son auteur, etoit du procureur general Tronchin, homme d’esprit, homme eclaire, Ires-verse dans les loix et le gouvernement de la repu- blique. Siluit terra. Les representans revenus de leur premier abatie- ment, entreprirent une reponse, et s’en tirerent passablement avec le tems. Mais tous jeterent les yeux sur moi, comme sur le seul qui püt entrer en lice contre un tel adversaire avec espoir de le terasser. J’avoue que je peusai de même; et poussd par mes anciens concitoyens, qui me faisoient un devoir de les aider de ma plume dans un’ embarras, dont j’avois été l’occasion, j’entrepris la refutation des lettres ecrites de la

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das Buch, plötzlich und unvermuthet in die Welt geworfen, wirkte in Frankreich und in der franzöſiſchen, damals ſtolzen Ariſtokraten unterworfenen Schweiz auf ähnliche Weiſe, wie Junius Briefe in England, obgleich die Materie es mit ſich brachte, daß dieſe Briefe nicht durch die Gattung des Styls ausgezeichnet fein konn— ten, welche den Brief an den Erzbifchof von Paris zum Gegen- ftande unferer höchften Bewunderung macht. Dieje Briefe vom Berge zeigen, mit Leflings faft gleichzeitigen Meiſterſtücken des Styls, mit Franklin und der englifchen Redner Arbeiten und mit den Werfen der franzöſiſchen Klaflifer des achtzehnten Jahr— hunderts verglichen, die Art und den Gebrauch des Styls der Klaſſiker aller Nationen des vorigen Jahrhunderts in grellem Gontraft mit dem Styl und der Richtung dev Nomantifer und hiftorifch Objeetiven des unfrigen.

Rouſſeau, wie Leffing, kämpfte auf eine glänzende und all- gemein verftändliche Weiſe in Beziehung auf die Religion des Staates für das Necht verftandiger Prüfung gegen blinden Glau— ben, in Beziehung auf politifche Verfaſſung für einen Antheil des Volfes an der auf feine Koften geführten und mit feinem Blute vertheidigten Regierung des Staates. Cr hat die Briefe jehr paflend in zwei Bücher getheilt. Das erfte Buch tft theils der BVertheidigung eines Sabes, den hernach unter und auch Leffing in feinen Schriften gegen Pfarrer und Theologen fo glänzend durchgeführt Hat, gewidmet, - daß ihre Auctorität uns im Forſchen nicht hemmen dürfe, theils der DVertheidigung feiner eigenen Sache. Es ift namlich in diefen ſechs erſten Briefen zuerit die Nede davon, ob ein Proteftant durchaus an Wunder glauben müſſe; hernach wird das Betragen von Rouſſeaus genfer Richtern geprüft, Die drei lebten Briefe, oder das zweite Buch, find beftimmt, die Sache der Demokratie gegen die Ariftofratie zu führen. en -

campagne et j’en parodiois le titre par celui de Leitres ecrites de la montagne, que je mis aux miennes. Je fis cette entreprise et je Vexeculai si secr&tement que, dans un rendez-vous que j’eus à Thonon avec les chefs des repr&sentans pour parler de leurs affaires et ils

me montrörent lesquisse de leur reponse, je ne leur dis pas le mot de la mienne qui etoit dejä faite, |

30 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

Die drei erſten Briefe, zu denen man auch noch den vierten zählen kann, bilden wieder eine eigene Abtheilung, weil fie aus⸗ fchließend son der Firchlichen Polizei und vom Rechte des Staa— tes in Beziehung anf freie Aeußerung der Meinung in Religiong- jachen handeln; der fünfte und fechste beziehen fich nur allein auf das genfer Gerichtsverfahren und auf die zu beobachtenden Rechtsformen, welche nicht blos gegen Rouſſeau, fonderm auch gegen Andere verlegt waren, Dieſe letzteren Briefe’ können wir ſchon darum übergehen, weil wir der Briefe vom Berge nur in fo ferne erwähnen, als Rouſſeau in denfelben auf der einen Seite mit Semler und Lefjing für Freiheit des Forfchens und Prüfens gegen Untverfitäts= und Gonfiftortaltheologte, und auf der anderen mit Franklin, For, Price, Bayne, für eine neue Ordnung in bürgerlichen Dingen kämpfte. Die erften drei Briefe erörtern bie Frage, ob ein proteftantifcher Staat e8 feinen Bürgern zur Pflicht machen dürfe, ihren Glauben an Chriftt Lehre auf deffen Wunder . zu gründen? Das heißt, wenn wir die Frage etwas anders, mehr poſitiv und hiſtoriſch fallen, fie behandeln die Frage, ob bie Staatspolizet des Mittelalters in kirchlicher Beziehung, gegen welche fich in der erften Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nur hie und da eine Stimme erhob, noch in: der zweiten an— wendbar jet, zu einer Zeit, wo die achtungswürdigſten Männer dagegen proteftivten ?

Gleich der erfte Brief handelt mit einer dringenden Dialettit ohne alle Declamation von Religion und Dogma, vom Geiſte des Chriſtenthums, von Staatsreligion und Cultus, wobei Rouf- ſeau viel mehr Eifer für die reine Lehre Chriſti zeigt, als der geprieſene Montesquieu gezeigt Hat. Rouſſeau beweist, daß das, was in dem berühmten nirgends von der Ariſtokratie angegriffe— nen, von den bigotten Engländern vergötterten Geiſt der Geſetze als Chriſtenthum empfohlen und geprieſen werde, durchaus nicht der wahre Geiſt deſſelben ſei, den er ſeinerſeits verehre und pre— dige. Er zeigt in Beziehung auf die Beſchuldigung von Aufre— gung zu Empörung und Freveln gegen die Staatsreligion, daß es ſehr leicht ſei, aus dem Zuſammenhange geriſſene Stellen der Bibel zu gebrauchen, wie man einzelne Stellen aus ſeinen Schrif⸗ ten gebraucht habe, und ſo eine noch weit ärgere Anklageſchrift

Frangöſiſche Literatur: Rouſſeau. 31

gegen die Evangeliſten als gegen Empörer und Frevler aufzu— ſetzen, als man gegen den Emile aufgeſetzt habe. Wir wollen die ſehr witzige und paſſende Stelle unter dem Texte beifügen, weil leider! in unſern Tagen die Manier, Klage gegen jeden zu führen, der nicht wie es gerade die Zeit mit ſich bringt, bald fromm, bald ungläubig iſt, wieder herrſchend zu werden droht. 10) Dem Untenangeführten fügt Rouſſeau Folgendes bei: Was wür— det ihr Leute ſagen, wenn irgend eine Teufelsſeele Stellen des Evangeliums erſt auf die angeführte Weiſe aus dem Zuſammen— hange xiffe, hernach aber aus den herausgeriffenen Stücken wie— der ein Ganzes machte und. diefer feiner die Evangeliſten ſchänd— lich verlaumdenden Schrift den Titel Evangeliſches Glau— bensbefenntnif gäbe? Was follte man denfen, wenn her- nach dieſe fchauderhafte Schandfchrift von gottfeligen Phariſäern mit triumphirender Miene als Inbegriff der Lehre Chrifti aus- pofaunt würde? Dahin Führt gleichwohl biefe unwürdige Art Bolemif,

Durch die zuletzt angeführten Säge bahnt er fich den Weg, am im zweiten Briefe von dev Stantsreltgion der Genfer und von der Reformation im Beziehung darauf zu reden. Dies tft die Einleitung zu der Unterfuchung, in wie fern es ein Verbre—

40) Wir rufen, läßt Ronffeau feinen Oeneralfiscal fagen, die Strenge des Gerichts: (nous deferons) gegen ein ärgerliches, ein gottloſes, frevelndes Buch an, deſſen Moral darin befieht, den Armen zu berauben, um den Reihen reicher zu machen (Maith. 13. v. 12. Luc. 19. v. 26.), den Kin- dern zu lehren, Mutter und Brüder zu verläugnen (Matih. 12. v. 48, ‚Marc. 3. v. 33.), fi ohne Bedenken fremdes Gut zuzueignen (Matth. M. v. 2. Eur. 19 30.), den Böfen Feine gute Lehre zu geben, weil fie ſich fonft ‚befehren und Vergebung erlangen möchten (Marc, 4. v. 12. Sohannts 12. v. 40.), Bater, Mutter, Weib, Kinder und alle feine: Blutsverwandten. zu baffen (Zur. 14. v. 26). Ich klage gegen. ein Buch. in dem überall das Feuer der 8wietracht gefhürt wird (Matt. 10. v. 34. Luc. 12, v. 51. 52.), worin man fich rühmt, dem Sohn gegen dem Vater zu bewaffnen (Matth. 10. v. 35. Zur. 12. 9. 53.), die Verwandten gegen einander, das Gefinde gegen die Herrſchaften (Matth. 10. v. 36.), ein Buch, in welchem man Hebertre- ‚dung. des Geſetzes prebigt (Matth. 21. 9. 2. u. flg:), wo man Verfolgung ‚sa Pflicht ausgibt (Luc. 14. v. 23.); wo man, um das Volk zu Raubvolk ‘zu machen, die ewige Sellgkeit zum Raub der Gewalt und zur Beute der Gewaltihätigen mat (Matt. 11. v. 12.)

32 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

chen ſein könne, daß man nicht an die Wunder des Chriſtenthums glaubt. Er beweiſet aus der Natur und dem Weſen der Refor— mation, daß es jedem Reformirten, wenn er nur den Inhalt des Evangeliums als göttliche Botfchaft erkenne, vergonnt fein müſſe, diefen Inhalt nach feiner beiten Einſicht zu verftehen und zu deuten. Bei der Gelegenheit gibt er eine Erklärung, welche jeder denfende und conjequente Proteftant unterfchreiben wird, Diefem Sat und ganz confequent der Lehre vom blinden Glauben gemäß, find ja auch viele Lehrer dev englifchen Hochkirche jetzt - öffentlich Berfündiger des Papſtthums, und einige hochkirchliche Gemeinde— glieder find diefem Satze gemäß übergetreten. Wir würden das— jelbe thun, wenn es wirklich dahin Fame, daß man fich entweder zur hölzernen Dogmatik proteftantifcher Profefjoren vder zum Gultus der alten Kirche befennen müßte, wenn man nicht ges ſchimpft und verfolgt werden wollte. Rouſſeau fagt nämlich: „Wenn mir jemand heute beweifet, daß ich verbunden bin, in Slaubensfachen mic) irgend einer fremden Entjcheidung zu unter werfen, fo werde ich morgen katholiſch umd jeder wahr- hafte und confequente Mann wird dafjelbe thun.“ Dies führt ihn dann auf den neuen Papismus, der fich im fechzehnten Sahrhunderte bildete, und auf Calvin. Er redet von ihm mit der größten Achtung, und erklärt feine Intoleranz aus den Zeit- umftänden, wobei er ihn auf folgende Weife entjchuldigt: „Durch das beftändige Zanken und Streiten mit den Fatholifchen Geift- lichen kam auch über die proteftantifchen ein Geiſt des Zankens und der Spibfindigfeit. Vermöge diefes ihnen eigen gewordenen Geiftes wollten fie Alles entfcheiden, Alles unter eine Regel bringen, über Alles abfprechenz; jeder verfuchte ganz bejcheiden, feine eigene individuelle Meinung als oberſtes Geſetz für Alle durchzuſetzen. Auf diefe Weife konnte man freilich nicht im Frieden leben. Calvin war unftreitig ein großer Mann; aber er war doch ein Menfh, und was ſchlimmer ift, ein Theolog, er hatte außerdem den ganzen Stolz eined ausgezeichneten Kopfes, der fich feiner Meberlegenheit bewußt ift, und es jehr übel nimmt, wenn man fie ihm ftreitig macht. Seine mehrften Collegen waren in demfelben Falle, fie waren aber darin am mehrften zu tadeln, daß fie jo ineonfequent waren,” |

Franzöſiſche Literatur: Rouffenu. 33

Diefe Sätze führt er hernach meifterhaft durch und bemetfet mit fiegender Beredſamkeit und mit zwingenden Schlüffen, daß es ganz lächerlich fe, wenn man den Wunderglauben und einen durch gewiſſe Gelehrte aufgeftellten Lehrbegriff neben dem Evanz geltum durch; Staatspolizei und Außere Gewalt aufrecht halten wolle. Er macht aufmerkſam, daß man ja dahin fomme, fich ftatt der alten Kirche und ihrer Ueberlieferung gewiſſe einzelne Männer zu wählen und diefe zu Propheten zu machen. Er fagt ausdrüdlich: „Sch fehließe daraus, daß man die ganze Neforma- tion in ihren erfien Grundlagen untergräbt, wenn man feitjeßt, daß es der Wunder bedürfe, um die. göttliche Sendung der Boten einer Verkündigung des Himmels zu beweiſen, die eine neue Lehre predigen. Wenn man dies annimmt, um mich zu. widerlegen, jo fündigt man gerade auf die Weiſe, wie man mir fälfchlich Schuld gibt, daß ich thue.“ Dies gibt den Mebergang zu den Wundern ſelbſt und zur Entwicelung eines verfiändigen und ges mäßigten Nationalismus, der ſchon Alles das enthält, was zehn Sahre ſpäter Leffing und zwanzig Jahre hernach alle deutichen Theologen lehrten und was jest von ihnen als Keberei verflucht, und, was fehlimmer ift, verfolgt wird. Rouſſeau zeigt hier einen Weg, um an C. F. Bahrdt vorbei, ohne Erklärung der Wunder, ohne Symbolifiven der Gejchichte, ohne. gelehrte Exegeſe durch die Schrift zu einer Religion des Herzens und des Gemüthes

zu gelangen. | Mir heben diefe Stellen ausdrücklich aus dem Grunde her— vor, weil die drei Briefe fich fcheinbar nur mit Rouſſeau's Bros zeß und mit dem ihm Schuld gegebenen Verbrechen des Unglau— bens befchäftigen.. Gigentlich behandeln fie mit fiegender Dialektik bei Gelegenheit der Geftändniffe des ſavoyiſchen Vicars die Fra— gen, die feit 1770 ganz Deutfchland in Bewegung ‚brachten, Deutfchland war das einzige Land, wo Rouſſeau Cingang finden fonnte, denn in Schweden und in Dänemark war das Lutherthum verfteinert und die anglicantfche Kirche gehört im Grunde der römiſchen an, da fie Pfründen hat und Bifchofe, die Pairs find, und aljo Fein Licht in ihren Tempel Laffen darf. Die zwei letzten Briefe des erften Buches geben der Beredfamfeit weniger Spiel-

zaum, weil ſie einen ſehr trockenen Stoff zu behandeln ‚haben; Säloffer, Gef d. 18. u. 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl,

34 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

aber Rouſſeau verſteht wie Leſſing die ungemein ſchwere Kunſt, ſeine Leſer zu zwingen, ihm auch durch die dürrſten Felder zu folgen. Es iſt in dieſen Briefen nur vom Genfer Staatsrecht, von Genfer Prozeſſen und gerichtlichen Formen die Rede, gleich— wohl hat der jechste Brief und beſonders deſſen zweite Hälfte für das neue Stantsrecht von Europa eben fo große Bedeutung als die erften drei Briefe für das damals in Deutſchland däm— mernde Licht der proteftantifchen Theologie. In diefem fechsten Briefe nämlich geht Rouſſeau bis an die äußerſte Gränze des bdemofratifchen Syſtems der Staatseinrichtung. Er bleibt nicht da ftehen, wo die englifchen Redner und felbft Mirabeau fpäter ftehen blieben, fondern er redet, wenn gleich auf eine an— dere Wetfe als Franklin, Payne und Brice, doch dem Sinne nach, wie diefe Demokraten. Er macht in diefem Briefe die ſpitz⸗ findige Lehre von der Volksſouveränität, die er in feinem Geſell— ſchaftsvertrage aufgeftellt hatte, in fehneidender Kürze geltend, vertheidigt fie, wendet fie in den drei folgenden Briefen auf bie Genfer Berfaffung an umd macht fie durch diefe Anwendung auf de beftehenden inrichtungen handgreiflich. Auf diefe Weife mußte fich freilich Rouffenu große Blößen geben, das wird aber Allen begegnen, die ohne die Gefchichte ganz vollſtändig und gründlich ſtudirt, oder die Menfchen, wie fie find und ewig bleiben werden, im engen Verkehr des Lebens kennen gelernt zu haben, Berfal- fungsthenrten ausgrübeln. Jede Verfaffung, die nicht fireng de— mokratiſch tft, erfcheint daher in dieſen Briefen in demfelben Lichte, wie der oligarchifche Genfer Feine Rath. Freilich hat gerade die— fer Umftand beigetragen, diefen Briefen bet allen Leuten, die fich vom Gefühl und Vorurteil bald zum Fanatismus der Freihelt, bald zur Begetfterung für geiftlichen und weltlichen Defpotismus fortreißen Taffen, eine größere Bedeutung zu geben, als bie dürre Wahrheit der Wirklichkeit würde gehabt haben.

Auch in dieſen drei letzten Briefen geht Rouſſeau zunächſt von ſich ſelbſt aus. Es ſei ihm zum Verbrechen gemacht worden, fagt er, daß In feinem Geſellſchaftsvertrage eine verderbliche Theo— vie aufgeftellt jet, man habe erklärt, das Bud, verdiene verbrannt zu werden, weil fich deſſen Verfaffer als einen Feind aller be— ftehenden Regierungen bewieſen habe, Der Inhalt dieſes in

Srangöfifche Literaturs Rouſſeau. 3)

Frankreich ſpäter durch St, Juſt ſehr verberblich gewordenen Gontrat focial, nach welchem die wefentliche und unveräußerliche Volksſouveränität den ſämmtlichen Gliedern des Volks eigen tft, jucht dann Rouſſeau klar in wenige Sätze fürd Bolt, nicht für die Schule zufammenzudrängen. Er faßt hernach das ganze Re— fultat in die folgenden wenigen Worte zufammen: „In der That, diefen neuen Urvertrag, dieſes Weſen unbejchränkter Herrſcherge— walt, dieſe Herrſchaft der Geſetze, dieſe Einrichtung der Regie— rung, dieſe Weiſe, fie ſtufenweiſe zufammenzudvängen, um durch äußere Gewalt zu erſetzen, was an moraliſchem Gewichte fehlt, dies Streben nach) Uſurpation, dieſe wiederkehrenden Verſamm— lungen, dieſe Gewandtheit, ihnen auszuweichen, dieſes gänzliche Aufhbren derſelben, womit, um es kurz zu ſagen, ihr Genfer jetzt bedroht ſeid, und dem ich zuvorkommen möchte, erkennt ihr ſie nicht Zug für Zug in der Geſchichte eurer Republik, von ‚ihrer Entſtehung an bis auf dieſen Tag? Ich Habe alſo, (und dies iſt in Beziehung auf die Wirfung, welche Rouſſeau als Orakel feiner Zeit hatte, befonders zu bemerfen), eure. Gonftitu- tion, ihre Genfer, zum Mufter genommen, auf welche Weiſe nad meiner Meinung alle Staaten eingerichtet jein jollten, und war fo weit davon entfernt, eure Verfaſſung auflöfen zu wollen, daß ich euch im Gegentheil die Mittel angab, um fie zu erhalten, Es iſt daher: fonderbar genug, daß meine Genfer Ankläger ein Buch; das nach ihrer Meinung alle anderen Regierungen und Berfafiungen angreift und doch dafür won diefen nicht werfolgt wird, zum Feuer verdammen, weil die Genfer Verfaffung die Ein— zige Aft, die in dem Buche als Beiſpiel für andere gebraucht wird und die es aufrecht erhalten wiſſen will.“

Rouſſeaus Bertheidigung gegen die Beichuldigung, daß er Feind jeder monarchiſchen und ariſtokratiſchen Regierung ſei, übergehen svir ganz. Wichtiger. für unſern Hauptzweck iſt dage— gen die feine und geſchickte Wendung, vermöge deren er den Gen- fer Zwiſt benutzte, um in dieſen Briefen ans Licht zu bringen, wie fich die innere Befchaffenheit und Die egoiſtiſche Weisheit aller Ariftofratten zur Idee vom Zwecke der Staaten verhalte. Ihr fragt mich, redet er im fiebenten Briefe feine micht zum einen Rath gehörigen Genfer Mitbürger an, wie 28 um eueren

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36 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

Freiſtaat gegenwärtig ſteht und zugleich, was die Bürger deſſelben zu thun haben? Die erſte Frage iſt viel leichter zu beantworten, als die zweite. Die erſte Frage ſcheint nur darum ſchwierig, weil man zwei ganz entgegengeſetzte Antworten darauf geben kann. Ganz verſtändige Leute antworten darauf: Wir ſind das allerfreieſte Volkz andere eben fo verſtändige Leute antworten, wir leben in der härteſten Sclaverei. Wer hat nun Recht? fragt ihr. Ich antworte, alle beide; je nachdem man die Sache nimmt: eine kleine Unterſcheidung vereinigt ſie. Nichts kann freier ſein, als euer Zuſtand, wie er den Geſetzen nach ſein ſollte; nichts iſt ſclaviſcher, als der Zuſtand, wie er in der That jetzt iſt. Euere Geſetze ſind nur dadurch verbindlich, daß ſie von euch ausgehen, ihr erkennt nur ſolche an, die ihr ſelbſt gemacht habt, ihr bezahlt nur die Auflagen, die ihr euch ſelbſt auferlegt habt, ihr wählt die Obrigkeiten, die euch regieren ſollen, und dieſe haben nur unter gewiſſen beſtimmten und vorgeſchriebenen Formen ein Recht, über euch Gericht zu halten. Ihr ſeid in euerem großen Rathe Geſetzgeber, unumſchränkte Gebieter, unabhängig von jeder menſch— lichen Gewalt. Ihr beſtätigt die Verträge, ihr beſchließt über Krieg und Frieden, ihr werdet ſogar von eurer Obrigkeit groß— mächtige, hochachtbare und gebietende Herren genannt. Das wäre denn euere Freiheit, jest wollen wir von euerer Sclaverei reden. :Diefelben Leute, die zu Vollſtreckern der Gefete unter euch be— ftimmt find, find auch zugleich die oberften, ja die einzigen Dol- metſcher diefer Geſetze, fie Iaffen fie aljo deuten, wie es ihnen - gefällig ift, und zu jeder Zeit, wenn es ihnen beliebt, ſchweigen diefe Geſetze ganz; die regierenden Herren dürfen fie übertreten, ohne daß ihr etwas dagegen anfangen könnt; denn dieſe find über den Gefeten. Die Obrigfeit, die ihr wählt, hat ferner ganz un= ‚abhängig von euerer Wahl noch andere Gewalt, die nicht von euch herſtammt.“ Er beweifet hernach, was man freilich in den mehrften - eonftitutionellen Staaten des Gontinents in unferer Zeit leicht ebenfalls nachweiſen könnte, daß eine Freiheit ohne Bürgfchaft und Macht, ‚eine leere Täuſchung fei. Daran knüpft er die Darftellung der Art und Wetfe, wie in Genf und überall, nach und nach Uſur— pation und Gewalt zum Recht geworden ſei. Er meint, Die Geſchichte von Genf beweiſe, daß auch dort, wie in allen anderen

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 37

Staaten, das Volk nach und nach von allem Antheil an der Regierung ſei ausgeſchloſſen worden. Es ſei bekanntlich, ſagt er, alle eigentliche Gewalt an die paar regierenden Familien gekom— men, und es regierten nur die Bürger, welche die Gewalt in den Händen hätten, darum ſei es mit der Verfaſſung vorbei. Vor zwei Jahrhunderten, fügt er hinzu, hatte ein Kenner der Staats— wiffenfchaft das, mas euch begegnet ift, sorausfehen fünnen. Er würde euch gefagt Haben: Die Staatseinrichtung, die ihr macht, ift für den Augenbli gut, fie tft aber für die Zukunft fchlecht. Ste tft ganz gut, um Freiheit einzuführen, schlecht, um fie zu erhalten, und gerade das, was gegenwärtig euere Sicherheit aus— macht, wird dazu dienen, euch in Fefleln zu ſchlagen. Dieſe Säte bilden die Grundlage der folgenden Prüfung der ariſtokra— tifchen Regierung, wo er mit viel herber Schärfe Schritt für Schritt den ſchlauen Maßregeln folgt, welche fie genommen hat, um das Volk nach und nach feiner Nechte zu berauben, Er bes dient fich dabei der rebnerifchen Form des Apoſtrophirens und ruft‘ dem Bürger, dem er fich gegenüber geftellt hat, zu: Ste fehen: jet, mein Herr, die Stantsfniffe der Leute, von denen fie regiert werden. Diefe Leute machen ihre Neuerungen nach und nach ganz langfam, ohne daß jemand erfennt, was daraus werden wird, und wenn man e8 endlich merkt und helfen will, dann fangen fie an, über Neuerung zu fchreien. Diefe Sätze werden “auf eine bittere und heftige Weife durchgeführt, und das Genfer Bolf eben jo mächtig gegen feinen kleinen Rath aufgeregt, als das Englische in Junius Briefen gegen König und Miniftertum. Rouſſeau gebraucht dabet die verfchtedenen Artifel der Genfer Gonftitution gerade auf diefelbe Weife, mie dev Engländer die Engliſche, oder feinen Blackſtone; dabet weiß er, mie dieſer, ein= zelne Fälle für feinen Zweck meifterhaft zu benugen. Er bleibt 3. B. nicht bei dem Verfahren, das man. gegen ihn angewendet hatte, ſtehen, fondern bemubt auch Ahnliche Vorfälle, mie den Prozeß des Buchhandlers Bardin, und die Sache eines Bürgers, der ungerechter Weiſe wegen Entwendung war verhaftet worden, und vergebens um Genugthuung angefucht Hatte,

Rouſſeau ſelbſt macht uns gelegentlich aufmerkfam darauf, daß er nur Organ des Zeitgeiftes fet, und daß 'er im Grunde

38 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau.

in demſelben Kampfe für das wieder erwachende Bewußtſein ver⸗ lorner Rechte des Volkes auf dem Feſtlande begriffen ſei, den faſt gleichzeitig die engliſchen Volksfreunde für Wilkes gegen König und Parlament begonnen hätten. Dies mußte nothwendig in fen Kantonen der Schweiz eine mächtige Aufregung herporrufen, denn alle, wenn man: die ganz Fleinen ausnimmt, wurden mehr oder weniger ‚ariftofratifch, oder wie unfere Sophiften jagen, vä— terlicht von gewiffen Familien ausfchließend, in Beziehung auf phyfi= ſches Wohlſein und materielle Bortheile aber gar nicht übel regiert. Er fagt auch im Rückſicht anf die vorgebliche Freiheit in Ariſto— Fratien ausdrücklich: Wir wollen Herrn Wilfes in Gedanfen nach Genf verjegen, ex folk dort einmal nur dem vierten Theil von dem, was er in London gegen Regierung, Hof und König öffent— lich gefagt hat, was er hat drucken und befannt machen laſſen, gegen den Kleinen Rath jagen, fchreiben und druden laſſen, und man wird fehen, mas erfolgt, Daß man ihn hinrichten Hefe, will ich nicht feſt behaupten (obgleich die Züricher Oligarchen doch) allerdings den unglüclichen Diakonus Waſer Hinrichten Tiefen, weil er Schlöger ein Aktenſtück mitgetheilt hatte, welches dieſer befannt machte); aber davon bin ich überzeugt, daß er ſogleich eingeftecft und mit ſchwerer Strafe belegt würde,

Wir übergehen Alles, was Genf und feine Oligarchen be— fonders angeht, um nur einiges Allgemeine zu berühren, woraus von ſelbſt hervorgeht, mie fich Rouſſeau zu den fpäteren Verthei— digern der Revolution verhält. Er führt an, daß man ihm ein— werfe, bie genfer Regierung habe zweihundert Jahre lang fo bes fanden und Niemand habe ſich bejchwert, die Berfaffung fei gut, tie fie jei, ob man gleich. weder dem allgemeinen Willen befrage, noch ſich genau am Gefete halte, Darauf gibt Rouſſeau eine für alle, an feinem beftehenden Gebrauch oder Mißbrauch je vüttelnden Regierungen freilich bittere und fehroffe, aber doch, jelbft wenn es England gilt, ſchwer zu twiderfegende Antwort: Jede Obrigkeit, ſagt er, auch die beſte, auch die, welche wir ſelbſt gewählt haben, iſt in einem privilegirten Zuſtande und ſtrebt nach Vorzug vor den andern Bürgern. (Daran knüpft er einen Sat in feiner Manier, der bemeilet, daß er das Volk, d. h. dem nie- dern Haufen nicht Fennt, oder nicht kennen voii). Mit dem

Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 39

Stande des gehorchenden Volkes iſt Gerechtigkeit nothwendig ver— bunden, dem Stande der Gebietenden iſt Neigung zu Gewaltthä— tigkeit und zur Tyrannei von Natur anklebend. Die Regierungen fordern Geſetze, aber nicht um ihnen zu gehorchen, ſondern um ſie nach Belieben anwenden zu können. Dieſe Stelle verdient hier beſonders darum angeführt zu werden, weil man ſehen wird, daß die Aufregung des Volkes in den Briefen nicht mehr inner— halb der erlaubten Gränzen blieb, ſondern ‚offenbar aller bürger- lichen Ordnung: feindlich wurde und doch ‚war weniger Lärm von diefen Briefen, als son den Bekenntniſſen des Vicar und som Gmile. So find die Menfchen! Rouſſeau geht noch weiter, er fagt: Die Vorgeſetzten wollen Gefege, um fich an ihre Stelle zu feßen, damit man fich vor ihnen und vor ihrem Amte fürchte, Alles begünftigt ihre fueceffiven Uſurpationen, fie bedienen ſich der ihnen obliegenden Berpflichtungen, um fich immer fort. neue aufzulegen, die fie nicht haben follen. Da fie auch fogar dann, wenn fie die Geſetze verlegen, im Namen des Geſetzes reden, ſo ift jeder, der fich gegen fie zu wehren wagt, ein Unruheſtifter, ein Gmpörer, Er muß fterben, fie dagegen find bei ihrem Bes innen der Ungeftraftheit ſtets verfichert, haben auch im ſchlimmſten Fall gar nichts Anderes zu fürchten, als daß die Unternehmung mißlinge. Haben fie Hülfe von Außen nöthig, fo finden fie dieſe überall; die Schwäche der Schwachen beiteht gerade darin, daf fie ſich * dieſe Weiſe nicht verbinden können.

Es iſt nun einmal das Schickſal des Volks, daß es immer ſeine Gegenpartei zu Richtern hat, Innerhalb und außerhalb fet- nes eigenen Landes u. ſ. w. Man fieht, daß Rouflenu, ohne es zu wiffen und zu wollen, ganz auf den revolutionären Weg de= magogiſcher Volksſchmeichelei geräth, der in unfern Tagen in Deutfehland den Rechten und Freiheiten dieſes gefchmeichelten Volks fo verderblich geweſen ift, weil es ſich den Declamatoren hingab.

Auch Büffon ſogar ſtimmte in den herrſchenden Ton ein, ſo hofmäßig, ſo hoffähig, ſo eitel er auch war. Wir überlaſſen unſern Leſern bei Barante die Vergötterung Büffons zu leſen, worin wir nicht einſtimmen, welche zu beſtreiten aber thöricht wäre; wir verweilen nur dabei, daß er in der Richtung zum

40 Franzöſiſche Literatur: Büffon.

Fortſchreiten, im Aufklären und im Eifern gegen Vorurtheile mit Rouſſeau und d'Alembert zuſammentraf. Alle drei wirkten durch die Materie, die ſie vortrugen, und durch den redneriſchen Styl, worauf fie einen ganz beſondern Fleiß wandten, auf das Publi— kum des achtzehnten Jahrhunderts mächtig ein, jeder von ihnen fuchte, wenn gleich auf verfchiedene Weife, ein Leben und eine Wiffenfchaft zu fchaffen, welche ganz eigentlich der fogenannten philofophifchen Richtung der glänzenden Pariſer Kreiſe angepaßt waren, Büffon hielt fich übrigens ganz in feiner Sphäre, bie wir hier nicht berühren dürfen, wir erwähnen feiner nur als eines philoſophiſchen und rhetoriſchen Schriftftellers, der alle Fächer der Naturgefchichte auf gleiche Weiſe umfaſſen und der gebildeten Melt im academifchen Styl vortragen wollte, Er wirkte um fo mehr, da er. auf ‚eine vornehme und sorfichtige Art eim nichts weniger als theologtiches Syſtem der Naturlehre und Naturges ſchichte vortrug, und auf diefe Weiſe ganz leiſe die naturwiſſen— Schaftlichen Fächer den Phyfifotheologen entzog, wit Montesquieu ‚bie politifchen den. römiſchen Juriſten und Kanoniften entzogen hatte, Der Lebtere vernichtete Die herrfchenden autofratifchen Vor— ftellüngen der Zeit Ludwigs XIV., der Erfte führte gu einer neuen der herrſchenden theologischen und teleologifchen entgegenge- - ſetzten philofophiichen Betrachtung der Natur,

Büffon behandelte allgemeine Naturgefchiehte nach dem Ge— ſchmacke der Frangofen feiner Zeit auf diefelbe Weiſe rhetoriſch, die Manier dem Geifte feiner Nation anpaſſend, wie Herder die Geſchichte poetifch ſchwülſtig, dem Geſchmacke der Deutichen gemäß.

Was Büffons modische Philofophie angeht, ſo zog er fich zurück, jobald das Treiben der modifchen Kreife nicht mehr rein ariſtokratiſch, ausſchließend und gewiſſermaſſen prioilegirt war, fobald es ins Volk zu dringen, die Privilegien und das Herge— brachte wirklich zu bedrohen fchten. Dies nahmen ihm die an— dern Mitglieder der Gefellfchaft bei Holbach und Helvetius ſehr übel, und fie haben ihn wegen der Tächerlichen Art, wie er, gleich unferm 8. H. Jacobi, feine Perioden zufammenkünftelte, oder duch ſucceſſive Erweiterung formlich frifirte, oft dem Gelächter preisgegeben, obgleich das die Zahl feiner Bewunderer nicht vermindert hat. D’Alembert, Diderst, Condillac und Andere pflegten, mie uns

Franzöſiſche Literatur: Büffon. 41

Morellet berichtet, der täglich mit ihnen zuſammen war, den un— gemein zterlichen und feinen Grafen nur einen Scharlatan, einen Rhetor, einen Declamator, einen Bhrafendrechsler zu nennen, Sie warfen ihm vor, mas wir Herders Gefchichte, oder, wenn mar will, feiner Philoſophie der Geſchichte vorwerfen würden, daß fein Styl weder dem Zweck der Behandlung, noch der Natur der behandelten Sache angemeſſen jet. Dies konnten diefe Herrn bei Büffon eher deutlich machen, als wir bei Herder zu thun im Stande fein würden. Sie fagten, die Befchreibungen der Thiere kämen ihnen vor, wie die in der Schule gebräuchlichen Erweite— rungsexercitien (amplifieations), die Fünftlichen Ergießungen über Natur überhaupt fehalten fie unbeftimmte, falſche, unnütze Decla— mationen.

Wer jemals ein Blatt von den Kladden unferes Otyliften F. 9. Jacobi gefehen hat, wie ung der alte Ueberſetzer Homers Blätter davon zu zeigen pflegte, der kann fich eine Vorſtellung von dem bilden, mas wir Büffons Manier, die Sache und den Styl zu machen nennen. Unten ftand dort der einfache Sat, der fuceeffio in den immer darüber gefchriebenen Zeilen voller,

runder, zarter, zierlicher ward. Dies gibt eine DVorftellung von

Büffons Manier zu arbeiten, nur daß diefer nicht jo oft bie Feder dabet anfeste, als Jacobi. Büffon nämlich arbeitete in einem Pavillon im Garten auf feinen Gütern zu Montbar in Bourgogne, und zwar fo, daß er Seite für Seite niederfchrieb,

nachdem er vorher jo lange im Garten herumgewandelt war, bis

er jede Periode im Kopfe gerundet, und auf diefe Weife die Seite fertig gemacht hatte. Man merkt ihm daher überall au, daß Alles auf der. Drechfelbant gedreht ift, doch bleibt fein Styl immer ernft und zterlich; Helvetius und Jacobi, de auf ähnliche Art arbeiteten, find dagegen offenbar manterirt. Büffon verband übrigens mit der Kühnheit unferer Naturphiloſophie im Erfchaffen son Syſtemen und in der Behauptung von Hypotheſen, ald wenn es gewiſſe Erfahrungen oder gar ewige Geſetze wären, eine Klar- heit und einen Hohen poetifchen Flug, die ihm einen Platz neben Herder geben, nur mit dem Unterfchtede, daß bet Herder bie erhabene und doch klare Sprache Natur, bet Büffon durch) Kunſt | tft,

42 Sranzöfifche Literatur: Büffon.

Condorcet bat daher auch an der Stelle, mo er die Schrift- jteller jeiner Nation in zwei Klaffen theilt, mit vollem Rechte Büffon in die zweite gebracht, an deren Spite er Gorneilfe ftellt, Boileau dagegen fteht an der Spite der Erſten. Gr ſagt näm— lich, was den Styl betreffe, fo hätten ihm entweder die Schrift fteller der klaſſiſchen Zeit deffelben, wie Boileau, Racine, Fenelon, Maſſillon, Voltaire auf die Meberzeugung und den Verſtand der Zefer berechnet, oder wie Gorneille, Boffuet, Montesquien, Rouf- feau, Büffon auf Veberredung, auf Beftechung des Gefühle, auf ein Fortreißen des Berftandes ohne eigentliche Ueberzeugung. Büffon hatte mit der Politik nichts zu fchaffen, er war viel zu behutfam, als daß er, wie die Herrn feines Kreifes, religiöſe Borurtheile geradezu hätte angreifen ſollen; er zerſtörte aber bie Spfteme der Theologie eines Bonnet und die theologifche Natur- wiffenfchaft eines Haller, auch ohne alle Bolemif. Seine Syfteme, feine Hypotheſen, feine fühnen Blicke, feine Aufſchlüſſe über den Zufammenhang der Gricheinungen, obgleich fie nur jelten die Prüfung fpäterer Kenner und Forfcher ausgehalten haben, warfen doch auf Natur, Leben, Organifation und Entftehung der Dinge ein Licht. Auf diefe Weiſe ward auch von ihm das Dunkel des Mittelalters zerftrent, die Theologie von der Naturwiffenfchaft ausgefchloffen, und das ganze Leben des Menjchen erhellt, /

Die rechtgläubtgen caloiniftifchen Naturforfcher merften gleich anfangs das, was dem fonft jo fcharfen Geruche der katholiſchen Theologen, ihrer Barlamente und ihrer Polizei entgingz denn fo= wohl Haller, der auch mit Boltaive in ſtetem Kampf war, als Bonnet, der befanntlich die fogenannte Phyſikotheologie bis zum äußerſten Grad der Lächerlichfeit trieb, erhoben ſich gegen ihm, Nicht blos Haller, fondern auch Bonnet waren unftveitig beſſere Beobachter, Forfcher und Kenner des Einzelnen, fie waren der eigentlichen Wiffenfchaft der Natur mächtiger als Büffon, Die Theologie Vieh ihnen aber immer ein Glas, welches fie doppel- fichtig machte, und die Scheu vor einem biblifchen Worte, welches doch nur Kleid der Offenbarung, nicht die Offenbarung jelbft fein kann, hielt fie ab, dem Fluge feines Geiſtes zu folgen, doch waren fie ſtets unter feinen Gegnern die furchtbarſten. Auch unter den Philofophen fand freilich Büffon in Condillac einen

Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 48

Gegner; dieſer richtetete ſich aber gegen ſeine Syſteme und Hypo—

theſen, worauf wir uns weder einlaſſen können, noch wenn wir auch könnten, wollten, da wir Büffon blos deshalb erwähnen,

weil er von allen Andern am mehrſten beigetragen hat, das neuere

Leben aus dem dunkeln Grübeln des Mittelalters ins Licht der

Erfahrung zu ziehen.

8. 3. | Philoſophiſche Stantsötonomen unb Politiker.

An der Mitte des achtzehnten Sahrhunderts war England auf der Höhe feines durch Handel und Betriebfamfett ganz auf

äußeren materiellen Genuß und Behaglichkeit gerichteten Strebens,

es war damals die, mit einem unermeßlichen Reichthum des einen Theile ſtets verbundene, unausfprechliche Armuth des andern noch nirgends auffallend; alle Staaten blickten daher neidiſch auf die: reichen und comfortabel eingerichteten Britten, und ein veicher Lord war ftets dev Theatergott der Nomane. Die bis ing Un—

- glaubliche vermehrten Quellen des Reichthums in England,_ der

Handel, die Gewerbe, die Betriebſamkeit, dev großartig von Kapi- taliften wiſſenſchaftlich und kaufmänniſch betriebene Landbau er= vegte in Frankreich um fo mehr Aufmerffamfeit, je weniger Be— haglichkeit dort die ganz ausſchließend beſteuerten Klafien der Bevölkerung genoſſen, je auffallender das jest zum Theil ver—

ſchwundene Elend der Hauptmafle des Volks, je ärmer die Schab=

fammer eines ſo vortrefflich mit allen Produkten des Südens und Nordens ausgeftatteten Reichs war. Man follte denfen, daß

damals wie jebt der. Wunſch, die Staatskaſſe aus dem Vermö—

gen der Privatleute zu füllen und dem Lurus der Reichen neue Mittel zu Schaffen, auf die Idee der Staatsökonomie geführt hättez dies mar aber nicht der Fall, fondern die Erfindung der neuen Wiſſenſchaft war eine Folge der von den Philoſophen ver— fündigten allgemeinen Menfchenliebe. Ein Arzt Quesnay und ein Kaufmann Gournay ftellten jeder ein eignes philofophiiches Syftem anf über dem Reichthum der Staaten, über die Quellen des Erwerbs und die, Mittel, diefen zu. fürdern und auf diefe Weiſe zu gleicher Zeit den Wohlftand der arbeitenden Klaſſen und

44 Franzöſiſche Hteraturs Oekonomiſten.

die Einnahme des Staats zu vermehren. Quesnay, ber begün— ftigte Leibarzt Ludwigs XV., war der Sohn eines Guätsbeſitzers, und enthuftaftifcher Freund ländlicher Beichäftigungen. Er war durch feine chirurgifche Gefchieflichkeit dem Könige und der Pom— padour ſehr wichtig und mit ihnen vertraut; er war daher am beften im Stande, den König für fein Syſtem, welches den Reichthum eines Landes ausfchliegend in Kultur des Bodens fuchte, zu gewinnen. Auf diefe Weife ward die Pompadsur zu manchen Schritten bewogen, die der bürgerlichen Freiheit günftig waren, und der König ließ manches Neue einführen, nur damit das Spftem in Anwendung gebracht werden Fünnte, Quesnays Grundſatz, wie feine Stellung, war rein monarchiſch, obgleich er

freilich fein Syſtem mit dem, was man damals in Paris Phi- loſophie nannte, in Verbindung zu bringen fuchte, und den Ency- Elopädiften befreundet war. Schon Sülly hatte bei der Staats— verwaltung unter Heinrich IV. diefelben Grundſätze praftifch bes folgt, welche Quesnay theoretifch vortrug. Quesnay erkannte zwar drei Klafjen von Arbeiten, jchaffende, vertheilende, erhal⸗ tende; aber die erfte Klaffe (producteurs) war ihm doch die im engften Sinne zu berücfichtigende; alſo nahmen Fifcherei, Land— bau, Steinebrechen, Holzbau, Bergbau den erften Platz unter den Gewerben ein. Der menfchenfreundliche Mann ſchrieb aus wahrer Theilnahme an dem unglücklichen Schickſale des franzöſi— ſchen Bauernftandes, er wußte den König, der befanntlich auch Büffon für feine Forftfpefulationen benutzen wollte, für feine Ex— perimente ald für Spielerei zu gewinnen. König Ludwig XV. ließ Daher manche der Fleinen ökonomiſtiſchen Aufſätze feines Arz— te8 drucken, ſah die Gorreeturbogen durch und corrigirte fie. Wie der König auf der einen Seite Quesnays Auffabe unter feinen Augen druden ließ, jo bedienten fich auf der andern auch bie Encyklopädiſten feiner,. jo weit auch feine religiöſen und politifchen Grundſätze von den Shrigen entfernt waren. Sie bewogen ihn, die Refultate feiner Forfchung über die Verbefferung des Syſtems, welches den Landmann drücdte, in den beiden Artifeln, Korn (grains) und Pächter (fermiers) ihrer Encyflopädie einzunerlei- ben. Die Aufmerkfamfeit der Gelehrten und der Güterbefiger ward durch diefe Artifel auf Dinge gezogen, die man ihnen

Franzöſiſche Literatur: Oskonsmiften. 45

sorher nie jo handgreiflich gemacht hatte; die Freunde der Pariſer Philoſophen bemächtigten fich feiner Ideen, um fie für ihre Ab—

ſichten zu gebrauchen und manche Minifter monarchiſcher Staaten,

ſowie einige sortreffliche Fürften diefer Zeit machten von feinen Lehren bei ihren neuen Ginrichtungen Anwendung. Sp wenig Quesnay gefonnen war, jo weit zu gehen als die Männer tha= ten, die ihn vergötterten, welche ſchon damals an eine mögliche Beränderung des gefellichaftlichen Zuftandes und. dev Regierung dachten, fo drang er doch darauf, daß die Frohnden in Frankreich abgefchafft, der innere Verkehr von allen Zöllen befreit und der Getreidehandel vollig frei gegeben werden müſſe. Der. beffere, ebelgefinnte Theil der Ariftofratie huldigte um ſo lieber Ques- nays Grundſätzen, als die Gutsbefiser in Beziehung auf Bewirth- Ichaftung ihrer großen Landgüter und der Domänen jehr gut ein- ſahen, daß Quesnay Recht habe, daß der Bauern Bortheil auch ber Ihrige fei.

Unter den Enthufiaften. für Quesnays Syſtem müſſen wir ganz vorzüglich. den Bater des durch die Revolution unfterblich gewordenen Grafen von Mirabeau nennen. Diejen alten Mira- beau wie feinen Bruder, den Maltefer Sommandeur, muß man zu den provenzalifchen Originalgentes zählen, die mit unbändigem Stolz Menfchenfreundlichkeit verbanden, und, für große Ideen empfänglich, oft bis zum Wahnfinn begeiftert oder erbittert auf- traten. Aus den in unferm Jahrhundert befannt gemachten Brie- fen von Mirabeaus Bater und Onkel geht hervor, daß, ‚wenn auch der Erſte der Berühmtefte war, doch der Zweite ihn bei Weiten an provenzalifcher Originalität übertraf. Mirabeaus Vater war das Original der mehrften Volksmänner ; er war, wie dieſe leider mehrentheils find, auf der einen Seite. eifriger De— ‚mofrat, während auf der andern er und fein Bruder den pro— venzalifchen Adelftolz, und zugleich die Anmaßung und Einbil— “dung der Syftematifer, wie aus ihrem übrigens Höchft getftreichen amd originellen Briefwechjel hervorgeht, bis zu einem ‚ganz un=

‚glaublichen Grade trieben. Mirabenus Buch, nach deſſen Titel man ihm zu benennen pflegte, jo wenig menfchenfreundlich auch ‚fein Betragen war, führte den Titel, der Volksfreund Der Marquis: Victor Riquetti son Mirabenu, nach diefem Journal

46 Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten.

der Volksfreund genannt, war nicht blos unermüdlicher Verthei— diger von Quesnays Syſtem, ſondern auch deſſen perſönlicher Freund. Er hat über zwanzig Bände über die neue Staatsweis— heit des ökonomiſchen Syſtems geſchrieben, und eine Lobrede auf den Urheber deſſelben herausgegeben, die wegen des über die Maßen lächerlichen Tons, in dem ſie abgefaßt war, ihrer Zeit eine ganz eigene Art von Berühmtheit hatte und den * ‚reichen Stoff gab.

Der Volksfreund des despotifchen Haustyrannen erfchien) um 1755 in fünf Banden, machte aber die neue Wiffenfchaft weder klarer noch beliebter, * fein Styl war deklamatoriſch und aben- teuerlich ſchwülſtig, und fein eigener Charakter bildete einen zu großen Gontraft mit dev Lehre, die er predigte, als daß er viele Profelyten hätte machen können. Während er für das Wohl des Volks und für die Grundſätze, worauf feine Seete yon Oekono— miften diefes zu gründen gedachte, auf eine komiſche Weiſe eiferte, bewies er fich Bid zum höchften Scandal als einen Haustyrannen, als den furchtbarften Egoiften gegen Frau und Kinder und als fchlechten Staatsbürger Das willkürliche Verfahren der Regie- zung, oder wenn man will, der Minifter Ludwigs XV. mit Mirabeaus Vater, und hernach auf Anfuchen dieſes Vaters mit dem Sohne , erklärt und entfchuldigt die Heftigfeit, mit welcher der Graf Mirabeau hernach, Tobald es die Umftände zulichen, alles aufbot, um der Willkür der Minifter gefegliche Schranken zu ſetzen. Mirabeaus Vater nämlich oder der fogenannte Volks— freund, hatte nicht blos wegen feiner beiden Schriften über Nütz— lichkeit und Nothwendigkeit der Provinzialftande viel auszuftehen, fondern ward wegen jeiner Abhandlung über das Abgewe ¶g (Theorie de l’impöt) ſogar in die Baſtille geſetzt. bar

. Wir nennen Hier den Volksfreund Mirabenu blos’ wegen zwei Schriften, die er in Verbindung mit Quesnay gejchrieben hat, nicht wegen der großen Zahl anderer, die er allein heraus- gab. Die eine enthält die ausführliche Entwickelung des Syſtems einer auf Benutzung des Reichthums des Bodens gegründeten Staatsverfaflung, wie fie Quesnay ausgedacht hattez die Andere ‚enthält einen Furzen und klaren Inbegriff der. wejentlichen Punkte des neuen Syſtems. Das eine diefer Bücher nannte er und fein

Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 47

Mitarbeiter Quesnay, Philoſophie des Landbaues (Philosophie rurale ou 6onomie generale et particulitre de l’agriculture 1764. 3 Vol. 12.), das andere Grundzüge des Syſtems der Betreibung der Landöconomie (Klemens d’&conomie rurale 1767 u. 1768). Auch die mehrften andern Schriften des wun— derlichen Provenzalen find beftimmt, das neue Syſtem auszupo— faunen, oder deſſen Beziehung auf alle möglichen Zweige der Staatshaushaltung nachzuweiſen. Mehre fremde Fürften, umter ihnen befonders Karl Friedrich von Baden und Leopold, damals - Großherzog von Toscana, beide (jo lange Leopold noch nicht Kaifer war) als weiſe und väterliche Fürforger der ihnen ver— tranten, vom Himmel por den mehrjten andern gejegneten Län— der allgemein anerkannt, huldigten Quesnays Grundfäsen. Ihre weiſen, in ganz Europa gepriefenen, von den damals den Fürften nicht gerade gewogenen Philoſophen als Mufter empfohlenen Ges feße und Ginrichtungen waren die Frucht des Studiums von Quesnays Syſtem, und beide bewiefen auch feinem Freunde, dem wunderlichen Marquis, große Aufmerkſamkeit. Auch Kaiſer Jo— ſeph II. gab dem rein monarchiſchen Syſtem Quesnays den Borzug vor dem entgegengefegten Gournays, weil nur das erftere auch in ganz abjolut vegierten Staaten anwendbar fehlen, das andere aber, ohne volle bürgerliche ak ſtets nur. unvoll⸗ kommen ausführbar iſt. Gournays Syſtem faud in allen Andem Europas enthu⸗ ſiaſtiſche Verehrer, weil der ſteigende Luxus die Induſtrie ſteigerte, dieſe aber ohne baares Geld nicht betrieben werden kann. Selbſt der Adel erkannte, daß er nothwendig, wie jetzt überall geſchieht, großen Fabrikanten, Bankiers u. ſ. w. einen Antheil an ſeinen Privilegien zugeſtehen müſſe. Dies Syſtem hat bekanntlich in unſern Tagen völlig geſiegt, und was vorher nur in England galt, gilt jetzt auch auf dem Continent. Eine Folge dieſes Sy— ſtems iſt, daß Wucherer und Spekulanten auch unter uns nicht mehr Plebejer, jondern eine Art: Patrizier find, welche Geld ichaffen, das Leben in eine große Mafchine verwandeln, eine neue freiwillige Leibeigenichaft der arbeitenden Klaffe begründen und fürftlichen Luxus treiben. Gournay hatte, ehe er ins Minifterium Fam, Handelögeichäfte getrieben, er ftand um 1729 am der Spike

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eines nicht unbedeutenden Handelshauſes in Cadix, verband aber, was damals ſelten war, ein theoretiſches Studium mit ſeinem praktiſchen Geſchäfte. Weil ſeit Colberts Zeiten die Theorie der Handels- und Gewerbspolizei in Frankreich ganz vernachläſſigt worden war, ſo bildete er ſich durch das Studium holländiſcher und engliſcher Werke, diente ſeit 1744 dem franzöſiſchen Miniſte— rium mit ſeinen Einſichten und ward bis an ſeinen Tod im Jahre 1759 Intendant des Handels betitelt. Als Intendant des geſammten Handlungsweſens von Frankreich war er mit Tür— got enge verbunden. Er ſchuf ein franzöſiſches Syſtem des Hand— lungsweſens, das er aus einem Petty, Davenant, Gee, Child und anderen engliſchen Quellen ſchöpfte, und wendete die ihm als oberſten Miniſterialbeamten zu Gebote ſtehenden Mittel an, um auf jede Weiſe dies neue Syſtem durch Schriftiteller zu fordern. Auf Gournays Betrieb arbeitete Dangueil fein Werk über die Handelsvortheile und Nachtheile von Eng land und Franfreich, wobei er einen englichen Schriftiteller zu Grunde legte; Fourbonnats brachte Kings britifchen Kauf- mann ind Kurze, und Gournay ſelbſt fchrieb in Verbindung mit Fourbonnats über Handlung im Allgemeinen. Das Syſtem, welches Gournay aufftellt und auf jede Weife auch als Beamter förderte, war noch viel weniger als Quesnays Syftem mit den immer noch fortbeitehenden Schranfen des Feudalismus, der Cor— porationen, Privilegien und des Particularismus des Mittelalters vereinbar. Gournay behauptete nämlich, daß nicht blos die Be— ſchäftigungen der Staatsbürger, welche Duesnay ausfchliepend produzivende Arbeit nannte, den wahren Reichthum des Staats ausmtachten, fondern er bewies, daß jede Art von Arbeit, jeder Kunftfleiß, jede auf Erwerb gerichtete Thätigfeit in Anfchlag zu bringen fei, wenn man den verhältnifmäßigen Wohlftand der Völker, oder den Nationalreichthum ſchätzen wollte,

Gournay mußte, wenn fein Syſtem der Betriebſamkeit des Erwerbs, folglich auch der großen Bereicherung des Staats, der die Summe der Ginzelnen ift, in Anwendung kommen follte, nicht blos mit Quesnay fordern, daß Frohnen, Binnenzölle, Be— ſchränkung des Getreidehandels abgeftellt würden; jondern er mußte noch sieh weiter gehen. Er eiferte Daher gegen Zünfte,

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Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 49

Innungen, Monopole, kurz gegen jede Beſchränkung des Han⸗ dels und aller Arten von Gewerbe.

Er forderte zunächſt Freiheit für alle möglichen Zweige des Handels; Folglich auch für den Getreidehandel. Er verlangte ferner, jeder Bürger des franzofifchen Reichs ſolle ohne Unter— jchied und ohne Nückicht auf Geburt und Religion zu jedem Gewerbe zugelaffen werden. Er behauptete, daß der Staat dafür ſorgen ſolle, daß den Bürgern die Moglichkeit zu arbeiten ge= fchaffen werde, damit dadurch eine Concurrenz und eine Vervoll- kommnung der. Fabrifate erzeugt und zugleich den Käufern Wohl- feilheit durch Abfchaffung aller Störungen. des freien Verkehrs gefichert ſei. Beide, fowohl Quesnay als Gournay, wollten die von ihnen vorzugsweiſe als produzivend begünftigten Klaffen von Laften frei machen; daher mußten fich ihre veformirenden Geſetz— vorſchläge freilich durchkreuzen. Es zeigte fich bald, daß man tn unfern Staaten, wie fie fich jeit dem fiebenzehnten Jahrhundert gebildet Haben, unmöglich der einen Klaffe von Staatsbürgern äußere Vortheile und Erleichterungen verſchaffen könne, ohne einer andern etwas zu ventziehen. Dies veranlaßte einen ungemein heftigen. und bittern Streit zwiſchen den beiden neuen Schulen der Staatswirthfchaft. Diefer Streit war freilich leicht auszu— gleichen, wenn man nur über die Hauptfache, den Umfturz aller Schranken des: Mittelalters, erft einmal einig war; mat durfte nur beide, Syfteme verfchmelzen. Quesnay nämlich wollte gleich den Leuten, die in England die Majorikit bilden, alle Staats- laften ‚gern vom Gutsbefiger und Landbauer auf den Kapttaliften und Kaufmann und durch diefen auf den Krämer und Arbeiter oder Gewerbsmann wälzenz Gournay wollte, wenn es nicht mög— lich fein follte, wie er eigentlich wünſchte, alle auf Gewerbe und Handel ruhende Laften ganz abzufchaffen, dies doch ſo viel als möglich thun und nur allein den Grundbeſitz befteuern.

Die beiden Italiener, Filangieri und Beccaria, denen man gewöhnlich ihren Platz neben Montesquieu anzuweiſen pflegt, waren dene Syſtem Gournays gewogen, und auch der tiefe und fcharfe Denker David Hume vertheidigte es. Zwei andere Ge- tehrte, der eine ein Schotte, der andere sein Franzoſe, ſchufen

durch Verfehmelzung beider Syiteme ein Drittes. Wenn wir hier Schloſſer, Geſch. d. 18. u. 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 4

50 Freanzöſiſche Literatur: Oekonomiſten.

die Geſchichte der Literatur der Staatswiſſenſchaft oder die der Staatshaushaltung ſelbſt ſchreiben wollten, ſo würden wir den Schotten Adam Smith zuerſt und am ausführlichſten erwähnen müſſen, wir dürfen aber ſeiner nur im Vorbeigehen erwähnen, weil wir nur die Franzoſen aufzählen wollen, die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts durch neue Lehren eine neue Staatseinrichtung vorbereiteten. Unter dieſen Letzten gebührt dem philoſophiſch und klaſſiſch nach alter gründlicher Weiſe gebildeten Türgot unſtreitig der erſte Platz. Er verdient beſonders aus dem Grunde vor allen andern ſogenannten Philoſophen erwähnt zu werden, weil er ganz allein aus wahrem Eifer für die Verbeſſe— rung ſchlechter Staatseinrichtungen ſich an die Freunde Voltaires, Diderots, d'Alemberts anſchloß, durchaus nicht aus Leichtfertigkeit oder Eitelkeit. Er war nicht, wie ſie, gegen Religion, gegen die guten Seiten des alten Glaubens oder gar gegen die Sittenlehre des Chriſtenthums, welche Entſagen und Entbehren zur Pflicht macht, eingenommen. Uebrigens war auch Adam Smith mit den Perſonen im Verkehr, die man in Paris philoſophiſche Oekono— miſten nannte, und lernte manches in ihrem perſönlichen, beleh— renden Umgange kennen. Adam Smith legte nämlich die Stelle, die er in Schottland bekleidete, nieder, um den Herzog von Buc— eeleugh auf feinen Reifen zu begleiten, und verkehrte in dieſer Zeit (1765) in der Pariſer Philofophengefellfchaft, wo er wohl gelitten war, Türgot würde indeffen fehon der Zeitordnung nach - vor Adam Smith genammt werben müſſen, weil er nicht blos fein Syſtem in einzelnen Abhandlungen früher entwickelte, oder durch Morellet entwickeln Te, ſondern auch diefes Syſtem als In⸗ tendant, dann als Miniſter früher in Anwendung brachte, als Adam Smith fein Werk herausgab. Dies Werk über den Nattomalveihthum erfchten bekanntlich erft 1776. Türgot, wie Rouſſeau, Malesherbes, Lafayette und einige andere Männer diefer bewegten Zeit, gehört, wenn er much, wie alle Menfchen, manchen Tadel mag verdient haben, zu den erfreutichen Erſchei— nungen in der Gefchichte, die ung mit der Menfchheit ausfühnen und für die herbe Erfahrung entſchädigen, daß Wiſſenſchaft im Allgeneinen der ſtillen Tugend eben fo gefährlich tft als Reich⸗ thum. Er erfcheint, wie die vorher genannten Manner, wie

ꝛ⸗ "gg

Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 51

die Roland und der wackere Lanjuinais, unter der eiteln Bande lockerer Schwelger und Schwärmer, der mit Geiſt prahlenden Sophiſten und treuloſen, den Sinn wie das Kleid wechſelnden Rhetoren, als eine edle, von der Hoffnung der Wiedergeburt ſeiner Nation mächtig gehobene Seele, die freilich getäuſcht ward, wie uns alle, die wir an Tugend glauben, der Traum der —** täuſcht.

Türgot ſtammte aus einer alten, ſehr angeſehenen Familie der Normandie und war, als er anfangs geiſtliche Studien machte, um höhere geiſtliche Würden zu erlangen, Studiengenoſſe des Abbe Morellet. Dieſen führen wir hier in Verbindung mit ihm anf, weil er zwar unter den fogenannten Philofopgen nur eine Nebenrolle fpielte, aber doch auch son ihnen, wie son Türgot und vonder Regierung als Schriftfteller gebraucht ward, Mir fonnen daher auch die beften Nachrichten von Türgots Bemühungen, son feinem Beftreben theils als Gefchäftsnann, Intendant und Minifter, tHeils als Schriftfteller und durch die Literatur, Regie rung amd Verwaltung des Franzöfifchen Neichs mit den Forde— rungen der Zeit in Uebereinſtimmung zu bringen, hie und da aus Morellets Denkwürdigfeiten schöpfen. Türgot war in der alten und in ihrer Art vortrefflichen Schule der Sorbonne ſchon zum theologiſchen Dialektiker ganz ausgebildet, er war schon recht gründlich geiftlich gelehrt, als er vor dem Gedanken erſchrak, die ſcholaſtiſche Theologie wertheidigen zu müffen, son deren Unhalt- barkeit zu feiner Zeit jeder denfende Kopf in Frankreich überzeugt war, Gr ergriff ſtatt des theologifchen das juriftifche Fach, ward Barlamentsrath und fpäter (1752 u, 53) Neferent im königlichen Staatsrathe (maitre de requötes). Dies war um die Zeit, als man eine nene Wiffenfchaft für das Leben, ftatt der alten, welche blos für die Schulen beftimmt war, begründen und unter allen Klaffen von Menfchen durch eine große Encyklopädie verbreiten wollte. Diderot mißbrauchte freilich diefes Organ oder Magazin hernach, um alle Grumdfäte und jeden überlieferten Glauben zu erſchüttern; urſprünglich follte es jedoch nur dienen, ‚alle Wiffen- Ichaften, Künfte, Gewerbe in einzelnen Artikeln Faplich zu behandeln.

‚Der Kampf über die Grundſätze der Staatshaushaltung und Staatswirthichaft war in der Mitte des Jahrhunderts nicht 4*

52 Franzöfifche Literatur: Oekonomiſten.

weniger ‚heftig, als der über DVerfaflung und Regierung am Ende deflelben.

Das Handelsfollegum und alle verftändigen Männer in Frankreich waren für das feit 1754 aufgeftellte Syftem gewon— nen, die Kaufleute, welche die Vortheile des Syſtems der Hem— mungen, Bejchränfungen, Hinderungen genofien, waren Dagegen; das Minifterium felbft war genöthigt, die öffentliche Stimme bei jedem Schritt anzurufen, den es thun wollte, um Berbefjerungen zu machen. Schon 1762 wollten 3. B. die Mitglieder des Han— delskollegiums alle Zölle an die Gränzen verlegt, alle Schutzzölle aufgehoben haben.

Leider war der damalige Zuftand von Frankreich in jeder Rückſicht mit dem jekigen von Deutjchland zu vergleichen; man erfannte nämlich freilich das Alte nicht mehr an, das Neue fonnte aber auch feinen Plab gewinnen. Wenn es in einem Augenblick den Anfchein hatte, als wenn man einen neuen Weg betreten wolle, jo erjchten gleich hernach plößlich der ganze alte Deſpotis— mus wieder in feiner furchtbarften Geftalt. Dies zeigte ſich in Beziehung auf vffentliche und wiffenfchaftlihe Verhandlung der Staatswiffenichaft und Stantswirthfchaft und der damit verbun- denen Stantöpolizei, jobald ein theologtfcher Zurift Finanzminifter geworden war. LAverdy war nämlich kaum zum Gontroleur der Finanzen ernannt, als er um 1763 ein Deeret (arröt du conseil) erließ, welches nach der damaligen Verfaſſung volle Kraft eines Gefetes hatte, worin bet Strafe -einer Verfolgung der Polizei, nicht der ordentlichen Gerichte, wo man fich vertheidigen Kann und nur nach bekannten Geſetzen verurtheilt wird, verboten ward, irgend etwas über Verwaltungsfachen oder über die Regierungs— maßregeln überhaupt drucken zu laſſen. Gegen diefe Verordnung wollte Morellet bejcheidene Einwendungen druden laſſen, feine Schrift mußte aber erft LAverdy mitgetheilt werden, damit er Erlaubniß zum Druck gäbe. Diefe verweigerte er in einer NRandbemerfung, welche wir unten wörtlich mittheilen, weil die Abfaffung fo ungemein viel Aehnlichkeit mit dem Styl und mit dem übermüthigen Ton hat, in welchem noch jetzo in Deutich- land die decretirenden Juriſten auch fogar in unjern Kammern

Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 53

oft zu reden pflegen. 11) Unmittelbar auf dieſe deſpotiſche Zeit eines LAverdy und di Terray folgte unter dem Cinfluß der Defonomiften wieder eine Aufregung zur philanthroptichen Refor- matton des Beftehenden, die von den Behorden ſelbſt veranlaßt ward. Schon zwei Jahre nach jener ſchnöden Bemerkung LAverdys ließ Malesherbes durch Morellet Beccarias Werk über die phi= Yanthropifche Verbeſſerung der Kriminalgefeßgebung des Mittel- alters, der peinlichen Halsgerichtsordnung Katfer Karls V. und der cannibalifchen Juſtiz der franzöfifchen Parlamente (das Buch dei delitti e delle pene) ing Franzöſiſche überfegen, und zehn Sahre nachher ließ das Miniſterium eine ganze Fluth von Schriften ausfenden. Wie verblendet die Leute waren, melche, wenn nicht die Revolution fie zugleich mit ihrem Syſteme ver= tilgt hätte, allen Forderungen der Zeit zum Trotz, alles Alte un= ter neuer Form würden feitgehalten haben, Tann man daraus jehen, daß die grundgelehrten aber barbarifchen Zuriften der Par— lamente, bis zu deren Auflöfung auch nicht das Geringite an ihrer Juſtiz änderten, obgleich ſchon in den fiebenziger Jahren Beccarias neues Syſtem fo freudig begrüßt ward, daß Morellets Ueberſetzung innerhalb ſechs Monaten fieben neue Auflagen erfuhr.

Im Jahre 1769 wollte man, den neuen Grundfäten ange— meſſen, die oftindifche Geſellſchaft, alſo eine gewiſſe Art privile- girten Handels aufheben, die Gegner der Kompagnie hatten auch in diefer Sache Necker, der damals ſchon angefangen hatte, Tür— gots Syftem zu beftreiten, gegen fi; der Gontroleur d'Invaux nahm daher aufs neue zu Türgots Verfechter, Morellet, feine Zuflucht. In diefer Sache ward der Streit ganz mie in confti= - tutionelfen Staaten durch Schriften geführt; ein Theil des Hofs war für Necker, ein anderer für den Gontroleur, der, wie jetzt zu gefchehen pflegt, feinem Vorfechter auch alle offiziellen Aktenſtücke mittheilte. Gletch im folgenden Jahre 1770 gebrauchten ihn Choiſeul und Trüdaine im Sinne des Hfonomiftifchen Syſtems,

11) Die Worte waren: pour parler d’administration, il faut tenir la queue de la poele, &tre dans la bouteille a l’enere et que ce n’est pas à un ecrivain obscur, qui n’a pas cent &cus vaillant, à endoctriner les gens en place.

54 Franzöſiſche Literaturs Oelonomiſten.

um gegen Galianis berühmte Schrift über den Getreidehandel (dialogues sur le commerce des bl&s) für die völlige dieſes Handelszweigs zu ſchreiben. Aus dieſen Notizen über die Verbindung des ——— Syſtems mit der öffentlichen Behandlung der Materien des Staats- rechts, der Staatspolizet, der Finanzen von philojophifchen Köpfen, die nicht Beamte, fondern gewiffermaßen Repräjentanten der In— ‚telligenz ihrer Zeit waren, während der härteften und finfterften Zeit, geht von ſelbſt hervor, welche Kiftorifche und politifche Be— deutung Türgots Syſtem erhielt, als er Minifter geworden war. Von dem Augenblik an war es unmöglich, daß ein blos in der Praris und durch die Praxis gebildeter Mann ans dem Dunkel feines Kabinets, ohne Theorie und ohne den Beiftand von Schrift- ſtellern, das überall und von allen Seiten gefährdete Schiff des Staats fteuern Fonnte, |

Türgot hatte als Intendant, oder wie wir fagen würden, als Eivilgonverneur der Generalität von Limoges, Gelegenheit, durch die Anwendung feiner Grundfäbe auf einen gewifjen be- ſtimmten Zandftrich, befonders den Theil feines Syſtems, der aus Quesnay gefchöpft war, anzuwenden und die Wohlthätigfeit der ‚neuen von ihm vorgefchlagenen Methode dev Verwaltung zu er= proben, Wir haben daher fchon oben bemerft, daß die zahlrei- hen Aktenftüce feiner Verwaltung des Limoufin nicht bloß zeigen, was er hernach als Minifter in Frankreich durchſetzen wollte, ſon— dern auch als Handbuch feines ganzen ökonomiſtiſchen Syſtems betrachtet werden können. Ein Theil diefer yon Düpont in un— jerm Jahrhundert herausgegebenen Aftenftücde, 3.8, die Umlauf- ſchreiben an feine Unterintendanten, an die Steuer-Kommiſſarien, an die Polizeibeamten, an die Municipalräthe, am die Pfarrer feiner Generalität, find unter Napoleons Regierung jowohl yon Düpont, als von andern ihm ähnlichen, edlen und würdigen Ver- waltungsbeamten praftifch benußt worden. in anderer Theil be— greift die Rathichläge, die er ertheilte und die Vorſchläge, die er im foniglichen Nat (Avis au conseil) machte. Diefe find auf eine andere Art, nämlich Hiftoriich, brauchbar. Man lernt daraus die fchauderhafte Ungleichheit des Druds des damaligen Steuer- ſyſtems und deffen verderbliche Wirkung, die er ins Licht febt, um

Franzöſiſche Literatur: Oelonomiſten. 55

die dringende Nothwendigkeit einer Reformation zur Vermeidung eines gewaltſamen Zerreißens des Staatsbandes dem Könige ſelbſt einleuchtend zu machen.

Türgot lebte nur für die ſeiner Pflege Empfohlenen. Er fühlte, wie wohlthätig ſein Syſtem dem Limouſin war, er ſchlug die bedeutenderen Intendantſchaften, die ihm in Rouen, Lyon und an andern Orten angeboten wurden, aus, weil er gern die Frucht von dem ſehen wollte, was er geſäet hatte. Man zählt ihn frei— lich zu den Philoſophen und Encyklopädiſten, doch war er von der. himmelſtürmenden Frechheit, die man vielen von ihnen mit Recht vorwirft, unendlich weit entfernt. ALS vortvefflicher Beam- ter fah er den praktifchen Nuben des religinfen und moraltfchen Gefühle, welches durch einen verftändigen Kultus genährt wird, zu gut ein, um fich einzubilden, daß er ohne Religion Volksglück gründen könne. Ex bewies, wie Eondorset, den größten Ummillen gegen bie gottlofe ariftofratifche egotftifche Philofophie eines Helve- tius. Er hatte völlige Achtung gegen die Einrichtungen der Fatholi- fchen Kirche und gegen würdige Seelſorger, bei aller Abneigung gegen Fanatismus, Jeſuitismus und Papismus. Aus dem erften Bande von den in neun Bänden herausgegebenen Schriften Türgots Tann man jehen, wie große Verdienſte er und feine Schule ſich um die Reform der ganzen franzöſiſchen Staatsverwaltung zur Zeit des fiebenjährigen Kriegs erworben haben, Man fieht dort zu— gleich, wie traurig es damals um die Verwaltung des Reichs

und feiner Finanzen ausfah, Man findet nämlich in dieſem Bande

den wefentlichen Inhalt und die Beziehung dev in den folgenden Sheilen abgedruskten Aktenftüce feiner Amtsverwaltung und feiner Geſchäftsarbeiten angegeben. | |

Türgot gebrauchte als Minifter Morellet, um feine Ideen in einem Gewande zierlicher Rede dem großen Publifum vorzu— ftellen und ihn felbft gegen die Angriffe der wüthenden Verthei— diger alles Alten und aller Borurtheile zu vertheidigen, Gr un— terſchied fich Dadurch von feinen Vorgängern, daß er edel genug war, feine Gegner nicht durch die Macht, die ihm als Mint: fter zu Gebot ftand, niederfchlagen, fondern durch Gründe wider: legen zu wollen. Die Frage über Getreidehandel, über Sperre nach Außen, über Hinderniffe des Verkehrs der einen Provinz

u

56 Franzöſiſche Literatur: Defonsmiften,

mit der andern- Fam zuerſt zur öffentlichen Verhandlung. Bei diefer Gelegenheit Fampfte dev Advokat Linguet, der noch in den achtziger Jahren eine ſolche Gelebrität hatte, daß fich ſogar Kaiſer Sofeph II. feiner bediente gegen Türgot. Diefer war Teicht wi— verlegt, weil feine Redekunſt flache Derlamation war, und man offenbar fah, daß er, um Wahrheit und Recht unbefümmert, nur Paradoren ſuche, um an ihnen feine Sophiftif zu beweifen, Die erfte Probe feiner Advofatenfunft, die ihn berühmt machte, noch ehe. er durch feine vielfältigen Abenteuer befannt ward, hatte ex abgelegt, als er die Vertheidigungsſchriften für den Herzog von Aiguillon und die für den Grafen von Morangies fchrieb; auch in dem Streit über den Öetreidehandel nahm er die Partei der Freunde des Alten. Wie weit man fchon damals in Frankreich den Mißbrauch der vednerifchen Schriftftellerei treiben durfte, lernt man nicht beffer, als wenn man Linguets alberne Schrift gegen Brod und Brodforn und gelegentlich gegen die Freiheit des Han— dels durchfieht. Er verfolgte nämlich mit einem wüthenden Haffe die Mitglieder der Akademie und die Encyklopädiften, und greift ihr Stedfenpferd an, blos um fie jelbft hart mitnehmen zu können.

Einen folchen Gegner wie Linguet Fonnte man leicht wider— legen; aber auch Necker erhob fich gegen Türgots Theorie. Necker war damals Mittelpunkt eines glänzenden Kreifes, der fich bei feiner Gemahlin verfammelte, und entzüct war, daß ein Mann, deſſen Anjehen in Paris faft eben fo groß war als das ber Defonomiften, ihre Meinung gegen den Minifter verfechten wollte. Stolz auf ihren Beifall, vertheidigte er in dem Buche über Gejeggebung in Beziehungauf das Getreide und auf den Kornhandel im Allgemeinen’ ein Sy ſtem, welches dem von Türgot aufgeftellten gerade entgegenge=

ſetzt war.

Diefer Streit der beiden Minifter Türgot und Necker, welche beide, aber auf verſchiedene Weife, dem Beftehenden entgegen waren, weil es ihnen unhaltbar fehten, wird dadurch beſonders hiftorifch wichtig, daß jeder von ihnen eine gewiſſe Partei und eine Meinung, welche Neformen forderte, repräfentirte, und daß bei dev Gelegenheit über Regierung und Gefebgebung zur Zeit abſoluter Herrſchaft öffentlich, von ihnen und ihren Freunden in

Deutſche Literatur: Philoſophie. 57

gedruckten Schriften debattirt ward. Necker war freilich damals noch Privatmann, er war aber ein angeſehener Bankier, der nicht blos mit der Theorie des Handelsweſens ſehr vertraut war, ſon— dern auch große Erfahrung hatte; er war daher eine bedeutende Autorität. Morellet erkennt dies nicht an; er wirft Necker vor, was oft den Genfern wegen ihres doktrinären Treibens, ihrer Ein— gebildetheit von ſich ſelbſt und ihres Wortſchwalls vorgeworfen wird. Er ſagt nämlich in ſeiner Schrift von Neckers dickem Buche: Es würden darin gar viel Worte und Phraſen ge— macht; alles Gerede führe aber doh am Ende zu einem ganz unbedentenden Reſultat. Morellet gab da= her feiner Schrift auch nur den Titel einer Rezenſion des Neder- fchen Buchs (Analyse de l’ouvrage de la legislation et du commerce des bles).

Wir follten jet noch von einigen Andern, von Mirabeau, Beaumarchais, Briffot, La Glos oder richtiger de Ta Cloſe, Lou— ver, Gondoreet, der Frau Roland und Andern reden, dieſe aber * ſchon der Revolution an, wir ven ihrer daher erſt im

folgenden Bande gedenken.

Des zweiten Abfchnitts Drittes Kapitel:

Deutfche Literatur im Verhältniß zum deutſchen Leben.

$.1.

—— Univerfitätsphttofsphte und Theologie bis auf Fichte.

A. Philoſophie.

In die Geſchichte der philoſophiſchen Wiſſenſchaft einzugehen iſt dem Zwecke eines Werks, welches ſich nur mit den Erſchei— nungen des menſchlichen Bebeng, nicht mit dem Weſen defjelben, beſchäftigen ſoll, eben fo fremd, als Aufzählung von Büchern und

58 Deutſche Riteratur: Philoſophie.

Syſtemen; keines von beiden darf man im Folgenden ſuchen. Wir reden bloß von der Bildung, welche die Klaſſe von Menſchen, die ſich mit Literatur beſchäftigten, und deren Zahl bis nach dem ſiebenjährigen Kriege, wie Sulzer bezeugt, ſelbſt in Berlin ſehr klein war, durch den Unterricht, der auf den Univerſitäten ertheilt ward, erhalten, und durch Lehre, Predigt, Schriften unter * Volke verbreiten konnte.

Die Nation nahm am dem literariſchen Leben wenig —* gar keinen Antheil; die zahlloſen Bücher, aus denen das Volk jetzt einen faßlichen Unterricht über alle Theile der Wiſſenſchaft und geiſtige Unterhaltung ſchöpfen kann, waren entweder noch nicht geſchrieben, oder doch nur wenigen Privilegirten zugänglich. Das gab den Orakeln der Studenten eine ganz andere Bedeutung, als ſie jetzt haben können. Die Enge des deutſchen Lebens, die unzähligen erbärmlich kleinen Höfe mit großen Prätenſionen, die Reichsſtädte mit ihrer Pedanterie und ihrer Krämerei, der Man— gel einer Hauptſtadt nöthigte die auf den Univerſitäten gebildeten Männer, in dem proſaiſchen Geſchäftsleben, in Kanzleien und an Höfen ihr ganzes Leben hindurch geiſtig von dem zu leben, was fie ehemals im Hörſaale irgend eines ſogenannten berühmten Do— centen niedergefchrieben Hatten. Dies. iſt e8, was dem größten Theile der an und für fich vielleicht unbedeutenden Männer, deren wir hier erwähnen wollen, in Beziehung auf Nationalbildung eine große Wichtigkeit gibt. Es mußten ja felbft die Deeretirmafchi- nen der Gerichte und Kabinete, die vielen gelehrten Formelmän— ner der Kanzleien, die Aerzte, ja fogar die vornehmen Herren, bie fich des Studierend wegen mit ihren Hofmeiſtern auf den Uni— verfitäten aufbielten, philofophifche Vorlefungen gehört haben. Es nahm fogar bis 1770, wie man bei Pütter fehen kann, die Noblefie und die zu ihr gehörenden Publiciſten an der auf Univerfitäten geltenden fyftematifchen Theologie, als an der Stüge aller Heinen Throne, großen Antheil,

Da jeder deutfche Gelehrte, das heißt jeder, dev nicht die Gavaliers-Bildung hatte, denn diefe war durchaus und ausfchlie- end franzöſiſch, das Syſtem der Univerſität feines Landes und des berühmten Mannes auf derfelben, bei dem er gehört hatte, fein ganzes Leben durch als Leitftern feines Denkens und Han—

Deutſche Literatur: Philoſophie. 59

delns betrachtete, ſo ſollten wir hier eigentlich alle kleinen und großen Univerſitäten Deutſchlands aufzählen. Wir ſollten, weil nur von der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Rede iſt, die Lehrer der Philoſophie, welche in Roſtock, Erlangen, Alt dorf, Tübingen, Ingolſtadt Aufſehen machten, ebenſowohl auf- ‚zählen als die Männer, welche nacheinander oder nebeneinander in Göttingen, Leipzig u. f. w. Epoche machten; wir verfchmähen ‚aber. diefe Bollftändigfeit und erwähnen nur, was uns paſſend für unfern ganz beſondern Zweck fiheint, Gelegentlich müſſen ‚wir jedoch bemerken, daß gerade in dem Zeitraum feit Wolfe ‚Rückkehr von Marburg nach Halle bis auf Reinholds und Fichte's Auftreten in Jena, zum erſten Mal eine nicht vom Katheder und ‚von Univerfitäts- und Studentenpropheten gepredigte Philoſophie in lesbaren Büchern, nicht in Gompendien, in gutem Deutich, ‚nicht in einer nur Adepten verftändlichen Terminologie dev deut— ſchen Nation, gelehrt ward, Wir meinen Lefling, Mendelsiohn, ‚Herder und Jacobi. -

Mas die Philoſophie der deutichen Bildungsanftalten angeht, fo hatten die Bietiften durch die Verfolgung, welche fie über den Philoſophen Wolf durch den orthodoren König. Friedrich Wilhelm ‚von Preußen verhängen ließen, die deutſche Philoſophie von Halle nach Marburg getrieben, wohin die Zuhörer dem vertriebenen Lehrer gefolgt waren. Als Friedrich U. den baronifirten Philo— ſophen zurücrief, fand er den Zulauf der Studenten, den er

‚früher gehabt hatte, zwar in Halle nicht wieder, dafür ward er

aber als Schriftiteller defto berühmter, . Ex ftiftete eine philofo- phiſche Serte, welche bis auf Kants Zeit die -zahlreichite in Deutſchland war. Er befrtedigte die deutfche Vorliebe für Gründ— lichkeit und bis ing Kleinfte gehende Genauigkeit und Ausführ- lichkeit dadurch, Daß er das Gold und Silber eines Leibnig, mit ‚jeinem eigenen Kupfer verſetzt, In zahlreichen. Quartanten, die in furchtbarem Latein gefchrieben find, ausmünzte, Cr war urfprüng- lich Mathematifer, er nannte feine Methode die mathematifche, ‚trieb aber das fogenannte Demonftriren fo weit, daß endlich die armen Deutjchen, als fie ihrem Orafel blindlings folgten, wenig dadurch gewannen, daß durch Wolf die fcholaftifche Methode und die jcholaftifche Lehre des Mittelalters von den Kathedern nicht

60 Deutſche Literatur: Vhiloſophie.

blos der proteſtantiſchen, ſondern auch der katholiſchen Univerſitäten verbannt ward.

Man müßte ganz im Tone der Satyre reden, wenn man beſchreiben wollte, auf welche Weiſe zur Zeit des ſiebenjährigen Kriegs die Wolf'ſche Philoſophie, ſo wie ſpäter Die Kankſſche Die deutſchen Köpfe verwirrte und in allen Fächern ein höchſt lächer— liches Demonſtriren hervorrief. Auf allen Kanzeln wurden Pre— digten in mathematiſcher Methode gehalten, in theologiſchen und andern Lehrbüchern wimmelte es von Axiomen, Lehrſätzen, von Theorien, Definitionen, Diviſionen, Diſtinctionen und haarſcharfen Beweiſen ſolcher Dinge, die ſich zwar glauben, anſchauen, empfin- den, aber niemals mathematiſch demonſtriren laſſen. Um Gründ— lichkeit, Ordnung, Deutlichkeit erwarb ſich Wolf, gerade weil er vom mathematiſchen Wiſſen ausgegangen war, große Verdienſte, darauf legten aber die Nachbeter und Bewunderer viel weniger Werth, als auf die Erfindung einer beſtimmten Terminologie und auf die Breite und die Anmaßung, alles Wiſſen in die Begriffe ſeines Syſtems zu preſſen. Es kam dahin, daß in jener Zeit jeder Wolfianer, wie ſpäter der Kantianer, Fichtianer, Schel— lingianer, wenn er einige Bücher über reale oder hiſtoriſche und Erfahrungswiſſenſchaften durchblättert hatte, über alles Mögliche entſcheidend abſprechen durfte, ſobald er die Orakel und die Ter— minologie des Mannes, der ihn entzückt hatte, auswendig wußte und fertig anwendete.

Daß Wolf zuerſt die philoſophiſche Allwiſſenheit der beutſehen Sectenhäupter und ihrer jugendlichen Schüler begründete, geht ſchon aus dem Verdienſt hervor, welches ihm die Deutſchen allge— mein zugeſchrieben haben, daß er nämlich zuerſt eine Encyklopädie der philoſophiſchen Wiſſenſchaften aufgeſtellt habe. Seine Quar— tanten behandelten nämlich die theoretiſche Philoſophie m folgenden Abtheilungen: Logik, Ontologte, Piychologie, Kosmo— logie, Theologie (die Testen vier unter dem allgemeinen Namen Metaphyſik); die praftifche Phtlofophte in folgende Fächer ge= theilt: allgemeine praftifche Philoſophie, Ethik, Naturrecht, Politik, Mir haben ſchon im erften Bande an der Stelle, wo von Bod— mer und Breitinger die Rede war, bemerkt, daß erſt Wolfs Schüler, Baumgarten, auch Kımft und Poeſie der ſpeculativen

Deutfche Literatur: Philoſophie. 61

Philofophie und den Syſtemen der Schule unterwarf. Herder Veitete. hernach die Philoſophen darauf, auch in den hiſtoriſchen Wiffenfchaften ihre ftrengen Gebote geltend zu machen. Er trug Geogonie, Ethnographie, Gefchichte und was damit zufammen- hängt, auf den feraphifchen Schwingen feiner Art Philoſophie und auf den cherubifchen der Poeſie zu Auftigen Höhen empor. Wolfs praktifche Philofophte behauptete ſich Tänger als feine Spe- fulation und fein mathematifches Demonftriven, und machte, des alten Gewandes beraubt, noch am Ende des Jahrhunderts zwei Männer, bei unferer an. Moralifiren gewöhnten und dem Eudä— monismus günftigen Nation, fehr berühmt. Diefe Männer waren ° Platner und Garve, welche das Welen der Wolffchen Philofo- phie beibehielten, Form, Darftellung und Richtung aber änderten, und defhalb hier auch nur im Vorbeigehen erwähnt werden dürfen, Halle war damals, troß aller Bemühungen Friedrichs IL, Pflanzſchule für pietiftifche Lehrer und für orthodoxe Theologen, bis Semler fpäter eine andere Richtung angab und Friedrichs aufgeklärte Minifter und Räthe Eberhardt anftellten. Wolfs Philoſophie erhielt ſich dort nur in theologifcher Form. Siegmund Jakob Baumgarten übernahm als Profeffor der Theologie das ſchwere Gefchäft, die Theologen mit Wolf Syſtem auszufähnen und wandte das neue Syſtem auf die alte Theologie und Aſecetik an, ohne diefen im Geringften wehe zu thun, während fein Bru— der, Merander Gottfried, Wolfs Syftem in die praktifchen Fächer brachte, und eine Wifjenfchaft erfand, die man Aefthetik nennt, Jakob Stegmund Baumgarten fand in Halle den Pietismus und die firenge lutheriſche Orthodorie in Zwieſpalt, er mußte feines Lehrers Wolf Demonftrir- und Definirmethode anzumenden, um fie zu vereinigen und philofophiich zu machen. Baumgarten benuste in feinen Borlefungen bald einmal Freylingshaufens Grundlegung der Theologie, bald des berüchtigten Lange, der durch feine Kabalen Wolf aus Halle vertrieben hatte, Oeko— nomte des Heils (Oeconomia salutis evangelica etc.). Gr 309 die Theologen nach Halle, wie fein Bruder die Juriſten nach Frankfurt a, d, Oder. Die beiden Baumgarten führten aus, mas Bilfinger, Reufh, Winkler, Baumeifter, Ganz, Cramer, Gott- ſched, jeder in feiner Art, verfucht hatten, und was Ploucquet und

62 Deutſche teratur: Philoſophle.

Lambert hernach auch ſpäter noch mit Glück fortſetzten, als die Popularphiloſophie ſchon anfing, die Kathederphiloſophie Deutſch⸗ lands aus der Literatur zu verdrängen. Alexander Gottlieb Baumgarten machte durch feinen Vortrag die neue Schulphilo— fophte beſonders berühmt. Die Zuriften und die Freunde der Literatur und Kunft gingen nach Frankfurt a. d. Oder, um dort die auf Naturrecht und Theorie der ſchönen Künſte und MWiffen- ſchaften angewendete Wolfſche Philoſophie vom Erfinder der Aefthetit zu Teınen. Daß Baumgarten: als Lehrer, (denn von ihm als Schriftiteller läßt fich nicht dafjelbe fagen) ſehr wohlthä— tig auf die deutſche Bildung feiner Zeit wirkte, wird niemand leugnen, der daran denft, daß Nicolat, Suler und Töllner den Kern ihres philofophifchen Wiffens dem Wundermann der frank⸗ furter Univerſität verdanften. Der Buchhändler Nicolat, der her— nach die Dreiftigfeit hatte, unter den Philofophen als Philoſoph aufzutreten, als folcher in der Berliner Academie vornehm und zugleich grob mit Fichte zu ſtreiten, nachdem er früher allerdings große Verdienfte um unfere Nation, um Aufklärung und gefimden Menfchenverftand erworben hatte, preifet in einer übrigens höchſt anmaßenden Schrift 12) Baumgarten als erfte Quelle feiner phi⸗ Iofophifchen Kenntniffe. Er Hatte zwar nicht ſelbſt bet ihm ges hört, weil er nicht in Franffurt ſtudirte, ſondern dort nur Die Buchhandlung erlernte, Hatte aber feine Hefte gelefen. Sulzer war freilich als Client der Bodmer und Breitinger der Philoſo— phie Wolfs, welche Gottfched begünftigte, nicht durchaus gewogen, er konnte fich aber doch der von Baumgarten ergrübelten und von deſſen Schüler Meter verbreiteten Aeſthetik nicht ganz entziehen. Zöllner ſchöpfte den Stoff der Moraltheologie, wodurch er —— ward, ganz aus Baumgarten.

Frankfurt a. d. Oder blieb auch nach Baumgartens Tode am Ende des ſiebenjährigen Kriegs eine der Philoſophie wegen ſtark beſuchte Univerſität. Aeſthetik mußte man freilich ſeit dem

142) Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritiſchen Philoſophie und meine Schriften, dieſelbe betreffend, und über Herrn Kant, I. B. Erhard und Fichte, Von Friedrich Nicolai. Eine Bellage zu dem neuen Geſpräch zwifihen Chriſtian Wolf und einem Kantianer, Berfin und Stettin 1799, volle 266 Seiten. |

Deuiſche Literatur: Philoſophie. 63

Tode ihres Erfinders anderswo ſuchen; allein nur in Frankfurt fand man einen Mann, der durch feinen Vortrag anzog und, was unglaublich, erfcheint, praktiſche Jurisprudenz mit einer Philoſophie verband, die fich geltend zu machen wußte, obgleich fie Fein Zweig der Modephtlofsphte, d. h. der Wolfihen war, Die Stadt Frankfurt nämlich, welche im fiebenjährtgen Kriege fehr viel von ihrem Wohlſtande verloren hatte, bat den König von Preußen, ihre wieder einen Profeffor zu rufen, mie Baumgarten gemwejen fet, d.h. einen, der ſich auf einer andern Untverfität fo berühmt gemacht Habe, daß er die reichen Studenten, von denen die Bür— ‚ger gewinnen könnten, nach Branffurt ziehe. Der König, der ihnen wohlthun Konnte, ohne daß er Unkoſten davon hatte, bewil— Yigte ihren Wunfch, und da der zu berufende Lehrer ein Philoſoph fein follte, befragte ex feinen Gefellfehafter, den Oberften Gutchard (Quintus Icilius), der fich mit Wolfſcher Bhtlofophte zu beichäf= tigen pflegte, Gutchard empfahl gleichwohl Feinen Wolfſchen Pht- Yofophen, fondern einen Mann, der ihm als Freimamer, als der Freund vieler Großen und befonders als derjenige befannt war, der Jena blühend und die Jenaer Bürger wohlhabend machte, Diefer Mann war Joachim Georg Darjes, deffen wir hier er- währen müſſen, weil er ohne etwas Bedeutendes in der Wiflen- ſchaft ſelbſt zu Teiften oder fie als Schriftfteller glänzend zu be= handeln, fait ein halbes Jahrhundert hindurch die deutſche Jugend philoſophiſch gebildet hat. Er verſammelte tn Sena_ und feit 1763 in Branffurt a. d. Oder hunderte son Zuhörern um fich und tft gleichwohl beinahe verſchollen. Wie vergänglich der akademiſche, Angftlich gejuchte Ruhm fet, kann man daraus fehen, daß fogar der fonft fo genaue Tennemann Darjes zwanzig Jahre früher fterben laͤßt, als er in der That geftorben ift, und doch hatte dieſer das feltene Glück, daß ex trotz der Veränderung aller Dinge bis an feinen Tod (1792) wirkſam bleiben konnte.

Da hier nur vom Verhältniß deutſcher Wiffenfchaft zum deut⸗ ſchen Leben, nicht von der Wiſſenſchaft ſelbſt die Rede iſt, ſo müſſen wir von Darjes ſelbſt einige Winke über das deutſche phi— loſophiſche Treiben entlehnen, wie es zu feiner Zeit war und lei— der. zu unſerer Seit wieder geworden ift. Darjes nämlich hat jelbft in einer Vorrede zu Bielefelds Anleitung zur Staatsklug—

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heit (Jena 1764) den Gang feiner Bildung und feiner Schiefjale bis auf den Augenblick, wo er in Frankfurt ohne fremde Augen- gläfer jehen lernte, mit einer unter Gelehrten feltenen Aufrichtig- fett erzählt. Wenn man die mehrften der Leute, welche in unfern Tagen in Frankreich und Deutichland allgemeines Auffehen durch Philoſophie und Romantik erregt haben, etwas genauer betrachtet, wird man sehen, daß es allen ergangen ift wie Darjes, Ä Ohne alle Elaffiichen Studien, ohne Kenntniß der Alten, bloß mit einer Fertigkeit im barbariſchen Schullatein und mit einigen dürftigen mathematiſchen Kenntniſſen verſehen, lernte Darjes in Roſtock die ariſtoteliſch ſcholaſtiſche Philoſophie, welche in den Schulen herrſchte, ward in ihrer dialektiſchen Kunſt geübt, und alſo übermüthig und keck gemacht, wie Schulphiloſophen zu ſein pflegen. Er war auf dieſe Weiſe vortrefflich auf die demonſtri— rende Weisheit Wolfs vorbereitet und Carpov, der ſpäter nach Weimar kam, weihte ihn in Jena in die Geheimniſſe der wolf- ſchen Philofophte und in deren Anwendung auf ‚alles mögliche Wiffen gründlich ein. Die Wirkung, welche feine aller hiſtori— ſchen und realen Kenntniffe, des Gefühls, der Erfahrung, der Poeſie entbehrende Bildung auf ihn hatte, beichreibt Darjes fehr aufrichtig. Wir ſetzen feine Worte hieher, weil jedes neue. Schul- ſyſtem bis auf unfere Tage diefelbe Wirfung gehabt und daher die deutſche Philoſophie Weltleuten und Ausländern lächerlich ges macht hat.13) Died war um 1735 ald Wolf von den Bietiften und son den Orthodoren des Syſtems der ſymboliſchen Bücher verfolgt ward; auch Darjes ward daher verdächtig, er ſah fich

13) Nun kam ich, fagt er in der angeführten Vorrede, als ein junger Wolfianer nah Haufe. Wer mir etwas wider die wolfifhen Lehrfäbe fagte, war mein Feind, und tin meinem Herzen hielt ich ihn für einen Menſchen von blödem Berftande. Ich befam hohe Gedanken von mir und nad diefen war ich damals wirklich gelehrter als ich jest bin. Die Anlage war da zu einem philoſophiſchen Klopffehter. Ih war Hüger wie Andere; Anderer Lehren Fonnte ich mit der fhönften Wendung gefährlich fhildern, und wer nicht lehrte was Wolf gelehrt, der war in meinen Augen verächtlich. Sch konnte auch vortrefflih ſchimpfen. Nur eine einzige Eigenfchaft eines philoſophiſchen Klopffechters fehlte noch ich konnte von Andern in ihrer Abwefenhett nicht übel reden, ich Fonnte hinter ihrem Rüden ihre Lehren nicht fo ſchildern, daß fie ihnen ſchaden konnten u. |. w.

Deutfche Literatur: Philofophie 65

des Ölaubens wegen mit einer Verfolgung vor Gericht bedroht, und flüchtete fich zur Jurtsprudenz. Don 1737—1763 Yehrte er praftiiche Philoſophie, Naturrecht, Politik, Staatsrecht mehr in Beziehung auf Leben und Gefchäft, für den Gebrauch und zum Verſtändniß der Zuhörer eingerichtet, als nach dem Wolffchen Syſtem oder um als Erfinder zu glänzen. Gr hatte in: Sena und auch jeit 1763 in Frankfurt hunderte von Zuhörern, Es Hingt fait fabelhaft, wenn man uns berichtet, daß er in dem kleinen Jena ‚gewöhnlich vier bis fünfhundert Zuhörer hatte, und daß im Sommer, weil auch der größte Saal fie nicht faßte, nicht bloß die Treppen beſetzt waren, ſondern auch Leitern an die Fen— jter gejeßt wurden, um außerhalb Plätze zu fchaffen, Er war übrigens nicht der ‚Einzige unter den deutfchen Univerſitätslehrern, der. fich von Wolf unabhängig machte; Cruſius in Leipzig bildete sielmehr jogar ein dem Wolfſchen feindliches Syftem, deſſen Ruhm und Anjehn unter den Gelehrten größer war und noch ift, als Wolf Demonftrationen und Darjes praktiſche Lehren, obgleich es viel weniger Anhang hatte und weniger Lärm Aufſehn erregte, als die Einen oder die Andern,

Cruſius war ein fcharfer Denker und Dialektiferz aber im eigentlichiten Sinn ein Grübler. Kant fagt jedoch ausdrücklich, daß derjenige, der die alte dialektiſche Philofophie, die er mit ſei— ner Kritik beleuchtete, gründlich Eennen lernen wolle, Cruſius, nicht aber Wolf oder einen Wolftaner ftudiren müffe. Eine ganz ftreng ſyſtematiſche, trockne Logik von etwa zwölfhundert Seiten, eine noch corpufentere und wo möglich noch trocknere Metaphyſik, und ein pedantiſcher Bortrag konnten aber in einer Zeit, wo Deutfchland endlich einmal der. Feſſeln feiner Schulpedanten und Kleinen Ty— rannen aller Art entledigt werden und das Licht des Lebens mit freiem Auge ſchauen wollte, unmöglich Glück‘ machen. Cruſius ward bewundert, er. fand Anhang und Sekte, e8 gab Cruſia— ner; aber nur die Theologie empfand die Wirkung des fpikfin- digen Grüblers, welcher der großen Lejewelt ganz unzugäanglich war und deſſen Vorleſungen von Weltleuten wenig befucht mwur=. den. Da Cruſius den tief grübelnden Vhilofophen und den ſchwär— menden Theologen ‚angehörte, fo können wir ſeine Wirkſamkeit

ganz unerwähnt laſſen. Schloſſer, Geſch. d. 18. u, 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 5

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Die deutſche Schulphiloſophie der Univerſitäten ward endlich zwiſchen den Jahren 1760-1770 von allen Seiten her erjchüt- tert. Die neue Literatur war ganz ungereinbar mit Wolfe Dist- fionen, Defintttonen und Demonftrationen und mit Cruſius dunf- Verem Grübeln; die Philoſophie ging daher als folche eine Zeitlang ganz unter amd ward erft durch Kant wieder erweckt. Reimarus, Leffing, Herder, Mendelsfohn und fogar Haller ftellten feine Sy— ſteme aufz fie wurden aber darum nicht weniger als Philoſophen anerkannt und viel gelefen, während die lateiniſchen oder barba⸗ riſch deutfchen Bücher der Kathederweiſen nur von ihren Schülern und von Altgläubigen benußt wurden. Wieland und fpäter Ja— cobi brachten fogar das, was fie Philofophte nannten, in Briefe fir Damen und in Romane. Die hochadlige, fürftliche und gräf- liche Jugend und ihre fie begleitenden Hofmeifter bildeten mit Berachtung. ihrer bürgerlichen Landsleute ihre an franzöſiſche Un— terhaltung von Jugend auf gewohnten Seelen durch die geiftreiche, wenn gleich höchſt Tetchtfertige und oberflächliche Franzöftiche Pht- _ loſophie der Enchklopädiſten. Feder, der um 1760 ein Baar Ba— zone auf die Univerfität Erlangen führte, rühmt zwar feinen Lehrer Sureow, der ihm ein Heft über Leibnig-Wolffche Philofophte dik— tirte, außerordentlich, gibt ihm aber geringen Einfluß auf die Studten, den Geſchmack und den Ton der Leute, denen damals Rang und Geburt ausfehliegenden Anfpruch auf alle Höheren Stel- len gab. Er fagt: Auf der Erlanger Untverfität ſtudirten da— mals nicht viele von Adel und die Wentgften waren Mufter des

Fleißes. Das Beſuchen der in den angefehenften Familien ab "-

wechſelnden Gefellfchaften, der Goncerte und Redonten nahm ihnen zu viel Zeit weg. Der herrfchende Ton in den Gefellfehaften war nach franzöſiſcher Sitte geftimmt und faſt zu frei, Voltaire, Rouſſeau, Helvetius waren die Klaffifer der Zirkel. Letztern pries mir auch eine galante, damals ſchon ztemlich verblüthe Frau mit franzöſiſcher Rede als den ächten Bhilofophen an.t)

Pütter, Heyne und der Herr yon Münchhauſen Hatte jeder befsndere Gründe, feinen ſyſtematiſchen Philoſophen, keinen Mann,

14) Voilä la vraie philosophie c’est qu’il faut puiser.

Deuiſche Literatur: Philoſophie 67

der entſcheidend aufträte und ſeine Zuhörer fortreiße und dem Praktiſchen entfremde, auf ihre Univerſität zu rufen; auch war außer Darjes Keiner, den ſie hätten rufen können, ſie zogen deß— halb 1768 Feder nach Göttingen, von dem ſie nicht mit Unrecht vorausſetzten, daß er dem Geiſte der Zeit gemäß eine populäre Philoſophie lehren werde. Er hatte ſchon in Koburg Darjes Ma— nier gebilligt und befolgt, er hatte zugleich Wolfs Lehre, Holl— mann und fogar Cruſius benubt, er fehlen daher der rechte Mann, um den Dilettantismus, damals Eclecticismus genannt, in Göt— tingen amd durch Göttingen geltend zu machen, Dies gelang ihm auch wirklich bis auf die Zeit, in welcher Kant eine neue Philo— jophie begründete,

Feder felbft gibt uns eine Vorftellung von dem traurigen Zuſtande des phtlofophifchen Unterrichts auf der erften Univerfität Deutfchlands, wo damals alle Gelebritäten in allen andern Fä— ern verfammelt waren, Er fügt Hinzu, daß er damals ſelbſt gefühlt und ausgejprochen habe, daß die Deutſchen aufgehört hat ten, ihr Heil in Syftemen, im Grübeln und Speculiven zu fuchen, daß fie fich vielmehr der Poefte, den Künften und dem Studium des klaſſiſchen Altertfums zugewendet hätten. Dies ſcheint uns Feder ſchon durch den Titel feiner Antrittörede, über die Zu: geftändntife, welche die Philoſohie dem Zeitgetfte madhen müffe, auszuſprechen, bejonders aber durch den von ihm angeführten Sat aus diefer Rede, den nach ihm der einges bildete Heyne für ein Anerfennen des Vorzugs feines philologi— hen Handwerks vor der erſten aller Wiffenfchaften genommen hatte.s) Dies wird begreiflich, wenn man von ihm Hart, wer

+. die Rente waren, welche damals Philoſophie in Göttingen lehrten, oder doch hätten lehren follen, Weder fagt: Weber, ein Wolfte- ‚ner, der hernad) als Profeſſor der Theologie in Kiel ſtarb, war in der öffentlichen Meinung fehr gefunkenz; Becmann, ein eifriger Gruftaner, hatte feinen Vortrag. Hollmann war vielleicht zu ge— lehrt für die jungen Leute, vielleicht auch zu alt, md nad dem bamals herrfhend gewordenen äſthetiſchen Tone zu

15) Der Sag lautet: Philosophia nuper imperium tenuit, nunc li- terae dominantur elegantiores. 5*

68 Deutfihe Literatur: Philoſophie.

trockenz; nach dem Urtheile eines aufblühenden Genies in einem Briefe an mich, ein palaeologus, der Gellerts Fabeln in Schlüffe uflöfet. Auf Erjuchen Ins Käſtner Metaphyfif.

Feder huldigte hernach als Lehrer und Schriftiteller dem Geiſte der Zeit, er näherte fich den franzöſiſchen Philofophen der beſſern Art, nahm Manches son Rouſſeau, germanifirte es aber und ge= noß anfangs eines ähnlichen Beifalls wie Darjes, Cr mußte oft bei offenen Thüren leſen, der Borfaal war ganz gefüllt; es mußten viele Zuhörer abgemwiefen werden. Dieſe Zeit war Tängit vorüber geweſen, als der Verfaſſer diefer Gefchichte ihn kennen Yernte, er war. verlaffen, ohne daß er darım weniger tüchtig oder die Studenten philoſophiſcher geworden wären; ſoviel vermag überall die Mode, | Der Zuſtand der Sleichgiltigkeit und des Verfalls, welcher in Beziehung auf Philoſophie von 1767—1787 eingetreten war, ward der allgemeinen deutjchen Literatur ſehr vortheilhaft, weil das Philofophiren einmal von den Pedanten an die Belletriften fam, denen wir auch Leſſing, Jacobi, Mendelsjohn und Schloj= fer beizählen. Die neue wifenfchaftliche Philoſophie, welche von Kant ausging, entſtand übrigens gerade in diefem Zeitraum, wenn fie gleich, erſt ſpäter ans Licht Fam. Wir glauben, daß die Re solution: des ganzen deutfchen wifjenfchaftlichen Lebens, welche Durch Kants Philoſophie bewirft ward, und der. Einfluß derfelben auf alle Zweige der Literatur, ſowie auf alle philofophtiche Syiteme bis auf unfere Zeit eine Kenntni der Entftehung derfelben nöthig machen, wir wollen jedoch nur den Gang derjelben bezeichnen und ung auf das Aeußere beſchränken. Man darf übrigens nicht außer Acht laſſen, daß ‚fo wenig fich auch Humes Einfluß auf Kant leugnen laßt, feine Philofophte doch. eine ganz asengich deut= ſche war.

Ehe wir, von Kant veden, müffen wir zuerft einen Bli auf die Bewegungen werfen, welche von 1768—1787 aus dem Be— dürfniß einer neuen gründlichen Schulphilofophie hervorgingen und zum Theil nicht einmal durch Schriften fund wurden; fondern aus den in unferm Jahrhunderte gedruckten Briefen einzelner den— fender Männer müffen errathen werden. Die Briefe und Kleinen Schriftchen, die wir hier benugen müflen, find fo verbreitet, dat _

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wir die Bekanntſchaft mit denſelben vorausſetzen dürfen und daher nur hie und da einmal auf eine einzelne Stelle zu verweiſen brauchen. Wir müſſen übrigens in Preußen und in den Oſtſee— propinzen des ruffifchen Reichs den Urfprung und das Bedürfniß einer neuen philoſophiſchen Bildung juchen, weil man tm eigent- lichen Deutfchland mit Dilettantismus und ſchöner Rede zufrie— den war, | |

Die Lehrer der füddeutfchen Univerfitaten und zum. Theil auch von Jena und Halle quälten fich noch lange mit einer Art von Wolfianismus oder Cruſianimus; Feder in Göttingen fuchte | eine Moralphilofophte zu begründen, wie Darjes in Frankfurt an ber Oder eine Rechtsphilofophte; aber beide Eonnten tiefen Den— fern nicht genügen. Ste Eonnten dem Zeitbedürfniß nicht,‘ wie Abt, Herder, Mendelsfohn durch Form und Darftellung erjegen, was ihnen an Tiefe und an Schärfe der Begriffe abging. Bafe- dow und Wieland befriedigten jeder nur das Bedürfniß einer ge— wiffen Klaffe des großen Publikums. Wieland gab freilich den Ton an Höfen und in Hauptftädten an; aber nur allein darum, weil er auf franzöſiſche Weiſe philofophirte, und fogar Die griechi— ſche Philoſophie in franzöſiſche Form brachte, oder franzöſiſche Philoſophie Yehrte, während er griechtfche zu Iehren vorgab, Auch Mendelsfohn, fo gründlich und gelehrt er mar, befriedigte die ſpe— fufativen Köpfe nicht ganzz die grübelnden im eigentlichen Preußen aber, von wo hernach das neue Syſtem ausging, ganz und gar nicht. - Man Eonnte alfo, weil die Zeit eine Philofophte forderte, welche den Gebildeten genüge, ohne die Gelehrten ganz unbefriedigt zu laſſen, von Mendelsfohns ſämmtlichen Schriften, wie fpäterhtn von. F. 9. Jacobis Philofophie, fagen, was Has mann in einem Briefe vom Juli 1767 von der Vorrede zu Men- delsfohns Phädon ſagt: „Ich Habe die Vorrede zum Phädon durchgelefen und denke, daß fie ſchöner geſchricben als gedacht tft.” Wenn die Frommen, die fo gern jeden Traum des Gefühle, oder jede unter den Menfchen herrichende Fromme Meinung von Gott und Unfterblichkeit gelten Iaffen, fo von Mendelsfohns Beweifen dachten, was follten fie erft von den andern fagen? Es entjtand daher ein allgemeiner Kampf, aus dem eine ganz neue Wiſſen— ſchaft hervorgehen mußte, weil er Leben werte und Kräfte übte,

70 Deutſche Literatur: Philoſophie.

Die franzöſiſchen Philoſophen und Wielands galliſches Grie— chenthum verſchmähten nicht blos Leſſing, Herder, Hamann, Schloſſer und ſehr viele andere; ſondern es war auch als Pro— duft des fihwelgenden Adels biedern Bürgern verhaßt. Nicolais Derbheit und Arroganz und die Art, wie er und die unter feinen Fahnen dienenden praftiichen Männer feines Berliner Heeres mit der Volksreligion umgingen, mußte wohl auch einem Leſſing zu— wider fein, da er durch Schriften bewiefen hat, wie viel vortreff⸗ Vicher die ſcholaſtiſche Conſequenz eines Petrus Lombardus if}, als das Geſchwätz eines preußifchen Eberhard. In dieſer Zeit galt einmal Feine Terminologie und keine Phraſeologie in. Deutſch⸗ Yand als Philoſophie, und Feines Meifters umverftändlicher Bom— baft ward von Schülern wie von Papageien nachgebetetz aber dauern konnte der Zuftand nicht, wenn nicht alles ernite Streben fich im leeres Geſchwätz auflöfen ſollte. Für den Mebergang vom fogenannten Eclecticismus und Nicolaismus zum. tiefern Denken find Lefling, von dem wir weiter unten ausführlich veden werden, 5 9. Jacobi, Herder und Schloffer und fogar Johann Georg Hamann wichtig. Der Lebtere befonders darum, weil wir aus feinen in unferm Jahrhundert gedrudten Briefen und aus ben mit diefen neu gedruckten und gefammelten Schriftchen Ternen, daß er im Stillen eine Kritik übte, die fait wirffamer war, als die ‚nffentliche. Seine Schriftchen waren alle wunderlich und unverftändlich, fie hatten aber alfe, wie die ganz Flaven und ein- fachen Brivatbriefe, einen Fritifchen und ſatyriſchen Zweck. Hamann fühlte das Mangelhafte einer Berftandesreligion und dag Unge— nügende einer Reflectionsphilofophie, er Ipottete Darüber und deu— tete Befleres anz dies verichaffte ihm einen Einfluß auf die ver- ftandigen Männer, der fich bei den Schwärmern und Myſtikern ſeiner Zeit aus feinem Myſticismus und feinem blinden Glauben’ erklären laßt. Man wird daher begreifen, wie er zugleich für Kant und für Herder, und fpäter für Jacobi als ein im Stillen und unmerklich einwirfender Freund und Kritifer wichtig fein, - und ſogar Kant zuerft mit Nicolai in Berbindung bringen fonnte, mit dem er damals noch leidlich gut ftand, 16) Der Verkehr

16) Hamann ſchreibt am 26. Junt 1763 an Lindner: Weymann hat Kants einzig möglichen Beweisgrund zur Demonſtration des Dafeins Gottes

Deuiſche Literatur: Philoſophie. 71

zwiſchen Hamann, Kant und Hippel iſt dabei ganz anderer Art, als der zwiſchen Hamann und Herder, und auf eine wieder ganz verſchiedene Weiſe wirkt hernach Hamann auf F. H. Jakobi. Wenn er übrigens zuletzt mit der Bande der zarten Freunde der Gallizin in Verbindung kommt, ſo ſieht man aus dem, was er über Hemſterhuys Philoſophie ſagt, daß er dieſe Leute weit überſah.

Zur Zeit des Eelectiecismus erkannte auch ſogar Herder Kant als den Mann an, der den Schulpedanten und den philofophi- ſchen Schwäßern den Untergang bringen werde. Man muß fich daher wundern, wie derſelbe Mann, der in feiner Jugend ſo edel, jo offen, fo wahr eingeftanden hatte, 17) daß ex nicht zum Philo— fophen geboren oder gebildet fet, fich ſpäter gegen die Philoſophie erheben mochte, welche Kant vierzig Jahre lang durchdacht hatte, ehe. er fie and Licht brachte. Kant ward, wie wir aus den Brie— fen. der wenigen Männer ſehen, die fich in jener durchaus belle— triſtiſchen Zeit ernftlich und eifrig um philoſophiſche Wiſſenſchaft und Forſchung befümmerten, ſchon viele Jahre lang als Meifter im ganzen Umfange des menfchlichen Willens anerfannt, che er

widerlegt. Ich habe das Manuffript fo wenig hinten als vorn gefehen. Letz⸗ terer hat Urſache, fich vor feinem Gegner zu fürchten und verbient eine exem⸗ plarifche Ruthe. Bor einigen Wochen ſchon habe ich einen Brief an Nicolai angefangen, worin ich den M. Kant dem Verf, ber philoſophiſchen Schriften empfohlen, mit der Verfiherung, daß unfer Landsmann ein Mann iſt, ber die Wahrheit eben fo fehr Tiebt, als den Ton der guten Gefellfchaft.

17) Herder fohreibt im Iahre 1766 an Hamann: Meine ganze Bildung gehört zu den widernatürlichen, die uns zu Lehrern macht, da wir Schüler fein ſollten. Haben Sie Mitleiven mit mir, lieber Freund, daß mich Das Schickſal in einem pebantifchen Morungen hat geboren werben laſſen, daß ein einfettiger Trefho meinen erfien Funken wedte, und daß ich in Königs: berg mir mit dem Srepter des Dionyfus meine Galgenfrift zum Studiren habe erwerben müſſen. Hätte th außer einem Kant auch noch Pedanten hören können, die meine Hitze abgekühlt und mir Schulmethode Hätten lehren follen; hätte ich durch den Umgang mir den Weltton angewöhnen können, hätte ich mehr Uniformes mit der Univerfität und dem Gros meines Standes angenommen; fo würbe ich nielleih anders denken; aber aud nit das⸗ felbe denken Meine Studien find wie Zweige, die durch ein Un⸗ gewitter mit einmal ausgetrteben werden. Aber wiſſen Ste au, daß ih noch nicht im Alter der Reife, fondern der Blüthe bin?

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noch dem Publikum bekannt war. Königsberg lag fern vom Innern Deutſchlands, denn Berlin war noch nicht Univerſität, und Frankfurt an der Oder und Halle, oder mit andern Worten, Darjes und Wolfs Schüler, erkannten Kant niemals an. Gerade aus dieſer Urſache bewirkte die Kantſche Philoſophie, als ſich end⸗ lich der Hauptlehrer auf einer philophiſchen Univerſität und die literariſchen Journale, die damals noch einen Einfluß hatten, den ſie jetzt verloren haben, ihrer annahmen, eine vollſtändige Revo— lution in der ganzen deutſchen Bildung. Weil dieſe Revolution unſerer ganzen Literatur durch die Kantſche Philoſophie mit der politiſchen Revolution in Frankreich zuſammenfiel, können wir hier nur den Urſprung derſelben andeuten, die Geſchichte des Fortgangs gehört in den folgenden Band. Daß wir nicht mit Unrecht mit der Wirkung von Kants erſtem Auftreten eine Revo— lution in der Philoſophie der Deutſchen verbunden haben, könnten wir aus Tieftrunks Vorrede zu ſeiner Ausgabe von Kants klei— neren Schriften beweiſen, denn dieſe erſchien, als das Ereigniß noch ganz neu war. Tieftrunk ſagt dort wörtlich: „Man erblickte, als die Kritik der reinen Vernunft erſchien, darin allge mein einen neuen Morgen des Philofophirens. Der Plan war nicht auf eine Reform: der. gangbaren Lehrbegriffe, fondern auf einen gänzlichen Umfchwung der philofophifchen Denkungsart, nicht auf eine Genfur des beftehenden Syſtems, fondern auf eine Kritik des Erkenntnißvermögens ſelbſt angelegt, und der Denker ſah ſich in Schwierigkeiten verwickelt, in welchen ſich zu finden und welche zu überwinden eine anhaltende Arbeit und ein ent— ſchloſſener Muth erfordert wurde. Es konnte zu nichts dienen, das, was hier gegeben wurde, nur zu lernen und in eine hiſto— riſche Erkenntniß aufzunehmen, der Leſer mußte ſich ſelbſt zu der Höhe eines eignen Blicks in fein eignes Vernunftvermögen erhe— ben und die. Idee des Ganzen in allen feinen Gliederungen durch Selbftanftvengung erarbeiten, und er fand fich bier auf den kriti— chen Punkt geftellt, entweder Alles oder Nichts zu verſtehen.“ Schon als junger Mann, noch ehe es in Deutfchland tagte, fühlte Kant die Mangelhaftigkeit des ganzen philofophifchen Trei- bens, er empfand. alſo das Bedürfniß einer Nevolution: der Wiſ— jenichaft in allen ihren Zweigen eben fo viele Jahre voraus, als

Deutſche Literatur: Philoſophie. 73

Rouſſeau und Montesquieu das Bedürfniß einer Staatsummäl- zung des franzöſiſchen Reichs. Im diefer Beziehung fagt er in der Schrift Gedanfen von der wahren Schätung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweife, deren ſich Herr von Leibnitz und andere Mechaniker in dtefer Stretitfache bedient haben, die er 1747, alfo ſechs Jahre vor feiner erften Anftellung in Königsberg herausgab, Folgendes über die alte Metaphyſik: Unfere Metaphyſik ift wie viele andere Wiffenfhaften in der That nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erfenntnif. Gott weiß, wenn man diefelbige wird tberfchreiten ſehen. Es tft nicht ſchwer, ihre Schwäche in Manchem zu fehen, was fie unter— nimmt. Man findet oft das Vorurtheil als die größte Stärfe ihrer. Beweife, Nichts ift mehr hieran Schuld, als die herrichende Neigung derer, welche die menjchliche Erkenntniß zu erweitern ſuchen. Sie wollten gern eine große Weltweisheit haben; allein es wäre zu wünfchen, daß es auch eine gründliche fein möchte,“ In diefer Anſicht ward er hernach durch das Studium von David Humes philofophifchen Schriften befeftigt, Fonnte aber nicht, wie dieſer bei der bloßen Sfepfis ftehen bleiben. Wir übergehen feine allgemeine Naturgefhichte und Theorie des Him— mels, welche er, (nachdem er 1750. Brofefior in Königsberg geworden war) um 1755 herausgab, weil fie uns in die Neihe der Schriften, wodurch er fich als Fünftigen Urheber einer Revo—

lution der philofophifchen Wiffenfchaften fund gibt, nicht zu gehö—

ven fcheint, obgleich auch in diefer Schrift Manches gegen herge- brachte Meinungen gefagt wird. Er gab damals vorerft nur alfein in feinen Vorlefungen fund, was er beabfichtige, und ward deßhalb in Preußen, Liefland und Curland, von einem Hippel, Scheffner, Herder, Hamann längſt als ein großer Mann aner— fannt, als man ihn in Deutfchland nur noch aus den Literaturs briefen und durch DBermittelung der Nicolaiten kannte. Im Jahre 1762 ſchreibt er indeſſen ſchon in einem Briefe an den großen Mathematiker Lambert, der unftreitig neben Bilfinger der fchärfite Denker unter den Wolfianern war, daß alle‘ bisherigen Syfteme der Metaphyſik nur Dunft und Spphiftereten feten, und daß es

nur einen einzigen Weg gebe, zu einer Metaphyſik zu gelangen,

74 Deutſche Literatur: Phtlofophte.

welche den Forderungen der Bernunft mehr Genüge leiſte, als die bisherigen gethan hätten,

Mas er in dieſem Privatbriefe ausſprach und feinen Zuhö— rern mündlich verkündigte, deutete er im Jahr 1762 auch’ in einer Schrift an, welche viel Aufſehen machte. Sie hat den Titel: die falfhe Spikfindigfeit der vier ſyllogiſti— hen Figuren erwieſen. Diefe Schrift war beitimmt, bie Logik zuerft wenigftens von unfruchtbaren Spitzfindigkeiten zu fäu- bern, fie auf ihre Prinzipien zurüczuführen und auf diefe Weife den Weg zu bahnen, um fie innerhalb der ihr durch ihren Begriff beftimmten Gränzen einzufchließen, Er felbft ſagt in dieſer Be- ziehung gegen dad Ende der Schrift: Ich würde mir zu ſehr jchmeicheln, wenn ich glaubte, daß die Arbeit von wenigen Stun- den hinreichend fein werde, den Coloß umzuſtürzen, der fein Haupt in den Wolfen des Alterthums verbirgt, und deſſen Füße non Thon find. Meine Abficht ift nur, Nechenfchaft zu geben, weß— wegen ich im dem logiſchen Bortrage, in welchem ich nicht alles meiner Einjiht gemäß einrichten kann, ſon— dern manches dem herrſchenden Geſchmacke zu Ge— fallen thun muß, in dieſen Materien nur kurz ſein werde, um die Zeit, die ich dabei gewinne, zur wirklichen Erweiterung nützlicher Einſichten zu verwenden. Es gibt noch eine gewiſſe andere Brauchbarkeit der Syllogiſtik, nämlich vermittelſt ihrer, in einem gelehrten Wortwechſel dem Unbehutſamen den Rang abzulaufen. Da dieſes aber zur Athletik der Gelehrſamkeit gehört, einer Kunſt, die ſonſten wohl ſehr nützlich ſein mag, nur daß ſie nicht viel zum Vortheil der Wahrheit beiträgt, ſo übergehe * ſie hier mit Stillſchweigen.

Dies geht die Logik an, in Beziehung auf Reform der Me— taphyſik gab Kant Winke über das, was er im Stillen vorberei⸗ tete, durch zwei im Jahre 1763 herausgegebene Schriften, von denen die Eine die Epidenz der metaphyfifchen Wiffenichaften überhaupt und die Zweite den Grund der ganzen fogenannten na= türlichen Theologie aus einem Fritifchen Standpunkte betrachten lehrte. Die Erfie enthielt eigentlich die Beantwortung einer von der Berliner Akademie aufgeitellten Preisfrage und führte den Titels Unterfuchungen über die Deutlichfeit der Grundſätze ber

Deutſche Literatur: Philoſophie. 75

natürlichen Theologie und Moral, die andere handelt von dem einzig möglichen Beweisgrunde zur Demonſtration des Daſein Gottes. In dieſen beiden Schriften ward ange— deutet, mit welcher Revolution Ontologie, Kosmologie und Theo— logie der alten Metaphyſik von dem Urheber der kritiſchen Phi— loſophie bedroht waren. Die 1766 bekannt gemachten Träume eines Geiſterſehers erläutert durch Träume der Metaphyſik gaben dem größeren Publikum zu verſtehen, daß die ſogenannte Pneumatalogie der Metaphyſiker ein Irrlicht ſei, welches die im Dunkeln wandelnden Grübler und Schwärmer in Moraſt locke. Dieſe Abhandlung und der Anhang über Swe— denborg und Swedenborgianer hielt freilich Cruſius nicht ab, Schröpfers Gaufeljpiel und Betrügerei durch feine Philofophie zu unterftüben und mit tiefem Grübeln und dunklem Orafeln auf den Teufel und feine Engel zurüdzuführen. Im erſten Haupt- ſtück dieſer Schrift fordert Kant in Beziehung auf den Ausdrud Geiſt alfo auch Seele eine Prüfung, welche bis auf den heu— tigen Tag ſtets umgangen wird, mwenn man Geiftertheorien er⸗— findet und beim gewöhnlichen Unterricht fich die Sache außeror— dentlich Teicht macht, Kant fagt: Wenn alles Dasjenige, was dev Schulfnabe von Geiftern herbetet, der große Haufen erzählt, der Bhilofoph demonftrirt, zufammengenommen wird, fo fcheint e8 Feinen Heinen Theil unferes Wiſſens auszumachen, Nichts deito weniger getvaue ich mir zu behaupten, Daß, wenn es Je—

| mand einfiele, fich bei der Frage etwas zu verweilen, was denn

das eigentlich für ein Ding ſei, wovon man unter dem Namen eines Geiſtes foviel zu verſtehen glaubt? er alle diefe Vielwif- fer in die größte Verlegenheit verfeßen wiirde. Das methodt- Ihe Geſchwätz der hoben Schulen tft oft nur ein Ein— verftändniß durch veränderlihe Wortbedeutungen einer fohwer zu löſenden Frage auszuweichen, weil das bequeme und mehrentheils vernünftige: Sch weiß nicht, auf Akademien nicht Veichtlich gehört wird. Gewiſſe neuere Welt: weiſen, wie fie fich gern nennen laſſen, kommen ſehr leicht über diefe Brage hinweg. in Geift, heißt es, ift ein Wefen, welches Vernunft hat, Sp tft es alfo denn Feine Wundergabe Geifter zu jehen, denn, wer Menfchen ſieht, der fieht Weſen, welche Ver—

76 Deutfche Literatur: Philoſophie.

nunft haben. Allein, fahrt man fort, diefes Wefen, welches im Menfchen Vernunft hat, tft nur ein Theil vom Menfchen und diefer Theil, der ihm belebt, tft ein Geiſt. Wohlan denn: ehe ihre alfo bemweifet, daß nur ein geiftiged Weſen Vernunft haben fonne, jo forget Doch, daß ich zuvörderſt verftehe, mas ich mir für einen Begriff von einem geiftigen Weſen zu machen Habe. Diefe Selbfttäufchung, ob fie gleich grob genug tft, um mit halb offenen Augen bemerft zu werden, tft doch von ſehr begreiflichem Urfprunge. Denn, wovon man frühzeitig als ein Kind fehr viel weiß, davon tft man ficher, ſpäterhin und im Alter nichts zu wiffen und der Mann der Gründlichfeit wird zuletzt höchſtens der Sophiſt feines Jugendwahns. Ich weiß alſo nicht, ob es Geiſter gibt; ja, was noch mehr iſt, ich weiß nicht einmal, was das Wort Geift bedeutet. Wie ganz anders Kant die Philoſophie betrachtete, als alle Leute, die fich ſpäter durch den Lärm, den fie unter Studenten und Weltleuten mach— ten, zum Anfehen von Propheten und Sectenftiftern erhoben und bis auf den heutigen Tag als Hof- und Refidenz-Sophiften glän— zen, fieht man am beften aus feiner Gorrefpondenz mit Lambert. Er dachte auch dann noch nicht daran mit feiner Reform der ganzen theoretifchen Phtlofophie zu prahlen, als fie ſchon ganz fertig gearbeitet war; er ließ noch mehr als zehn Jahre verflie— pen und arbeitete indeffen an der Begründung einer neuen Ethik, Nur feine näheren Freunde und unter diefen der Mann, der den geiftreichften Schriftftelleen jener” Zeit mit feinem Rathe nüglich ward, Johann Georg Hamann, waren mit dem Gange feiner Arbeiten bekannt, denn der Letztere fchreibt Schon im Februar 1767 an feinen Freund Herder: „Herr Kant arbeitet an einer Meta= phyſik der Moral, die, im Gontraft der bisherigen, mehr unter- fuchen wird, was der Menfch tft, als was er fein fol.“ Cr Au: fert dabei Freilich nach feiner Art das Bedenken: „Wenn ſich das Grfte füglich ohne das Letztere im eigentlihen Stun bes ſtimmen läßt.“ Erſt im Jahr 1770 gab er in einer Tateint= ſchen Differtation de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et prineipiis, welche er nach dem Gebrauche der Zeit beim An— tritte der ordentlichen Profefjur der Logik und Metaphyſik tm Auguft des Jahrs vertheidigte, die Grundfäge kurz an, die er zu

Deutſche Literatur: Philoſophie. 77

befolgen gedenfe. Darüber erklärt er fich in einem Briefe, den er im September 1770 an Lambert fohrieb, in folgenden Wor— ten ganz beftimmt: Seit etwa einem Jahre, jchreibt er, bin ich, wie ich mir fehmeichele, zu. demjenigen Begriffe gekommen, wel- chen ich nicht beforge, jemals ändern, wohl aber erweitern zu

dürfen und wodurch alle Art metaphyſiſcher Quäſtionen nad

ganz fichern und leichten Kriterien geprüft und in wiefern fie auf- löslich find, oder nicht, mit Gewißheit kann entjchieden werden, Ich habe mir vorgenommen, dieſen Winter meine Un— terfuchungen über die reine moralifche Weltweisheit, in der feine empiriichen Brineipien anzutreffen find, und gleichjam die Meta- phyſik der Sitten in Ordnung zu bringen und auszufertigenz fie wird in vielen Stücken den wichtigiten Abfichten bei der verän- derten Form der Metaphyſik den Weg bahnen und fcheinet mir überhaupt bei den zur Zeit noch ſo fehlecht entfchtedenen Prin— zipten der praftifchen Wiffenfchaften nöthig zu fein Nach Vol— Vendung dieſer Arbeit werde ich mich der. Erlaubniß bedienen, die Sie mir ehedem gaben, meine DBerfuche in der Metaphyſik, jomweit ich in denfelben gekommen bin, Ihnen vorzulegen.

Schon ehe er auf diefe Weiſe zur Kritik der praftifchen Ver- nunft, wie er es ſpäter nannte, ganz im Stillen den Grund legte, hatte er den Plan einer Reform der Aefthetif entworfen und die Brineipien, die ex zu befolgen gedenfe, tn einer Kleinen Schrift wenigftend angedeutet. Diefe Schrift waren die 1764 bekannt - gemachten Beobachtungen über das Gefühl des Schö—

nen und Grhabenen, welche befonders von Schiller mit Dank—

barfeit als Winfe anerkannt werden, denen er theoretifch und praftifch jehr viel verdanfe, Gr rühmt in feinem Briefwechſel mit Göthe (1. ©. 108) ‚nicht blos die darin enthaltene neue Srundlegung einer neuen Aefthetit, fondern ganz beſonders die vielen in derfelben enthaltenen Winke über den Menfchen und die Natur des menfchlichen Getites.

Im großen Publikum wurde wenig von Kant geredet, weil auch jogar Hippel, der fich erlaubte, Kants Vorträge und Hefte und ſogar das Refultat feines perfünlichen Verkehrs mit ihm in populärer Form feinen Romanen einzuverleiben, dies nach fei- ner Art, d. h. verftohlen und ohne weder vor noch nachher Darüber

78 Deuiſche Literatur: Philoſophie.

mit Kant zu reden, oder ihn zu nennen gethan hatte. Dies gilt beſonders von dem Büchlein son der Che und von den Lebens— laufen in auffteigender Linie. Dieſe verdanken einen großen Theil des Auffehens, welches fie erregten, und befonders bie ganz aus— gezeichnete Aufmerkſamkeit, welche ihnen alle diejenigen widmeten, denen weder Wielands noch der Franzofen Philofophte noch der Eelecticismus oder die Berliner Weisheit genügte, dem Umftande, daß fie lange vorher, ehe Kant feine Hauptwerfe befannt gemacht hatte, 18) dte intereffanten Nefultate der neuen Philoſophie ver— fündigten. Das myftifche Dunkel, worin Hippel fein Leben und feine Moralität mit vollem Rechte, feine Schriftftellerei aber ohne eigentliche Urfache hüllte, veranlaßte daher die Vermuthung, daß Kant dem berühmten Humoriſten bei feinen Romanen "geholfen habe. Diefe Meinung war für Hippel, dev aus allem Nuten zu ziehen wußte, in Beziehung auf das Lob, deflen er fich im Stillen freute, weil er fich nie zu feinen Büchern befannt hat, fehr erwünfcht, Kant dagegen eilte nach feines Freundes Tode, defien Verfahren, ohne gerade fein Andenken zu kränken, ins rechte Licht zu ſetzen. Wir fügen. den mefentlichen Theil von Kants Er— Harung vom 6. Dez. 1796 in der Note bei, 19)

Als endlich im Jahr 1781 im Juni die Kritik der reinen Dernunft gedruckt ward, zeigte fich hei der Gelegenheit, wie wer nig Männer in Deutfchland fähig und geneigt feien, die gewöhn— liche Bahn des Philofophirens zu verlaffen und die hergebrachten und geltenden Ausdrüde, Begriffe, Methoden wiffenfchaftlich zu prüfen. Das gefteht ſogar der Meifter des Dunkeln und Ber

18) Die Lebensläufe erfchlenen 1778. 19) &8 tft allerdings wahr, fagt er, daß in Hippels Schriften viele

Stellen vorkommen, weldhe mit vielen Stellen meiner fpäter als die Kritif

der reinen Vernunft herausgefommenen Schriften buchſtäblich übereinftimmen, dies iſt aber daher zu erflären, daß ich mein ganzes Syſtem erft 1770-80 ausgearbeitet; fragmentarifch aber während diefer Seit und ſchon früher mei- nen Buhörern vorgetragen habe. Die Hefte der nachgeſchriebenen freien Vor: träge über Logik, Moral, Naturrecht u. ſ. w., befonders über Anthropologie, bat Htppel benugt und für feine Zwede gebraucht; jedoch dieſer Ber nubung der Hefte wie feiner eigenen Schriftſtellerei nie im urn erwähnt,

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worrenen, ber wunderliche und verworrene Hamann, in feiner Arts zeige oder Nezenfion des eben erfchtenenen Werks, welche man im ſechsten Theile feiner von Roth herausgegeben Schriften gleich vorn leſen kann. Er fucht zwar das Buch zu empfehlen, von dem ex In feinen Briefen an Herder um diefelbe Zeit durchaus nicht sortheilhaft Tpricht, gibt aber doch am Schluffe zu verftehen, daß das Buch feines tranfeendentalen Inhalt wegen nur von einigen werde gelobt, obgleich von Allen gekannt werden, daß jedoch blutwenige fein möchten, die es verftänden. Selbſt in der lobenden Anzeige des Inhalts jagt Hamann, der gerade damals Humes Schrift Über natürliche Religion (dialogues on natural religion) überſetzte, ziemlich ironisch: Die Kritik der reinen Ver— numft tft die vollſtändige dee einer Tranſceendental-Phi— loſophie. Unter diefem nenen Namen verwandelt ſich die ver— jährte Metaphyſik aus einem zweitaufendjährigen Kampfplat endlöfer Streitigkeiten endlich einmal in ein ſyſtematiſch ge= ordnete Inventartum aller unferer Beſitze durch reine Bernunft und ſchwingt fich auf den Fittigen einer ziemlich abftraften Genealogie und Heraldif zu der mo- narchifehen Würde und der olympifchen Hoffnung, als die ein- zige aller MWiffenfchaften ihre abfolute Vollendung und zwar in kurzer Zeit zu erleben, ohne Zauberfünfte, noch magiſche Ta— lismane.

Da Kants Werk ausſchließend der eigentlich wiſſenſchaftlichen Philoſophie angehört, ſo dürfen wir uns hier auf eine Analyſe deſſelben nicht einlaſſen. Wir wollen nur den Troſt anführen, den Hamann dem Verleger Hartfnoch über die Form des Buchs gibt, 20) und beifügen, was Nicolat und Tieftrunk in Beziehung ed die Sache ſelbſt urtheilten. Nicolat erklärt mit der kraſſen

20) Hamann fhreibt an Hartknoch: Kant rede von einem Auszuge feiner Kritik der reinen Vernunft in populärem Geſchmack, die er für die Zaten heranszugeben verfpricht. Ich wünſche fehr, Hebfter Freund, daß Ste ſich nicht abſchrecken, wenigftens keine Gleichgilligkeit gegen ihn merken ließen, und fih um feine fernere Autorſchaft, jo viel ſich thun läßt, zu befümmern ſchienen. Wentgftens ift er bona fide mit ihnen zu Werk gegangen und ſchmeichelt ſich damit, daß je älter fein Werk wird, deſto mehr Kefer finden wird. Der Zug von der Michaelismeſſe wird ihnen Licht geben und vielleicht An- laß ging kleinere populäre Schrift zu Ihrer Schadloshaltung son Ihm

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Keckheit, mit welcher er über alle Dinge zu urtheilen pflegte, welche weit über feinem durchaus praftifchen und dürren Begriffe waren, er habe geglaubt, Kant wolle in der Kritif alles Wiſſen auf Erfahrung ‚zurückbringen, was ihm ganz recht geweſen fei. Fülleborn befennt, daß ex fich zum Dolmetfcher aufgeworfen habe und von dem deutſchen Publikum als folcher erkannt worden fei, ohne daß er jelbft gewußt habe, was er eigentlich jagen wolle, Was Nicolai angeht, jo rücken wir eine längere Stelle aus feiner Lobſchrift auf fich felbft ‚ein (Meber meine gelehrte Bildinig u. |. w. Seite 46 u. 48), weil daraus zweierlei hervorgeht, zuerft, welches Aufjehen Kants Buch in Deutfchland machte, und zweitens, wie wenig die Berliner geeignet waren, es zu verftehen: „In Kurs zem, jagt er, erjchallte in deutſchen gelehrten Journalen und ge— Vehrten Zeitungen das allgemeine Nühmen, daß durch dieſes Wert das Geheimniß von der wahren Befchaffenheit und son den nothwendigen Gränzen der menſchlichen Ver— nunft ganz entjchleiert und nun darüber fein Zweifel mehr mög— lich jet. Auch ich ward alfo jehr begierig, jo wichtige Wahrhei— ten von ganz neuer Art kennen zu lernen, um fo mehr, Da ich gern befenne (und wir gern glauben), daß mir ‚von jeher feine Art der Philoſophie über überfinnliche Gegenftände völlige Genüge gethan hat. Ich ward zum eifrigen Studium der Kritik der rei= nen Vernunft angetrieben, da die allgemeine Stimme faft in allen Journalen und in einer Menge Eleiner Schriften fagte:; Herrn Kants Abficht ſei zu beweiſen, daß im Tranfcendentalen alles nur Schein, hingegen blos in der Erfahrung allein Wahr heit zu finden fei, wie denn auch Herr Kant diefes jelbft an mehren Stellen feiner Schriften jagt, Dieſer Gedanfe hatte mir Yängft eingeleuchtet, und ich war fehr begterig, ihn von einem ſo fcharffinnigen Mann durch nene Gründe beftätigt zu fehen. Er verfichert auch in der Vorrede zu feiner Kritik der reinen Ver- nunft: Er habe durd) dieſes Werk der Spekulation ihre Gren- zen und ihren rechten Weg angemwiejen und habe dadurch die ars roganten Anfprüce der Schulen vertilgt. | Ä

zu erbitten, um ihn mit reinem Wein zu beraufhen, oder aufzumuntern, zu einem Heinen Buche, das mehr nah dem Geſchmack des Bubliet iſt; denn biefer war zu abfirast und zu koſtbar für ben großen Haufen

Deutſche Literatur: Philoſophie. 81

Auf ganz entgegengeſetzte Weiſe irrte ſich Fülleborn mit faſt allen denen, die in der erſten Zeit als Erklärer der Kritik auf- traten, über den Sinn und den Zweck derjelben, Diefer jagt im dritten Stüc der Beiträge zur Gefchichte dev Philofophte von fich ſelbſt: „Ich lernte in meinem erſten Univerfitätsjahre zufällig Kants Kritik der reinen Vernunft Fennen, Tas fie und nahm bie peinliche Empfindung mit mir hinweg, wenig von ihr verftanden zu haben. Ich verjuchte, von der Schwierigkeit gereizt, die Le— fung son neuem, fehrieb mir einen kleinen Abfchnitt auf, blätterte umher nach Stellen, die Aehnlichkeit mit diefem Abſchnitte hatten, oder ihm zur Erläuterung dienen konnten, ftoppelte alles in eine Abhandlung zufammen und glaubte, weil fie in Cäſars philofo- phiſchen Denkwürdigfeiten einen Pla fand, mic, in die Reihe der Philoſophen stellen zu dürfen. Bon diefer Verir— rung brachten. mich gewifjermaßen Reinholds Briefe im deutjchen Merkur zurück; denn feine Berufung auf andere Philoſophen ver- mochten mich, Leibnit, Boden, Platner, Jacobi zur Hand zu neh- men; aber auf der andern Seite entzweite ich mich immer mehr mit mir ſelbſt und der Kant'ſchen Kritik, denn die genannten Schrift- ſteller fchtenen mir alle Necht zu haben und follten e8 doch von Rechtswegen nicht.

Garve und Feder erhoben fich gegen die. neue Philofophte, der fie Beide wiffenfchaftlich nicht gewachjen waren, weßhalb die ausführliche, ohne alle Heftigfeit abgefaßte Nezenfion, welche Fe— der in die Göttinger Anzeigen einrücken ließ, ihn um den Ruf eines wiffenfchaftlichen Lehrers brachte und feine Zuhörer ver— ſcheuchte, obgleich er in fehr vielen Stücken Recht haben mochte, Allgemein war indeffen die Klage, daß die Ausführlichkeit und Dunkelheit der Kritik die Verbreitung derfelben unmoglich mache. Kant meinte, ex könne felbft das Studium feines Buchs erleich- tern, und arbeitete deßhalb eine Schrift aus, welche aber eben jo wenig populär war, als die Kritik jelbft, was ſchon daraus her— vorgeht, daß er fait anderthalb Jahre auf ihre Ausarbeitung ver- wendete und fie ganz und ſtreng philoſophiſch abfaßte. Sp ent- ftanden feine Brolegomena zu jeder fünftigen Meta— phyſik, die als Wiſſenſchaft wird auftreten können.

1783 (222 ©, 8.). Er beginnt die Erläuterung ber Re ber Schloſſer, Geſch. » 18, u. 19 Jahrh. IV. ch 4, Aufl,

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reinen Vernunft, welche in dem Buche gegeben werden ſoll, da— mit, daß er fagt, er habe durch die Kritik der veinen Bernunft die Frage dev Möglichkeit einer Metaphyſik löſen mollen. Die Aufgabe, allgemein ausgedrüct, fahrt er fort, laute folgenderma- Ben: Wie find fynthetifche Säbe überhaupt moglich? Schon aus diefen erſten Worten fieht man, daß er Alle, welche an Gare, an Feder, an irgend einen Nicolaiten, an Mendels- john, oder gar an einen Meiners und jelbit an Jacobi gewöhnt waren, um von Wieland und Gonforten nicht zu reden, jogleich abſchrecken mußte. Herder und Hamann zueften aus andern Grün— den die Achſeln. Die erfte gleich durch ihre Form das große Publikum abſchreckende Frage laßt er hernach in vier andere zerfallen. Diefe find: Wie iſt reine Mathematif mög— lich? Zweitens: Wie ift eine Naturwifienfhaft mög— ih? Drittens: Wie tft eine Metaphyfif überhaupt möglich? Viertes: Wie ift Metaphyſik ala Wiffen- haft moglih? Schon aus dem Angeführten geht: deutlich hervor, daß für die ftaunende Menge, welche das Neue liebt, weil es neu iſt, hier fo wenig geforgt war, wie für die Studenten. Kants Freunde riethen ihm, als auch die Prolegomena ihren Zweck verfehlten, einem feiner Schüler die Sorge zu überlaffen, eine neue, verftändlichere Einleitung abzufaſſen. Dies Geſchäft übernahm der Hofprediger Schulze in Königsberg unmittelbar un— ter Kants Augen und mit feiner Beihülfe, am Ende des Jahres 41783, und das Buch erfchten um 1784 unter_dem Titel: Er- Yauterungen über des Herrn Profeſſor Kant’s Kri tik der zeinen Vernunft, Dies Buch hatte an und für fich telbft Eeinen Werth, ſollte auch nach der Abficht des Berfaflers - feinen haben; es Yeiftete aber in Beziehung auf deutfche Köpfe, Uniperfitäten und Bücher mehr, als je zu erwarten geweſen war, Dazu trugen zwei Umſtände befonders viel bei. Der erfte Um fand war, dag man damals in Weimar und Jena, wo ganz zus Fallig die ausgezeichnetften Schriftfteller der neuen. deutfchen Lite ratur verſammelt waren, den Plan machte, durch Errichtung einer nenen, auf jede Weile außgupofaunenden Literatungeitung der Die- tatur dev Berliner Allgemeinen deutfchen Bibliothek und ihres Verlegers Nicolai ein Ende zu machen, Dies ward dadurch er—

Deuiſche Literatur: Philoſophie. 83

leichtert, daß nach dem Tode des alten Königs von Preußen der Obſcurantismus in Berlin obſiegte und die Freiheit der Preſſe in religifen Dingen’ aufhörte. Ein zweiter, durchaus zufälliger Um— ftand, welcher zur allgemeinen Verbreitung der Kant'ſchen Philo— ſophie beitrug, war der, daß Karl Leonhard Reinhold zum Pros teſtantismus übertrat; Wien verließ, von dem damals im nördli— chen Deutjchland, befonders in den fächfifchen Herzogthümern und in Braunfchweig allmächtigen Freimaurerorden kräftig unterſtützt um: 1783 nach Weimar kam; dort Wielands Schwiegerfohn ward und fich der neuen Philoſophie annahm, ftatt daß Nicolai die alte zu vertheidigen fuchte,

Schulze nämlich Hatte eigentlich in feinem Buche nichts wei— ter gethan, als den Inhalt der Kritik fo entfaltet, daß er vor dem Publikum evörtert werden Fonnte, flatt daß er vorher durch den Vortrag verftecht ward. Er hatte den Inhalt deutlich ange— geben, er hatte die Terminologie erklärt, er hatte die Winfe und Erläuterungen, welche ihm von Kant ſelbſt mitgetheilt waren, eingerückt und verdeutlicht. Die drei Zeitichriften, welche damals die deutſche Literatur beherrfchten und deren Urtheile in den ver— ſchiedenen Kreiſen der Gefellichaft nachgebetet wurden, verfündig- ten Kants Lehre jede auf ihre Weiſe, d. h. die beiden gelehrten Tribunale, welche als Orafel galten, die Berliner allgemeine Bib— Viothef und die in Jena neu errichtete allgemeine Literaturzeitung rühmten fie bet Gelehrten. Wielands Merkur fuchte fie der Leſe— welt zu empfehlen. Der- Philologe Schütz, der die allgemeine Literaturzeitung mit einer bewunderungswirdigen Schlaufelt und Kenntni der Gelehrten und ihrer Gemeinheit und Eitelkeit ge= gründet Hatte, ward jelbft Kantianerz Nicolai erkannte Kant we— nigftens als einen geiftreichen Mann an, Wie gefchieft ſich Schütz Autorttät verfchaffte, zeigen die an ihn gerichteten, von feinem Sohne bekannt gemachten Briefe; wir würden aber in Allem viel klarer ſehen, wenn der dritte Theil der Briefe Hätte gedruckt wer— den dürfen. Schütz rückte im Julius-Heft ſeiner neuen Literatur— zeitung für 1785 bei Gelegenheit der Erläuterungen von Schulze eine Abhandlung ein, welche eine Art Abriß der neuen Philoſophie bildete. Es ward darin nicht ſowohl das angezeigte Buch rezenſirt, als vielmehr ein Buch über die neue Baifofophie

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84 Deuiſche Literatur: Philoſophie.

unter der Form einer Rezenſion in das große Publikum der Li— teratunzgettung gebracht. Auf eine andere Art forgte Die Berliner Bibliothek für die allgemeine Verbreitung der von Kant ausge— henden Resolution, fie zeigte nämlich den Anhängern der alten Lehre und Methode, daß fie, wenn fie fich behaupten wollten, fchlechterdings Kant ſtudiren müßten. Die Bibliothek erkannte die Bedeutung der Kant'ſchen Leiftungen nebit den Leiftungen und Vorzügen der neuen Philoſophie mit Achtung anz allein fie fuchte in dem langen Artifel, den fie bei Gelegenheit der Anzeige son Schulzes Buch bekannt machte, doch die Altere Philoſophie zu vetten und zu vertheidigen. .

Der deutfche Merkur, der ald Organ der diplomatifchen und politifchen Weisheit Wielands das deutſche Publikum behandelte, wie Perifles das Volk von Athen, nahm fich der neuen Philo— ſophie als einer Famtlienangelegenheit an. Reinhold nämlich war fett 1783 in Weimar und ftand mit Wieland, deffen Tochter er heirathete, in den vertrautejten Verhältniffen, als er im Jahre 1785 aufmerffam auf die Kant'ſche Philoſophie ward, und im Herbfte 1785 das Studium derfelben begann. Er gefteht felbft, daß die Kritik der reinen Vernunft, wovon hier zunächſt die Rede ift, damals im Ganzen wenig Cingang gefunden gehabt, Er nahm das Buch, wie er fagt, mit Mißtrauen in die Hand, weil die berühmteften deutſchen Philojophen, Eberhard, Garve, Tiede- mann, Feder, Platner und Andere erflärt hatten, dag das Werk in Beziehung auf feinen Hauptzweck mißlungen, mit Spikfindig- feiten und Dunfelheiten angefüllt ſei. Er gefteht offenherzig, daß er lange im Dunkeln geblieben jet und nicht zum Verſtändniß habe fommen können. Man wird es daher feinen. Zeitgenoffen nicht übel nehmen, daß fie überrafcht waren, als er jchon nad) acht Monaten als begeifterter Deuter des neuen Evangeliums und als deſſen rednerifcher Verfünder auftrat. Er erflärte, er fet in den wenigen Monaten zu der Ueberzeugung gelangt, die Organi= fation des menfchlichen Geiftes jet durch Kant entdeckt, der In— halt und Umfang des menfchlichen Erkennens duch ihm angege- ben, die Hauptaufgabe aller: Philoſophie nicht allein in einer bis dahin unerhörten Klarheit aufgeftellt, fondern auch gelöfet worden. Er verkündete zugleich die Wunder, welche die Philpfophie, wenn

Denise Literatur: Philoſophie. 8

fie nur erſt verbreitet jet, in dev Welt bewirken werde, Diefe Verbreitung mußte dann der Gütterbote feines Schwiegervaters, der in allen Künften der Klugheit Meifter war, und in die Ka— binete der Gelehrten, wie in die Salons der Nefidenzen und in die Putzzimmer der, Damen allerlei glatte Botjchaften zu bringen pflegte, zu Gunften des Schwiegerfohns übernehmen. Die Be— ſtimmung des Merkurs forderte durchaus, daß, wer darin von Philofophie reden wolle, wenn auch nicht geziert, wie Sacobt, doch zterlich und verftändlich ſchreibez dies verfuchte Reinhold zu thun und erreichte den gemwünfchten Zweck, daß bald in ganz Deutichland von Kants Philoſophie geredet ward, wie son dem neueſten Roman. |

Reinhold Fleidete feine Erläuterungen der Kantiſchen Philo- ſophie in die dilettantifche Form von Briefen, von denen die erften zwei, denen ſechs andere folgten, im Auguftftüde des Merkurs von 1786 erjchienen, Reinholds Sohn hat im Leben feines Va— ters Abficht und Inhalt der Briefe angegeben, wir feßen daher defien Worte unter den Tert, um diefe wichtige Erſcheinung in unferer Literatur auf die vortheilhafteſte Weiſe zu charakterifiren, 18) Diefe Briefe wurden hernach um 1790, als Reinhold ſchon fett 1787 mit ganz unglaublichen Beifall und unter einem faſt noch größern Zulauf, als ihn ehemals Darjes gehabt hatte, als Pro— fefior dev Philoſophie in Jena lehrte unter dem Titel: Briefe über die Kantiſche Philoſophie, als ein befonderes Buch

18) K. Leonhard Reinholds Leben ©. 43. In dem erſten Briefe wird das Erforderniß einer Unterfuhung des Gebiets der menfchlichen Erkenntniſſe aus dem damaligen Suftande der Philofophte nachgewieſen. In dem zweiten wird das Nefultat der Kantſchen Kritik in Hinficht von ber Heberzeugung bon Gottes Sein mitgetheilt. Es wird gezeigt, daß die Fragen: „enthält bie Vernunft apodictiſche Beweiſe für diefes Sein” und „kann es einen Glauben an daſſelbe geben, der Feiner Vernunftgründe bebürfte?" beide von der Kritik verneinend beantwortet werden. Denn bie Unmöglichkeit jener wird in ihr aus dem Weſen der thenretifchen Vernunft bewiefenz; dagegen aus dem Wefen der prafitfchen Vernunft die Nothwendigfett und Allgemeingültigfeit eines Slaubens an Gott dargethan. Was dann weiter folgt, tft eine Ausführung diefer Säbe, die der Lefer am a. DO. nachlefen muß, hernach heißt es ©. 44 weiter: Die übrigen Briefe, die vom erften Quartal des Jahres 1787 bis zum dritten einander folgten, Iegen das Nefultat der Vernunftkritif über den

86 Deutfche Literatur: Philoſophie.

herausgegeben. Der weimariſche Minifter Hatte vecht gut gerech- net, als er Reinhold nach Jena berief. Er machte gleich bei feinem Auftreten im Auguft 1787 großes Auffehen, in den fol- genden Jahren begeifterte er durch Bortrag und Schriften ganz Deutfchland für die neue Philofophte, für Jena und für ſich in folhem Grade, daß man Tächerlicherweife diefe Philoſophie, Die der Schule angehörte, ing Leben und in die ganze Literatur brachte, Reinhold gab, während er als Orafel der neuen Philoſophie in Sena Aufiehen erregte, und ſich als den einzigen Dolmetſcher der dunkeln Schriften Kants geltend machte, um 1789 in Prag feine Theorie des Vorſtellungsvermögens heraus; er Yieß 1790 feine im Merkur gedruckten Briefe erfcheinen und ſchrieb bie Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißver— ftändniffe der Philoſophie. Im erften Bande diefer Bei— träge war die Schrift enthalten, welche nächſt den Briefen am mehrften zur allgemeinen Berbreitung des Kantfchen Syftems bei— getragen hat, und deshalb auch 1791 bei Maufe in Jena als ein eignes Buch erfchten. Dies Buch führt den Titel: Ueber das Fundament des philoſophiſchen Wiffens won G% Reinhold, nebft einigen Erläuterungen fiber die Theorie des Vorftellungsvermögens: Kant woll- endete indeffen, ermmntert durch dasfelbe Publikum, welches ihm bis dahin ungünftig gewefen war, den Plan der Re— form der ganzen philoſophiſchen Wiſſenſchaft durch eine ganze

Sufammenhang zwiſchen Religion und Moral var. Es wird in ihnen ber Gedanke ausgeführt, daß die Religion durch Hinwegräumung der ſcheinbaren demonſtrativen Bewelfe für Gottes Sein nichts Geringeres gewinne, als einen einzigen unerfgükterfichen allgemeinen Erkenntnißgrund, ver auf dem Wege der Vernunfterforſchung die Vereinigung zwiſchen der Sittlichfeit und Gottes verehrung Hollende, welde durch den Stifter des Chriſtenthums anf dem Wege einer dem Gefühle Haren, unmittelbar das Herz in Anſpruch nehmen: den Darftellung eingeleitet worden ſei u. ſ. w. u. f. w. Reinhold ſchließt feine Erörterung mit der durchgeführten Behauptung, daß die in der Ge⸗ ſchichte aufgetretenen Vorſtellungsarten von der Natur der Seele durch den jedesmaligen Grad der Einſicht in die Natur des Erkenntnißvermögens be⸗ ſtimmt worden ſind, und weiſet nach, wie jene Vorſtellungsarten bei den Griechen durch das Mißverſtändniß des Unterſchieds zwiſchen nn und Empfinden modificht waren.

Deutſche Literatur: Philoſophie. .87

Reihe unter fich eng zufammenhängender Arbeiten. Er hatte nämlich die Kritif der reinen Vernunft als Propädeutik zu der Art Metaphyſik, die er übrig laſſen wollte, vorausgeſchickt, ihr jollte die Metaphyſik des fpefulativen und praktifchen Ge— brauchs dev reinen Vernunft folgen, oder mit andern Worten, er wollte eine Metaphyfif der Natur und der Sitten aufftellen, und zwiſchen beiden follte feine Lehre som Schönen und Er— habenen und von der Gmpfindung deſſelben, oder die Kritik der Urtheilskraft vermitteln. Che er mit dem Syftem feiner Ethik herpor trat, gab er 1786 die Grundlegung zur Metaphy- ſik der Sitten heraus, Im diefem nur acht Bogen ftarfen Büchlein ftellte er zum erften Mal fein neues Brinzip der Moral auf, oder handelte von dem hernach von Klinger und son Nicolai auf gleiche Weiſe ganz unverftändig verfpotteten, im gewöhnlichen Leben und im Katechismus freilich nicht zu gebranchenden Fate goriſchen Imperativ. Es erfehtenen dann zahlloſe Streitichriften und Spottfchriften, welche bemeifen, daß ganz Deutſchland vege geworden war, und daß Berufene und Unberufene, Fähige und Unfähtge für eine Sache in den Kampf zogen, die nur wenige beurtheilen können, wenn gleich das Reſultat alle angeht, Kant trat indeffen mit feinem ganzen Syſtem hervor. In demfelben Sahre, mit der Grundlegung zur Metaphyſik der Sitten erſchienen die metaphyfifhen Anfangsgründe der Naturwiſ— ſenſchaft, ſpäter erſt die Kritik der praktiſchen Vernunft, Erſt im Jahre 1790 gab er die Kritik der Urtheilskraft her— aus, welche, weil damals die Kantſche Philoſophie ſchon auf allen Univerſitäten herrſchend war, den bedeutendſten Einfluß auf unſere ſchöne Literatur hatte, weil die Häupter derſelben, Göthe und Schiller, jeder auf ſeine Weiſe, den neuen Lehren über das Schöne huldigten und Kants Grundſätzen folgten, ohne Kantianer zu ſein. Auch die vorzüglichſten Theologen unter den ſogenannten Rationaliſten begrüßten mit Freuden eine Philoſophie, welche den Menſchen ſelbſtſtändig machte und den Glauben an Gott und Unſterblichkeit nicht meht allein auf Theorie der Offenbarung gründete,

88 Deuiſche Literatur: Theologie.

B. Theologie.

Seit der Erſcheinung der dritten Ausgabe der Gefchichte des achtzehnten Jahrhunderts hat die Reaction, welche in Kirche und Staat das Alte mit Hülfe dev gaufelnden Deflamatoven, der Obrigkeit, der Weiber und Jeſuiten miederherzuftellen fucht, folchen Einfluß gehabt, daß der Verfaffer diefes Werks den Artikel gänz— Yich würde weggelaflen haben, wenn dies nicht unmöglich wäre, weil er, auch auf die Gefahr. hin, nicht verfianden zu werden, Alles fo genau geordnet und durchdacht hat, daß das Eine ohne das Andere nicht mit dem Nuten, . den er ſich früher son dem Werfe verjprach, gelefen werden kann. Gr fieht die ganze Nation eifrig, alles Alte in anderer Form zu erneuern, jo daß er das, was er vom 20ften bis zum 77ften Jahr erlebt hat, für einen Irrthum halten würde, wenn er nicht mitten unter allen Nenegaten, Heuchlern und Zeloten feine Weberzeugung jo feit, feine Seele fo ruhig, feine Liebe fo ftark, fein Gefühl der Ge- genwart Gottes in ihm, wenn er den Blick auf ihre Wirkungen außer ihm richtet, fo befeligend fände, daß er feiner: Ueberzeu— gung, nach welcher die Gottheit immer nur momentan und im Geifte gegenwärtig ift, feſt vertrauen zu Dürfen glaubte. Er berichtet daher ganz ruhig, was er, urſprünglich Gottesgelehrter, ungerührt durch das Geſchwätz der fogenannten Aufklärer oder Kationaliften und durch das modifche Eifern der Zionswächter und Hoftheologen über den Gang der veligiofen Bildung ſeit 1770, jeit dem Anfange diefes Jahrhunderts fchon gedacht hat und noch denft. Daß dies zu einer Katheder- und Syftemtheologte nicht taugt, wußte er ſchon 1811, als er eine Stelle als Profeffor der. Kir⸗ chengeſchichte zu Heidelberg ausichlug.

Er geht von dem Satze aus, daß in der Zeit, als Die peut: u

ſche PhHilofophie und Bildung in ihrem Weſen erneuert ward, auch die Theologie der Proteftanten ganz verändert wurde. Sogar die katholiſche Kicchenlehre, welche ihrem Wefen nach unveränder- lich iſt, ſpürte wentgftens in Rücficht ihrer Form und Behandlung den Einfluß der Wolfichen und fpäter der Kantſchen Philoſophie.

Der proteftantifchen Theologie, wie fie Luther und Calvin predigten, ward von jeher von ihren Gegnern der Vorwurf ges

Deutfche Literaturs Theologie. 89

macht, daß fie von der veränderlichen Lehre der Profeſſoren der verfchiedenen Univerfitäten abhängez man hatte daher auch vers fucht, fie durch pofitive Schranken von der fortfchreitenden Ent— wickelung des Geiftes und feiner Bildung ganz unabhängig zu machen. In der veformirten Kirche war in Holland durch Die Dortrechter Synode, in England durch die Artikel der Anglika— nifchen Kirche eine Art politifchen Glaubenszwangs eingerichtet, wie im Deutfchland unter den Lutheramern durch die ſymboliſchen Bücher; allein es trennten fich in England fehon im fechzehnten Sahrhundert die freier Denfenden von den «igentlichen Anglifa- nern, und in Deutfchland half man fich durch die Ausflucht, daß man die fombolifchen Bücher nur in fo fern als Norm anerfenne, als fie mit der nach eines jeden befter Einficht zu deutenden Schrift übereinftimmten. Nichts defto weniger ward, als fih in den deutfehen Schulen der Philofophte ein neuer Scholaſticismus gebildet hatte, die ariftotelifche Philofophie bei Lutheranern und . Reformirten ſchon im fiebenzehnten Jahrhundert auf die Dogmatik angemendet, ftatt, daß Luther, als Feind der Spibfindigkeiten der Schule, die Bibel allein zur Norm nahm und Calvin in feinen Snftitutionen dem Spinsza weit näher kommt als dem Ariftoteles.

Leibnitz verbarg feine’ wahre Meinung, die wir nicht in der Theodicde, fondern in einer nur den denfenden und gründlichen mathematifchen Gelehrten verftändlichen Abhandlung (De ipsa natura seu de vi insita actionibusque creaturarum, pro dyna- micis suis confirmandis illustrandisque Acta Erudit. ann. 1698) finden, und fuchte zu zeigen, daß die, welche feiner Kehre- Huldig- ten, leicht jede Art chriftlichen Volksglaubens in Philoſophie ver— wandeln konnen. Ob er dies mit Bewußtſein that, oder ob der geiftreiche Mann fich jelbft von dem überzeugt hatte, was er mit jo vielem Talent darzuftellen wußte, mag unentſchieden bleiben, ſeine Theologie, welche in unfern Tagen in Mainz zum Drud befördert und dem Verfaſſer diefer Gefchichte von einem fehr eif- rigen Jeſuiten gefchenft ward, beweiſet wenigftens, daß er den Berfuch dev Vereinigung der Religionen durch die Philofophte ſehr weit trieb. Leſſing Hat gezeigt, wie geiftveich Leibnis die Ewigkeit der Höllenſtrafen vertheidigte, der auch bie Brodver- wandlungslehre mathematifch demonftriven lehrte. Die Dreieinig-

90 Deutfche Literatur: Theofogie.

feitöfehre tft bekanntlich nicht blos von ihm, fonderm in allen Zeiten und von allen denfenden Männern als der Gipfel menfch- licher Einficht im die Deutung des göttlichen Weſens betrachtet worden. Leſſing hat, ehe er mit dem Hamburger Hauptpaſtor in Streit gerieth, feinen Spott über die Rationaliſten feiner Zeit auf Säbe gegründet, welche Leibnit denen entgegengefegt hatte, die von der Kirchenlehre feiner Zeit abwichen, Wolf, der aus dem, was Leibnit gelegentlich vorgetragen hatte, ein Schulſyſtem machte, hielt fich von der Theologie der Frommen, die er nach den Er— fahrungen,, welche er gemacht Hatte, unmöglich lieben konnte, ziemlich fern; feine sornehmften Schüler dagegen ſuchten fein Syſtem und feine Methode auf Dogmatik anzuwenden, was Sattler in Ingolftadt fogar in Bezug auf katholiſche Theologie zu thun wagte,

Was Wolf nicht gewagt hatte, that, wie wir vorher gezeigt haben, © J. Baumgarten und eine bedeutende Zahl deutfcher theologifcher Profefforen, unter denen Ribov, Carpzov, Ganz die bedeutendften ſind; fie behandelten alle theologifchen Fächer in mathemattfcher oder Wolffcher Manier, Die Vredigten der Geift- lichen fogar wurden zu trocknen Abhandlungen, fie waren voll Definitionen, Diftinetionen, Demonftrattonen ; doch fiel dieſe Ver— wandlung der Theologie in Wolffche Demonftrationen glücklicher Weiſe in eine Zeit, wo das Wolf endlich in der Literatur eine Stimme erhielt und die Univerfitäten nicht mehr Geſetze geben, jondern fich nach den Forderungen des großen Publikums richten mußten, Dies fühlten ſchon Mosheim und Jeruſalem.

Jeruſalem und Mosheim fuchten durch Nachahmung engli= jeher Theologen eine Religion der eleganten Welt, ftatt der Lehre der dürren Compendien und der Wolffchen Demonftration zu bes genden; die Mniverfitäten blieben aber dem alten Syftem getreu, bis Semler im pietiftifchen Halle, ohne es zu wollen oder zu wiſ⸗ fen, die Grundlagen der beftehenden Theologte auf diefelbe Weiſe prüfte und morfch fand, wie Kant die der beftehenden Philoſophie. Um feine Wirkſamkeit recht zu wirdigen, dürfen wir nur mod) einen Blick auf den Zuftand der thenlogtfchen Lehranftalten Deutſch— lands werfen, ehe wir zu Semler übergehen.

In Wittenberg, Roſtock, Tübingen, Altdorf, Erfurt ward

Dentfche Literatur: Theologie. .9

die Dogmatik des fiebengehnten Jahrhunderts entweder ſcholaſtiſch opder Wolfiſch gefehrt. In Gießen war C. F. Bahrdt und deffen einem deutfchen Gemüth unerträgliche Frivolität und Verhöhnung alles Gemüthlichen eine vorübergehende Erfcheinung, und Carpzov in Helmftädt billigte nicht einmal die elegante Theologie eines Mosheim und Jeruſalem, die man in Braunſchweig in hohen Ehren hielt. F. Sailer in Erlangen huldigte etwas mehr als Carpzov

in Helmftädt dem herrfchenden Geſchmack. Er fuchte Bopularität, und weil bei ihm tur von Volfsglauben die Nede war, wo das Fefthalten am Meberlieferten immer der ficherfte Weg tft, um bie Refultate der Philoſophie der Maſſe nützlich zu machen, wandelte ‚er auf befferem Wege als Carpzov. In Leipzig war Cruſius zu— gleich Theolog und Philoſoph und wußte mit großem Scharfſinn Glauben und Aberglauben als Refultate feines Grübelns aufzu= ſtellen wie das jeßt nach hundert Jahren überall, befonders im Athen an der Spree und im Sande der Mark wieder der Fall iſt. Neben ihm verbreitete in Leipzig damals ſchon fein Goflege Erneſti ein neues Licht über das neue Teftament, wie gleichzeitig mit ihm Michaelis in Gpttingen iiber das alte,

3. A. Erneſti war Wolftaner, war aber nicht eigentlichen wiffenfchaftlicher Lehrer einer eonfequenten Theologie; er war da— gegen als Kenner der griechifchen und Tateinifchen Sprache und als vortrefflicher Erklärer der Alten ausgezeichnet. Er war es, der vorſichtig und behutſam in Leipzig eine Schule bibliſcher Theo— logen gründete, Er fuchte durch eine nach der Art, wie er die Alten kritiſch zu erflären pflegte, eingerichtete Deutung der Schrif- ten des neuen Teſtaments das Licht des achtzehnten Jahrhunderts über die erftarıte Theologie zu verbreiten, ohne der beftehenden Dogmatik Eintrag zu thun oder feine orthodorstnthertfchen Sach- fen zu Argern. Er deutete furchtſam an, daß man die Schrift erklären müſſe wie jedes andere Buch. Lugnen läßt ſich jedoch nicht, daß ſeine Erklärung der Bibel dadurch oft nüchtern ward, was ihm freilich auch beim Homer nicht ſelten begegnet iſt. Selbſt die Nüchternheit war aber der Aufklärung Deutſchlands und der Bildung von Schullehrern, die mit unbefangenen Augen das Alter- thum betrachten, und son Gottesgelehrten, die verftändlich lehren und predigen wollten, sortheilhaft, weil es die Wiffenfchaft dem

92 Deutfche Literatur: Theologie.

gewöhnlichen Leben, welches in Deutfchland höchſt nüchtern war, näher brachte,

Man blieb jedoch in Leipzig noch ganz dem Alten getreu, während Semler jchon vor 1770 eine Schule in Halle gebildet hatte, welche die Kritif dev auf guten Glauben als Acht ange nommenen Schriften dev erften Kirchenlehrer und die Erklärung der unter dem Namen der Gpangeliften und Apoftel in Umlauf gebrachten Erzählungen und Briefe ganz anders behandelte, als Erneſti in Leipzig und 3. D, Michaelis in Göttingen.

Semler ward fpäter den Freunden des Neuen und den An— hängern des Alten unverbient verhaßt. Die Altgläubigen hatten ihn zuerſt ald Neuerer verwünfcht und verfluchtz als er hernach für den alten Glauben zu eifern begann, hatte fich ſchon der Geift der Zeit fo ſehr verändert, daß er auch vom neuen Gefchlecht ver— kannt und fein übertriebener Eifer für Nechtgläubigkett von Bahrdt und Andern zum Vorwande genommen ward, um ihn einen fana= tiichen Träumer zu fehelten, Gr wollte nämlich endlich Schran- fen ſetzen, über welche hinaus das Forfchen und Prüfen der Quel- len der Kirchenlehrer und der Kirchenlehre felbft nicht dürfte fort- gejeßt werden. Seine Gegner hatten indefien ohne Zweifel beide Mal Unrecht; denn ald man über feine vorgeblich frevelhafte und zweifelfüchtige Kritik Hagte, war er ſelbſt immer beforgt, er möchte etwas Sündliches befurdern, und ſpäter mußte es nothwendig den alten Mann ärgern, daß Bahrdt und feines Gleichen und auch ſogar der wolfenbüttler Fragmentift mit Chriftug und mit den Apofteln, wie mit vorfäßlichen Betrügern, umgingen. Semler jelbit hatte fast alle einzelnen Lehren des alten dogmatifchen Syſtems in einzelnen Abhandlungen, welche freilich nur für Gelehrte lesbar find, da jelbft der Styl feiner Lebensbeſchreibung wahrhaft fürch— terlich ift, gewiſſenhaft Eritifch geprüft, viele nicht haltbar gefun= den und dies laut verkündigt. Seine Kritik wirkte um fo mehr, als die angefehenften Gelehrten, auch die der Fatholifchen Kirche, feinen Fleiß, feinen Grnft und feine Berdienfte um die Quellen der chriftlichen Lehre dankbar anerkannten. Gr hatte außerdem durch die Kritik des Texts der neuteftamentlichen Schriften, welche hernach Griesbach, in feine Spuren tretend, zur Bollendung brachte, jo wie durch die Fritifche Beleuchtung der für die Alteften Denk—

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Deuiſche Literatur: Theologie. 93

ſchriften der chriſtlichen Kirche geltenden Reſte der erſten oder apo— ſtoliſchen Väter gezeigt, wie mißlich es um die vorgeblich neben der Bibel als göttliche Eingebung zu betrachtende kirchliche Ueber— lieferung und um die älteſte Geſchichte der Chriſtengemeinde ſtehe. Dies mußte, von ihm ausgeſprochen, um ſo mehr Eindruck machen, als er eine in der älteſten Kirche fortdauernde außerordentliche Wirkung des göttlichen Geiſtes und eine Eingebung der Lehre der apoſtoliſchen Väter nicht läugnete.

Er half ſich durch die ganz beſcheiden vorgetragene Lehre, daß ſelbſt Gott und ſeine Heiligen ihre Lehre dem menſchliſchen Bedürfniß des Augenblicks angepaßt hätten, was er Accomodation nannte. Man dürfe daher, meinte er, das, was für einen ge— wiſſen Augenblick beſtimmt geweſen ſei, wenn der Augenblick vor— über wäre, anders verſtehen. Dadurch ward dann ſelbſt der gläu— bigen Forſchung ein weites Feld eröffnet, denn Semler wendete den Grundſatz auch auf die Bibel ſelbſt an. Er erklärt daher ohne Bedenken das A. T. für ein jüdiſches Religionsbuch, welches nicht aus dem chriſtlichen N. T. erklärt und nicht als chriſtliches Re— ligionsbuch gebraucht werden dürfe. Semler bahnte auf dieſe Weiſe durch ſeine unermeßliche Gelehrſamkeit den ſogenannten Rationa— liſten, zu denen er nicht gehörte, einen Weg, der ſie hernach wei— ter führte. Er bewies unwiderſprechlich, obgleich man ſich jetzt wieder unterſteht, das Gegentheil zu behaupten, daß weder in den erſten Zeiten des Chriſtenthums noch ſpäterhin jemals eine feſte und gleichförmige Form, ſei es num in Rückſicht dev Lehre oder der Kirchenzucht, beitanden habe. Gr fügte eine Befchränfung hinzu, die jeder unpartheiifche Kenner der Gefchichte der chriftli- chen Kirche billigen wird: Bet aller anfcheinenden Verfchtedenheit, jagt er, und jeder, der das Weſen des Chriftenthums kennt, wird ihm beiftimmen, blieb da8 Wefen des Chriftenthums immer daflelbe, denn es Fam dabei gar nicht auf eine Mebereinftimmung der Dogmen, fondern auf ein chriftliches Leben an.

Mir würden Halle und nicht Jena und Göttingen als die Univerfität nennen, wo man, um das Chriftenthum gegen bie Angriffe von Bahıdt, Reimarus und Leffing zu fichern, noch einen Schritt weiter ging, als Semler gegangen war, wenn nicht Eberhard, deffen wir weiter unten gedenfen wollen, und der dort

94 Deutiche Literatur: Theologie.

ohne Rückhalt einen reinen Deismus für Chriftentfum ausgab, erſt 1778 nach Halle gekommen wäre. Auch der Schüler des Sranffurter Baumgarten, der Brofeffor der Frankfurter Univerfität, 3 ©. Zöllner, macht den ganz blinden Glauben unhaltbar und juchte die Kirchenlehre mit den Fortfchritten der Philoſophie in Uebeveinftimmung zu bringen. Er wagte fi) aber kaum fo weit als Erneſti, geſchweige daß er Semler erreicht hätte. Töllner hatte übrigens eine ganz eigne Manier, das Fortfchreiten des ve= ligtöfen Unterrichts mit der Zeit zu fordern; er war auf eine Methode gekommen, die proteftantifche Lehre und ihre Quellen zu behandeln, wodurch ev erreichte, was weder Semler noch J. D. Michaelis, noch Erneftt durch ihre Methode zu erreichen im Stande waren, Gr. faßte die Sache philoſophiſch von der einen, theolo— gifch von dev andern Seite und Fonnte daher philoſophiſch beftrei= ten, was er theologifch gelten Tief, Um dies zu rechtfertigen, behauptete ex, worin er unftreitig Recht hatte, die Theologie laſſe fich weder mit Wolf mathematifch demonftriren, noch wie Cruſius wollte, ſcholaſtiſch ergrübeln, fie beruhe blos auf hiſtoriſchen Zeug— niffen und es komme Alles darauf an, daß wirklich hiſtoriſcher Beweis göttlicher Zengniffe da fei. Er nahm dabei die göttliche Eingebung der Schrift in einem weit Ätrengeren Sinn als Ernefti oder Semler. Eben deßwegen ftellte er eine firenge eregetifche und philofophiihe Prüfung aller dev Lehren an, welche der gewöhnliche Lehrbegriff aus dev Schrift ableitet und bewies hernach von vie— len derfelben, daß fie in der Schrift gar nicht zu finden wären.

Töllner ſuchte einen jonderbaren Gedanken geltend zu machen, um zugleich den Forderungen dev Zeit und der noch immer herr— ſchenden Strenge des Glaubens an ſymboliſche Bücher genügen zu können. Der Sinn der hl. Schrift, Lehrte er, jei zufammen- gejeßt aus dem Sinn der Berfaffer, welche mangelhaft ſeien und der philofophifchen Kritik unterworfen werden konnen, und dem Sinne des hl. Geiſtes, der im jeder Nückficht volllommen, klar, richtig, gewiß und Yebendig fein muß. Beide können oft verſchie— den fein, widerfprechen können fie fidh einander nicht, obgleich der Sinn des Hl. Geiſtes auch fogar dem Berfaffer des Buchs, zu dem ex mittwirfte, dunkel geblieben fein kann. Wir dürfen aber in die Sache felbft nicht weiter eingehen, brechen daher ab,

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Was die Univerſität Göttingen angeht, jo war J. D. Mi- chaelis in dev Bibeldeutung ziemlich freiſinnig, in der Dogmatik ganz und durchaus vechtgläubig. Michaelis erlangte außerdem feinen Ruhm in ganz Europa nicht auf theologischen Wege, fon- dern befonders unter deutfchen Studenten durch einen ſehr profa— nen Kathedexvortrag: Wer gehört hat, wie. er in feinem Vor— trage alle möglichen Dinge, Wiffenfehaften und Anechoten in bie Erklärung der Schrift miſchte, wer feine Einleitungen ins alte und neue Teſtament und fein Mofnifches Recht liest, wird auf feine Religionslehre nicht viel Bedeutung Tegen, doch müſſen wir ihn in einem Punkt als fortfchreitenden Exegeten hervorheben, Ein Mann, der, wie Michaelis, die obengenannten Bücher ges ſchrieben hatte, Fonnte unmöglich, wie man in unfern Tagen bie und da wieder anfängt, die Schlange vor dem Sündenfalle auf der Spite des Schwanzes gehen, oder Elias im feurigen Wagen in den Himmel fahren laſſen.

Mosheim war durch Predigten und Kirchenhiftorie neben Mi— chaelis als Theolog in ganz Europa berühmt; er war aber ein ſehr vorfichtigen Gelehrter und Schriftſteller, der in lateiniſcher Sprache fchrieb. Der Gedanke einer Reform war jo weit von ihm als son dem geundgelehrten Walch, dev gelehrte Kirchenhi— ftorie trieb. AS Plank an ihre Stelle kam, eröffnete er feine Laufbahn mit einem Werke, welches die Urheber der fogenannten ſymboliſchen Bücher der. Proteftanten in ihrer ganzen Blöße dar— ſtellte. Sn feiner Gefchichte der Entitehung des proteftantifchen kirchlichen Lehrbegriffs bewies Blank handgreiflich, daß die Con— eordienformeln der Broteftanten ihnen durch eben fo unerlaubte Mittel aufgedrungen worden, als die Concilienſchlüſſe der älteren Kirche durch, die byzantinifchen Katfer zum Gefeb gemacht waren, und daß in beiden Fällen herrſchſüchtige Pfaffen, Minifter und Fürften ein ſchlechtes Spiel ſpielten. Spittler, der hernach einige Zeit neben Blank fand, der aber bald die theologiſche Laufbahn verließ, begann damit, daß er aus den Urkunden der Altern Kirche geiftweich und gelehrt bewies, daß es noch weit mißlicher um bie älteſte Kirchenlehre und Kirchengefchichte ausfehe, als Semler zu jagen für gut gefunden habe,

Man wird fich übrigens: nicht wundern, daß die neue Theo—

96 Deutfche Literatur: Theologie.

Ingie nicht von Göttingen ausging, das war ſchon ber hannö— verſchen immer die platte aber fichere Mittelſtraße haltenden Po— litik entgegen, das gab ferner des höchſt orthodoxen Königs Georg II. Göttingen ſorgſam bewachende Aufmerkſamkeit nicht zu, das hätte auch der neben Heyne in Hannover begünftigte und in Göttingen herrfchende Neichspublieift Pütter nie zugelaffen. Püt— ter war. bekanntlich, wie man in feinem Leben leſen kann, auf feinen einzigen Weg zur wahren Glüdfeligfeit und auf feine Hriftliche Religion in ihrem wahren Zu— fammenhange faft ftolger und von ihrem mächtigen Einfluß überzeugter, als vom Nuten irgend eines feiner zahlreichen juri— jtifchen Gutachten.

I. D. Michaelis war, was damals niemand auffiel, in der Exegeſe ein ganz anderer Mann als in der Dogmatif, In der Dogmatik blieb er überall im Wefentlichen ganz beim Alten ftehen; während fein College Heilmann ſchon des Haffifchen La— teing wegen, in welchem ex ‚feine Dogmatik jchrieb, noch mehr aber, weil er MWolficher Philofoph war und diefe Bhilofophie auf die Dogmatif anwandte, das craſſe Dunkel des neuen Scho— laftieismus wenigftens etwas erhellen mußte, Zachariä umging die Firchliche Dogmatik, die er von allen Seiten erſchüttert jah, gänzlich, und Fam von ihr auf die Bibel zurück, Er fchrieb zu der Zeit, ald son Wolfenbüttel aus die furchtbaren Angriffe auf das Chriftenthum und auf die Urfunden gemacht wurden, im de— nen es enthalten ift, als Bahrdt von Teller in Schub genommen ward, als König Friedrich IL. dem von den Orthodoxen verfolg— ten Eberhard erſt eine Pfarre und dann eine Profeſſur in Halle gab, alſo zu einer Zeit, wo jedermann die alte Form der Lehre für unhaltbar hielt, eine biblifche Theologie in fünf Bänden, Zachariä benuste in feinem Werfe die Bibelerflärung derer, welche damals, um das Wefentliche der Schrift zu retten, das Unwe— jentliche bei Seite zu feßen fuchten. Er erwähnte daher mancher dogmatiſchen Spibfindigkeit, von der er in der Bibel nichts fand, gar nichtz nahm fich aber auch forgfältig in Acht, den Altgläu- bigen zu mißfallen.

Die Univerfitäten Deutfchlandg änderten erft dann ihre theo— logiſche Lehrweiſe ganz entichieden, als ſich in Jena einige Zeit

Deulſche Literatur: Theologie. 97

hindurch die tonangebenden Theologen und Philofophen und in Weimar die Häupter der Profaiften und Dichter der Nation zu— fammen vereinigten und neue Wege bahnten. Jena und Weimar wurden auf eine Furze Zeit die eigentliche Metropole Deutfch- lands und erhielten die Bedeutung fir unfere Nation, welche - London und Baris für die Englifche und Franzöſiſche haben, fie hatten einen Ruf, den feit 1806 feine einzelne deutfche Stadt hat erlangen können. Die neue Religionswifjenfchaft ward von dort aus verbreitet (denn auch Herder war ja der alten und geſchmack— Iofen Lehre abgeneigt), die in Königsberg erfundene Philofophie ward ebenfalls von dort aus zehn Jahre fpäter nicht allein all= gemein verfündigt, Jondern gerade in Weimar und Jena auf eine ausgezeichnete Weiſe gebraucht, um unferer ganzen Literatur einen son allen Nationen Europas bewunderten geiftigen Gehalt und Schwung zu geben. Faſt alfe diejenigen, welche die Religions— wiffenfchaft dev Proteftanten damals dem Bedürfniß dev fortge- jehrittenen Cultur angemeffen entwieelten, waren junge Männer aus‘ Semlers Schule, und ihr Bemühen, ein neues Syſtem aus den alten Materialien mit Ausjcheidung der ganz unbrauchbaren. zu errichten, war um fo verdienftlicher, als die Franzoſen, der Fragmentift, ein C. F. Bahrdt und viele Mitarbeiter der A. D. B,, Schon damals die Ton angebenden Klafjen auf den Gedanken gebracht hatten, daß weder der alte Bau noch die Materialien deffelben für unfere Zeit mehr einen Werth Hätten. Der Jenatfche Theolog Danov ftand in feiner Zeit ziemlich allein.

Danov nämlich, obgleich es damals noch als eine große Sünde angefehen wurde, fich auch nur ein Haar breit von den ſymboliſchen Büchern zu entfernen, folgte Heilmanns Grundfägen und demonſtrirte, wie diefer in lateiniſcher Sprache die Vernunft- mäßigfeit der alten Dogmatif ungefähr auf diefelbe Weife, wie dev Abt Jeruſalem im zierlich gebauten deutjchen Perioden daf- jelbe that. Er ging jedoch einen bedeutenden Schritt weiter, als Hellmann in Göttingen zu thun wagte. Gr beleuchtete nicht al— fein die Dogmen nad feiner Art philofophifch, fondern er ſcheute fich auch nicht, viele Lehren des ſymboliſchen Lehrbegriffs, die Heilmann nicht antaftete, zu beftreiten, Der neue Weg, den her—

nach die folgende Generation von Lehrern betrat, um ein’ Chri- Säloffer, Geſch. d, 18, u, 19. Fahrh. IV. Th. A, Aufl. 7

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98 Deutfige Literatur: Theologie.

ftenthum zu verfündigen, welches son allen Zuſätzen dev ſpäteren Zeiten ganz gereinigt jet, war philofophiich, kritiſch und exegetiſch Ichon gebahnt, ehe Herder von einer andern Seite her Aufflä- rung verbreitete; davon kann erſt weiter unten die Rebe fein. In Jena trat Griesbach ganz in feines Lehrers: Semler Spuren und: verfuhr noch vorfichtiger als diefer, erlitt deßhalb auch Feine Berfeterung, wie fie Semler erfahren hatte. Er bes reitete damals ganz im Stillen alle die Veränderungen vor, welche fpäter tim, Lehrbegriffe vorgenommen wurden. Eichhorn in Göt— tingen und Paulus in Jena machten den Grundſatz geltend, daß man bei dem jüdifchen und chriftlichen Schriften, wie bei ben Werken des claſſiſchen Alterthums Kritik, Sprachgebrauch, Accom— modation und Sitten des Orients berückſichtigen und den Vor— urtheilen von wörtlicher Eingebung der Schrift ganz entſagen müſſe. Griesbach 22) ging einen Weg, der dem von Semler be— tretenen entgegengeſetzt war; er begann. behutſam und endigte dreiſt, Semler begann dreiſt und ſtand hernach plötzlich ſtill. Griesbachs erſte Bücher waren nur den Gelehrteſten brauchbar; er überließ es Andern, die überraſchenden Refultate feiner kriti— ſchen Forſchungen in populärer Form und in einem anziehenden Gewande vorzulegen, bis er endlich ſelbſt das ganze Reſultat die ſer Forſchungen philoſophiſch zuſammenfaßte und Alles das, was er für Weſen des Chriſtenthums hielt, in einen kurzen Abriß ver⸗ einigte. Griesbach hatte alſo nicht blos wie Semler, vom Haſſe des Aberglaubens und des. Betrugs beſeelt, überall nur das Fal- ſche gefucht, um zu. beweifen, daß es faljch fet, ohne etwas An— deres an die. Stelle. des erwiejen Falſchen zu ſetzen, ſondern er fuchte ein, Chriftenthum, welches den Forderungen der Vernunft eben. ſo angemefjen: jet, als den Achten: Quellen der chriftlichen Lehre und ihrer Gefchichte, Semler Fam daher dahin, daß ex zur. Zeit feines Streits mit Bahrdt und: mit dem Verfaffer und

22) Die Theologie, fo wichtig fie für die. Geſchichte auch tft, gehört nicht Hierher. Wer daher das Nähere über Griesbach wiffen will, den ver- weifen wir auf die vortreffliche Charakteriftif feiner Lelftungen, welche Paulus in den Heidelberger Jahrbüchern für 1812 im Intelligenzblatt Nr, VIL ger geben, hat,

Deutfche Literatur: Theologie, 99

Herausgeber dev Wolfenbüttler Fragmente ausdrücklich erklärte: „Sr habe das: Anfehen dev ſymboliſchen Bücher der; evangelifchen Kirche niemals erſchüttern, jondern nur die theologifche Gelchr- famfeit verbeffern wollen.“ Er behauptete denfelben Sab, den anch manche verftändige Eiferer für die veralteten Symbole in unſern Tagen zu behaupten pflegen: Daß die fogenannten ſym— bolifchen "Bücher und Goncordienformeln zur Außen geſell— ſchaftlichen Religion, zur Erhaltung der Einheit und der Ord— nung in der Kirche nothwendig, daß ſie das äußere Vehikel ſeien, welches dazu diene, den großen Haufen doch zu einer beſtimmten Religion anzuhalten, bei den Fähigeren aber die innere, freie, le— bendige, moralifche Religion zu entwiceln,

Die Theologen in Jena, wie hernach Eichhorn und: Plant in. Göttingen, verfuhren anders. Ste glaubten weiter gehen: zu: dür— few als Semler und Griesbach und gaben: fich vielleicht hie und dar der Bewegung einer aufgeregten Zeit mehr hin, als den Leh— vern einer pofittven Staatsreligion zu vathen tft, welche gewiſſer— maßen befoldete, an eine Inftruftion gebundene Beamten: find. Als daher Griesbach aus dem Dunkel feiner Gelehrſamkeit hervortre— ten und endlich das Nefultat feiner ohne alle Bolemif fortgejegten Prüfung angeben wollte, ließ er die wifjenfchaftliche Dogmatik un- angetaftet und fuchte nur feitzujeßen, was dem Volke vorgetragen werden dürfe. Er wollte nicht, wie Semler, durch einen from— men Betrug, den man einft, um die Ginführung des: Chriften- thums zu erleichtern, Oekonomie des Glaubens nannte, das Volt in dem Wufte des alten Irrthums Yaffen, damit es nicht jeden Slauben verfchmähe, jondern er wollte an die Stelle der alten Katechismus⸗Dogmatik eine populäre Slaubenslehre ſetzen, die er aufs‘ vorſichtigſte faßte. Zu einer folchen Arbeit entichloß fich übrigens Griesbach erft dann, als das, was jest Rattonalismus geſchimpft wird, tn populären Schriften über die Grängen hinaus— getrieben ward, innerhalb deren man: bleiben muß, wenn nicht: die Staatsreligion oder der poſitive Glaube der unwiſſenden Menge und: mit. ihr die: Sittlichfeit gänzlich zufammenftürzen fol, Gries— bach wandte fich im feinem Buche an die Theologen als an fünf- tige Seelforger , nicht: als an Gelehrte oder Philoſophen. Gr ſchrieb nämlich um 1786 die Anleitung zum Studium. der

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100 Deutfche Literatur: Baſedow.

populären Dogmatif für Fünftige Religionslehrer. In diefem Buche Yehrte Griesbach, auf welche Weiſe man beim Bolfsunterricht nicht blos, fondern auch beim Unterricht Fünftiger Volkslehrer, ohne das Volk zu betrügen und ohne, wie jeßo ge— ſchieht, zu Spphismen feine Zuflucht zu nehmen, die das Volk bald verachten Ternt, Religion ohne Dogmatif lehren könne. Dies Buch Scheint uns für unſere rückwärts fchreitenden Zeitgenoſſen auch aus dem Grunde vor andern hiftorifch wichtig, weil Gries— bachs nur zu raſch vorwärts fehreitende Zeitgenoſſen dafjelbe mit jo vielem Beifall begrüßten, Es wurden von diefer Anleitung in drei Jahren drei Auflagen gemacht. Was er bezweckte, drückt Griesbach durch den Satz aus, daß diefe Art Dogmatik, welche beftimmt ſei den praftifchen Einfluß thenretifcher. Religionswahr= heiten zu entwideln, mit der rein populären ganz nahe verwandt jet. - Sowohl Griesbach als Eichhorn und Planf und ſpäter aud) Paulus, fonnten übrigens nur auf den Außern, gelehrten und hi—

J ſtoriſchen Theil der Religionslehre einwirken, des Weſens derſel—

ben bemächtigte ſich bald die neue Philoſophie. Aus Kants Phi— loſophie entſprang nämlich bald eine andere, welche man lange beſchuldigt hat, daß ihre Lehre, daß Alles Eins ſei, alle Religion in Dunſt und Spielerei mit Sätzen und Begriffen verwandele, und die Natur zum Gott und Gott zur Natur mache, Schelling ward nämlich, wie jegt an der Tagesordnung tft, des * mus beſchuldigt, wie Fichte des pe

Baſedow und die Philanthroptums zw Deſſau, Marfhling, Hetdesheim ©. F. Bahrdt und feine Bibelüberfesung. I. A. Eberhard und feine Apologie des Sokrates.

Mir Haben im vorigen Bande der Nolle erwähnt, welche Baſedow ald Berfündiger einer neuen Zeit, deren Geift yon ihm ausgehen jolle, übernommen hatte. Er war fehon am Ende der sorigen Periode von der Philoſophie und der Theologie, wo er es mit Leuten zu thun Hatte, die ihm weit überlegen waren, zur Reformation des Unterrichts und der Erziehung übergegangen, deren Bedürfniß Jederman fühlte, Ihm waren Rouſſeau, In Cha=

Deutſche Literatur: Baſedow. 101

lotais und Fielding in ſeinem Tom Jones vorausgegangen, und ſchon Montaigne hatte im ſechzehnten Jahrhundert den Weg an— gedeutet, den Baſedow bahnen wollte; auch hatte er es dabei mit Leuten zu thun, denen er gewachſen war. Er wendete ſich vor— erſt an das große, damals ſentimentale, Publikum und an Väter und Mütter. Baſedow war zum Umſtürzen, zum Stürmen, zum Lärmen, zur Aufregung und zur Erweckung eines halb rohen, halb ſentimentalen Volks der paſſendſte Manz es tft aber unbe— greiflich, wie man glauben konnte daß ein Mann wie er, im Stande ſein werde, eine neue moraliſche Erziehung zu begründen. Lieſet man von ſeinem täglichen Leben, von ſeiner Streitſucht, ſeiner ſteten Trunkenheit, ſeinem Betragen gegen ſeine ſentimentale Frau; hört man ſeine beſten Freunde über das Ausſehen ſeiner Perſon und ſeines Aufzugs, ſo wird man glauben, eher einen engliſchen Polizeibericht über einen der betrunkenen Irländer zu leſen, die jeden Morgen in London vor den Friedensrichter geführt werden, als die Schilderung des berühmten Gründers der neuen Erziehung. Wenn man indeffen an Rouſſeaus Lebenswandel, verglichen mit feinen Schriften, an Mirabeaus, Marats, Dan— tons und Anderer fehauderhafte Laufbahn denkt, jo überzeugt man ſich, daß feine radienle Reform durch moralifche Werkzeuge ausge führt werden kann, weil dazu entweder frevelhafte Unternehmungen, wie Dantons Thaten waren, oder unbegrängte Kühnheit, wie fie Baſedow befaß, erfordert werden.

Baſedow fandy als er öffentlich auftrat, den Schulunterricht (mie man unter andern aus dem, was» Semler und Nikolai in ihren Lebensbejchreibungen über den Unterricht am Pädagogium zu Halle, der bedeutenditen Anſtalt für Bildung der Jugendleh— rer Deutſchlands, berichten, lernen kann) in demſelben Zuſtande, worin Mirabeau um 1789 die franzöſiſche Monarchie fand, und die häusliche Erziehung war noch elender- Die ſchon im zweiten Bande erwähnte, höchſt fonderbare Pranumerationsforderung Ba— fedows für fein Elementarwerk, welches alle Vortheile einer Re— solution bringen, alle Wiffenfchaften in eine Nuß drangen und alles mögliche Wiffen praftifch, jedem Kinde zugänglich machen jollte, fand einen ganz unerhörten Fortgang. Er hatte ſchon im Mat 1761 fünfzehntaufend Thaler beifammen, zu welcher Summe

102 Deitfihe Literatur: Baſedow.

die Kaiſerin von Rußland tauſend Thaler, und viele andere Für— ſten und reiche Privatleute ebenfalls bedeutende Beiträge gegeben hatten, Das ſogenannte Elementarbuch, welches dem Elementar— werk sorausging, ward daher mit demſelben Jubel aufgenommen, deſſen fich alle ephemeren, für den Augenblick berechneten Erſchei— nungen zit erfreuen haben, wenn Buchhändler oder Verfaſſer die Kunſt verftehen, einen vechten Lärm zu machen. Es mußte in- nerhalb drei Jahren, d. h. bi8 zum Jahre 1773, drei Mal neu gedruckt werden, und der derbe Schlözer in Göttingen begann ver— geblich dariiber einen Kampf auf Tod und Leben mit dem bie zum wirklichen Boren ftreitfähigen Baſedow

Schlözer enthüllte, freilich nach feiner Art zuweilen etwas derb, in feiner Vorrede zu dem aus dem Franzöfifchen ins Dentfche überſetzten Buche von la Chalotais über den Kinderunterricht die ganze Scharlatanerte eines Bafedow und Wolfe, und empfahl dagegen die von Ta Chalotais befolgte Methode; der gelehrtefte- und verdientefte Schulmann Deutichlands erhob fich ebenfalls ge— gen das windige Treiben; beides’ war vergeblich, Der Rector Schlegel in Heilbronn widmete nämlich mit der Aufopferung der erften Verkündiger des Chriſtenthums alle feine Zeit und feine Arbeit der Bildung und Erziehung der Jugend; er Teiftete ganz im Stiffen, im Fleinen Kreife Alles das, was Bafedom prahlend und fihreiend verſprach und nie erfüllte; er fuchte wie Schlözer den Deutfchen zu beweilen, daß von Baſedows Bilderbudy nim- mermehr wahre und tüchtige Sugendbildung zu erwarten ſei; er predigte tauben Ohren. Die Zeit und ihr Bedürfniß trieben zu Bafedow Hin und diefe find mächtiger als alle Gründe.

Um fich den Enthufiasmus zu erklären, den Baſedows Marft- ſchreierei erregte, muß man an den elenden Zuftand denfen, in - welchen die von Melanchthon und feinen Schülern eingerichteten Tateinifchen Schulen des fechszehnten Jahrhunderts gefunfen wa— zen, und die Dual kennen, welche die Schüler erdulden mußten, um Latein zu Ternen, ohne mit den römiſchen Schriftftellern befannt zu werden. Griechifch lernte nicht Teicht ein Juriſt, und

die Theologen blos, um das neue Teftament zu leſen. Bafedow

beantwortete Schlözers Bemerkungen im Tone eines betrunkenen Matrofen, und doch hielt man ihn für fähig, eine Bildungsan-

Deutſche Literatur: Baſedow. 103

ſtalt für die geſammte Menſchheit in Deutſchland einzurichten. Die däniſche Regierung und der freundliche und menſchliche Fürſt von Deſſau, der die Anſtalt gern in ſeiner Hauptſtadt haben wollte, thaten mehr für Baſedow, als in jener an Beſoldungen ſehr kargen Zeit für die erſten Gelehrten Deutſchlands geſchah. Er durfte nämlich ſeinen däniſchen Gehalt von 800 Thalern beibehalten und erhielt, als er nach Deſſau Fam, noch 1100 Thaler Penſion som Fürſten.

Seit dem Augenblide, da das Glementarbuch in alle Fa- milten gekommen war, und Anftalten getroffen wurden, ein foge- nanntes Philantropium in Deffau zu gründen, war in Deutſch— land Bafedomw und feine Erziehung das, was in unfern Tagen Banken, Gifenbahnen, Monumente und chemtfche und mikroſcopiſche Entdefun- gen geworden find. Man erivartete das Heil der Menfchheit damals eben jo ficher won empfindfamer Erziehung als jet son matertel- len Fortſchritten. Das Sonderbarfte war, daß man Rouſſeau's Idylle des Lebens in die Schulen, feine Freiheit von allen con— ventionellen Banden und Rückſichten in die Familien bringen wollte, während das Staatsleben auf dem ganzen Sontinent in den ſchweren Fefleln einer willfürlichen Polizei lag, und in den Gerichten die Tortur als Mittel, die Wahrheit zu erforfchen, und der Stock als Correctionswerkzeug an der Tagesordnung waren. Die religiöfen Grundſätze der erften Hälfte des achtzehnten Jahr— hunderts lehrten, die Sinnlichkeit der Jugend, als Folge der Sünde der erften Aeltern, mit Stock und harter Zucht und Ent- behrung zu tödtenz Baſedow und Rouſſeau geboten, der Natur mehr zu vertrauen als der Zucht und nichts in die Seele zu pflanzen, was nicht in den nächften Jahren Frucht bringe, nichts zu Iehren, als was dem Kinde unmittelbar einleuchte,

Wenn wir den Nevolutionsfchwindel der Jahre 184550 betrachten, jo wird ung der Erziehungslärm der Jahre 1770 bis 1800 weniger auffallen. Unhaltbare politifche Zuftände veran- Yaßten den Lärm in unfern Tagen, Unvereinbarfeit des Lebens neuerer Zeit mit der alten Erziehung machten Bafedow um 1772 wie Nobert Blum um 1848 zu Gefesgebern Deutfchlande, Nur aus dem allgemeinen Gefühl der Nothwendigkeit, veraltete Zu— fände auf revolutionäre Welfe zu verändern, läßt ſich erfläven, daß ſich Männer, wie Layater und Sfelin, der Sache Baſedows

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und feiner Schimären fo angelegentlich annahmen. Iſelin ftand in der Schweiz und im fühlichen Deutjchland als praftifcher Staatsmann in den Fächern der Staatswiffenfchaft in Anfehen, wie Lavater im religiöſen Fachz es arbeiteten an Sfelins Ephemeriden der Menfchheit Männer, wie 3. ©. Schlofier, die von luftigem Projectmachen ſehr entfernt waren, auch dieſe nahmen ſich des Philanthropiums an.

Mas zunächit Lavater angeht, jo war er, den man des Je— ſuitismus anflagte, bei diefer Gelegenheit für die Fortichritte der Bildung und des Unterrichts auf eine fo eifrige und fo rühmliche Weiſe thätig, daß er fogar dabei feine religiöſen Vorurtheile ganz bei Seite jeßte, Gr führte nämlich denfelben Doctor Bahrdt, den der Baftor Götze in Hamburg in gedruckten Schriften als einen Feind des Chriftenthums verfolgte, als Divector des erſten, nach Baſedows Manier eingerichteten Philanthropiums feierlich ein. Graf Ulyſſes von Salis zu Marſchlinz in Graubindten war theils eingenommen von Bafedows jchwärmerifchen Illuſio— nen, theild glaubte er aus einem Philanthropium eine Geldipe- eulation machen zu können; er wollte daher, noch ehe das Phi- Yanthroptum in Deffau eingerichtet war, eins in Marjchlinz errichten und bot Baſedow die Leitung deffelben an. Baſedow lehnte den Antrag für fich felbit ab, empfahl aber an feiner Stelle den faubern Doctor C. F. Bahrdt, deſſen man damals in Gießen entledigt zu werden fuchte. Diefer ‚machte den nöthi— gen Lärm und errichtete mit großem Auffehen und lärmender Feierlichkeit das erſte deutfche Philanthropium, als deſſen Divector ihn Lavater einführte. |

Das erite vom Grafen Salis auf Marſchlinz geftiftete, von Bahrdt eingerichtete Philanthropium hatte eine Furze und traurige Exiſtenz und verſchwand ſpurlos; das zweite von Bahrdt auf dem gräflich Teiningenfchen Schloffe zu Heidesheim in der Pfalz ein- gerichtete endigte fchimpflich, als Bahrdt wie ein Gauner davon floh, und ſelbſt Bafedows eigene Anftalt endigte nach kurzem Leuchten und Krallen wie ein Meteor, doch Tieß es bedeutende Spuren hinter fich und erleuchtete die Folgezeit. Die Wirkungen waren nur mittelbar, aber fie waren darum nicht weniger bedeu- tend und umfaffend. Das ganze Schulweſen mußte an einem

Deutfche Literatur: Baſedow. 105

Orte früher, am andern später, an einigen jogar erſt in unferm Sahrhundert gänzlich verändert werden, und es entitand unter und eine ganz eigene Art yon Literatur. Die Yange fehlummern- den Behörden erwachten und fobald Männer des neuen Ge- ſchlechts Sitz in den Gonfiftorien erhielten, denen leider die Auf— ficht dev Schulen vertraut war, entſtanden deutſche Schulen, mo Realien gelehrt und Bürger gebildet wurden, wie fie das Leben unferer Zeit fordert. Das weibliche Gefchlecht, deffen Bildung man vorher ganz vernachläßigt hatte, ward aus dem Mägdeftand, zu dem es verdammt gewefen war, erlöſet.

Bafedows Philanthroptum in Deffau follte Neiche für viel Geld zu Menfchen bilden, Aermere für wenig. Geld unter dem Namen Famulanten zu Schullehrern erziehen, es hatte indeſſen anfangs Niemand Zutrauen zu Baſedows Marktichreiereien. Er eröffnete jedoch mit dem ihm eignen Selbftvertrauen am 27. Dez. 1774 »auch ohne Zöglinge fein Philanthropium. Im folgenden Jahr hatten fich gleichwohl neun Benfioniften und ſechs Famu— lanten eingefunden, obgleich Baſedow jelbit nichts für die Anftalt that, jondern im Bette liegend am Elementarwerk und an andern - Büchern jchreibfelig arbeitete. Es verhielt ſich mit diefer Revo— Iutton der Erziehung leider, wie mit der franzöſiſchen Revolution; _ der edelfte Enthuſiasmus dev würdigſten Menfchenfreunde und die Bewegung einer nie jo heiter und fo jung auf Befferes hof- fenden Zeit ward von elenden Schreiern. mißbraucht!! Baſedow wagte damals, während er praftifch durchaus nichts leiſtete, was nicht jeder einigermaßen unterrichtete Dorffchufmeifter auch hätte leiften können, der europäifchen Menfchheit mit feiner Ungnade zu drohen, wenn fie nicht Geld ſchaffe. Gr erließ nämlich aus feinem Bette ein gedrucktes Schreiben, worin er drohte, daß er, wenn nicht bis DOftern 1776 zehntaufend Ducaten für das Phi— lanthropium eingingen, feine Hand son der- Menfchheit abziehen, und eine Anftalt, worauf er einen Theil feiner Zeit und einige tauſend Thaler gewendet habe, aufgeben wolle.

Für die Charakteriftif des ganz jungen geiftigen Lebens in Deutfchland, Teider aber auch für die überfpannte Richtung, die Baſedow dem ſchönen und durchaus nationalen Enthuſiasmus aus Gitelfeit und eigner Heberfpannung zu geben fuchte, ift das von

106 Deuiſche Literatur: Baſedow.

Baſedow Nov. 1774 erlaſſene Programm, deſſen Titel wir unten beifügen. 23) Wie vorher Lavater Bahrdts neue Anftaltin Marfch- linz, ohne Rückſicht auf deffen Glaubensirrthümer, blos aus Eifer für Menfchenwohl und für Beförderung einer beffern Bildung durch feine thätige Theilnahme an der Einweihung gefördert hatte, jo unterſtützte jegt, durch gleiche Gründe bewogen, Sfelin die wer— dende Anftalt Bafedows in Deſſau. Er fehlug zwar den Antrag aus, neben Baſedow Gurator zu werden; aber er bemog in Ber Bindung mit Lavater zwei edle und ausgezeichnete Männer, fich für Baſedows Nodomontaden aufzuopfern. Simon und Schweig- häufen, zwei gelehrte, klaſſiſch gebildete, wahrhaft begeifterte Män- ner, fchloffen fich, von Lavater und Sfelin ermuntert, an Die beiden Empirifer und Schwätzer Bafedow und Wolfe an, und errichteten einen Fürmlichen Schul- und Grziehungsbund oder. Orden, wie man es nennen will, um auf diefe Weiſe eine Art Propaganda ihres Schuleifers und ihrer Schulfyfteme zu‘ ftiften.

Der Schulbund ward förmlich als eine Art geiftlicher Rit— terorden oder Mönchsorden durch eine Negel gebunden, und ein fogenanntes philanthroptfches Archiv als Programm der neuen Stiftung herausgegeben. Schon der Titel diefes Archivs verkündete der gefammten Menſchheit, dag ihr Heil von Deffau kommen werde. Das erfte Heft diefes Archivs enthält die Ordens— regel diefer neuen Berbindung. 4) Die beiden aus den Alten

23) Dieſer Titel zeigt den ſonderbaren Inhalt hinreichend an: Das in Deſſau errichtete Philanthropium, eine Schule der Menſchenfreundſchaft und guter Kenniniſſe für Lernende und junge Lehrer, Arme und Reihe. Ein Fideicommiß des Publifums zur Vervollkommnung des Erziehungsweſens aller Orten nad dem Plane des Elementarwerks. Den Erforſchern und Thätern des Guten unter Fürften, menfhenfreundlihen Gefellfhaften und Privatperfonen empfohlen von I. B. Baſedow. Leipzig 1774. 96 ©.

24) Der Titel Tautet: Phllanthroptfches Archiv, mitgetheilt von verbrü- derten Jugendfreunden an Vormünder der Menfchheit, befonders welche eine Schulverbefferung wünſchen und beginnen; auch an Väter, die ihre Kinder ing Deffauifche Philanthropin ſenden wollen. Was den Schulbund von Bafe- dow, Wolfe, Stmon, Schweighäufer angeht, fo machen die 4 im erſten Heft bekannt: 1) Sie widmeten ſich ſämmtlich dem Schulleben und wollten in ihrem ganzen Leben ſich mit nichts anderem befhäftigen, als mit dem, was zur DVerbefferung des Schulweſens dienen kann. 2) Die Unverheiratheten

Deutſche Literatur: Baſedow. 107

und durch dieſe gebildeten Männer gaben indeſſen der jungen Anſtalt eine wiſſenſchaftliche Bedeutung, und als der höchſt un— praktiſche und noch dazu ſehr gemeine und unmoraliſche Baſedow, ſeine Unfähigkeit, eine ökonomiſche Verwaltung zu leiten, einſah, ſchien das Philanthropium zu Deſſau auch die ökonomiſche Ver— legenheit zu überwinden, worin es durch Baſedow gebracht war. Der nur zu ſehr (wenigſtens ſpäter als Haupt eines Penſionats in Hamburg) in Dingen des Haushalts bewanderte, durchaus praktiſche und rechnende Feldprediger Campe übernahm die Lei— tung, er ward an Baſedows Stelle Mitcurator. Der freundliche und humane Fürſt von Deſſau verſprach nicht blos Geld, ſondern auch ein Gebäude, und Alles nahm einen guten Gang, bis Baſe— dows Gemeinheit and Herrſchſucht die Männer, ee ihm ausge⸗ holfen hatten, verſcheuchte.

Campe und Salzmann begannen faſt zu cleicher Zeit ihre der Volksbildung eben fo vortheilhafte, als der Achten Wiſſen— Ichaftlichkett und der wahren Poeſie verderbliche Laufbahn als Erzieher und als Schriftſteller. Ste und ihre Nachfolger und Nachahmer überſchwemmten Deutjchland mit einer albernen Kin— derliteratur, und fuchten ganz kleine Kinder dadurch zu bilden, daß fie Erwachſene zu Kindern machten. Ste elferten mit Glück gegen die jefuitifche und ptetiftifche Erziehung, weil fie, gleich den Jeſuiten, Kinder und Aeltern in ihr Intereffe zu ziehen ver- fanden. Sie machten freilich der Pedanterei und zum Theil aud) der Verwöhnung der Kinder ein Ende, wir fehreiben aber doc) ihrer Erziehung die Nafeweisheit eines allwiffenden und eben darum unwiſſenden und anmaßenden neuen Gefchlechts der von en gebildeten Jünglinge zu.

nur folhe Weiber nehmen, die das Werk mit fördern helfen. 3) Ihre Kinder werden von ber Geburt an philanthropiſch behandelt und zu dem Swede der Väter erzogen. 4) Außer der Erfüllung.menfchlicher und bürger- licher Pflichten foll eines jeden tägliche Arbeit fein: a) Unterricht und Re— glerung der Jugend. b) BVerbefferung alter oder Verfertigung neuer Schul⸗ bücher. c) Correſpondenz oder Netfen oder Berathfchlagung oder ihn felbft vervollfommmender Fleiß zum Beſten des Schulweſens. Endlich machen fie ſi ich verbindlich 5) Einer dem Andern Brudertreue und Bruderhülfe zu leiſten, während ſie am Inſtitut arbeiten, und das Bruderbündniß ſo viel als möglich zu erweitern. |

108 Deutfche Literatur: Baſedow.

Die glänzende Periode des Philanthroptums zu Deſſau be— gann übrigens mit einer von jenen marftfchreierifch eingerichteten Prunkfeierlichkeiten, wie wir jebt deren in jedem Monat ein Baar aufführen und in den Zeitungen auspofaunen fehen. Wir meinen die öffentliche Prüfung, welche am 13ten, 14ten und 15ten Mai 1776 von Bafedow vevanftaltet ward. Zu diefer Prüfung entbot Baſedow in feinem prahlerifchen Styl alle Kosmopoliten Deutfch- lands, er befchrieb fie im zweiten Stück des Archis und der ge= lehrte Rector Stroth zu Quedlinburg widmete ihr eine eigene Schrift. Der Lärm, aber befonders der rege Eifer eines Simon und Schweighäufer, brachten die Anftalt empor, und fogar aus Sranfreich Famen Zöglinge; doch ſah Baſedow felbft ein, daß er zum Gurator nicht tauge. Er zog fich im Dez. 1776 von der Leitung zurück, behielt aber den Neligionsunterricht, den er mit Beredſamkeit und Salbung ertheilte, ex gebrauchte dabei oft fein eigened Beifpiel als abfchrediende Warnung, wenn er in roher Zrunfenheit grobe Exzeſſe begangen hatte. Leider! hatte er fich außerdem noch allerlei unbeftimmte Gefchäfte vorbehalten, und verurjachte hernach Campe, der die Leitung an feiner Stelle über- nommen hatte, fo vielen Verdruß, daß diefer endlich. ihn und feine Anftalt feinem Schieffal überließ.

Campe begann als. Gurator in Verbindung ‚mit Bafedow ftatt des Philanthropifchen Archivs die Pädagogiſchen Unterhaltungen, die auf eine gemüthliche in Kleinere Städte vertheilte Nation, wie die Unfrige, ſehr wohlthätig gewirkt haben, wenn gleich freilich der Großftädter und der Weltmann über die Sentimentalität und die Idylle des Pfarr- und Amthaufes oft lächeln mag. Das Familienleben und die Erziehung ward idea— lifirt und zur Freude der Mütter Ernſt und Strenge ganz von der Jugend und wo möglich aus dem Leben entfernt. Das Phi— Yanthropium in Deffau blühte anfangs unter Campe's Leitung ganz frifch empor, es hatte im Sommer 1777 fünfzig Zöglinge, der Fürst von Deffau wies ihm den Dietrich’ichen Palaft an, Bafedow erhielt die viertaufend Thaler wieder, die er hergegeben _ hatte, auch waren noch fechstaufend Thaler in der Reſervekaſſe, als der zänkiſche Baſedow einen Streit nad) dem andern erregte, Der mwohlwollende Fürft fuchte dem Streit dadurch abzuhelfen,

Deutfche Literatur: Bafedow. 109°

daß er Baſedow dahin brachte, wieder an der Curatel Theil zu nehmen, was anfangs in Friede zu Stande kam; e8 zeigte fi) aber bald, daß mit dem Trunkenbolde nicht auszufommen ſei. Der. Sturz des Philanthropiums, der son dem Augenblicke an unvermeidlich ward, als Baſedow wieder das Kuratorium übernahm, ward für die deutſche Erziehung, was die Verwirrung der Sprachen beim Thurmbau zu Babel für die erfte Cultur von Aſien gewefen fein fol. Die Lehrer son Deffau zerſtreuten fich in alle Gegenden von Deutfchland, es wendete jeder von ihnen Baſe— dows Ideen nach feiner Art an, Ste errichteten Inftitute und mach- ten zu einem Gewerbe, was vorher nur ein Amt gewefen war. Campe fehted ſchon im September 1777 von der Anftalt in Deſſau; die beiden einzigen gelehrten, wiffenfchaftlichen und durch— aus tüchtigen Theilnehmer an dem Treiben in Deffau, Simon und Schweighäufer, gingen nad, Straßburg; Wolfe ward Haupt- perfon im Phllanthroptum, denn Bafedow trat um Oftern 1778 noch einmal und dieſes Mal für immer ab. Salzmann über nahm Bafedows Antheil am Religionsunterricht. Unter den vie— fen Grziehungsanftalten, welche hernach gleich Fabriken errichtet wurden, waren die Sampefche bei Hamburg und Salzmann Inſtitut auf dem Schloffe von Schnepfenthal bet Gotha die be- rühmteften. Ste hatten Gedeihen, weil fie weniger coloffal ange- legt, und befjer den Forderungen der Väter und Mütter angepaßt wurden, als das Philanthroptum in Deſſau. Das Letztere dauerte noch fünf Jahre kränkelnd fort, Es hatte aber feinen Zweck er- reicht, denn an allen Eden und Enden von Deutjchland ward nach der von Bafedow und Campe und Salzmann empfohlenen Weiſe gelehrt, und ſchon zehn Jahre nach der Grrichtung des Philanthropiums (1784— 1788) führte man in der unterften Klaffe einer am äußerſten Ende Deutfchlandg gelegenen gelehrten Schule, am Strande des Nordmeers Bafedows Syſtem ein, Das Lateinifche ward aus einer Inteinifchen Ueberſetzung von Campes Robinfon aus Schützes Clementarwerf, aus Gedifes Lefebuch erlernt, zum Glück für den Verfaffer diefer Gefchichte fügte jedoch hernach ein verftändiger Nector den Cornelius Nepos wieder hinzu, Obgleich man eingeftehen muß, Daß bet der übereilten Ein— führung der neuen Methode und der neuen Bücher die gelehrte

110 Deutfche Literatur: Vollsbildung.

und gründliche Bildung dev höheren Klaffen der Gefellichaft und des eigentlichen Gelehrtenftandes nur in den Gegenden: und Orten bedeutend gewann, wo die Realien ganz verſäumt, oder die Lehrer ganz fchlecht waren, fo, war dod; der Gewinn des Bürgers und Bauers, alfo der Klaffen, welche bei Revolutionen gewöhnlich die Betrogenen find, bei. dieſer Revolution fehr bedeutend, Baje= dow und die fpeculivenden Unternehmer der Penfionsanftalten dachten, freilich hauptfächlich an die Leute, welche bezahlen, konn— ten, und waren mit den Mitteln, der arbeitenden Klaffe empor- zuhelfen, wenig befannt. Sie kannten die eigentlichen Bedürfniſſe des Volks und die Urfachen feiner Rohheit fehon-aus dem Grunde wenig, weil fie weder Beamte geweſen waren, noch Staatswiſ— fenfchaften: getrieben hatten; wir müffen daher, wenn vom eigent— lichen Volke die Nede ift, zwei: andere Männer nennen, welche einen Plab neben. Peſtalozzi verdienen, » Diefe find. der Ober- beamte des edeln und für das Wohl feines: Landes unabläffig bemühten, wahrer Aufopferung fähigen Markgrafen Karl Friedrich von Baden, der nachherige Frankfurter Stadtiyndifus J. G. Schloffer, und der Erbherr dev Herrſchaft Rekahn und Domherr von Halber- ftadt, von Rochow. Der. Erxfte, obgleich. er Platonifer war, er— klärte fich gegen alle utopifchen Träumereien der Bhantaften, ftelfte aber felbft ein Mufter auf, wie man, ohne zu revolutioni— ven, dem Volke helfen könne. Er fchrieb nämlich im Getfte eines Türgot und jener Oekonomiſten, deren Syftem fein edler Landes- herr gleich dem Großherzog Leopold von Toscana zuerft von allen: Regenten praktifch anzuwenden ſuchte, feine Sittenlehre für das Landvolk (um 1771), woraus Gampe, dev: bekanntlich feine eigenen: Ideen hatte, hernach das Wefentliche feiner Sit— tenlehre für Kinder entlehnte. Schloffers Buch: gehört zu den vortrefflichften Volksbüchern unferer Nation und: verdient einen. Platz neben dem erften Theile von Peſtalozzis Lienhard und Gertrud; Rochows DVerdienfie find anderer Art. Er ſchuf als Gutsherr die erſten Mufterfchulen für Landfchullehrer, ließ die Lehrer der, Schulen feiner Herrſchaft in Deſſau bilden, und fehrieh auch. ſelbſt eine Anmweifung zur Bildung des Landmanns. Schloſſers Katechismus beſchränkt ſich auf die Sittenlehre; in von Rochows Verſuch eines Schulbuchs für Kinder

Deutſche Literatur: Vollsbildung. 111

der Landleute, oder zum Gebrauch für Dorfſchulen wird von allen den Kenntniſſen gehandelt, welche dem Land— manne in ſeiner Sphäre nützlich ſein können. Das Büchlein ſoll ſowohl dem reichen Bauer als dem armen und auch ſogar dem Taglöhner den Weg zum Wohlſtande zeigen. Die Kinder erhal— tem hier Anmweifung, wie man auf die beite Wetje das Feld düngt, die Pferde füttert, das Wirthfchaftsgeräthe in Ordnung halt u. ſ. w. Die Ochullehrer auf Rekahn wurden: übrigens ausgezeichnet qut befoldet und der Herr von Rochow war neben dem: Fürften von Deffau der. Einzige, der von der: Gelegenheit Gebrauch machte, Schullehrer im Philanthropium bilden zu laf- fen; denn son den: ſechs Famulanten des Inſtituts unterhielt der Herr von Rochow zwei und der Fürft von Deffau vier. Rochows Schulbuch machte viel Glück, es erſchien fehon im Jahre 1776 eine ganz umgeavbeitete Auflage mit Kupfernz zu gleicher Zeit ſchrieb von Nochow den Kinderfreund, ein Leſebuch zum Gebrauch für Landfchulen, den er auf eigne Koften druden ließ, um ihn hernach ſehr wohlfeil im die Hände des Landvolks zu bringen.

Durch die Veränderung der Erziehung und des Unterrichts und durch das Erwachen des Bedürfniſſes einer von den Schladen des Mittelalters vollig gereinigten Religion ward, wie das bei jeder Revolution iſt, einer Anzahl Menfchen das Feld geöffnet, - welche Philanthropie und Zeitgeift für ihre ſchmutzigen Zwecke benußten. Unter diefen: Menfchen: verdient ſchon des Auffehens

wegen, welches: er zu erregen: verftand, G. F. Bahrdt, einen: der

erften Plätze. Er benußte fowohl das erwachende Streben nach Befreiung vom Religionszwang der eriten Hälfte des Jahrhunderts, als den Wunfch feiner Zeitgenoffen, die Jugend von: der. frlant- jchen Zucht und dem pedantifchen Unterricht gänzlich: zu: befreien, für ſchmutzige Spekulation. und niedrige Gaunerei. Aus diefes Theologen unverjchämt gefchriebener Selbftbiographie, oder. aus den zwei Bänden, welche Bott über ihn und feinen Wandel ge- Ichrieben Hat, verglichen mit den, im zwei. verfchtedenen Bänden des Schlichtegrollfchen Nekrologs, dem Publikum: mitgetheilten Nachrichten wird man: durch Thatfachen lernen können, daß die deutjche Nation im: Augenblick ihres Erwachens von gewiſſenloſen

112 Deutfche Literatur: ©. F. Bahıd.

Schriftftellern irre geleitet ward, wie 1848 von eitlen. Bahrdt machte nämlich einige Zeit hindurch großes Auffehen, weil er troß feiner allgemein befannten Immoralität den Ton zu treffen wußte, der für ein fehwärmendes Publikum paßte. Sein Vaga— bundenleben brachte ihn außerdem mit allen denen in Verbindung, - die in Sinnlichkeit verloren, eine firenge Religion zu vernichten wünfchten. Wo er fich befand, in Erfurt, in Gießen, in Grau— bunden, am Rhein, in Halle, gründete er eine Schule der Leichte. fertigfeit. | Er ward Brofeffor der Philofophie zu Erfurt, als dort 8. J. Riedel, sorher Genoſſe der Gemeinheit eines Klotz als Schrift fteller und durch wüſtes Leben, den Ton angab. Schon hier in Erfurt ſpekulirte Bahrdt auf den Zeitgeift, der, weil die Verthei— diger der Orthodorie abgefchmacte Dinge vorbrachten, ihre Geg- ner begünftigte, Bahrdt verftand die Kunft, ſich das Anfehen ei= ner Gelehrfamfeit zu geben, die er nicht befaß, und wählte den Weg der Heterodorie, weil fie Mode war, Geld einbrachte und son den gegen die Obfeuvanten und Heuchler erbitterten geiſtrei— hen und edlen Männern in Schub genommen wurde. Er blieb indeffen in der Dogmatif und Moral, die er in Erfurt heraus- gab, noch jo jehr innerhalb der Schranken der Schieklichfeit, daß auch dev gute Semler ihn mur für einen Gegner der alten Fin- ſterniß, nicht für einen Wolf in Schafskleidern anfah und ihn zu einer theologifchen Brofeffur in Gießen empfahl. Dort ward die Aufklärung und Anwendung des freien Denkens auf Schrift erflärung und Glaubenslehre für feine Schriftftellerei einträglich, weil er unter den Theologen noch ziemlich vereinzelt daſtand, des deutfchen Ausdrucks mächtig war, und aus der alten Schule noch eine bedeutende Maſſe pofitiven Wiffens mitbrachte, das den ſpä— tern Rationaliften oft mangelte. Er kannte die Bedürfniſſe der mächtigen Partei, welche damals um jeden Preis Befreiung vom drücfenden och pedantifcher Nechtgläubigfeit erlangen wollte, er war im Stande, leicht, populär, moralifch und allenfalls auch empfindfam zu fchreiben, wie es die Umftände oder der herrſchende Geſchmack forderte. Cr fand daher Abſatz für feine Schriften amd drückt fich felbft darüber wie ein Kaufmann aus, da er ung feinen Verdienſt dabei nach Gulden und Kreuzer vorrechnet,

Deuiſche Literatur: C. F. Bahrdt. 113

Er begann mit Predigten, ſchrieb dann eine Homiletik, einen

kritiſchen Apparat zum A. T. in lateiniſcher Sprache, als der Varianten ſammelnde Kennicott und J. D. Michaelis Kritik des A. T. in die Mode brachten. Er ſchrieb ferner einen Entwurf der Kicchengefchichte des N. T., Vorſchläge zur Aufklärung und Berichtigung des Lehrbegriffs unferer Kirche, Bemerkungen über Michaelis Bibelüberſetzung. Mit der fortfchreitenden Zeit ward er. in diefen Büchern immer dreifter gegen die Kirchenlehre, zu deren Verkündigung er doch eigentlich als Profeffor und Prediger berufen war. Er mwiderlegte nicht ſowohl Irrthümer und fuchte Wahrheit zu finden, als er dem, was feiner Gemeinheit nicht ge— fiel, Hohn ſprach. Er taftete endlich mit frevelnder Hand und profaifchen Sinn auch die ehrwirdige Urkunde des Chriftenthums und defien erhabene Poeſie an. Dabei ſpekulirte er, als er eine neue Meberfegung des N. T. anfündigte, ganz richtig auf bie berechneten Fortichritte einer durch Nomane und durch populäre Schriften verbreiteten Aufklärung, auf den rafchen Fortgang der Veränderung der deutſchen Sprache und des Styls im achten Jahr— zehnt des vorigen Jahrhunderts,

Diefe neue Meberfeßung, oder. vielmehr dieſes son C. F. Bahrdt traveftirte neue Veftament wurde in jener Zeit, wo Alles neu werben follte, innerhalb neun Jahren, d. h. bis zum Jahre 1783, in drei Auflagen und zwar beſonders in Norbdeutfchland ver— breitet, obgleich in unfern Tagen ſchon der Titel, der damals anlockte, davon abſchrecken würde. Diefer Titel, welcher Leſer anlocken joflte, ift von den elendeſten Machwerfen der Bücher— fabrifanten jener Zeit entlehnt. Er Yautet: das Neue Tefta= ment, oder die neuften Belehrungen Gottes dur Sefum und feine ein Titel, der in der erſten Ausgabe durch den Zuſatz in —— und Briefen noch abenteuerlicher wurde. In dieſer Ueberſetzung wird man, wo man fie auch immer aufſchlagen mag, die gottloſe Reichtfertig- feit wahrnehmen, mit welcher Bahrdt, wir wollen nicht jagen, Die Religion, fondern auch fogar das Alterthum und die orientalt- hen Geſchichten deſſelben behandelt hat. Jeder Hauch des Orients,

jede Färbung der Nationalität iſt verſchwunden, jede Schloſſer, Geſch. de 4. u 19. Jahrh. IV. Th. 4, Aufl.

414 Deukfige ‚Literatur: C. 3. Bahrdt.

Empfindurg wird durch die kalt verſtändige und zumeilen auch umverftändige Proſa erſtickt.

Bahrdt nahm ſich keine Zeit, den Ausdruck abzuwägen; er löſete in den Stellen, wo ein Dialog eingeführt wird, dieſen als altfränkiſch klingend auf, und vertilgte alle durch Meberlieferung, Gebrauch, Glauben mit dunfeln Gefühlen verbundenen, durch eine myſteriöſe, aber doch auch oft wahrhaft veligiöfe Bedeutung: dem Gemüth theuer gewordenen Ausdrücde Luthers. Dahin gehören Himmelreih, Reich Gottes, Seligfeit, Seligmachen, Erlöfer, Weg des Heils, Heiliger Geif, Name Jeſu u ſ. w. Es war damals übrigens noch nicht dahin ge- fommen, daß man die im Firchlichen Lehrbegriffe hergebrachten und durch den Firchlichen Gebrauch geheiligten Ausdrüde hätte entbeh- ver wollen;. e8 erhob fich daher. ein furchtbarer Sturm gegen Bahrdt, der ihn um jo mehr aus der Nähe bedrohte, als der darmſtädtiſche Miniſter C. 8. von Mofer auf eine ganz fonder- bare Weife eine Art yon politiichemn Liberalismus mit religiöſem Pietismus verband. Bahrdt wäre auch ficher fchon wor feiner Abreiſe nach Marfchlinz von allen Freunden religiöſer Aufklärung aufgegeben worden, wenn nicht die unverftändigen Vertheidiger de8 Veralteten ihm durch ihr unvernünftiges Toben unter den edeln Freunden verftändiger Religionsanficht Vertheidiger und Schützer verfchafft Hätten. Wie wenig übrigens das damalige deutiche Publikum, welches unfer an Schimpfworten wie Bantheift, Carbonari, Zaeobiner, Communiſt, Chartift, Radicaler, reiches Zeitalter wahrſcheinlich das junge nennen würde, Anſtoß daran nahın, daß man fich gegen gefunden Verftand "und reinen Ge- ſchmack verſündigte, wenn man fich nur das Anſehn gab, tim modernen Geſchmack zu fchreiben, wird man aus einigen unten beigefügten Stellen der rn de in drei —r —— Fr können. 23).

jd 3) Mai N; BR. 4, * in der erſten Auflage Wohl denen, welche die ſüße Melancholie der Tugend den ſüßen Freuden des Laſters vor⸗ ziehen; in der vor uns liegenden dritten Auflage (Berlin 1783) lautet der Ders; Wohl denen, welchen dieſe Erde wenig Freuden gewährt, fie werben reichlich dafür getröftet werben. Die bei Luther unvergleichliche Stelle Math, 3, 7. u. 20, 38, 19, lautet: Und indem kommt ein gewiſſer jüdiſcher

Deutiche Literatur: C. F. Bahrdt. 115.

In Marſchlinz ſpielte hernach Bahrdt den kleinen Bafedom, jedoch mit dem Unterſchiede, daß in ihm auch nicht ein Funke von Baſedows wahrhaftiger, wenn auch oft unverſtändiger und lächerlicher Begeiſterung für die Sache der Menſchheit war. Bei Bahrdt war alles erkünſtelt, gemein und auf die gemeinſten Zwecke berechnet. Nichtsdeſtoweniger ward er vom Grafen von Leiningen als Generalſuperintendent nach Dürkheim berufen, um auch dort im Schloſſe zu. Deidesheim die Comödie der Errich— tung eines dritten ephemeren deutichen Philanthropiums aufzu= führen (1776).

Wir erwähnen der Schiejale und ber Schriften dieſes Man— nes hier blos, um an ihm zu zeigen, wie groß das Bedürfniß jener Zeit war, dem Geiſtesdruck endlich zu entgehen und freier zu athmen. Dies würde noch deutlicher einleuchten, wenn wir näher in ſeine Schickſale eingehen, ihm durch feine. Gaunereien in Heidesheim und durch feinen ganz verworfenen Wandel und. feine ganz offenbaren Betrügereien mit der deutichen Unten in. Halle verfolgen dürften. Man würde dann fehen, daß er, wohin ev auch Fam, als Mann son, Talent gepriefen und. als Märtyrer feines Gifers für veligtöfe Aufklärung betrachtet ward. Dies. geht auch beionders. daraus. hervor, daß. ihm ein. Mann, wie Zeller war, in Breußen - Schuß verſchaffte. Zürnten doch Die Freunde der Aufklärung auch. fogar. einem Manne wie Semler, weil er, im Grunde nur ‚gegen Bahrdts Perſönlichkeit proteſtixend, gegen freie, Meinungsäußerung ‚zu proteſtiren ſchien. Ä

Uebrigens hatte Doctor Bahrdt feine Rolle in Heidesheim ausgeſpielt, hatte Bankerott gemacht und war als ein Ale

Gottesgelehrter .... aber Jeſus gab ihm Folgendes zur Antwort (Ou biſt in falſcher —— Ein Fuchs Hat feine Grube und ein Vogel fein Neft, aber’ ich, fo wie Du mich fiehft, bin ein armer Menſch, Habe nicht fo viel Eigenthum, als erfordert wird, mein. Haupt darauf zu legen. Die Stelle Marc. II. Vs. 28. Alſo iſt des Menſchen Sohn ein Herr auch des Sab- baths, wird in der erften Ausgabe überfept: Folglich müſſen die, Pflichten des äußerlichen Gottesdienſtes den Pflichten des Menſchen allemal unlergeord⸗ net bleiben. Im ber dritten Ausgabe finden wir jedoch: Der Sabbath tft um des Menfihen millen da, nicht der Menſch bes Sabbaths willen. Folglich gehet der Nenſch und deſſen Bedürfniſſe dem Sabbath por.

116 Deuiſche Literatur: C. F. Bahrdt.

teurer in England geweſen, als zugleich ein lutheriſcher Pfaffe in Hamburg Wehe über ihn rief und der Reichshofrath ihn ächtete. Kaiſer Joſeph IL. hatte ſich übereilt, als er Bahrdt mit Verletzung der Rechte des Reichs und der Evangeliſchen durch den Reichshofrath verfolgen ließ, dies verſchaffte ihm den Schutz von Perſonen, die ſich ſonſt ſeiner nie würden angenommen haben. Die Freunde der Aufklärung glaubten, daß zwei ganz beſchränkte Zeloten, ein proteſtantiſcher und ein katholiſcher, in Bahrdts Perſon den Ge— brauch der Vernunft in Glaubensſachen verfolgen wollten; das ſchaffte ihm die Hülfe der Verſtändigen. Was den Hamburger Paſtor Göze angeht, der damals durch die Art und Weiſe, wie er den lutheriſchen Lehrbegriff verſtand und verthetdigte, die herr— fchende Religion der Predigten und Katechismen bei allen Ber- ftandigen verhaßt oder Tächerlich machte, fo hatte er früher gegen die erfte Ausgabe von Bahrdts Ueberſetzung des N. T. eine Schrift herausgegeben. Sie hatte den Titel: Augenſchein— licher Beweis, daß des Dr. Bahrdt Ueberſetzung des N. T. nichts anders als wahre Gottesläfterung tft; durch dieſe liebreiche Schrift ward Bahrdts Suspenfion und nach— folgende Entfernung aus Gießen veranlaßt. Die Gründe, die er dort gegen Bahrdt geltend gemacht hatte, waren nicht beſſer ala die, welche hernach der MWeihbifchof von Worms, der lange ruhig zugeſehen hatte, ohne fich zu regen, anführte, um ihn aus Hei— desheim zu treiben. Der perfünlich beleidigte und durch einen Pfälzer, den Bahrdt beleidigt Hatte, aufgeregte Weihbiſchof er- Härte namlich, daß Bahrdt außer dem Geſetze fei, weil er eine Lehre verfündige, welche mit den Lehrſätzen Feiner der drei im Reiche geſetzlich beſtehenden Confeſſionen übereinftimme. Diefe Deichuldigung, welche der Weihbiſchof als Büchercommiſſarius des Katjers in Franffurt a. M. vorbrachte, machte dev Reichsfiskal, den er anvief, beim Reichshofrath geltend, und diefer wagte ohne Borladung, ohne fürmlichen Prozeß, ohne den Landesheren des Deflagten, ohne das Corpus Evangelieorum zu fragen, einen bis dahin ganz unerhörten Schritt.

Der Reichshofrath erklärte ohne alle weitere Prozedur Bahrdt des Zweifels an der Dreieinigfeitslehre u. ſ. w. fehuldig, entſetzte ihn (was doch nur fein Landsherr zu thun befugt war) feiner

Deutſche Literatur: C. F. Bahrdt. 117

Aemter und legte ihm auf, ſeine Irrthümer zu widerrufen oder das Reich zu räumen. Sein Reichsgraf nahm ihn zwar in Schutz, er war aber ein kleiner Herr, der noch dazu gern den Fürſtentitel haben wollte, das machte den Reichshofrath dreiſt genug, ein Mandat an ihn zu erlaſſen, worin Bahrdts Entlaſ— jung befohlen wurde,

Dadurch ward die Sache Bahrdts eine Angelegenheit des Reichs und der freien Meinungsäußerung der Proteſtanten und Bahrdt "wandte fich in diefer Sache an die zwei angefehenften Bertheidiger freier und unbefangener Bibelforfchung, an den Probſt Teller in Berlin und an den Theologen Semler in Halle; der Erfte bewirkte dann, daß man fich in Berlin feiner annahm. Gr ward mit Geld unterftüst und durfte in Halle Vorleſungen halten; nur keine theologifchen. » Semler eiferte heftig gegen Bahrdts Zulaffung zum Lehrer in Halle. Er galt feitdem als Obſcurant; obgleich ihn vorher derſelbe Göze, der Bahrdt ver- folgte, 26) als Erzketzer, Berfälfcher der Lehre und Vergifter der Jugend ausgefchrieen hatte, Man hätte dies Mal Semler wohl entfehuldigen jollen, daß er einen Mann, deffen Gegenwart über- all wie eine fittliche Peſt betrachtet ward, nicht gern auf einer Univerfität dulden wollte, wo Klotz ſchon feit der Mitte des Sahrhunderts eine Schule furchtbarer Unfittlichfeit gegründet hatte, die auch fogar, wie das auf Univerfitäten zu fein pflegt, nach feinem Tode nicht ausging. Semler fonnte und wollte freilich diefen Grund nicht anführen, er verlor daher die ganze Gunft der öffentlichen Meinung, weil es ſchien, ald wenn er fich an Göze, an den Weihbifchof von Worms, an den Neichsfiscal und an den Neichshofrath anfchließen wolle,

Bahrdt hatte nämlich ein Glaubensbekenntniß aufgeſetzt, wel— ches Teller (1779) drucken ließ. Dieſes mißbilligte Semler nicht blos heftig, ſondern er klagte den Verfaſſer deſſelben als einen Feind

26) Wie ärmlich die Gründe waren, welche Göze gegen Bahrdt vor⸗ brachte und welchen armſeligen Fetiſchismus er als Lutherthum vertheidigte, wird man aus einem einzigen Veiſpiel ſehen. Er wirft Bahrdt vor, er habe durch die Art, wie er die bekannte Stelle: „Ich bin bei euch alle Tage u, f. w.“ überfehe: Eine tröftlihe Beweisfitelle für die Allgegenwart der menfhlihen Natur Chriſti ven Gläubigen rauben wollen.

118 Deuiſche Literalur &. F. Vahrdt.

des Glaubens an. Das war ebenſo übereilt als überflüſig, weil jeder Verſtändige einſah, daß ein Menſch wie Bahrdt nie irgend etwas anderes geglaubt habe und glauben werde, als was ſeinen rohen und ſinnlichen Genüſſen dienen könne. Es war alſo ganz laͤcherlich, auf irgend etwas, das von ihm Fam, die geringſte Be— deutung zu legen, und doch that dies Semler. Er griff in Schlbzers Zeitfehrift, welche nicht fowohl von Theologen, als von Beamten, von Stantslenten und von allen denen, de mit der Staatspolizei zu thun hatten, gelefen ward, Bahrdts Perfon fo heftig an, daß ſelbſt Schlözer dafür hielt, er müffe auch Bahrdts Gegenerflärung aufnehmen, um dns Necht freier Rede nicht der Reichspolizei unterwerfen zu Iaffen. 27) Much die Behbrden zu ‚Berlin nahmen ſich wie Schlbzer nicht ſowohl der unwürdigen Perſon Bahrdts an, als feiner Sache, ſoweit fie die Sache des thenerften Rechts jedes Staatsbürgers war. Es fehlen nämlich den Berlinern dabet auf die unbeſchränkte Freiheit anzufommen, bie chriſtlichen Religionsbücher nach beiten Ginfichten zu deuten. Senmler bebte damals vor dem Radicalismus in Neltgtong- fachen, deſſen er Bahrdt anflagte, um fo mehr zurück, als er, wie einige beſchränkte Zeloten unferer Tage, von ber Zeitphile- fophte Gefahr für das Weſen des Chriftentfums fürchtete. Eitele Furcht! Dies Weſen tft, wie der Stifter des Chriftenthums gefagt hat, auf dem Felſen unferes eigenen innern Wefens gegründet, den die Pforten der Hoffe nimmer erſchüttern. Wer Gott im Geifte geichaut hat, wird Religion mit eitem Griffen eingebildeter Theo- logen nie verwechſeln. Semler bebte vor Voltaire und der En— chklopädiſten Wit, vor Leffings mächtiger Sfepfis, vor des Wol— fenbüttler Fragmentiften furchtbarer Kühnheit und ganz befonders ‚vor dem Gedanken, daß Bahrdt von feiner Seite den Deismus in Halle fordern den der Berfaffer der Apologie des So⸗ krates als Profeſſor der Philofophie und der natürlichen Theologie damals dort lehrte.

27) Semler lleß in Safsjers Briefwechſel No. XXX. ©. 233 einen Artitel gegen Bahrdt einrücken, Schlözer nahm daher auch Heft XXXII. ©, 82 Bahıdts Antwort auf Semlers Widerlegung ſeines Glaubenebetennt⸗ niſſes auf.

Deutfche Literatur: Eberhard. 119

J. A. Eberhard, der Verfaffer der erwähnten Apologie des Socrates, war proteftantifcher Theolog, hatte aber, feitdem bie Apologie 1772 gedruct war, von den damals noch in den Con— ſiſtorien herrſchenden Nechtgläubigen Feine ordentliche Beförderung erhalten können, fondern hatte fich mit ein Paar elenden Pfar— veien behelfen müfjen, bis fich derfelbe Teller, der auch Bahrdt durchhalf, feiner annahm. Gr bewog den Mintfter Zedlitz, ihm durch Friedrich II. eine Stelle in Charlottenburg zu verfchaffen, wo er um 1776 durch feine allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens den yon der Berliner Akademie ausgeſetzten Preis gewann. In diefer Schrift entwickelte er fein, wenn man will philojophifches Syftem und warb deßhalb, eigent- lich gegen feinen Wunfch, um 1778 zum Brofeffor der Philo— jophie zu Halle ernannt. In Halle war die Richtung und Die große Mehrzahl der Studirenden theologifch, Cherhard wandte alſo fein Syſtem auf Theologie an, Gr ward hernach einer der argften Bielfchreiber, was bekanntlich für einen Philoſophen ein fchlechter Ruhm ift, ſtand aber, weil man es mit der Schärfe der Dialeftif und der Tiefe der Gedanfen nicht jo genau nahm, als Menſch und als Gelehrter im beften Rufe. Er begann zur Berbreitung feiner deiftifchen Lehre ein eignes Sournal, und er- jehlitterte durch die in denfelben Grundſätzen gefchriebene Apo— Ingie des Sokrates, wovon fehnell hintereinander drei ver— mehrte und verbefierte Auflagen gemacht wurden, die Altglaubig- feit dev heranmwachfenden, nad) Bafedows und Nouffenus Manter erzogenen Jugend in ihren Grundlagen, Er wirkte nicht ſowohl wiffenfchaftlich auf Denker und Forſcher, als rednerifch auf das große Publikum, mehr in die Breite ald in die Tiefe.

Eherhard war ein ruhiger, vielſeitig gebildeter, gemäßigter Mann, er paßte ganz für den damaligen Zuftand der Literatur und machte auch dort Eindruck, wo man den fittenfofen Bahrdt Herachtete und son feiner glatten, Teichten, oft im Romanſtyl vorgetragenen Moral nichts hören wollte, Eberhard richtete fich in jeinem Hauptwerfe seigentlich abfichtlich gegen die alte Dog- matik und bewies oder wollte wenigftens von allen ihren Hanpt- lehren beweifen, daß fie durchaus unhaltbar ſeien; er machte fich aber die Sache auf ähnliche, * leicht, wie die franzöſiſchen

120 Deutsche Literatur: Riedel u. Klob.

Akademiker, wenn gleich mit dem Unterſchiede, daß ex ernſt und würdig und biefe Ipaßhaft redeten. Eberhard behauptete, und es war faft Niemand, der ihm gründlich wideriprach, als Lefling, den man gleichwohl als einen Ungläubigen verfchrie, daß weder die Lehre von der Prädeftination, noch die von der Genugthuung Chriſti, noch die, von den Gnadenwirkungen und Höllenftrafen, noch eine Anzahl anderer in der Schrift ihren Grund hätten, und daß fie außerdem der Vernunft widerfprächen und der Sitt— lichkeit nachtheilig ſeien. Dieſe Art Glauben und diefe Art Phi— Iofophie beforderte Nicolai in Berlin nicht blos als Schriftfteller und Verleger, jondern er führte in feiner A. D. B. auch eine ganze, Armee rüftiger und Feder Derfechter derfelben aufs Schlachtfeld.

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Nicolai und die allgemeine deutſche Bibliothek. Wieland, die Brüder Jacobi und der deutſche Merkur.

Die Kritif war in Deutfchland im Anfange des achtzehnten Sahrhunderts und in der ganzen eriten Hälfte deffelben in fo elenden Händen, daß man fait glauben follte, Gottſched fet noch einer der beferen Kritiker geweien, und wie verfuhr nicht diefer und die Greaturen, die unter feinen Fahnen dienten!! Als Gott- fcheds Fritifches Anfehn durch den gar zu groben Mißbrauch, den er und die Seinigen von ihren Journalen machten, untergegangen war, trieb Klot das gemeine Fritifche Spiel von Halle aus, wie es Gottſched in Leipzig getrieben hatte. Auch Klo, mie Gott— ſched, benußte die Kritif nur für niedrige, perfünliche Zwecke. Er pofaunte feine Clienten und Greaturen aus und fuchte jeden guten Kopf, jeden. Gelehrten, der die niedrige und gemeine Cameraderei verachtete, auf feine Art zu verhöhnen und herabzuſetzen; Die guten Deutjchen ließen fich aber bi8 auf unfere Tage, mo endlich alle kritiſchen Tribunale ihre Anfehn verloren haben, immer durch gelehrte Anmaßung leiten und in ihrem Urtheile beftimmen, Die Literatur war der Reihe nad von Gottſched, von Klot und dem elenden Riedel, von der allgemeinen deutſchen Bibliothek und von der all- gemeinen jenatjchen Literaturzettung abhängig, wir müflen deßhalb den Gang der Kritik Hier noch einmal berühren.

Deutfche Literatur: Riedel u. Klotz. 121

Klotz und Niedel waren Lente ohne Grundſätze und ohne Sitten, fie hatten aber Talent, und Klob war Meifter eines Teichten und fließenden Iateinifchen Styls, was in jenen Zeiten noch viel galtz auch hatte er einen Anhang unter Tiederlichen Studenten und unter denen, welche gern fahen, daß den hallefchen Pietiften ein Extrem der Leichtfertigkett entgegengefegt ward. Den Studenten gefiel das wüſte Leben, welches Klot führte, der burfchifofe Ton, worin er vom Katheder vedete, die Nenomifteret feines Schrift: ſtellerns und feines Fritifchen Unfugs. Beide, Klotz und Riedel, Herrichten durch eine ganze Anzahl fliegender Blätter, die ihnen zu Gebot ſtan— den, und Klotz galt für einen großen Kenner des Alterthums und der Kunſt, bis ihm Leffing und Herder mit einer Heftigfeit entgegen- traten, die fein elendes Publikum beftürzt machte. Sie beraubten den elenden Menfchen des ganzen Nimbus, den er zu der Zeit um fich. zu verbreiten gewußt hatte, als die Dämmerung der deutfchen Bildung noch nicht zum sollen Lichte geworden war, Da Klot auch mit Nicolai und der allgemeinen deutjchen Biblio— thef in Kampf war, fo mußte ihm Niedels Hilfe befonders jchäß- bar fein. Diefen berief der Kurfürft von Mainz, welcher der Univerfität Erfurt neuen Glanz geben wollte, nad) Erfurt, wo au) Wieland, der die Biheracher Kanzlei bis dahin geleitet Hatte, eine Zeit Yang lehrte. Auch diefen Lebtern wollte Klot durch Niedel an ſich ziehen; aber der praftifche Schwabe war ein befferer Diplo- mat als beide. Gr hielt fie allerdings, fo lange ex ihrer Poſau— nen bedurfte, bei guter Laune, ließ fich aber auf keinen Bund zur Kritik ein, ſondern fuchte fich ſelbſt ſobald als möglich ein Organ zu verfchaffen, weil bei der Mehrzahl der Lefer immer der Necht Hat, dev am Testen, am lauteſten, am flachften redet.

Riedel arbeitete, bis auch er mit Klotz zerfiel, an deſſen Bibliothek der ſchönen Wiffenfchaften und gab zugleich ſelbſt eine philofophifche Bibliothek heraus, worin unter feiner Leitung auf feine Weiſe vezenfirt ward, Dabei blieb aber Riedel nicht ftehen, er arbeitete auch noch an der Leipziger neuen Bibliothef und an andern Blättern, Tieß auch daneben Pasquillen, Satyren, Schmäh- jchriften ausgehen, wodurch er fich in Anfehen fette, weil man ihn fürchtete, Der weltkluge Wieland wußte, wie fchlecht Riedel war, er wußte aber auch, wie man in Deutichland Ruhm

122 Deulſche Literatur: Riedel u. Klotz

macht und zerſtört. Gr fürchtete Riedel, er gab ihm daher, wie wir aus feinen Briefwechſel fehen, viel freundliche Worte, aber er ließ ſich Hlüglich nicht mit ihm ein. Ste paßten auch nicht zufammen; Wieland war ein geregelten, vechtlicher Mann, Riedel ein Wüſtling.

Klotz Hatte schon lange durch lateiniſche und deutfche Kriti— fen weit umd breit über alle Magifter geherrfcht, er Hatte feine deutfchen Rezenſionen in den halleſchen gelehrten Zeitungen nie— dergelegt, ev gründete endlich 1767 noch dazu feine deutfche Bi— bliothef der ſchönen Wiffenfchaften, befonders für die Zweige der Literatur, deren er im feinem Yateinifchen Sournal (Acta litteraria) nicht erwähnen konnte. Es zeigte fich aber an ihm, wie. leicht der leere Dunft eines erfünftelten Ruhms zerftreut wird, wenn ſich Männer erheben, die dem Goloß, der die Welt in Erſtaunen und Furcht gefeht, die thörnernen Beine aufdecken, worauf feine ungeheuere Maſſe ruhte. Als zugleich Leſſing und Herder heftig und unerwartet über Klotz herfielen, war jedermann erfiaunt, Daß fich Leute gefunden hatten, die ihm nicht blos an Geiftund Kennt- niſſen, das war Teicht, fondern fogar an Heftigfeit und Derbheit überlegen waren, und feinen Grobheiten noch ftärfere entgegen- jegten. Auch Nikolai im zweiten Stück der allgemeinen dentfchen Bibliothek und im achten Bande derfelben that was er konnte, um Klotz in feiner Blöße darzuftellen. Klotz farb daher gerade zu vechter Zeit (1771), als er alles Anfehen verloren hatte, Nikolai und feine Bibliothek erbten die Herrfchaft über die deut— fche Literatur und übten fie, wie im unſerer Zeit die Unternehmer politifcher Blätter fie in der Politik geübt Haben.

Nikolai, der ferne allgemeine deutſche Bibliothek fait allein leitete und machte, ward bald fo Fee, daß fich endlich auch gegen ihn viele Stimmen erhoben, und daß man der unumſchränkten Gewalt ein Ende zu machen fuchte, die er als derber und eigen- mächtiger Neprälentant des auf Wolfs Philoſophie trokenden, flachen und reellen, aber gefunden Menfchenverftandes fich an— maßte. Gr glaubte über Philoſophie, Theologie und ſogar über Poeſie, wovon er gar keine Ahnung Hatte, mie über die Nezen- fenten feiner Bibliothek herrfehen zu konnen, Nicht bloß die von ihm verfolgten Schwärmer, Myſtiker, Orthodoren und Windma=

Deutsche Aieralur: Nikolal. 1

cher erhoben ſich gegen ihn, nicht bloß Hamann, Herder und Kant waren über ihn erbittert, ſondern ſogar Jakobi, der damals zwi— ſchen dem alten Syſtem und der berliner nach franzöſiſcher Art refleftivenden Weisheit einen mittleren Weg bahnen wollte. Auch Wieland trug dazu bei, der Einfeitigfett des neuen Tribunals ent— gegen zu wirken, Nikolai verfuhr mit dev Dreiftigfett und Ueber— zeugung von feiner Unfehlbarkeit, welche Empirifern, Autodidaften, und Halbwiffern, die bloß den Staats= und Hansgebrauch ber MWiffenfchaft im Auge haben, ebenfo, wie den fteifen Syſtemati— fern eigen zu fein pflegt. Da er nicht glauben Fonnte, daß irgend ein Ding außer feinem Gefichtöfreife liegen könne, fo flrich er nicht bloß in den ihm eingefihteften Nezenfionen das, was ihm nicht gefiel, weg, fondern Anderte darin nach Belteben und ſchickte ſogar den Rezenſenten eine Art VBorfchrift, wie die Kritif ausfallen Tolle, Er ſelbſt erzählt das ganz unbefangen und klagt, wie viel Mühe und Arbeit ihm diefe Obercenfur gemacht habe, wofür ihm nie— mand dankte. Weil er fich einbildete, daß er das Publikum amd den Zeitgeift zu leiten von Gott und der Natur berufen jet, ward er auch heftig erboßt, wenn irgend eine Erſcheinung, wofür ihm der Sinn fehlte, beſonders eine tiefere Philoſophie oder eine höhere Poefte fich ohne fein Zuthun geltend machte, Er verfäumte dann nie, diefelbe Art von Satyre, die ihm im Sebaldus Nothanker ‚gelungen war, weil er dies Buch im Geifte der Zeit verfaffet und Ih zum Organ derſelben gemacht hatte, in einen platten Roman zu bringen, Im diefen efenden Romanen wagte er dann gegen den Geift der Zeit jedes Gente und jeden Fühnen Schritt deifel- ben, jede Abweichung von Sulzers Negel zu verfpotten. Wenn man dies bedenkt, wird man begreifen, warum Göthe und Schil— Ver es der Mühe werth- halten konnten, den induſtriöſen Buch— ‚händler in den Kenten fo tingezogen, oder wie Schlegel und Con— ſorten es nannten, mit göttlicher Grobheit nieder zu fehimpfen. Es ſchien ihnen für Deutſchland nöthig, die Mittelmäßigkeit, die bei uns ſtets thront, von ihrem Thron zu ſtoßen. Aehnliche Verſuche find den Dämagogen unſerer Zeit theuer zu ſtehen gekommen. Die aſthetiſche Beurtheilung son Nikolais Romanen wird man hier nicht ſuchen, denn in diefer Beziehung verweiſen wir nicht bloß hier, fondern überall im Folgenden auf Gervinus Geſchichte

124 Deutſche Literatur: Nikolai.

der deutſchen poetiſchen Literatur, wir haben es bloß mit der nach— zuweiſenden Richtung und Wirkung der Bücher auf das vo Leben zu thun.

Der erfte Verfuch, den Nikolai mit einem jatyrifchen Ba machte, war im Sinne der neuen Zeit gegen bie alte; er machte, zu Gunſten der damals noch Eleinen Anzahl der Freunde von Fried- richs Grundſätzen unter den Bürgern Berlins, das Syftem Fried- rich Wilhelms und die damals in Berlin der Zahl nach ſehr an- jehnlichen Vertheidiger deffelben lächerlich. Die eigentliche Macht der Zeloten war zwar gebrochen, aber die Amtskleidung, das Pol- tern auf den Kanzeln, das Seufzen und Achſelzucken machte fie noch allmächtig im Volke, darum trifft Nikolais im gewöhnlichen und breiten Ton gehaltene Satyre auch vorzüglich dieſe Neben- ſachen. Als Buchhändler gab er feinem Leben und Meinun- gen des Magifter Sebaldus Nothanfer dadurch einen Reiz, daß er den Roman durch Chodowiecki, der damals durch jeine Küpferchen großes Aufjehen machte, mit Kupfern verfehen ließ, auf denen man an der Geberde, am Hut, an der Manier, mit welcher er abgenommen ward, an der Art, den Mantel zu tra= gen, alle bekannte hyperorthodoxe berliner Pfarrer Teicht erkannte. Das Buch hat freilich einen jehr geringen Afthetifchen Werth und macht, wie ſchon die angeführten Kupfer beweifen, mehr einige an beftimmten Orten mächtige Geiftliche und ihre orthodoxen Ver— fehrtheiten, als dieje jelbft, Kächerlich, fonft würde es jetzt wieder zu gebrauchen fein, wenn auch Styl, Sprache und Ton fich ver- ändert haben. Das Buch tft indeſſen für den Forſcher deutfcher - Sitten, für die deutfchen Lebensyerhältniffe und die Literatur des achten Sahrzehents des vorigen Jahrhunderts auch darum bedeu- tender als Nikolais andere Romane, weil Alles, was fich darauf bezieht, ganz innerhalb Nikolais profaifchem Gefichtöfreife lag. Zu verwundern ift nur, daß vom Sebaldus noch im Jahre 1799, als fich Alles geändert hatte, eine vierte Auflage gemacht werden fonnte.

Die Gemeinheit des Verfaſſers wird man auch daran er= fennen, daß er jchon in der zweiten Auflage, gleich dem fchlechten Autoren, die fich auf gute Rezenfionen berufen oder fich Ueber— jeßer auftreiben (die erſte Frage, die ein Deutfcher thut, ift immer,

Deutfche Literatur: Nikolai. "125

ift das Buch überſetzt?), darauf pocht, daß fein Roman ins Dänische, Holländiſche, Franzöſiſche, überſetzt ſei. In diefer zweiten Auflage (von 1774) erklärt er auch ausdrücklich, daß er nicht Habe einen Roman dichten, fondern nur belehren wollen; daß er nicht Begebenheiten erzählen, fondern gegen Fanatismus, Aderglauben und Heuchelet eifern wolle. Mein Zweck iſt, fagt er, bie orthodoxen und heuchlerifchen Getftlichen der proteſtanti— ſchen Kirche dem Gelächter und der Verachtung blos zu ftellen und ang Licht zu bringen, daß fie ſtets ihre eigene ſchlechte Sache zur Sache des Standes und der Religion, oder vielmehr des all- mächtigen Gottes felber machen; zu zeigen, wie fie, über einreiſ— fende Irrthümer, über Unglauben und Gottesläſterung fchreiend, doch nur von ihrer eigenen Unwiffenheit, Gleißnerei, Verfolgungs- fucht und von der in den Mantel der Frömmigkeit gehüllten Bos— heit ihres eigenen Herzens reden. Unglücklicherweiſe, fügt Nikolai hinzu, bedenken diefe vorgeblichen Wächter Zions nicht, daß fie durch ihr jämmerliches Gefchrei nur allzudeutlich zu erfennen ge— ben, daß fie felbft zu der im Sebaldus gebrandmarkten und wollte Gott! weniger ausgebreiteten Bamilte der Stauziuffe gehören, und ſich felbft verdammen, indem fie ihrem Ankläger das Urtheil zu Iprechen meinen.

Sich felbft, feine Manier und fein Urtheil in Sachen des Geſchmacks und der Dichtung charakterifirt übrigens Nikolat da— durch fchon, daß er ein fo plumpes Buch, wie er es ſelbſt in den aus ihm angeführten Worten ſchildert, in der Form der Fort- jegung eines leichten und leichtfertigen Scherzes einführt, Thüm— mels Wilhelmine ſoll nämlich durch diefen derben Sebaldus fort- gefegt werden, weil ja der Magifter ald Gemahl der Wilhelmine ung als alter Bekannter vorgeführt wird.?s) Nikolais Orthodoren und feine Pfarrer, fein Präſident des Conſiſtoriums, feine Stau— zius und Truffelius find zu fehr Sarricaturen, als daß wir aus ihren Reden und Thaten irgend einen Zug ihres Zeitalters ablei-

ten möchten, Hiftorifch wichtig und für Nikolais Perſönlichkeit

28) Darüber Hat Hamann In einem an Nicolat ſelbſt gerichteten Briefe ganz vortrefflihe Bemerkungen gemacht. Er faßt das Pfropfen des Sebaldus anf Thümmels Wilhelmine noch yon einer andern Seite als wir hier,

126 Deutfhe Literatur: Nikolat;

bezeichnend iſt dagegen befonders das zweite Buch des erſten Theils, wo und Nikolai die ganze Literatur feiner, Zeit, worüber er ſchon im erften Buche nach feiner Manier geuvtheilt hatte, mit der ihm eignen Keckheit vorführt, Aus der Art, wie er alles buchhänd— ferifch und son Außen betrachtet, wird man erfennen, wie übel e8 mit unferer Literatur. ausfehen mußte, fo lange ein folcher Mann ohne Achte Philoſophie oder Poeſie unbedingt über fie regierte.

Er gibt der von Voltaire gefertigten deutſchen Geſchichte vor allen gelehrten deutſchen Arbeiten den Vorzug, weil der Franzoſe wie jeder andere Fabrikant dem Publikum nur dasjenige vortrage, was es wiſſen wolle Auf dieſelbe Weiſe zieht er auch Wolfs Logik in deutſcher Sprache, wo Denken gelehrt wird, wie Landmeſſen, der ganzen Philoſophie des von Kant ge— prieſenen und empfohlenen Cruſius vor, der freilich kein Ideal war, In dieſem Abſchnitt, ſowie im Anfange des folgenden in ‚einem Geſpräche über Buchhandel kommen übrigens ganz vortreff⸗ liche Bemerkungen über deutſche Gelehrfamfeit, über, unfere Ge— Vehrten, wie man fie noch immter findet, und über das ſchiefe Ver— hältniß der deutſchen Literatur zum Leben vor, die auch in unfern Tagen noch brauchbar find,

Die Schilderung der beiden, Jacobi und ihres Weſens und Treibens ift eins der beiten Stüde im ganzen Sebaldus Nothau— fer; denn das Vornehme, das Süßliche, das Galante und ich ſelbſt und die lieben Verwandten und Bekannten Vergötternde wird zwar fehr hervorgehoben, aber doch das Gutmüthige, das Anz fehuldige der fo ganz harmlos eiteln Selbfibewunderung dabei nicht vergeſſen. So heftig die Jacobis und ihre Freunde Durch dieſe Schilderung gereizt wurden, fo war fie doch weniger hämiſch als das Verfahren gegen die orthodoxen berliner Geiftlichen, deren Perfonen man nicht bloß in Nikolais Befchreibung, fondern au auf den beigefügten Kupfertafeln erkennt. Der Dogmatik und Aſcetik dieſer Herrn ſetzt Nikolat des Herrn von Rochow Grund- ſätze und wahres Verdienſt um Wohlftand und Sitilichfeit des Volks entgegen. Dieſen führt er indeffen namentlich an und preifet fein Verdienſt. Wiefand war, damals noch eben fo erbittert als Nikolgi üher den Obſcurgntismus proteſtantiſcher Theologen und

Deutfche Literatur: Wieland. 127

über die Süßlichkeit gewiſſer Liederdichter und Sänger Blatoni- fcher Liebe in Betrarcas und Klopftodd Manier, er Tobte daher in feinem Merkur (IL. ©. 231.) den Sebaldug im Borbeigehen, und wäre darüber bald mit den Brüdern Jacobi zerfallen, deven Hülfe er doch bet feiner neuſten Speeulation benust hatte, Wieland hatte fich nämlich mit. F. H. Jacobi vereinigt und hatte fich mit deffen Hilfe um 1773 ein Organ für belletriſtiſche Literatur ‚gefchaffen, wie Nicolat an der allgem. deutfihen Biblio— thek eins für das gelehrte Fach hatte. Wieland verichmähte Feine Art von Handelsklugheit, um feinen Titerarifchen Produkten ein großes Publikum zu. verfchaffen, To weit diefe nur immer mit feinem ſonſt ganz vechtlichen Charakter zu vereinigen war. Aus Politik fchrieb daher auch Wieland, als er noch in der Kanzlei feiner Baterftadt der Erlöfung harrte, an Riedel in dem albernen und übertriebenen Ton überfchwänglicher Freundſchaft, den er ſchon damals nicht billigte, er hütete fich aber wohl, mit Klot in den Bund zu treten, und fchloß fich an Jacobi an, deffen ariſtokratiſche Freund⸗ jchaft ihm beſſer diente, Wieland erreichte feinen Zweck; eine unten angeführte Stelle aus feinem Briefe wird zeigen, welchen Ton die Herrn damals unter einander und hie und: da in der Geſellſchaft eingeführt hatten. 29) Derfelbe Ton herrſcht auch in der ganzen Correſpondenz zwifchen Wieland und Jacobi. Riedel pofaunte übrigens Wieland nicht Hlos auf feine Weiſe als den einzigen ‚wahrhaft großen Mann feiner Zeit aus, fondern er bes wog auch den Statthalter des Kurfürften von Mainz (den Herrn son Breidbach) in Erfurt, ihn aus Biberach zu erföfen und der neuen damals in Erfurt begründeten Bildungsanftalt, die mit der beftehehenden Univerfität nur loſe zufammenhing, einzunerfeiben. Diefer ephemeren Anftalt müffen wir hier gedenfen, weil fie zu

29) Er ſchreibt ihm: Ich liebe Ste mehr, als th jemals einen vom Weibe Gebornen geliebt Habe, denn niemals habe ich noch den gefunden, deſſen Seelengeficht dem Meinigen fo ähnlich gefehen Hätte, als das Ihrige. Hudibras und Triſtram find Ihre Leibbücher und Sie haben eine Dunetade fertig Liegen Sie haben den Trappen geſchoſſen (Anfptelung auf Riedels elendes Pasquill der Srappenfhüß), der mir trotz aller

Nieolats und Sofias tn der —* um hat, ehe me der Autor war u. ſ. w.

128 Deuiſche Literatur: Wieland,

den merkwürdigen Wirkungen und Grfcheinungen jener nach gei= jtiger Bildung und nad) Freiheit jeder Art ftärfer als nach ma— teriellen Fortſchritten ſtrebenden Zeit gehört, Ä Man hoffte namlich durch die Berufung einer Anzahl junger, dem Jeitgeift Huldigender Männer dem alten Erfurt einen jungen Glanz zu geben, und Riedel, der den Statthalter ganz unbedingt leitete, rieth ihm an, durch Wielands Namen, der damals fehr berühmt war, Studirende herbeizuziehen. Bon Breidbach wollte ſogar einmal Niedel und Wieland an die Spite der ganzen An— ftalt ftellen. Außer Riedel und Wieland berief man Meufel, zwei Schmid, Schorch und C. 5. Bahrdt, Weder zu Riedels noch auch zu Bahrdt3 und ihres Mäcenas wüften Leben paßte ein ernfter, geſetzter Mann wie Wieland, der gleichwohl als afa= demifcher Lehrer das Seinige Teiftete, Er lehrte mit Beifall und fleißtger als irgend einer der andern, auch zog er ein Paar hun- dert Studenten dahin, fand aber bald, daß er auf Feiner deut- ſchen Univerfität an feinem Plate fei, am wenigften in Erfurt, wie es damals war, und unter den lockeren Leuten, die man dort verfammelt Hatte, Er nahm die ihm angebotene Stelle eines Erziehers des nachherigen vegierenden Herzogs von Weimar gern an und zog nach Weimar, Hier machte er (1772), wie er und ſelbſt gefteht, fogleich den Entwurf, feiner Familie völlige Aufere Unabhängigkeit durch Titerarifchen Erwerb zu fichern, und leider! ward feine ganze Schriftftelleret diefem Plane angepaßt. Seine überzarte und jchwärmerifche Freundin, die Frau de In Roche, brachte ihn mit F. H. Jacobi in Verbindung, und fie correſpon⸗ dirten zufammen, wie Oreſtes und Pylades würden correſpondirt haben, wenn fie Bücher gefchrieben hätten,

Der Briefwechfel, den Sacobt und Wieland und ihre zartfühlende Freundin damals führten, ift jett gedruckt zu leſen, 30) und zeigt wie die vielen andern gedruckten Briefe berühmter Gelehrten, wie heil— fam es war, daß die fogenannten Kraftgenies, denen fich zuerit ſogar Göthe anfchloß, fich dem Gewinfel und Gepinfel der Pe— trarchiften derb widerſetzten. Der fade und füßliche Ton, der in

30) Friedrich Heinrich Jacobis auserlefener Briefwechſel. In zwei Bän⸗ ben, Leipzig bei Gerhard Fleiſcher 1825. FM, 8.

Dentfihe Literatur: Wieland, 129

den Briefen herrſcht, ward nämlich in allen nur einigermaßen gebildeten Familien angeſtimmt, die Jugend ward hineingezwängt; dies mußte Heuchelei hervorrufen, wie es der frühere pietiſtiſche und übermäßig ſtrenge religiöſe Ton gethan hatte. Wir ſehen gleichwohl aus dieſer Correſpondenz, daß die beiden Herrn, trotz aller Zartheit, dennoch das belletriſtiſche Journal, wodurch ſie ihre Arbeiten erſt als Proben ins Publikum bringen wollten, ganz diplomatiſch berechnet hatten. Wieland ſollte den Namen herge— ben, weil er im großen Publikum beliebt war, F. H. Jakobi, der mit aller Welt in Berührung ſtand, ſollte nicht allein Mitarbei— ter werben, ſondern er erbot ſich auch, aus ſeinem eigenen Beutel dieſen Mitarbeitern das Honorar zu erhöhen, wenn anfangs der Ertrag des Journals nicht ausreichen ſollte. Wielands dem deut— ſchen Merkur als Aushängeſchild dienender Name ſollte F. H. Jakobis Arbeiten, aber zugleich auch die ſeines Bruders, Johann Georg, durch ganz Deutſchland verbreiten. F. H. Jakobis halbfranzöſiſche Bildung wollte dabei ſonderbarer Weiſe das Muſter eines deut— ſchen Merkurs und des Tons, der darin herrſchen ſollte, von Paris entlehnen.

Jakobi ſchreibt, wenn auch nicht wörtlich, doch dem Sinne ſeiner Rede nach: Er denke, man müſſe, wie man neben andern Pariſer Moden, um die Deutſchen zu den Franzoſen emporzuheben, den Pariſer Almanach des Muses durch einen deutſchen Muſenal— manach unter die vornehme deutſche Welt verpflanzt habe, ſo ihr

auch in einem deutſchen Merkur den Mercure de France ſchenken.

Dies ſind Wielands eigne Worte im Vorbericht zum erſten Stücke des Merkurs, und Jakobi hatte in der Stelle eines Briefs an Wieland, die wir unten anführen, 3) ausdrücklich ausgeſprochen, das Journal müſſe, wie der franzöſiſche Merkur, nur für die Toiletten der Damen und für parfiimirte Herrn mit gelben Hand-

nn Un

31) Er theilt (Briefe J. S. 67) Wieland am 10. Aug. 1772 mit, daß er gern an feinem Projekt, eine Buchhandlung zu errichten, Antheil nehmen wolle und feinen Bruder und Gleim dazu ziehen, denn der ftehe mit der halben Welt in Verbindung; dann fügt er hinzu: Das Journal, wovon ih Ihnen von Koblenz fehrteb, müßte ein Ding fein, wie der Mercure de France. Wir müßten es fo fihreiben, daß es nicht für Gelehrte allein, fondern au für Damen, Edelleute u. d. m. Intereffant würde.

Säloffer, Geſch. dr 19 m 49 Jahrh. IV, Th. 4 Aufl. 9

130 Deutſche Literalur: Wieland u. die Jalobi's.

ſchuhen eingerichtet ſein. J. G. Jakobi ſollte petrarchiſch ſingen, Wieland der ſchönen Welt unreine und F. H. Jakobi gekünſtelte Proſa darbringen. J. G. Jakobi, Klamer-Schmidt und eine, An— zahl Anderer, deren Mäcenas und Anacreon Gleim war, paßten zu Sängern bei der Toilette vortrefflich; Wieland war aber zu Hug, um dieſe Platoniker und Petrarchiſten ſehr zu begünftigen. 3. ©, Jakobi entiprach ganz dem Bilde, welches Nifolat im Se— baldus von ihm: entworfen hat, Er war son Halberftadt bie nad) und in Freiburg im Breisgau bei allen zarten: Damen, bei allen ſüßen Herrn und in allen Kreifen, wo man Tableaux vor— ftellt, Spruchwörter aufführt, Romane und Gedichte am Theetifche vorlieſet, ganz außerordentlich beliebt. Gleim hatte ihm ein: Ca⸗ nonicat in Halberftadt verfchafft, und er tändelte und mwinfelte in vielen. Banden son Gedichten viele Fahre lang fort, denn ev ift erft 1813. in Freiburg. geftorben. Die Beurtheilung diefer Ge— dichte, die. erſt in unſerm Jahrhunderte, in vielen Banden geſam— melt und neu aufgelegt wurden, alſo gewiß: viele Bewunderer ge— funden haben, gehört nicht in Diefes Werk, Es mag. genug‘fein, zu jagen, daß fie ganz im Ton und in dev Manier der efel- haft ſüßlichen und empfindfamen Correſpondenz mit: Wieland ge- Ichrieben find. Wieland. mußte daher auch: am beiten willen, ob Nikolai das Bild. Jakobi's und der großen Familie der son Hohen- anf Deutſchlands im Sehaldus- richtig getroffen. habe. Im den gedruckten Briefen. F. H. Jakobis an Wieland herricht: derjelbe ganz unnatürliche Ton, wodurch der. Briefwechſel Klopftods mit feinen Freunden und Freundinnen. dem durch: Erziehung an Fafelei nicht: gewöhnten, Zefer, der nur wahre Gefühle kennt und er= fünftelte verachtet, unleidlich gemacht: wird. Für dieſen Kreis: arbeitete F. H. Jakobi ausfchließend, er vergeudete daher eine phi- loſophiſche Kraft, welche auch ſogar Fichte ehrend anerkennt,32).

32) Site, der. ſonſt mit Jalobi in Streit war, gibt ihm ein: ſehr vor⸗ theilhaftes Zeugniß in: Friedrich. Nikolais Leben und fonderbare Meinungen von Johann. Gottlieb Fichte: Herausgegeben von A. W. Schlegel. Zübin- gen Cotta. 1801. ©, 40—41, Wir führen die Stelle an, weil wir. weder über Jalobi noch über Philoſophie abſprechen, ſondern nur unfere Meinung, aussprechen wollen, |

Deuiſche Literatur: Wieland u. bie Jalobis. 131

an ein Publikum, welches, ſeiner ganzen Lebensweiſe nach, aller Einfalt feindlich geſiunt und von Natur jeder ernſten Philoſophie, welche kühn neue Bahnen bricht, ganz unfähig iſt. Eine ächte Philoſophie, eine Erhebung über das gewöhnliche Leben und ſeine faden Alltagsgenüſſe kann aus den Salons und dem modiſchen Weibergeſchwätz niemals hervorgehen. F. H. Jakobi, ſo ſehr er in ſeiner Zeit auch berühmt und angeſehen war, hat daher auch fein Werk hinterlaſſen, welches feinem Verfaſſer einen bedeuten- den Plab unter der Philoſophen oder Dichtern dev Nation ſicherte. Wenn man fragt, wodurch ev in feiner Zeit fich auszeichnete, fo muß man, fo hart das: fcheint, antworten, durch einem eleganten philoſophiſchen Dilettantismus und durch, einen künſtleriſch gebil- beten Styl, den er wie Büffon zur Hauptfache macht; Er Hatte darin inſoweit Recht, als es viele Menfchen gibt, die ſich an der bloßen und leeren Form ergötzen können. An dieſem Styl nimmt man überall wahr, was man: ar einen: eigentlichen Kunftwerfe nie merken darf, mit welchem unermüdlichen Fleiße er bis zur Lächerlichkeit ſich in den ſogenannten afademifchen Styl der Frans zoſen hineingearbeitet hat. Außer dem Styl war Jakobs Haupt⸗ fach ein Ding, das halb Dichtung, halb Philoſophie war, jedoch für Philoſopie galt; die Halbheit und folglich die Anmaßung und Eingebildetheit ſeines Treibens erklärt ſich uber leicht aus feiner Bildung und Umgebung.

F. 9. Jakobi war urſprünglich Halb Kinfinanie; halb Ge⸗ lehrter, halb durch deutſche Lektüre, halb durch einen franzöſiſchen Gelehrten und durch Genfer Bekanntſchaft gebildet; er war zufällig ſehr reich geworden, war gutmüthig, auf Pempelfort gaſtfrei, freundlich, auch wohl freigebig; ganz: unbeſchreiblich Fin: ſich ein— genommen, aber in keinem einzigen: Dinge eigenthümlich. Seine Schweitern, alle feine Bekannten, feine Clienten, feine Freunde vergötterten ihn, fie. betrachteten ihr: als ein wunderbares: Weſen, under orafelte mit: einer: impontvenden: Majeftät im’ Verkehr: des Lebens, wie in feinen Büchern; alle’ Natur war ihm daher fremd geworden, Kunſt ward bet ihm zur Natur, Wieland, dev in’ fet= nem ganzen. Weſen und. im Haufe- durchaus natürlich, einfach, und liebenswürdig war, gebrauchte. und behandelte. feinen Freund Ja— kobi gerade fo, wie er fein gemiſchtes und verſchraubtes Publikum

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132 Deutſche Literatur: Wieland u. die Jakobi's.

zu behandeln pflegte. Die Freundſchaft blieb nur in den Zeiten ganz warm, als Jakobi noch nicht mit Hamann, mit den Stol— bergs, mit der Gallizin u. ſ. w. Breundfchaften des Myſticismus geknüpft hatte, Doch war. ihm jelbft der Myſticismus fo wenig natürlich, daß er ihn ſpäter Leicht wieder. abftreifte.

- Der Gedanfe, einen deutfchen Merkur als Nachahmung des _ franzöſiſchen zu ftiften, Fam. übrigens den beiden. Freunden exft, als in Norddeutichland (1772) Gotter und Boje mit ihrer Nach— ahmung des Pariſer Muſenalmanachs Glück machten. Jakobi und Wieland faßten den Gedanken faſt zu gleicher Zeit ganz unab— hängig von einander. Wieland ſowohl als Jakobi hatte die Ab— ſicht, ſeine Schriften zuerſt durch dieſe Monatsſchrift zur Kenntniß des Publikums zu bringen, um fie hernach verbeſſert mit Sicher— heit herausgeben zu könnnen. Jakobi's Bruder ſchien anfangs für das Publikum des Merkurs ein paſſender Sänger; Wieland, der das. Einträgliche dabei. jcharf im Auge hatte, fand aber bald, daß fein Publikum ein ganz anderes fei, als das ber zarten und füßen Sänger an der Wefer und Elbe, deren Arbeiten er felbft in ge= ringerem Werth hielt. Dies fagt er ſelbſt gleich im erſten Stück des Merkurs, wo er den Verſen J. ©. Jakobi's einen Platz ein- geräumt hatte, in einer Nachſchrift, die dem zarten Dichter unmög— lich gefallen Fonnte.33) Auch den matten Aufſatz in Proſa, Char— mides und Theone, oder über die ſittliche Grazie, der durch mehre Stüde hindurchläuft, nahm er fehr Falt auf, fo daß die beiden Brüder feine bilfigende Anzeige des Sebaldus, wo 3. ©. Jakobi als Herr son Säugling erſcheint und Ritblai⸗ Witz über ihn mit Beifall erwähnt wird, im Julius-Stücke des Jahrs 1773 bei der Gelegenheit nothwendig als förmliche Miß— billigung ihrer vornehmen Zärtlichkeit anſehen mußten. Beide ge—

33) Die Gedichte Jakobis füllen gleich die erſten Blätter des Merkurs, Wieland ſetzt aber Seite 31 einen Epilog hinzu, der mit folgenden Worten beginnt: Ich wünſche eben nicht, daß die Leſer diefe poetifchen Kleinigkeiten, (die. man für nichts mehr gibt, als was fle find) zum Maßftabe deſſen, was fie in diefem Fache som Merkur zu erwarten haben, nehmen mögen. Ich Hoffe nicht nur, fondern kann es auch zuverſichtlich verſprechen, daß von Bett zu Seit Stücke yon weit beträchtliche rem Werth geliefert werben ſollen.

Deutsche Literatur: Wieland u. die Jakobi's. 133

viethen in große Wuth. Friedrich Heinrich drohte mit einem Bru- che, und zeigte bei der Gelegenheit die Schwäche der Art Phi— (ofophte, auf welche er ſtolz war, Er betrachtete es als per- fonliche Beleidigung, daß Wieland nur überhaupt Nicolat in ir— gend einem Stücke zu loben wagte, er ſcheute fich ſogar nicht, ihm dies mit ausdrücklichen Worten zu fchreiben. 34) Friedrich Heinrich Fand es indeffen vortheilhaft für den Ruhm, den er fo angftlich fuchte, bei Wieland zu beharren und’ diefer war froh, daß er der fehwachen Profa und den matten Verſen 3. ©. Ja— cobis in feinem Journal feinen Platz mehr geben durfte. Mit der Götterbötin Iris, welche J. ©, Jacobi dem Götterboten Mercur entgegenſetzte, wollte es nämlich nicht recht fort.

Auch zwiſchen Wieland und Nicolat entſtand gleich darauf eine Spannung, als der Xebtere zu anmafend ward, und in ſei— ner derben und platten Manier, feiner eignen Reltgton, oder dem Dinge, welches er Deismus nannte, zu Gefallen, die bejtehende Bolfsreligion und die in ihr enthaltene Bhilofophte der Urzeit und des Orients mit einer Ahnlichen platten Satyre verfolgte, wie ‚die war, deren er fih im Sebaldus gegen die herrfchfüchtigen und dummen SHeuchler bedient Hatte, Im dem Streit, der über Ni- colais neuen, durchaus platten und elenden Roman, der auch fo= gar diefen fo wohlfetlen Titel nicht einmal verdient, zwifchen Ni- colai und Wieland entftand, deckten die beiden Herrn dem deut— ſchen Publikum ihre eigenen Bloßen vollig auf, Sie waren fehon früher im Sabre 1775 in Streit gerathen, als Wieland feine Unzufriedenheit über die Art, wie feine Bücher in der A. D. B.

34) Die fehr lange Expoſtulation beginnt (Briefe I. ©. 125) mit den Worten: „Das uneingefchranfte Lob, welches die A.D.B. zweimal im Mer- eur erhält, tft mir ebenfalls im höchſten Grade anſtößig gewefen, Ste ſelbſt, mein lieber Wieland, geftehen, es werde in dieſem Journal von Georg und feinen Werfen in einem impertinenten Ton geſprochen; aber das tft viel zu wenig gefagt: Alle Achtung, die man dem Gente fohuldig tft, wird darin lau⸗ niſch unter die Füße getreten. Wie abſcheulich tft nicht der ehrwürdige Gleim behandelt! Und den Herausgeber nennt Wieland öffentlich einen Mann von Verdtenft.” Wie armfelig! Wenn Leute, welche Philofophen fein wollten, fo redeten, was follten dann Shen tum, die «über Preffe und Polizei ariſtokratiſch herxſchten?

134 Deuiſche Literatur: Wieland u. die Jacobi's.

vezenfirt wirden, laut zu erfennen gab. Nicolai unterftand fich, in den vier Banden von Johann Bunkels Leben Bemer- fungen und Meinungen, feine eignen bürgerlichen und für feinen eignen Hausgebrauch vielleicht paffenden, ganz unverdau⸗ ten Borfteflungen von Religion, untermifcht mit den abgeſchmack— teften Gefchichten und Erzählungen, den Lehren. dev chriftlichen Dogmatik mit frecher Keckheit entgegen gu ſetzen und einen Ber- Yiner Bürgersmann feiner Art zum Ideal zu machen. Diefe Ge- legenheit ergriff Wieland, um ihn endlich aufmerkffam gu machen, daß nicht alle Welt urtheile, wie man vielleicht in der Mark und in Pommern zu urtheilen pflege. Bet der genauen Unterfuchung über Natur und Tendenz dieſes elenden Romans im Juli-, Au- guſt⸗ und Oktober-Stück des deutfchen Mercurs von 1778 fiel Wieland Hei der Verdammung des Buchs und gelegentlich des Verfaſſers, der fih darin keck und aufgehläht den Lefern aufdrängt, allerdings gegen feine Gewohnheit in einem unfchieflichen Ton. Er enthüflte indeſſen doch den deutfchen Gelehrten, wer der Mann jet, der die Literatur damals leitete. Bergleicht man die gedrud- ten Grffärungen der beiden poetifchen und induftriellen Hänpter der einen Seite der deutjchen Literatur, dann fieht man exit recht ein, wie glüclich Deutjchland war, daß die in Göttingen verei- nigten Barden, Göthe, Herder, Lefling, jeder für fich eine andere Seite derfelben bildeten. Beide erfcheinen auf verfchtedene Weife gemein, denn Nicolai will auch die veligiofen Gefühle des Men- ſchen und bie Spefulation einer contemplativen Zeit unter die ge— meine, auf Efien, Trinken und finnliche Beluftigung eines ganz gewöhnlichen Berliners abztelende Klugheit herabwürdigen, und der in Gedichten fo Teichtfertige Wieland ſpielt als Vertheidiger des von Nicolai befudelten Lehrbegriffes eine erbärmliche Noffe.35)

35) Es tft Hier ganz allein vom deutſchen Leben und von der DVerbeffe- zung bes Tons unferer Gefelligfeit in Geſellſchaften und im häuslichen Kreife die Rebe, fo wie von der Entfernung gar zu Heinlicher veutfcher Küche- und Keller⸗Betriebſamleit. Man muß zu biefer Abficht der Sergliederung des No- mans in den drei angeführten Stüden von Wielands Mercur Iefen und mit Nicolais ausführlichen Antworten vergleichen. Nicolai beantwortete Wielands ſcharfe Kritik der Bunfeliade zuerft im Anhange zum 15. bis 36. Bande ber N. D. B., auf 2 Bogen, und replicirte hernach, als Wieland ihm im Mer-

Deutſche Llteralur: Wieland u. die Jacobi's. 135

Wieland und Jacobi brachten indeſſen ihren Mercur At lich in die Welt, und der Erfte wußte ihn, trot der vielen Lücken— büßer, die er aufnehmen mußte, durch alle Künfte eines geübten - Buchhändlers ins Publikum zu bringen und, was mehr war, ihn zu erhalten. J. G. Jacobi war mit feiner Iris nicht fo glück— lich, obgleich fein Bruder, Friedrich Heinrich, ihn Anfangs mit einem Artikel unterftüßte, der vielleicht zu feinen beften Arbeiten gehörtz; auch fogar Göthe ward bewogen, fich zum Ton der Thee— tifche dev Göttinnen des zarten Dichters und feines Olymps herab zu Yaffen, Auch Göthe vertraute das Produkt feiner Muße ber Bötin diefer Göttinnen, der zarten Iris, an. % H. Jacobi gab Anfangs Allwills Briefe in feines Bruders Journal, er ließ aber weislich die Fortfegung durch Wielands Mercur verbreiten, weil die Iris feine Lefer fand. Göthe, der jedes Tons und jeder Manier Meifter werden wollte, fehrieb für die Iris, ihrem Pub— likum fich anfchmiegend, ein Drama, Diefes Drama in Jacobi's Art gab er hernach werbeffert unter dem Titel? Erwin und Elmire, ein Schanfpiel mit Sefang, 1776 in Berlin heraus,

In demfelben Jahre, in welchem Göthe fein Stück aus dem Heinen Kreife der Leer der Iris ins große Publikum brachte,

eur erwiedert Hatte, im 1. Stud: des 37. Bandes der A. DB, noch ein: mal auf 21/5 Bogen. Dieſe beiden Schriftchen ſind dann hernach zuſammen gedruckt (72 ©. 8.) Berlin und Stettin 1779 als Flugſchrift ausgegeben. Beide werfen ih Auspsfaunen und Geltendmahen ihrer Schrif— ten durd gemeine Kniffe und Gelvprelleret des Publikums vor, und Keiner weiß dem Andern genügend darauf zu antworten, Nicolats Gemein— heit liegt in feiner ganzen Manier; Wieland tft gröber, Als Probe mag dienen, daß es heißt: „Diefer Bunfel fet das ſchaalſte, plattefte, impertinen⸗ tefte Buch, das aus dem Gehirne eines nonconformiſtiſchen, ſtoiſch-chriſtliche Moral ſchwatzenden und Bachanalia lebenden mißgeſchaffenen Dritteldings von Delsmus, Pietifteret und Cpifureismus hervorgegangen.“ Diefer Bunker, heißt e8 ferner, fet ein chriſtlicher Deiſt und feine fogenannten, ganze Alpha⸗ bete von gebrudter Macufatur füllenden Bemerkungen und Meinungen, ein wäfferichtes, kahles, ſophiſtiſches Gewäſche gegen gewiffe ihm verhaßte Artikel des chriſtlichen Lehrbegriffs, wovon nicht ein einziger Einwurf gegen die Or⸗ thodoxen nicht fon, wer weiß wie Kr son feines Gleichen vorgebracht worden.

136 Deutſche Literatur: Jacobi.

erſchien auch F. H. Jacobi’ poetiſch-philoſophiſches Produkt, dei= ſen Anfang er in der Iris unter dem Titel Allwills Briefe bekannt gemacht hatte, in verſchiedenen Stücken des Mercur voll- ſtändig. Er hat nach ſeiner Art hernach immer ſo viel daran corrigirt und friſirt, daß die Ausgabe in ſeinen Werken der erſten gar nicht mehr ähnlich ſieht. Dieſe ihrer Zeit ſehr berühmten ſentimental⸗äſthetiſchen, philoſophiſch genannten Briefe findet man in ihrer ganz und durchaus veränderten Geſtalt im erſten Theile der neuſten Ausgabe von Jacobis Werken. Wir können dem Büchlein keinen beſondern Einfluß auf die Zeit, wovon hier ganz allein nur die Rede ſein kann, zuſchreiben, bemerken daher nur beiläufig, daß uns immer noch der Brief, welcher eine Parallele des Schickſals des unglücklichen Ludwigs XVL mit dem des Oe— dip auf Kolonos, wie es Sophokles beſchreibt, der vorzüglichſte ſcheint. Auch Jacobis zweiter philoſophirender Roman, Wolde— mar, erſchien zuerſt fragmentariſch in Wielands Mercur. Auch dieſer Roman fand ſein Publikum und ward nach und nach ganz umgeſtaltet, gab aber doch Schlegel Stoff zu einer ſehr ausführ— lichen Kritik, die jetzt, wie der Roman ſelbſt, längſt vergeſſen iſt. Man findet darin die ganze Jacobiſche Familienumſtändlichkeit, die Leute quälen ſich über nichts, ſie grübeln zum Zeitvertreib, machen jedes Gefühl und jede Aeußerung wichtig, vergöttern im— mer einander. Jacobi und Wieland trennten ſich indeſſen bald nach der Errichtung des Mercurs, worin beide, wie die Frau Georges Sand zu Louis Philipps Zeit in den Revüen, ihre Arbeiten dem Publikum erſt ſtückweiſe vorlegten, ehe ſie unter beſondern Titeln erſchienen. Um dieſelbe Zeit erhob ſich eine andere Gene— ration von Dichtern und Schriftſtellern, die naͤher —*

als Wieland,

—X

Goöttinger Barden. Idylle. Empfindſamkeit, Särtlichkeit mitten im deutſchen Leben. Werther, Siegwart, Campe, Salzmann, Peſtalozzi, Romanfabriken.

Es bildete ſich in dieſem Zeitraum nach und nach eine ganz neue Aeſthetik, und auch ſogar auf den Univerſitäten und gelehr— ten Schulen nahm man nach und nach Rückſicht auf die Forde—

Deutfche Literatur: Göttinger Barden. 137

rungen, welche son den in Baſedows Geiſt handelnden Neforma- toren des Unterrichts geltend gemacht wurden, an welche fich zwei der berühmteften deutſchen gelehrten Philologen, Simon und Schweighäufer, angefchloffen hatten und deren Sache fpäter auch Schütz in Jena tapfer verfocht und eifrig beförderte. Das Stu— dium der alten Sprachen ward nach und nach mehr auf den In— halt der alten Schriftiteller, als auf Grammatik und Workkritik gerichtet, und nicht ſowohl die Kunft des Lateinfchreibens einge— übt, als vielmehr die Mutterfprache dadurch vervollkommt, daß man die Formen der alten Sprachen in der Mutterfprace wie⸗ derzugeben und zugleich dieſe zu bilden und tiefer in den Geiſt der Alten einzudringen ſuchte. Dadurch ward freilich oft der Sprache Gewalt angethan und das Ohr des Ungelehrten belei— digt; aber der Gelehrte lernte doch, daß er bei Wieland, der oft mit den Alten umging, wie ehemals die Franzoſen zu thun pfleg— ten, nur den Schatten des Alterthums und oft auch nicht einmal dieſen kennen lerne.

Kritik und Aeſthetik waren bis zu dem Zeitpunkt, yon dem. wir reden, von Nicolai, von Ramler, von Sulzer mit fehr gro= ber Anmaßung geübt worden, und Ramler hatte die Dichtungen feiner Freunde, welche oft reine Ergüſſe augenbliclicher glücklicher Begeifterung waren, corrigirt, wie ein Schulmeifter die Exercitien jeiner Schüler zu corrigiven pflegt. Ramler legte Batteux zum Grunde, Sulzer ging son Wolfs Lehre aus, wie fie der Frank— furter Baumgarten auf ſchöne Künfte und Wiffenfchaften ange— wendet hatte, bis Leffing fich der redenden, Winkelmann der bil denden Künſte annahm. Diefe beiden Gelehrten machten eine _ Theorie geltend, die dem ‚Genie und den Fortichritten dev Poeſie und der Künfte günftiger war, als die dürren Regel der fran— zöfifchen Aeademie und die Demonftrationen dev Wolffchen Phi— Iofophie. Sowohl Leffing als Winkelmann nahmen ihre Theo— vien unmittelbar aus der einzigen Quelle des Achten und einfa- chen Geſchmacks für die Völker germantfchen Stamms, aus den mit ihnen ganz gleich organiſirten Griechen, Leſſing ſtudirte die alten Klaffifer und den Shafespeare zu feinem: Zweck, Winfel- mann betrachtete die Nefte der alten Kunft und verglich fie mit den Schriftftellern. Beide, und zwar Winkelmann zuerit, weil

138 Deutſche Literatur: Göttinger Barden.

fich ja Heyne nur auf deſſen Schultern ftellte, Tpäter aber auch Leffing, wirkten auf den Unterricht in den höhern Schulen und den Univerfitäten in ähnlicher Weife, wie Bafedow, Wolfe und die Bewunderer Rouſſeaus, durch Lehre und Schriften und felbft durch ihre Marftfchreiereien und ihren Unfinn auf den niedern Unterricht und die hausliche Erziehung gewirkt Hatten.

Was Deffau nad) Baſedows Plan für Erziehung und für den Unterricht in den realen Fächern, foweit fie jedem gebildeten Mann notwendig find, hatte werden follen, wurde Göttingen durch Heyne, durch die Gefellfchaft, die fich um Boje fammelte, und durch feinen Muſenalmanach für deutfche Poeſie und für die Gymnaſien. Heyne bildete namlich in feinem Seminartum die Lehrer der höhern Schulen im Geifte des neueren Lebens. Das Studentenweſen fogar nahm dort einige Zeit hindurch eine gün- ftigere Geftalt an. Es ward zivar damals, wie immer, in Göt— tingen nur Proſa und praktifche Tüchtigkeit ausſchließend getrie= ben, doch ward zugleich zwifchen dem Alten und Neuen eine breite Mittelftrage gefucht, Dies brachte die Univerfität zum Gipfel des Ruhms. Göttingen konnte diefen Ruhm hernach nicht behaupten, weil einige Zeit hindurch Poeſie und Philoſophie ganz ausſchlie— ßend Nationalangelegenheit wurden. Michaelis zuerſt, dann Püt— ter und Heyne waren Orakel der hannöveriſchen gnädigen Herrn; ſie nahmen, wie dieſe, aus Staatsklugheit Antheil an den geiſti— gen Bewegungen Deutſchlands, aber Begeiſterung war ihnen eben ſo fremd, lächerlich oder verhaßt, wie dieſen, ſie kannten nur die gewöhnliche Univerſitätspolitik. Als die nen erwachte Nation ſchwärmte, als fie im Taumel der Freude über die endlich errun— gene Geiftesfreiheit berauſcht fchten, als Poeſie, Philoſophie, Sen- timentalität, enthufiaftiiches Schwärmen an der Tagesordnung wa— ven, ward die proſaiſch-praktiſche Gefchäftsflugheit der hannöveri— ſchen Herrn irre und Heynes Accomodationsſyſtem reichte nicht mehr aus.

Heyne beſonders dadurch zu den Reformatoren des deutſchen Lebens, der Bildung und des Unterrichts, daß er Win— kelmanns geniale Kunſtbetrachtung dem Bedürfniß der hannöveri— ſchen und ſächſiſchen nach Rom reiſenden oder Die Kunſt beſchützen- den Herren anpaßte, und dieſe, wie die ganze gelehrte und vor—

Deutfihe Literatur: Göttinger Barden, 139

nehme Welt, in feinen archäologiſchen Vorleſungen für Die höhere Gonverfation bildete, Seine Erklärung der Alten diente ebenfalls dem gewöhnlichen Leben ganz gut. Er begleitete die Alten mit erflävenden, oft an Minellius eriimernden, Anmerkungen, zeigte mit dem Finger auf die einzelnen Schönheiten, wie er fie ver- ftand, ward dabei zwar oft trivtal, das war aber für die Menge, die gern am Kreuzweg verweilt, gerade vecht nützlich und paſſend. Auf dieſe Wetfe entließ er aus feiner Schule ganze Scharen son Zugendlehrern, welche dann, als ihnen die Leitung dev ge= Vehrten Schulen oder Gymnaſien Deutfchlands vertraut ward, das Licht des achtzehnten Sahrhunderts in die Finfterniß des fieben- zehnten trugen. Daß diefe Lehrer fehr oft auch das Alterthum verflachten, veranlaßte hernach den Streit, den Wolf ſowohl als Voß mit Heyne führten. Auch dies diente zum Heile deutjcher Bildungz denn wie fehr man auch bedauern muß, daß der Streit mit Heyne fo heftig und perſönlich geführt ward, fo Teuchtete Doch ein, daß der Kampf ſelbſt dev Bildung unferer Nation und den claſſiſchen Studien fehr vortheilhaft war. Von Voß ward freilich feine Schule gegründet, auch trotz feiner Heftigfeit Feine befjere Mythologie gelehrt, als von Heyne, auch Fümmerte fich die Na- tion mit Necht weniger um Homers Geographie, wie fie Voß herausbrachte, als um feine Ilias und Odyſſee; aber dieſe wur— den dafür auch durch Voß zu deutſchen Gedichten und werden hoffentlich neben Luthers Bibel beftandig in den Händen der deutfchen Jugend bleiben. F. A. Wolf arbeitete von Halle aus der von Heynes Schülern verbreiteten Seichtigfeit und Flachheit dadurch entgegen, daß er durch Tiefe und Gründlichkeit, durch ſtrenge grammatiſche und Fritifche Prüfung den Emft und die Kraft in das Studium der Alten zurücführte, welches ſpielend geworden war, Neben Heyne lehrten übrigens auch andere Män- ner in Göttingen im Geifte ihrer veformatorifchen Zeit. Spittler und Plank zeigten, was eigentliche Gefchichte fet, und wie fich dev Vortrag derfelben von Geographie, Ethnographie, Chronologie und Genealogie, womit ſich atterer vorzugsweiſe befchäftigte, oder von Staatswiffenfchaft, Statiſtik, Politik und Erforſchung der Urgefchichten, worauf Schlözer fich befchränfte, unterfcheiden müffe, um das Portfehreiten der aufftrebenden Generation zu fördern.

140 Deutſche Literatur: Göttinger Barden.

Als Eichhorn nach, Göttingen Fam, wagte fich diefer fogar in der Erklärung der Schrift einen Schritt weiter als Michaelis. Er erklärte die Schriften des A. T. als Nefte der afiatifchen Urzeit und nicht als eine chriftliche Religionsoffenbarung oder als geiſtliche Geſetzgebung.

Die jungen Männer, welche zu gleicher Zeit ſeit 1772 von Göttingen aus verſuchten, unſere Nation vom ſteifen und pedan— tiſchen Wiſſen zu wahrer innerer Bildung, welche ſtatt der herrſchen— den Servilität, Hof- und Lohndienerei Freiheitsgefühl, Selbſtge— fühl und Nationalgefühl der neuen Generation einpflanzen woll— ten, erklärten Klopſtock für ihren Propheten. Sie wollten von Brodſtudium und von gelehrter Eitelkeit zur Poeſie, zur Begeiſte— rung für Liebe und Freundſchaft, für Natur, von Dogmatik zur Religion fortſchreiten und ihre Nation zu ſich erheben. Sie waren jung und neu im Leben, kannten damals noch keine Philoſophie, die ihrem Denken und Fühlen hätte Schärfe und Kraft geben können, ſie ſchwärmten daher. Sie erkannten Gleims poetiſche Schule auch als die ihrige, ſie übertrieben ihren Abſcheu vor Wieland, der ihnen doch den Weg bahnte und das Intereſſe der Menge für die neue Literatur weckte. Sie hatten große Abnei— gung vor Nikolai und waren gleichwohl mit Ramler befreundet; Alles das erklärt ſich aus ihrer Jugend und ihrem dichteriſchen Enthuſiasmus. Sie vergötterten daher ſich und ihren Klopſtock und bildeten eine Art heiligen Bundes, den ſie unter dem Namen des Hainbundes in ihren Gedichten feierten.

Die jungen Männer einzeln anzuführen, welche damals in Göttingen das gewöhnliche Studentenleben deutſcher Univerſitäten in ein jugendlich poetiſches verwandeln wollten, ſcheint uns un— nöthig; wir nennen nur Hölty, Voß, die beiden Stolberg, zwei Miller, Leifewis und Boje. Der Lebtere, obgleich Alter an Jah— ven, Schloß fich Freundlich an fie an. Käſtner, der ftetd Gegner feiner Collegen und ihre Geifel geweſen war, unterftüßte mit feinem damals unter Mathematifern und Freunden der Dichtkunft gleich berühmten Namen die erften Verſuche diefer unſerer Natio- naldichter, Mit Käftners Hülfe führte Boje in dem von ihm unternommenen Muſenalmanach eine ganz neue Generation son Dichtern ins Publikum, Die Gefchichte dev erſten Muſenalma—

Deutfche Literatur: Göttinger Barden, 141

sache, der Göttinger Dichter und aller dever, die in ihren Ton einſtimmten (was fogar Anfangs Göthe that, der ihnen Allen un= endlich überlegen war), tft für die Gefchichte unferer Sprache und Literatur eben fo wichtig, als für Franzoſen die fogenannte fran= zöfiche Akademie und die Gefchichte der Parifer und Londoner Sa— lons und der in ihnen und durch fie herrſchenden Damen, Die mittlern Klaffen der Nation, die damals noch reinen und morali= ſchen bürgerlichen Kreiſe, erhielten eine Bildung, die nicht genial und überſchwänglich, aber dafür den Verhältnifien des Lebens ganz angepaßt war, in welchem die Göttinger Dichter umd auch ihr Claudius geboren warenz diefem Leben Huldigten damals auch die Stolbergs. Die Hofleute, wie son Thümmel und Wieland, und die Genies fpäterer Jahre, flimmten für die höheren und yerdorbenen Kreiſe höfiſcher Müßiggänger freilich einen ſchlüpfri— geren Ton an.

Zu den Verbündeten in Göttingen, den keuſchen und reinen Dichtern, welche den empfindſamen Dichter der Meſſiade als Lehrer, Führer und Haupt erkannten, gehörte Bürger im eigentlichen Sinne nicht, obgleich er damals, ſchon im Amte, von ihnen als Dichter freundlich begrüßt ward. Er hatte das Unglück gehabt, in Halle son Klotz beſchützt und der Schaar feiner Clienten einverleibt zu werden; er ward alſo zu dem ſchmählichen Wandel, den Klotz mit ſeinen jüngern Freunden führte, gewiſſermaßen getrieben. Da— durch ward die Nation um den einzigen Mann betrogen, der, wie die Proben, die er geliefert hat, beweiſen, einzig und allein unter Affen im Stande geweſen wäre, das eigentlich ſogenannte Bolt für die bürgerliche Dichtkunft zu gewinnen, Nur Göthe allein war es vergönnt, zugleich den Reinen und Unreinen anzugehören, weil ein göttlich ‚Genie jeden Ton trifft. » Ex konnte auch fpäter zugleich eine Iphigenia dichten, konnte den Werther fihreiben, und doch für Kleine fachfifche Hofe Wahlverwandtichaft und Kunſtro— mane dem Tone ihrer Geſellſchaften anpaſſen. Er ward Allen Alles, die einzelnen göttinger Dichter: waren jeder nur für gewiſſe Gegenden, Stände, Stämme, Kreife- und Sitten pafjend, und auch das war fir ung Deutfche unendlich viel.

VUeber die einzelnen Dichter des Bardenvereins, über ihre Leiſtungen und über Vieles, was mit ihrer Wirkſamkeit zuſam—

442 Deuiſche Literatur: Göttinger Barden

menhängt, können wir uns kurz faſſen, weil zwei neuere Bücher darüber beſſere Auskunft geben, als hier der Raum erlauben wirde.36) Dieſe Bücher enthalten zugleich die äſthetiſche Würdi— gung. ber Produkte ſelbſt; wir können nur einige Punkte andeuten, welche mehr das Aeußere betreffen, und nur einzelner Männer Beziehung auf Leben und Bildung der Nation, die ihnen unend- lich viel verdanft, anführen. Unter den Männern, welche in: Göt— tingen: ald Schöpfer eines neuen Lebens und einer neuen Poeſie vereinigt: waren, waren auch die beiden Grafen: Stolberg: Dieſe haben aber nie nationalen Einfluß: oder Namen: gehabt, obgleich man ihre Gedichte, wie die von hundert Andern viel und mit Vergnügen gelefen hatz fie gingen. theils ſchon etwas über dem bürgerlichen Kreis hinaus, theils ſtimmten fie ſpäter einen ganz: andern Ton an, als ihre alten, nicht auf orientaliſche Weiſe, fondern nach deutfcher Art frommen Freunde. J. Martin Miller in. Ulm: würden wir als. Dichter. gar nicht erwähnen, wenn er nicht durch die Zeitumftande vermittelft eines Romans auf: die bürgerlichen: Kreiſe feiner Zeitgenoffen. und: ihren Ton einen ſtär— fern. Einfluß: erlangt hätte, als irgend. einer feiner: dichterifchen: Freunde, Wir werden unten: zeigen, daß fein mittelmaßiges Bros dukt auf ein geniales, von: den Zeitgenoffen ganz verfanntes Werk son Göthe gepfropft, die Stimmung der zarten Seelen, die ſchon durch die Klopſtockſchen Petrarchiſten entnervt waren, vollends: weich⸗ lich machte, weil. Miller die Götheſche geniale Dichtung durch ſeine weinerliche: Proſa dem Bildungsgrad der empfindfamen Toch- ter. unferer: Pfarrer, Amtleute, und der Stine Rangs anpaßte.

Hölty und Voß waren beide, nur auf: verfehiedene: Weiſe⸗ Sänger des ländlichen und bürgerlichen Lebens der mittlern Stände und Klaſſen des nördlichen Deutſchlands, welche damals noch mit einfachen und zuweilen gar ärmlichen Verhältniſſen (wie Voß ſelbſt im Anfange ſeines Hausſtandes), reges und zartes Gefühl und feinere Bildung verbanden. Hölty hatte weit mehr als Voß von

36) Wir meinen R. E. Prutz. Der göllinger Dichterbund, zur Geſchichte der deutſchen Literatur. Leipzig. Otto Wigand. 1841. 406 ©. 8. und ben letzten Band von Gervinus Geſchichte der deutſchen Nationalpoeſie.

Deuiſche Literatur: Göllinger Barden 143

jenem uralten ſcandinaviſchen und germaniſchen melancholiſchen Element in ſich, welches auch Macpherſon ſeinen Schotten im Oſſian zuſchreibt. Voß ſuchte und fand in den alten Griechen und Römern nur das Heitere und das Klare, daher ſeine Ab— neigung gegen den Orient und ſein heiterer Blick ins Leben. Hölty und ſein ſcandinaviſches Schwermuthsgefühl war dem orientaliſch— chriſtlichen, uns andern Norddeutſchen, auch wenn uns die Dog— matik mißfällt, ſo werthen Gefühl von Nichtigkeit und Ver— gänglichkeit unſeres Thuns und Treibens, viel näher als Voß, der mit ſeiner bürgerlichen Idylle Rouſſeau näher ſtand. Er paßte ſeine Lieder und ſeine Idyllen ganz dem Kreiſe an, in dem er lebte und blieb der Einfalt auch als er ſpäter reich genug war, um vornehm zu leben, getreu, weil er in ſeinem und ſeiner Freunde Leben: feine Idylle verwirklicht ſah. Jeder von uns, dev in dieſen Kreis trat und lebte, verſtand ihn daher vollkommen, Andere nannten das Bürgerproſa. Voß war daher von einem Theile des Volks, beſonders von dem, der, als: ſpäterhin Kreuz— und Querſprünge und: Seiltanzen für Genialität galten, weder vomantifch noch. humoriſtiſch wurde, verehrt: und vergöttert, wäh— rend er yon: den Genialen im Volke verachtet: ward; Man: er= kannte weder von der einen, noch von der: andern: Seite, daß er, weil ihm die eigentliche Philoſophie, di. h. alles; Streben, das innere Weſen der Dinge zu ergründen,. fremd war. und. blieb, weder über bie mittlern Höhen: der. Poeſie fich erheben, noch den. poetiichen, ſymboliſchen und philoſophiſchen Geift: des Chriften- thums würdigen. könne, daß er aber Darum: nicht: weniger in: fet= ner Sphäre groß jetz freilich Hätte ew auch darin bleiben ſollen

Was man übrigens: auch Immer von Voß Dichterfähtgkeit halten mag, feine Wirfung auf unfere Nation, die jeder von uns im vorigen Jahrhunderte bemerkt, wenn auch nicht, wie der: Ver— faſſer dieſer Gefchichte, am fich erfahren hat, bleibt darum: doch biefelbe, und nur von diefer: haben wir hier: zu reden, wo die Aeſthetik nicht in Betracht fommt. Mag man nämlich. Voß: als Dichter Toben, oder, wie Viele gethan: haben, Hart fcheltenz;: mag man, wie in: unferer Jugend allgemein: geſchah, feine Auffaffung und Schilderung des: Lebens: in: Gedichten: und Idyllen als. die wahre und Achte anerkennen, oder, wie bie neuern Philoſophen,

144 Deutfhe Literalur: Göttinger Barden.

Romantiker, die Eiferer für das alte Zion und die Genies ge— than haben, fie als proſaiſch und bäuriſch verachten; Das hiſto— riſche Reſultat derſelben bleibt als Thatfache unläugbar. Er ſtellte das Leben der mittleren Stände, welche auf ein geringes Einkommen beſchränkt, vielen Genüſſen entſagen mußten, poetiſch dar und ſöhnte durch ſeine Darſtellung den Mittelſtand mit der Wirklichkeit aus, wie Campe und Salzmann der Jugend das Lernen verſüßten. Das Leben ward leichter und heiterer durch die der Proſa deſſelben näher gebrachte Poeſie, dadurch ward einer höhern Art von Dichtung der Weg eher gebahnt, als ver— ſperrt. Ein Irrthum war es, daß Voß, mit einem eben ſo aus— ſchließenden Trotz, als ſeine Gegner gegen ihn übten, nicht zuge— ben wollte, daß für ein bewegteres und vielſeitigeres Leben als das, welches er Gelegenheit gehabt hatte, kennen zu lernen, eine ganz andere Art von Dichtung gehöre, als die ſeinige; er kämpfte daher oft mit Windmühlen.

Die Gedichte, denen Voß ſeinen erſten Ruhm verdankte, und auch ſogar ſpäter ſeine Luiſe, hatten nur einen bedingten Werth; dagegen erwarb er ſich durch ſeine Ueberſetzung der beiden großen Heldengedichte Homers um die deutſche Sprache und um die Dichtkunſt unſerer Nation unſterbliches Verdienſt auf einem Felde, wo nach ihm alle Andern nur eine Nachleſe mehr Halten konnten. Voß Meberfegung Hpmers wirkte in Beziehung auf Sprache, Bersfunft und Denkungsart feiner Nation auf Ahnliche Weiſe, wie Luther durch feine Vibelüberſetzung gewirkt Hatte, weil jein Sinn dem Homerifchen ebenfo verwandt war, als Luthers. Geiſt dem der Propheten und Apoſtel.

Seit der Zeit, daß Voß die Aufgabe gelöſt hatte, Homers Ders, Sprache und Sinn, wenn auch sielleicht hie und da nicht ohne ftarfen Zwang und einigen. Schein von Fremdartigkeit, ge— nau im Deutfchen wieder zu geben, Eonnten die Gelehrten der faft= und Fraftlofen Erklärungen entbehren. Ste durften mur Wolfs Tert und Voß Ueberſetzung zufammenhalten und ihre Grammatif gut gelernt haben, um den Geift homerifcher Dichtung unmittelbar zu erfaffen. Die Jugend, wenn fie dichterifchen Sinn hatte, ward fchon allein wegen der der wörtlich genauen Nachbil- dung nothwendig anflebenden Härte zum Studium des Griechi—

Deutfche Literatur: Göttinger Barden. 145

fchen gefporntz fie ward getrieben, Sprache und Sprache, Urform und Nachbildung zu vergleichen. Unfere großen Dichter, beſonders Göthe und Schiller, wurden gerade durch das, was Voß geleiſtet Hatte, zum Studium des Griechtfchen, und Göthe befonderd (denn Schiller blieb in Bezug auf Sylbenmeffung und Sylbenwägung im Ver— trauen auf den Reim ftets ungemein nachläßig) ſah ein, wie wichtig das Mechanifche des Versbaues und des Sylbenmaaßes auch dem größten Dichter fein müſſe.

Das Berdienft der Einführung dev Alten in den Kreis des deutfchen Lebens theilten die Stolberge mit Voß, obgleich fie eine Art der Mebertragung Ins Deutfche vorzogen, welche zwifchen der Manier, die Wieland gewählt hatte und zwiſchen Voßens ftvenger Genauigfeit die Mitte hielt. Sie wählten die Tragifer, fie fuchten aber weder, wie Voß, eine neue Sprache zu fchaffen, noch die Bersmaße bis aufs Kleinfte nachzuahmen, —* ihr Orte ginal blos für die Kenner nachzubilden,

Auch Claudius gehört dem Kreife der. Dichter des Göttinger Bardenbundes an. Er lebte einige Zeit mit Voß in Wandsbeck zuſammen und zog, wie dieſer, den demüthigen bürgerlichen und häuslichen Kreis dem Schlaraffenleben der gro— ßen Welt vor, Er wird wahrſcheinlich durch einzelne Lieder, vielleicht als gemütlicher religiöſer Schwärmer der Nation länger werth bleiben, als Voß, weil der Lebte mehr im Geifte feiner Zeit, . Claudius mehr im Geifte der im Vollke fortlebenden Art von Religiofität dichtete, Wenn man an Claudius Nheinweinlied, an fein Wie ift die Welt fo ftille und Anderes denkt, fo wird man einräumen, daß der chriftlich religiüfe Charakter und die Natürlichkeit, die fich in ihm ausfprach, auch von denen unter ung, die einer andern Art Philofophie huldigen, als Claudius, Anerkennung verdient. Seine Manier muß unter Kindern und im Volke ftets auf jede Weife gefordert werden, Uebrigens tft fein Feld ein ſehr beſchränktes. Claudius erſchöpfte ſich bald und bildete fich ein, daß er wißig jet, wenn er gezwungen und manterirt war, Seine Witze Fonnten in einem Wochenblatte, wie der Wandsbecker Bote, eine Zeit Yang allerdings einer gemiffen Klaffe von Leſern gefallen, einen enendn Re fie

nicht haben, | Shloffers Geſch, de 10. m 19: Jahrh, IV. Th. 4. Aufl, 19

446 Deuiſche Literatur: Gottinger Barden.

Claudius hat um fo weniger mit der jchnellen Entwickelung der Bildung unſeres Volks, son der hier allein die Rede ift, zu thun, als er fchon 1775 jedem Fortſchreiten den Krieg erklärte und aufhörte, klar und verftändlich zu fchreiben, weßhalb er denn auch mit Hamann innige Freundichaft ſchloß. Er ſank, feitdem er St Martins Buch in die Hände bekommen und überſetzt hatte, 37) in die ganz abgefchmackte Myftif der jogenannten Mar- tiniften, welche von der Art ift, daß fie dem gefunden Verſtande, der heitern und unfchuldigen Lebendfreude und jeder Belehrung von Außen allen Zugang verfperrt.

Claudius und Hölty fanden fonft der Art Gefühlfamkeit am nächiten, welche fich in den letzten fiebenziger Jahren wie ein Nervenfieber über Deutfchland verbreitete, und welche einer von den Göttinger Barden, I. Martin Miller aus Ulm, mächtig forderte. Wir betrachten übrigens den mittelmäßigen Roman, wodurch dies gejchah, als eine Wirkung der herrſchenden Empfind- jamfeit, nicht aber als eine Urfache derſelben. Millers Roman, Son dem wir weiter unten reden werden, würde indeflen auch in jener empfindfamen Zeit unter zarten Jünglingen und befonders beim weiblichen Gejchlecht nicht eine jo erſtaunliche Wirfung ge= ‚Habt haben, ald er in umferer Iugendzeit felbft am Strande des Nordmeerd Hatte, wenn ihm nicht ein Meifterwerf von Göthe vorausgegangen wäre, Millers Stegwart war eine Art Weber- fegung des Werther in die Sprache, die Gefühle, die Sitten des Publikums der zarten Betrarchiften und Klopftorfianer, eine Proſa nach der. Art der Poefie des Werther, Auf * letztere BO wir daher den Blick zuerft richten. | Göthe Hatte feine Laufbahn ſeit 1772 gleichzeitig mit den Göttinger Barden, aber unabhängig von jeder Partei, fogleich ‚glänzend eröffnet, Jedermann war überrafcht, daß ein Einziger unter allen. den unzähligen Dichtern jener Zeit, gleich wenige Sahre nach feinem erſten Auftreten faft ohne Widerfpruch als der ‚größte Geift der Nation und als ihre Hoffnung son allen ver— ſchiedenen Parteien in allen Gegenden son Dentfchland, wenn

: 37) Louis Claude de St. Martin des verreurs et de la verite. Lyon 1775 und 1784 ward yon Claudius 1782 deutſch Herausgegeben, '

wa

Deutfche Literatur: Göttinger Barden. 14%

gleich auf verſchiedene Weife anerkannt ward, Seine Gefchichte und die feiner einzelnen Arbeiten dürfen wir nach den unzähligen Büchern, die unter uns und im Auslande in den letzten Jahren darüber gefehrteben find, als befannt vorausſetzen, eine bloße An— deutung iſt daher hinveichend. Seine kleineren Gedichte und Schriften, feine perfönliche Bekanntſchaft mit den ausgezeichnetiten Männern des jungen Deutfchlandg, zu denen auch Schloſſer, Herder, Bafedow, Möſer und Moſer und der von ihm freundlich empfohlene Jung-Stifling und Lavater gehörten, hatten ihm ſchon einen Namen verichafft, als fein Götz von Berlichingen, den er anf eigne Koften hatte drucken laſſen, plötzlich gang Deutfchland in Bewegung. brachte.

Götz yon Berlichingen ward, wie man aus Voß Briefen jehen kann, von den Göttinger Barden als ein Licht in tiefer Finſterniß, als Anfang einer ganz neuen Periode deutfcher dra— matifcher Dichtkunſt freudig begrüßt, Die jungen Freunde der Natur, der homeriſchen Einfalt und der griechtfchen Heldenfraft hofften wahrfcheinlich, daß der Mann, welcher den Götz gedichtet habe, mit ihnen gegen die Berliner Kritif und Aeſthetik und gegen Wielands Gallo-Gräcismus kämpfen werde, Die Idhyllendichter freuten ſich, daß Göthe ſtatt der Zierlichkeit und Leichtfertigkeit höfifcher Rede und Verſe Wahrheit und Derbheit des Lebens auf die Bühne gebracht habe, Göthe Hatte damals ſchon feine Ge danken über Wielands Manter, mit den Griechen umzugehen, in dem wißigen, aber freilich etwas burſchikoſen Pasquill, Götter, Helden und Wieland, welches fein Freund Lenz wider feinen Willen ins Publikum brachte, etwas gar derb ausgefprochen. Er nahm in dieſem Aufſatz von der Mlcefte Wielands Gelegenheit, den Mißbrauch, den Wieland auch in diefer feiner Oper mit dem von ihm stets traveſtirten Alterthume trieb, Tächerlich zu machen, Die Wirkung des Götz von Berlichingen und des Spotts über die Kraftlofigfeit der Nachahmer dev Franzofen zeigte fich jogleich. Es erhoben fich mitten unter der erſtarrenden Pedanterte der. deutſchen Gelehrten, eine Anzahl junger Männer, welche gegen alles Sentimentale Oppofition machten, und durch den Kampf auf Leben und Tod, den fie mit der Berliner Kritik, mit Ramlers Regel, mit Gleims und Klopſtocks Dichterſchule, mit

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148 Deuiſche Literatur: Stegwart und Werther.

Wielands Leichtfertigfeit und mit deutfcher Pedanterie begannen, auch fogar durch ihre Mebertreibung der deutichen Bildung und ihrer Bielfeitigkeit unferer Literatur ſehr nützlich wurden,

Die artftofratifchen Magiſtrate unferer jogenannten freien Reichsſtädte, die fteifen Hofe, Die pedantifchen Univerſitäten, die defpstifchen Beamten und die im Dunkeln, im Style des fieben- zehnten - Jahrhunderts Deeretivenden Kanzleien der Juriſten er- jehrasfen nicht wenig, als ihrer Polizei und Gravität zum Trotz fich eine ultraliberale Generation son Schriftitellern zu erheben drohte, die alle Regel und alle Ordnung und Zucht als altmo— diſch verſchmähte. Diefe Generation pflegt man mit dem Namen der Kraftgenied zu bezeichnen. Unter den Leuten, die man zu diefen Genies zählt, verfuchten fich Lenz, der ſchon damas Anlage- zum Wahnſinn zeigte, und Klinger, der ſpäter in vortrefflichen, nur son Wenigen verftandenen Romanen die Fülle feiner Erfah— rungen in höhern Kreifen und feiner Lebensweisheit niederlegte, befonders im dramatifchen Fachz andere auf andere Weiſe. Für Genialität ift aber in den Engen des deutfchen kleinſtädtiſchen Lebens (wielleicht zum Glück unferer Nation) zu wenig Spielraum, als daß wir ausführlich Darüber reden möchten.

Auch Göthe ward anfangs zu den Kraftgenieg gerechnet, er nahm aber an ihrem Treiben nur in fo fern Antheil, als er jede Erſcheinung „der Bewegung der Zeit für feine poetifchen Zwecke benußte, Auch das Auffehen, welches Beaumarchais, feine Reife nach Spanten und das Abenteuer, welches er dort beftand, in ganz Europa erregte, ward von dem jugendlichen Dich— ter benußt, um einer neuen Gattung son Drama ein Aufßeres Snterefje zu geben, Beaumarchais hatte in Paris Glück gemacht, er glänzte in den Gefellfchaften durch Geift und Wis, ein Ban— fier gab ihm Antheil am Geſchäft und er ward Franklins Freund, weil die franzöſiſche Regierung, jo lange fie fich noch nicht für Amerika erklärt hatte, den Nordamerifanern die Subfidien durch ihn zufommen ließ. Später ward er durch feine Luftfptele, feine Prozeßſchriften, welche fürmliche Satyren waren und durch feine Schickſale ein Gegenftand der allgemeinen Aufmerkſamkeit. Gr hatte durch das Fragment. einer Reife nah Spanien, welches % H. Jakobi im zweiten Stück des fiebenten Bandes son Wie—

Deutſche Literatur: Siegwart und Weiher. 149

Yands deutichem Merkur deutjch bearbeitet bekannt machte, allge meine Aufmerkſamkeit auch im gebildeten deutichen Publikum, wie vorher im franzöſiſchen erregt. Diefe Aufmerkſamkeit glaubte Göthe für ein Drama benutzen zu müſſen, und das mit Recht, da ein Drama nur dann Eindruck machen kann, wenn der Dich— ter eine herrſchende Stimmung des Publikums zu benutzen ver— ſteht. Auf dieſe Weiſe entſtand das Schauſpiel Clavigo.

Göthe nahm den Stoff aus Beaumarchais, er bearbeitete aber dieſen Stoff ganz regelrecht und zeigte, daß er abſichtlich im Götz von Berlichingen in Anlage und Ausdruck genial der Regel ge— trotzt habe. Das deutſche Publikum erſtaunte nicht wenig, daß ein und derſelbe Dichter ſo kurz hintereinander die Bewunderer Shakespeares und ſeiner Regelloſigkeit befriedigen und wiederum den Freunden der franzöſiſchen Bühne gefallen konnte. Man merkt freilich den hiſtoriſchen und franzöſiſchen Urſprung des Clavigo an den langen Reden und an der Art und Weiſe, wie der eigentlichen Geſchichte entgegen ein tragiſcher Ausgang des Stücks herbeigeführt wird; es ſollte aber auch ſelbſt nach der Abſicht des Dichters, aus dem Stoffe kein tragiſches Meiſterwerk, ſondern nur ein gutes Stück gemacht werden. Daſſelbe würden wir von den zwei Stücken ſagen, die er in J. ©. Jakobis Manier ſchrieb: wahrſcheinlich, um Halb im Ernſt halb im Scherz zu beweiſen, daß ſich aus jeder Richtung der Zeit und aus jeder Stimmung der Menſchen etwas machen laſſe, wenn ein wahrhaft großer Geiſt ſich ihrer bedienen wolle.

Erwin und Elmire und Stella paſſen ganz für die Kreiſe, welche Nikolai im Sebaldus verſpottet, für die Herrn von Hohenaufs, ihre gnädigen Frauen, ihre Pfarrer und Beamte, für alle jene zartfühlen— den Seelen, welche die Liebeleten bewunderten, deren füßen Sänger auch Hölty in der befannten petrarchifchen Bettlerode verfpottet. 38)

38) Diefe bekannte Parodie auf das Lied, womit 9. ©. Jakobi den Deutſchen Merkur eröffnete und welches alfo anfängt: Wenn im leichten Hirtenkleide Mein geliebtes Mädchen geht ſteht im Wandsbecker Boten und beginnt: Wenn im leichten Huifilzſöckchen Meine braune Trutſchel geht.

150 Deutſche Literatur: Siegwart und Weriber.

Mit diefen Stücken oder wenigftens mit dem Geiſte der Zeit, aus dem fie heroorgingen, hängt auch das zu feiner Zeit ganz miß— verftandene Meifterwerk Göthes, der Triumph der deutſchen Sprache, Werthers Leiden, zufammen, in welchem unfere hart und rauh gefcholtene, fonft nur wegen ihrer Kraft berühmte Brofa fanft und mild wird, wie ein Teifen Hauch, Diefe Leiden des jungen Werthers erfchienen 1774 und mußten ſchon im fol- genden Jahre neu aufgelegt werden, es war aber gewiß nicht des Dichters Schuld, daß fich von dieſem Augenblicke an die trübe, empfindfame, melancholifche Stimmung gewifjer deutfcher Kreiſe fo ſehr vermehrte, Die Zeit war, wie Göthe felbft jehr treffend be- merkt hat, noch nicht fähig, ein Achtes Kunftwerf als folches rein aufzufaflen. Man machte an einem Kunſtwerk profaifch morali— ſche Anforderungen, wollte ein Gedicht angewendet wiffen, wie man moralifche Gefchichten für das Volk und für Kinder anwen— det und legte eine Lächerliche Bedeutung auf den Helden des Ro— mans und feine Geliebte, ald wenn das Hiftorifche Die geringfte Bedeutung hatte. _

Einige Beranlaffung zum Mißverftand gab freilich Göthe dadurch, daß er, wie im Elavigo und fonft noch oft, ein zufällis ges Greigniß benubte, um feiner Dichtung einen Platz an einem beftimmten Ort und in einer beftimmten Zeit zu fehaffen, mit welchen beiden fie fonft fo wenig gemein hatte, als des Menfchen unfterblicher Geift mit feiner fterblichen Hülle, obgleich auch Diele nach Außen Hin fein Bild und: fogar fein Organ iſt. Der Selbft- mord des jungen Jeruſalem (Sohn des Abts), der in Weklar damals den Reichsprozeß fludirte und in allen guten Häufern in der ganzen Wetterau und in Frankfurt befannt war, Hatte ein ungemein großes Auffehen erregt, weil man (wahrſcheinlich nicht einmal mit Recht) ihm der unglücklichen Liebe zu einer verheira- theten Frau zufchrieb. Hegeld Freund, Hölderlin, fein leerer eit= Ver, Burfche (wie trotz deſſen, was. Leffing Gutes: von ihm fagt, Jeruſamlem war), fondern Dichter und Philoſoph, ward befannt- lich am Ende des Jahrhunderts aus gleicher Urſache wahnfinnig.

Die Zeit war nicht geeignet, ein geniales Werk großartig aufzufaffen, fie ftellte ihm den Siegwart zur Seite und beide Bücher machten das kleinſtädtiſche profatfche bürgerliche deutſche

Deuiſche Literatur: Stegwart und Werther, 151

Leben einige Zeit hindurch lächerlich und trübfelig. In ihren Wirkungen glichen ſich Werthers Leiden und der Siegwart; alfo nach Außen hin waren fie vollig gleich, im Weſen waren fie ver- ſchieden, wie Natur und Affertation verfehieden find. Im Wer- ther erfcheint die Liebe in ihren Wirkungen als mächtige Leiden- ſchaft, die einen ſchwachen Geift faßt und ihm Hin und her treibt. Diefe Leidenschaft, die neben idealiſirten, bürgerlichen Verhältniſ— fen dargeftellt wird, zeigt fich dadurch im allen Richtungen und Formen deutlicher und wird zu einem Aufßeren Ding, weil für die Darftellung die Briefform gewählt ift, welche das ſchwache Ge- müth ſelbſt unmittelbar erfcheinen läßt, wenn es vom Sturme dev übermächtigen Leidenjchaft hin= und hergeweht wird. Gerade weil die Seele des Helden weder ftarf noch groß tft, noch auch als Mufter aufgeftellt werden ſoll, wird fie endlich. vollig zerfprengt.

Das Lebtere ward gar nicht geahnet, man bewunderte nicht die unerreichhare Form, die Leichtigkeit der Sprache und die Ge— malt der Leidenfchaft, die man. an einer jchwachen Seele allein bemerft, weil eine ftarfe am Ende ftets über die Leidenfchaft fiegt, jondern man machte vielmehr den Schwachen zum Helden und Märtyrer und fand in dem jungen Jernfalem alberner Weife den Götheſchen Werther. Man machte aus der Lotte eine Hiftorifche Perſon, wallfahrtete an Werthers Grab und trieb das Realiſiren jeder Perſon und jedes Worts in dem Noman auf einen Grad, den nur der begreift, der jene Zeit erlebt hat oder im unferer Beit ähnliche Schwindel unparteitich als folche zu erfennen ver- mag. Der anfterfende Schwindel, der im Werther und Siegwart feine Nahrung fand, tft Yängft verflogen. An Siegwart denkt Nie- mand mehr, und wer ihn lieſet, bemitleidet eine ganze Generation, die durch dergleichen Gewinſel bewegt wand. Viele unter ung find aber leider durch die Wahlverwandtichaften: und durch die Kinftlerwanderungen aus Göthes fpaterer, abeligen: Zeit auch; ge— gen Werthers Leiden ftumpf gemacht worden. Göthes erfter Ro— man wird indeffen gerade dadurch) ſtets ein unübertreffliches Kunft- werk bleiben, daß eine am ſich ganz nichtige Leibenfchaft und ein unbedentendes Weſen durch einen Dichter bichterifche Bedeutung erhält, der damals noch nicht als Falter Kimftler, wie man jet jagt, vein objeftive Werfe ſchuf, oder mit andern Worten, der

152 Deuiſche Literalur: Stegwart und Werther.

wahrer Liebe und Freundſchaft noch nicht durch den Verkehr mit aller Welt und mit den Höfen abgeftorben und in Egoismus ge— funfen war. |

ie weit man damals noch in Deutfchland zurück war, wie viel unfere Nation ſpäter noch durch Göthe und Schiller, durch die neue Philofophie, durch die Schlegel, fo lange fie noch in Sena revolutionär in der Literatur wirkten, gewonnen hat, ſieht man aus der Aufnahme, welche das große Kunftwerf unter dem empfindelnden Gefchlechte fand. Den Mangel an Begeifterung, die ganzliche Unfähigkeit, irgend eine dichterifche Schöpfung rein geiftig aufzufafien, welche jenes von Salzmannſcher Erziehung und son Voß Idyllen mächtig bewegte Gejchlecht bei Gelegenheit ‚des Werther bewies, hat Göthe felbft am beften ausgefprochen, Wir verweilen daher ausdrücklich lange bei Werther und Siegwart, weil wir bei feiner andern Gelegenheit den innern Zuftand der damaligen deutfchen gebildeten Kreife Leichter und zugleich anſchau— Yicher vors Auge bringen können. Göthe fagt in feinem Leben an der Stelle, wo er von dem wahrhaft komiſchen Aufjehen res det, welches Wertherd Leiden unter denen erregte, die gar feine fünftlertfche Idee zu faſſen im Stande waren und von dem Mif- verftändniß, welches unter den deutjchen Zeloten, den Rechtglau- digen in Hamburg und den Irrgläubigen in Berlin, durch das Buch, in Rückſicht auf den zu beiorgenden moralifchen Nachtheil veranlaßt ward: „Man kann von dem Publikum nicht verlangen, daß es ein geiftiges Werk geiftig aufnehmen folle. Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, was ich ſchon von mei— nen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorur— theil wieder ein, entipringend aus der Würde eines gedruckten Buchs, daß es nämlich einen didaktifchen Zweck haben müſſe. Die wahre Darftellung hat keinen. Ste billigt nicht, ſondern ent— wicfelt die Gefinnungen und Handlungen in ihrer Folge und da=

durch beleuchtet und belehrt fie.“

Da man den Mifverftand des in feiner Art einzigen Gö— thefchen Werks auf eine ganz verſchiedene Weife in Schriften gu erfennen gab, jo läßt fich der Zuftand der deutfchen Bildung je- ner Zeit und die geringe Fähigkeit der damaligen Machthaber der Literatur, ächte Poeſie auch nur zu verstehen, an diefen Schriften

Deutſche Literatur: Stegwart und Werther 1953

am beften anfchaulich machen. Wir wollen indeffen, der Kürze wegen, nur son drei Mißverſtändniſſen und ihren Aeußerungen reden. Es erhoben fich nämlich die altlutherifchen Rechtgläubi— gen dagegen, als gegen eine Sünde, die profatfch bürgerlich recht- lichen Spießbürger und die Berliner trocknen Weifen, als gegen eine moraliſche Irrlehre. Dieſe beiden Klaffen eiferten gegen das von ihnen nichtverftandene Kunſtwerk; aber auch die Bewun- derer deffelben verftanden es nicht vecht, Die zarten und weichen Seelen nämlich vergötterten den Werther und feinen Berfafler, weil fie ihn für einen dev Ihrigen nahmen. Bon den erwähn- ten Richtungen unferes Volks, welche bei der Gelegenheit laut wurden, haben fich zwei, die orthodore und die platt moralijch- praftifche, immer erhalten, fie kommen jebt, wo man. das Alte unter neuen Formeln herftellt, an allen Ecken und Enden fiegend wieder hervor, und die Zeloten rühmen ſich, wie Chatenubriand, daß ihre Armfeligfeit jebt einen andern Styl und Geſchmack all- gemein gemacht habe. Die dritte Partet theilt fich jest, nachdem fie alle Veränderungen und alle Wechjel der Zeiten erfahren hat, in mancherlei Zweige, je nachdem in den verfchtedenen Sub— jeften, die ihr angehören, die eine oder die andere Philoſophie vorherrſcht. |

Alle Gläubigen des alten Syſtems, die Paſtoren, die jurt- ftiichen Theologen, wie Pütter, die Gonfiftorien, die ehrenfeften, damals noch jehr zahlreichen reichsftädtifchen Magiftrate, erblickten in dergleichen neuer Poefie, wie die im Werther war, den Keim des Verderbens, in ihrer Verbreitung einen Sturm auf das Lu— therthum, alſo auf die beftehenden Berfaffungen. Zum unver- ftändigen Organ dieſer Conſervativen hatte fich längſt Paſtor Mel- chior Göze in Hamburg aufgeworfen. Gözes Kreuzzug gegen Wertherd Leiden brachte jedoch ang Licht, wie mächtig Damals das jugendliche Streben und die edle Kraft der wenigen, aber eng verbundenen Freunde des in Deutfchland dämmernden Lichts waren. Die ganze vereinigte Maffe der obengenannten herrfchen- den Zeloten, Göze mit der Fahne der bedrängten Zions an ihrer Spige, regten das Volk auf, das damals noch ganz blind war, jet mit trüben Augen ſieht; es tobte, Der Städte und der Fürften Polizei war den Männern des Lichts feindlich und dennoch)

454 Deutſche Literatur: Stegwart und Werther,

blieb ihnen der Sieg. Wir verzagen daher auch nicht, wenn die Wächter Zions jetzt aufs neue ſchreien. Melchior Göze war kaum inne geworden, welche unbefchreibliche Wirkung der neue Roman, in welchen der Selbfimord des jungen Jerufalem nach. feiner Meinung als Heldenthat gepriefen ward, auf den ihm ohnehin höchſt verdächtigen Theil der Herrn und Damen mache, die lieber folche neumodifche Bücher als feine Predigten, als Benjamin Schmolfes Gebetbuch „der als feines Freundes Ziegra ſchwarze Zeitungen Yafen, als er im Zorne entbrannte. Cr erließ alfo nach. feiner Art, gleich wie vorher der Erzbifchof von Paris ge— gen Rouffenus Emil, eine Art Hirtenbrief (mandement) gegen den Werther.

Der Titel der liebreichen Schrift, die der Fromme Mann im heiligen Eifer herausgab, Tautete: Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, über eine Rezenfion derfelben und über gewiffe nachher erfolgte Aufſätze (1775). Um in unſern Zeiten daran zu erinnern, wohin das Fromme Toben der Zeloten führt, und wie Intherifche blinde Orthodoxie mit Poeſie und Literatur der Nation umgeht, wenn fie einmal Religion in mechanischen Dienft und in Gedächtnißwerf verwandelt hat, wollen wir aus diefer Schrift einige Sätze ausheben, und zwar bie, mit denen der Paſtor feine Invective ſchließt: „Da mitten in der evange— liſch-lutheriſchen Kirche, vuft er aus, Apologien für den Selbit- mord erfcheinen und in öffentlichen Zeitungen angepriejen werden, fo werben wir bald laudes Sodomiae, wenigſtens neue Auflagen oder gar Ueberſetzungen der Aloysa Sigaea fehen. Es wird für fein Verbrechen gehalten werden, Andere, welche und im Wege ftehen, aus dev Welt zu ſchaffen. Die Giftmifcheret wird fo ein- gerichtet fein, daß die Beſtrafung derfelben unmöglich werben wird u. ſ. w.“ Damit mar aber fehe, wie man ſchon damals ſehr gefchieft, wenngleich fehr grob, ohne Sophiſtik, wie jest ſehr fein und mit philofophifcher Terminologie, jede religiofe Aufklä— rung als politifches Vergehen darzuftellen mußte, fügen wir Hinzu, daß Göze, nachden er auf dieſe Weiſe noch in einigen andern Sätzen Göthe als Bolfsverführer und Sitten- und Bolizeiverder- ber gemalt hat, ihm endlich Semler zur Seite gibt, „Kurz, fagt

Deutſche Literatur: Stegwart und Werther. 155

ev weiter unten, wenn nach den Semler'ſchen Grundſätzen die heilige Schrift zu Grunde gerichtet, oder wenn fie nach den Babrdrfchen modernifirt, das iſt ſtinkend und lächerlich gemacht wird, was wird aus der Chriftenheit werden? Ein Sodom und Gomorra.“

Damit man nicht glaube, daß dies ein ohnmächtiges Ge— ſchrei eines blinden Pfaffen geweſen ſei, wollen wir zeigen, daß ihn die theologiſchen Juriſten der Reichsſtädte und Alles, was an der Spitze der Staatspolizei ſtand, wirklich für den Repräſentan— ten der lutheriſchen conſervativen Partei hielt. Es arbeiteten näm— lich gerade damals Männer wie Merk, Schloſſer, Göthe (leider! auch Bahrdt) an den Frankfurter gelehrten Anzeigen, ohne auf ihre Arbeit daran gerade beſonderen Fleiß zu wenden oder Be— deutung darauf zu legen. Einer von den Mitarbeitern hatte Gö— zes andächtige Betrachtungen auf eine ziemlich ſpöttiſche Art angezeigt, der Frankfurter Magiſtrat fand die Anzeige höchſt ärgerlich und glaubte Einhalt thun zu müſſen. Die Herren des Frankfurter Raths waren ſo voll Achtung für den Hamburger Zionswächter, daß ſie nicht allein aus eigener Bewegung den Ver— leger der Anzeigen beſtraften, ſondern ſich auch gegen jeden Ver— ſuch, ein junges Frankfurt emporzubringen, mit den Worten er— Härten: „Daß im dieſen Anzeigen ein höchft ärgerlicher, gegen alle dem Staat und der Religion jchuldige Pflichten anftoßender, Neligiongeifer zu fpüren ſei.“ Dabei blieb aber ihre für das Luthertyum und feine Repräfentanten eifernde Staatspolizei nicht ſtehen: „Man wolle fehärfere Mafregeln vorkehren; anbei wür— den aber alfe theofogifche Sachen betreffende Necenfionen gänz- lich unterſagt.“ Göze war fo gerührt von der Harmonie zwi— fehen feiner Theofogte und der Frankfurter Polizei, daß er einen eigenen Dankfagungsbrief an Bürgermeifter und Rath der Stadt Frankfurt richtete, worin er diefen verſicherte: „Es leuchte ans diefer Maßregel aller Welt in die Augen, daß noch der rechte Gott in dem Frankfurtur Zton fer“ Ueb— rigens könnten wir aus unferer Zeit hunderte von ähnlichen Pro- zeduren anführen, wenn wir nicht glaubten, daß ein Theil unſe— ver Lofer mit. den Gefchichten Hinveichend Bekannt fet und ein an- derer großes‘ Aergerniß davan nehmen würde.

156 Deutfche Literatur: Werther und Stegwart,

An der Spite der andern, in der Poeſie und Philoſophie nach Franzöfiicher und Berliner afademifchen Weiſe profatfch rich- tenden Deutjchen, ſtand feit langer Zeit Nifolat eben fo päpftlich, als Göze in Hamburg an der Spite der Altlutheraner. Im Hanndverichen, in Brandenburg, in Sachfen, in allen Gegenden Deutjchlands, wo Wieland als der Erfte unter unfern Klaffikern galt, war auch Nikolai und eine allgemeine deutſche Bibliothek Drafel des Geſchmacks und der Kritik; allein bei Gelegenheit von MWerthers Leiden täufchte fich doch auch Nikolai tiber feinen Ein- fluß auf fein befchränftes, aber nicht, wie Gözes Anhänger, ganz blindes Publikum. Nikolais Hirtenbrief gegen Werthers Leiden war eine Schrift, die er für eine Satyre hielt, die aber doch auch fogar feine Freunde für das erkannten, was fie war, für eine Maffe von Plattheiten, unter dem Titel Freuden und Leiden des jungen Werther, 1775. Der Verſuch, die Gefchichte Werthers auf eine gemeine Weife durch einen TLächerlichen und höchſt platten Ausgang zu traveftiren, war fo mißlungen, daß der kluge Spefulant, um nicht fein eignes Publikum gegen fich zu haben, ſchon in der Selbftanzeige feiner Parodie eingeſtehen mußte, daß ev zu weit gegangen ſei. Wieland, obgleich ihn Göthe furz vorher durch das oben angeführte Pasquill heftig beleidigt Hatte, und er eigentlich Nikolai näher ftand, als Göthe, unterfchted doch den wahren Dichter von der großen Anzahl fentimentaler Romanfchreiber auch bei diefer Gelegenheit, Man kann es daher Göthe wohl verzeihen, wenn ev Nifolais im Intereffe der Moral, wie er jagte, verfaßte Schrift etwas cyniſch durch das Spotiges dicht Nikolat auf Werthers Grabe beantwortete. Nikolai jelbit jagt in der Ankündigung feiner Schrift in dr A. D. B. ausdrücklich, fie enthalte feine Satyre auf Göthe, den er achte und als Meifter anerfenne, fondern er habe nur die trübe und empfind= fame Manier und die Art der Vertheidigung des Selbſtmords lächerlich machen mollen. Gelegentlich gibt er freilich auch zu verftehen, daß ihn die Artikel der Frankfurter Anzeigen geärgert hätten, worin ſowohl über das berliner Laternenlicht, als über die Hamburger Dunkelheit gefpottet war.

Als Repräfentanten der dritten Richtung der Zeit, der ſen— timentalen und der zärtlichen, oder der unzähligen Menfchen, welche

Deutſche Literatur: Werther und Siegwart. 157

Göthe zu verftehen glaubten, weil fein Styl fo Teicht war, ihn aber gleichwohl gänzlich mißverftanden, betrachten wir J. M. Miller in Ulm. Er gehörte wie Hahn und Leiſewitz und Hölty zu den göttinger Barden, machte auch ganz artige Gedichte; wir würden aber weder biefer, noch anderer Arbeiten, noch ſelbſt des Sieg— warts erwähnen, wenn wir nicht nachweifen müßten, auf welche Weiſe das, was in Göttingen tdyllifcher Ton und Schilderung häuslicher Scenen geweſen war, als Schwärmerei nach Schwaben fam und durch den Stegwart in ganz Deutjchland verbreitet ward, Man muß übrigens Stegwart, eine Kloftergefchichte, welchen Roman Miller, der um 1775 von Göttingen nach Ulm zurücgefommen war, fchon 1776 fehrieb, von den ſpätern Roma— nen, die er fabrifmäßig auf den Kauf verfertigte, wohl unterfchet- den. Zu diefen rechnen wir den Briefwechfel dreier afa= demiſchen Freunde, den Karl von Burgheim, die Emi- lie von Rofenau u ſ. w. Der Siegwart verdankte alferdings das Glück, das er machte, und das Auffehen, das er erregte, Werthers Leiden, doch würde man irren, wenn man ihn für eine Nahahmung diefer Dichtung anfehen wollte; er ging nur aus derjelben Stimmung der Zeit mit diefer hervor, gehörte dabei aber mehr der göttinger elegifchen Richtung an. Man konnte etwa jagen, der Siegwart ſei elegifche Idylle eines Dichters, dev fich unter den göttinger Barden gebildet hatte,

Diefer Roman machte ein unbefchreibliches Auffehen und ſelbſt an den Außerften Enden Deutfchlands, am Strande der Nordfee und an der Weſer, alſo gerade in der größten Entfernung vom Schwabenlande, vernahmen wir in unferem Knabenalter das aus- gelitten haft Du, ausgerungen w f. m. Der Siegwart war allgemein verbreitet und paßte ganz zu der norddeutſchen Idylle und zu ber, durch Höltys und anderer Gedichte verbreiteten, ſchwer— müthigen Stimmung. In Miller Gedichten, das heißt in feinen Idyllen, Elegien, Liedern, drückt fich dieſelbe Richtung aus, welche wir im Siegwart wahrnehmen, und gerade die in diefen herr- ſchende Stimmung der Zeit machte ja Milfers Perfönlichkeit einem Voß und andern Göttinger Freunden,, die von Melancholie und Schwärmerei nicht hören wollten, denen ein Klofter verhaßter war, als ein Gefängniß, fo ungemein theuer und werth, Uebrigens

158 Deutfche teratur: Wertber und Siegwart.

fann man, weil fich der Siegwart doch von den übrigen, von Miller fabrikmäßig gefertigten Romanen durch wejentliche Vorzüge unterjcheidet, die deutfchen Jünglinge und Frauen megen ihrer Bewunderung deffelben einigermaßen entſchuldigen.

Miller hatte ja die Alten mit jenem edeln, nur reiner Men- ichenbildung nachftrebenden, von Gelehrtendünfel und von Hand» werfögeift gleich entferntem Eifer gelefen, der das Leben des göt— tinger Bundes fo vortheilhaft vom Treiben der Studenten umter- ſchied; er hatte fich mit den alten ſchwäbiſchen Dichtern befannt gemacht, dies gab ihm große Vorzüge vor andern Nomanfchret- bern, "Nur wenige Schriftfteller unter denen, die damals für das große Publikum fchrieben, waren der reinen und edlen Um— gangsiprache mächtig, denn Nicolais Ton und Sprache war ganz platt und gemein, Wieland fchrieb nie reines Deutſch, und beide waren läſtig breit, Miller fchrieb dagegen feinen Siegwart in gu— tem, fließenden, Teichten Deutfch, anfangs nur in zwei Bändchen, erſt als der Roman Lefer gefunden Hatte, zog er ihn ins Breite, Die Scenen des Romans find durchaus idylliſch ausgemalt und Miller hat dabei die Lofalitäten feines Schwabenlandes benukt, wie feine ſaſſiſchen Freunde in ihren poetifchen Idyllen die nie- devfächfifchen nutzten. Miller verlor auch feinen durch den: Sieg— wart erworbenen Ruhm gar bald, als er feinen Roman gleich einem gelehrten Commentar, den ein Philolog herausgibt, hernach unverſtändig vermehrte,

Miller ſelbſt fchildert uns die Quelle, aus welcher ihm und ‚allen feinen Zeitgenoffen die empfindelnde Richtung, die girrende Taubenliebe, die Feine Leidenfchaft, jondern ein Fafeln iſt, der weinerliche und melancholiiche Ton floß. Diefe Quelle find die Gedichte des damals über den Homer erhobenen oder neben ihn geftellten Klopſtock, es find die Gedichte der zahlreichen Liebes— fanger in Petrarchas Manter, die fih um Klopſtock fammelten. Diefe unterhielten fich über die gewöhnlichſten Dinge des gemeinen Lebens in dem Ton, in welchen im Siegwart von einem Bauern- burfchen geredet wird, der in ein Mädchen verliebt ift: „Wohl dem Jüngling, heißt es, deſſen Seele fich allein durch das Band der Liebe feſſeln läßt! Er und feine Freundin werden einft mit Semida und Gidli, mit Betrarha und Laura,

Deutfche Literalur: Werther und Siegwart. 159

mit Klopſtock und ſeiner Meta unter Lebensbäumen wan— deln und ſich ihre Liebe in der Unterwelt erzählen.“ Aus dieſer Stelle kann man zugleich auf den in dem Buche herrſchenden Ton und auf den Ton der Leute ſchließen, von denen es ſo be— gierig geleſen ward. Die einzelnen dargeſtellten Scenen, ſo wie die ins Lächerliche getriebene Vergötterung Klopſtocks ſind ganz aus dem damaligen Leben entlehnt, wie wir aus den zahlreichen, jetzt gedruckten, Briefen jener Zeit ſehen.

Die Proſa des Siegwart iſt von Göthes Proſe im Werther unterſchieden, wie der Styl in Geßners Idyllen von dem in Rouſſeaus Heloiſe, denn ohne gerade poetiſche Proſa zu ſein, gleicht er doch Verſen ohne beſtimmtes Metrum. Dabei iſt Alles trübe und melancholiſch, man hört nur von Kirchhof, Tod, Thränen. Das Alter iſt dort ohne Reife, die Jugend hat keinen der Cha— raktere der Jugend; die Sinnlichkeit iſt ihrer Natur ganz entge— gen nicht auf Genießen, ſondern auf Anſchauen gerichtet. Läug— nen kann man jedoch nicht, daß auch dies in vielen Gegenden wohlthätig wirkte, daß die moraliſche Bildung des Volks durch den vielgeleſenen Roman gefördert, Sinn für Poeſie geweckt und ſtatt herrſchender Rohheit Gefühle der Menſchlichkeit verbreitet wurden. Im ganzen Buche wird Religioſität und Sittlichkeit gefördert und ſtatt der alten Dogmatik und der Katechismuslehre, die bloß für das Gedächtniß waren, ein lebendiges Gefühl der Gegenwart der Gottheit im Gemüth und in der Natur untergeſchoben. Weil wir den Siegwart als eine Art Erbauungsbuch betrachten und zugleich den erſten Theil beſonders als eins der vorzüglichſten unter den vielen, damals für Kinder und für die reifere Jugend geſchriebenen Bücher anſehen, ſo haben wir ihn der neuen Erzie— hungsliteratur vorausgeſchickt, deren wir jetzt noch gedenken wollen.

Auch in den Schriften zum Unterricht oder zur Unterhaltung von Kindern, mit denen Deutſchland ſeit Baſedows Zeit über— ſchwemmt ward, wird man mehr ‚oder weniger von der Lebens— anficht und Moral finden, welche im Siegwart gelehrt oder be- folgt wird. Mean erkennt darin überall den gutmüthigen Charak— ter der Nation; aber auch Kleinftädteret, Pedanterei und Neigung zum Bredigen, ftatt zum Handeln, Einer der erften Schriftſteller für Kinder und. über Erziehung war Weiſſe, wir übergehen aber

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jeinen Kinderfreund, weil er ſich nur auf Kindererziehung und auf das Verhältnig zu diefen befchränftez da hingegen Campe das ganze Leben und deſſen Berhältniffe in feinen Kreis 309. Campe verftand eben fo gut als Kobebue fich auf den Standpunft der Leute zu ftellen, die man Publikum nennt, das heißt, der ſo— genannten Aufgeflärten, dev durch Nomanenlefen und oberflächli= chen Unterricht Gebildeten. Cr war Brophet der Klafie von Le— fern, welche zwar von einem Lichtenberg, Voß, Herder, Leſſing, Göthe, jo unendlich verfchteden fonft diefer Männer Anfichten waren, verfpottet oder doch verſchmäht wurden, die fich aber her— nach in großen Maffen um Kobebue drängten.

Campe hat freilich nicht Eignes oder Eigenthümliches ans Licht gebracht; allein er hat die allerverſchiedenſten Dinge unter der Maſſe des Volks verbreitet und dem Geſchmack und Begriff der eigentlichen Bürgerklaſſe, die vom gelehrten Unterricht ausgeſchloſ— ſen war, angepaßt. Am nützlichſten iſt unſtreitig unſerer Nation ſeine Kinderbibliothek geworden, beſonders nachdem er in ſpäterer Zeit die Zahl der darin aufgenommenen Stücke bedeutend ver— mindert hatte, ſo daß jetzt nur die vorzüglichſten Proben der mo— raliſchen und erheiternden neuen Literatur der Deutſchen, welche Kindern und jedem aus dem Volke verſtändlich und lesbar ſind, darin vereinigt gefunden werden. Durch den Gebrauch dieſer Samm= Yung beim Unterricht und im Leben wurden Sprache und Ge— ſchmack gereinigt, die Jugend gewann von Kindesbeinen an bie vorzüglichiten Volksſchriftſteller, die ihr sorher nur im gelehr— ten Unterricht bekannt wurden, gewifjermaßen neben den Spielen der Kindheit fürs ganze Leben lich. Campe's GSittenlehre für Kinder war ein völliger Mißgriff und hing mit der Manier der neuern Grzieher, den jugendlichen Geift immer nur auf die un- mittelbar brauchbaren Kenntniffe hinzuleiten, zufammen, Dieſen Mipgriff muß man damit entfchuldigen, daß man som Extrem des Mittelalters plöglich zum Extrem des Modernen übergehen wollte oder mußte, Es beftand nämlich jene Sittenlehre für Kin— der, die man an die Stelle der alten dogmatifchen Katechismen ſetzen wollte, in einer falfchen Anwendung von Schloſſers Kate hismus für das Landvolf auf den Kinderunterricht überhaupt. Campe und alle Weifen feiner und unſerer Zeit, welche jedes

Deutſche Literatur: Campe. 161

freie und ideefle Leben Haffen oder Tächerlich machen und den jugendlichen Geift durch Gedächtnißwerk oder auch durch Hin— weifung auf äußere Bortheile unauflöslich an das Materielfe binden, haben zugleich Hecht und Unrecht, wenn fie das Kind und das Volk auf gleiche Weiſe unterrichten wollen, Ste ha— ben Recht, in fo fern Leben, Lebensweisheit, Fähigkeit des Be— greifens höherer Dinge bei beiden eine gleiche Methode erfor- dertz fie haben Unvecht, weil die Menfchenklafen, die in civiliſir— ten Staaten Bolf genannt werden, ftillftehend, derjenige Theil der Jugend aber, der nicht zu diefen Klaffen gehört, fortſchreitend gedacht werden muß, und deßhalb am Anfange der Reife des Le— bens Bieles einfammeln ſoll, was ev erft in dev Mitte derfelber gebrauchen lernt. Campes Robinfon, der jüngere, erinnert ſchon durch diefen Titel an die Gefchichte des Alexander Selkirk, welche Daniel Defve, der als politifcher Schriftiteller und als Verfaſſer vielgelefener Romane feiner Zeit (1665—1731) in England fehr berühmt war, für feinen Robinſon Cruſoe benubte, hinter welchem Campes Arbeit weit zurückhleibt, Campe war nicht einmal der Erſte, welcher Defoes Arbeit fir den Zweck benußen wollte, den er wie Baſedow und Rouſſeau im Auge hatte, nämlich den Men— jchen, der für das Leben und für die fonventionellen Verhältniſſe unferer Zeit beftimmt tft, wie den Naturmenfchen zu erziehen. Schon Rouſſeau hatte in feinem Emil die Gefchichte des Altern Robin— fon als dasjenige Buch angepriefen, wodurd man dem Zöglinge am beften anfchaulich machen könne, welche Kenntniffe eigentlich allein nüslich und nöthig feten * wie man fie erwerben ſolle. Campe hätte bei feiner educatorifchen Bearbeitung des alten Ro— binfon nur manche Auswüchſe oder Geſchmackloſigkeiten und Un— wahrfcheinlichkeiten weglaffen, die alte Gefchichte durch feinen Yeich- ten, der Gonverfation der: Gebildeten angepaßten Styl und durch eine reine umd richtige Sprache, deren ex durchaus mächtig war, in den Bamtlienfreifen zum unterhaltenden Leſebuch machen jollen, dadurch würde er den nach der neuen Methode Erziehenden und Erzogenen viel genügt haben, ev ging aber weiter, Was er hin- zufügte, war albern und machte albern, Gampes Robinfon ward mit Recht, weil man Fein pafjenderes in gutem Deutſch geſchrie— benes Buch hatte, ein allgemeines Leſebuch für Kinder. Diefe Säloffer Geſch. du 18: m 19 Jahrh. IV, Th. 4 Aufl. 11

162 Deuiſche Literatur: Campe.

Geſchichte und das von Campe hineingefchobene Edukationsge— ſchwätz erflicte Die Poeſie des Jugendlebens in demjelben Jahr: zehnt (1775—1785), als der Stegwart poetifch religiöſe Träu— merei und melancholifches Schwärmen in die Mode brachte.

Sobald Campes Robinfon in den Händen aller Kinder der gebildeten Stände war, traten die. biblischen Gejchichten zurück. Es ward dadurch in den Familien neben der praktifchen Proſa unſerer Heinen Berhältniffe auch noch eine theoretiſche herrſchend. Es erwuchs ein neues Gefchlecht nur aufs Handgreifliche, Häus— Fiche, unmittelbar im äußern Leben Nütliche bedacht, voll kindli— her Naſeweisheit. Luthers Bibelüberſetzung, die im feften Glau— ben umd im Tone des ſechszehnten Jahrhunderts erzählten Ges fohichten des Orients und die alterthümlichen Poeſien vegten, wenn fie auch den Berftand nicht fchärften, mochte man fie nun wer ftehen oder nicht, doch die Phantafie an. Die Bibel gab menig- fteng religiöſen Schwung, die Tangweilige Moralpredigt des neuen Leſebuchs drückte die Seele nieder und drängte die zum Lernen trägen Knaben in Rouffeaus Schule, wo der eigentliche Menſch nicht durch Fortſchreiten und im Fortichreiten entfteht, ſondern als Naturmenſch volllommen geboren wird; Bon Campes Entdeckung son Amerika und von den caftrirten und durchwäſſer⸗ ten Retfebejchreibungen, die das Leben nicht jo unmittelbar an— gehen und auch nie jo verbreitet waren, als die andern genann- ten Bücher, darf hier nicht geredet werden, Auch Salzmanns feiner Zeit allgemein werbreitete Kinderbücher erwähnen wir nur im Vorbeigehen. Salzmann Halt fich weislich ganz innerhalb des engen häuslichen Kreifes und Handelt nur won den bürgerlichen Berhältniffen des ganz gewöhnlichen täglichen Lebens. Sein Ele- mentarwerf, welches in unferer Jugend die klaſſiſche Lectüre eines neuen Geſchlechts nüßlicher aber Tangweiliger Menfchen war, ſchil⸗ dert den bürgerlichen Kreis: einer behaglich Lebenden deutfchen Fa— milie mit aller Gemüthlichkett, welche im demſchen Nationalcha⸗ rakter liegt, legt aber zugleich Bedeutung auf Kleinigkeiten, als ſollten ausdrücklich Pedanten und armſelige Kleinigkeitskrämer ges bildet werden. Daß alle Kindereien in dem Buche mit großer Wichtigkeit behandelt werben, hat ſeinen Grund darin, dag ein Pub⸗ lilum, welches. Klopſtock and ben vergötterten Siegwart bewunderte,

Deutſche Literatur: Peſtalozzi. 163

jede Gelegenheit ergriff, Gefühle zu zeigen oder zu affectiren, die man für Tugend gelten ließ, wie bei der vorigen Generation Dog- matif, Beten und Singen and in die Kirche gehen für Neligton galt; Dadurch wurden die Rleinigkeiten des häuslichen Lebens anf dieſelbe Weife durch ein Buch wichtig gemacht, wie vornehme Grillen und Launen durch Jacobis Woldemar. Uebrigens gewann auf der andern Seite durch diefes Buch und durch Ähnliche, nach feinem Mufter gefchrtebene, das dentfche Leben an Klarheit, Die Jugend ward dadurch von blindem und unpraftifchem Gedächtniß— werk zu einer Tebendigen und thätigen Erkenntniß gebracht, denn das Buch war einfach, klar, herzlich geſchrieben. Die Reiſen der Salzmannſchen Zöglinge waren weniger verbreitet, find aber wie das Elementarwerk zu betrachten und haben mit dieſem einerlei Zweck.

Höher als alle die genannten deutſchen Educationsſchriftſtel⸗ fer und ihre Bücher fteht ohne allen Streit der Schweizer Peſta— lozzi, und fein nicht ſowohl Fir Kinder als für's Volk geſchrie— bener Volksroman. Peſtalozzi's Lienhard und Gertrud, ein Buch für das Volk, ſteht zwar in Rückſicht der Reinheit des Styls und der grammatiſchen Richtigkeit dev Sprache den er— wähnten deutſchen Büchern weit nachz dagegen iſt es durch den darin herrſchenden Charakter ächter Religioſität und durch die Darſtellung des durch natürliches aber veredeltes Gefühl geleite— ten Lebens einer Gemeinde der unter den drückendſten Verhältniſ— fen Gott und fein Gebot ehvenden Seelen unübertrefflich. Das Buch wiirde noch mehr Werth haben, wenn der Verfafler 8 in feiner urſprünglichen Geftalt gelaffen hätte, wie es blos auf drei— hundert und fiebenzig Selten zu Berlin bei Decker erfchtenen war . Bei dieſer erften Auflage Half eine ſehr gefchiete Hand dem Ver— fafler in Rückſicht auf Ausdruck und Sprache nachz fpäter half Jemand, der das: Weſen und den eigentlichen (Charakter Hiefes unfterblichen, aus warmem Herzen, inniger Theilnahme am Schtefz ſale der ärmſten Volksklaſſen und voller Ueberzeugung hervorge— gangenen Werkes veränderte. Man machte das Buch zu einer Vorrathskammer der allerverſchiedenſten Lehren und Belehrungen, wodurch ihm fein Hauptvorzug, raſche Handlung und kurze Mo— ral, geraubt und die im erſten Theile völlig beendigte Geſchichte ins Breite gezogen ward. Die erſte Auflage namlich, die blos

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164 Deutfche Literatur: Peſtalozzi.

aus dem nachherigen erften Theil befteht, enthalt die einfache Ge— Tchichte einer armen Bauernfamilte des Kantons "Bern aus jener Zeit, wo die Junker von Bern noch Gutsherrfchaften im deutſchen Sinne des Wortes und zugleich Schuber und Wohlthäter ihrer: Bauern waren, Dieſe einfache Gefchichte wird auf eine folche Weiſe erzählt, daß nach und nach das ganze Dorf und alle Ver— häaltnifje einer Dorfgemeinde, ihr Schulze, ihr Wirth, ihr Pfar- ver, ihr Gutsherr, die verjchiedenen Gemeindeglieder redend und handelnd eingeführt werden. Der Verfaſſer war durch feine in- nige Befanntichaft mit der Lage, der Denfart und den Berhält- niffen des Landvolks in den Stand gefeßt, in einer ganz einfa= hen Geſchichte das Leben deſſelben Fünftlerifch darzuftellen, Er verfieht, in den Handlungen und Charakteren der verichiedenen auftretenden Perfonen die verfchtedenften Wirkungen, ſowohl die der ganz von Gewinnfucht beherrichten Gemeinheit und der grob finnlichen Rohheit, als des dem Menjchen angebornen, oder pon ihm durch religiöſen Unterricht erworbenen, feineven fittlichen Ge— fühls Handgreiflich und augenfcheinlich zu machen, Da alle Be— mohner des Dorfs auf die Bühne gebracht werden, fo ‚gibt Dies Gelegenheit, alle verfchiedenen Abftufungen und Schattirungen der rohen Charaktere der blos auf äußern Vortheil erpichten Glieder der Gemeinde und der rechtlichen und veligtöfen Gefinnungen Anz derer vors Auge zu bringen, und zugleich die Folgen der beiden entgegengefebten den Landvolk eignen Handlungsweifen anfchaulich zu machen. Es herrſcht zwar auch in diefem Buche die Senti= mentalität des Jahrzehnts, in dem es gefchrieben ward ; wir haben es deshalb mit den andern fentimentalen Unterhaltungsbüchern verbunden, idealifirt ift aber Nichts darin und nur die Hauptfigur allein ift etwas zu ftark gezeichnet. Dies mußte ſchon des Zwecks wegen geſchehen; die andern Perſonen find alle Bildniffe aus ei= nem Kreife, den Peſtalozzi Lange und genau beobachtet hatte, So— wohl der Pfarrer als der Gutsherr find aus dem damaligen Ber- ner Leben genommen. Der Berner wie der Genfer Pfarrer hatte eine ganz andere Rolle in der Gefellichaft, als der gewöhnliche deutfche Dorfpfarrer, und die Berner Ariftofraten, jo ftolz fie ſonſt waren, mußten ſchon aus Politik gegen den Landmann gütig und herablaſſend fein, obgleich wir Feinsswegs läugnen, Daß fie es auch

Deutfhe Literatur: Romanfabriken. 165

aus Menfchlichfeit waren, da man fie ja im Lande mit Heiliger Scheu verehrte. Fremde Hülfe gebrauchte übrigens Peftalozzt nur für Nichtigfett oder Zierlichfeit des Ausdrucks und der Sprache, denn den herzlichen Volkston Hatte er ganz in feiner Gemaltz er konnte daher ſowohl die tragifche und rührende Seite des nie= dern Lebens, als die burlesfe für feinen Zweck benuten, Dies fem Zweck würde es übrigens nicht gefchadet haben, wenn eine große Anzahl der vorkommenden Flüche und Schwüre weggeblie— ben wäre.

Neben den angeführten fentimentalen Romanen und den Ehdueationsfchriften, die zum Theil fchon eine Frucht der Specu- Yation waren, welche Schriftfteller und Buchhändler auf die ver— anderte Erziehung und Lebensanficht gründeten, müſſen wir noch furz der Nomanfabrifanten erwähnen, die fich des neuen Ge— ſchmacks bedienten, um berühmt zu werden oder Geld zu verdie— nen. Ste wurden fortan eine Peſt des deutfchen Lebens, das fie verflachten, da fie der ernften und durchgreifenden Bildung einer Nation, die Feine tonangebende Hauptftadt hatte, dadurch ein un— überwindliches Hinderniß entgegenfesten, daß fie fentimentale Ge— jchtehten oder milde Sprünge von Einem zum Andern für Ge— nialität oder für Dichtung verkauften, Diefe Fabrifanten machten Bücher, mie Weiber und Gimpel fie wünfchten, ftatt diefe zu nöthigen, wenn fie leſen wollten, fich zu den DVerfaflern der Bü— cher zu erheben, Es wurden dann erſt von den Nomanfchreibern die Väter und Mütter verbildet, hernach von den Verehrern Rouf- ſeaus und Baſedows die Kinder verzogen. Wir berühren die Klaffe Romanfabrifanten für Lefegefellfchaften nur kurz und er— wähnen der Kraftgenies, Humoriften und Nomantifer gar nicht, weil wir nicht Geſchichte der deutfchen Dichtung ſchreiben. Wir würden aus eigner langer Grfahrung über den Einfluß der Mo— debiicher auf dem Ton der Familien des deutfchen Mittelftandes viel berichten fünnen, wenn wir nicht vorzögen, nur das Bekannte und Anerkannte für unfern Zweck zn gebrauchen,

Unter denen, die wir Romanfabrifanten nennen, verdienen unftveitig der Ulmer Miller und Johann Gottwerth Miller in Itzehoe den erften Platz. Die Romane des Grften Haben wir oben angeführt, wo wir nur auch noch den Garl Ferdiner unter

166 Deutfihe Literatur: Nomanfabrikem

den, nach dem Siegwart als Fabrikaten verfertigten, ziemlich Yangweiligen Unterhaltungsbüchern hätten nennen follen. Der Zweite Hatte wenigſtens das DVerdienft, daß er die norddeutfchen Romanleſer und Leferinnen vom Seufzen und Weinen zum La— chen führte. Johann Gottwerth Miller zeigte in feinem Sieg— fried von Lindenberg eine Gattung von komiſchem Talent, welches dem ſchlechten Ton der Gegenden, aus Denen ev feinen erſten Hel— den nahm, ganz angepaßt war, er zeigte aber doch zugleich auch noch einige Menfchenfenntnig, wenn dieje gleich auf pommerfche, holſteiniſche, mecklenburger Landjunker, Pfarrer u. ſ. w. beſchränkt war. Das Einzige, was: in Beziehung auf deutſche Bildung, Ton und Geſchmack jener Zeit als hiftorifch merkwürdig über den Siegfried won: Lindenberg aus unſerer eigenem unmittelbaren; Gr: fahrung aufbewahrt zu: werden verdient, tft, daß ein Buch voll ſo ſchlechter, oft ganz gemein ausgebrücter Witze im platten Ton verfaßt, ſo großes Aufſehen erregen: konnte, als es feiner Zeit wirffich erregt hat. Auch im erſten Theile der Gefchichte der Herrn von Waldheim, welche ihrer Zeit ebenfalls Epoche machte, iſt noch; einiger Witz von geringem: Caliber, feit der Zeit ſank aber Miller völlig zw einem: ermüdenden und langweiligen Viel ſchreiber hevab. |

Bretzner, Iffland, Jünger, dürfen wir nicht ganz mit Stillſchweigen übergehen, weil ſie Stücke verfertigten und aufführen ließen, in denen der Ton der Erziehung ihrer Zeit, die Art Moral, die Campe und Salzmann lehrten, die weichherzige Tugend ohne Kraft und die falſche Gefühlſamkeit der faden Ro— mane in Handlung gebracht und bet, der Aufführung vermittelſt des Auges und Ohrs den Seelen eingeprägt ward. Diefe: Vers ferfiger der. ſogenannten rührenden Schauſpiele nach Didersts Res zept kannten ihr durch Romane gebildetes Publikum; und die Mittel, dieſes Publikum im Rührung zu bringen, wie fie die Tak— tik der Bühne kannten z fie waren desjenigen Witzes, dev; die ge= wöhnlichen Gefellichaften oder andy die der Kaffeehäuſer erheitert, vollig. mächtig; fie leiſteten daher wenigſtens Etwas, welches ihre Nachahmer und Nachfolger nicht einmal erreichen Fonnten, Ueb— rigens bahnte Iffland, deſſen Miündel im: Jahre 1754 und deſ— ſen Jäger 1785 ſehr großes Aufſehen erregten, nur dem Meiſter

Deutſche Literatur: Romanfabriken. 167

in dieſer Gattung, dem Manne, deſſen Name in ganz Europa und außer Europa, im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhun— derts und in den erſten fünfzehn Jahren des neunzehnten in al— ler Theaterfreunde Mund war, dent Herrn von Kotzebue, dem Weg. Was man daher auch son dieſem als Menſch und als Schriftiteller Halten mag, als Hiftorifche Erſcheinung ift er wich- tiger als Hunderte von edlen Männern und wahrhaft großen Get- ftern, die nur von wenigen, die fie verftanden haben, im Stillen betwundert werden,

Kotzebues Wirkſamkeit, feine mehrften Schriften und fein Einfluß als Dramatifer auf das deutfche Publikum. fallt über die Grenze hinaus, ‚die wir. der hier zu behandelnden Periode geſetzt haben; wir fünnen ‚daher nur der eriten Anfänge feiner Schrift— ftellerei erwähnen, welche noch in diefen Zeitraum: fallen. Er begann um 1785 als fentimentaler Romanfchreiber und glängte gleich bei feinem erſten Auftreten durch, diefelben Talente und Eigen— haften die ihn ſpäterhin troß der fich gegen feine Arbeiten firäu- benden Aeſthetik, trotz der ihm ſtets heftig tadelnden Kritik zum Lieblingsichrififteller der, Nomanlefer und Theaterfreunde gemacht haben. Die Leiden der Ortenbergiſchen Familie, war der Roman, mit dem er feine Laufbahn. begann. Schon in. Dies ſem zeigt er diejelbe Gabe der Erfindung von Scenen und Ver— wickelungen und Rührungen, diejelbe Gefühlſamkeit, diefelbe nicht jehr. erbauliche Moral, diefelbe Sorglofigfeit in Beziehung auf Sprache und. Gedanfen, welche die in den folgenden dreißig Jah— ren von ihm. gefertigten Dramen und Gefchichten aller Art zum: Gegenftande der Bewunderung der großen. Mehrheit des Bubli- fums und. zum. Gegenftande des. Hohns, Spotts und bittern Ta— dels einer geringen Minderzahl machten. Diefe Minderzahl ward freilich; zu ihrer Zeit nicht gehört, fie hat aber doch am. Ende Recht behalten.

Salzmann ſchloß fich auch an die Romanfabrikanten feiner Zeit: an, er fehrieb. den: Carl von Carlsberg, oder über das menſchliche Elend. Dies platte, Fabrikat verfündigt feine, Tendenz) ſchon auf dem. Tittelblatte, Weil noch; fo Vieles damals. in Deutſchland mangelhaft war, mas die Zeit: verbeflert hat, ſo ſollte man denken, das Buch könnte nüßlich ſein, um die

168 Deutfche Literatur: Leffing.

gefelligen Zuſtände jener Zeit kennen zu lernen; aber auch dazu taugt e8 nicht. Im den langen ſechs Theilen werben fo viele Armfeligfeiten oder zufällige und Iocale unbedeutende Mängel ala menfchliches Elend aufgezählt, daß man fich ſchämen müßte, einen ernftlichen Gebrauch davon zu machen,

5.

Leſſing und Herder. Verftändiges und Poetifhes Chriftenz thum. Lavater und Lihtenberg Schwärmerei und Satyre.

Mir haben in den vorhergehenden Paragraphen die nach und nach im Deutfchland erfolgte Befekung der Lehrftühle der Aniverfitäten mit freifinnigen und frei denfenden Lehrern der - Staatsreligion, die ganzliche Veränderung der Crziehung in den Höheren und mittleren Ständen und die Entftehung eines vom gelehrten Unterricht vollig gefchtedenen bürgerlichen berichtet; wir gehen jebt zu den Streitigkeiten tiber, die dadurch veranlaßt und zu den Nattonalmwerken, welche während dieſes Streites gefchrieben wurden, Es mußte fehon aus dem Grunde unter den Broteftan- ten Deutichlands eine völlige Veränderung der Literatur mit der Veränderung der hölzernen Dogmatik des fiebenzehnten Jahrhun— derts, die man jetzt wieder einführen will, verbinden fein, weil bie Letztere mit einer befferen Erklärung der Poefie und der Gefchichte des Orients, wie fie in den Quellen der chriftlichen Religions— gefchichte enthalten iſt, verjchwinden mußte, Wir müſſen daher des Kampfes dev Urheber der neuen Schrifterffärung und der darauf gegründeten Religionslehre hier erwähnen, weil er das neue Leben und die Bewegung erzeugte, welche aus vielen Ur— fachen der gegenwärtigen Generation fo verhaßt find, daß fie Unglauben und Rebellion nicht anders verhindern zu Tonnen glaubt, als wenn fie jede geiftige Bewegung, wenn fie feinen materiellen Nuten hat, vollig erftickt.

Man Tann die Verbeſſerer des proteftantifchen Lehrbegriffs und der fich auf diefen beziehenden Literatur zur Teichtern Meber- ficht der Streitigkeiten darüber in drei Parteien theilen. Die Eine wollte alle Religion auf dürre Sittenlehre ohne alle Anregung der Phantafte und geiftiger Empfindung zurückbringen ; die Zweite

Deuiſche Literatur: Leſſing 169

quälte ſich zu beweiſen, daß das Chriſtenthum reiner Deismus und Verſtandsreligion ſei, und drehte an den Worten der Schrift gleich den Dogmatikern des Mittelalters, die ihren Scholaſticis— mus als Schriftlehre erweifen wollten, Die dritte Partei wollte durch eine. kritiſche und philoſophiſche Sichtung dev Glaubens— (ehren etwas herausbringen, das fie Urchriſtenthum nannte, fo problematifch es auch ift, ob es je eim folches gegeben hat, Den letztern Weg hatte Semler betreten, Griesbach, Eichhorn, Pau— lus, Planf, Spittler folgten Semlers Spuren, wenngleich in ganz verfchtedenen und hie und da fogar entgegengefehten Rich— tungen, Für den reinen Deismus Fampfte Eberhardt feit er in Halle lehrte, und feine Apologie des Sofrates, worin feine Anficht des Chriſtenthums und feiner Lehren ausgefprochen war, befand fich in den Händen aller Gebildeten. Trocknes und mitunter plattes und langweiliges Moralifiven festen Campe, Salzmann, Nikolai und alle damaligen aufs Praktiſche allein bedachten Re— formatoren der Erziehung an die Stelle der alten Dogmatik. Wie ungenügend diefe dem neuen Gefchlechte fchten, zugleich aber, wie wenig die alte Dogmatik, die alte Methode ferner ausreichen Eonnte, fieht man am beften daraus, daß auch ſogar der gottloſe Bahrdt für feine die, Porfie des N. T. profanivende Proſa und für eine Moralpredigt, der fein ganzer Wandel widerſprach, ein zahlveiches Publikum fand, Bahrdts fchnell hintereinander in drei Auflagen verbreitetes N. I. haben wir-oben erwähnt, was feine Moral für den Bürgerftand angeht, fo gilt fie ſelbſt unter denen, die den Verfaſſer verabfheuten, für dns beſte Buch, das aus fet- ner Fabrik hervorgegangen fet.

Ein einziger Mann unter den Reformatoren der deutfchen Literatur und: neben Göthe ohne allen Streit der Größte unter ihnen, wenn er gleich nicht wie Göthe im eigentlichen Sinn für das große Publikum fehrieb, Gotthold Ephraim Leffing, der fich nach den im vorigen Bande erwähnten Arbeiten auch der reli= giöſen Bildung unferes Volks annehmen wollte, trat mit Entſchie— denheit akfen drei angeführten Arten von Aufklärerei entgegen. Sonderbar genug tft es und charaktertitifch für die Blindheit der Seloten aller Zeiten, daß er wegen feiner verftändigen Lehren Arger angefeindet wurde als die Fühnften Neuerer wegen ihrer

170 Deutſche Literatur; Leſſing

frevelnden Kühnheit. Er fand es eben fo thöricht, daß die Häup—⸗ ter der drei angeführten Schulen des Rationalismus, wie man jetzt ſagt, dev chriſtlichen Religion eine ganz andere, vom ihnen herausgekünſtelte unterſchieben wollten, als daß die ſtumpfen, dogmatiſchen Gedächtnißmänner keinen Fortſchritt, kein Licht, keine Accommodation der Lehre an ein Bedürfniß der Zeit zulaſſen wollten, wie doch ſelbſt die alte Kirche bis auf das tridentiniſche Concilium gethan hatte. Er wollte ſich in die Mitte ſtellen und hatte das Schickſal, welches diejenigen zu haben pflegen, die ſich als Ruheſtifter in Schlägereien miſchen und zwiſchen die Kämpfer treten. Wenn man ihm nicht in den Weg getreten wäre, ſo hätte er die Theologie, wovon Niemand mehr hören wollte, wieder anziehend gemacht, denn er hatte ſchon durch ſeinen Be— rengarius von Tours gezeigt, daß er die ſeltene Kunſt beſitze, theologiſche Materien ſo zu behandeln, daß Jedermann Antheil daran nehme, als wenn es Gegenſtände der allgemeinen Litera— tur ſeien. | |

Leſſing hatte Spinozas und Leibnitz Schriften und auch den Aristoteles zu gut ſtudirt, um nicht fir die Scholaftifer und für die Gonfequenz des von ihnen gefchaffenen dogmatifchen Syſtems große Achtung zu haben, Er fah fehr gut ein, wie gut: man die Lehre von der Dreieinigkeit und andere ähnliche philoſophiſch ge— brauchen könne, und wie unhaltbar alles das ſei, was die Neuerer am die Stelle des: alten eonfequenten Syſtems ſetzen wollten. Leffing nahm ſich daher auch anfangs der alten philoſophiſchen Dogmatik gegen die deiſtiſche Flachheit geiftveich an, ſpäter machte er die blinden Zeloten durch derbe Winfe aufmerkſam, wie leicht e3 fet, ihren Uebermuth zu demüthigen. Beides that er zuerſt als Dolmetfcher Anderer, wobei er fich das Anfchen gab, als wenn er nur die Pflicht: eines Bibliothekars erfülle. Es ſchien, als wenn. er nur die ihm anvertrauten Schätze von Handfehriften der ganzen Nation mittheilen wolle; aber er benußte eigentlich, nur) diefe Gelegenheit, um der Flachheit der fogenannten Deiften zu ſteuern und zugleich um bet der Behandlung einen trockne phi— Yofophifche Materie zu beleben, und die Kraft und den Adel un— ferer Sprache, die er neu Schaffen half, und feine unübertveffliche Kunft, fich derfelben zu bedienen, ans Licht zu bringen, |

Deutfche Literatur: Leſſing 171

Die Sache der Nechtgläubigen vertheidigte Leſſing, als er Leibnitzens, unter den Handfehriften dev Wolfenbüttler Bibliothek gefundenen Entwurf einer Vorrede zu einer Schrift zur Verthei— digung der Ewigkeit der Hölfenftrafen, auf zwei Seiten druden ließ. Er benutzte auch diefe Gelegenheit, um feine Meinung über den. Lärm der Neuerer vorzutragen. Den in den Beiträgen zum Literatur aus der Wolfenbüttler Bibliothek ab- gedruckten wenigen Blättern von Leibnitz fügte nämlich Leſſing eine Kurze, alſo nicht im der Tangweiligen Methode dev Popular— philofophen geſchriebene Abhandlung bei. In derſelben bewies ex einfenchtend, daß die dogmatifche Lehre der Scholaftifer über die nothwendigen Folgen dev Sünde confequenter und philofophtfcher jet, als die damals allgemein gepriefene Theorie, welche Eherhardt in feiner Apologie des Sokrates aufgeftellt hatte, In eben den Beiträgen ließ er zu Gunften der feholaftifchen Lehre eine andere Schrift abdrucken, welcher ebenfalls ein Auffag von wenigen Blättern’ yon Leibnitz zum Text diente, In diefer Schrift: war yon der Dreteinigfeit die Nede, und, ohne daß es gleichwohl darin ausgefprochen wurde, vichtete ich Leffing dartır gegen eine andere Klaffe yon. Nenerern, gegen die Semler, die Jünger der Berliner Schule, befonders aber gegen die Damals noch herrſchende Wolfſche Schule: Alle diefe Leute und unter ihnen auch der in jener Zeit als Muſter philofophifcher Theologen und zierlicher deutſchen Schriftiteller geltende Abt: Zerufalem in Braunfchweig wollten

aus dem alten Glauben eine Vernunftreligion machen, und

Einiges in dem bewunderungswürdig confequenten und in allen ſeinen Theilen innig verbundenen Syſtem aufgeben, um hernach alles Uebrige nach Wolffcher Art mathematisch demonftrivem zu können. Gegen ein folches Verfahren der Leute, die nad) Wolfs - und Baumgartens Manier den getftreichen Leibnig in dicken Duartanten für die Schule und ihr Syſtem theologiſch ausmünz⸗ ten, waren beide Schriften gerichtet.

In dieſen beiden ganz kleinen Schriften (auf die Maſſe kommt es bei dergleichen nicht an) zeigte Leſſing klar und popu— lär, daß Leibnitz viel verſtändiger verfahren ſei, als alle die neuen Vernunfttheologen, die ſich gleichwohl chriſtliche Theologen nann- ten. Leibnitz habe, möge er nun an alle die Dogmen des Syſtems

172 Deuiſche Literatur: Leſſing

geglaubt haben oder nicht, denn darauf komme hiebei gar nichts an, weil das eine ihn perſönlich angehende Sache ſei, nur Mög— lichkeit und Conſequenz des ganzen alten Syſtems nachzuweiſen geſucht; es ſei ihm aber nicht in den Sinn gekommen, ben wahren Glauben durch feine Demonſtration in den Seelen ent— zünden zu wollen, weil ja der wahre Glaube dem von ihm ver theidigten Syſtem zufolge blos eine Wirkung des heiligen Geiftes jein könne, dem es auch Leibnitz überlaffen habe, ihn in den - Seelen zu erzeugen. Dies drückt er in der ihm eignen wißigen Manier in der zweiten Schrift $. XI. mit folgenden Worten aus: „Genug, jagt er, Leibnit fuhr. fort, darüber zu denken, wie er in feiner Jugend war gelehrt worden. Nämlich, daß es zweierlei Gründe für die Wahrheit unferer Religion gebe, menſchliche und göttliche, wie e8 die Sompendien ausdrücken; das tft, wie er es gegen einen Franzoſen ausdrücte, der unſere theologiſchen Sompendien ohne Zweifel nicht viel gelefen hatte, erflärbare und unerflärbare, deren erftere, die erflärharen oder bie menfchlichen, auf alle Weife unter dev Ueberzeugung bleiben, welche Ueberzeugung oder deren Complement einzig und allein durch die andern, oder die unerflärbaven, bewirkt wird.“

Diefer Unterfchetdung fügt Leſſing eine eben ſo feine als bittere Ironie gegen die zu feiner Zeit ungemein zahlreichen ums berufenen und feichten theologischen Vernünftler und Erflärer gött— Yicher Geheimniffe hinzu: „Diefe feine altwäterifche Meinung, fahrt er fort, müffen die Leute Leibnis verzeihen. Denn, wie konnte er sorausfehen, daß fie nun bald am längſten wahr geweſen fein würde, und dag Männer aufftehen würden, die ohne fich viel bei jener Streitfrage aufzuhalten, fogletch Hand and Werk legen und alle erklärbaren, aber bisher unzulänglichen Gründe zu einer Bündigfeit nnd Stärke erheben würden, wovon er gar feinem Begriff Hatte?” Leffing war überhaupt, jo wenig als Göthe und Sacobt (dev Letztere freilich aus ganz andern Gründen als bie beiden Exften), den damaligen Schöpfern einer fogenannten mora= liſchen, d. h. durchaus proſaiſchen Neligion gewogen. Leſſing war den platten Moraliſten oder, wie man fie jetzt ſchimpft, Rativnaliften, die eine neue, aller Poeſie, aller Symbolik, jedes Anthropomorphismus beraubte Volks- und Staatsreligion

Deuiſche Literatur: Lefling. 173

(denn davon ift immer nur die Nede, das andere iſt Sache des Kämmerleins) machen wollten, viel abgeneigter, als den Zeloten für das Alte, die er nur bedauerte. Die Letztern waren ſelbſt ſchuld, daß er ſich gegen fie richtete, weil fie ſich herausnahmen, mit einem großen und denfenden Mann umzugehen wie mit ihren Beichtkindern. Göze, Ziegra und die andern Mitarbeiter an den der hamburger Zeitung beigefügten gelehrten Nachrichten, bie man, ber Qualität des Papiers und des Inhalts wegen, nur die fhwarzen Zeitungen zu nennen pflegte, machten es ihm endlich zu arg. Gr ward, wie im unferer Zeit gar mancher Freund des Friedens und der Mäßigung durch religiöſe und po= litiſche Zeloten genöthigt wird, das alte Syſtem wüthend anzu= greifen, durch die Verteidiger der politifchen Religion genöthigt, in Verbindung mit feinem Freunde, dem edeln und gelehrten Nei- marus, gegen die Iutherifchen Inquifitoren ind Feld zu ziehen. Sn unferm Jahrhundert iſt namlich der Verfaſſer der Wol- fenbüttler Fragmente allgemein befannt geworden, deffen Name im sorigen Geheimniß geblieben war, obgleich aus einem jebt gedruckten Briefe Hamanns hervorgeht, daß biefer ihn ſchon im Nov, 1778 kannte und an Herder fehrieb, Neimarus ſei Berfaffer der fogenannten Wolfenbüttler Fragmente, zu denen er fich freilich nie befannt hat. Reimarus mußte fih in Hamburg ein fanati= ſches Lutherthum gefallen Taffen, mußte die Gedächtnißreligion, den mechantfchen Gottesdienft, die Unduldfamkeit und Herrſchſucht der Paſtoren ertragen, fein Unwille über fie machte ihn endlich auch fogar gegen das Chriftenthum ungerecht; er fehrteb daher ganz im Stillen ein gelehrtes Buch gegen dasſelbe. Als Arzt, als Naturforicher, als gelehrter Kenner und Forſcher dev Alten, der Uxfprache des. A. u. N. T. mächtig, durch Philoſophie aus— gezeichnet, war Reimarus im Stillen furchtbarer Feind der un— vernünftigen Zeloten und ihrer hölzernen Dogmatik. Er war dabei aber als ein vortrefflicher, chriſtlicher Mann anerkannt und wollte nicht in der öffentlichen Meinung zum Bahrdt werden, legte alſo ſeine gelehrten Verſuche gegen die Urkunden des Chri— ſtenthums blos insgeheim ſchriftlich nieder. Er, der Alles kannte, was je für und gegen das Chriſtenthum geſchrieben war, arbeitete im Stillen sine Schrift ans, die, gls Leſſing plötzlich Stücke da=

174 Deutfche Literatur: Leſſing

son ins Publikum warf, alle Theologen: in Verlegenheit brachte) weil fich in der ganzen ungeheuern apologetiſchen Rüſtkammer feine Waffen dagegen vorfanden, fo Yange man noch feine nene gejchmiedet hatte, In den fogenannten Fragmenten, deren Verfafz fer im vorigen Jahrhundert auf diefelbe Weife unbekannt blieb, als der Berfafler von Junius Briefen bis auf den heutigen Tag, warb gründlich und gelehrt gegen die Wahrheit und gegen die Reinheit der Moral des Chriſtenthums geftritten. Der Kampf ward. mit Waffen geführt, welche Reimarus aus denfelben Arfenalen holte, aus denen Diejenigen entlehnt waren, mit welchen die unzähligen Apologeten ſeit Origines für das Chriftenthum gekämpft hatten. Ein Abſchnitt diefer Fragmente lag auf der Wolfenbüttler Bibliothek, auch waren davon insgeheim Abjchriften, die, wie das zu fein pflegt, durch Einfchtebfel häßlich entjtellt wurden, in Um— lauf; Leſſing Fam daher auf den Einfall, Stücke derſelben in feinen Beiträgen zur Literatur aus der wolfenbüttler Bibliothek drucken zu laſſen. Seine Abficht war, die in der ganzen deut⸗ ſchen Literatur herrſchende Bewegung und das geiftige Fortſchrei⸗ ten der Nation, welches er. fait in allen Zweigen der Wiffenfchaft, Kunſt und Poeſie anregte und mächtig fürderte, auch in der Theo— logie nen zu wecken. Er jtörte dadurch plötzlich auf ‚eine höchſt unangenehme Weiſe den Schlummer der auf ihren apologetifchen Lorbeeren janft ruhenden Theologen, die ihm das ungemein übel nahmen, obgleich er, als er das erfte Fragment drucken Tieß, bes theuerte, er wolle durch die Bekanntmachung deſſelben zwar Wiſ⸗ jenfchaft, Streben und Forfchen fürdern, im Uebrigen feier aber weit entfernt, mit dem Verfaſſer des Fragments übereinzuſtimmen. Die Handfchrift, aus welcher er das Fragment nahm, war nicht für das Wolf beftimmt, dem der Inhalt nur ſchädlich fein Fonnte, auch ließ Leffing das erſte, worfichtig ausgewählte Fragment im den nur einigen wenigen Klaffen von Gelehrten Bekannten Beiträ— gen u. ſ. w. abdrucken. Göze und andere armfelige Zelten wa— ven diejenigen, welche ben Prozeß darüber vors Volk brachten, wodurch fie Freilich Leſſing nöthigten, eine Sache des deutſchen Volls und feiner Literatur daraus zu machen und die Zeloten zu zermalmen, Es ward alſo, auf ähnliche Weiſe, mie zur Zeit ber Reformation aus Luthers Streit mit Eck und Emſer, aus dem

Deuiſche Literatur: Leffing. 175

Streit zwiſchen Leſſing ws Göze ein Kampf des Lichts mit der Finſterniß.

Wie ihn einmal die blinden Eifrer heftig angegriffen und für eine fremde Arbeit verantwortlich gemacht hatten, vertheidigte freilich Leſſing die Sache der Freiheit des Denkens und Forſchens bitter und heftig. Leſſing ließ, wie Luther, ſeitdem er den Kampf mit den Orthodoxen begonnen hatte, zermalmende fliegende Blät— ter ausgehen, die ſo ganz in Luthers Manier und mit der ganzen Kraft ſeines Styls und ſeiner Sprache geſchrieben ſind, daß wir ihnen nothwendig einen Platz in der Geſchichte des achtzehnten Jahrhunderts geben müſſen. Der Streit iſt vergeſſen, Leſſings fliegende Blätter aber werben hoffentlich jo lange von unſerer Nation geleſen werden, als kräftige deutſche Sprache und deutſcher, kräftiger Geiſt unter uns geachtet ſein werden, und wer ſollte nicht wünſchen, daß dies ewig ſo ſein möge? Im erſten Fragment (im dritten Beitrage 1774) war nur von Duldung die Rede, hernach folgten die Fragmente von Verſchreiung der Vernunft auf den Kanzeln, von der Unmöglichkeit einer Offenbarung, welche von allen Menſchen auf eine genügende Art geglaubt werden. kann, In dieſem letzten Fragment geht freilich Leſſings Ungenannter, für deſſen Kühnheit man ihn verantwortlich machte, mit den Apoſteln, beſonders mit Paulus, ſchon recht übel um; jedermann mußte aber doch ſehen, daß gerade hier Leſſing, der ja ſeinen Spinoza ſehr werth hielt, nicht mit Reimarus einſtimmig ſein könne. Nach— her ward das Fragment gegen den. wunderbaren Durchzug der

Kinder Iſrael durch das rothe Meer und etwas fpater der Be— weis, daß das alte Teftament micht geſchrieben worden jet, um eine Religion zu offenbaren, in den Beiträgen gedruckt. |

Schon wegen Herausgabe dieſer Stücke ward Leffing von allen Seiten her angefeindet, und Doch betrafen fie eigentlich nicht die chriftliche Religion, Als aber im A, Beitrag (1777) das Frag: ment erjchten, welches Diefe geradezu und ohne Schonung angriff, gerieth Darüber Alles in Aufruhr. Zwar waren die alten Herrn auf Spott und Hohn gefaßt, es erbitterte fie aber, daß fie. auf gewaltige gründliche Angriffe doch nicht bloß mit Schimpfen ant⸗ . worte durften. Der Angriff, der in dem erwähnten Fragment über die Auferfiehungsgefchtihte Chriſti auf: bie evan—

176 Deutſche Literatur: Leffing.

geliiche Gefchichte gemacht wurde, war zwar bitter und ungerecht; allein dag ärgerte die armen Theologen, die Jahr aus Jahr ein in Büchern, auf den Kanzeln und Kathedern daſſelbe Lied abzu- feiern gewohnt waren, weniger, als daß ihre Weisheit und: Ge- lehrfamfeit gegen Reimarus nicht ausreichte, Dadurch wurden fie Ichier in Verzweiflung gebracht. Dies Fragment ift unftveitig das Bedeutendfte yon den, was bis dahin je gegen die Gefchichten des N. T. vorgebracht warz denn der Verfaſſer ftreitet nicht mit den ſtumpfen Waffen der englifchen und franzöſiſchen Deiften, nicht mit dem Hohn und Spott der Pariſer Afademiker und En— cyklopädiſten, fondern er erjcheint in der vollen Rüſtung eines ge= lehrten deutjchen Exegeten und ausgerüftet mit der Bildung gründ- licher deutfcher Gelehrſamkeit. Das fühlten die armen Theologen Deutfchlands, vom ehrwürdigen, aber unfäglich fchwerfälligen Sem— Ver und vom eleganten Abt Jeruſalem an bis zum Zionswächter Melchior Göze und feinem Mitftreiter in Gott, dem Subconrector Behn in Lübed.

Die Geichichte des endlofen und heftigen Federkriegs, der über dies Fragment geführt ward, gehört in diefe Gejchichte der geiftigen Wiedergeburt Deutjchlands zwar nicht, fie bleibt Der Kirchengefchichte überlaſſen; wir wollen indeſſen doch hier jo viel davon erwähnen als nöthig ift, um den. Anlaß der Schriftchen zu bezeichnen, welche Lefling in der Sache ſchrieb. Dieſe Flug- ſchriften Leflings bezeichnen ihn als den größten Redner in der beiten Gattung Beredfamfeit, in derjenigen, welche ohne Deflama= tion und Wortſchwall nur mit fiegender Dialektik und gedrängten Gründen ftveitet. Die Streitichriften Leffings gegen den Hambur- ger Paftor find unftreitig das Vollendetfte, was unfere Sprache in der Art leiſten kann; fie verfeßten der alten Dogmatik den Todesſtoß, ohne daß darum Leffing, gleich feinem damals unges nannten Freunde, die Rückſichten verlest hätte, die jeder gebildete und denfende Mann für die chriftliche Religion und für ihre Ge— fehichte Haben wird umd haben muß. In diefer Beziehung erin- nern wir daran, daß Leffing ſchon vorher jebem von ihm bekannt gemachten Fragment Anmerkungen beigefügt hatte, woraus nicht allein hervorging, daß: ex durchaus nicht der Meinung des Unge— nannten ſei, fondern worin auch das Beſte von dem enthalten war,

Deutfche Literatur : Leſſing. 177

was zur Widerlegung des Fragmentiften vorgebracht werden Eonnte. Diefes Alles fruchtete aber nichts, das machte Leſſing endlich ernſt⸗ lich böſe.

Von allen Seiten angegriffen und verſchmäht und von der Orthodoxie auch ſogar durch die von ihr aufgehetzte Staatspolizei verfolgt, gab Leſſing erſt zuletzt ein Fragment heraus, welches Reimarus wohl nur ſchrieb, um die verſtockten Zelpten durch einen übertriebenen Scherz zu ärgern und zur Verzweiflung zu bringen Leſſing nach feiner Anficht der Staatsreligton ftimmte mit dem— jelben im Ganzen gewiß eben jo wenig überein als Paſtor Göze in Hamburg. Dies Fragment bildet ein eignes Buch unter dent Titel: Bon dem Zweck Jeſu und feiner Jünger, no ein Fragment des WolfenbüttlerUngenannten (1778 276 ©. 8). Diefe Schrift tft im Grunde viel Leichter zu wider— legen als das Fragment gegen die Auferftehungsgefchichte, weil es Beichuldigungen und Anklagen vorbringt, da hingegen das an— dere Fragment nur Thatfachen beſtreitet. Wer anders als ein Ungenannter wirde wagen, dem Stifter der reinſten aller: Volks— veligionen, dem Prediger der Lehre einer allgemeinen Menfchen- liebe, welche: der Sittlichfeit unter allen vorgeblichen Offenbarun— gen Gottes am nüßlichjten geworden tft, dem Propheten, der yon jeder, weltlichen Leidenfchaft und Begierde rein war, oder auch ſei— nen eriten Schülern, die jelbjt arm, nur den Armen predigten, offenbare Gaunerei und Betrügerei vorzuwerfen? Man wird in- deffen aus dem Folgenden fehen, daß Leffing erft dann die Theo— logen durch den Druck diefes Stücks ärgerte, als fie ihn aufs ſchändlichſte geſchmäht und verfolgt hatten.’ Die wüthenden und blinden Anhänger des Alten wollten von Feiner Philoſophie Huren, feinen Rath, annehmen, feinen Sat aufgeben, fie fagten yon ihrer hölzernen Dogmatik, was der Jeſuitengeneral son feinem Orden fagte (sit, ut est, aut non sit), Sie erfuhren, was früher oder fpater alle blinden und tollen Verfechter des Beralteten werden erfahren müſſen, und was auch die Zeloten unſerer Zeit erfahren werden, daß fich früh oder ſpät eine Himmelftiirntende Partei erhebt, und daß fich die Gemäßigten diefer anfchließen, um nicht gensthigt zu ſein, fich gleich denn zahlveichen Augendienern und Heuchlern, zu allem alten Wufte zu bekennen, ſobald er nen aufgeftugt wird,

Schloſſer, Geſch. dr 18, m, 19, Jahrh, IV. Th. Ar Aufl, 12

178 Deuiſche Literalur: Leſſing

Wuas dben mit großer Erbitterung geführten Streit der ge ſammten polemiſchen Theologen Deutſchlands mit Leſſing angeht, ſo erwähnen wir Leſſings Schriften gegen die Obſkuranten und Zänker nur als Meiſterwerke des Styls und der Sprache. Wir haben es nur mit dem Verhältniſſe derſelben zum Geiſte der Zeit, zum Zuſtande der Bildung des achten Jahrzehnts und zum Fort⸗ Tchreiten aller Beige der Literatur zu thunz wir können Daher alfe Schriften, ſowohl großer als Heiner: Theologen übergehen, die nicht mit einer der meifterhaften Flugſchriften Leſſings in Ber- bindung ſtehen. Unter den Erften, welche gegen Lefling im den Kampf zogen, war der, Direftor Schumann in Hannover, Dieſer berief fich im feiner Skreitfchrift gegen das letzte Fragment auf einen Beweis, der zu Origines. Zeiten recht gut fein mochte, ben er Aber einfältiger Weiſe für unſere Zeiten aus Origines ent- lehnte. Diefen Beweis neunt Lefling in feiner Abfertigung won Schumanns Gewäſch den Beweis des Geiftes und der Kraft, Leſſing behandelte in feiner Antwort (Meber den Beweis des Gets ſtes und der Kraft 1777) diefen von dem Kirchenvater ent: Yehriten Beweis mit Recht ſehr fpottifch. Er fagt nämlich unter andern: Wenn man auch zugebe, daß die Nachrichten von er— füllten Welffagungen und. gefchehenen Wundern, worauf ſich Ort- gines und Schumann mit ihm berufen, fo zuverläffig. ſeien, als Hiftorifche Wahrheiten nur: immer fein könnten, jo könnten doch zufällige Gefhihtswahrheiten nie ein Beweis not h— wendiger Bernunftwahrhetten ſein. Schumann ließ es, wie fih von Leuten dieſer Art von felbft verfieht, art einer Er— widerung auf Leſſings Schrift nicht fehlen ; dies veranlaßte Leffing zur Abfaffung des vortrefflichen Dialogs über Chriftentfum, als reine Lehre ewiger Ließe, den er das Teſtament Johannes betitelte. In dieſem führt er fich und Schumann redend ein, und erzählt, daß der fterbende Sohannes feinen Jüngern erklärt habe, es beſtehe die freudige Botfchaft, die Chrifius den Menfchen som Himmel gebracht (Evangelium), nur in der Berfündigung des Geheimniſſes der Liebe, welche bie Bekenner des Chriftenthums unter fih und alſo auch mit Gott innig verbinde. Auf andere Weiſe fagt Leffing dies weiter unten, wenn ev. behauptet, ‚die ein- zig wahrhaft chriſtliche Predigt jet die, daß es unendlich viel ſchwerer

Deuiſche Literatur: Leſſing 479

ei, ein ganzes langes Leben hindurch chriftliche Liebe gegen Freund und Feind zu üben, als Dogmatif zu lernen und das Gelernte blind zu glauben. Um dramatiſch anſchaulich zu machen, auf welche Weiſe Zeloten gegen dieſe Lehre der Liebe Worte und Sprüche der, Bibel Für ihr Publikum zu Gunſten ihrer Unduld— ſamkeit zu gebrauchen pflegen, läßt Leffing feinen Gegner am: Ende mit dem bekannten Spruch antworten: Wer nicht für mid tft, der tft wider mich, darauf erwiedert ex dann bitter: . Ja, allerdings. Das bringtemich zum Stillſchweigen. =, DO! Ste allein find ein wahrer Chriſt. Und bes beſen inder Schrift wieder Teufel |

Daß Leſſing keineswegs revolutioniren, Sondern! daß er nur verbeſſern amd dem entſtellten und mißbrauchten, von allen. Par—⸗ teien verkannten, wahrhaftigen Chriſtenthum nicht bloß gegen Heuch⸗ ler und Zeloten, ſondern auch gegen überkluge Rationaliſten und frevelnde Spötter wieder gu feinem damals ziemlich verlornen Anz ſehn bei denfenden Menſchen helfen wollte, bewies er mitten im diefent Streite mit den Theologen. Er fehrteb nämlich. jest: In Beziehung auf die Gefhichten des N. T. den zweiten Theil ſeiner Schrift son der Erziehung des Menſchengeſchlechts. Beide Theile zuſammen enthalten die proteftantifche Anficht der Wirkung und Erſcheinung Gottes in den Begebenheiten der Welt- geſchichte, wie Bofjuets Predigt (discours) über Univerfalgefchichte die papiſtiſche. Er hatte in dem erſten Theile bewieſen, daß das A T. nicht die letzten Offenbarungen Gottes enthalte, ſondern nur eine Vorſchule ſei, womit die Erziehung des Menſchengeſchlechts begonnen habe. Es enthalte alſo nach feiner Meinung das N, T. die den Herfchtedenen Zuftänden der Menfchheit bis auf Chri— ftum angepaßten Lehren und Gefchichten. : Dies: wird im zweiten Theile feiner Erziehung des Menfchengefchlechts auf die Beiten nach Chrifto angewendet, Er führt im zweiten Theile ſeiner Schrift durch, auf welche Weiſe Gott, als der Glanz ſeiner den Juden bildlich verkündeten Lehre durch die eitle Weisheit der jüdiſchen Dogmatiker und Ceremonialiſten beinahe erſtickt und menſchliſch geworden war, durch Chriſtum dieſe feine gött— liche Lehre in —* alten ** wiederum unter den —— leuchten ließ. Esel sid And oma t 12*

180 Deutſche Literatur: Leffing.

Wir wollen, um die Art, mie Leffing die Bibel hetrachtet näher zu bezeichnen, eine Stelle des zweiten Theils der Schrift über die Erziehung des Menfchengejchlechts hier einrücken: „Jedes Elementarbuch, fagt er, tft nur für ein gewiſſes Alter. Das ihm entwachfene Kind Tänger, als die Meinung geweſen, dabei ver— weilen zu laſſen, tft ſchädlich. Das gibt dem Kinde einen Heinlichen, ſchiefen, ſpitzfindigen Verſtand: das macht e8 abergläu= biſch, geheimnißreich, voll Verachtung gegen alles Fapliche und Leichte. Die namliche Weife, wie die Rabbinen ihre Bücher be= Handelten! Der nämliche Charakter, den fie dem Geifte ihres Volks - dadurch ertheilten! Ein befferer Pädagog muß fommen und dem Kinde das erſchöpfte Glementarbuch aus den Händen reißen. Chriſtus Fam.” Diefer Tert wird hernach von Leſſing im feiner meifterhaften Weiſe in einer Sprache durchge— führt, die ein Deutfcher nicht oft genug leſen (manu diurna 'nocturnäque versare) kann, wenn er lernen will, was feine Mut⸗ terfprache vermag; aber dafür Hatten die Zeloten Feinen Sinn; fie tohten fort. Das tolle Treiben der mit dem Gedächtnig und dem Munde und der: Feder frommen Katechismusgelehrten merkte den Unwillen Leſſings über ihren AUnverftand und über das Miß— verſtehen feiner Erklärungen und rief jene furchtbaren Flugſchrif⸗ ten hervor, welche dann freilich gleich Bliten das alte von feinen Wächtern durch Schimpfen, Schelten, Verfluchen ſchlecht bewahrte Zion vollends in Flammen jehten.

Die. erſte Invective erging gegen den Wolfenbüttler Super- intendenten Reß, den Leſſing fputtifch feinen Nachbar nennt, und deffen gegen den Angriff des Ungenannten auf die Auferftehungs- gefchichte gerichtete Wertheidigungsichrift er fchon auf dem Titel- blatte feiner Gegenfchrift verächtlich abfertigt. Statt namlich diefe feine Gegenfchrift eine Replik zu nennen, betitelt er fie Duplik, als wenn er und die Apoftel der angegriffene Theil wären, Die Heftigfeit diefer Schrift gegen einen alten einfältigen Mann würde den ruhigen Leſer befremden und vielleicht beleidigen müffen, wenn nicht eine Stelle der Schrift, welche wir ausheben wollen, dent lich zeigte, daß Leſſing fühlte, mas taufende von Deutfchen ges’ fühlt Haben, aber Keiner fo lebendig als Leffing. Er empfand namlich fchmerzlich, daß die deutſche Verfaſſung jede. freie Aenf=

Deütfche Literalur: Leffing. 181

ferung der Meinung in allen bürgerlichen Angelegenheiten un— möglich mache; er glaubte daher, daß jeder Deutfche defto hefti— ger bie Freiheit bed Denkens und Schreibens im religisfen und wiſſenſchaftlichen Dingen behaupten und den Gegner derſelben als den Feind der Menjchheit befehden müſſe. Außerdem aber fühlte Leffing, was jeder denfende Mann mit ihm fühlt, daß des Men— ſchen Wefen nicht, wie der alte Superintendent meinte, im Wif- fen oder im Glauben des Erlernten, fondern im Streben und Ringen nach Erkenntniß, folglich nicht im Haben und Fefthalten dev Weisheit, fondern im Suchen derfelben und im Forfchen be— ftehe. Dies ſpricht Leffing in diefer Schrift ganz vortrefflich aus, wenn er fagt: Wenn Gott in feiner Rechten alle Wahrheit, in feiner Linken den immer vegen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit dem Zufaße, mich immer und ewig zu irren, verfchloffen hielte und fpräche zu mir, wähle! Sch fiele mit Demuth in feine Linfe und ſpräche: Vater gib! Die reine Wahrheit iſt ja nur für dich allein! Der Hauptfampf war indeffen mit Göze in Ham— burg, und die gegen biefen gefchriebenen Flugſchriften verdienen den erſten Platz unter den Meifterwerfen diefer Gattung, Zu diefen rechnen wir Luthers heftige Streitichriften (nur find diefe zu ſehr voll eigentlicher Grobheit, Gemeinheit und hie und da pöbelhaften Schmutzes); zu dieſen zählen wir Demofthenes Reden gegen Philippus, und Giceros Reden gegen Gatilina, befonders aber, weil fie näher mit Leſſings Manter verwandt find, Junius Briefe und Rouffeaus Brief an den Erzbifchof von Paris, Chri— ftophe von Beaumont.

Durch Leffings unfterbliche Schriftchen gegen ihn Hat auch Göze unverdientermweije die Unfterblichfeit erlangt, Er hatte näm— Vich in den berüchtigten fchwarzen Zeitungen oder Hamburger: frei- willigen Beiträgen zu den Nachrichten aus dem Reiche der Gelehr- famfeit (Nr. 55. bis 63 des Jahrg 1775) nicht ſowohl den Frag- mentiften angegriffen, als Leſſing wegen der Art, wie er diefen zu widerlegen fuchte, furchtbar und gleich einem Großinquiſitor geſchmäht. Welchen Ton er dabet annahm, wird man aus feinen eigenen Worten lernen. „Gr habe, jagt er, Leſſings beigefügte, dem Fragmentiſten entgegengefebte Antithefen mit viel ‚größerer Betrübniß gelefen, als die Fragmente des gegen unfere allerheiligite

182 Deuiſche Literatur: Leſſing.

Religion ſo feindlich gefinnten, ſo grob, To frech läſternden Ver— faſſers.“ Nicht zufrieden, dieſe Angriffe durch die Zeitungen, in allen Schenfen und Dörfern gu verbreiten, ſammelte Göze dieje Stücke und Tief fie als lutheriſcher Pabſt oder Bifchof, gleich einem förmlichen Hirtenbriefe ‚bei allen, damals noch fehr zahlreichen Steif- und Starrgläubigen, d. h. bei dem ihm gleichgefinnten Pu— blikum, als Rundfchreiben verbreiten unter dem Lächerlichen Titel: Etwas VBorläufiges gegen des Herrn Hofrath Lei: fingimittelbare und unmittelbare Angriffe aufun jerenallerheiligfte Religion und auf den einigen Rehrgrundderfelben die Heilige Schrift vom Johann Melchior Göze 1778. Den hingeworfenen Fehdehandſchuh mußte denn freilich Leifing: nothiwendig aufheben. Er that dies in einen Parabel und. in einem Abſagebrief, welche beide eben ſo ſchneidend als kurz find,

Leſſings antigöziſche Parabel iſt lebendig, witzig, treffend, aber ruhig und gemäßigt. Der Abſagebrief iſt wie im Sturme mit furchtbarer Heftigkeit, mit fortreißendem Strome der Rede geſchrieben, doch ohne daß ein Schimpf= oder Schmähwort ges braucht wird. Wie furchtbar Leſſing den Großinquiſitor mit der Rede ſchüttelt, wird man aus einer einzigen unten angeführten Stelle hinreichend erkennen.) Nach dieſem erſten Schriftwechſel hofften Freilich Leffings Freunde, daß dieſer ſchweigen werde z das konnte er aber nicht, weil nicht bloß Göze, ſondern auch deſſen elende Schildknappen, wie der Subrektor Behn in Lübeck, an einem Leſſing zu Rittern werden wollten. Die Velksreligien litt bei dieſem Streit um ſo mehr, als Leſſing den Verfechtern der— ſelben ſtets überlegen blieb und die Lachenden immer auf ſeiner Seite *

39) Nicht daß ich jede hämiſche Anſpielung, jeden, wenn Goit will gif⸗ tigen Biß, jeden komiſchen Ausbruch Ihres tragiſchen Mitleids, jeden knirſchen⸗ Den Seufzer, der es beſeufzt, nur ein Seufzer zu ſein; jede pflichtſchuldige Paſtoralverhetzung der weltlichen Obrigkeit, womit Sie gegen mich von nun an Ihre Beiträge ſpicken und würzen werben, aufmutzen, oder, wenn ich auch tönnte, verwehren wollte. So unbilfig bin ich nicht, daß ich son einem Vo⸗ geh in der Welt eine einzige andere Feder verlangen follte, als er bat, Au Haben dieſerlei Pharmaka Ihren Krebit Tängft verloren

Deuiſche Literatur: Leſſing. 183

Bon Göze immer aufs neue gereizt, ſchrieb Leſſing eilf Mal hintereinander einen kurzen Hirtenbrief des geſunden Verſtandes, der Philoſophie und des guten Geſchmacks gegen die Hirtenbriefe des einfältigen Zionswächters, der ſeinen und ſeiner blinden Ge— meinde Köhlerglauben einem denkenden Manne zumuthete. Jedes dieſer auf wenigen Blättern gedruckten Manifeſte Leſſings hatte den Titel Antigöze, nur ward eins von dem andern durch eine Nummer unterſchieden, jedes aber vernichtete durch Heftigkeit der Rede und Gewalt der Gründe den an die ſymboliſchen Bücher eines Oſiander und Conſorten mehr als am Evangelium kleben— den Paſtor und ſein fanatiſches Geſchrei über den Unglauben des großen Gründers der neuen deutſchen Literatur, des Schöpfers der neuen Sprache. In dieſen Manifeſten ward der Katechismus— glaube und die Lehre der donnernden, an Redeusarten voll Sal- bung veishen, an Gründen für einen philofophiichen Kopf armen Zeloten ganz anders erſchüttert, als durch den höhnenden Spott der in der That Ungläubigen und Undeutſchen hätte geſchehen fonnen. Der Inhalt dieſer Manifeite ward hernach freilich von ‚einer nach bürgerlicher und. veligisfer Freiheit ſtrebenden Genera- tion, welche, wußte, was es heißen wolle, unter der Gewalt der Pfaſſen zu ftehen (was unfere Zeit nicht zu wiſſen fcheint), ganz anders verftanden, als Leffing wollte, der das Chriftenthum ſchon als Philoſoph zu achten verftand. Wie groß Leffing als Redner war, wie meifterhaft er Sprache und Styl zu gebrauchen verſtand, und wie dieſe in. diefem Streite, wie einft in Huttens und Luthers Streit mit den Papiſten, unendlich viel gewannen, ſcheint ung vorzüglich aus der in der Note beigefügten Stelle aus dem Ar fange des Hallen Antigöze hervorzugehen,20)

——

40) O glückliche Seiten, da die Geiſtlichkeit noch Alles in Allem war für ung dachte und für uns aß! Wie gern brächte euch der Herr Haupt: paftor im Triumph wieder zurück! Wie gern möchte er, daß ſich Deutſchlands Negenten zu diefer Heilfamen Abficht mit ihm vereinigten! Er predigt ihnen ſüß und ſauer und ftellt ihnen Himmel und Hölle vor! Nun, wenn fie nicht hören wollen, fo mögen fie fühlen. Wis und Landesſprache find bie Miftbeete, in welchen ber Same der Rebellion fo gern und fo gefhwind wu- chert. Heute ein Dichter, morgen ein Königsmörder. Clement, Ravaillac find nicht in den Beichtſtühlen, ſind anf. dem Parnafie gebildet: Doch auf

4184 Deutfihe Literatur: Leffing.

> Die Zahl der Schriften im der Sache des Fragmentiſten ver- mehrte ſich indeſſen, wie das in Deutfchland zu fein pflegt, bis ind Unglaubliche, fo daß man mit den Titeln ganze Seiten füllen könnte; die Sache des veralteten, unter uns jebt wieder aufge frifchten Glaubens verlor aber dabei durch ihre Verfechter mehr als durch den Fragmentiften, denn die mehrften der Schriften waren jchlecht und alle langweilig. Leſſings Anficht der Religion war. im Nathan, dem Meiſterſtücke feiner dramatifchen Poeſie, der alten und unduldfanten Lehre yon Einheit eines Wort- oder Sym= bolglaubens jo reizend gegenüber geftellt, daß fie bald dieſe fin- ftere und der Givilifatton des achtzehnten Jahrhunderts durchaus nicht angemefjene Lehre des fiebenzehnten gänzlich aus dem beut- ſchen Leben verdrängte. Was übrigens Leffings eigne Anficht der Religion angeht, fo muß man in Beziehung auf den Gang der Borfehung in der deutichen Bildungsgefchichte zur Zeit der erften Blüthe unferer Literatur ja nicht. überfehen, wie wunderbar e8 fich ‚fügte, daß gleich von Anfang an neben Lefiings DVerftändigfeit und ihr gegenüber, ftets unmerflich mit ihr Fampfend, Herder's Veberfchwänglichkeit daftand und Leſſing Schritt für Schritt folgte, | Leſſing ward ausjchließend vom Berftande beherrſcht; er ge— fteht Daher auch ſelbſt ein, daß der hohe Geift jchöpferifcher Dicht- fraft zu großen Dichterarbeiten, zur hoher Tragödie, zum Epos ‚oder der höheren Iyrifchen Poeſie ihm von der Natur nicht gege— ‚den ſei. Wir feben aber hinzu, er hatte dagegen die eben fo jeltene Gabe erhalten, mit Beftimmtheit angeben zu fünnen, wo der Hohe dichterifche Geift fet und mo er nicht fei, und warım er nicht da ſei, wo ihn die Menge zu finden glaubt. Zu glei= cher Zeit Fannte Leifing felbft, Innerhalb welcher Schranken fein Geiſt ſchöpferiſch ſei und ſchuf innerhalb diefer Meiſterwerke. Derſelbe Fall war mit der jüdiſchen und chriſtlichen Religion, welche freilich Herder ganz anders faßte als Leſſing; doch er—

dieſem Gemeinorte des Herrn Hauptpaftor laſſe ich mich wohl ein ander Mal wieder treffen. Jetzt will ich nur, wenn es noch nicht Far genug iſt, voll :ends Kar mahen, daß Herr Paſtor Göze fhlechterdings nicht geftattet, was Ser zu geftatten fheint, und daß das eben die Klauen find, die der Tiger nur in das hölzerne Gitier fchlagen zu können fi ſo Argert:

Deuiſche Lileratur: Leſſing. 185

kannte auch dieſer ihren Werth als Weg zum Wiſſen, als poſitives Geſetz einer gewiſſen Art des innern Lebens in ſeinem Kampfe mit dem äußern. Schon im zweiten Theile der Erziehung des Menſchengeſchlechts hatte er gelehrt, wie man die geoffenbarten Wahrheiten des chriſtlichen Glaubens, die der Ver— nunft ſchwer eingehen, als da ſind, Dreieinigkeit, Erbſünde, Gna— denwahl und andere, als bildliche Formen anſehen könne, ver— möge deren man gewiſſe tiefe und gründliche Speculationen über die Natur des Menſchen und der Gottheit populär und erreichbar ‚machen könne. Im Nathan geht er noch einen Schritt weiter. Leſſing's Nathan behauptet noch immer neben Göthe's und Schillers Meifterwerfen in unferer dramatifchen Literatur den nächften Platz er tft das vorzüglichſte Dichterwerf Leſſings, hat auch auf die ganze Natton den entjchtedenften Einfluß gehabt; wir dürfen ihn daher im dieſer Gefchichte des deutfchen Lebens und der deutfchen Bildung nicht wie andere dichterifche Produkte ‚ganz übergehen. Nachdem einmal in diefem überall mit lautem Jubel begrüßten Meifteriverfe der deutfchen Bühne eine Anficht des Berhältniffes der Religion zur wahrhaft edeln Bildung und zum bürgerlichen Leben nicht blos ſchulmäßig gelehrt, ſondern Durch den Zauber der Dichtkunſt und Sprache den Seelen ganz eigent- lich eingeprägt war, mußte aus allen deutfchen Provinzen, außer etwa Köln, Trier, Münfterland, Paderborn und Batern, mohin nie ein Strahl der neuen Literatur drang, die alte unduldfame Lehre weichen. Die Wirkung der neuen Literatur, die von Lef- fing ausging und deven Geift fih im Nathan ausfpricht, mar jo ftark, daß ſelbſt König Friedrich Wilhelm IL, Wöllner und Con— forten durch Gewalt und Geſetz die Stimmung der, Zeit nicht än— dern oder blinden Glauben zurückführen konnten, weshalb Ih— resgleichen im unfern Tagen die Sache Elüger angefangen haben. Es gelang exit, als man Leffing und fein Werk durch eine erfün- ftelte Literatur verdrängt und in den zahlreichen von Geiftlichen re— gierten Duodezitaaten, in den Reichsftädten, in Schwabenland bie Quellen der Wahrheit und des Lichts verftopft, die Schleußen eines Stroms der Sophifteret und Phantafterei genffnet, freie Leh- ver geſchreckt, eitle Be und Enge mit Geld und Orden gewonnen hatte,

486 Deutſche Literatur: Serben,

Nathan ward ausdrücklich abgekürzt und für die Bühne ein— gerichtet, um das neue Leben auch durch die Augen in die Seele zu bringen, jo daß durch Versbau, Styl, Sprache und Darftel- lung auf der Bühne das Gehäffige eines Lebens, wo Einer den Andern nach feinem Glauben, nicht nach feinem Wandel richtet, wo Pfaffen umd Heuchler den freien Mann drücken, recht ein- dringlich. gemacht ward, Es wird im Nathan durch die Hand- Jung ſelbſt die alte mechanifche Religionsübung im Contraſt mit Kiebe, wahrer und Achter Neligiofität des Herzens in den Erſchei— nungen des gewöhnlichen Lebens vor Augen und Sinne gebracht. Es bedurfte daher freilich, weil auch Leffing mit den Rezenſenten dev theologifchen Schriften in der AU. D. B. und mit den Er- ziehern und Moraliften übereinzuftimmen ſchien, eines Mannes wie Herder, um die Poefie der Religion zu erhalten und zwifchen Lavaters Schwärmerei und Leſſings Philofophie zu vermitteln, Wir haben aus dieſer Urfache fchon im zweiten Bande diefes Werks Leſſing und Herder unmittelbar neben einander geftellt und zu— gleich Einen dem Andern entgegengefebt. Wir haben jchon nach- gewiefen, welche Richtung Herder, der mit Hamann innig zufamz menhing, genommen hatte, um feine poetiſchen Gedanken geltend zu machen. Schon ehe er feine Reife nach Franfreich machte, und mit Göthe befannt ward, war er ald Dichter, als Meifter der hebrätichen Sprache und Literatur, als Aefthetifer und Kriti- fer unter den Gründern einer neuen deutfchen Sprache und Lite ratur, durch eine eigenthümliche und geniale, von der Leſſing'ſchen in jeder Beziehung ganz verfchiedenen Profa, Haupt einer neuen theologischen und Afthetifchen Schule geworden. Als er mit Göthe bekannt ward, fehienen die beiden ganz verjchiedenen Naturen au— fangs vereinigt gegen die norddentiche Schule und gegen Leifing eine ftille Oppofitton machen zu wollen, und Herder fehrieb, mit Göthe verbunden, die fliegenden Blätter für deutſche Art und Kunſt. Seine Anftellung in Bückeburg gab ihm aber wie— der eine andere Richtung.

Wir würden gern Herder nur (ehr kurz berühren, weil un- ſere Anficht feines Styls und feiner Philofophie und Theologie den mehrften Leſern mißfallen wird, feine Wirkfamfeit war aber au bedeutend, als daß mir ung nicht darüber ausfprechen müßten.

Deutſche Literatur: Herder. 187

Herder wandte ſich in Bückeburg als Geiſtlicher, und weil er ſei— nen Blick auf Göttingen richtete, zur Theologie. Aber zu acader mifchen gelehrten Studien war doch eigentlich fein poetifcher, jede Kenntniß ſchnell aber auch flüchtig auffaflender mehr dichteriicher als philofophtfcher Geift nicht geeignet. Im ftrengen Sinn hir ftorifche oder wiſſenſchaftliche Studien eines eigentlich gelehrten Theologen konnte Herder fehon darum nicht machen, weil er jelbit zuwider Zeit, als er an eine theologifche Lehrftelle dachte, in ganz verfchtedenen Fächern mit der ihm eigenen Entfchiedenheit aus flüchtig gefammelten Kenntniffen gebieterifch über Zuſammenhang und Weſen aller möglichen Dinge entſchied. Seine Verehrer was ven daher auch hernach Vergötterer Johann Paul Richters. In Rückſicht auf die Volksreliglon, von welcher Seite wir ihn in Beziehung zu Leffing zunächſt betrachten, war er zwar über die Neuerer feiner Zeit unwilligz allein er ſelbſt gab doch auch ſei— ner Seits auf eine ihm eigenthümliche Weiſe der alten Lehre eine ganz neue Geſtalt.

Die Orthodoxen des alten Syſtems waren mit Herder im Anfange faſt eben ſo unzufrieden, als mit Leſſing; dies zeigte ſich beſonders, als ihn Heyne nach Göttingen bringen wollte. Man ſtieß ſich nicht bloß daran, daß ihm die eigentliche theologiſche Gelehrſamkeit mangle, ſondern man hielt ihn auch für der Ketzerei verdächtig. Nach Weimar berief ihn hernach zwar der Hof; aber da die Stadt wegen der Stelle, die er als Prediger erhielt, dem

Herkommen gemäß zu ſeiner Berufung ihre Stimme geben mußte,

äußerte ſie ebenfalls Bedenklichkeiten über ſeine Rechtgläubigkeit. Sonderbar genug ſtritt Herder zu derſelben Zeit auf eine nicht ganz anftandige Weile mit dem beffern Theil der Berliner Ra— tionaliften, bejonders mit Spalding. Er fühlte hernach ſelbſt, daß er gegen Spalding gefündigt habe und nahm feine heftigen Ausfälle öffentlich zurück. Herders Heftigfett -verleitete ihn oft, ge— gen Alle, welche auf der Erde bleiben und nicht, wie er, ſtets in den Lüften ſchweben wollten, in feiner poetifchen Weberfpannung jede Rückſicht zu vergeſſen. Nichts ließ fich aber weniger verei— nigen, als Michaelis profane Deutung der: heiligen Bücher des A. T. und Herders srientalifcher Schwung und feine Begeifterung für. die älteſte hebräiſche Poeſie. Ebenſowenig konnte Schlögers

188 Deuiſche Literatur: Herbert,

kalte und trockne, gewiſſermaßen ruſſiſche Art von Hiſtorie mit Herders Manier vereinigt werden, nach welcher im Fluge der Phantaſie poetiſch verbunden wird, was hiſtoriſch himmelweit aus: einander liegt. Mit dieſen beiden Männern ging er daher auch übel um. Gegen Michaelis war er in der älteſten Urkunde des Menſchengeſchlechts höchſt ungerecht. Dies war ihm um ſo mehr zu verargen, da er und Michaelis auf einem ganz verſchiedenen Felde waren, alſo ganz gut jeder von ihnen ſeinen eignen Weg gehen und ſie beide in ihrer Art ausgezeichnet ſein und bleiben konnten. Schlözer pflegte mit ſeinen Gegnern ſehr unſanft umzugehen, Herders Angriffe in den Frankfurter gelehrten Anzeigen ſetzten ihn gleichwohl in eine ſolche Wuth, daß er her— nach nur noch ſteifer auf ſeinem Sinne blieb und die Proſa des Lebens noch eifriger predigte. Herders poetiſches Gemüth verfolgte mit Recht die Göttinger Proſa, die nur Handgreifliches kennen und nur das unmittelbar Brauchbare dulden wollte, ihm war da— her Meinerd, was er auch ung zu fein fehten, ein gelehrt: gebil- deter: Bauer des Landes Hadeln. Es ging ihm mit den Göttin— ger Herrn gerade wie mit den Orthodoxen, die Lebtern wollten nur von der Profa ihrer Katechismen, die Grften nur von der Proſa hören, die ihren eigenen Anfichten des Lebens entiprach, pder welche Meiners in feinen Gompilationen vortrug. Herder wollte überall nur Poeſie, nur Schöpfungen feiner eignen Phantaſie, er befehdete daher ebenfowohl die Berliner Schule als Leſſing und die güttinger Jünglinge, ſowohl die vor— nehme hannöveriſche als die rechtgläubige Proſa. Das be— weiſet auch ſeine älteſte Urkunde des Menſchenge— ſchlechts. |

GHerders Gefühl empörte fich mit Recht gegen die Manier des grundgelehrten. Michaelis, Er glaubte, dieſer erſticke Durch feine mit gemeinen Witen und Anekdoten, mit Staatswiſſenſchaft und Staatswirthfchaft, mit Notizen über alle mögliche Dinge des äußern Lebens untermifchte Deutung des A. T. auch noch den Testen Funken von Poeſie und Sugendfener, der in den Seelen Göttinger Theologen übrig fein möchte. Er ſetzte daher die ältefte Urkunde ſowohl der Lehre der alten Orthodoren als der neuen des Göttinger Orakels entgegen und machte aus den erſten Ka—

Deuiſche Literatur: Herder, 189

piteln des erſten Buchs Moſis eine uralte poetiſch philoſophiſche Urkunde oder Allegorie. Seine reiche Phantaſie gab ihm auf dieſe Weiſe zu einer Zeit, wo jedermann die Bibel moderniſirte, um den Volksglauben zu reformiren, ein Mittel, den Volksglauben zu ver— theidigen und aufrecht zu halten, ohne zu heucheln oder zu ſophiſtiſi— ven, Er warnte Heuchler, politifcher Theolog oder Schwärmer im Dienfte Herrfchender Meinungen, er ward wirklich von feiner Phantaſie beherrfcht und rip daher Andere unwiderſtehlich fort, Gr fand daher auch für feine Religionspoeſie, die er zur Reli— sionsphilofophte erhob, einen fehr großen Anhang unter denen, welche den Fragmentiften für frivol, Bahrdt für einen Mann ohne Geſchmack, die Rationaliſten für unbedachtfam und oberflächlich, die Vertheidiger des alten Glaubens für matt und den Forderun— gen der Zeit und ihrem Bedürfniß entgegenftrebend hielten, Die ältefte Urkunde des Menfchengefchlechts erſchien zu einer Zeit, als Herder ſchon im Verbindung mit Göthe und deffen Freunden an den Frankfurter gelehrten ‚Anzeigen gearbeitet und mit ihm bie Blätter für deutfche Art und Kunſt herausgegeben hatte, In dieſe Zeit fiel auch feine nähere Verbindung mit vielen Schwärmern und Myſtikern. Er ſelbſt blieb in feiner Auffaffung des Lebens ganz Far, er wollte nur dem. Bolksglauben durch eine eigne Art Poefie eine neue Stütze geben, Seine myftifchen Verbindungen beſchränken fich darauf, daß er damals feine lange unterbrochene Korrejpondenz mit Hamann aufs neue begann; daß er durch bie= ſen mit dem durch St. Martins Buch vollig zum Schwärmer ‚gewordenen Claudius in nähere Verbindung gebracht ward; daß er mit Lavater korreſpondirte; wie er fich vorher mit Göthe der wunderlichen Produkte Jung Stillings angenommen hatte, bloß weil er, wie ale die andern begeifterten Gründer unjerer Literatur, - jede Originalität zu begünftigen juchte, Es waren jedoch weder die Orthodoxen, noch der verftändige Gothe mit der poetiſchen Urkunde zufrieden. | Wie ſich die altgläubige Proſa und die politiſche Religion,

bie man in Hannover und in London fir Chriſtenthum hielt, aus— gab und andern aufzwingen wollte, zu Herders Manier verhielt, ſieht man. aus einem Briefe, den Heyne ſchrieb, als er. Herdern gern nach Goͤttingen ziehen wollte, und bie hannoverſchen Bern

190 Deutsche Literatur: Herder,”

deßhalb erit in London anfragen mußten. Herder hatte damals erſt die altefte Urfunde u. fi w., dann auch die Erläute- rungen zum NR. aus einer neu eröffnetenmorgen- ländiſchen Quelle und nad diefen die Briefe zweier Brüder Jeſu drucken laſſen, um fich als Theolog zu beweiſen; an diefen Büchern nahm man Anftoß. Es tft der Mühe werth, und für die Charafteriftif jener Zeit der Gährung wichtig, von Heyne zu vernehmen, daß ein Mann wie Herder, der ſtets gegen die Lehre, die man. jetzt Nationalismus nennt, ſehr heftig eiferte, gleichwohl den Gonfiftorialen jener Zeit Hatte Anftoß geben kön— nen. Dieſen waren nämlich die ſymboliſchen Bücher ‚gerade daſ— jelbe für die Religion, was ihnen Juſtinians Geſetzbuch für ihre täglichen Gejchäfte fein mußte. Heyne bedauert nämlich Freilich in feinem Briefe an Herder ausdrücklich die Beſchränktheit feiner hochgebietenden Herren in Hannover und in London, welche in Religionsfachen durchaus nicht weiter fehen wollten, als ihr eigen finniger und befchränfter König, er thut Dies aber, wie dies im feiner Art lag, mit einem bedenklichen Achfelzuefen in Rüchſicht der Stelle in Göttingen.

Heyne bemerkt, wie es in Hannover und in London übel aufgenommen worden, daß Herder in den erwähnten Büchern‘ fich gegen zwei Artifel der ſymboliſchen Bücher verfündigt Habe Er habe durch die Verwandlung der erften Kapitel des erften Buchs Mofis in eine Allegorie den Artikel von der Schöpfung verleit, und habe gegen den Artikel von der Schrift dadurch gefündigt, daß er in dem Judas, welcher den Brief, der fich int N. T. finde, verfaßt habe, nicht den Apoftel erkennen wolle. Was Göthe angeht, fo ftieß er fich an dem Poetifiven der Gejchichte des A. T. aus andern und beſſern Gründen und fpottete faſt eben jo fehr über den etwas marktſchreieriſchen Lärm, der über Herders neue Grfindung, die er in der älteſten Urkunde vorgebracht Hatte, getrieben wurde, als über Bahrbdts Evangeliſten im modernen

41) Die Verſe über Bahrdt, die dieſer keineswegs übel nahm, find be⸗ lannt; was Herder angeht, fo wiſſen bie Leſer, daß es ſich uf ihn bezteht wenn Im Puppenſpiel erſt her Doctor ruft: Ü

Deuiſche Literatur: Server, 451

Die Fortſetzung feiner Art poetiſcher Neform der bibliſchen Religion verfchob dann Herder einige Zeit, verfuchte fich in andern Fächern mit Glück und ward in einer ihm faft allein eigenthüm— fichen und zu verzeihenden Manter Schöpfer einer ganz neuen Art von Poeſie, Philoſophie und Geſchichte. Als Dichter Tieferte er damals: eines der bedeutendften Meiſterwerke in unferer Sprache, die zwei Bände Nationalliederz als Philoſoph bereitete ev feiner nachherigen poetifchen Philofophte dadurch den Weg, daß feine Beantwortung von zwei aufgegebenen Fragen ihm von Der Münchner und von der; Berliner proſaiſchen Academte den Preis erwarb. Was die beiden Binde Nattonallieder angeht, fo ent Halten fie die beliebteſten und zugleich eigenthümlichſten Lieder der verfehtedenften Zeiten, von ihm auf eine meiſterhafte Weife in ihrem eignen Geifte in die deutfche Sprache übertragen, Er un⸗ ternahm etwas Achnliches mit dem Hohenliede Salomonis und bewies bet diefer Gelegenheit aufs Neue, daß ihm mehr. an dem Ruhm eines misgezeichneten Dichters’ als an dem eines Achten und frommen Lutheraners liege. Schon der Titel, den er, da er doch Prediger war, einem bibliſchen Buche gab, erinnerte peinlich an Bahrdt, und Hang als wenn man profane Lefer durch ein profanes Aushängefchtld einladen wolle, Diefer Titel lautet: Lied der Liebe, oder die älteften und ſchönſten Lies der des Morgenlandes. Das Buch ward in der neuen Ge— ftalt mit Recht als Dichtung bewundert, es wird «unter unſere klaſſiſchen Bücher gerechnet; als ein bibliſches Buch nimmt e8 fich | ed in Bi ae fonderbar aus, Herders Eigenthümlich⸗

put die Lichter aus, Sind in einem honetten Haus: Dann der Schattenſpielmann:

Lichter weg! Mein Lämpchen nur Nimmt ſich ſonſt nicht aus: Ins Dunkle da, Mesdames!

Dazu gehört, daß der Schaltenſpielmann die Schoͤpfungsgeſchichte bes

leiert, wohet es Heißt: Ach wie fie is alles dunkel, Finſternis is

War fie alle wirft und leer, TR ſie all nicts auf dieſer Erde geſehe em.

192 Deutfche Literatur: Herder.

feit, ſein orientaltfcher Schwung, feine glühende Phantaſie und jein immer in Lüften und fremden Regionen verweilender Geift mußte daher auch nothmwendig jedes Mal fcheitern, wenn ver fich an das N, T. wagte; dieſes mwiderfuhr ihm auch jogar, als er die Offenbarung Johannis zu überſetzen unternahm, welche fich doch von allen andern Büchern des N, T. durch ihren ganz orien⸗ taliſchen Charakter unterſcheidet.

Von dieſer Ueberſetzung, die den Titel hat, Maran Atha oder von der Zukunft des Herrn, war ſehr wenig‘ bie Rede, Herder fuhr indefjen fort, durch eine ganze Anzahl von Büchern feiner poetifchen, Altes mit Neuem durch die Phantafie verbindenden Anficht der jüdiſchen und chriftlichen Lehren und Geſchichten Eingang zu verſchaffen. Seine Art Chriſtenthum fand befonderd unter den höheren Ständen und bei denen Cingang, welche dem Alten zu entgehen wünſchten, ohne dem Neuen zu huldigen, oder zu wenig tüchtige DVerftandeshildung, zu wenig hiſtoriſche und gelehrte Kenntniffe hatten, um Leſſing, Blank, Spittler, Griesbach und Andern folgen zu können. Herder ſchrieb in dieſer Beziehung zunächft feine Briefe über das Studium der Theologie, weldhe um 1780 und 1781 erſchienen. In diefen Büchern ward den jungen Theologen: Anwelfung gegeben, wie fie zu jener Anficht ihrer Wiſſenſchaft und ihres geiſtlichen Berufs gelangen könnten, welche fie. nad) Herders Meinung ab— halten follte, fi mit Semler als gelehrte Forſcher oder mit Bahrdt, Campe und den neuern Grziehern ald Prediger des im äußern Leben Brauchbaren anzuſehen.

Herders Briefe kamen zur rechten Zeit, denn Semlers An⸗ weiſung für junge Theologen war von 1757, alſo veraltet, und Bahrdt und Campe ſchrieben die Ihrigen * als die in vier Theilen erſchienenen Briefe Herders unglaubliches Aufſehen in Deutſchland gemacht hatten, und zum zweitenmale aufgelegt wur— den. Herder leitete auch hier mehr zum Fliegen an als zum ruhigen Gehen, er gab in den Briefen zugleich Regel und Mu— ſter, immer aber mehr Poeſie als Dogmatik und Moral, Die Theologen follen nad) dem Rath, den er in diefen Briefen gibt, mehr den Geift und den Geſchmack, als den. Berftand und das Gedächtniß Hildenz fie follen, ohne ſich auf Disputiren einzulaſſen,

Deutſche Literatur: Herder. 193

die Glaubenslehre jo behandeln, daß ihr Vortrag dem jedes— maligen Eulturzuftande und der ganzen Nichtung ihrer Zeit genau angepaßt ſei, und dies foll durch Poeſie bewirkt - werben. Blos in diefer Beziehung paßt auch Herders Styl in dieſen Briefen, der fonft als Lehrſtyl durchaus nicht zu empfehlen ift, ſo originell ex fein mag, fo fehr der Vortrag durch lebendige Phantafie be— lebt und durch, die eingemifchten überſetzten Stücke poetifcher Rue dev Bibel unterhaltend gemacht wird.

Diefer Briefe erwähnen wir übrigens nicht wegen ber Thee⸗ logie, deren Geſchichte wir nicht ſchreiben wollen, als weil ſich Herder durch dieſelben neue Verdienſte um die allgemeine Bildung der Nation erwarb, indem er dazu beitrug, einen poetiſchen, über den äußern Nutzen hinausſtrebenden, das Göttliche im Menſchen anerkennenden Geiſt unter den Deutſchen zu erhalten. Hiſtoriker, Statiſtiker, Philoſophen, wie Meiners und Eberhard, Pädagogen und theologiſche Rationaliſten drangen darauf, es ſollte alle Er— ziehung ganz und durchaus proſaiſch auf einen äußern Zweck und auf unmittelbare Brauchbarkeit gerichtet werben; dem ſtrebte Her— der entgegen. Wenn man Bahrdts und Gampes gleich hernach erfchtenene Anweiſungen mit den Briefen Herders vergleicht, er— kennt man fogleich, wie wohlthätig 8 war, daß ein ‚Dichter wie er, Poeſie unter die Pfarrer warf, Bahrdt ‚und Campe wollen beide den proteftantiichen Geiftlichen zum Volke herunterbringen, nicht das Volk durch ihn heben, Nach ihrer, Anweifung foll er in dem Sinn Volkslehrer fein, daß er, mit gemeinnüßigen, natur— hiſtoriſchen, phyſikaliſchen, ökonomiſchen Kenntniffen ausgeftattet, für Küche und Keller, Garten und Feld ſtets fertiger, ökonomi— ſcher und zugleich für den Bauern ärztlicher Rathgeber ſein könne.

Kurze Zeit nach dieſen Briefen ſchrieb Herder das Buch über den Geiſt der Hebräiſchen Poeſie, worin aufs neue Poeſie und Religion auf die glänzendſte Weiſe verbunden war. Er miß— fiel freilich dadurch ſehr oft den beiden Theilen, zwiſchen denen er ſich vermittelnd einſchob, den einſeitig verſtändigen Neuerern und den unverſtändig am Alten klebenden Dogmatikern, hatte ‚aber doch einen großen Anhang, bis ihn. erſt ſpäter Kants Phi— lofophie um feinen Einfluß brachte, Theologiſch ift eigentlich die—

ſer Geiſt der Hebrätfchen Poeſie nicht, er weckte aber vielleicht Schlof ſer, Geſch. d. 18, u. 10. Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 13

494 Deutſche Literatur :' Herder.

unter Theologen umd Exegeten ‚einen poetifchen. Sinn. Es war damit, wie mit Herders vorgeblich Hiftorifchen Arbeiten, welche in den jüngern Schriftitellern und im Publikum hiſtoriſch-philo⸗ ſophiſchen Sinn zu wecken fohlenen, im Grunde aber ganz vom Hiftorifchen Boden ableiteten. Diefe Art hebräiſcher Poetik ver— mehrte den Hang unferer Teicht vom Leben und der Wirklichkeit auf dem Hyppogryphen der Phantafie ins Land der Schwärmer oder Romantifer fliegenden Nation, fich den Träumen des Orten- talismus hinzugeben. Herders Geift der hebrätichen Poeſie lehrte Ueberſpannung, er führte an die Grenze eines Gebiets, wo aller Verſtand verſtummt und die Schwärmerei regiert, dort nahmen Lavater und Jung⸗Stilling die Seelen im Empfang und führten fie in den Mond. Dies raubt indeſſen dem Buche, deffen Wirkung ja Herder nicht zu verantworten hatte, nichts von feinem Annern Werthe, der von der Art, wie es Buchmacher und einge- Hildete Genies gebrauchten und anienbefen keineswegs abhängig gemacht werden darf.

Gleich im erſten Theile des Geiſtes der hebräiſchen Poeſie findet man eine vortreffliche Anleitung, wie man die Hirtenſagen des erſten Buchs Moſis zu entwickeln Hat, um zur Erkenntniß der Sitten, Denkart, Poeſie irgend eines Urvolks auf ſicherem Wege zu gelangen. Im zweiten Theile lieſet man mit Vergnü— gen die Anweiſung, welche ein Dichter wie Herder (denn für einen Philoſophen, Theologen oder Hiſtoriker können wir Ihn unmöglich exkennen) dort gibt, wie man hebräiſche Dichter leſen amd behandeln, ihre Bilder und Dichtungen entwickeln kann und ſoll. Er. entfagt glücklicherweiſe in diefent zweiten: Theile der dichteriſch dialogiſchen Form des Erften, welche es allen denen, Die nicht mit einer großen Kraft des Einbildungsvermögens begabt Find, ober, was einerlei tft, ſich nicht einbilden, Daß fie es ſeien, oft unmöglich macht, ihm auf feinen genialen Wege zu folgen. Wir andern find gewohnt, in Büchern, welche in Proſa gefchrie- ben find, nicht Spiel der Phantafle, erg Belehrung des Ver⸗ ſtandes zu ſuchen.

—Die Ideen zur Philofophie der Gefchichte der Menf chheit in vier Theilen, deren Ueberſetzung ing Franzöſiſche An unſern Tagen’ mit: der Verbreitung des jenfeit des Rheins.

vi

Denkfche Literalur: Gerber. 195

wunderlich genug franzöſiſch geſtalteten deutſchen Treibens in genialer Philoſophie, Poeſie und Politik unter den Franzoſen verbunden war, behandeln die Geſchichte und die philoſophiſche Theologie nach der Manier, wie beide in Herders Phantaſie ver— bunden waren. Wen aber Chateanbriands oder gar Victor Hugos und Merander Dimas Schriften verftandig und logiſch, wen ihre Sprünge und der Aberwis mancher: Stellen ſchön, wem der wun— derliche Pantheismus anderer Nomantiker und ihr lächerliches Preiſen des Mittelalters natürlich ſcheint, dem müſſen Herders Ideen als Licht im der Finſterniß vorkommen. Die hiſtorxiſche Kritik der Herderſchen Ideen gehört hierher nicht, wir haben des— halb nur einen Fingerzeig zu geben über ihre Beziehung zu der damals herrſchenden, humoriſtiſchen, romantiſchen, hypergenialen Manier, welche jetzt auch in Frankreich herrſcht. Wir läugnen dabei keineswegs, daß Herders Ideen, abgeſehen von der Geſchichte, einem Bedürfniſſe des großen Publikums entſprochen Haben, denn es ſind ja unzählige Geſchichten in der Manier geſchrieben worden. Im erſten Buch ſchon entſcheidet Herder vrafelnd über Dinge, denen ſeit ſeiner Zeit Aſtronomen, Phyſiker, Geologen und Eth— nographen geſtützt auf Forſchungen und auf neuere beſſere Erfah— rungen ein ganz anderes Anſehen gegeben haben, als er ihnen aus eilig und obenhin geleſenen Büchern, die ihm der Zufall oder eine Empfehlung des Fachgelehrten in die Hand gab, geben konnte. Seinen Zeitgenoſſen und allen mit den Fächern Unbe— kannten imponirt er durch die Beſtimmtheit und Zuverſichtlichkeit eines Sehers, mit der er ſich In der Sprache orientaliſcher Pro— pheten über die dunkelſten und ſchwierigſten Punkte, die ſich zum Theil gar nicht ausmachen laſſen, ausſpricht. Im dritten und vierten Buche ſchaltet ex: gebietend auf dem Felde des Naturfor— ſchers in Dingen, denen dieſer oft ein ganzes Leben widmet, ohne aufs Klare zu kommen, macht dabei den Naturphiloſophen und ‚geht endlich auf eine Art Theologie über, die en ſelbſt fchafft. Diefe Art Theologie, welche daher neulich den won einem: Pan— theismus eigner Art träumenden franzöſiſchen Romantifern ſehr willkommen war, empfiehlt Herder durch orientaliſchen Schwung, wie Boſſuet die eraſſe Rechtgläubigkeit durch redneriſchen Schmuck. Boſſuet findet es ganz vernünftig, daß die göttliche ſich

196 Deutſche Literatur: Herber,

um Hunderte son Völkern und Taufende von Millionen: einzelner Menfchen gar nicht oder nur gelegentlich befümmert, er knüpft bie Regierung des‘ Weltalls an Glauben oder Unglauben der Suden, das gefällt Herder nicht. Er iſt aber auch mit den wun- derlichen Theorien Bonnets umd anderer übertrieben frommen Theologen. und Phyſikotheologen nicht zufrieden, Auf feinen küh— nen Dichtergeift auch in den realen und eracten Wiffenjchaften sertrauend, fucht er nämlich in dieſem dritten Buche, ohne Natur- forſcher oder Naturkenner zu fein, eine Fortbildung oder Stufen- Yeiter der Geſchöpfe feſtzuſetzen. Dies wiffenichaftlich durchzuführen, würde eine unbegränzte Kenntniß aller Naturreiche vorausſetzen. Das ftört aber Herder jo wenig als feinen Ueberſetzer Duinet, über deſſen Dreiftigfeit wir erftaunten, als er unter unfern Augen die Arbeit unternahm, ohne mehr Deutfch zu verſtehen als Couſin, der die Franzofen son Schelling und Hegel unterhielt. - Beide haben jedoch den Pariſern ebenſoviel Reſpect eingeflößt, als Her— der den Deutfchenz jedermann wollte mit ihnen fliegen und ſah mit Verachtung auf und Andere, die. wir zu Fuße gingen. Leichter möchte fein, was er im vierten. Buche unternimmt, des Menjchen Bernunftfähigteit aus feiner Organiſation herzuleiten; aber Herder wagt fich auch hier über das hiftorifche Feld des Nachzumweienden weit hinaus, Cr lehrt, was als Thatfache gewiß genug ift, was ‚aber doch Fein Anatom oder Phyſiolog zu demonftriren, oder gar, wie Herder srafelnd zu behaupten wagen würde, daß aus des Menſchen außerer Bildung feine Anlage zur Humanität und Religion herzuleiten je. Diefen Sab kann man übrigens in ge= wifjer Beziehung gelten Yaffenz wenn er aber auch feine Hoffe nung der Unfterblichfeit daher. leitet, alfo aus dem Materiellen das Immaterielle hervorbringt, fo geräth er aus der Naturphilofophie ‚gleich. Bonnet in die Theologie und faſelt ftatt zu’ lehren. Erſt im fünften Buche fommt er endlich auf einen Schluß aus. dem Vori- ‚gen, worauf er eine neue theologische Anficht der Gefchichte auf eine ganz andere Manier als Boſſuet gründen will. Er will namlich aus dem DVorigen den Sat herleiten: „daß der Menſch ein Mittelglied zweier Welten jet.“

m Schon zur Zeit der erſten Erſcheinung der das damalige Pubhlikum vor Entzücken ganz außer ſich ſetzenden Ideen urtheilte

Deuiſche Literatur: Herder. 197

ein denfender Naturforfcher über den Inhalt dieſes erſten Sheils kurz und dabet ſehr treffend und gründlich: „Die Kühnheit, mit welcher Herder den Anatomen und Naturforfchern vorſchreibt, was und wie fie unterfuchen follen, nöthigt dem ruhigen Leſer ein Lächeln ab.“ Der zweite Theil oder das jechste bis zehnte Buch stellt aus flüchtig. gelefenen Reifebefchreibungen gefammelte Notizen mit ungemeiner Kühnheit und Phantafte, mit ſchwülſtiger Rede als Orafelfprüche zufammen, und es wird mit der Gefchichte umgegangen, wie im erften Theile mit den Refultaten der Arbei- ten der Naturforicher, In diefem Theile wird die Altefte Urkunde des Menfchengefchlechts mit vollem orientaliſchen Schimmer wie— derum als Erklärung der erften Kapitel des erften Buchs Moſis und als uralte, nicht blos als Herderfche Idee aufgeführt Es werden Wiffenfchaften, Künfte, Regierung von einer Kette dev Bildung oder einer Tradition der Urwelt dichterifch und gebtetend abgeleitet, ohne daß die Exiſtenz derfelben irgendwo bewieſen würde. Da Herders Publifum auch in Sachen des Verſtandes nach Gründen nicht fragte „der fie langweilig fand, jo ward es ihm Teicht, nachdem einmal eine Kette der Traditionen fertig war, die Religion zur älteften und heiligften der vielen ererbten Tra— ditionen zur machen. Wenn man hier genau zuſieht, fo erfennt man leicht, daß die arme Schaar der treugebliebenen Frommen und ſpäter Wöllner und die von ihm überall eingeſetzten, den ſymboliſchen Büchern getreuen Gonfiftorten fich Herders nicht jehr freuen konnten. Ste mußten dafür halten, daß er neben den ver— ftandigen Ketzern Leflings und neben den Rationaliften eine‘ Ge— meinde von phantaftifchen Ketzern ſammle. Wenn namlich die Tradition wirklich Quelle der Religion war, jo mußte man, went man nicht durch; Herders Brille ſah, durch die Gejchichte unfehl- - bar zum PBantheismus des Uralterthums gelangen. Unter det älteften VBolfern in Indien, Perfien, Aegypten, China, in Myſte— rien, Symbolen und Gultus ift überall Pantheismus, von Tra= ditton, von Einheit und Perſönlichkeit eines chriftlichen Gottes iſt feine Spur,

Herder kannte fein Publikum, das fich einbildete, mit ihm zu fliegen, wenn es eigentlich tief unten fand, und mit weit aufs ftehendem Munde ihn oben fliegen jah, viel zu gut, um fich ſtö—

198 | Deutſche Literatur; Herder.)

ven zu laſſen, er fliegt Daher kühnlich am ſymboliſchen Bantheig- mus und an dem Fenerdienit, alſo am indischen und perfifchen Cultus vorbei auf dem Pegafus feiner Tradition unmittelbar zu Moſes herüber. Diefer Mebergang hat einige Achnlichkeit mit der poettfchen Manier, wie Dante in feinem Gedicht, am Zeufel herunter und doch zugleich heraufjteigend, fich dutch einen Gna— denftoß Virgils über den Schwerpunkt der Erde und der Hölle hinaus ins Purgatorium bringt: Herder weiß fich des übrigen srientalifchen Ballaſts bei diefer Gelegenheit geſchickt zu entladen und geht, nachdem er vorher Alles, was auf die geiftige Natur des Menfchen Bezug hat, son einer Uxtradition hergeleitet, alle Traditisnen, welche unftreitig hiftoriich Alter find, als Mofis Bücher, auf eine folche Weife durch, daß er am Ende die andern los = und nur die Eine findet, die er finden will, Er ſelbſt hatte in einem andern Werke mit der ihm riguen Uebertreibung den Zend Aveſta als Urkunde und Quelle der heiligſten Traditionen geprieſen, das Alles wird hier in den Schats ten gefchoben. und Moſes allen denen, die aus dem Dunkel Hers ders leuchtendem Schaufptele zufehen, mit einen Perlenſchmuck der neneften Wiffenfchaft bekleidet, vorgeſtellt. Es wird die ganze neuere Naturforfchung unferer Zeit, jo weit natürlich die fehr man— gelhafte Erkenntniß derſelben reicht, in die Moſaiſche Schöpfungs— gefchichte gelegt, die für ihn dann in dieſem Sinn eine Offen- barıng ift. Wie dreift er dabei der Nechtgläubigfeit und dem Wortfinne zum Trotz zu verfahren wagt, zeigt er. dadurch, daß er das „ES werde Licht” der mofaifchen Urkunde zum Behuf der geologifchen Offenbarung, die er in feinem Text findet, im Sinne der: Barfen oder Feneranbeter deutet: Es wird‘ nad) ihm unter dem Worte Licht ein, Gott weiß, welches Elementarfener verſtanden, welches die Natur der Dinge zum Entſtehen und ausgebildet Habe,

Dieſe Andeutimgen reichen hin, bie, Stelle zu bezeichnen, welche Herder unter den großen Männern einnimmt, denen unſere Nation im achtzehnten Jahrhundert eine neue Bildung und ein neues Leben verdankte. Es wird leicht fein, aus den angeführten Zügen, die wir ausgemachte Thatſachen nennen würden, die Be— deutung, welche die vielen weit verbreiteten, mit Begeiſterung ges

Deutſche Literatur: Lavater. 199

ſchriebenen und von Begeiſterten geleſenen Schriften Herders für feine Zeit Hatten, zu beſtimmen und die Art ihrer Wirkung anzu— geben, ohne daß wie. dabei Jänger verweilen, In der folgenden Periode erft werden wir angeben Tonnen, welche Stellung Herz der erhielt, als Kants Bhilofophie fich verbreitete, und en, wäh⸗ rend Göthe und: Schiffer die neue Philofophte freudig begrüßten, ohne darum jedoch Kantianer zu werden, fich mächtig genug glaubte, dem: Strom entgegen zu ſchwimmen. Seit der Zeit ward ſein Verhältniß zur Literatur gänzlich verändert.

Wir glauben zunächſt neben Herder Lavater erwähnen zu müſſen, weil beide einander lobten und empfahlen. In der That hatte ihre Manier und Wirkſamkeit einige Aehnlichkeit, doch hat— ten ſie ganz verſchiedene Menſchenklaſſen im Auge und ſtimmten durch ihre Schriften ganz verſchiedene Perſonen zur religiöſen Be— geiſterung. Herders Publikum beſtand aus der gebildeten Klaſſe, aus allen denjenigen, die den alten Glauben in der Geſtalt, wie ihn die Göze und Ihresgleichen predigten, nicht mehr verdauen konnten, welche aber doch auch den Formen, die ſie in der Jugend erlernt Hatten, nicht entſagen wollten und Poeſie für Religion nahmen. Lavater dagegen war das Orakel aller derer, welche bie herrfchende Empfindfamkeit der von Werther und Siegwart ges ſchmolzenen Seelen entweder mit religiöſer Schwärmerei verbinden wollten, wie Klopſtocks Freunde, oder auch veligiofe Schwärmerei an die, Stelle der empfindelnden ſetzen, wie Diejenigen, deren Apo— ſtel Jung⸗Stilling ward.

Lavaters erſtes Auftreten iſt ſchon in der vorigen Periode ausführlich erwähnt worden. Wir finden ihn daher in dieſer Periode ſchon als einen der berühmteſten Männer der Zeit, der von ver— ſchiedenen Seiten her und durch ganz verſchiedene Eigenſchaften einen bedeutenden Einfluß auf ſeine Landsleute und auf ganz Deutſchland übte. Lavater ward als Prediger und Dichter und Schriftſteller in der von Klopſtocks Freunden bewunderten affeftirt- geiſtreichen, ſentimental = deelamatorifchen Manier berühmt. Er ward früh mit aller Welt befreundet und war eben ſo eitel, wenn auch nicht jo hochmüthig, als ſein Freund und Landsmann Zim⸗ mermann in Hannover, der ſehr viel dazu beitrug, ihm unter ſeinen vielen vornehmen Freunden einen Namen zu verſchaffen.

300 Deutfche Kiteratur: Lavater.

Zimmermann war Leibarzt in Hannover, mit feiner Geſchicklichkeit als Arzt Haben wir Hier nichts zu thunz gewiß ift aber, daß er ineifterhaft verftand, Alles, was ihm an eigentliche mediciniſcher Wiſſenſchaft abgehen mochte, durch Scharlatanismus zu erſetzen. Auf diefe Weiſe Hatte er. fich auch in den fchönen Wiffenfchaften und in der Damals beliebten Bopularphilofophie, worin jedermann pfuſchen konnte, durch harte Proſa, mit Bombaſt untermiſcht, einen Ruhm erworben. Als er in der vornehmen Welt einen bedeuten⸗ den Ruf erlangt hatte, machte er es, wie Seinesgleichen e8 überall und zu allen Zeiten zu machen pflegen, ex pofaunte feinen Freund Lavater und diefer ihn aus, und beide waren bald überall berühmt und Orakel der Art Leute, welche gewohnt find, gewiſſen Auto— ritäten blindlings zu folgen. Lavater vedete nie anders als int Prophetentone, weil er gewohnt war, feine Einfälle als göttliche Gingebungen zu. betrachten, und Zimmermanns Hochmuth Tief ihn nie an der Unfehlbarfeit feiner Ausſprüche den geringften Zweifel hegen.

Die innige Verbindung zwiſchen Zimmermann und Lavater brachte damals den Letztern als Erfinder einer neuen Wiſſenſchaft in Ruf, welche in unſern Tagen der Craniologie und Phrenolo— ‚gie hat weichen müſſen, ſobald ſich für dieſe ähnliche Phraſenma— cher fanden als Lavater war. Dieſe Wiſſenſchaft war feine an- dere als die Phyſtiognomik, die von aller Welt von jeher und zu allen Zeiten zwar empiriſch betrieben ward und noch betrieben - wird, aber doch immer nur als vermuthende oder errathende Hebung, welche aber Lavater zum Range einer unfehlbaven, prophetifchen Wiſſenſchaft erheben wollte, Um eine folche an Magnetismus und Scharlatantsmus nahe gränzende, dem medieinifchen Wiffen- _ ſchaften verwandte Wiſſenſchaft emporzubringen, war Zimmer— mann am beiten geeignet. Er war Arzt der vornehmen Welt und ward von allen Höfen confultirt, ev war vieler Orden Rit- ter und vieler Akademien Mitglied; er Eonnte alſo durch den Wind, den er gemacht hatte, und wodurch er, wie Voltaire, Cor— vefpondent der Katferin Gatharina geworden war, auch andere Luftichiffer emporheben. Lavater ward von allen jenen Großen, welche den Schein dev Frömmigkeit um jo mehr lieben, je weiter fie von der Sache ſelbſt entfernt find, als genialer Schwärmer

Deulſche Literatur? Lavater. 201

hochverehrt; er fand daher, als er ihnen auf dieſelbe Weiſe wie Bafedow für ihre Geld prächtige Bilder und eine neue Wiffenfchaft anbot, Unterftigung genug. Lavater wie Baſedow forderte alle Welt auf, fich der von ihm erfundenen, für die Menfchheit ganz un— entbehrlichen Wiffenfchaft anzunehmen; beide machten ihre Wiffen- ſchaft und durch diefe die Menſchheit von dem von ihnen heranszugeben- den Prachtwerke abhängig und Lavater fand für feine Phyfiognomif wie Baſedow für fein Elementarwerk zahlreiche Subſkribenten. Was die Phyſiognomik angeht, jo Fonnte die Welt der Sa— Yons dabei, wie bei Magnetismus, bei Craniologie, Phrenologie Tiſchrücken, Tischflopfen, die Scharlatanerte der Wunderthäter und Debitanten unerhörter Weisheit vom Begründeten und Reellen um jo weniger unterfchetden, als fich gewöhnlich ſehr geſchickte und an— geſehene Modefchwäter und Deklamatoren folcher Sachen anneh= men. Belde, Zimmermann und Lavater, verftanden jeder auf feine Weiſe vortrefflich zu praßlen und zu pochen und ihrem Kupfer durch ganz dünne Vergoldung das Anfehen des Achten Goldes zu geben; fie gingen daher auch bei dev Verbreitung einer Wiffen- jchaft, die ihren Zwecken fo gut entfprach, brüderlich Hand in Hand, Uebrigens verfündigte Lavater das phyfiognomifche Evan— geltum zuerſt feinen Züricher Pfarrkindern, und fchten anfangs er- ſchrocken, als es Zimmermann anf feinem deutfchen Markte aus— ſchrie, war aber hernach entzückt, als er ſah, daß Alle, die ſich um Zimmermanns Bühne ſammelten, ſich auch zum Prophe— ten Lavater bekehrten. Der Pfarrer Lavater las nämlich feinen Zürichern in ihrer naturforſchenden Geſellſchaft einen Aufſatz vor, worin er in ſeiner alle Dinge übertreibenden Manier ſchwülſtig, wie der Geſchmack der Zeit und beſonders der der Freunde Lava— ters in Süd- und Norddeutſchland war, von der Phyſiognomik handelte. Dieſen ihm mitgetheilten Aufſatz ließ Zimmermann den ſämmtlichen zahlreichen Bewunderern, welche der Züricher Prophet in Norddeutſchland Hatte, im Februar 1772 tm hannöverſchen Ma— gazin mittheilen. Lavater drückte Anfangs einige Beſorgniß aus, die frommen Seelen in Novddeutfchland, ‚welche die poetifche Proſa feiner Aussichten in die Ewigkeit beiwunderten und ihn als Propheten verehrten, möchten an den, was Zimmermann be= Fannt gemacht, als am einem Dinge profaner Natur Anftoß neh—

2023 Deuiſche Literatur: Lavater.

men, er merkte aber kaum, dafs die Sache Effect machte, als er fich eines Beſſern beſann. | Zavater ließ, als er ſah, daß fein Aufjas im Deutſchland Beifall finde, nicht bloß die von Zimmermann befannt gemachte Borlefung als ein eigned Buch drucken, fondern fügte auch noch einen zweiten Theil hinzu, worin er mit dem ganz fertigen ſum— marifchen Entwurf feiner ganzen Wiffenfchaft hervorkam. In dies jem. zweiten Theile feines Aufjates tritt er ganz entſchieden als Seher auf, denn er erklärt: die alte allen Menfchen bekannte Er— fahrung, daß. man aus den Zügen des Gefichts Eigenfchaften des Geiſtes und Herzens errathen könne, ſei nunmehr von ihm zu einer unfehlbaren Wiffenjchaft erhoben worden, vermöge deren mar aus den Zügen und aus dem ganzen Aeußern jedes Menſchen Sharakter und Wefen deffelben unfehlbar erkennen fünne, Er verwandelt feine neue Erfindung in eine ſyſtematiſche Lehre, deren erfter Theil das begreifen foll, was er empirische Phyfiognomif nennt. Dem ziveiten Theil gibt er den Namen, thenretifche oder tranfrendentale Phyſiognomik, welche die Mrfachen und Gründe der Erſcheinung nachweife, oder den: unmittelbaren Zufammenhang zwifchen dem innern Sharafter und dem äußern Ausdruck erkläre, Lavaters Buch ward als Proſpeetus feines großen, mit Kupfern und aller möglichen typographiichen Pracht auszu— ftattenden Werks von ihm, von feinem Zimmermann umd ihren zahlreichen Freunden überall unter den Reichen, unter den damals jehr zahlveichen Veberfpannten, unter den Damen verbreitet und die Subfeription auf das große Werk hatte gleichen Fortgang mit der auf Baſedows Elementarwerk. Nicht bloß in Deutichland, fondern auch in Dänemark, Frankreich, Schweden, in Rußland, ſchon um der Kaiferin willen, und fonft überall, wo Phantafie und ihre willkürlichen, jedes logiſche Gefeb verfchmähenden Gebilde mehr galten, als mathematifche Strenge und ruhige befonnene Prüfung, unterfchrieb man eifrig und fchiefte dem Seher, in dei- ſen Werf man ald Kupfer oder Vignette gern unter den hohen, den edlen, den göttlichen Gefichtern glänzen wollte, Portraits oder Silhouetten nach Zürich oder pilgerte ſelbſt dahin. Ehe wir anführen, was ein großer Mathematifer und Phy— fifer, der größte Satyrifer der Deutfchen, gegen die neue Wiſſen—

Deuiſche Literatur: Lavater. 203

ſchaft vorgebracht hat, wollen wir ein glänzendes Zeugniß zu Gunſten der Erfindung Lavaters und ſeines Buchs anführen, Dies wird alle die über Lichtenbergs Spott tröften, denen eine gedruckte Rezenfion oder ein berühmter Nante die höchſte Autorität iſt. Die geiftreiche Frau Düdevant, gewöhnlich George Sand genannt, befam nämlich neulich anf einer: Reife zufällig Lavaters großes Werk in die Hand und fchildert ung in ihrem vorzüglichiten Buch, den Briefen eines Neifenden, ihre Bewunderung auf eine meifterhafte Weiſe. Wenn man Lavater und feine Phyſiognomik gern gepriefen Hört, jo muß man Yefen, wie überraſcht und: er= ftaunt die geniale Frau war, deren Urtheil un ſo unbefangener tft, als ihre veligiöfen Meinungen gerade das Gegentheil von den lavaterſchen find, und als fie von Lavater felbft nichts wußte. Man kann von ihr am beften Ternen, wie geniale, von der Phan— tafte beherrfchte Leute urtheilen, und fich daraus erklären, wie Lavaters vornehme Ausdrücke (4. DB; theoretifche oder tranfcen- bentale Phyſiognomik), feine Deelamationen und Grelamationen, feine Kupfer und ihre Deutung auf feine Zeitgenofjen einen fo. mächtigen Eindruck machen Fonnten, daß Lichtenberg und alle Ver— ftändigen der Mühe werth hielten, ſich mit aller Gewalt dagegen zu erheben.

Bon Lavaters angekündigtem Prachtwerke mit, —* beſchei⸗ denem Titel erſchienen 1775 und 1776 die beiden erſten Bände und bis 1778 waren alle vier Bände ausgegeben. Der Titel lautet: Phyſtognomiſche Fragmente zur Beförderung

der Menſchenkenntniß und der Menſchenliebe. Das Format iſt das größte Quart, viele und vortreffliche Kupfer und Vignetten zieren das Werk, welches durch Papier und typogra— phiſche Pracht Alles übertraf, was die deutſche Preſſe bis dahin geleiſtet hatte. So viel ſich auch für und gegen Phyſiognomil ſagen läßt, ſo iſt doch klar, daß Lavater nicht der Mann war, der die Divination, welche man allenfalls dem geſchickten Deuter der menſchlichen Geſichtszüge, wie einſt dem römiſchen Deuter der Eingeweide der Opferthiere, zutrauen möchte, zu einer Wiſſenſchaft hätte, erheben können, dazu fehlten ihm die zwei erſten Eigen⸗ ſchaften. Die erſte Eigenſchaft desjenigen, der eine Wiſſenſchaft auf Erfahrungen gründen will, iſt die Gabe beſcheiden und ruhig

204 Deutfche Literatur: Layater,

zu beobachten, damit hängt die zweite genau zufammen, daß er nämlich im Stande fer, einen ſtreng logiſch geordneten und in beftimmten und klaren Worten ausgefprochenen Vortrag über das Beobachtete und über den Zufammenhang deffelben zu halten oder niederzufchreiben, Lavaters Manier ift aber die thenlogifche derer, die im Namen Gottes zu ung zu reden fich unterſtehen, oder die der philofophifchen und überfchwänglich genialen Schulen, welche ſeit Herders Zeit fich fo hoch über Alles ftellten, daß fie aus den Wolken herab Machtiprüche ftatt Gründe und sornehme Verach— tung ftatt Widerlegung herabfchlendern konnten. Dieſes Tons, der auch Lavaters ſcheinbar chriftlich demüthige Schriften auszeich- net, bedienen fich ſonderbarer Weife in der Politik die Abſoluti— jten und ganz Servilen unter den blinden Berfechtern des Alten eben jo dreift, als die wüthenden Demofraten aus Marats Schule; in der Theologie die blinden Bapiften, die Schwärmer, wie La= vater und die Pietiſten. Auch die dürren Moraliften wie Nicolai, oder die Frechen Spötter aus Voltaires und Diderots Schule ſchim— pfen und verachten ftatt zu wiederlegen. Alle diefe Gattungen son Menfchen verzweifeln gleich vorn herein an ihren Gründen, und weil fie nur durch Machtiprüche vegteren wollen, jo find fie nur denen fü, welche diefen gehorchen, allen Andern fauer und bitter. Jeder, dev nicht unbedingt ihnen nachfpricht, wird fogleich für unfähig erklärt, über ihre Behauptungen zu urtheilen, weil dieſe viel zu hoch feien, als daß fein beſchränkter Getjt dahin reiche.

Weil diefe Manier, den Gegner durch den Schwulft hoch— ‚teabender Rede todtzufchlagen, von der Teider! auch Herder nicht ganz frei war, ſeit Lavaters Phyſiognomik, trotz alles Spotts, womit Lichtenberg die ganze Manier überjchüttete, herrſchend ward und noch heutigen Tages nicht abgenust ift, jo wollen wir Durch einige Stellen deutlich machen, auf welche Weiſe Lavater den Schwulſt und den lächerlichen Ton einführte, deffen fich hernach alle Bernunfthafler bedienten und noch immer bedienen. Wir wählen nur eine Stelle ganz auf den Zufall, da durch alle vier Quar— tanten diefelbe Sprache und derfelbe Ton herrſcht. An diefer Stelle (1. Thl. S. 171) werden alle diejenigen aufgezählt, die der neuen, allen Menſchen unentbehrlichen Wiffenfchaft unwürdig und unfähig find und bleiben, Da heißt es dann: „Wer in

Deuiſche Literatur: Lavater. 205

Bodmers Arche (die, wohl zu merken, damals ſchon längſt auf dem Gebirge des neuen Geſchmacks gefcheitert war) feinen Ort findet, wo fein Fuß ruhen fünne, in Klopſtocks Apofteln nicht die edelfte Menfchheit, in feinem Eloah nicht den Erzengel, in feinem Chriſtus bei Samma nicht den Gottmenſch fühlt; wen Göthe nur wigig, Herder nur dunfel, Haller nur hart iſt und auf dieſe Weiſe wird noch einige Zeit hindurch fortgefahren, um am Ende zu jagen, daß alle folche Leute dev Lavaterſchen Wiſſenſchaft un- fähig jeien.22) Die burlesfe Manier, wie Layater im Orafelton über fein Werk und über defien Kupfer. und Vignetten einen Strom bombaftifcher Nede ausgoß, den feiner Zeit alle genialen Menschen, alle zartfühlenden- Seelen entzücend ſchön fanden, hat bei Gelegenheit der unten angeführten Stelle aus der Einleitung, Lichtenberg durch einen Spott, den wir-ebenfalls beifügen 23), her- sorgehoben. -

42) Diefe Stelle perfiflixte hernach Lichtenberg in feiner Erklärung ber Silhouette som Sauſchwanz, deſſen Biegungen er, wie Lavater die Züge fei- ner Gefichter, mit Buchſtaben bezeichnet Hatte, Lichtenbergs Anfang Jautet. Wenn du in diefem Schwanz nicht fieheft, Tieber Lefer, ven Teufel in Sau: heit (obgleich Hoher Schweinsdrang bei a tft), nicht erfennft den Schreden Iſraels in e, nicht mit den Augen riechſt, als hätteſt du die Nafe darin, den niedern Schlamm, in dem es aufwuchs bei d, und nicht zu treten ſcheinſt in den Abſtoß der Natur und den Abſcheu aller Zeiten und Völker, der fein Element war. fo mare mein Bud zu, fo bift du für die Phyfiognomit verloren. Diefes Schwein, ſonſt gebornes Ur⸗Genie, luderte Tage lang im Schlamm Hin u, f. w; | 43) Die Phyfiognomik, jagt Layater In feinem Bombaft, reißt Herzen zu Herzen, fie allein ftiftet die dauerhafteften Sreundfchaften. Auf Leinem un- umftößligeren Grunde, Feinem fefteren Telfen kann die Freundſchaft ruhen, als auf der Wölbung einer Stirn, dem Rüden einer Nafe, dem Umriß eines Mundes, dem Blie eines Auges u. |. w. An einer andern Stelle endigt bie Erſcheinung zweier häßlichen Vaganten auf eine höchſt burlesfe Welfe den phyſiognomiſchen Traum, den er in Lächerlicher poetifcher Proſa geſchildert hat. Wonnevoll, vor einem Beste ver Herrlichften Blumen u. ſ. w. In diefem fügen Gefühl ftieg ih in meinen Gedanken zur lebendigen Thierſchönheit und jo fort zum Menfchen empor. Ein herrlich Menfchenbild war vor meiner Stine, das mein Herz mit Hoher Wonne empfing. Ein Geräuſch unter brach mid. Gott! Mit welhen Wehmuthsſchrecken traf mich das Bil! Ich ſah zwei Ideale von Landſtreichern!!“ Diefe Manter, angewendet auf Lavaters Deklamallon über Silhouetten der Leute, die er auspoſaunen wollte,

206 Dentihe Literatur: Lavater.

Die Großen der Erde ſchickten ihm indeſſen ihre Silhouet— ten und Bilder, um Ideale der Tugend zu werden, denn an Schönheit fehlte es bekanntlich vielen in der Geſchichte, nicht ge— rade wegen ihrer Tugenden berühmten Perſonen, durchaus nicht. Man denfe unter den Begünſtigten dev Monarchie an Orloff und die Herzogin: von Dino (Talleyrand), unter den Begünftigten der Demokratie an die Theroigne de Mericourtz Lavater konnte daher Vorzüge und Tugenden genug austheilen, was auch nicht unter blieb. In Lavaters Buche fanden ſich eine große Anzahl son - Bildern lebender Berfonen aus allen Gegenden, die Reichen und Vornehmen wurden durch Lavaters Deutung ihrer Züge edel und gut. Alle, die man gewinnen wollte oder gewonnen hatte, erhiel- ten ihren Antheil an Lavaters Ausrufungen. Ganz Deutfchland war erfreut, zu erfahren, daß «8 fo viele ſeelenvolle Gefichter, ſo viele edle Menfchen in feinem Schooße ernähre, daß Die vorneh- men Leute, die ihr Bild gefchieft Hatten, Mufter der Tugend, Ge- nies, unfchäßbare Männer und Franen wären. Als folche wur— den fie durch Lavaters Gommentar über ihre Bilder aller Welt im Boraus bekannt,

Die neue Wiſſenſchaft und Lavaters Manier, fie zu ten und * zu machen, ward bald beherrſchend wie die Sn:

Lichtenberg ſchr bitter in der Erklärung über * engliſchen Dog⸗ genſchwanz. „Der du mit menſchlichem warmen Herzen die ganze Natur um⸗ fängft, beginnt er, mit andächtigem Staunen did in jedes ihrer Werke Hin- führſt, lieber Leſer, theurer Seelenfreund, betrachte diefen Hundeſchwanz und bekenne, ob Alexander, wenn er einen Schwanz hätte tragen wollen, ſich ei⸗ nes folden Hätte fhämen dürfen, Durchaus nicht: weichlich hundſelndes,

nicht damenfhöpfigtes zuckerndes,“ mansfnapperndes winziges Weſen. Ueberall

Mannheit, Drangdruck, Hoher erhabener Bug und ruhiges bedächtiges Fraft- herbergendes Hinſtarren, gleichweit entfernt von unterthäntgem Verkriechen zwiſchen den Beinen und hühnerhündiſchen, wildwitternder ängſtlicher, un⸗ Tchlüffiger Horizontalität. Stürbe der Menſch aus, wahrlich, der Scepter der Erde fiele an dieſe Schwänze. Wer fühlt nicht an hoth⸗ aſciich⸗ Idio⸗ ntaät angrenzende Hundheit in der Krümmung bei a. An Lage, wie nach der Erde, an Bedeutung, wie nach dem Himmel. Liebe, Herzenswonne, Na Aur, wenn du dereinft dein Meiſterſtück mit einen Schwarze zieren willſt, ſo erhöre die Bitte deines bis zur tr warmen —— und ihm einen, wie Bin. ſ. m,

i

Deutſche Ateratur: Lichtenberg. 207

wartſche Gefühlſamkeit. Man konnte ſogar im verſtändigen Nie— derſachſen die Anhänger der heißen Züricher Schule zu tauſenden zählen; dies veranlaßte eine für unſere Literatur höchſt merkwür— dige Oppofitton. Die Oppofitton des geiftreichiten und witzigſten unter den deutſchen wiffenfchaftlichen Männern des achtzehnten Sahrhunderts gegen Zimmermanns Obſcurantismus und Servi⸗— lismus und gegen Lavaters Schwärmeret iſt auch Dadurch nichtig, daß Die Achte Satyre bei der Gelegenheit in Deutjchland einhei— miſch ward, Bis dahin verſtand man mr. schlechte Witze zu machen und grob zu ſchimpfen, wie denn auch Zimmermann Lich- tenbergs Satyre blos mit elendem Schimpfen und Schmähen be— antwortete. Lichtenberg war ein Geiſtesverwandter Hogarths, als deſſen Erklärer er ſich unter unſern ausgezeichnetſten Schriftſtellern durch kleine aber witzige Arbeiten berühmt machte, während er zugleich als gründlicher Kenner und Lobredner Shakespeares viel dazu beitrug, die Deutſchen auf die conventionelle Flachheit und Künſtelei des franzöſiſchen, von uns adoptirten Drama aufmerf- Jam zu machen. Sein kaltes, weder ſtrengen ſittlichen Grund- ſätzen, noch einem tiefen religiöſen Gefühl fortdauernd, wenn auch wohl son Zeit zu Zeit, gehorchendes Weſen machte ihn ganz ge— eignet, den Unfinm der Sentimentalität, der. Schwärmeret und des Bombafts jener Zeit mit feinem ſcharfen und treffenden Wit aus⸗ zubeizen. | Richtenberg zeichnet ſich vor aller deuiſchen Gelehrien die mit ihm ſowohl In mathematiſchen und phyſikaliſchen als in. bel- letriſtiſchen Wiſſenſchaften etwa können verglichen werden, ganz vorzüglich dadurch aus, daß er nie Mißbrauch von ſeinem Ruhme gemacht Hat, Mit andern Worten, er hat nie, was doch ſelbſt Göthe und Schiller, wie aus ihrem Briefwechſel hervorgeht, nicht unter ihrer Würde hielten, und was: Herder, wie die Maſſen ſei— ner Schriften beweiſet, ganz in der Ordnung fand, auf das le— ſende Publikum buchhändleriſch ſpeculirt. Er ſchrieb nicht viele und dicke Bücher, er affectirte nicht, je nachdem es Die Zeit for- derte, bald ſpeculative Philoſophie, bald Frömmigkeit und Viel⸗ wiſſerel und wunderliche Empfindſamkeit, wie die andern Ver— fertiger witziger Bücher und Romane; er gebehrdete fich daher auch nie wie die ſogenannten Humoriſten, als wäre er halbnärriſch

208 Deutfche Literatur: Lichtenberg,

und redete nie, wie dieſe, eine unverftändliche Sprache, Wir müffen feine Kampfs mit den zahlreichen Phantaften feiner Zeit hier um fo mehr gedenken, als aus der Gefchichte deſſelben, be- ſonders aber aus feinen eignen Abhandlungen hervorgeht, bis zu. welchen unglaublichen Grade das deutjche Publikum und feine Literatur yon jeher ein Spielwerk von Scharlatans und Kame— radſchaften war, welche fich Einer den Andern loben, in Zeitun- gen und Sournalen auspofaunen. Zum Glüde pflegen fich aber diefelben Leute auch gelegentlich wieder zu befehden. Gegen die eitle Bande fchreiender Schwärmer und Empfindler fonnte auch fogar ein großer Geift wie Lichtenberg nicht durchdringen, ſon— dern er mußte fich von einem hochmüthigen Apoſtel der Servili— tät, der weder eines gefunden und yerftändigen Gedankens, noch eines erträglichen. Styls fähig war, vom elenden Zimmermann, im deutfchen Muſeum einen Kalendermacher, Knirps und berglei- chen ſchimpfen Iaffen. Der Zufammenhang der Lichtenberg’jchen Satyre mit dem Lärm, den am Ende des fiebenten Jahrzehnts des Jahrhunderts Phyfiognomifer, Magnetifeurs, Gaßner und Caglioſtro in Deutfchland machten, ift übrigens folgender: Lichtenberg hatte im September 1777 die. Herausgabe des durch Kupferchen und durch Fleine witige Aufſätze unter. feiner Redaktion hernach ſehr ausgezeichneten Göttinger Taſchenkalenders übernommen, welche vorher fein Vorgänger in der Profefjur der Phyſik, Errleben, gehabt Hatte, Er eröffnete die nene Reihe die- fer Tafchenkalender mit einer fehr feinen jatyrifch = philofophifchen, aber alle Bhrafen Lavaters und Zimmermanns völlig zermalmen- den Abhandlung gegen die Phyſiognomik als Wifjenjchaft betvach- tet, wie fie Lavater und Zimmermann den Deutfchen aufhängen wollten. Er erklärt ausdrüclich in der Vorrede zum bejondern Abdruck der Abhandlung, den er im Januar. 1778 herausgab, es ſei Feineswegs feine Abficht, ein bekanntes weitläuftiges Werk zu widerlegen, Wer diefes thun wolle, müße es wenigſtens nicht in Sedez bei einem Publifum unternehmen, bei welchen groß Duart fo viel fer als Demonftration. Sch wollte nur, ſetzt er Hinzu, einigen: gefährlichen Folgerungen begegnen, die ſchon hie und da yon Zünglingen und Matronen aus dieſem Werke gezo= gen zu werben anfangen Ich wollte, hindern, daß man nicht

Deutfhe Literatur: Lichtenberg. 209

zur Beförderung von Menfchenliebe phyfiognomtfirte, wie man ehemals zur Befürderung der Liebe Gottes jengte und brennte, In der fpätern Erwiederung Lichtenbergs auf Zimmermanng Grob- heiten, welche diefer den, wie Lichtenberg ſich ausdrückt, von ihm aus Berlin verfehriebenen Gedanken Moſes Mendelsſohns voraus- ſchickte, gibt ex wortreffliche Aufichlüffe über deutiches literariſches Leben, wie es damals war und auch jet wieder zu werden fcheint,

„Meine Leſer,“ fagt er dort, „müſſen fchlechterdings Feine Namen anfehenz die find nichts. Man muß nicht, wie ein fran= zöfifcher Abbe und ein englifcher Clerk darauf jehen, wer etwas fagt, fondern was er ſagt. In Deutfchland iſt ja ohnedem bei dem eingeriffenen Journals und ZeitungssZefegeift der Ruhm ei— nes fchönen Schrifttellers das fehnödefte Gut der Erde, Mit et- was Gorrefpondenz, Panegyrifchen Prachtbriefen und einem fehle lichen Wiederräuchern des Räucherers erwerben ſich taufende eine Ehrenwache vor Ihr Häuschen und den Namen eines ſchönen Gei— ſtes. Am Ende ift dans blos Keller-Eſels Glück. Auch die hei— ßen Taufendfüße und haben eigentlich nur vierzehn. Das macht, der Eine kann nicht zählen, der andere fieht nicht ein, warum ex zählen foll, und der Dritte mag des verhenkerten Füßelns wegen nicht zählen. Der Naturforfcher, der indeffen gezählt Hat, fist ſtill, andert wohl gar den Sprachgebrauch nicht einmal und denkt im Herzens Der Taufendfuß hat nur vierzehn Füße,”

Soviel Haben wir jet glüclicherweife gewonnen, daß mar in unfern Zeiten feinen Begriff mehr davon Hat, bis zu welchem Grade gutmüthige Deutfche, um nichts Schlimmeres zu fagen, im achtzehnten Jahrhundert ein Spiel der elenden Künfte folcher Leute, wie Zimmermann waren, Solche Leute drangten fih an Fried— rich und an Katharina, an alle Fürften und Großen, fprachen und fehrieben franzöſiſch, ließen ihre Silhouetten und Portraits son Lavater mit Bombaft überfchütten und waren als bie Zierde ihres Landes geachtet, Lichtenberg hatte daher ein unfterblich Ver— dienst, als er dem Publikum die Augen darüber üffnete, wie Ihandlich man feine Vorurtheile und feine Einfalt mißbrauche. Bis zu welchen Grade man die dem Deutfchen angeborne Be— wunderung des Vornehmen mißbrauchte, wird man unter ‚dem

Tert aus der Stelle eines Buches fehen, in welchem Marcard Schloſſer, Geſch. d. 18. Y% 19, Jahrh. IV. Thl. 4. Aufl. 14

210 | Deukfihe LReralur: Lichlenberg

feinen Protektor Zimmermann als Wunder der Welt preifet.22) Zimmerman erkannte wohl, daß er fich mit Lichtenberg auf einen Streit mit Gründen nicht einlaffen dürfte, hatte aber erfahren, daß Mofes Mendelfohn Einiges zu Gunften der Phyſiognomik, jedoch weder fiir Lavater noch gegen Lichtenberg gefagt habe, er ließ fich, mie es Richtenberg ausdrückt, dieſe Gründe aus Ber Yin fommen ind im Märzhefte des deutfchen Mufeums son 1778 abdruden. Den dort (März, S. 185-195) abgedrudten vier Seiten aus Mendelſohns Aufſatze fchieft der hochmüthige, hofdie— ende Berner zwei Seiten voll Grobheiten und Ungezogenheiten gegen Lichtenberg als Einleitung woraus, die fo fehlecht, ſo gemein und fehlerhaft abgefapt find, daß, mer fie jetzt Tiefet, nicht bes greift, wie ein Mann, der auch nur zwei Seiten fo fehreiben Fonnte, zu feiner Zeit fo berühmt geworden war, Die Blätter Zimmers manns beantwortete Lichtenberg tm Juli im einem ganz kurzen fatyriſchen Brief, der durch ſeinen meiſterhaften Wit in Beziehung auf deutſches Vornehinthim, anf das Prahlen mit erfchlichenem Ruhm, auf Titel, auf Orden, anf erſchmeichelte Gunſt des Or⸗ loffs und der Großen aller Art und auf Einfluß an Höfen eben ſo merfwirdig ift, als Leſſings Antigöze in Beziehung. auf Protes frantifches Pfaffenthum. Diefer Brief und die fliegenden Blätter Leſſings gegen Göze find das Heftigfte, was die Deuffche Sprache in dev Gattung der gegen einzelne Perſonen gerichteten Beredfant- Felt und bitterer Ironie (in der Rhetorik Invective genannt), die ſich gleichwohl des eigentlichen Schimpfens enthält, hervorgebracht hat. Es find zwei ganz verſchiedene Arten von Styhl und von ſchneidender Rede, welche Lichtenberg und Leſſing gebrauchen, beide vollendet in ihrer Art. Unſere Sprache erhielt alſo faſt zu glei— ni a. in —* verſchiedenem neh A —E ur

44) 8immermanns Verhättniffe mit der a Geffattna n. ab mii dem Herru Weilard. Nebſt einer Anzahl Originalbriefe der Kalſerin von H. M. Marearbd, Leibmedicus in Oldenburg und erſtem Arzt in Pyrmont. Bre⸗ men, bei Karl Seyffert. 1803: 396 S. 8. Kin ſervileres und auf eine ganz gemeine Anſicht menſchlicher Verhältniſſe ſchamloſer pochendes Buch wird man ſchwerlich leſen Können; allein man wird auch daraus ſehen, welche Autori- zat für jene Betten Gunft der Großen und leerer Ruhm war, Hauptzeuge für Simmermann iſt na bei Daher = Orlof.

Deuiſche Lileralur: Lichlenberg 21 proſaiſche Schriflen, Göthes Werther, Leſſings eilf Antigöze, und Lichtenbergs polemiſche Satyren gegen Lavaters Manier und ge gen Zimmermanns Perſon. Daß Lichtenberg ſo wenig als Lef= fing den Hang der Deutſchen ſich ſervil anzudrängen, oder ſich gaͤngeln und durch Namen täuſchen zu laſſen, ändern konnte, bes greift Jeder, der der Menſchen Natur kennt. Wir ſehen in Deutſchland, wie in. Parts und London, noch alle Tage, wie man immer fortfährt, nach tönenden Phraſen, nach Sournalen, Zeitungen, Orden, Titeln und Bekanniſchaften den Werth des Menſchen zu beſtimmen und mie man tobenden Zeloten blinden Glauben ſchenkt. Leſſings und Lichtenbergs Schriften hatten das Schickſal aller wahren Weisheit. Haben doch auch die Schriften der Propheten und Apoſtel das Menſchengeſchlecht nicht auf dem Wege des Heils erhalten können!

Lichtenberg ſpricht in dieſem Briefe von Moſes Mendels ſohns Abhandlimg mit dev größten Achtung umd zermalmt bloß Zimmermann wegen der groben einleitenden Worte, Er ſagt ſehr witzig, die Abhandlimg mit der Einleitung verbunden Habe auf ihn einen Eindruck gemacht, den er früher in ſelnem Leben mir einmal empfunden, als man ihm nämlich einen Pſalter in die Hand gegeben habe, bein die Geſchichte des Till Eulenſpiegel vor⸗ gebunden geweſen ſei. Er fügt dann Hinzu, daß ihn Mendels- fohns Auffak gar nicht angehe, da er ja nicht Die Phyſtognomit an fich, die jeder Menſch mehr oder weniger empiriſch treibe und treiben müſſe, Habe beſtreiten wollen, ſondern nur des unwwiſſen⸗ ſchaftlichen Lavaters vorgebliche Wiſſenſchaft, oder vielmehr feine prophetiſch feritimentalen Declamatibnen. Zimmermann hatte ſchon vorher Lavater fo lange angekrieben, bis er tim Aprilſtück des Muſeums ſeine Sache ebenfalls vertheidigte, boch nicht in Zim⸗ mermanns Manier, ſondern im der Seinigen, das heißt, nicht ſüß und nicht ſauer, fordern aus beiden abwechſelnd geniſcht. Auch dem gerade in demfelben Jahr (1778) gedruckten vierten Bande der Phyſtognomik filgte Lavater etwas gegen die Gegner der neuen Wiſſenſchaft bet.

Dieſe Apologie Lavaters beruht, was Lichtenberg angeht; ebenfalls auf einem willkürlichen oder unwilltürlichen Mißver⸗ ftändniffe, Achtenberg erinnert daher in ſeiner Antwort ganz paſ⸗

14*

212 Deutfche Literatur: Lichtenberg.

jend, dafs fich Lavater drei Viertheile feines Auffabes Habe erſpa— zen können, wenn er nur daran gedacht hätte, daß man, wenn man die Widerlegung eines Gegners gar zu leicht finde, immer ſich felbft fragen müſſe, ob man nicht etwa in dem Irrthum be- fangen fei, daß, wer Einiges von dem angreife, was man bekaup- tet habe, auch das Ganze beftreiten oder gar verwerfen wolle,

: Lichtenberg erreichte durch feine Satyren in diefer Sache um jo viel eher und fo viel befler einen erwinfchten Zweck, meil er fich, wie jeder verftändige Mann ebenfalls thun würde, weniger als einen Gegner Lavaters bewies, als der eiteln Manier, wo— durch fich der Züricher Prophet und der Hochmüthige und eitle hannöverſche Leibarzt damals in ganz Deutfchland wichtig mach- ten, Durch Abhandlungen und feinen Spott konnte man freilich auf das Publikum der Starkgläubigen, Sersilen, Sentimenta= Sen u. ſ. w. nicht einwirken, man mußte ihnen derb kommen. Nur völliger Sanscülottismus, nur frecher Unglauben, nicht ver— mittelnde Klugheit fonnen Bahn brechen, wenn einmal Sophiftif, Beamtengeift oder Aberglauben in einer Nation vollig die Ober- hand gewonnen haben. Lichtenberg gebrauchte daher auch das Mittel einer derberen Satyre, um Manier, Ton und Sprache der Lavateraner Fächerlich zu machen. Daraus muß man fich feine Silhouetten son Zöpfen, von Sau= und Hundsſchwänzen, und den dieſen beigefügten im traveftirten Lavaterſchen Bombaſt abge— faßten Commentar darüber erklären.

Wie wichtig dies für unfere zur Schwärmerei und Ueber— treibung geneigte Nation, die feinen Mittelpunkt hat, der ein Maß ober ein Biel in fich hätte, in jener geiftig bewegten Zeit war, jehen wir aus der fihnellen Verbreitung der neuen phyſiognomi— ſchen Schwärmerei, Diefe blieb nicht bloß auf die Kreife be- ſchränkt, wo man Im Stande war, auf das große, prächtige Werf in Quart zu jubferibiren, weil man darauf vechnete, auch für fich am Bombaft des Commentars einen Antheil-zu erhalten, ſondern fie verbreitete fich auch in den Fleinen Städten. Selbſt in den kleinen ſächſiſchen Herzogthümern, wo klaſſiſche Gelehrfamfeit und Intereſſe an der deutſchen allgemeinen Bildung vorzugsweiſe ge— funden werden, wo aber eben deßhalb auch viel Seichtes geleſen and geſchrieben wird, graſſirte dns Lavaterſche Fieber. In Wei—

Deutfche Literatur: Mufaus. 213

mar befonders, wo befanntlich ſelbſt neben Göthe und Schiffer erft Wieland, dann Mufaus und fein Schüler Kotzebue als Klaf- fifer galten, und ihre Arbeiten dem Geſchmack der Bildung und Grfahrung des Fleinen und Fleinlichen Publikums, das ſich groß wähnte, anpaßten, fehten es ebenfalls nöthig fich Dagegen zu er— heben, Die Art, wie dies gefchah, kann dem, der dem Gange der deutfchen Bildung durch die kleinen Reſidenzen und ihre Hofe und deren Geſchmack folgen will, Gelegenheit geben, den Wit derfelben mit der großartigen und wahrhaft Haffifchen Satyre Lich- tenbergs zu vergleichen. Der beliebtefte Schriftfteller der Herzog- thümer, Muſäus, richtete fih namlich ebenfalls gegen die Phyfiog- nomik und fuchte diefe Krankheit der Zeit feherzhaft, oder, mie man das nennt, Humoriftifch zu befchreiben. Mufaus fchrieb zu diefem Zwecke bie phyfisgnomifchen Reifen, Dies Buch war, wie die andern Bücher dieſes befonders von Kotzebue jehr werth ges haltenen Mannes, feiner Zeit ſehr gefucht und fehr gelefenz es hatte aber zu wenig innern Gehalt oder äußere Bedeutung, als daß wir e8 hier, wo nur son Wirkungen nach Außen die Rede ift, anders als im Vorbeigehen erwähnen dürften,

Trotz aller Satyre erlangten jedoch Lavater und Zimmermann durch ihre Bemühungen um die Phyſiognomik ziemlich ihren Zweck. Ste wurden in ganz Deutfchland und in andern Ländern fo bes rühmt, daß jeder vornehme Neifende, der durch Hannover kam, nur nach Zimmermann fragte, wie und Marcard berichtet, daß die Vornehmen, wie er mit den eignen franzöfifchen Worten eines ſolchen Vornehmen hinzu fügt, behaupteten, Zimmermann jet das einzige Merkwürdige in Hannover. Nach Zürich gingen gar ganze Pilgerzüge, wie nach Rom,

Seit diefer. Zeit ftanden fich in Deutfchland die Parteien viel fchroffer gegenüber, als vorher, weil alfe diejenigen, denen jede Neuerung, jedes Fortfehreiten im Styl und in der Sprache wie im Denken und im Handeln verhaßt mar, ſich unter Lavaters Glaubenspanier ſtellten. Cr ſelbſt ging mit den Jeſuiten Hand in Hand, da er fogar, wie wir aus Bronners Leben fehen, mit diefen über Bronner korreſpondirte, als er fich aus feinem Klofter nach Zürich geflüchtet hatte, ohne Proteſtant zu werden Die Sejnitenfeinde in en ſchloſſen ſich daher auch ſeitdem enger

214 Deutſche Literatur: Pfenninger.

tenhaupt glaubte an Gaßners Wunder, wie an die dee Evangeliums, empfahl Sailers Andachtsbücher, unterhielt mit Start Verbindung und förderte Jung-Stillings wunderliche Schwärmerei. Jeder, der in unſerer Zeit Lavaters Schriften, ohne Vorurtheil und ohne Schwärmer zu ſein, lieſet, zugleich aber fein Mirken und feine Gefchichte kennt, wird begreifen, daß er als angefehener, tüchtiger, Freiheit liebender Bürger, als Menſch, als Seelſorger, und innerhalb eines kleinen Kreiſes als Liederdichter ſehr geachtet ſein konnte, jedermann wird aber unbegreiflich finden, wie man ihm dreißig Jahre lang einen angeſehenen Platz unter Gelehrten und Schriftſtellern anweiſen durfte. Dies erklärt ſich nur daraus, Anhängern verehrt ward und unbebeutenden, si abgeſchmagten Leuten, die ſich ſeiner Sache annahmen, durch ſeinen Namen Be— deutung gab. Um anſchaulich zu machen, wie beſchränkte Men⸗ ſchen ſich durch und an Lavater emporheben, wollen wir nur an die Perſon und an die Schriften Pfenningers erinnern. Wir würden hier dieſes Mannes gewiß ſonſt nicht gedenken, wenn wir nicht an dieſem Kollegen des Züricher Pfarrers recht klar machen den Fanatisnus rich, auf welche Art man Loaie huldigte und welche Armfeligteiten m man feinen Freunden nachjah.

dann an Sit. Peter, und Kimpfte für das von Lavater verthei digte ſinnliche Chriſtenthum nach Art der Kapuziner. Er ſprach, wie dieſe, wenn fie vom heil, Antonius predigen, nur von Glau⸗ ben und Wundern, ohne auch nur durch ein Wort zu verrathen, daß er ſeine Art Chriſtenthum kritiſch, hiſtoriſch, oder auch nur logiſch geprüft oder bewieſen zu ſehen wünſche. Er war dabei für Zürich ein bedeutender Mann, wie Lavater, doch auch dort mehr für einen engeren Kreis von näheren Freunden, als für Ye tem. Nichts beito machten feine elenden Schriften in mn Zeit. des. Kampfs des Lichts und, der Finſterniß bedeutendes Auf- fehen und Pfenninger ward neben Lavaler umd um Lavaters willen feiner Zeit an allen Enden Deutfchlands genannt, Es war eine

Deuiſche Literatur: Pfenninger. 215

ſonderbare Art von Chriſtenthum, welches dieſe Züricher und ihr zahlxeicher Anhang in Deutſchland der damals trotz aller ihrer Bemühungen hereinbrechenden Aufklärung entgegenſetzten. Pfen— ninger und Lavater predigten nicht die hölzerne Katechismuslehre des verfegernden Hamburger Hauptpaſtors, fie legten auf manche Theile des Herrjchenden Syſtems Feine Bedeutung und Fonnten daher, wie man ihnen auch vorwarf, einem Sattler und Satler, die von ſtrengen Papiſten ebenfalls verfebert wurden, hie und da ſchwärmend die Hand reichen.

Sie predigten beide eine Weiffagungsgabe der menjchlichen Seele , eine fortdanernde Wunderfraft mitten. in unſerer nach, bes fannten ewigen und unwandelbaven Gefeben geordneten Sinnen- welt, eine Zortdauer einer außerordentlichen Wirfung des heiligen Geiſtes und viele ähnliche Dinge, die fie eben jo werth hielten und eben jo eifrig verfochten, als irgend eine Wahrheit des Evan— geliums. Die Berliner und Hallenſer Yehrten einen Falten Ge— genſatz gegen die heißen züricher Theorien, es war daher ewiger Streit zwifchen beiden, und der mit den Seinen demüthige und zu Haufe ungemein fanfte Pfenninger wüthete für feines Freun— des Lehre wie ein. Klopffechter. Der fonft liebenswürdige Mann ſchimpft, tobt, ſchmäht in feinen an Gründen durchaus armen Stveitichriften gegen die Berliner, gegen Leifing, gegen jeden, der dem Berftande nur das geringfte Recht in Religionsfachen ein- räumen und fich nicht blind dem Gefühle überlaffen wi, Um zu: zeigen, wie weit man das trieb, und um fich erffaren zu können, warum. nicht bloß. Lichtenberg Lavater verfpottete und Leffing ihn bemitfeidete, fondern fogar Göthe mit ihm brach, der fonft ders gleichen Steeitigfeiten, wie jede ihn nicht unmittelbar berührende Angelegenheit der Mitmenſchen, von oben her betrachtete und nie gegen Perfonen eiferte, wollen wir nur einige Beiſpiele anführen, wie Pfenninger Layaters Sache führte Er ſcheut fich nicht, in einer der. Streitfchriften gegen die Norddeutſchen feinen, d. h. La⸗ vaters Freunden, zuzurufen:

„Glaubt, wo ihr nicht ſehet, hofft wo the nicht glaubt, hofft ohne Grund, wo nicht mit Grund zu Hoffen if.” In dem heftigen Streit, worin Pfenninger als feines Kollegen Schild- fnappe ins Feld zog, als dieſer au eine für Proteftanten, höchſt

516 Deutfche Literatur: Pfenninger.

befremdende Weiſe Sailers Gebetbuch feinem vornehmen und zart fühlenden Anhange dringend empfohlen hatte (da es doch, fo vor— trefflich es auch fein mochte, Immer ein ftreng Fatholifches An— dachtsbuch blieb), geht er in der umverftändigen Theilnahme an Lavaters Eifer fo weit, daß er in den Lächerlichen Ausruf aus- bricht: „Sch wollte eine Million Jahre meiner Selig— fett daran feten, daß Feiner meiner Korrefpondenten den Ankauf des braven Buchs bereuen wird.” Man würde vielleicht unge— vecht fein, wenn man den Glauben und ganz bejonders das in allen praftifchen, Bortheile bringenden, Dingen fonft jo gefunde Urtheil der Schweizer, ihre Art Religiofität und vor allem ihren Geſchmack in Literatur und Sprache, darnach beurtheilen wollte, daß ihnen Lavater und Pfenninger gute Schriftfteller und tüchtige Religionslehrer ſchienen. Die Thatfache ift indeffen unläugbar, und fie wurden in eben dem Grade immer ftärfer bewundert und ſogar vergottert, je fader fie fchrieen und gegen den Berftand eifer- ten, fenfzten, in Ausrufungen ausbrachen oder je umgezogener Pfenninger ſchimpfte. Wie weit der Letzte feine Polemik gegen ben gefunden Menfchenverftand und gegen den unfterblichen Re— präfentanten defjelben, den großen Gründer unjerer Literatur, trieb, kann man aus Pfenningers Sammlungen zu einem . chriſtlichen Magazin lernen. Wir dürfen in einer allgemei- nen Geſchichte die Armfeligkfeiten des Züricher Pfarrers nicht aufs nehmen, wir wollen daher in den Noten nur ein Stück feiner ge— veimten Polemik beifügen. In den in den Noten mitgetheilten Knittelverjen glaubt nämlich Pfenninger, und feine Schweizer mit ihm, daß er über Leſſing und über den in der Erziehung des Menfchengefchlechts von dieſem geltend gemachten Gedanfen ge- fpottet habe, daß Gott in Rückſicht feiner Offenbarungen daffelbe Geſetz befolge, welches er in allen Erſcheinungen der Außenwelt befolgt Hat. Dies Geſetz ift, daß für endliche durch Raum und Zeit beſchränkte Wefen jede ewige Ordnung nur innerhalb diefer Schranken gelte, daß alfo jede Offenbarung nur für eine beſtimmte Zeit ertheilt werde,45)

45) Die ſchönen Verſe Pfenningers gegen ein Metfterwert, wie die Er- ziehungsgeſchichte des Menſchengeſchlechts tft, lauten folgendermaßen:

Deutfche Literatur: Jung⸗Stilling. 217

Einen mächtigen Gehülfen erhielten die Schweizer Theologen an einem Mann, deffen Originalttät nicht zu bezweifeln tft und deſſen Borftellung der göttlichen Weltregterung auch in unferer Zeit viele Anhänger hat: Ihm war jedoch die Art, wie Lavater Gott und feine Vorfehung handgreiflich machte, viel natürlicher Als dent Schweizer Theologen. Iung-Stiffing nämlich ward durch Göthe, Herder, Lavater, alfo von ganz verſchiedenen Geiftern zu einer Bedeutung unter unferer Nation gebracht, die mehr auf feinen fonderbaren Schieffalen und auf der in ihm perjonifizirten und fpäter im idylliſchen und fentimentafen Styl feiner Zeit vorge— tragenen Denfart und Lebensweiſe einer gewiſſen Klaffe unferes niedern Volks, als auf irgend einer ausgezeichneten Geiftegeigen- ſchaft beruhte. Die Menfchenklaffe, welche Jung-Stilling repräfen= Hirt, ift befonders in Weftphalen zu Haufe. Ste tft aus der Bibel, die fie gerade jo verfteht, wie das Wort Tautet, belehrt und ges bildet, fie hat Theil an jenem Geifte der Betrachtung, der in Weſtphalen feit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts fortlebt, . and Hat noch jebt im Wupperthale ihre Metropole, Diefe mußte nothwendig den Anfichten Lavaters ganz anschließend Huldigen, Solche Leute Haben son der Gottheit und von der Vorfehung eine fire, feit mehren Sahrhunderten überlieferte Idee, welche ſowohl der Publieift und geübte Weltmann Pütter, als der Schneider und von der Welt entfernte Jung-Stilling in Weft- phalen mit der Muttermilch eingefogen hatten. Sie, wie die Juden, von denen fie im A. T. Iafen, konnten nichts Befremden- des darin finden, daß der Gott der Chriſten eine Art menfchlichen Körper habe, daß er fortdauernd Forperlich und finnlich die Men-

wenn num voll Zuverficht Ein Schöngeift, als aus höherm Licht, In numerirten Säben fpridt: „Dies war der Nuten, den es Hatt’ „Wenn Schwäcre etwas heller ſehen, „(Und dies kann wahrlich bald gefchehen), „Mag Gotteswerf dann untergehen. „Mags jeder, wie fein Decliniren „Der Studioſus, fortfpediren.”

So ſpricht er troß dem höhern Licht Wahrhafttg, wie ein Säugling fpriät,

213 Deuiſche Literatur: Jung⸗Stilling

ſchen regiere, und gewiſſermaßen am Strick leite. Dieſe Anſicht iſt poetiſcher als die der Gebildeten von ewigen unwandelbaren Geſetzen, von einer nur im Geiſte gegenwärtigen, nur geiſtig wirkenden Gottheit; freilich führt dieſe Anficht doch am Ende den Dentenden zu demjelben Reſultat wie die philofophifche. Ein Mann, wie Jung-Stilfing, der bei jedem Sehritt und bei jeder Handlung nach diefer Anficht verfuhr und wirklich, nicht affeftixt, jede Geldhülfe, die ihm zu vechter Zeit kam, als ganz unmittel- ‚bar son Gott kommend anfah, war Dichtern wie Herder und Göthe eine merkwürdige Cricheinung. Diefe Art, wie er dag Leben auffaßte, wie er feine Schickſale erzählte, wie er die Wege der Borfehung verftand, ſchien ihnen eine Idylle und eine Natur- poeſie eigner Art, weil fie nicht gemacht ward, alfo nicht durch das Kunftgebilde der Form den Hörer gewann, ſondern wie ein - Gewächs aus einem ganz eigenthlmlichen Boden entiproß, 26) Dies. bewog die Dichter, die Jung-Stilling perfünlich kennen Vernten, ihn zu vermögen, fein Leben zu fehreiben, oder vielmehr das Beginnen zu unterftügen, feine Anficht des Lebens dem Pub— likum mitzutheilen, fo wenig er auch dev Sprache dev gebildeten Melt damals noch, mächtig war. Sein Styl paßte zu der Art Lebens wird immer das Befte unter einen vielen Büchern bleiben. Dier Theile eines folchen Lebens waren freilich zu viel; Die bei— den erſten 1778 und 1779. unter dem Titel: Jung-Stillings Leben und Wanderfchaft, erichlenenen Bände enthalten jedoch unftreitig eine anziehende, aus Wahrheit und Dichtung gemifchte, Fromm empfindfame Idylle ganz eigner Art, Ein Lefer, der der gedrechfelten Perioden und der erfünftelten Empfindungen

46) Welche eifrige Anhänger der gute Jung: Shiling unter Seines⸗ gleichen noch jest in Weſtphalen haben muß, Hat der. Verfaffer noch in die- fem Jahre, alfo fehr Lange nad) der Erſcheinung der. dritten Auflage des Buchs erfahren. Ein Anhänger Stilfings bat im Sayn und Altenſteinſchen Wochenblatt, wo ſonſt nur Anzeigen mercantiler Art enthalten ſind, ſeiner Wuth über das achtzehnte Jahrhundert und deſſen Verfaſſer Luft gemacht und ihm das Stück Löſchblatt, worauf dies gedruckt war, auf der Poſt zugeſchickt. Hätte er gewußt, wie oft der Verfaſſer dergleichen erhalten hat und wie ſehr ihn der⸗ gleichen Kleinſtädterei qmüſirt, er hätte ſich gewiß die Mühe nicht gegeben.

Deulſche Literatur: Jung⸗Stilling. 219

und Verwicklungen der zahlreichen Nomane, der Tächerfichen Sprünge der damaligen Kraftgenies und der nachherigen Romantiker, ſowie der oft an das Taumeln der Betrunkenen erinnernden Verzer— rungen der ſogenannten Humoriſten müde und überdrüſſig iſt, ſieht ſich durch Jung wenigſtens in die Natur verſetzt, wenn dieſe auch oft an unreinlichen und ſumpfigen Stellen nicht gerade lieb— lich ift. Man wandert trotz des elenden Style, der durchaus unedlen Sprache und. der oft gemeinen Anficht des edelſten Theils vom menfchlichen Wefen und Streben nicht ungern an der Hand des originellen Mannes durch verfehiedene Stände, Orte, Ver— haltnifje, mit denen man ſonſt, wenn man in Städten erwachſen und auf die gewöhnliche Weiſe gebildet iſt, ganz unbekannt bleibt, Der Ton biederer Herzlichkeit, das Troftende, welches der Ver— fafler in allen den fonderbaren Lagen. feines Lebens findet, die Art, wie ev Gott gebraucht, wenn er vom wandernden Schnei— dergeſellen zum Freund des vortrefflichen Carl Friedrich von Ba— den nach und nach durch die Fügung der Umſtände, oder, was einerlei iſt, durch die Vorſehung hinaufgeführt wird, ſöhnen uns mit der unſchuldigen Einbildung, die er von ſich felbft hat, aus, Mir bewundern die Eitelfeit dev Gotteskinder und die fromme in ihren Büchern herrſchende Klugheit, welche ſehr geſchickt Gott und alle Menſchen als bloßes Werkzeug zum Dienſte einer ganz klei— nen Perſon zu gebrauchen verſteht.

Unſtreitig iſt übrigens, daß Stillings Leben und Wander⸗ jahre, beſonders jedoch nur die zwei erſten Theile, in jener be— wegten Zeit Epoche machten und gewiſſermaßen einen ganz eignen Kreis von Leſern anzogen. Die Anſichten des Verfaſſers waren nämlich noch die des Volks ganzer Gegenden und Provinzen von Deutſchland. Die Stifter der neuen Literatur waren dieſen zu hoch, oder dieſe Literatur ſelbſt ihnen zu weltlich, die Vor⸗ ſtellung eines Gottes, der jeden einzelnen Menſchen am Seil führt, war ſehr bequem; Jung⸗Stilling erhielt daher in Deutſchland, wie Pfenninger in der Schweiz, bald weit mehr Gewicht, als beider Kenntniſſe, ihre Fähigkeiten und die Form, die ſie ihren Schriften geben konnten, verdienten. Darauf gründete denn freilich Jung⸗Stilling, der nach der. Bekanntmachung feiner Jugendge— ſchichte zünftiger Gelehrter oder Univerſitätsprofeſſor geworden war,

220 Deutſche Literatur: Geſchichte.

eine Buchmacherei, mit der wir hier nichts zu thun haben. Alle ſeine, ſeitdem als Fabrikate gefertigten myſtiſchen Romane gehören nicht der allgemeinen Literatur, ſondern einer ganz beſondern Gattung an, welche für die Leute beſonders beſtimmt iſt, denen das gewöhnliche Tageslicht an den Augen wehe thut, die ſich deshalb gern in ein Helldunkel oder gar ganz ins Dunkle ſtellen. Wir ſchweigen daher vom Florentin von Fahlendorn, vom Leben Theodors von der Linden, son Theobald oder die Schwärmer. Nur über das letztere Buch müffen wir für den, der. die Myſtik jener Zeit und ganz befonderd die Roſenkreuzerei, welche den König Friedrich Milhelm IL. in ihren Neben hielt, kennen und verfolgen will, bemerken, daß er dort ſehr brauchbare Notizen findet, Man lernt nämlich aus diefem Roman eine bedeutende Anzahl der Geheimnißkrämer und Myſtiker Fennen, welche in jenen Zeiten in den Nheinlanden ihr Weſen trieben, und Yernt son dem Yeichtgläubigen Jung-Stilling, wie man ganz ernfthaft - und. al8 wenn man Dofumente vor fich Hätte, die Gefchichte diefer Myſtik, die leider nur zu viel son Gaunerei in ſich und an fich hatte, von Mofes, Zoroafter und der Agyptifchen Priefterfchaft, vermöge der Tempelherrn des Mittelalters zu Chriftian yon Rofenfreuz herabführte,

$. 6. Geſchichte.

Die deutſchen Univerſitäten, wenn man etwa Leipzig wäh— rend einer kurzen Zeit ausnimmt, waren ihrem Charakter als gelehrte Anſtalten aus den Zeiten des ſpätern Mittelalters treu geblieben und ihre Lehrer hatten mit ziemlicher Verachtung auf die Revolution der Literatur, die unter ihren Augen vorging, herabgeblickt und ihr gelehrtes Gewerbe für Geld fortgetrieben, wie vorher. Selbſt als hernach die Univerſitätspolitik vorſchrieb, einzulenken, und als man ſich das Anſehn gab, in Göttingen und in Jena neben den Brodfächern auch Volksliteratur begünſtigen zu wollen, beklagten ſich die Glieder des Hainbundes in Göttingen und ſpäter Schiller in ſeiner Correſpondenz bitterlich, daß auf deutſchen Univerſitäten für wahre Humanitätsbildung keine Stätte

De utſche Literalur: Geſchichte. 221

bereitet fei, Vortheilhaft war es übrigens für die Bildung unfe- ver Nation, fo weit diefe won den eigentlich nur für die ſoge— nannten Brodwiſſenſchaften beftimmten Staatsanftalten ausging, daß die hannöverſche und die mweimarfche Regierung auf ihren Univerfitäten ein ganz verſchiedenes oder gar entgegengejeßtes Syſtem befolgten. Dies hatte die Folge, daß im neunten Jahr— zehnt des Jahrhunderts Göttingen Sitz der reellen und materiel— len, Jena der idealen und äſthetiſchen Wiſſenſchaft wurde.

Göttingen war ſeit ſeiner Errichtung ganz beſonders für die— jenigen Fächer eingerichtet, die man in Hannover und London nützlich und reell, oder wie man jetzt vornehm ſagt, materiell brauchbar fand, Wer Haller als Ausnahme anführen wollte, würde vergeflen, daß er nicht als Belletrift, jondern als Anatom und Phyfiolog nach Göttingen Fam, und wäre dies auch nicht, jo gehörte er ja der Gottichedfchen und Bodmerjchen Periode an und reichte wenig über fie hinaus, Was man aus Göttingen machen wollte, jehen wir aus einem Originaldoeument in Bü— ſchings Selbitbiographie, wo die fammtlichen Männer, die der sergutterte Herr von Münchhaufen dort verfammelt Hatte, aufge zählt werden, Zu der Maffe ganz nach alter Weiſe grundge- Iehrter, den Hofmanieren der alten Zeit mit Reſpect Huldigenden und die adelige Jugend zu denfelben in fteifen Geſellſchaften dreſſirenden conſervativen Gelehrten, gehörte nothwendig eine un— geheure Menge von Büchern ; auch dafür wurde geforgt. Münch— haufens Orakel waren Michaelis und Pütter, bis ſpäter Heyne den Erſteren verdrängte. Die Namen dieſer beiden, als eigent- liche Gelehrte, der Lebte auch als Juriſt, höchſt achtbaren und ausgezeichneten Männer, bezeichnen ſchon allein Hinveichend die Art von Bildung und von Literatur, die fie fürdern konnten; auch haben fie es und überdem in ihren Lebensheichreibungen ausdrücklich gejagt.

Pütter blieb auch nach Münchhauſens Tode Orakel der han- növerſchen Regierung und Georgs III., der ſich perfünlich um Göttingen befümmerte und an Pütter "einen Mann fand, der eben ſo jtarfglaubig und bibelfeſt war, als ex ſelbſt. Michaelis mußte Heyne nachitehen, der freieve Anfichten Hatte, und mit großer Vorſicht einiges neue Licht in die Büchergelehrſamkeit

222 Deuifche Biksrahltt Gedichte.

deutſcher Hörſäle zu bringen fuchte. Zur Beförderung hiſtoriſcher und ſtaatswiſſenſchaftlicher Studien, wovon hier die Rede iſt, konnten ſich Heyne und Pütter leicht vereinigen, denn Pütter ſelbſt galt ja in unſerm Vaterlande, wo man nur documentariſche, juriſtiſche Geſchichte, welche blos das Aeußere anging, kannte, für einen tüchtigen Hiſtoriker. Das war er allerdings, ſo tet an zur Geſchichte einer Serle und einer lebendigen Auffaſſung des Lebens und dev Menfchen nicht Bedarf, Gr kannte die Ges jeße, die Verfaſſung, die unſelige Juſtiz unſeres Daterlandes beffer als irgend ein anderer. Pütter: wußte jede noch fo Fleine Thatſache dev ſogenannten Reichsgeſchichte und kannte alle ihre Quellen, vom dickſten Folianten bis zu der für irgend einen Reichsritler auf einem Reichsdorfe über einen Punkt der Gerichts: barkeit oder über Beuutzung eines Waldes oder einer Weide ges ſchriebenen Deditetion. Gr war mit dem Labyrinthe der deutſchen Rechts⸗ und Gerichtsverwaltung fo vertraut, daß man ſogar von Wien aus, wo er doch für einen Gegner taiſericher Juſtiz galt, ſich som ihm den Faden der Arladne erbat und ihm eine Reſchs— hofrathſtelle anbot. Win die Art Geſchichte, die Pitter perftand, lehrte und trieb, buhlte jedermann und ehrte den, der fie trieb, eine andere Yorke bet der beſtehenden Ginvichting des Reiche und der einzelnen Negterintgen, beim Mängel jeder Art von Oeffentlichkelt unmöglich aufkommen. «

Pütter ward von allen deutſchen Fuͤrſten, Reichsgrafen und Baronen, von Staaten und Städten mehr geehrt und geſucht, als irgend einer der größten Geiſter, (Göthe, der Miniſter, war allein ausgenommen) je geſucht worden tft, und die beiden nicht ganz dünnen Bande ſeiner Autobtogtaphte find beſonders beftimmt, dies documentariſch nachzuweiſen. Putters Reichsgeſchichte war daher auch das Ideal des einzigen Publikums fir Geſchichte, welches es damals in Deutſchland gen Dies war der Theil des Adels, der nicht blos NIC Bier Ins, und die Juriſten. Um PBütters hiſtoriſch- juriſtiſche eisheit, die gegen jede an— dere durch det Küraß der Gelehrfamkeit feſt machte, einzuſam⸗ meln, vereinigte fich in ſeinem Hörſaale tn jedem Halbjahre vegelmäfsig Deutſchlands adelige und juriſtiſche Ariſtokratie. Man leſe nur in feiner Selbſtblographie das genaue Namensberʒeichniß,

Deuiſche Literatur: Geſchichte. 23

in welchen alle die, welche auf englifchen Univerfitäten befondere Kleidung tragen, nach, Stand und Würden gebührend ausgezeich— net find, wie fie auch für die Gebühr damals in den Göttinger Auditorien einen befondern Platz Hatten. Da waren, wie Pütter jubelnd über die von ihm verbreitete Nationalintelligenz uns mel det, Fürften und Neichsgrafen und ihre adeligen Begleiter und ihre hochanfehnlichen Hofmeifter, da waren Barone, Neichäritter, Patrizier unſerer und Schweizer Städte; die Andern werden nur gezählt und nicht genannt (numerus et sine nomine vulgüs). Alfo Alle, die an Geſchichte Theil nahmen und nicht zu denen gehörten, son denen Pütter mit Homer urtheilte, daß fie ſeien:

Nie im Kampfe Gerechnete oder im Rathe,

wollten entweder ihr eignes Glück, oder das Glück derer, in deren Dienfte fie vornehm und reich wurden, auf Feudalrechte des Mit: telalters gründen, oder aus dem ſogenannten deutſchen Rechte und der Geſchichte machen, was fih zu ihrem Vortheil daraus machen Vieß. Dar die hiſtoriſchen Wiffenfchaften in Göttingen ganz feu— daliſtiſch getrieben wirrden und man dort nach unſerer eigenen Erfahrung an Werktagen unter Büchern und Dedichionen und Nobleffe, am Sonntage in feldenen Strümpfen auf Viſiten war, fo flüchteten fich Alle, die etwas freier zu athmen füchten, zur Philoſophie, die in Göttingen nicht gefunden ward, oder vom po= fitisen Necht zum Vernunftrecht. Dies zog dann Die Plebejer und jeden, der freier athmen wollte, erſt zu Darjes nach Frank furt a. d. Oder, dann nach Serra, als dort felt 1787 eine Art philoſophiſcher Offenbarung Hinter einander von Reinhold, Fichte und Schelling mit ſolcher Zuverſicht verlündigt ward, daß wir Alle in der That glaubten, alle Räthſel menſchlicher und göͤttli⸗ cher Dinge würden in Jena gelöſet.

Neben Pütter ſtand fein Landsmann. und Sinnesverwandter Achenwall, ebenfalls Profeſſor der Rechte, welcher Geſchichte umd Staatswiſſenſchaften vereinigte und im der erſteren nicht ſowohl eine bildende und philoſophiſche Wiſſenſchaft, als vielmehr eine nützliche und: brauchbare erkannte. Er lehrte für dieſelben Leite, die ſich um Pütter ſammelten, die Kenntniß des Beſtehenden und Geltenden, feine Erfindung der Statiſtik ſollte den Kreis der re— ellen Kenntniſſe, nicht den Der Ideen erweitern, dem Gedächtnifſe

224 Deukfche Literatur: Geſchichte.

eingepragt. werden, nicht lehren, wie man im Leben über das Les ben urtheilen jolle. Seine Weisheit ward, wie die der andern Göttinger Profefforen, hauptſächlich Gompendien vertraut, Bü— hing war nur eine vorrübergehende Erſcheinung in Göttingen, auch ſchrieb er feine Erdbefchreibung und ferne übrigen Hiftorifchen und gesgraphiichen Schriften zwar mit dem lobenswerthen Zleiße und der Genauigkeit der sorigen Zeit, aber auch ganz im Style und Geſchmack derfelben, jo daß hier von ihm die Rede nicht fein kann. Gatterers Verdienſte um die Fortfchritte der deutfchen all- gemeinen Bildung befchränfen ſich auf feine geographiſchen Be— mühungen, alle feine anderen Schriften, deren gelehrtes Verdienſt zu würdigen hier nicht der Ort ift, gehören der erfte Hälfte des Sahrhunderts an und ihrer Art, Geſchichte zu betrachten und zu behandeln. Geographie behandelte Gatterer mit Sinn und Ge— ſchmack und erleichterte nicht blos das Studium derfelben, jondern paßte es dem Bedinfniffe des Lebens und fogar den von den Ur— hebern der neuern Erziehung gepredigten Grundſätzen vortrefflich an. Sein PBerdienft von biefer Seite, auch in Rückſicht der son ihm feinen Zuhörern mitgetheilten Karten, die nicht eigent- Yich in den Buchhandel gefommen find, tft nie —— aner⸗ kannt worden.

Schlözer war Michaelis und Achenwalls Schüler, von fe nem Geſchmack und feiner elaffiichen Bildung läßt ſich daher we— nig fagenz doch machte er in Deutfchland Ausnahme und Auf- fehen, weil er Statiftif, Staatsrecht und Staatswiffenichaft, wenn auch oft wunderlich und burſchikos, doch nicht nad dem Schlen— drian trieb, denn er war der ruffiichen Autokratie geneigter, als der Deutichland beherrichenden Ariftofratiee Auch die Manier, wie er im Gegenfab gegen Herder, den er ſchrecklich mitnahm, Aniverfalgefchichte trieb, war in ihrer Art genial, wobei er frei= lich in feinem profaifchen Trob eben fo weit ging, als Herder im poetiſchen. Sein Hauptverdienſt um die Fortichritte Deutſchlands zu einem freieren, von Servilität entfernten Leben erwarb er fich, sie wir unten anführen werden, durch fein Journal, welches ein Schrecken aller Heinen Despoten, Obfeuranten und decretivenden Deamten ward, ME Forfcher war er allerdings groß und nütz— lichz aber son den Urgeſchichten des Nordens, denen ex einen

Deutſche Literatur: Geſchichte. 2

Quartband widmete, von ſeinen Arbeiten in Schweden und Ruß— land, von ruſſiſchen, ſchwediſchen, lithauiſchen, türkiſchen Geſchich— ten, die er gelehrt behandelte, kann hier nicht die Rede ſein, wo nur von bildender Literatur und von Wirkungen aufs Volk, nicht auf die Gelehrten, gehandelt wird. Alle dieſe Geſchichten, wo— durch ſich Schlözer eines Platzes in den ſogenannten kaiſerlichen oder königlichen Akademien, vielleicht auch eines Ordenbandes wür— dig machte, waren im Styl und im Geſchmack der Maſcov und Gebauer geſchrieben, die ihm zunächſt vorangingen, und deren an— dere Verdienſte ſo groß ſind, daß ſie des Lobes der Philoſophie und des Geſchmacks leicht entbehren können.

Schlözer war ſchon 1764 Göttingiſcher Titularprofeſſor ge— worden; er hatte ſich aber hernach in Petersburg aufgehalten und ward erſt 1769 Lehrer an der Göttinger Univerſität. Da er Achenwall nicht beeinträchtigen wollte, und ſeine Vorträge über Geſchichte von Nord- und yon Südeuropa nur eigentlichen Ge— lehrten anziehend fein Fonnten, jo fuchte er eine ganz neue Uni— verſitätswiſſenſchaft, die Univerfalgefchichte, zu ſchaffen. Es Fam alſo Schlözer früher auf den Gedanken einer derben Philoſo— phie der Gefchichte der Menſchheit, als Herder den einer luf— tigen ausführte. Er hielt namlich Vorträge über das, was. er, nach feiner Art das Univerfum zu betrachten, Univerſalhi— ſtorie nannte, fehrieb auch ein Büchlein darüber, in welchem geiftreiche Einfälle und finnreiche Andeutungen mit den craffeften und derbften Machtiprüchen abmwechfeln. Die Schlözer'ſchen Vor— leſungen und das Büchlein, welches ev 1772 und 1775 unter dem Titel: Vorftellung der Univerfalhtftorie, und in ber dritten Ausgabe (1. Theil 1785. 2. Theil 1789) unter dem Ti— tel: Weltgefhichte nach ihren Haupttheilen im Aus— zuge und Zufammenhange, herausgab, fielen in die Zeit, als Herder durch feine Ideen viel Auffehen machte. Beide Män— ner und ihre Gefchichten konnten vecht gut neben einander der Nation nützen; ein Streit zwifchen ihnen fehten unmöglich, weil der eine die Gefchichte von den Wolfen herab, der andere. von der Höhe des jet zwar grünen, damals aber noch kahlen Haim— bergs aus betrachtete. Ste geriethen gleichwohl in furchtbaren

Zwiſt, weil beide durchaus Leinen Widerfpruch vertragen konnten. Schloſſer, Geſch. dr 18. 1 19, Jahrh. IV, Th. 4 Aufl, 45

226 Deuiſche Literatur: Geſchichte.

Beide Männer waren offenbar zu lebhaft, zu ſehr von ſich und son dem ihnen won ihren Anhängern geipendeten übermäßt- gen Rauchwerf eingenommen, um mit Ruhe und völliger Unpar- teilichfeit die ganz verſchiedenen Syfteme und Anfichten der Na- turforfcher und Hiftorifer über die Erde und ihre Bewohner, oder den relativen Werth der verſchiedenen Religionen, Nationalitäten, Literaturen, zu würdigen und ein Gemälde aller Zeiten und Völ— fer zu entwerfen, welches auch Diejenigen befriedigen. fonne, Die auf eine andere Weiſe als die beiden Univerſalhiſtoriker gebildet wären. Herder hatte weder Naturftudien gemacht, noch Aſtrono— nomie, Gengnofie und ihre Hülfswifjenfchaften lange und gründ- lich ſtudirt; geveifte, folide und verdaute hiſtoriſche Gelehrjamfeit beſaß er ebenfalls nicht; er ſchrieb daher feine Weltgefchichte, wie er ein epifches Gedicht würde gefchrieben haben, Im Sturme feiner Bewegung achtet ex weder auf das logiſche Geſetz der Ver- bindung der einzelnen Behauptungen, noch iſt er ſtark an Ge— dächtniß oder an Kritik; Schlözer dagegen ift als Univerſalhiſto— riker fo Teidenfchaftlich und heftig, als er ſtets im Leben war, Er ift ganz im Aeußern verloren, nur die Ericheinung, nur ſinnliche Größe, Feine intellectuelle oder contemplative Eigenſchaften erkennt er an. Phantaſie, Gefühl, wahre Seelengröße und Alles was damit zuſammenhängt, läßt er kaum als weſentliche Eigenſchaften des Menſchen gelten. Man iſt verſucht, zu lachen, wenn er, wie wir ihn (17954796) zuweilen auch auf dem Katheder thun hörten, mit drolliger Heftigkeit die Rechte und Vortheile des äu— Bern Lebens, oder wie es jetzt heißt, die materiellen Intereſſen, die keiner Vertheidiger bedürfen, oder wenigſtens keinen Profeſſor begeiſtern ſollten, weil es ihnen ja ſelbſt unter den Wilden nicht an Vertheidigern mangelt, gegen Beeinträchtigung von Seiten der Poeſie und Philoſophie vertheidigte. Die Welt des Griechenthums ſteht ihm daher gegen die neuere weit zurück, die geiſtige Größe der Griechen mit allen poetiſchen Eigenſchaften ihrer Helden ver— ſchwindet aus ſeinen Augen vor der unzählbaren Menge der Mon— golen und Tartaren, und Miltiades wird ihm zum Dorfſchulzen, verglichen mit den rohen Hordenführern und mit einem Attila und Tamerlan, die an der Spike von Hunderttauſenden Fechten. Die in den Heinen Staaten der Griechen zufammengebrängte, co—

Deutſche Literatur: Geſchichte. 227

loſſale, moraliſche Größe menſchlicher Freiheitsäußerung bemerkt Schlözer nicht, weil ſein Auge nur beim Anſchauen der phyſiſchen Ausdehnung der großen aſiatiſchen Despotien zu verweilen ge— wohnt iſt. Es laäßt ſich jedoch nicht läugnen, daß Schlözer, wenn er auch in ſeiner dreiſten Manier zu weit ging, doch eigentlich den Weg bahnte, der allein zu derjenigen Art Geſchichte führen konnte, deren unſere Zeit bedarf. Er wendete namlich die Grund— ſätze eines Voltaire und Bolingbrofe auf unfere gelehrte Gejchichte an; aber er verband mit ihrer Kritif das, was beiden mangelte, gelehrte Forſchung, gründliche Keuntniß des Einzelnen und aller Hülfswiffenfchaften der Geſchichte. Er entzog zuerſt die alte Ge— jchichte der tyranniſchen Herrſchaft der Theologen, weil er, zum gründlichen Sprachkenner und Gregeten yon Michaelis gebildet, die jüdische Gefchtehte wie andere Gefchichten behandeln lehrte. Schlöger war freilich nicht ganz unbefangen, das bewies er durch feine Polemik während der holländischen Unruhen und durch feine Streitfchrift für Ludwig Ernſt von Braunfchweig, wie durch feine Heftigkeit zu Gunften König George III. und der englischen Ariſtokratie gegen die Nordamerifanerz allein fein Rechtsgefühl machte ihn doch ſonſt überall zum Verthetdiger der natürlichen Rechte und des gefunden Verſtandes gegen Feudalrecht, weraltetes Urkundenrecht und hergebrachte trrige aber doch allgemein herr— ſchende Meinungen. Schlözers fogenanntes Zeltungscollegtum und feine Vorlefungen über Polttif, welche. freilich ſpäter eine etwas Stark conſervative Nichtung nahmen, waren, befonders weil fie in Göttingen, wie es damald war, gehalten wurden, einzig in Ihrer Art, da Schläger jede Rechtsverlegung und jede Tyrannei erfuhr und mit der ihm eignen Heftigkeit verfolgte. Was die Zeitungen nicht ſchreiben, was ſelbſt fein Journal nicht aufnehmen durfte, verfimdigte ev einem zahlreichen Kreiſe son Zuhörern, ber freilich fett der Zeit der Revolution verſchwand. Wir erfennen beſonders in der Art Wirkſamkeit, welche Schlözer neben einem Pütter, Meiners und Ihresgleichen in Göttingen hatte, den Geift feiner Zeitz das vereinigte Streben aller Klaffen und Stände und Kon— feffionen, Freiheit des Getftes und der bürgerlichen Bewegung zu erringen, die Bande des Mittelalters, der Feudalität und des fie benzehnten Jahrhunderts zu zerbrechen. Dies iſt um fo merkwür— 15*

228 Deuiſche Literatur: Geſchichte.

diger bei Schlözer, als er gerade in den erſten fünfzehn Jahren ſeines Lehramts unglaublichen Zulauf hatte und mit der ihm eignen Freimüthigkeit, Derbheit und Heftigkeit vor Leuten redete, die in unſern Zeiten mit Abſcheu vor ihm zurückbeben würden, wenn er, was ſchwerlich der Fall ſein möchte, überhaupt in dem Ton öffentlich reden dürfte,

Spittler, der: beſonders in den Jahren 1780—1795 in Göt⸗ tingen glänzte und deſſen ohne alle Deklamation oder Sophiſtik ungemein leichten und glänzenden mündlichen Vortrag der Ver— faſſer dieſer Geſchichte um jo mehr bewundert hat, je mehr Spitt⸗ ler in ſeiner Manier einzig daſtand, begann ſeine Laufbahn als gelehrter Forſcher und endigte ſie als Miniſter des ärgſten Des— poten Deutſchlands; nur die Mitte ſeiner Laufbahn gehört daher hierher. Forſchungen über Kirchengeſchichte und canoniſches Recht empfahlen Spittler zuerſt als Gelehrten, als furchtbaren Feind aller der Betrügereien, Lügen und Fälſchungen, wodurch herrſch— ſüchtige Pfaffen im: Mittelalter die Menſchheit unter ihre Gewalt gebracht hatten, und’ zugleich als Kirchenhiftorifer; er wandte fich aber bald zur politifchen Gefchichte. Seine erſte gelehrte Diſſer— katton bewies. den’ Gelehrten, für welche ſie allein) beftimmt war, die völlige Nichtigkeit des päpftlichen Kirchenvechts und des byzan— tiniſchen Kirchenglaubensz ſchon fein Handbuch der Kirchenges ſchichte war aber: wie feine fpätern Werfe fiir den gebildeten Theil des Publikums beftimmt, welches damals im Geistlichen und Welt- Kichen jeine alten gejetlichen Rechte wieder, zu erfämpfen ftrebte, Das Handbuch der Kirchengefchichte verfündigte nämlich ganz kurz und populär dns Refultat- feiner Forſchungen über das, was Schlözer Hildebrandismus des Mittelalters: zu nennen pflegte, Mit andern Worten, Spittler bekämpft nicht etwa den Papis— mus allein, ſondern den Pfaffengeift überhaupt, alfo auch den Fanatismus der proteftantifchen Geiſtlichen, welche ihre Gemein- den nöthigen wollen, an ſymboliſche Bücher’ ftatt an bibliſche zu glauben, Die ſämmtlichen Künfte und. Erdichtungen der Hierar- chen aller Art zeigte Spittler dem großen Publikum faplich und geſchmackvoll in.ihrer ganzen: Blöße.

In der politiſchen Gefchichte begann Spittler mit feiner Zeit and. ihren. Bedürfniſſen fortichreitend gerade dort, mo Schlözer

Deutfche Literatur: Geſchichte. 229

aufgehört hatte, Schlöger wollte im Allgemeinen von einem un— bedingten Freiheitsbedürfniß der menfchlichen Natur nichts miffen, jondern wollte nur phyfiiche Behaglichkeit und materiellen Wohl- ftand gefördert wiſſen. Er konnte daher nach feiner Art, die Dinge zu betrachten, wobei es ganz allein auf gute Verwaltung, auf Ordnung, Polizei und Juſtiz ankam, gleichviel wer fie ein richtete und aufrecht hielt, mit gutem Gewiſſen Peter den Gro- ben, Ludwig Ernft yon Braunſchweig und Lord North's Mint- ftertum preifen, und Franklin, die holländischen Patrioten und La= fayette furchtbar ſchelten; das Fonnte Spittler nicht, Schläger ſchenkte den vielen Millionen Chinefen, den zahlreichen Horden dev Mongolen, Türken und Tataren, der rohen Gewalt der Ruſ— jen, Littfauer, Cumanen mehr freundliche Sorge und Aufmerf- jamfeit, als den unruhigen, aller Polizei fich entziehenden Grie— chen und den nach feiner Meinung ſchändlich vebellivenden Nord- amerifanern, die er beide verachtete oder gar haßte. Spittler führte dagegen durch feine ganze Gefchichte auf das Bedürfniß freier und Eonftitutioneller Verfaſſungen. Seine Partienlarge- ſchichten deutfcher Fürſtenthümer zeigten dabei Spittler son feiner doppelten Seite, als Mann des Volks, der im Sinne Joſephs und Friedrichs und vieler andern edlen Fürften feiner Zeit deut Dolfe Bedeutung im Staate geben wollte; auf der andern als feinen Diplomaten und Hofmann, als welchen ihn fchon in Göt— fingen die Außern Formen feiner Erſcheinung bezeichneten, d. h. er zeigte fich als einen Mann, der ſchon das Minifterwerden Im Auge hatte Um der Gefihichte dabei nichts zu vergeben, führte er fie überall nur bis zu dem Punkte, wo er hätte fagen müſſen, was er nicht fagen wollte, oder auch Falfches berichten, und keins von beiden wollte er thun. Wir konnen daher feine Gefchichte unbedingt als eine im Geiſte der nach Freiheit ſtrebenden euro— patichen Menfchheit gefchriebene betrachten, weil er gu der Zeit, als er aufhörte, ein freier Mann zu fein, auch die Schriftſtelle— vet aufgab.

Sowohl feine mwiürtembergifche als feine braunfchtweig =Tüne= burgiſche Geſchichte find nur bis zu dem Zeitpunkte fortgeführt, den er erlebt Hatte, wo alſo ein Mann mie er Gefchichte Hätte jchreiben können, welche unmittelbar im Leben brauchbar tft, weil

230 Deuiſche Literatur: Geſchichte

für dieſe der Geſchichtſchreiber zu gleicher Zeit Urkunde, Quelle und Berichterſtatter ſein kann, denn er ſchreibt, was er geſehen hat. Was dagegen Spittler ſchrieb, das ſchrieb er im Geiſte feiner Zeit. Er zeigt faktiſch wie die Bürger der deutſchen Reichs— Yander es anzufangen haben, um fich ihrer Vorfahren würdig zu machen und nach deren Beifpiel für die unveräußerlichen Rechte der: Staatsbürger gegen die fürftlichen und ariftofratifchen An= maßungen der Obrigkeit ftandhaft zu kämpfen, und ſowohl den milttärifchejuriftifchen Eingriffen der Fürften und ihrer Beamten, als der Oligarchie einer privilegirten Art von Ständen Schranken zu ſetzen. Spittler zeigt, mit welcher Feftigfeit und Ausdauer auch ſogar noch im ferhzehnten und fiebenzehnten Jahrhundert Die deut- Tchen Bürger ihre Nechte vertheidigten, deren fie hernach, nach Ludwigs und der preußifchen Könige Vorgang, im achtzehnten militäriſch beraubt wurden, als ihre ſervilen Seelen um Hofgunft buhlten und fie felbft, egoiftiich jeder um außern und um Privat- gewinn beforgt, der gemeinen Sache vergaßen,

Dei der Abfaffung des Handbuchs der europäiſchen Gefchichte befolgt Spittler denſelben Plan und auch diefelbe von Napoleon empfohlene Klugheit, die jüngfte Zeit nicht zu berühren (d’eviter la proximite des temps), dies zu thun überließ er feinem Fort feßer Sartorius. Er deutet überall vorzugsweiſe den Fortfchritt und die Rückſchritte des Strebens nach politifcher Freiheit mit ficherem Takt an und bemerkt, in welchen Ländern man bei der Verwaltung ganz allein an die Negierenden und DVerwaltenden und wo man an das ganze Volk Dachte, Dielen Anfichten folgt ev felbft in dem Journale, das er mit einem Manne wie Meiners, den man einen Feind aller Freiheit und Humanität nennen würde, wenn er nicht als bloßer Büchermacher gar zu verächtlich wäre, unternommen hatte, Jedes Blatt von Spittlers Handbuche be- weifet den richtigen Blick und die augenblickliche Auffaffung des weſentlichen Bunfts, worauf e8 in den einzelnen Perioden ankommt, woran es gerade dem Gelehrteften oft am mehrften mangelt. Man erfennt mit Staunen wie ein großer Kopf mit augebornem Takt in den Quellen und Akten auch nur blätternd mit geübtem Blick in einem Augenblisfe das findet, was der bloße Gelehrte bei Jahre Yang fortgefeßtem Studium oft vergeblich fucht, Man begreift

Deuiſche Literatur: Geſchichte, 231

daher auch nicht, wie Sartorius es wagen konnte, als Spittler das Handbuch und die Geſchichte aufgab, ſich in einem und dem⸗ ſelben Tert fo nahe an ihm zu drängen >

Wo Spittler geendigt hatte, hätte Dohm anfangen ſollen, was er zum Theil auch gethan Hat. Die Bahn war gebrochen, Spittler hatte durch fein Handbuch das Wefen aller Hiftorie ent= hüllt. Er Hatte durch feinen Ton, feinen Takt, feine edle Sprache, durch Kürze und Bündigkeit des Styls gezeigt, daß es mit demt gelehrten Wühlen in Quellen und Urkunden nicht gethan feiz ex hatte die Gefchichte unter und aus dem Dunfel der Quartanten und Folianten ing Licht des Lebens gerufen. Dohm fand feinen Meg gebahnt, Unglücklicher Weiſe zog fich diefer damals ganz ing praftifche Leben. Ein Biedermann wie Dohm, erfüllt vom Geiſte der fehönften Zeit Deutichlands, voll Liebe zur Freiheit und zum DBaterlande, mit Staatsgefchäften ebenſo befannt als mit Büchern, hätte, wenn er fich früher damit befchäftigt hätte, den Denfwürdigfeiten über die Gefchichte feiner Zeit, die fait iſolirt in umferer Literatur daſtehen, noch eine ganz andere Bedeutung geben können, als fie haben und behalten werden, Wir erwähnen hier diefer Denkwürdigfeiten oder vielmehr feiner Staatsgeſchichte von Preußen, Oeſterreich, Deutichland und Rußland, bis auf Friedrich IL. Tod, welche freilich erft in unferm Jahrhundert er= fehtenen tft, weil das Werf feines Geiſtes und feines Inhalts wegen ber Periode angehört, die wir hier behandeln, Die Ges ſchichte, die ex erzählt, ft nicht aus Büchern, fondern aus unmit- telbarer Erfahrung geichöpft, fie geht mit der Belehrung über Politik und Staatswiffenfchaft Hand in Hand und wird dieſen feineswegs nach dev Art der Doctrinärs untergeordnet, Die Er— zählung iſt natürlich, wie der Styl, ohne alle Sophiftif, da das Merk für den Forfcher und gebildeten Geſchäftsmann beſtimmt tft, welche fich nicht gleich dem Haufen der Leſer durch Rhethorik täuſchen laſſen. Dohm faßt natürlich die Dinge nur von dem Standpunkte aus, auf dem er als freifinniger deutſcher Staats— und Geſchäftsmann ftand, affeftirt Feine Genialität oder Philoſo— phie; gerade. dies gibt aber feinem Buche unter den Hunderten son gemachten und in einer auf eine oder andere Art erfünftelten Manier geſchriebenen Büchern, an denen wir feinen Mangel ha—

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ben, einen ausgezeichneten Werth. Dohms Buch iſt bekanntlich das Einzige der Art, welches ein deuticher Staatsmann über öffent— Yiche Angelegenheiten einfach und klar ohne andere Rückfichten als die eines Biedermannes gejchrieben hat. Dohm zeigt. fich zwar mit Recht als Bewunderer Friedrichs II.; aber von alberner Ber- götterung, von blinder Billigung Alfes deffen, was Friedrich IL. that und dachte, wird man feine Spur bei ihm finden. Dies geht ſchon daraus hervor, daß Dohm feiner Zeit ſtets unter denen glänzte, welche ihren Zeitgenofien und den Nachlommen in jener Periode Freiheit des Geiftes und eine freiere bürgerliche Berfal- - fung zu erfampfen juchten.

Dohms Lebensgang und die ftattäwifjenfchaftlichen und hiſto— riſchen Schriften, die er bekannt machte, ehe er in preußifche Dienſte trat, zeigen ihn ung als den einzigen Mann, der die Tüchtigfeit der alten Bildung und die Fähigkeit eines brauchbaren Geſchäftsmanns mit dem eifrigen Streben verband, das erftorbene, in Bedanterei, Gelehrſamkeit, Schlendrian erftarrte deutſche Leben durchaus zu veformiven. Er ergriff ald junger Mann Bafedows Gedanken, die Erziehung der Jugend dem Bedürfniß der Zeit anzupafien, mit großem Eifer; er war fogar eine Zeit lang bei Bafedow in Deffau, bis er erkannte, daß Leute wie Baſedow und Wolfe weder andere als utopifche Plane aushecken könnten, noch auch, wenn fie andere Plane faßten, im- Stande fein würden, fie auszuführen, Unmittelbar hernach griff er zu 3. H. Jaco— 578 großem Verdruß das von diefem und. von der Mode da— mals überall begünftigte fogenannte phyfiofratifche Syſtem der Staatswiſſenſchaftslehre mit fliegenden Gründen an, weil er als Verkündiger der Lehre von einem neuen Leben und einer neuen Geſchichte darin eine Stübe des alten fand. An der Anftalt in Kaflel, welche der Landgraf oder eigentlich der Herr von Schlief- fen in Gegenſatz gegen die Untverfitäten des Mittelalters, deren Hauptſache die fogenannten Brodfächer waren, gründen wollte, war er eine vorübergehende Erſcheinung. Die Zwitteranftalt in Kaſſel zerfiel bald, oder, wie wir fehon an einem andern Orte bemerkt haben, fie Hatte aus Mangel an Schülern fo wenig Beitand, als die medizinifche und philofophifche Fakultät, welche der Fürſt Primas zu Frankfurt am Main gründete, welche mit

Deutſche Literalur: Geſchichte. 233

der philoſophiſch juriſtiſchen in Wetzlar und der theologiſchen in Aſchaffenburg eine Univerſität bilden ſollte. An dieſer, ſo lange ſie beſtand, war der Verfaſſer dieſer Geſchichte zwei Jahre lang angeſtellt.

In dem Jahre (1779), als einem der ausgezeichnetſten Män— ner Deutſchlands, dem edeln und freiheitliebenden Georg Forſter, an dem ſogenannten Carolinum in Kaſſel eine Zuflucht gegeben ward, ging Dohm von dort nach Berlin und trat ſeine diploma— tiſche Laufbahn an, während der Schweizer Johannes Müller das hiſtoriſche Fach in Kaſſel mit ungeheuren Anſprüchen und An— maßungen übernahm. Dieſer, immer nach Anderem ſtrebend als nach dem, wozu ihn die Natur beſtimmt hatte, ward bald darauf nach Mainz gerufen, um dem Kurfürſten mit ſeiner Feder zu die— nen; er wandte ſich alſo vom Lehren zum Schreiben und traf in Mainz mit Sömmering und Forſter, der zuerſt von Kaſſel nach Wilna war gerufen geweſen, wieder zuſammen. Müller, obgleich er als der Geſchichtſchreiber der Freiſtaaten vergöttert ward, war in Mainz wie ſpäter in Wien als Höfling durch die Gunſt der Fürſten, Pfaffen und des hohen Adels beglückt, ſo lange er die Hierarchie und Feudalariſtokratie, wie ſpäter den Bonapartismus vertheidigte; während Forſter unglücklich lebte und elend ſtarb, weil er den ſchönen Traum von Freiheit und Menſchenrechten ge— träumt hatte und die dürre Realität zu ſpät erkannte.

Müller brachte damals eine ganz neue und eigne Art von Hiſtoriographie in Deutſchland empor, die hernach jedermann als das Höchſte pries. Er ſchrieb ein Werk, das zwar nur Wenige verſtanden und das nur ſtellenweiſe genoſſen werden konnte, in welchem auch die ungeheure Gelehrſamkeit und die Maſſe von Citaten mehrentheils ganz überflüſſig verſchwendet ward; das Werk iſt aber gleichwohl als vollendetes Meiſterwerk allgemein anerkannt worden. Müllers mühſelige Arbeit galt überall, als wenn es ein Meiſterwerk einer freien Seele wäre; es ward am Ende des vori— gen Jahrhunderts, wie in dem unſrigen, bis zum Lächerlichen ge— rade in ſeinen Mängeln nachgeahmt; wir können uns aber kurz darüber faſſen, weil eine Kritik deſſelben zu ſpät käme und nicht hieher gehört. Eine Bemerkung mag dienen, um anzudeuten, daß Woltmann in ſeiner Schrift über Müller ungerecht iſt, und daß König Ludwig von Baiern Recht hat, wenn er Müller durch ein

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auf deſſen Grabe laſtendes Kunſtdenkmal ehrt. Die Deutſchen nämlich belohnten ja ſchon im vorigen Jahrhundert, nach ihrer Art, Müller mit Ruhm, mit Ehren, mit Orden, mit Geld für ein Werk, worin ſehr fünftlich die Schweizer, welche feine Deut- jche fein wollen, den alten Griechen gleichgeftellt werden, Der- jelbe Mann, der das Lob der Freiheit und ihre Helden, einen Tell, einen Arnold von Winkelried, und wie fie weiter heißen, auspofaunte, war unbejchadet feines Eifers für Freiheit, wie er fie verftand, Hofling der Hierarchen von Mainz, war als Prote— ftant Apologet Pius VL, Schützling der Habsburger in Wien, als fie die Freiheit verfolgten, Diener der militärifchen Monarchie in Berlin und endlich gar Minifter eines Hieronimus Bonaparte in Kaffel. |

Da an allem diefem Niemand bei dem Herolden des Nütlt- bundes Anftoß genommen Hat, fo fieht man, wie ſehr Müller jeiner Zeit vorausgeeilt war, wie er ſchon im vorigen Jahrhun— derte rein wifjenfchaftlich und künſtleriſch ein objeftives Werk fchuf, dem weder in Rückſicht des Inhalts noch der Sprache das Ge— ringſte Subjective anflebte. Wir wollen Daher nur im Vorbei— gehen einen Blick auf die Wirkung des Buchs nach Außen hin werfen. Müller bildete fich nämlich fonderbarer Weiſe für feine Schweizergefchichte einen ganz eignen Styl, der von dem, deſſen er fich fonft bediente, ganz verfchteden war. Diefer Styl ift eben jo Fünftlich und mühſam als Jakobis Styl, nur in einer andern Art, weil Jakobi feiner afademifch modernen Philofophie auch feinen akademischen Styl anpaßte, wie Müller feiner romantiſch— antiken Gefchichte dem griechifch oder Iateinifch und teutoniſch alter- thümelnden. Müllers Schweizergefchichte erlangte zuerſt durch feine zahlreichen Freunde und Bekannten, zu denen gerade die bedeutend= ften Männer im Stante und in der gelehrten Welt gehörten, den- felben Ruf, den früher Klopſtocks Meſſias auf Ahnliche Art als Epos erlangt hatte, Er gewann die Gelehrten durch die große Gelehrſamkeit und aud) ſogar durch den Lurus des Citirens einer Menge von Urkunden für Dinge, die ohne alle Urkunden geglaubt und bewiefen werden fünnen, bejonders aber dadurch, daß Ein- richtungen, Sitten, Geſetze und Ariſtokratie des Mittelalters hiſto— riſch in ein neues, fehr glänzendes Licht geftellt waren. Je we—

Deutfhe Literatur: Geſchichte. 235

niger Perſonen es gab, die das Werk ganz Infen, und je glän- zender und vebmerifcher die einzelnen Stücke waren, welche von ſehr vielen wirklich gelefen wurden, je inniger die Feudalariſtokra— tie fich freute‘, daß Alles zur Nitterzeit noch viel ſchöner geweſen fet, als man e8 nur zu winfchen wagte und daß dies Alles aus Chroniken und Urkunden documentarifch bewieſen werden könne, defto größer war Müllers Ruhm. Er ift von Woltmann, dem er emporgeholfen hatte, und der doch in der That nicht werth war, ihm die Schuhriemen zu löſen, auf feinem eignen Felde, das heißt als hiſtoriſcher Künftler, fehr hart angegriffen worden; wir dagegen erkennen ihn gern als Meifter einer Kunft, die wir we— dev verftehen noch auch nur verftehen wollen. Unſere Lefer mögen Woltmann über die Art hiſtoriſcher Kunft befragen, die Müller durch Beifpiel und Woltmann durch feine Kritik empfiehlt. - Wir haben es hier nicht mit der Theorie dev Gefchichte, ſondern mit der Wirkſamkeit dev Schriftfteller und mit ihren Wirkungen in ihrer: Zeit nnd auf ihre Zeit zu thun. Nachtheilig war Miller der fonderbare Einfall der Gelehrten, ihn bald als den Thu— cydides, bald als den Tacitus dev Deutfchen thöricht zu preifen, bejonders aus dem Grunde, weil der Ruhm, deſſen er unter den Bornehmen und Gelehrten genoß, eine nene Generation yon Schrift- ſtellern ermunterte, ihn durch Affektation zu überbieten, befonders als anfangs die Nomantifer, dann die Reaktion gegen die falfche Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts feine Manter und fogar feine Sprache in die Mode brachte,

Wie Wenige aber verftehen, was fie loben, und auf chen Weg die mehrſten Schriftfteller zum Gipfel des Ruhms gelangen, kann man an Müller lernen. Er verdankt feinen Ruf im großen Publikum dev Schweizergefchichte, und doc Haben wir in dem erften Viertel unſeres Jahrhunderts unter denen, mit denen wir über Müller Sprachen, ſehr wenige gefunden, die auch nur einzelne Stücke dev Schweizergefchtchte aufmerkſam gelsfen hatten; alle kann— ten nur die Arbeiten, die er felbft mit allem Nechte des Drucks nicht werth gehalten Hatte. Dies find feine vier und zwanzig Bücher allgemeiner Gefchichten; denn feiner Neifen dev Päpſte und feiner Schriften über den Fürftenbund wollen wir lieber gar nicht erwähnen, Was die allgemeine Gefchichte angeht, fo fieht

236 Deutſche Literatur : Aufgeflärte Regierungen.

man auf den erften Blick, daß die alte Gefhichte auf den Effekt berechnete Vorleſungen für junge Herrn von Stande waren, wo— rin unftreitig viel Geiftveiches glänzend gejagt wird, die aber Woltmann oder einer Seinesgleichen eben jo gut hätten ſchreiben und viel beſſer Halten können, als Müller mit feinem widrigen Dialekt. Gerade diefe Vorlefungen haben in unferm Jahrhundert Müller ein großes Publikum verfchafft. Wir dürfen hier aber son. dev allgemeinen Gefchichte und von Müllers ſpäterer hiftori= ſchen Wirkſamkeit um jo weniger reden, als beides dem neunzehn— ten, nicht dem achtzehnten Jahrhundert angehört.

g§. 7. Verxrhältniß ver Schriftſteller zu den Regierungen. Journa— liſtik. Staatswiſſenſchaft.

An Oeffentlichkeit war im letzten Viertel des achtzehnten Jahr— hunderts nicht zu denken, es war auch nicht der Schein einer Freiheit der Preſſe vorhanden, der doch von 1815 bis 1852 hie und da gefunden ward. Glücklicherweiſe herrſchte damals in Deutfch- land in vielen Mintjterien ein son den Fürften ſelbſt angeregter Eifer für Aufflärung des Volks und Abfchaffung der Mißbräuche, fonft wäre jede Aeußerung über öffentliche Angelegenheiten un— möglich gewejen. Bolittiche Zeitungen waren fo gut wie gar nicht vorhanden; denn was Fonnten die unter fcharfer Cenſur gehalte- nen Zeitungen in einem Lande berichten, wo weder die Gerichts— verhandlungen mündlich noch ‚wffentlich waren, wo der Bürger weder die Schrift feines Advokaten noch das Urtheil feines Rich— ters serftehen konnte, weil beide halb Inteintich, Halb kauderwelſch abgefaßt waren, und wo das Urtheil der. Form wegen oft in einem einzigen athemlofen Sate son zwei oder drei Seiten gefaßt war. Welche Freiheit Eonnte in einem Lande gefunden. werden, wo jelbft die Feudalftände in amtlichem und vornehmen Still- jchweigen und Geheimniß gehalten wurden? Wer hätte es auch nur wagen dürfen, einen von den winzigen Reichsgrafen oder hochgebornen Neichsbaronen, die in den Dürfern und Weilern fouverän waren, oder einen der adligen oder bürgerlichen Bürger- meifter, welche in den Städten polizeilich und juriftifch herrichten, durch ein Wort dev Wahrheit zu reizen? Nur durch die Begün—

Deutſche Literatur : Aufgeffärte Regierungen. 8837

ftigung dev Negterungen, welche eine der franzöfifchen von ihnen bewunderten ähnliche Literatur emporbringen wollten, konnten ſich Zeitfchriften unter ums eine Griftenz fichern. Die Journaliſtik -ging daher auch erft ſpäter von den ſchönen Wiffenfchaften zur Politik über, obgleich fehon Wieland zuweilen ein freieres Wort in feinen Merkur zuließ. Uebrigens zeichnet fich jene Zeit Dadurch. aus, daß die angefehenften und wirdigften Männer fich zu dem Berfuch herabließen, diefe periodifche Schriftftelleret in einem Lande emporzubringen, wo Feine eigentliche Hauptftadt den Ton und den Geſchmack leitet, wo fich fo Teicht ein Buchhändler, eine Univer- fität, ein künſtlich gehobenes Journal, eine Winkelreſidenz, ein Spefulant oder der Stifter einer Kameradſchaft der Diktatur tiber Literatur und Politik bemächtigen Fan, Che wir die Wirfung dieſer Erſcheinung an einigen Beifpielen nachweiſen, müfjen wir einen Blick auf den Antheil werfen, dem einige Fürften und Mi- nifter an den Bemühungen der Gelehrten um Aufklärung und größere Freiheit der Preſſe nahmen.

In Berlin war Sowohl die A. D. B. als die Berliner Mo— natſchrift, ſo lange Friedrich lebte, ein Aergerniß aller Obfeuran= ten, und Zedlitz als Miniſter gab Bahrdt eine Zuflucht und Eberhardt eine Profeſſur zu Halle. In den kleinern deutſchen Staaten, die Reichsſtädte ausgenommen, begünſtigte man ſchon des Kaiſers und des Königs von Preußen wegen, oder auch, wie in Deſſau und Baden, aus edlem inneren Triebe jeden Verbeſſe— rungsvorſchlag. In Braunſchweig ſchützte der Herzog ſelbſt erſt Leſſing, ſpäter Mauvillon gegen das fanatiſche Geſchrei der theo— logiſchen und politiſchen Verfolger, ſo lange es die Umſtände nur immer erlaubten, und mehr wird nur ein Phantaſt von Fürſten oder Diplomaten fordern oder auch nur erwarten dürfen. In Weimar vereinigte erſt die verwittwete Herzogin Anna Amalie, geborne Prinzeſſin von Braunſchweig, hernach der junge Herzog eine Anzahl von Maͤnnern, welche" mitten unter der son dem fachfifchen Hofadel begünftigten Faden Tagesliteratur und der Witzelei eines Muſäus und Kotzebue eine wahre Poeſie ſchufen. Göthe, Herder, Schiller, fo unwillig ſich der Letztere in feinen Briefen an Göthe darüber äußerte, mußten freilich dem Hofge— ſchmack hey gnädigen Frauen amd Herren, dem ſich Wieland ganz

238 Denise Literatur: Aufgeflärte Regierungen,

anpapte, zumeilen einigermaßen huldigenz; allein alle vier wurden gerade dadurch nüßlicher, als fie ſonſt geweſen wären, daß fie alle Klaffen und Stande an die neue Literatur Fnüpften und die Partfer Waare durch beffere entbehrlich machten.

In Gotha ließ Freilich die Herzogin zu Gunften ihres Sof nes im fiebenjährigen Kriege auf der einen Seite Bütter kommen, um dem Fünftigen Regenten NReichsgeichichte und Reichsprozeß zu lehren, auf der andern Seite ließ fie aber von Voltaire, der nicht das Geringfte von deutſcher Gefchichte verftand, ein Buch darüber verfertigen; allein felbft dies Letstere bewies doch, daß fie dazu beitragen wollte, dem wüſten alten Treiben der gelehrten Forjcher ein Ende zu machen. Auch die Correſpondenz Grimms mit dem nachherigen Herzuge, Die Lappalien, die er fi aus Paris son Grimm fehreiben ließ, beweifen, fo wie des Herzogs von Braun Ichweig an Marmontel verfchwendete Gomplimente und Mirabeaus Aufnahme in Braunfchweig, daß die Regenten das Streben der Nation, der alten Bande entledigt zu werden, theilten” und das Fortjchreiten begünſtigten.

Wir haben oben angedeutet, wie Herzog Karl von Wür— temberg auf militäriiche Weife die Fortfehritte der neuen Bildung fordern wollte, deven Bedürfniß er wirflich empfand, während von Schlieffen den Landgrafen von Heſſen-Caſſel dahin brachte, daß . er fich derfelben thätig annahm, ohne daß er ſelbſt den geringften Sinn dafür Hatte. Im finftern Münfterlande war der edle Für- jtenberg als Miniſter ein eifriger Freund des Lichts und nahm fich der aufitrebenden und serbeffernden Gelehrten an, F. H. Ja— cobi und fogar der etwas übergeniale umd oft cyniſche Heinfe, ber, obgleich Proteftant, doch hernac Bibliothekar des Primas der deutſchen katholiſchen Geiftlichfett wurde, ftanden mit ihm in naher Verbindung, - Fürftenberg fuchte, wie man aus den Sour- nalen der Zeit, befonders aus Schlözers Otaatsangeigen urkund— lich beweiſen kann, ſowohl in weltlichen als in geiftlichen Dingen in feinem ganz hinter dev Zeit zurücgebliebenen Weſtphalen eine neue Ordnung zu begründen, Bei Karl Theodor waren freilich fchon zu der Zeit, als er noch als Kurfürſt von der Pfalz das ſchöne Land am Rhein, die Pfalz und Berg allein beherrſchte, Jeſuiten, Adel und Mätreflen eben fo mächtig als ſpäterhin,

Deutfche Lileralur: Mufgefärte Regierungen. 239

nachdem er auch Batern geerbt hatte; aber er Hatte dort, ſowohl in Mannheim als in Düffeldorf andere Rathgeber, als hernach in München, Sein Mintfter yon Hompeſch und andere ihm ähnliche Männer fuchten nicht allein am Niederrhein gleichen Schritt mit der Zeit zu Halten, fondern Hompeſch eilte ihr fogar in Finanz und Verwaltungsfachen, wenn er freie Hand hatte, voraus, Unter Hompefch war auch F. H. Jacobi einige Zeit - hindurch im Mintftertum angeftellt, um phyſiokratiſche Ideen aus— zuführen. In Mannheim wurden Muſik, Schaufptel, bildende Künfte auf eine folche Weife befördert, daß man wenigſtens den guten Willen zeigte, deutfche dramatifche Dichtung ſtatt der fran= zöfifchen auf die Bühne zu bringen und felbit in der Oper dem Unfinn des italienifchen Getrillers deutſchen verftandlichen und verſtändigen Gefang unterzufchteben. Zu dem Lebtern ward bes Fanntlich auch Wieland aufgeboten, daß diefer aber den vechten Meg zur deutfchen Oper einfchlug, als er den Euripides trave- ſtirte, dürfen wir ſchon darum nicht behaupten, weil e8 befannt- lich Göthe als Jüngling burſchikos verneint hat, Daß eine ſo— genannte Akademie, d. h. eine eitle Anftalt errichtet ward, zum Reden halten und Abhandlungen fehreiben, was feiner Zeit nüß- lich war, jest ganz überflüffig ift, würden wir eher einen Rück— fchritt zu Ludwigs XIV. und anderer, den Katfer Auguftus und die Mediels nachaffenden Fürften Manter, als einen Fortfchritt nennen, wenn fich nicht Diefe Akademie große Verdienfte um bie deutſche Sprache und ihre Gefchichte, nicht für Gelehrte allein, jondern für Gebildete überhaupt erworben hätte, wie aus ihren Schriften hervorgeht. Ein Ruhm und ein Fortfehritt war es immer, daß während in Heidelberg und in Düſſeldorf Gontro- persprediger tobten, in Mannheim Wielands beide deutfche Opern mit großem Aufwande gegeben wurden, Sffland als Schaufpieler und Schaufpteldichter die neue Art zu denken und zu empfinden, dramatifirte und darftellte, und ſpäter Schiker, als er noch keinen Ruhm Hatte, als genialer Kopf erkannt ward, obgleich er anfangs als Kraftgenie auftrat und feine ct Produkte etwas wüſt und überichwänglich waren.

In Erfurt Hatte früher ſchon von Breidbach als Statthalter des Kurfürften yon Mainz ans einer obſcuren Univerſität eine

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glänzende und aus einem Aufenthaltsorte der trägen und finſtern Verfechter alter Mißbräuche einen Zufluchtsort der kühnen Ver— kündiger des neuen Lichts machen wollen. Wir haben ſchon oben bemerkt, daß er Wieland nur kurze Zeit hindurch dort zurück— halten konnte, und daß Bahrdt und Riedel und Ihresgleichen nicht gemacht waren, das neue Licht zu empfehlen. Dennoch ward dieſes auch nach der Zeit im Kurfürſtenthum Mainz, zu dem damals Erfurt gehörte, gehegt und mächtig gefordert, Die beiden Kurfürften, welche vor der Revolution in Mainz regterten, jo ungleich auch ihr Charakter, wie ihr Leben und Wandel war, juchten doch beide den Ruhm der Theilnahme an dem in Deutjch- land herrſchenden Streben nach Verbeſſerung. Der Goadjutor Karl son Dalberg hatte in Grfurt feinen Sit, und wenn auch jene Phantaſie, wie fein zur Liebe geneigtes Gemüth; vielleicht zu beweglich war, wenn auch fein Verftand hie und da zu Teicht irre geleitet werden konnte, fo hatte er doch für alles Große und Gute einen vegen Sinn. Karl von Dalberg ftand als Coadjutor in Erfurt unter den Deutfchen in größerer Achtung als fpäter zur Zeit Napoleons, wo man mit Necht glaubte, daß feine Be— wunderung der Geiftesgröße Napoleons zu weit gehe. In Erfurt hatte ex den Ruhm eines Mäcenas und des Mufageten der Deut- hen, ward als edler und. freifinniger Mann vergöttert, jchloß fich an den Theil der Illuminaten an, welche die Fatholtfche Re— ligion auf ihre urfprüngliche Reinheit zurücführen wollten und jeldft feine Mängel und Schwächen Hatten nichts Gemeines, fon= dern’ flofjen aus derfelben Quelle mit feinen Tugenden. Uebrigens war unter den drei letzten Kurfürften, welche alle drei mächtig dahin wirkten, daß in ihrem Staate der Gelft des Mittelalters verbannt und ein neuer und belebender herrichend. werde, der Grfte, nämlich Emmerich. Joſeph, dev achtbarfte und im jeder Rückſicht würdigſte. Gmmerich Joſeph Hatte in dem fiebenziger Jahren, als Bafedow die Schulen, den Unterricht und die Lehr- bücher des proteftanttfchen Deutſchlands veformiren wollte, und als der Abt Felbinger das Volksfchulwefen in den öſterreichiſchen Staaten wefentlich verbeflerte, auch feiner Seits den regſten und ebelften Eifer bewiefen, den Sefutten Schranken geſetzt umd ihre mechaniſchen Religionsüübungen, ihren ärgerlichen Bilder= und

Deuiſche Literatur: Journaliſtiklk. 241

Ceremoniendienſt durch beſſern Unterricht zu entfernen geſucht. Sein Nachfolger Karl Friedrich Joſeph (von Erthal) wollte, wie wir ſchon vorher berichtet haben, die alte Univerſität Mainz zu neuem Glanze erheben, er vereinigte dort eine Anzahl berühmter, zum Theil proteſtantiſcher Profeffoven und nahm Johannes Müller erſt zum Bibliothekar, dann zum Geheimſchreiber. Er ſtand frei— lich in moraliſcher und politiſcher Beziehung weit unter ſeinem Vorgänger, arbeitete aber für die Aufklärung ſeines Jahrhunderts wie dieſer. Dies bewies er, als er ſich ſo eifrig bemühte, durch die in Ems in: Verbindung mit den andern Erzbiſchöfen feſt— gejegten Punkte den Anmaßungen der päbſtlichen Curie Schran— fen zu ſetzen.

In Cöln Hatte ebenfalls ſchon der vorletzte Fürſt durch Gründung der neuen Univerſität in Bonn einen Beweis ſeiner Theilnahme an dem in Deutſchland neu erwachten Streben nach Wiſſenſchaft und Bildung gegeben, ſein Nachfolger ſuchte die neue Univerſität zu heben, und auch ſogar in das ewige Dunkel der Cölner Kirche ſchien wenigſtens ein Lichtſtrahl zu dringen. Das Geſchrei gegen Licht und Aufklärung ward leider hernach vermehrt und den Feinden jeder Art von Freiheit ein neuer Vor— wand gegeben, unbedingt beim Alten, als beim allein erhaltenden Prinzip der Staaten zu beharren, als Georg Forſter in Mainz und Eulogius Schneider in Bonn von den Deutſchen zu den Franzoſen übergingen. Georg Forſter ward getäuſcht, wie wir alle, in denen die Vorſtellung von Rechten der Menſchheit und vom Drucke der Socialverhältniſſe auf gewiſſe Klaſſen und Stande lebendig geworden war, durch Jugendträume getäuſcht wurden; Eulogius Schneider bewies durch fein Betragen während der Schreckenszeit im Elſaß, daß vom Fanatismus der Torquemada zu dem der Robespierre und Fouquier Tainville nur ein Schritt ſei. Der Erzbiſchof von Trier zeichnete ſich durch Duldung gegen die ſonſt von den geiſtlichen Regierungen verfolgten Proteſtanten aus; der Fürſtbiſchof Franz Ludwig von Bamberg und Würzburg (chüßte aufgeklärte Mönche gegen ihre fanatifchen oder tyranni⸗ ſchen Aebte, wie Schades Beiſpiel beweiſet.

Bezeichnend für die Regierungen und Collegien jener Zeit in Vergleichung mit denen der unſrigen iſt es, daß die Männer,

Schloſſer, Geſch. ds 18. u, 49 Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 16

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welche in jener Zeit verſuchten, durch Zeitſchriften, die von Hand zu Hand gehen und mehr als Bücher für den Augenblick und für eine ſchnelle und vorübergehende Wirkung berechnet ſein müſ⸗ ſen, auf das geſammte Publikum einwirken, gerade aus den dem Fortſchreiten der Freiheit im Denken, Handeln und Reden in unſeren Zeiten am heftigſten widerſtrebenden Klaſſen und Stän— den waren. Der allgemeinen deutſchen Bibliothek, des deutſchen Mercurs und der Göttinger Anzeigen haben wir an einer andern Stelle. gedacht, der Berliner Monatfchrift wollen wir nur erwäh- nen, weil man Herausgeber und Mitarbeiter der Jeſuitenriecherei und des fanatifchen Proteftantismus befchuldigte, Wie ſehr man aber Unrecht hatte, Gedife, Bieſter und Nicolai im achtzehnten and Voß im neunzehnten Jahrhundert zu befchuldigen, daß fie ein ganz ungegründetes Geſchrei erhöben, die Träume ihrer Bhan- tafte in wirkliche Erſcheinungen verwandelten und überall Sefutten gleich Gefpenftern ſähen, lehrt die Erfahrung unferer Tage, wo die Erſcheinungen dev Phantafie und jener nächtlichen Träume überall am hellen Tage herumwandeln und die Gefpenfter Fleiſch und Bein und furchtbare Gewalt erlangt haben. Heber die A.D,B. herrschte Nicolai zu unumfchränft, als daß wir ausführlich von ihrer Richtung veden dürften, und den Göttinger Anzeigen kann feine eigentliche beſtimmte Richtung oder Wirkung zugefchrieben werden, theils weil ihnen Heyne gleich einem Diplomaten vor— ſtand, theils weil, die ganz verfchtedenen Göttinger Profeſſoren alle daran arbeiteten, Auf welche Weife die elendeften Compila— toren unter biefen mit geiftreichen Männern und ihren mit Teuer, Seele und Sinn geſchriebenen Werfen umgehen durften, kann man amt beiten aus des armfeligen Meiners Anzeige des genialen Buchs fehen, welches Georg Forfter über feine Reife um die Melt ſchrieb. Man kann ſich daraus überzeugen, daß eingebildete Pedanten damals eben ſo mächtig in Deutjchland waren als übermüthige Pfaffen, obgleich man ſtaunt, daß fo etwas unter dem Namen einer königlichen Societät dev, Wiffenfchaften in die Melt gefchteft werden durfte, Sp iſt es aber mit dieſen ſoge⸗ nannten Akademien!! |

Was Wielands Mercur angeht, ſo können wir ihn ebenfalls nicht zu den Zeitſchriften rechnen, welche auf Staat, Leben,

Deuiſche Literatur: Journaliſtik. 243

Literatur in einer im Fortſchreiten begriffenen Zeit reformirend einwirkten, und nur davon iſt hier ausſchließend die Rede. Wie— land ſelbſt nämlich ſagt uns unverhohlen, welche Art Speculation er beim Mereur im Auge habe. Er ſchreibt nämlich, ganz allein auf die Weimariſchen behutſamen und ängſtlichen Hofleute und Beamten und auf die der andern kleinen Höfe Rückſicht nehmend, an Jacobi, der noch dazu ſehr den Vornehmen ſpielte und den andern vornehmen Leuten alſo nicht leicht zu nahe kam, als die— ſer ihm den Schluß von Allwills Briefen zum Einrücken in den Mercur von 1776 einſchickte, Folgendes: „In Deinen letzten Allwills⸗Papieren werde ich mit Deiner Erlaubniß einige garſtige Stellen über den Dienſt großer Herrn wegſtreichen. Gott weiß, wie Du mit dem Be— wußtfein Deiner und meiner Berhältniffe fo was binfehreiben und mir ſchicken kannſt, daß ichs drucken Yale.” Daraus geht nicht blos das geringe Maaß moralifchen Muths des Bielfihreibers hervor, ſondern man fieht auch, daß man von den angeführten Zeitſchriften, befonders von Wielands Mercur feine frete und rückſichtsloſe Sprache, Feine Art Tadel des Be— ftehenden je hoffen oder erwarten konnte.

Was kein Anderer in Deutfchland vermocht Hatte, führte Schlözer aus, und zwar. im hannöverſchen Lande und trotz des Lärmens, das fich von allen Seiten gegen ihn erhob. Er ſchuf ein Tribunal, vor deſſen Ausfprüchen bald alle. Finfterlinge Deutfchlands, alle die zahlreichen Heinen Tyrannen, ihre deſpo— tifchen Beamten und Schergen erblaßten, wenigſtens diejenigen unter ihnen, die noch fo viel Ehre und Schaam übrig Hatten, daß fie erröthen oder erblaſſen konnten. Um eine Zeitjchrift für Staatsverwaltung, Regierung und Zeitgefchichte zu unternehmen, war Schlöger durch feine ausgebreiteten Befanntichaften in allen Gegenden, durch; feine Fehler, wie durch feine guten Eigenſchaf— ten und vieljeitigen Kenntniſſe in einer Zeit, wie die ſeinige war, am beiten geeignet, Da er bejonders deutſche Staaten im Auge Hatte, fo ficht man, wenn man die Aengſtlichkeit bedenkt, womit Wieland jedes Wörtchen, fogar in einem belletriſtiſchen Sournal, wägen und meſſen zu müffen glaubte, daß Schlögers Muth und fein eiſerner Sinn dazu gehörte, um als Ohttinger

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Profeffor an eine politifche Zeitfchrift auch nur -zu denken, Der Augenblie, den Schlözer wählte, war übrigens fehr günſtig. Die innern Streitigkeiten in. England, der nordamerifanifche Krieg zegten die Gemüther in jener nach Befreiung son jeder Art Feſſel jtrebenden Zeit ganz anders auf, ald das, was man in deutjchen Zeitungen zu leſen pflegte, von denen man noch in des —* ſers Knabenzeit zu den Holländiſchen flüchten mußte.

Schlözer leitete ſein großes Unternehmen, welches den Be drückten ein Mittel verſchaffen ſollte, ihre Klagen laut werden zu laſſen, ſehr behutſam ein. Er unternahm ſeine Zeitſchrift ſcheinbar nur zu Gunſten der ganz orthodoxen, neulich erſt von ſeinem Lehrer Achenwall emporgebrachten Wiſſenſchaft der Sta— tiſtik. Er gab nämlich zuerſt um 1775 in fliegenden Blättern eine Sammlung ihm eigeſendeter, mehrentheils ſtatiſtiſcher Nach— richten aus verſchiedenen Gegenden unter dem Titel Brief— wechſel heraus, und erſt im folgenden Jahre ward daraus ein eigentliches Journal unter dem Titel Neuer Briefwechfel, Dies Journal follte regelmäßig in fechs Heften jährlich erſchei— nen. Es beftand freilifch damals ſchon feit 1767 ein anderes politifch-ftatiftifches Journal, nämlich Büſchings Magazin, zu dem er um 1773 noch feine wöchentliche Nachrichten son Büchern und Landkarten hinzufügte; diefe Journale berühren wir hier aber eben fo wenig wie andere gleichzeitige „der frühere, weil fie entweder der eigentlichen Bücherwiffenfchaft der Deutfchen oder auch der Manier angehören, in welcher bie Geſchichte im erften Viertel des achtzehnten Jahrhunderts getrie- ben ward. Schlögerd neuer Briefwechfel war Dagegen unmittelbar dem Leben und der Berbefferung der fehlerhaften Leitung deffelben gewidmet. Dreift ward Schlöger erft nach und nach, als jelbit die Behörden unjeres Vaterlandes einfahen, wie vortheilhaft es jet, daß das, was son ben Finanzkammern und Kanzleien, in Kabineten und im Beamtenzimmer im Dunkel des Geheimnifjes bisher war verfteckt worden, einmal am hellen Tage verfündigt werde.

Aus Beſorgniß, die hannöverfche Artftofratie gleich anfangs zege zu machen, nahm fich übrigens Schlözer fehr in Acht, han— növerſche Dinge zu berühren, er mied, wie der Gefchichtichreiber nach Napoleons Rath die Nähe der Zeiten meiden fol, Die Nähe

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der Derter. Seine Kritik, die durchaus freimüthig, aber ſehr oft auch wunderlich und grillenhaft war, richtete fich zunachft gegen fremde Staaten und Verwaltungenz die Richtung feiner erften unbandigen Leidenfchaftlichfeit war aber denen, welche im London die hannöverſchen Angelegenheiten bejorgten, in Rückſicht auf Kö— nig Georg III. Perfon und auf Lord Norths Meinifterium fehr willkommen. Schlöger war wüthend gegen die Nordamertfaner und tobte über ihren Ungehorfam gegen das Parlament, als wenn er ein Achter Altengländer wäre, Auf eben die Weife fampfte er gegen die Hollandifchen PBatrioten und für Ludwig Ernft von. Braunfchweig, als wenn er und feine Vorfahren dem Haufe DOranien angehört hätten. Dies veranlaßte auch in Deutjch- land zwiſchen Verfaſſern pertodifcher Schriften die erften öffentlich geführten politifchen Diseuffionen, wenn auch nur über Politik fremder Staaten, Büfching nämlich nahm beſonders die ameri— kaniſche Sache anders als Schlözer und es entitand zwiſchen bei⸗ den ein heftiger Streit.

Schon im zweiten Jahrgange von Schlözers neuem Brief- wechjel findet man übrigens einige derjenigen Stücke, durch deren Defanntmachung Schlöger von der Zeit an ein Schrecken aller väterlich mwaltenden Beamten und Fleinen Despoten des feudalen Deutichlands ward, Alle die, welche in den Riten und Löchern unferer verfallenen Reichsburg im Dunkeln haufeten, die Tyran- nen in Mönchskutten, in Stiftern und Klöftern, die wohlweiſen Beherrſcher oder Magiſtrate dev Neichsftädte, die hochgebornen Reichsritter, welche die Dörfer beherrfchten, die Durchlauchtigen fürftlichen Herrn, die im Dunkel kleiner Nefidenzen und leicht yon den Thürmen derfelben zu tberfehender Länder mit köni— glichem Stolze ihr Wefen trieben, erhoben bald ihr vereinigtes Zetergeſchrei. Zwei Auffäte des Jahrgangs 1777 ‚mögen deutlich machen, wie die obengenannten Mfurpatoren der Rechte des Volks und des Katfers gereizt werden mußten, wenn Dinge ans Licht kamen, wodurch die Aufmerkfamfeit des der Form nach noch be= ſtehenden Reichs auf fie geweckt ward. Man findet nämlich im fiebenten Hefte eine Notiz über die. Coneubinen der geiſtlichen Herren in Münfter im Sabre 1740, und in eben dem Hefte ge— naue Nachricht yon der ganz originellen Beſetzung eines deutſchen

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Hofgerichts. Bei letzterer iſt freilich der Name des Landes und der Perſonen nicht genannt; doch verbürgt Schlözer in einer bei⸗ gefügten Erklärung die Wahrheit der Thatſache.

Im Jahrgange 1778 findet man ſchon, ſowohl in den darin abgedruckten, Schlözer mitgetheilten Aufſätzen, als in den kürzeren Correſpondenznachrichten vortreffliche Winke über das Bedürfniß einer freieren Preſſe. Es wird nachgewieſen, welchen Nachtheil Unterthanen und Regierungen dadurch erlitten, daß alle öffent— lichen Angelegenheiten gleich den Geheimniffen dev Myfterien nur in tiefer Stille getrieben wurden; dies gilt fowohl von den vielen Heinen und größeren Herren als von. den Städten. Dadurch ward dann freilich das Gefchrei vermehrt; aber der Einfluß und der Abſatz des neuen, in einer ganz neuen Weiſe vedigirten Jour— nals nahm in eben dem Maaße zu. Wie e8 übrigens damals mit dev pertodifchen Brefie von Deutfchland fand, und welchen Ruhm Schlözer deßhalb verdient, daß er in jener Zeit freimütht- ger zu fein wagte, als vielleicht gegenwärtig irgend jemand in feiner. Lage rathſam finden möchte, fieht man daraus, daß er ſelbſt erflärt, auch ermweisliche Thatfachen dürfe er nur mit großer Borficht aufnehmen.

Wie wohlthätig indefjen auch der bloße Schatten einer freien und öffentlichen Rede über Staatsangelegenheiten in Deutſchland ſchon nach wenigen Jahren geworden war, ſieht man vorzüglich aus dem Jahrgange 1780. Man findet in dieſem das Aften- ſtück, deſſen Mitthetlung den Züricher Rath, welcher feine bürger— liche Dligarchte befanntlich weit harter übte, als der Berner feine adelige, jo jehr gegen den Einſender erbitterte, daß er hernach

diefen (den Pfarrer Wafer) wegen Entwendung anderer Urkun— den, welche zwar ftrafbar, aber doch Fein Todesverbrechen war, hinvichten ließ. Die Züricher Hatten ſeit diefer Zeit an Schlöger den furchtbarften Feind, der allerdings gegen die Art Ariftofratie, welche dort beitand, ſehr erbittert war, wie er and in feinem Kampfe mit den holländiſchen Patrioten bewies. In demfelben Bande findet man auch die, juriftifche DVertheidigung Bahrdts, blos in Beziehung auf die Rechte proteftantifcher Reichsbürger gegen das verfaſſungswidrige Verfahren des Fatferlichen Reichshofraths, fer= ner Auffäte über den Innern Zuftand deutſcher geiftlicher Stantenz

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über Prager Cenſur und: Ingquifitionz über den ſächſiſchen Adel und über die hefienenfieliche Regierung; endlich über die Innern Berhältniffe der Univerfität Gießen. Im folgenden: Jahre erklärte ſich Kaiſer Joſeph ſehr vortheilhaft über den Krieg, den Schlözer fortdauernd mit den Jeſuiten und Exjeſuiten führte, und über ſeine Rügen geiſtlicher Mißbräuche, wodurch die kleinern geiſtlichen Fürſten dagegen heftig gereizt wurden. Der Biſchof von Speier war ſo erboßt über den Spott, der ſeine aus dem Mittelalter ſtammenden Rechte, wie er es nannte, getroffen hatte, daß er ſich erſt nach Hannover, dann 1782 geradezu nach London an König Georg II. ſelbſt wandte, aber beide Male ohne Erfolg, Weil der König höflich auswich, wandte fich der Bifchof wegen der Artikel, die er Schlözers frevelhaftes Beginnen nannte, Durch ein Rundſchreiben an ſämmtliche Deputirte am Neichstage, aber auch dieſes ohne Erfolg.

Dom Fahr 1782 erhielt der Briefweehfel den Titel: Staats— anzeigen, und gewann zugleich an Ausdehnung und Bedeu— tung. Die Stantsanzeigen wurden gewiſſermaßen ein Magazin son Nachrichten aus ganz Deutfchland über alle einzelne Staaten und Städte, das zeigt ſchon ein flüchtiger Blick auf die Jahrgänge son 1784—1786, es geht aber ganz beſonders aus den unzähli— gen. Klagen und Befchwerden der Regierungen über Schlözer herz vor, Die Befchwerden trafen keineswegs feine Bemerkungen, fon- dern man: wollte das, was gejchehen war und durchaus nicht ges laugnet werden konnte oder auch geheim gehaltene, dem Bolfe gün— jtige Aftenftücfe nicht bekannt gemacht haben, Das Letztere ver- droß die Obfeuranten Baierns, als Schlöger Die Acten eines ſchmählichen Criminalprozeſſes drucken ließ. Der Kurfürft Hagte in Hannover; man klagte in Darmſtadt, als die Staatsanzeigen einen Darmſtädtiſchen Jagdetat bekannt machten, der zufällig ge— rade in dem Augenblick nicht mehr geltend war, aber doch kurz vorher gegolten hatte. Uebrigens war freilich Schlözer als poli— tiſcher Schriftſteller höchſt einſeitig und nicht gerade durchaus un— beſtechlich, wenn man ihm gleich nicht ganz grob mit der Beſte— chung kommen durfte. Geld, eitle Ehre, ein Orden, ein hohes Lob vermochten oft ſoviel über ihn, Daß er ſich ſelbſt zu täuſchen ſuchte, um nicht lügen oder blos Andere täuſchen zu dürfen. Man

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bemerfe nur, wie er in den polnifchen und türfifchen Handeln ſo ganz anders verfährt, als in den nordamerifanifchen und hollän— difchen. Seine ganze Stellung und fein Berhältnig zu Rußland, wie das Buch, in dem er den Ludwig Ernſt von Braunſchweig, der aus Holland fortgejagt ward, zum Phocion machte, beweifen wenigftens, daß er ſehr ſchwache Seiten hatte,

Steichzeitig mit Schlözers neuem Briefwechjel (um 1776) entitand das deutſche Mufeum, welches der neuen Literatur auf Ähnliche Weiſe beftimmt fein follte, wie Schlözers Staatsan— zeigen dev neuen Politif, Es iſt unſtreitig die befte Zeitfchrift für das größere Publikum, welche je in Deutichland erfchtenen ft, denn, wenn auch die fpäter in Jena und Weimar unter Göthes und Schillers Schub erfihtenenen wichtigere Arbeiten ind Publi— fum brachten, jo beweifet doch die jetzt gedruckte Gorvefpondenz der Unternehmer, daß mehr Abfichtlichkeit und. buchhandlerifche Spe— eulation dabei war, In dieſem Mufeum haben unfere beffern Proſaiſten und auch einige Dichter die erften Proben ihrer Ar— beiten mitgetheilt und diefen dadurch hernach eine weitere und Veichtere Verbreitung verfchafft. Die verfchiedenen Jahrgänge dies ſes Mufeums. bilden daher gewiffermaßen eine chronologiſche Ue— berficht der Bemühungen der Männer, welcherunfere Literatur und Sprache auf den Bunft zu bringen fuchten, auf dem fich die eng— Yifche und frangofifche fchon fett einem halben Jahrhundert be- fanden. Die Unternehmung dieſes Muſeums gehört zu Dohms Berdienften um Deutfchland und um die deutfche Literatur, Dohm theilte die Leitung deffelben mit Bote, der durch dieſe Redaktion für unfere Profa auf Ahnliche Weife thätig ward, wie früher in Göttingen durch die Anftalt dev jährlich erfcheinenden Muſenal— manache für die leichtere Poefie. MS Dohm hernach durch Staats— geichäfte der Literatur auf einige Zeit entzogen ward, leitete Bote allein das Mufeum, welches für den Kenner immer noch feinen - Werth hat, was von wenigen Zeitjchriften gejagt werden kann, bejonderd da jetzt die bedeutenderen Aufſätze alle vermehrt und ver⸗ beſſert einzeln gedruckt ſind.

Die innige Freundſchaft, welche vom Strande der Oſt- und Nordſee, bis zu den Gränzen Italiens alle die Männer, welche damals unſere Nation und ihre Literatur von der Barbarei und

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dem Despotismus der Pfaffen und Pedanten, son den elenden Gabalen, Ramaraderien, dem Handwerksgeiſt und der Gemeinheit der Univerfitäten befreien wollten, und, ohne fich perfünlich zu fennen, im geheimen innigen Bunde fanden, evleichterte Bote und Dohm das Unternehmen, nur Borzügliches dem Publikum perio- difch darzubteten. Beide Unternehmer genoffen einer allgemeinen Achtung in Deutfehland und verbanden mit einen gereinigten Ge— ſchmack und mit vielen und vielfeitigen Kenntniffen einen richtigen praktifchen Takt, dev unter unfern Gelehrten viel feltener ift als die erften beiden Gigenfchaften. Dies gilt freilich, wie das bei Zeitfehriften, auch befonders wegen der Natur des Titerarifchen . Treibens, nicht anders fein kann, vorzugswelfe nur son den er= ften Sahrgängen, bei welchen Bote und Dohm gemeinfchaftlich über die Aufnahme der Auffäse wachten Man fieht aus der Wahl, die fie trafen, deutlich, daß fie den Geſchmack umd den. Verſtand des großen Iefenden Publikums bilden, es aber auch zu= gleich durch; Abwechſelung und genaues Anfchmiegen an das Be— dürfniß dever, die nur allein Unterhaltung in der Lectüre fuchten, gewinnen wollten. Die Richtung, die Bildung, die Denfart der Berfaffer dev gefammelten Aufſätze ift daher verfchieden und oft gerade entgegengefegtz aber in einem Punkt, Moralität und Gifer für die geiftige Wiedergeburt der Natton, für die Befreiung der Jugend von aeademifcher Rohheit und für Achte und gründliche Geiſtesbildung kommen alle überein,

Schon aus dem Negifter der einzelnen Auffäge würde man jehen, daß nach einander Proben dev Arbeiten von Göthes Freund Lenz, der ſchon damals feine Gentalität über die Schranken jeder Art Regel, nicht blos über die der pedantiichen Regel hinaus trieb, mit philofophifchen Auffäben von Feder, von Campe, von Lavater abwerhfeln. Neben Lichtenbergs geiftreichen und witzigen Briefen aus England darf auch Zimmermann, damals ein belieb- ter Schriftiteller, ein Ding, das er Philofophie nennt, auskramen. Auch ſtaatswiſſenſchaftliche und ftantswirthfchaftliche oder ftattftifche Gegenftände wurden darin, foweit fie dem großen Publikum durch DBortrag angenehm gemacht werden können, son Männern wie Dohm, Jacobi, J. G. Schloffer behandelt, und die belchrende Profa wechſelt ab mit Proben aus Gedichten von Bürger, von

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Claudius, von den Stolbergen, von Voß. Daß auch Meißner und Sprickmann und Andere nicht gerade klaſſiſche Schriftſteller ſpäter oft erſcheinen, lag in der Natur des Journalweſens und einer einmal begonnenen Unternehmung, die nicht ſogleich aufge— geben werden kann.

Die Göttinger Profeſſoren ſogar hielten es für nöthig, von der gegen fie erhobenen Beſchwerde, daß fie, in ihre Katheder— weisheit verliebt, weder etwas von Fortfchritten dev Zeit, noch von Bolfsliteratur willen wollten, an das große Publifum zu appel- liren. AS das Refultat des Entfchluffes der Göttinger Gelehr- tenariftofratie auch ihrer Seits mit dem Publikum in Verbindung zu treten, betrachten wir das von Georg Forfter und von Lich— tenberg unternommene Göttingenſche Magazin der Wif- fenfchaften und der Literatur. Auch von diefer Zeitfchrift gilt dafjelbe, was wir vom deutfchen Muſeum bemerft haben, daß es auch jett noch, wo die mehrſten Aufſätze an andern Orten und zu andern Heiten gedruckt find, als eignes Wert Werth hat. Die fammtlichen Göttinger vornehmen Profeſſoren haben übrigens felbft, zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar durch Lichtenberg er— Färt, daß ihr Magazin beftimmt ſei, dev neuen Anficht des Les bens den Weg zu bahnen. Das Magazin follte nämlich die Le— jer überzeugen, daß biefelben Männer, welche oft ihre Abneigung gegen die herrichende, abgeſchmackte Empfindfamfeit ſehr ſtark äu— - Berten, die tolfe Genialität der Kraftgentes verfpotteten, den Bom— baft der Lavater und Gonforten bitter und mitunter überjcharf ver— höhnten und die Frömmelei der Schule Klopſtocks nicht Für Re— ligionseifer anerkennen wollten, doch auf der anderen Seite für die wahren Berbefferungen, welche die Zeit fordere, eben fo mu— thig zu Fampfen im Stande feien, als Schlöger that. Das Ma- gazin follte nicht polemifch, nicht direkt die Göttinger gegen den Borwurf vertheidigen, daß fie artftofratifch nur eine privilegirte, nur eine Univerfitätsbildung, Wiffenfchaft genannt, ausſchließlich fördern und treiben wollten, fondern die Aufſätze follten zeigen, daß fie fich popularifiven könnten, fie follten einzelne Stücke der Wiſſenſchaft der Vrivilegirten dem ganzen Bolfe zugänglich machen.

Alle Göttinger Profeſſoren, die ſichs einigermaßen zutrauten, im Geiſte ihrer Zeit, im Style und im der Sprache, welche in

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den letzten zwanzig Jahren ſich gebildet hatten, ihre Wiſſenſchaft unmittelbar dem gebildeten Publikum mittheilen zu können, liefer— ten Beiträge zu dieſer dem Wimmern und Faſeln und Liebeln und Frömmeln der Zeit eine verſtändige und dabei unterhaltende Be— lehrung entgegenſetzenden Zeitſchrift. Unter denen, die in dieſer Abſicht arbeiteten, durfte Leſſings Freund, Reimarus, nicht fehlen, und er lieferte auch wirklich Beiträge. Daß das Magazin in der angegebenen Abficht unternommen wurde, geht nicht blos daraus hervor, daß man das Format des Fleinften Octavs wählte und ur dünne Hefte ausgab, ſondern Lichtenberg erklärt fich darüber in der Vorrede zum zweiten Jahrgang beftimmt und ausdrücklich. Er fagt dort, die Herausgeber wollten dent deutſchen Bublifum eine Lectüre fchaffen, die nicht läppiſch, wie die zahlreichen un— terhaltenden Zeitſchriften, fondern unterhaltend und belehrend zu— gleich fei, ohne jedoch Die Lefer zu ermüden. Der Styl, ſo fahrt er, dar Mitarbeitern ihre Aufgabe leiſe andentend, Fort, foll zwar feicht, aber doch immer ernste Profa, weder fades Gewinfel noch leerer Bombaſt fein,

Lichtenberg und Forfter hielten in der That Wort, was bei denen, die dergleichen Unternehmungen als Geldfpekulatton betrach-⸗ teten, wie ſelbſt Wieland that, bekanntlich nicht oft der Fall zu fein pflegt. Ein großes DVerdienft war es, daß diefe Männer, welche ein. von Bafedow und Campe erzogenes Gefchlecht durch ihre Wiffenfchaftlichkeit Hätten abſchrecken können, fich herabließen, durch die That zu zeigen, daß fie praktiſch tüchtiger und lehrend unterhaltender feien, als die gerühmten Educationsräthe und die jentimentalen Bicherfabrifanten. Statt dies durch Aufzählung oder Brüfung der einzelnen Aufſätze zur beweifen, was uns zu weit führen wide, wollen wir noch. einige Worte aus der wor: her erwähnten Vorrede Lichtenbergs zum zweiten Sahrgange ans führen, und dann einiger, entweder wegen ihrer Verfaſſer oder wegen ihres Inhalts merkwürdiger Aufſätze im Vorbeigehen ge— denken, Lichtenberg nämlich dankt dort für die gütige Aufnahme, welche feine als Oppofitton gegen das modifche Fafeln zu betrach— tende Zeitfchrift beim Publikum gefunden Habe und ſpricht fich bei der Gelegenheit über den Geiſt derfelben in folgenden Wor- ten aus: „Es gelte denjenigen Leſern, über: deren altdeut—

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ſchen Ernft undaltdeutfchen Geiſt der filberne Mond jo wenig vermocht habe, daß fie ein nicht empfind- james Journal zum Zeitvertreibe lefen, und eine u. ſ. w. Die Einrichtung, fügt er hinzu, wird in dieſem Jahre größ— tentheils diefelbe bleiben, doch werden wir fie einigermaßen dahin abändern, daß wir Die durchaus bleibende Abſicht, zu belehren, mit fo viel Veränderung im Aeußern zu verbinden fuchen werden, als fie nur immer verträgt. Wir werden daher ſelbſt Gedichte nicht mehr ausſchließen; allein wie es fich wohl von ſelbſt veriteht, nur folche, Die den Titel unferes Jour— nals, welches Wiſſenſchaft verfpricht, wenigſtens nicht ganz Lü— gem ſtrafen.“ y |

Was die einzelnen Auffabe und ihre Verfaſſer betrifft, fo wird man auf den erſten Blick wahrnehmen wie genau das Ver— fprechen gehalten wird, dem &lenden und Faden der Journale jener Zeit‘ etwas Gutes und Solides entgegen zu ſetzen; man wird nämlich feine Lückenbüßer darin antveffen. Ein kurzer Auf- fat über Gradirwerfe und einer über Hütten= und Bergweſen in dev Pfalz konnen nämlich dem Phyſiker, der das Journal redigirt, nicht als Aufnahme eines Lücenbüßers angerechnet werden. Was die Hauptfache angeht, die Gelehrſamkeit und Univerfitätswifjen- Ichaft dem Volke durch Leichtigfeit der Form nahe zu bringen, um es von Marktichreiern, Ignoranten und Schwätzern, oder von Leuten, die Bücher gleich Schuhen auf den Kauf machen, zu ent= fernen; fo erfcheinen gleich im erften Jahrgange nach und neben einander Feder, Erxleben, Blumenbach, Meifter und mit ihnen zugleich der hernach mit Lichtenberg als einem Streiter für Hey— nes Sache tödtlich entzweite Voß. Auch Pütter ſchließt fich au jeine Kollegen dadurch an, daß er in einem jehr faplichen und doch ſehr gründlichen Auffab über die Rechtmäßigkeit der ZahlenIotterien feine armen deutfchen Landslente belehrt, wie handlich siele unter ihnen von ihren Negterungen betrogen wür— den. Große und Eleine deutfche Herrn, von ihren Blusmachern, die fich dabei gut fanden, geleitet, hegten damals noch überall die Land und Leute, befonders die ärmeren Klafjen verderbende Spekulation, vor welcher Pütter in dem Aufſatze warntz jetzt find Lotto und Lotterie nur hie und da noch übrig, wahrſcheinlich um

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zu beweifen, dafs die verpachteten Spielbänfe der Bäder und ihre Berpachter nicht allein der Hffentlichen Stimme trogen dürfen,

Lichtenberg felbft erläutert in dem dritten Stück durch einen in feiner Art meifterhaft witzigen Kommentar die zweit Blätter eines komiſchen Orbis Pietus für deutfche dramatifche Schrift ftefler,, Schaufpieler und Nomanendichter, die er von Chodowiecki hatte ftechen laſſen. Im vierten Stücke findet man neben Rei— marus philofophifchem Auffage und Blumenbachs für jedermann, nicht bloß für Naturfundige, höchſt anziehenden Bemerkungen über Federpolypen, Lichtenbergs geiftreiche Fragen an Phyfiognomen. Im fünften Stück fucht fogar der alte gelehrte 3. D. Michaelis einen halb theologifchen, halb Hiftorifchen Gegenftand aus der Rüſtkammer feiner Gelehrfamkeit durch Einfleidung und Form po— pular zu machen. Der Berfuch war wenigftens zur Zeit des Fort- jchreitens und fir daffelbe danfenswerth, obgleich die Sache ſelbſt ſchwerlich jegt die Mühe lohnen würde, wenn etwa unfere in. der— gleichen Dingen das Alte wieder hervorſuchende Zeit darauf zurück fommen ſollte. Er trägt nämlich unter der Form eines Briefs an Schlözer feine Vorftellung von der Ordnung der Zeitrechnung, von der Sündfluth bis auf Salomons Negterung populär vor, Blumenbach behandelt den Gedanken, den er, wie jeder weiß, der ihn gekannt und gehört Hat, für ſehr wichtig hielt, daß durch den von ihm erfundenen neuen Ausdrud: Bildungstrieb (Nisus formativus), ein neues Licht in die Naturwiſſenſchaft gebracht werben Tonne, jo geiftreich, daß der Lefer die Ausführung und das gelegentlich Geſagte gern Kieft, wenn er auch nicht mit Blu— menbach glaubt, daß fich eine unbekannte Sache durch eine andere eben jo unbefannte erklären laſſe.

Im ſechſten Stück findet ſich das Meiſterwerk Lichtenbergs, jein Sendichreiben des Mondes an die Erde, Diefe feine Satyre trifft das Empfindfamfeitsfieber der achtziger Jahre, an defien Stelle jetzt Glaubenseifer getreten iſt. In demfelben Stücke be— weiſet Heyne den Deutſchen die unumgängliche Nothwendigkeit, den Unterricht an gelehrten Schulen von Zeit zu Zeit zu verbef- ſern, dadurch, daß ex den tiefften Verfall deſſelben in einem Lande, wo alle Anftalten für Gelehrte übermäßig reich dotirt find, hand— greiflich macht, Dies iſt nämlich der eigentliche Zweck son Hey-

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nes Abhandlung über die Schulbücher, die in Eton, der berühm— teften Gelehrtenfchule in England, gebraucht wurden. Auch Käftners Aufſatz hängt ganz genau mit dem Zweck des Magazins und mit dem Streben der Zeit, fich von alten Banden frei zu machen, zufammen Georg Forfters Aufſätze über O-Tahiti, wo er vom Elyſium träumte und über Büffons Epochen der Natur gehörten zu den merfwirdigften Stücken der proſaiſchen Literatur jener Zeit, obgleich Falte und erfahrne Männer feinem kühnen Fluge wohl fo wenig zu folgen geneigt fein möchten, als er im Grunde mit dem enthuftaftifch von ihm gepriefenen Büffon übereinftimmt, Dies fchon aus dem Grunde, weil er von wahren, Büffon son kinſtuchen Enthuſiasmus getrieben ward,

Girtanner erfcheint Freilich ebenfalls im erſten Hefte des —* ten Jahrgangs, aber der war ſeiner Zeit eben ſo unvermeidlich und ſo unzertrennlich von den Göttinger Profeſſoren, als der zu ihnen gehörende Meiners. Im einem ganz andern Sinn als Girtanners Fabrikate abgefaßt, find die Aufſätze im zweiten und sterten Stücke dieſes zweiten Jahrgangs, welche den von der Züricherfchen Krämerariftofratie gerichtlich gemordeten Rfarrer Wa— fer betreffen. Dieſen Aufſätzen war schon einer über Wafers letztes Verhör und über feinen rührenden letzten Abfchted non feinen Söhnen, welche fich noch im Kindesalter befanden, voraus— gegangen. Ein W. C. Beder nämlich Hatte die Rolle eines fen- timental frommelnden Sophiſten ziemlich geſchickt zu Gunften der blutigen Züricher Rathsherrn gefpielt, was damals in Deutjchland son einem Deutfchen noch ſehr auffiel, jett unmöglich mehr aufs fallen: konnte, Sondern wahrſcheinlich als Verdienſt ſehr geehrt würde. Er hatte in einem langen, am den jentimentalen Gleim gerichteten, Briefe fophiftifch von Waſers Sache gehandelt, In diefem Briefe ward, wie das jetzt alle Tage gefchteht, der per= fonliche Charakter des Mannes, am dem das durch ‚die Zeit zum Unrecht gewordene Recht ausgeübt war, benußt, um die Obrigkeit zu entjchuldigen, welche am Ende des achtzehnten Jahrhunderts handelte, wie man im Mittelalter zu handeln pflegte. Becker juchte geltend zu machen, daß Wafer ein heftiger, boshafter, im Gebrauch der Mittel zu feinen Zwecken Teineswegs bedenklicher Mann geweſen ſei. Er wollte, wie ſolche Schleicher pflegen, um

Deuiſche Lileralur: Journaliſtil 255

die heftig gegen die Züricher Ariſtokratie exbitterte öffentliche Mei- nung von dev Hauptfache abzuleiten, das Perfönliche sorfchieben, Dieſe Hauptfache war nicht ſowohl Wafers Charakter oder feine Schuld, als vielmehr, daß alle fich gegen das Mittelalter heftig firäubenden Deutfchen mußten, daß es im heiligen römiſchen Neiche viele Städte mit einer Ähnlichen Verfaſſung gebe wie die Züri— cher war, und daß in den erleuchteten und fentimentalen Zeiten der achtziger Jahre ein Staat, den man Republik nenne, eine Gerichtsbarkeit dulde, nach welcher der unglückliche Waſer mit einem Schein Rechtens hatte aufs Schaffot gebracht werden können.

Diefe Hanptfache ift es, die Schlöger gegen den Verbündeten ber Klopftocffchen, Bodmerjchen, Sleimfchen Zartheit in diefem Magazin mit gefunder und gebildeter Berftändigfeit hervorhebt, nachdem er fich ſchon in feinen Staatsanzeigen wiederholt über die Waferfche Angelegenheit erklärt hatte, Er theilt dem Maga: zin einen. Auffa mit, der unftreitig zu dem Bortrefflichiten ges hört, was er überhaupt gefchrieben hat, Dieſer Aufſatz tft in einem Ton und in einer Manier gefchrieben, worin in unfern Tagen Fein hannöveriſcher Profeſſor fchreiben wird oder ſchreiben dürfte, wenn ev nicht als Feind der von Gott eingefeßten Obrig- fett ansgefchrieen werden wollte. Diefer Auffat fteht im vierten Stück neben Käſtners Aufſatz, deffen Tendenz wir vorher im Vor— beigehen berührten, er berichtet nämlich, wie es in Deutjchland herging und noch hergeht. In diefem merkwürdigen Aufſatze hebt Käftner Scharf und treffend bei Gelegenheit son Kepplers Güter— oder vielmehr Armuths-Inventarium hervor, mie Deutfchland mit feinen größten Männern umgeht, wenn fie nicht entweder eine Brodwiſſenſchaft lehren oder treiben, oder nicht in irgend einer Refidenz oder am Hofe zu irgend etwas, was es auch jet, zu ges brauchen find. Was Schlözers gegen Berker elende Sophiftereien gerichteten Aufſatz betrifft, jo führt er die Ueberſchrift: Vorläus fige zerftreute Anmerfungen zu Herrn Beders Schret- ben über Wafern und deſſen Prozeß, Seine Abficht und den Inhalt feines Auffates deutet aber Schlöger ganz * 9* das Motto an:

Verifiet war ſein deutſcher Sinn Von Oligarchenluft.

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Wir würden noch einen Aufſatz über deutfche Literatur im fünften Stück zu denen rechnen Können, welche im Geifte der neuen und erfreulichen Richtung jener Zeit gefchrieben waren, Der Titel Göttingiſches Magazin und Heynes große Bedeutung als Univerfitäts-Diplomat und Politieus für Gpttingens Ruhm trieb aber Lichtenberg, fich in den Streit, den Voß mit Heyne hatte, auf eine ſolche Weiſe zu mifchen, daß die Stellung der Theilnehmer am Magazin gegen die Urheber der neuen Literatur Deutſchlands verändert ward. - Lichtenberg ließ nämlich am Ende des dritten Stücks des Magazins diefes Jahrs eine bittere Ver— jpottung einer allerdings unbedentenden Zänferei, welche Voß an— gefangen hatte, abdrucken. Dies war die Unterfuchung über Die Pronunctationder Schöpfedesalten Griechenlands.

Gelegentlich müfjen wir, bloß Opittlers wegen, denn Mei- ners iſt überall nur als Compilator und Fabrifant anzufehen, noch eined andern Göttingenfchen Magazins erwähnen, obgleich ber Anfang defjelben über das Jahr Hinausgeht, bis zu welchem wir diefe Veberficht der Literatur dies Mal fortführen” wollen, Das Göttingenſche Hiftorifhe Magazin von Meiners und Spittler begann nämlich erſt um 1787. Gleich der. erfte Band des Magazins beweiſet, wie vortrefflich Spittler die Be— Tehrungen, welche die damals beginnenden Vorfpiele der Revolu— tion in Frankreich allen biindlings am Mittelalter lebenden Staa- ten des Kontinents hätten geben follen, wenigftens für Deutjchland zu benugen verftand. Er zeigt gerade in dieſem Magazin am beiten, wie er mit feiner Kenntniß der allgemeinen Gejchichte ein genaues Studium deutjcher Partienlargefchichten in Beziehung auf Derwaltung, Berfaffung, Regierung verband, und wie jehr es zu. bedauern war, daß er fchon im folgenden Jahrzehnt ſich ſelbſt und dem DVaterlande untreu ward.

Was Spittler durch feine Auffäge in diefem Magazin auf jeine Weiſe für das gefammte Vaterland wirklich leiftete, hatte ſchon feit 1784 C. F. von Mofer durch fein Patriotiſches Archiv zu leiften verfucht. Mofer, fo gut feine Abfichten wa— ven, Eonnte ſchon aus dem Grunde das nicht Teiften, was er wünjchte und was die Zeit forderte, weil die Form feiner Reli— giofttät mehr dem fechszehnten als dem ashtzehnten Jahrhundert

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Mofer mußte daher mit einem Jung-Stilling, Hamann, Claudius und andern der Gonfiftorial= Religion treu bleiben und mit fich jelbft in Widerſpruch kommen, da er in einer Beziehung Neues verlangte und mit den Männern, die in Norddeutichland auf Re— form der mit den alten Formen verbundenen Mißbräuche drangen, auf einerfei Wege war und doch auf der andern in der Religion nur Bofitives duldete. Daraus erklärt fich auch das fonderbare Gemifch vortrefflicher urfundlicher Nachrichten, befonders auch über die pfälztiche Gefchichte, kühner und in Deutfchland ganz unerhört dreifter Bemerkungen über Hofe und Beamten, über Gerichte und ‚Kanzleien, über Mätveffen, Finanzen und Regierung der deutfchen Zürften, abwechſelnd mit erbaulichen Discurfen und mit Geſchich— ten, die eher in ein Erbauungsbuch gehörten, als in ein patrig- tifches Archiv.

Daß indeſſen E. 3. yon Mofer, wenn auch von einer andern Seite her und auf eine ganz andere Weiſe denfelben Zweck durch fein Journal zu erreichen fuchte, den ſich Schlöger und Spittler bei dem Ihrigen vorgeſetzt hatten, läßt fich leicht erkennen, wenn man die beiden erſten Sahrgange von 1784 und 1785 etwas genauer betrachtet. Er hat weniger als die Unternehmer der nord— deutfchen Journale Statiftik, diplomatische VBerhältniffe und Staats— wiffenfchaft im weiteften Sinne vor Augen, er fehreibt nicht eigent- lich im Geifte feiner Zeit, da fein Styl, feine Sprache, feine Manier altväteriſch find, allein er will doch auf feine Weiſe re— formiren und alte Ehrlichkeit und Biederfeit zurückführen. Durch feine Laufbahn als Gefchäftsführer und fogar als Miniſter klei— ner deutſchen Despoten war er in die Labyrinthe des Dienſts um Lohn und Brod eingeführt: Diefen bekämpft er in dem Archive durch hiſtoriſche Lehre, ex widerlegt das herrfchende Vorurtheil, daß jeder in einem bejondern deutfchen Staate Angeftellte, jeder beſoldete Beamte weder dem Volke als Bürger, noch der gefamm= ten Nation als Patriot, fondern ganz allein feinem gebietenden Herrn angehöre.

In der letzten Beziehung iſt das Archiv beſonders darum merkwürdig, weil daraus hervorgeht, wie weit man in Deutſchland ſelbſt zur Zeit der erſten franzöſiſchen Nationalverſammlung noch

von der Ahnung des wahren Verhältniſſes der Staatsbürger zu Schloſſer, Geſche d. 18, m 19. Jahrh. IV. Thl. 4. Aufl. 17

258 Deutſche Literatur: Journaliſtik

ihrer Obrigkeit entfernt war. Wir behalten unſeres Zwecks we— gen dieſen Punkt feft im Auges Moſer fchadete aber unftreitig jeinem Zwecke felbft durch die Tangen frommen, oder doch wenig angziehenden Artikel, die ex aufnahm. Unter diefe zähfen wir die gleich vorn herein mitgetheilte lange Gefchichte des Bet-Ernſts, Herzog von Gotha. Trotz diefer Misgriffe wirde von Mofer bie Regterungen auf bie Quelle der Hebel in den veralteten Staaten aufınerffam gemacht Haben, wenn das überhaupt möglich wäre, was wir bezweifeln. Er macht nämlich im Archiv Handgreiflich, daß der, Mangel an wahrem Patriotismus und an edlem, mora= liſchem Muthe gegen innere Feinde und Tyrannen unter uns Deutjchen mit der Befchaffenheit der Univerfitäten und der Ge— lehrſamkeit, mit dem Zunftgeift oder dev Ruhmfucht und Gemein- heit der Profefioren, mit dem ausjchließenden Treiben der Brod- Fächer und der Verwandlung gelehrter Studien in Gedächtnißwerk und Handwerk zufammenhänge Er fügt hinzu, fein Zweck bei feinem Unternehmen ſei durch Aktenſtücke, durch Gefchichten, durch feine eignen Bemerkungen, die Deutfchen aufmerffam zu machen, wie noch immer in Deutfchland eine Behauptung als allgemeiner Grundfat gelte, welche weder mit der Vernunft und Moral, noch mit dev Gefchishte zu vereinigen je. Man halte dafür, jeder An— geſtellte und Staatsbeamte fei unbedingt Diener des regierenden Herrn und als folcher. verbunden, jeden Einfall und jede Laune deſſelben als Geſetz zu erkennen: diefem Irrthum wolle er entge= gen arbeiten, Gr gibt daher auch zu verſtehen, daß er nicht wie Schlözer bloß die Zeitgejchichte im Auge habe, fondern hiſtoriſche und politifche Belehrung der Nation überhaupt. Er wolle einzelne Gefchichten auch aus der früheren Zeit zu dieſem Zweck benutzen. Darüber drückt er fich in der Einleitung ‚in feinem wunderlichen Styl folgendermaßen aus:

„Meine Abficht geht auf wirkliche Belehrung, Befferung and Erbauung, ich ſuche Korn und nicht, Stroh, und ohne Blu— men zu verachten, gilt es mir beſonders um Früchte Bloß hiſtoriſche, bloß ftatiftifche Nachrichten find alſo nicht unter mei- nen MWünfchen und meinem. Sammlen begriffen, noch weniger ſolche Anekdoten und Perſonalien, die nur in die Schand-Chro— nik des Jahrhunderts gehören Gin anderes iſt ein Arzt amd

Deutfche Literatur: Journaliſtik 259

Anatom, ein anderes ein Scharfrichter und Büttel.“ Wie dies Mofer zu bewirken hoffte, wird man befonders aus der Abthei— fung jedes Bandes ſehen, die er Kabinetsſtücke überſchrieben hat. Wie er e8 anfängt, wollen wir an zwei Männern zeigen; durch deren. Schilderung er zwei fir unfere Zeiten, wo wir die Gattung Staats= und Religionsſophiſten zu hunderten entftehen jehen, ſehr brauchbare, Chavakteriftifen gibt. Er fchildert dort zwei jener Menfchen, mie die, welche auch in unfern Tagen Gefchichte, Recht und Religion auf eine folche Weiſe zu wenden und vor— zutragen wiſſen, wie es den Zwecken derer dient, für welche fie Schreiben, Im zweiten Bande zeichnet ev einen liberalen und einen ſervilen oder einen. abfolutiftifchen Sophiften, in der Berfon des baterifchen Juriſten Ickſtadt und des damals (um. 1785) als Gegner des Despotismus und Vertheidiger würtembergifcher Rechte som Herzoge von Würtemberg auf die Feftung geſetzten Schubark Die Sache wird von ihm recht fein durch Sfelins Worte in dem Lichte gezeigt, aus welchem ev wünſcht, dag feine deutſchen Lands— fente ‚dergleichen Sophiften oder in Advokatenmanier ſchreibende Biographen und Hiftorifer, am denen wir Ueberfluß haben, bes trachten ſollen. Der würtembergifche Märtyrer, von 1785, Schu— bart, Hatte nämlich 1776 ein Leben des befannten baterifchen Pu— bliciſten Ickſtadt gefchrieben, der für Katjer Karl VIL die Ver— theidigung der baterifchen Rechte an Defterreich herausgegeben hatte, , In dieſer Schubartichen Biographie war natürlich Ickſtadt weidlich gerühmtz dieſen Punkt hebt Mofer in Beziehung auf beide Männer hervor.

Um die Art Sehriftftellerei und die Gattung Schriftfteller zu bezeichnen, bie jchwarz weiß machten, jagt er, wolle er eine Stelle aus Iſelins Recenfion des erwähnten Buchs anführen, wo— rin feine Anſicht von dergleichen publteiftifchen Schriften ausge: ſprochen ſei. „Wenn diefer Gelehrte, heißt es dort, ſtatt in baieri— ſche Dienfte zu treten, am iwiener Hofe feine Verforgung gefun— den hätte, jo hätte nothwendig für ihn Unrecht heißen müflen, was er als Necht verteidigt hat.” Sollte wohl ein traurigeres Schichſal für einen Mann von Verſtande ſein, als ſich bloß als ein Werkzeug des Eigennutzes und Eigenſinns der anzu⸗ ſehen? 4 ſehr entehrt dieſes nicht die Gelehrſamkeit!! Welche

17*

260 Deutiche Literatur: Journaliſtik.

erniedrigende Sache iſt es nicht, Fein anderes Maaß von Recht und Gerechtigkeit zu Haben, als den Vortheil feines Fürften ? D Süngling, Züngling, der du dich dev Rechtsgelehrſamkeit wid- meft, wirf eher alle Bücher ins Feuer und geh’ und werde ein ehrlicher Schufter und Schneider, als ein Deduftionenfchrei- ber für den, der dich am beiten bezahlt!

In einem andern Artikel des Bandes, Nr, 24, wird unter der Aufſchrift Hofpublieiften das DVerhältnig eines Archivs, welches nicht von einem Neuerer, fondern von einem Nechtögelehr- ten, Staatsmann, furz, von einem mit dem Leben und den Ge— ſchäften befannten Mann alten Schlags unternommen ward, zu den Verhältniffen son Mofers Zeit und zu den Beamten des gewöhnlichen Schlags angegeben. Wir führen die Stelle an, weil Mofer darin die fogenannten conſervativen Brodjuriften ganz tveff- lich bezeichnet, „Die Hofpubliciſten,“ heißt e8 dort, „welche gern unfere deutfchen Reichsſtände zu unabhängigen und unumfchränf- ten Herrn machen und fie von den son ihren Borfahren oder auch von ihnen felbft eingegangenen Landes = Verträgen, Reverſa— lien u. ſ. w. Insmachen möchten, pflegen ihren Hauptgrund darin su feßen, daß die deutſchen Regenten alle nur erfinn- lichen Regterungs-NRechte von uralten Zeiten her= gebracht hätten, ſich auch derenzum Nachtheil ihrer Regierungs-Nachfolger nicht begeben könnten. Die Anterthanen werden von ihnen nicht anders angefehen, als die Anterthanen. orientalifcher Regenten, deren Leib, Leben, Hab und Gut alle Augenblick zum Dienft * deſpotiſchen Landesherrn daſtehen muß.”

WMoſer lehrt hier, was ſich bis auf den heutigen Tag und gerade jetzt vielleicht ſtärker als je bewährt. Moſer, alſo kein Neuerer, Fein ſarkaſtiſcher Satyriker oder Phantaſt, Fein Schwär— mer, ſondern ein trockener, ſteifer, orthodoxer, praktiſcher, hiſtoriſch⸗ juriſtiſch gebildeter Geſchäftsmann alten Schlags berichtet, warum deuſche Beamten ſo ſelten patriotiſche Männer ſind. Sie ſind ſchon im älterlichen Hauſe durch Rede und Beiſpiel ſervil ge— worden, werden auf den Univerſitäten ſehr oft von eiteln, oder platten und gemeinen Profefforen gebildet, leben als Studen— ten in der Kneipe unter Kameraden, die nur von Commers,

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Duell und Anftellung reden, wer wollte da eine Idee fuchen? Wie fünnte man, fragte er, von einem Ginzelnen Patriotismus erwarten, wenn die Mehrzahl feiner Kollegen und alle feine Dbern bloße Fürftendiener" oder Hofleute find? Um zu zeigen, wie gemein angefehene Beamte in Deutfchland ihr Verhältnif zu dem DBolfe und zu ihrer Pflicht zu beurtheilen im Stand find, führt ex ein Gefpräch ein, welches er mit einem Manne, welcher bie perfonifizivte Gemeinheit sorftellt, über feine eigne dreifte Frei— müthigkeit geführt hatte, Wir überlaffen unfern Lefern, das ganze 1781 gehaltene Gefpräch, welches er wörtlich aufgezeichnet hat, nachzulefen, wir wollen nur die Anfangsworte anführen. Schon dieſe beweifen, daß es den Beamten noch. im achten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts Wahnfinn fchten, wenn fich jemand einfallen ließ, gegen feinen Privatvortheil, vielleicht fogar mit Gefahr, für Rechte des Volks, oder eines Theils defjelben nur zu reden oder zu fehreiben, gefchtweige denn zu handeln.

Moſer führt den Reprafentanten des Beamtenftandes feiner Zeit in den erften Zeilen des erwähnten Zwiegeſprächs folgen— dermaßen vebend ein: „Sie werden das juft fo lange treiben, His es ihnen geht, wie es ihrem Herrn - Vater ergangen iſt.“ Darauf antwortet ev: „das würde viel Ehre für mid fein.” Der Andere erwiedert: „Nun jo Hure ich denn zum erften Male, daß jemand eine Ehre darin gefucht Hätte, zwi— ſchen vier Wände eingefperrt zu werden. Moſer antwortet mit Recht: „Hinzugeſetzt, mein Herr, um der guten Sache willen nf, m,”

Der Herr von Göckingk, ausgezeichnet als eins der edelſten Glieder der Nitterfchaft, als Patriot und als Dichter, entwarf faft gleichzeitig mit C. F. von Mofer den Plan eines ganz ausſchließend deutfchen Angelegenheiten geiwidmeten Journals, dem er ben Ti- tel gab: Journal von und für Deutfchland. Auch er wollte veformiven helfen und die deutſche Nation dadurch aus dem Schlummer wecken, daß ev eine Art monatlicher Zeitungen nad) englifchem Mufter einzuführen fuchte, welche über das deutſche Leben und Treiben die Nachrichten enthalten follten, welche man in den elenden politifchen Zeitungen vergeblich fuchte. Das Jour— nal entfprang weder aus einer ſchriftſtelleriſchen, noch aus einer

262 Deuiſche Literatur: Journaliſtik

buchhändleriſchen Speculation, es ſollte, anſtatt daß die elenden politiſchen Zeitungen der Zeit nur ſogenannte Staats— und Hof- gejchichten im Style umd in dev Manier der Hoflakaien vortru— gen, auf eine freiere und unterhaltende Weiſe de innere Ge- fchichte der verfehtedenen deutfchen Provinzen berichten. ME Mu- fter fagt Göckingk ſelbſt, habe er fich das damals fehr gut redi— girte Gentleman’s Magazine gewählt. Wenn er den Redactor dieſes Journals Urban nennt, fo hat er nicht gewußt, was auch) wir erft neulich erfahren Haben, daß dies blos ein angenommener Name (nom de guerre) war,

Göckingk mußte gleich Anfangs erfahren wie ſchwierig es auch für den angeſehenſten und achtbarſten Mann in Deutſchland ſei, irgend eine Art, Oeffentlichkeit zu vermitteln. Es konnte ja durch Mittheilung von Aftenftücen und Nachrichten von dem, was in irgend einem Winkel öffentlich vorgefallen fet, irgend ein in einem Winfel bedeutender Mann oder Beamter verlegt werden, Mit Göckingk vereinigte fich fehon nach einem halben Jahre ein von gleichem Eifer für die Reformation der noch tief im Mittel- after ſteckenden Länder und Städtchen gewiffer Provinzen Dentfch- lands befeelter Mann von Stande, Göckingk felbft hatte aber fo viel Berdruß von dem Fihnen Unternehmen, daß er fehon 1785 ganz zurücktrat und die Sache feinem Freunde überließ. Diefer mit dem Herrn son Göckingk vereinigte Freund war der Domca— pitular und Präſident yon Bibra zu Fulda, der dann feit 1785 das Journal von) und Für Dentfchland, fo viel er nur immer fonnte, freimüthig im Geiſte des erften Unternehmers, fortjekte, Henn wir anführen, was Göckingk von feiner Abficht bei der Einrichtung des Journals fagt, glauben wir auf Die Fürzefte Weiſe zugleich den Inhalt und Geiſt deffelben nebit dem Zuftande und der Berhältniffen Deutfehlands, worauf es fich bezog, bezeichnet zu haben, . Dies ift aber der einzige Grund, warum wir deſſel⸗ ben bier in der doeumentariſchen Geſchichte der innern umd gets ſtigen Berhältnifie Deutfchlands. erwähnen Man wird aus Gö— ckingkls Worten fehen, daß. feine Abficht gerade Perſönliches vors Publikum zu bringen, vortrefflich war, Er wollte nach der Weife, wie im England geſchieht, dasjenige, was vor Fein Tribu- nal gebracht werden, alſo nicht juriftiich bewieſen oder gerichtet

Deutſche Literatur: Journaliſtik. 263

werden kann, vor das. Gericht des unbefangenen Menſchenverſtan— des bringen, Jedermann fah aber, daß der Ausführung große Hinderniffe im Wege ftanden, Wie hätte damals, als unzählige Staaten und Herrn aller Art fih über dem Geſetze glaubten, möglich fein können, was jest nicht gefchehen Fan, wo deren nur zwei und dreißig find?

Göckingk jagt in feiner Ankündigung, er unternähme. fein Sournal befonderd aus dem runde, weil unter der großen Zahl yon Journalen auch nicht eins ſei, wodurch zunächſt Die verſchie— denen, durch befondere Negenten, Regierungen, Geſetze von ein= ander ganz abgefonderten großen und Kleinen Staaten Deutſch— Yands in Kleinen Borfällen u. ſ. mw. mit einander befannter wür— den, wenigſtens würde diefer Zweck durch andere Journale nur unvollfommen erreicht. Noch bis auf diefe Stunde, das find ſeine Worte, getraut fich faſt Fein Zeitungsfchreiber in feine Blätter ‚einen Artikel über eine merkwürdige Privatperjon einzurücken, wenn der Mann nicht wenigftens ein Reichsbaron oder einer «der erften Bedienten des Staats ift (man fieht, in diefer Nückficht Haben wir neulich jo bedeutende Fortichritte gemacht, daß wir ganz nahe am entgegengefetsten Extrem waren; dem beugt jet Staatspolizet vor), und dennoch iſt eine Nachricht vom Fabrikanten Degen- hard. unendlich interefjanter, al3 die Beſchreibung son Hofſchmäu— jen, Sagden und Bällen. Aber an das Eine find die Leſer ges wohnt, an da8 Andere nicht, Göckingk Hatte übrigens nicht über⸗ ſehen, wie ſchwierig e8 bet den deutſchen kleinſtädtiſchen Verhält— niſſen und bei der Reizbarkeit und Empfindlichkeit, welche Leuten, die in dieſen erwachſen ſind, eigen zu ſein pflegt, ſein werde, ein die Perſonen nahe berührendes Unternehmen zu Stande zu brin— gen und durchzuführen; er jagt In dieſer Beziehung:

„Ss Fame ihm sor, als wenn die deutfchen Schriftfteller auf den individuellen. Menſchen zu wenig merften, und dennoch ſeien Nachrichten, welche diefen angingen, wegen des Eindrucks, den fie aufs Herz machten, die nützlichſten. Es ſolle deßhalb auch bes fonders das Individuum, nicht die Geſellſchaft, der Hauptgegen— fand des neuen Sournals fern, Die mehrften Nubrifen dieſes Journals waren übrigens ſehr unverfänglich. Spekulation war nicht dabei, weil der erſte Herausgeber als ein ſehr reicher Mann,

964 Deutsche Literatur: Journaliſtik.

nicht nur feinen Vortheil davon erwartete, fondern den größten Theil der Koften aus feinem Beutel zahlte. Göckingk eröffnet es jedoch mit einem Artifel, den er, wenn er unter taufenden von - Artikeln hätte wählen dürfen, nicht beffer hätte wählen können. 63 ward ihm namlich eine Gorrefpondenz zur Bekanntmachung mitgetheilt, welche die erſten Blätter der drei erſten Monatöhefte des Journals füllt. In den dort abgedruckten Briefen findet man auf eine höchſt merkwirdige Weiſe den Tächerlichen Stolz der deutfchen Neichsritterfchaft, den närriſchen Hochmuth der Kleinen, mehrentheild ganz neugebadfenen Fürften, und den Ton, den beide Klaffen anzunehmen im Stande waren 27), mit ihren eignen Wor- ten ausgefprochen. Es wird darin ‚zugleich ein originelles Indi— viduum von Siegfried von Lindenbergs Art und Gattung dem Publikum vorgeführt. Das Individuum des Ritterftandes, wel ches fich hier in feinem Tächerlichen Streit mit einen eben fo ori=

47) Bon diefer Seite hat von Göckingk die Sache aufgefaßt, und wir glauben die Beziehung der Briefe auf ihre Seit und auf die Menfchen jener Bett nicht beffer andeuten zu können, als wenn wir die Worte abfchreiben, welche Göckingk den Briefen vorausfhidt. Die Höfe und der Adel, fagt er, haben einigen Streitigkeiten der Gelehrten bisher mit eben dem Vergnügen zugefehen, womit der Hof und die Edlen in Madrid den Stiergefechten bei- wohnen. Das fteht ihnen nun vielleicht eben nicht zu verdenken; allein, daß viele unter ihnen den Wahn zu haben feinen, als ftritten fich blos bie Ge— lehrten mit der Feder auf die Art, als es gefihehen ift, darüber muß man fi bilfig wundern; denn ihr Gedächtniß muß ihnen einen ſchlimmen Streich geipielt haben. Frellich werden die Streitfehriften der Großen und des Adels nicht immer gleich gedruckt, wie es aus einer sieljährigen Gewohnheit unter den Gelehrten gefhieht: allein fie find demungeachtet befannt genug. Sie interefjiren aber nur einen Heinen Theil des Publikums, weil fie felten ober nie mit der Literatur etwas zu thun haben und die Parteien felten oder nie außer ihrer Provinz befannt find. Dann fucht er ausführlich die Gelehrten wegen ihrer Streitigkeiten und wegen ihrer heftigen Streitſchriften zu recht: fertigen, und ſchließt endlich Ich weiß Fein befferes Mittel, das Borurtheil und den böfen Leumund, worin in diefem Stüde die deutfchen Ge— Yehrten bei den Großen und bet dem Mel ſtehen, etwas zu ſchwächen, als wenn ih ein Halbes Dutzend Betfpiele gebe, daß gerade zu der Seit als fie fo viel Antheil an einigen Streitigkeiten deutſcher Gelehrten nahmen, mitten unter ihnen dergleichen sorgefallen find. Der folgende Briefwechfel zwiſchen einem deutfchen Prinzen und einem beutfchen Baron, der zu Genf und an mehren Orten in Abſchrift Herumging, mag den Anfang machen,

Deutfche Literatur: Journaliſtik. 265

ginellen und drolligen Mitgliede des Fürftenftandes ſelbſt dem Spott preisgibt, war der kurkölniſche Geheimerath Freiherr von Münfter-Landegge, der fpäter den im erften Theile diefer Ge— fchichte erwähnten Streit mit dem Grafen von der Lippe hatte, Der Freiherr von Münſter-Landegge war namlich mit der Tochter einer Gräfin aus altgräflichem Gefchlecht vermählt, Er glaubte durch diefe feine Schwiegermutter, die von Geburt und durch ihre Heirath Gräfin gewefen war, mit den erſten Familien und unter diefen auch mit dem Könige von Sardinien und mit den Fürften von Hohenlohe verwandt zu fein und meldete Daher beiden den auf feinem Gute Landegge erfolgten Tod feiner Schwie— germutter. Darauf ließ der König von Sardinien höflich ant— worten, nahm es mit dev Verwandtfchaft nicht jo genau, Jondern erfreute den Baron durch die Anrede, mein Vetter (mon cousin), mit dem befanntlich auch die königlich franzöſiſche Kanzlei nicht ſparſam war. Wie erbittert ward daher der eingebildete und heftige Reichsbaron, als die kleinen, ſeit 1744 aus Grafen Für— ſten gewordenen Herrn von Hohenlohe-Bartenſtein und Schillings- fürſt, deren ſpannengroßes Gebiet erſt Franz J. um 1754 zum fürſtlichen gemacht hatte, Brief und Verwandiſchaft ablehnten? Sie wieſen durch ein Schreiben ihrer ſogenannten gemeinſchaftli— hen Regierung die Zudringlichkeit des Barons mit Kanzlei-Grob— heiten ab, erklärten, daß ſie von der Vetterſchaft nichts wiſſen wollten und höchſt indignirt ſeien, daß man ſie hochgeborene Reichsfürſten und nicht durchlauchtig hochgeboren (denn Ew. Durch— laucht gebührte ihnen nicht) genannt habe. Ueber das grobe Schreiben des armen Sünders, den ſie ihre Regierung nannten, geriethen ſie mit dem Baron, der ſie herausforderte, in einen bur— lesken Streit. Das Schreiben der Hohenloheſchen Regierung thei— len wir unten aus derſelben Urſache mit, warum es Göckingk ab— drucken Tieß, damit man fehe, wie e8 mit dem Beamtenftande be= ſchaffen war, der dergleichen Meiſterſtücke abſchickte 9 und mit

48) Das Altenſtück Nr. 2, Januar, ©. 7 iſt überſchrieben: „Schrei— ben der Regierung des Fürſten von Hohenlohe-Bartenſtein und Schillingsfürſt an den Baron von Münſter-Landegge. Don dem Chur⸗Cöllniſchen Herrn geheimden Rath und Kammerherrn, Frei⸗

266 Deutſche Literatur: Journaliſtik.

den armen Unterthanen der Siegfriede, denen ſie dienten, weil diefe mehr yon ihnen zu beforgen hatten, als der Freiherr von Miünfter-Landegge. Dieſer war fo heftig erboft, daß er eim förm liches Gartel ausgehen ließ, oder vielmehr wie ein Ritter des Mittelalters, iveil der Fürſt von Schillingsfürft zu alt war, dem von DBartenftein den Handfchuh vor die Füße warf, Es tft ſchwer zu jagen, ob die Herausforderung des Barons 29), oder die Ant- wort des Fürften von Bartenftein lächerlicher und für die abge- ſchmackteſte Art son Rangſtolz charakteriftifcher if, Der Fürft jchreibt unter Andern: Er wolle den Baron Lieber erſt belehren, als gleich den Rath des Fürften von Schillingsfürft befolgen, daß fie namlich beide gemeinfchaftlich ohne weitere Umftände ernſthaf⸗ tere Mafregeln nehmen follten, deren Folgen ihm nothwendig fehr verdrüßlich hätten fein müffen. „Lernen Ste alfo, fahrt er fort, mein Herr, daß ziwifchen dem hohen und niedern Adel jederzeit ein ſehr großer Unterfchted ftattgefunden hat, ein Unterfchted, der bi8 auf diefen Tag son dem ganzen Reiche und feinem Ober- haupte jelbft bei jeder Gelegenheit anerkannt wird, Lernen Sie, daß, wenn gleich ein guter, alter Adel, von welcher Art er. auch fet, alle Achtung verdient, doch dev Rang eines regierenden Für— jten und Reichsftandes ungleich höher, edler tft und gar Feine Gleichſtellung mit geringern Klaſſen zuläßt, Lernen Sie, daß der Rang eines Fürften oder Neichjtandes feine Ehre über jede Beleidigung hinaus und in Sicherheit ſetzt, die ein anderer als

bern von Münfter-Landegge feynd d. d. Landegge bet Münfter den 18. März a c an Serenissimorum .nostrorum zu H. und W. Hochfürſtliche Durd- lauchtigkeilen, zwei Notificationsfchreiben unter ganz befremdeten und unge: wöhnlthen Titular, Courtoiſie und Offert eingelauffen. Obſchon nun Sere- nissimi fothane in aller Rückſicht unſchickliche Zufchriften aus befonderm Me- nagement nicht remittiren, fo haben Höchſtdieſelben ſich jedoch dergleichen Cor⸗ reſpondenzen verbitten laſſen wollen. Welches man auf erhaltenen gnädigſten fpertal Befehl dem Herren geheimden Rath ohnverhalten follen.

49) In welchem Tone die folgende Gorrefpondenz mit dem Fürften ge⸗ führt ward, geht ſchon aus den erſten ZSeilen von Ro. 3 hervor. Erlau: ben Sie mir, das Geſetz, wortn Ste mir alle weitere Eorrefpondenz verbie- ten, und welches ſechs Fuß weit von dem Thron, vor dem es geſprochen wor⸗ den, ohne Zweifel fehr reſpectabel tft, außer dem Heinen Zirkel aber, den ihm die Natur anweiſet, fehr luſtig tft, noch einmal zu übertreten u. ſ. w.

Deutfche Lileratur: Journaliſtik. 267

ſeines gleichen ihm anthun könnte, war er auch hundertmal ein Edelmann, hätte er auch noch ſo ſehr ein Recht ſich zu beſchweren.“ Da der Brief von Anfang bis zu Ende in dieſem Ton abgefaßt iſt und alle folgenden Briefe des Barons in einem ähnlichen den Rang der Ritterſchaft zu behaupten ſuch— ten, ſo ſieht man, wie gelegen der Briefwechſel den Unternehmern des Journals kommen mußte, um Vorſtellungen lächerlich zu ma— chen, welche ſchon jene Zeit für veraltet hielt, weßhalb man ſich jet vergeblich bemühen wird, fie dev unſerigen wieder aufzu— dringen.

Im übrigen iſt die Verbindung von Zeitung: Wochen oder vielmehr Monatsblatt für das ganze Reich, mit einem Journal, welches gemeinnützige Abhandlungen enthält, fonderbar, aber doch nicht gerade widerfprechend, und wenn Proben von Bürgers Ue— berfeßung einer Ilias in Herametern eingerückt werden, fo war das nur ein Dienft, ‚den ein Dichter dem andern erzeigte, Da bei der damaligen Neichgeinrichtung und den beftehenden Reichs— gerichten nicht daran zu denfen war, daß der Gegenftand, der den englifchen Zeitungen ein befonderes Intereſſe für den Forfcher des häuslichen. und bürgerlichen Lebens gibt, in den Zeitungen erwähnt werden dürfe, jo ward dies Journal gebraucht, um wich— tige Prozeſſe nicht blos den Juriſten und Publiciſten, fondern dem großen Publikum mitzutheilen, Es fanden fich in demfelben die Derhandlungen am Reichstage zu Regensburg, merfwirdige Pro- zeffe beim Neichshofrath in Wien und beim Neichsfammergericht in Wetzlar. Man fieht, daß fehon damals empfunden ward, was unferem Volke im Bergleich mit den Völkern abgehe, welche öf— fentliche Verhandlungen umd öffentliche Gerichte haben. Es mwa= - ven damals zwei. dem angefehenjten Adel angehörende Männer, welche den Verſuch machten, auch die Deutfchen in den Stand zu jeten, ihre Rechte und Gefete aus den Gefchäften des Lebens und aus den gerichtlichen Handeln kennen zu lernen.

Der raſche Gang der franzöfifchen Revolution hatte hernach auf dem rechten Aheinufer bis zur Zeit des franzöſiſchen Kaiſer— reichs eine hemmende und ftörende Wirkung. Es verbreitete fich eine conjerpative Angft über Fürften, Adel, Privilegirte und über die tonangebenden Gelehrten, die in Deutfchland immer den Ne-

268 Deutfche Literatur: Journaliſtit.

gierungen voraus zu eilen fuchen, während fie in London und Paris menigftend warten, bis man fie zu gewinnen fucht, was dann freilich nie ausbleibt, Die beiden Hauptorgane der Deffent- lichfeit in politifchen Dingen, Schlözers Staatsanzeigen und das Journal von und für Deutichland, Fonnten daher auch dem Ein- fluß der Bewegung, welche in eben dem Maße in Deutfchland heftig rückwärts, als in Frankreich unverftändig vorwärts ging, nicht widerftehen. Um die Zeit, als auf dem linken Rheinufer die franzöſiſche Freiheit mit Jubel begrüßt ward, mußte jedes Or— gan der deutfchen Volfsfreihett vor dem Toben der Feudalität ver- ſtummen; fowohl Schlözers Stantdanzeigen, als das Journal von und für Deutichland hörten auf. Schlözer hatte übrigens Ton und Manier ſchon längſt geändert, das wird man aus den Hef- ten des Jahres 1793 fehen, welche lauter ganz unverfängliche Artikel enthalten. Der Aufſatz, an dem die Staatsanzeigen ei= gentlich feheiterten, ging die Politik gar nicht an, ſondern betraf eine perfünliche Angelegenheit Schlözers, wobei er fich der über— mäßigen Heftigfeit feines Teidenfchaftlichen Charakters überließ,

Gefchichte Des achtzehnten Jahrhunderts. Vierter Zeitraum.

Vom Abfall der Nordamerikaniſchen Provinzen von England bis 1788.

Erſtes Kapitel.

Zeiten des Nordamerifanifchen Kriegs bis auf des jüngeren Pitt Minifterium, um 1784.

$. 2

England, Frankreich, Spanten bis auf die bewaffnete Neutralität,

Während das Schiekjal des Kriegs auf dem feſten Lande son Amerika durch den unglüclichen Ausgang der Unternehmungen der Engländer in den fühlichen Provinzen dev vereinigten Staaten unwiderruflich entſchieden ward, dauerten die inmern Unruhen in England ſelbſt fort, weil das Minifterium North die üffentliche Meinung gegen fich hatte. Was den Krieg felbft angeht, fo kann man nicht läugnen, daß nicht blos die Mehrheit der Barlaments- glieder, fondern alle Engländer alten Schlags durchaus für Smwangsmaßregeln gegen die Amerifaner oder für den Krieg ge= ftimmt waren, weil fie die Amerikaner als Rebellen betrachteten. Daß gleichwohl die Minderzahl, welche den Amerifanern nicht abgeneigt war und welche die beiten Köpfe der Nation und die ausgezeichnetftien Männer im fich begriff, nach und nach Einfluß im Volke erhielt, muß man allein daraus erklären, daß der Meber- muth und" der Stolz der nur an Steg und Gewinn gewöhnten Engländer in diefem Kriege fo ſehr viele Demüthigungen erfahren mußte, Selbſt der Herausgeber der neuften Sammlung son

270 England, Frankreich, Spanten, von 1776—1781.

Aktenftücken zur Gefchichte dev ſtolzen Oligarchte, welche England vegtert, aus welcher wir hie und da einen Wink entlehnen wer— den, gefteft dies, mittelbar wenigſtens, ein. 50)

Im Jahre 1776 erhielten die Minifter, Die darauf antrı= gen, mit deutfchen Miethlingen einen Krieg in Amerika zu führen und zugleich eine bedeutende Geldverfchwendung Für die Fönigliche Familie und für verfchtedene deutſche Fürſten, deren Truppen man nöthig hatte, in Vorſchlag brachten, eine folche Mehrheit der Stimmen im Parlament, daß die Oppofition ihr eine Zeit- lang ganz das Feld räumte. Weil durch Widerfpruch nichts aus— zurichten war, wollte man wenigftens die Aufmerkſamkeit des Volks dadurch vege machen, daß die bedeutendſten Summen bei faft leevem Haufe und ohne längere Debatten bewilligt wurden, In dieſer Zeit erſchien Lord Chatham, Teidend und auf zwei Krücken geftüst im Oberhaufe, um dort feine Beredfamfeit gegen das Minifterium zu richten; er erfchöpfte fich vergeblich, Weder Rockinghams Verwandtichaft und Bekanntfchaft unter den Pairs, noch die rednerifchen Gaben eines For und Burfe im Haufe der Gemeinen konnten den Rechten der Vernunft gegen Verjährung Gewicht verfchaffen, obgleich diefe in jener Zeit auch fogar von Burke vertheidigt wurden, der fünfzehn Jahre nachher fo heftig dagegen eiferte.

Die engliſchen Miniſter wurden durch die Zuſtimmung der Landjunker Englands und durch die erhandelte Majorität im Par— lament ſo brutal, daß ſie ſich ſogar herausnahmen, eine Sprache zu führen, die man nur von den Fürſten des Continents, oder von der Berner und Venetianer Ariſtokratie gewohnt war.) * erklären in Beziehung auf Amerika und auf die dort ver—

50) Memoirs of the court and cabinet of the Third, from original family documents, by the duke of Buckingham and Chandon, J two Volumes. London. 1853. gr. 8: f 51) So daring and desperate, laäßt ‚der Minifter den König fagen, is the spirit of the American leaders, whese object has only been do- minion and power, that they have now openly renounced all allegiance to the crown, and all political connection with this country, they have rejected, with eircumstances of indignity and insult, the means of con- ciliation held out to them, and have presumed to set up their rebellious confederacies as independent ‘states. We. 3

England, Frankreich, Spanten, son 1776-1781. 971

Fündigten Lehren und Grundſätze, daß es den Engländern, die fich beim Alten wohl befanden, zufomme, auch bei andern das Alte aufrecht zu erhalten, ‚oder nad den Worten, die fie. dem Könige in den Mund legen, daß ihre Sache die der fammtlichen alten Regierungen ſei. Ste laſſen ihn namlich das Lied fingen, welches man auf den Gontinentaleongreffen zu fingen pflegt: Daß, wenn man dulde, dag das, was fie Verrath ber Amerikaner nennen, Wurzel faffe, aus dieſer Wurzel nothwendig viel Mebel für das ganze im Europa herrſchende Regierungsſyſtem entfprießen müſſe. Das Meinifterium benußte daher auch den Augenblick, als die englifchen Angelegenheiten in Amerika gut fanden, als- dev Angriff auf Canada mißlungen war, als Walhington aus Philadelphia gedrängt war und Bourgoyne von den canabdifchen Seen her gegen Newyork vordrang, um Geld in des Königs und der fparenden Königin Kaffe aus dem Beutel des Volks zu holen, Sie forderten nee Summen für das königliche Haus, obgleich fich das englifche Volk ſchon längſt dariiber befchwerte, daß das Mintfterium North und der König fih auf Unfoften des Volks ftet8 unter einander gefällig wären. Jedermann ſah, daß dieſer Augenbli der allerunpafjendfte ſei, die Gipillifte zu erhöhen, und dennoch gewährte das Parlament im April 1777 nicht blos fieben und eine halbe Million Gulden vorgeblicher Schulden eines Kö— nigs, der nebft feiner Gemahlin mehr einer übertriebenen Spar— - famkeit, als irgend einer Verſchwendung angeffagt ward, fondern erhöhte noch dazu die jährliche Ginnahme der Krone von einer Summe son eiwa neun Millionen Gulden auf zehn. Dies mar jelbft den genauen Freunden des Miniſteriums, zu denen der Sprecher des Unterhaufes gehörte, ſo anftößig, daß der Lebtere, als er den im Unterhaufe (welches allein über Geldfachen zu ent- fcheiden Hat) gefaßten Beſchluß der Sitte gemäß dem Oberhaufe überbrachte, den König in feiner bei der Gelegenheit gehaltenen Nede ironiſch und ſchneidend an die Unſchicklichkeit erinnerte, fich unter folchen Umftänden Geld von der Nation zu erbitten,52)

52) In a time, ſagie ex, of publie distress, full: of. diſticulty and danger, their constituents labouring under burdens almost to heavy ta

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Ein Miniftertum in England, welches feines Anhangs unter den großen Familien fo ficher tft, wie das Mintfterium North war, kann ruhig feinen Weg gehen, wenn e8 nur conſequent bleibt, und confequent war Lord North unftveitig. Gr ließ daher auch gleich hernach dem Landgrafen von Heſſen-Caſſel eine ganz unverſchämte Geldforderung durchs Parlament gewähren, Zuerſt erhielt diefer noch eine Halbe Million Werbegelder, son denen im Subfidientvattat von 1775 gar nicht. die Rede war, weil man bie Gelder, die man 1755 unter diefem Namen gezahlt hatte, dieſes Mal auf eine andere Weife vergütete. Außer diefer Summe, die ihm offenbar nur als Geſchenk gewährt ward, zahlte man ihm noch eine halbe Million Gulden für die Spitäler im fieben- jährigen Kriege, obgleich ein früheres Parlament diefe Forderung am Ende des fiebenjährigen Kriegs als durchaus unbegründet verworfen Hatte. Schon im April des folgenden Jahrs (1778) ward das Fünigliche Haus aufs neue reichlich bedacht, indem ge— rade in dem Augenblicke, als der Krieg mit Frankreich unver— meidlich geworden war, für die jüngeren königlichen Kinder und für die des Herzogs von Glocefter bedeutende Summen vom Par— lamente aus dem Beutel des Volks gewährt wurden. |

Das Parlament hatte im November 1777 feine Sitzungen wieder eröffnet; im: Dezember mußte Lord North, dem bei der Gelegenheit jene Thräne entfloß, die man die eiferne Thräne genannt hat, die Kapitulation bei Saratoga dem Parlament be= kannt machen und den Schein annehmen, ald wenn er eine Aus- ſöhnung mit den Kolonien wünſche. Lord Chatham im Oberhaufe, For, Burke, der Oberft Barre im Unterhaufe, hatten nämlich durch ihre Beredfamfeit auf die unbefangenen Engländer einen folchen Eindruck gemacht, daß Lord North ein Gaufeljpiel im Parlament zu machen für nöthig und nützlich hielt. So brachte denn im Anfange des folgenden Jahrs (1778) diefer Minifter, von dem

be borne, your faithful commons, postponing all other business, have not only granted to your Majesty a large present supply, but also a very great additional revenue, great beyond example, great beyond your Majesty’s highest expectation; but all this, Sire, they have done in the well grounded confidence, that you will apply wisely what they have granted liberally.

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jedermann wußte, daß ihm die Amerikaner nie trauen würden, eine Ausfühnungsbill. ind Parlament, Die Bill fand von Seiten der Oppofition zwar Hohn, aber einen Widerftand, es ward: eine Gefandtfchaft zur Friedensvermittelung nach Amerika gefchiekt, aber, wie For vorausgelagt hatte, höhniſch zurückgewieſen, weil der Kunfigeiff, die zwiſchen Frankreich und Amerifa angefnüpften Berbindungen dadurch zu foren, doch gar zu grob war. Mebrigens war, als die englifchen Abgeordneten anfamen, dev Bund der Ameri= faner mit Frankreich ſchon abgefchloffen, das englifche Miniftertum war auch längſt davon unterrichtet, fuchte aber diefen neuen Schlag dem Parlamente fo lange als möglich zu verbergen. Es wurden fogar in England für den Krieg, den Frankreich ſchon ſeit zwei. Jahren rüftete, feine Anftalten getroffen, bis Frankreich ſelbſt das Signal gab.

Der franzofifche Minifter in London übergab endlich am 13. März 1778 eine Note, worin er nicht allein den yon Franf- reich mit der neuen Republik geichloffenen Bund anzeigte, fondern auch forderte, daß man von Seiten Englands dem freien Verkehr zwiſchen Frankreich und Amerika Fein Hinderniß entgegenſetze. Diefe Note ward am 17. März dem Parlament mitgetheilt, dann erft ward der englifche Miniſter aus Paris abgerufen und bie nöthigen Anftalten zum Kriege getroffen. Die fett Nov, 1777 gehaltenen PBarlamentsreden jcheinen uns in Beziehung auf bie neuen politiichen Grundſätze bei weiten wichtiger für die Gefchichte jener Zeit, als die erſten Kriegsereigniſſe. Diefe Neden nämlich wurden in Frankreich und in gang Europa aufs gefliffentlichite verbreitet, und mochten auch der Herzog son Newcaſtle und der Marquis von Rodingham im Oberhaufe blos für ein Partei— intereffe reden, jo war das doch weder beim Grafen von Chat- ham im Oberhaufe der Fall, noch bei For, DBurfe, Barre und Andern im Unterhaufe, Lord Chatham befonders griff die Mi- nifter mit einer ganz fehranfenlofen Heftigfeit an, ſtarb aber ſchon im Mai 1775, nachdem er im April nach einer heftigen An— firengung feines ſchon lange durch Krankheit zerrütteten Körpers im ſelbſt zuſammengeſunken war.)

53) & ftarb erft am 11. Mat auf feinem Landhauſe Heyes in Kent, die Scene im Parlament am 7. April war aber zu merlwürdig, als daß wir Schloſſer, Geſch. d. 18. u. 19, Fahrh. IV. Th. 4. Aufl. 18

PER England, Frankreich, Spanten, son 1776-1781.

Die Franzoſen hatten, was fonft felten der Fall war, ihre Vorbereitungsanftalten zu einem Seekriege viel beffer getroffen, als die Engländerz denn ihre Flotte in Breit war ſtark genug, es mit der englifchen aufzunehmen, als dieſe an ber Küfte son Bretagne erfchlen. Die Touloner Flotte der Franzofen war unter d'Eſtaing damals längſt nach Amerika gefegelt und. war dort der englifchen unter Byron zuvorgekommen. „Admiral Koppel über— nahm höchſt ungern das Commando der gegen Breft beftimmten englifchen Schiffe. Er hatte damals fehon vierzig Jahre rühmlich zur See gedient und erhielt den Oberbefehl, weil der König ſelbſt e3 ſehr wünſchte, traute aber einem Minifterium nicht, welches die Stellen nur mit feinen Freunden, Anhängern, Verwandten zu befegen pflegte, und ihm nicht befonders gewogen war. Sonder— bar war es wentgftens, daß man ihm, um mit Kleinlicher Lift‘ die Verantwortung eines Seegefechts allein auf Keppel zu ſchieben, als er im Juni 1778 auslief, nicht einmal beitimmten Befehl gab, Beindfeligkeiten anzufangen, obgleich Frankreich ſchon feit dem 18. März auf die englifchen Schiffe und die Engländer hernach auf die franzöſiſchen Beichlag gelegt hatten. Keppel be= gann am 17. Juni durch ein Gefecht mit der Fregatte Belle Poule den Krieg, konnte ſich zwar der Fregatte nicht bemächtigen, nahm jedoch einige Fleinere Kriegsfahrzeuge, Als Keppel die

nicht Hier Die Worte eines Augenzeugen, des Lord Camden, anführen follten ;, Er fagt: I saw him in the prince’s chamber before he went into the house, and conversed a little with him: but such was the feeble state of his body and indeed the distempered agitation of his mind, that 1 did forebode his strength would certainly fail him before he had finished his’ speech. The earl spoke, but was not like himself: his speech faultered, his sentences broken, and his mind not master of itself, His words were shreds of unconnected eloquence and flashes of the same fire, that he, Prometheus like, had stolen from Heaven, and were then returning t6 the place from whence they were taken. He fell back upon his seat, and was to all appearance in the pangs of death. This threw the whole house. into confusion. Many crowded: about the earl. Even those who might have felt a secret pleasure in the accident, yet put on the appearance of distress except only the earl of Mansfield, who: sat: still, as much unmoved as the senseless body itself, id

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Stärfe der feindlichen Flotte erfuhr, fand er nicht rathſam, mit feinen zwanzig Kriegsſchiffen und drei Fregatten eine Flotte son zweiunddreißig Schiffen und zehn bis zwölf Fregatten anzu— greifen, ſondern ſegelte nach Portsmouth zurück, um Verſtürtung zu holen.

Unter den damaligen Umſtänden machte 08 einen für den Admiral und für die Regierung fehr ungünftigen Eindruck, daß er, ohne die Feinde angegriffen zu haben, zurückkam, und daß ſich auch ſogar die Belle Poule ihm dadurch entzogen hatte, daß ſie auf den Strand gelaufen war. Das Miniſterium gab deutlich zu verſtehen, daß es die Schuld auf den Admiral ſchieben wolle. Dieſer lief indeſſen verſtärkt ſchnell wieder aus und traf am 23. Juli die von den franzöſiſchen Admiralen d'Orvilliers und Guichen geführte franzöſiſche Flotte bei Oueſſant, unweit der Sorlinguiſchen Inſeln. Beide Flotten waren ungefähr von gleicher Stärke; die Franzoſen wären einem Treffen. gern ausgewichen, fie wurden aber am 27. dazu gezwungen. Beide Flotten wurden in der Schlacht beſchädigt, beide kehrten, ohne daß fich eine des Sieges rühmen fonnte, in ihre Häfen zurück; beide Nationen erhoben heftige und laute Klagen über ihre Admiräle. In England Flagte fogar. der Unterbefehlshaber den commandirenden Admiral und dieſer jenen der Nachläſſigkeit an.

Der laute Unwille der Franzoſen über den Ausgang des Treffens bei Oueſſant hatte in Beziehung auf die Revolution jehr wichtige Folgen, weil der. nachherige Herzog von Orleans, damals Herzog von Chartres, den Hof befchuldigte, er habe ihn biefem Unwillen aufgeopfert. Diefer noch fehr junge, ſchöne, gränzenlos ausſchweifende Prinz, der son genialen Wüſtlingen umgeben, fchon damals unter dem gemeinen Haufen feine Belu- ftigung fuchte und eben deßhalb unter dem Wolfe fehr beliebt war, ftand befonders bei dev Königin wegen . feines‘ Cynismus und feiner Orgten im geringer Gunft, und die Königin ward leider! in alle Dinge gemifcht. Man befchuldigte ihr, ob mit Recht oder mit Unrecht Taffen wir unentfchteden, er richte durch fein wüſtes Leben alle die jungen vornehmen Herm gu Grunde,

die ſtets um ihn wären und Feine Gonftitution, wie die Seinige war, yon der Natur erhalten hätten. Unter den Opfern, welche 18*

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diefer nachherige Philippe Egalite feinem wilden Leben follte ge— bracht haben, war auch fein Schwager, der einundzwanzigjäh- rige Prinz von Lamballe, der bet feinem Tode erſt fett ſechzehn Monaten mit der. durch Schönheit und Liebensmirdigfeit berühm— ten Marie Therefe Louiſe von Savoyen Garignan vermählt war. Diefe Prinzeffin war die genauefte Freundin der Königin, fie war als ſolche gleich der Polignac vom ganzen Hofe beneidet und ward wahrfcheinlich deßhalb zur Zeit der Erſtürmung der Tuile— rien jo graufam gemordet.

Der Herzog von Chartres, hieß es, habe den Prinzen von Lamballe abfichtlich zu zerſtörenden Orgien verführt, um ihn mit- telbar zu morden, da er mit der Schweſter defjelben, der Tochter des Herzogs von Penthienres vermählt ward, Er erbte in ber That nach dem Tode feines Schwagers des Herzogs von Pen— thievres ganzes unermeßliches Vermögen, wodurch fein Haus das reichfte in ganz Europa ward. Außer dem Vermögen feines Schwiegerpaters wünſchte der Herzog von Chartres auch die Würde eined Großadmirals von Frankreich zu erben, welche diefer beflei- dete; er trat deßhalb der Form wegen in den Seedienft, durchlief, wie Prinzen pflegen, mehrentheils in Baris verweilend, alle Grade des Dienftes, und ſollte jeht auch einem Treffen beiwohnen. Gr reiste, als die Flotte unter d'Orvilliers auslaufen follte, son Ge— noſſen feiner lockern Pariſer Bande begleitet, ſchnell von Paris ab, damit man ihm in den Zeitungen als einen der Befehlshaber im Treffen nennen könne. Die Flotte ward zu dem Zweck in drei Geſchwader getheilt, von denen er eins commandiren ſollte. Das Erſte diefer Gefchwader führten d'Orvilliers und Guichenz das Zweite der Graf Düchauffault und der Herr von Roche chouartz das dritte commandirte dem Namen nach. der Düc de Chartres, eigentlich aber der Herr von Graffe und der Admiral Ya Motte Piquet, der vorgeblih nur Kapitän des Kriegsſchiffs Saint Eſprit war, auf dem fich der Prinz befand, Gerade dieſes Schiff kam zum hitzigen Gefecht, weil d'Orvilliers feine Schlacht- prdnung andern und das dritte Geſchwader zum, erſten machen mußte, Die Iuftigen Pariſer Genoffen des Herzogs zeigten im Gefecht Tächerliche Angft und man bejchuldigte den Herzog, Daß auch er Feigheit bewieſen habez wentgftens fand das Gerücht

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allgemeinen Glauben, daß man d'Orvilliers Signale abfichtlich mißverftanden habe, um ihn nach Breft zurückbringen zu können. Der Düc de Chartreg, mochte er nun fchuldig oder unfchuldig geweſen fein, mußte den Seedienſt verlaffenz; diefe öffentliche Kränkung fehrieb man dem Haffe der Königin zu. Diefe bewirkte allerdings, daß der Graf von Artois, der damals zum engeren Kreife der Königin gehörte, die Stelle des Großadmirals erhielt und daß man für den Düc de Chartres die ganz neue Stelle eines Generaloberft der Hufaren ſchuf.

Die franzöſiſche Flotte Lief im Oktober wieder aus, Keppel konnte fie aber nicht zum entfcheidenden Treffen bringen, dadurch ward das englifche Volk erbittert. Das englifche Mintftertum fuchte darauf die Schuld des unentfchtedenen Kampfes bei Duef- jant auf die Befehlshaber zu fehieben, dieſe befchuldigten aber Einer den Andern. Sir Hugh Balliffer, welcher bei Dueflant, als Admiral der blauen Flagge, das dritte Gefchwader son Kep- pels Flotte eommandirte, hatte einen Sitz unter den Lords der Admiralität, deven Präfident der Graf yon Sandwich war, und war dreift genug, Keppel formlich anzuflagen. Die Klage ward angenommen und die Admiralität ftellte Keppel im Januar 1779 por ein Kriegsgericht, Keppels Prozeß machte die Admiralität und das ganze Minifterium der Nation und den Seeoffizieren aufs neue recht gehäſſig. Keppel ward aufs ehrenvollite losge— ſprochen; Hugh Pallifer dagegen, auf Keppels Anzeige des Tadels würdig gefunden, fah fich einige Zeit darauf genöthigt, alle feine Stellen niederzulegen. Die Stimmung war damals, weil man auch die Schläge des Schieffals der Negterung Schuld gab, fo feindlich gegen diefelbe, daß ſich zwölf Admirale zu gleicher Zeit über das Miniftertum beichwerten,

Zu den erwähnten Schlägen des Schickſals, welche die Eng— länder aus Verdruß, daß fie nicht, wie fie gewohnt waren, überall und in allen Meeren gleich nach dem Ausbruche des Kriegs ent- ſcheidende Bortheile erhielten, dem Könige und dem Mintfterium zufchrieben, gehört zunächit, dag d'Eſtaing früher an den Küften son Rhodisland erfchten, ald Byron dahin gelangen konnte. Wir rechnen ferner dahin, daß Hotham in Nordamerifa verweilen mußte, weil Byrons Flotte durch Wind und Wetter zerſtreut

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ward. Während Byron feine beichäbigten Schiffe ausbeſſern ließ und Hotham einfimeilen d'Eſtaing beobachtete, entriß ber Marguis von Bonille, damals Statthalter von Martinique, den Engländern die Infel Dominica. Den Berluft von Dominica rächte hernach Hotham, als er endlich im Dezember 1778 vEftaing nach Weftindien folgen konnte, durch die Eroberung von St, Lucia. Weder der tapfere Widerftand und die ehrenvollen Gefechte des Admiral Barrington, welcher hernach St. Lucia gegen den Angriff der franzöfifchen Flotte unter d'Eſtaing ver— theidigte, noch die Nachricht, dag die franzöſiſch-oſtindiſche Flotte von der Küſte Coromandel gänzlich vertrieben und Bondicherg erobert ſei, Fonnte die angefehenften englifchen Seeofficiere mit ihrer Admiralität ausſöhnen. Die vorzüglichiten Adınirale wei gerten fich, To Tange Lord Sandwich, das Seeweſen Teite, einen Oberbefehl zu übernehmen, und d'Eſtaing führte die im vorigen Bande erwähnte Grpedition nach Georgien glücklich aus, nach— dem er vorher die Inſeln St. Vincent und Grenada erobert Hatte, Er büßte freilich den erworbenen Ruhm durch die tolle Unternehmung auf Savannah wieder einz allein im Jahr 1779 erhielt England an Spanten einen neuen Feind, der befonders dadurch furchtbar wurde, daß durch König Karls II. Bemühung die ſpaniſche Seemacht faſt eben jo ftark als die franzöſiſche geworden war.

Carl II. son Spanien dachte ganz anders von Nordamerika und von republikaniſchen Ideen als Ludwig XVL und fein Hof, welche won ‚Franklin bezaubert waren und von. Lafayette hinge— riſſen. Carl und fein Minifter Florida Blanca erklärten anfangs, daß fie der Verbindung mit Gngland in Bezug auf Amerifa ſchon des monarchifchen Princips wegen treu bleiben wollten. Selbſt 8 die Franzoſen ſich durch einen förmlichen Tractat mit der neuen Republik verbunden hatten, wollte Garl III. von derſelben nicht reden Hören und ſchickte den vom Congreß an ihn abgesrd- neten Collegen Franklins son Burgos aus zurück, ohne ihn nur nach Madrid zu laſſen. Der König von Spanien wollte noch im März 1778 an einem Bunde mit Amerifa und an feindfelt- gen Mafregeln gegen England nicht Theil.nehmen; das geht aus jener Antwort som zwei und zwanzigſten März auf zwei eigens

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händige Briefe König Ludwig XVI. deutlich hervor; 52) die Fran⸗ ofen und feine eignen Minifter mußten, aber feine: perſönliche Schwäche für ihren Zweck zu benutzen. Man machte ihn glau— ben, es jet Hier feine Sache, den Vermittler zu machen, jo wenig er, wegen des Bamilienvertrags mit Frankreich, dazu geeignet war. König Carl ſchickte darauf, um diefe DVermittelung anzubieten, einen Gejandten nad) England, Lord North ließ aber Vorſchläge machen, von denen auf den erjten Blick einleuchtete, daß fie Frank⸗ reich nicht eingehen könne. Seit diefem Augenblicke war Carl für den von feinen Miniftern längſt vorbereiteten Krieg gewonnen, dies erflärte er dem franzöſiſchen Miniſterium ſchon am 13. April 1779. Erſt am 26. Juni übergab der Marquis von Almodavar das Manifeft, worin den Engländern vorgeworfen ward, daß fie die Philippinen und ſogar Cadix hätten überfallen wollen. Gleich hernach folgte die Kriegserflärung.

Kein Augenblick im ganzen Laufe des achtzehnten Jahrhun— derts war für die engliſche Seeherrfchaft gefährlicher als biefer, denn es lag ſowohl in Ferrol als in Cadix eine zahlreiche ſpani— che Flotte, welche fich mit d'Orvilliers Flotte verbinden follte, fobald dieſe von Breit ausgelaufen fein wiirde. Schon im Mai hatten die Branzofen die Inſel Jerſey zu erobern verſucht, und wenn gleich der Admiral Arbuthnot diefe rettete, jo ward doch die Abfahrt der Flotte, welche Borräthe und Verſtärkung von Clintons Heer nach Amerika bringen follte, dadurch fo ſehr vers zögert, daß fie erſt im Auguft ihre Beftimmung erreichte, Die Franzofen hatten damals ſchon im Juni den Entwurf gemacht, nach der Verbindung der franzöſiſchen und ſpaniſchen Flotte, die Engländer an ihren eigenen Küften anzugreifen und eine Landung zu verfuchen, Die Engländer geſtehen, daß in dem Augenblic der drohenden Landung ihre Gefahr fehr groß geweſen jet, weil ihre Flotten in: verfchtedenen Meeren zerſtreut waren, fie geben jogar zu, daß großere Uebel nur dadurch abgewendet wurden, daß V’Orsilliers von der eigentlichen Lage dev Dinge nicht genau uns

54) König Ludwigs Briefe, den einen vom 8. Januar, den andern vom 10. März 1778, nebft Carls III. Antwort findet man bet Flassan Vol. VI. p- 177 84q.

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terrichtet war, und nicht die Art Kühnheit befaß, welche Vieles wagt, um Mles zu „gewinnen. Die vereinigte ſpaniſche und frangöfifche Flotte, zwiſchen fechzig und fiebenzig Kriegsfchiffe ftarf, erfchten am Ende Juni in dem engen Meere zwilchen England und Frankreich. Diefe Flotte war dem Admiral Har— dy, der fih mit acht und dreißig Schiffen im mittellandifchen Meere befand, sorbeigefegelt, ohne daß dieſer fie men hätte,

Als die vereinigte ſpaniſch-franzöſiſche Flotte am fünfgefirten Auguft vor Plymouth erfchten, glaubte man allgemein, daß bie unſchätzbaren Werfte und Arfenale, welche die Engländer an ihren _ Küften eingerichtet Haben, verloren wären; zu ihrem Glücke war aber der ſpaniſche Admiral mit dem frangufifchen über das, mas zu thun jet, nicht ganz einig. Die Spanier wollten fogleich lan— den, d'Orvilliers erſt die englifche Flotte auffuchen und angreifen; darüber gefchah am Ende gar nichts, Man fchiffte freilich auf eine für die auf ihre Seemacht ſtolzen Engländer demüthigende Weiſe an der englifchen Küfte her, man nahm ein Kriegsichiff son vier und fechzig Kanonen, ließ aber indeffen den Admiral Hardy mit feiner Flotte fich in eine Enge legen, von wo aus er die Küfte vertheidigen und wo die Feinde ihn nicht angreifen konnten. Wir werden unten ſehen, daß die Engländer im fol- genden Jahre endlich zur See glücklicher waren, dagegen wäre in diefem Jahre (1780) ihre Hauptſtadt beinahe der Raub eines’ Pöbels geworden, den ein verrücter Fanatifer in Bewegung ges bracht hatte, Diefer Aufftand ward von Gngländern und Schot- ten erregt, welche noch weit mehr hinter der Zeit zurück waren, als König Georg II. und feine Miniſter. Im demfelben Jahre nöthigten die Irländer durch einen angedrohten bewaffneten Auf- ftand König und Minifter, gegen ihren Willen mit der Zeit fort- zufchreiten. Die englifche Regierung hatte theils wegen des Kriegs in Amerika, theild wegen der angedrohten Landung in Irland, die Milizen diefes Landes, welches damals noch: feine eigne befon- dere Regierung und fein eignes Parlament hatte, bewaffnen müſ— jen; dies nußten die bisher ganz unterbrüdten Irländer, um durch Drohungen zu erlangen, was ihnen bisher, fo billig auch ihre Forderungen waren, war verlagt worden.

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Die Unruhen in England und Schottland Hatten feinen po— litiſchen Grund, fie wurden von dem verrückten Bruder des Herz 3098 von Gordon geleitet und bewieſen, wie furchtbar die Folgen des veligtöfen Fanatismus find, Ste waren gerade gegen den einzigen ausgezeichneten Beweis der Duldung und Milde gerichtet, den das damalige, zu jeder Unterdrückung zu gebrauchende Parla— ment gegeben Hatte. Lord Georg Saville that nämlich am Ende der Parlamentsfisungen des Jahrs 1778 den VBorfchlag zu einem Gefege, wodurch gewiſſe ganz graufame und unduldfame Verfü— gungen eines im 10. Jahr König Wilhelms de3 Dritten erlaſſe— nen Gefetes (An act for preventing the further growth of po- pery) wenn auch nicht abgefchafft, doch gemildert werden ſollten. Lord Savilfe fagte in feiner Nede mit vollem Recht und unter lautem Beifall, daß er durch fein Geſetz die Ehre des Proteftan- tismus vetten wolle, weil nur durch Annahme feines Vorfchlags der Grundſatz der Reformation, daß jede religtöfe Verfolgung un— gerecht fet, könne geltend gemacht werden. Die Strafbeſtimmun— gen, fügte er hinzu, deren Aufhebung er verlange, 55) entehrten nicht bloß die Neligton, fondern die Menſchlichkeit; denn fie feien

gewiffermaßen darauf berechnet, alfe Bande der Gefellfchaft zu lö—

fen, die Quellen des häuslichen Glücks zu vergiften und jeden Srundfat yon Ehre zu vernichten. Rede und Vorſchlag wurden son allen Mitgliedern des Parlaments, den minifteriellen und ihren Gegnern, übereinftimmend gebilfigt, und nicht bloß im Une terhaufe ward das neue Geſetz einftimmig angenommen, fondern auch im Oberhaufe nicht einmal yon den Biſchöfen mißbilfigt. Schon damals fürchtete man aber den fehottifchen Pietismus und Fanatismus und fette feit, daß die Abfchaffung der gehäffigen Artikel des Fanatifchen Geſetzes nur fir England und Irland,

55) Diefe Beftimmungen find: 1) ein paptflifcher Priefter oder ein Ser futt, der Kirchliche Verrichtungen feiner Kirche auf engliſchem Boden verrich— tet, tft eines Todesverbrechens ſchuldig (guilty of felony); 2) eine Beſitzung (estate) fällt dem nächften proteftantifchen Exben anheim, wenn der römifch— katholiſche Beſitzer auswärts erzogen wird; 3) der Sohn oder nächſte Anver- wandte des Befibers eines Guts „der einer Herrfhaft darf, wenn er Brote: jtant it, feines Vaters Erbe bei deffen Lebzeit in Befis nehmen; fein Pa- pift Hat ein Recht, durch Kauf Eigentum auf rechtsgültige Weiſe zu erwerben.

er

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nicht für Schottland gelten follte, In der nächften Sitzung wollte - man das Geſetz auch auf Schottland ausdehnen, Wie dies bekannt ward, forderten die pietiftijchen Glieder der fchottifchen Kirk, daß die (chottifche Geiftlichfeit Einſprache thun folle, dieſe Dachte: aber billig genug, fich nicht als Werkzeug gebrauchen zu Yaffen, Dies benußte dann ein DVerrücter, um die Hefe des alten PBuritanis- mus, oder was wir Pietismus nennen, in dem zu trübem Schwär— men und Nebeln feit Fingals Zeit fehr geneigten ſchottiſchen Bolfe aufzuregen und den Pöbel der Blindgläubigen in Wuth zu ſetzen.

Die Seenen, welche vorfielen „als Carl I. die englifche Li— turgie, Hierarchie amd Ornat in Schottland einführen wollte, ſchie— nen fich damals zu erneuen, man ſchrie wie um 1640 von Dorf zu Dorf die Signalworte des Aufftands: fein Papſtthum (no popery). Erſt in Schottland, hernach auch in England, wurden Affoeiationen gebildet, in Glasgow und in Edinburgh wurden häufige und jehr zahlreiche offentliche Berfammlungen ge—

halten, man ſchloß einen heiligen Bund, die alten Strafverord- nungen gegen die Katholiten aufrecht zu halten, Die Glasgower und Edinburgher Volksverſammlung wählte den einzigen angejehe- nen Mann, der fich zu dieſen Dingen gebrauchen ließ, und zus gleich Mitglied des Unterhaufes war, Sir George Gordon, zu ihrem Bräfidenten. Diefer, der auch in England überall ähnliche Berbindungen ftiftete, fie alle unter einander und mit den ſchotti— fchen in Verbindung brachte, und auch im Parlament beftändig auf die Afforiationen pochte, glich Ichon damals durch Aufzug, Klei- dung und Betragen einem Verrückten. Ms folcher erjcheint, er auch in feinem Benehmen im Parlament, welches übergroße Ge— duld mit diefem Sprößlinge fehottifcher Ariftofratie hatte, Er that die wunderlichiten Vorfchläge, er ftörte alle Berathichlagungen durch lächerliche Ginfälle und Ausfälle, Eagte unaufhörlich über das Papſtthum, welches tiber Großbritannien hereinzubrechen drohe und erlaubte fich ganz unerhörte Derbheiten und Beichuldigungen ges gen die Minifter, um das gemeine Volk in Wuth zu bringen. Dies Alles that er befonders in dem Augenblide, als Alles un— zufrieden war, als die franzöſiſchen und ſpaniſchen Slotten an den englifchen Küften erſchienen, als die amerifanifchen Kaper viele

England, Frankreich, Spanten, von 17761781, 283

Schiffe wegnahmen und die Schotten fich maffnen wollten, um die Iandenden Feinde abzuhalten.56) Ein folcher Mann paßte vor— trefffich zum Führer einer ganz blinden Maffe

Auf Gordong Betrieb unterzeichneten hundert und zwanzig taufend Schotten eine Bittfchrift ans Parlament um Aufhebung des auf Lord Savilles Vorfchlag gegebenen Geſetzes, 20000 Mann follten , wie er verlangte, derfelben durch Ihre Gegenwart Gewicht geben, Einrichtungen zur Ausführung diefes tollen Plans wurden darauf fogleich getroffen, Bänder und Abzeichen vertheilt und, um Alles zu ordnen, häufige Verſammlungen auf den St. Georgsfel- dern bei London gehalten. Das Minifterium ward nicht mit Un— vecht beichuldigt, daß es die Sache abſichtlich bis zum Aeußerften fommen laſſen wolle, um die Außerften Mittel gebrauchen zu kön— nen, denn es wäre leicht gewejen, vor der Uebergabe der: Bitt- Schrift Anftalten zur Sicherheit des Parlaments zu treffen, wie in unfern Tagen gegen die Chartiften gefchehen tft. Dies hätte um fo eher gefchehen müfjen, da ſchon vorher in Edinburgh im Klei- nen verfucht war, was hernach in London im Großen gefchah: Man hatte dort mehre Kleine katholiſche Kapellen zerſtört, und an Berfonen und dem Eigenthum der Katholifen Gewaltthätigfei- ten geübt. |

In London war eine Ähnliche Affoeiation wie in Edinburgh und Glasgow gebildet worden: auch diefe Affociation wählte Sir Gordon zu ihrem Präſidenten und diefer drohte im Parlamente, daß er auf den Tag der; Mebergabe der Bittfchrift fünfzig bis ſechzig taufend Menfchen nach‘ London entbieten wolle. Dies ge— fchah auch wirklich, ofme daß nur die Friedensrichter von den

56) Die englifche Schifffahrt und die ſchottiſchen und irländiſchen Küften - Titten damals fehr viel durch amerikaniſche Kaper und Paul Jones Hatte Dumfriesſhire Hart mitgenommen, weßhalb die Einwohner dur den Herzog von Duensburry um die Erlaubniß eingefommen waren, ſich bewaffnen zu dürfen, darauf hatte der Kriegsfefretär unartig geantwortet. Sir George Gordon Fas erſt den Brief des Kriegsſekretärs an den Herzog im Parlament vor, dann rief er ihm zu: And you, Charles Jenkinson, how durst you write such a leiter? Robert Bruce would not have dared to write such a one; and yet the secretary of an elector of Hannover has had the presumption to do it! and the great earl Douglas of Scotland is not to be intrusted with arms!

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Miniſtern wären berufen, oder von ihnen irgend eine Anſtalt ge— troffen worden.

Der von Gordon feſtgeſetzte Tag war der 2, Juni 1780, und die ganze Ordnung des Zugs der vielen Taufende, die fi ‚auf den Set, Georgöfeldern verfammeln, von dort zum Parla— mentshaufe ziehen und die Zuftimmung zu der von ihrem Prä- fidenten übergebenen Bittfehrift erzwingen follten, war lange vor— her feftgefegt und bekannt gemacht worden. Sir Gordons Affo- eiationen bildeten vier durch blaue Bänder bezeichnete Haufen, drei ang den Duartieren von Londonz der Vierte beftand bloß aus Schotten. Der Zug der Haufen war fo eingerichtet, daß bie Menfchenmaffen von allen Seiten herbei wogten und das Parla— ment, welches verfammelt war, fich plötzlich förmlich eingefchloffen und abgefhnitten fand, Alle Plätze und Straßen waren völlig bejett und alte Leute verficherten, daß der Lärm und die Men- jchenmaffe großer und furchtbarer jet, als bei dem gefährlichiten Aufftande, der feit den Zeiten der Stuartd erregt war. Dies war der Aufftand um 1733, als Robert Walpole den erften Vor— ſchlag zur Einführung jener Aceife machte, welche bis auf unfere Tage den Armen nöthigte, zum Vortheil des Reichen mit | Koft vorlieb zu nehmen oder gar zu hunger,

An der Spite von funfzig bis fechzigtanfend Mann zog Sir Gordon mit der Bittfchrift heran und ließ fie hinter fich her in den Saal tragen. Nur mit Mühe hielten die Thürfteher die Menge ab, ihm die Treppen herauf in den Sitzungsſaal zu fol- gen; der untere Vorplatz (lobby) war aber ganz mit Menfchen gefüllt. Mehre Stunden hindurch Fonnte das Parlament nicht berathichlagen, weil es gefangen und bedroht war, bis endlich die erft während des Lärms berufenen Friedensrichter anlangten. Auch nach ihrer Ankunft dauerte das Toben fort. Das Parlament wei- gerte fich indeſſen ftandhaft, die Bittichrift fogleich während des Lärmens und Drohens in Berathung zu nehmen, wie Gordon im Namen des Volks, das er von Zeit zu Zeit von der Treppe aus anredete, forderte, Als das Parlament ftandhaft blieb und mit hundert und zwei und neunzig gegen fechzig Stimmen erklärte, daß es die Bittfchrift in dem Augenblicke nicht in Betrachtung ziehen wolle, rief Gordon dem verfammelten Pöbel zu: Dem

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fchottifhen Volke ſei nicht eher zu helfen, bis e8 alle papiftifche Kapellen niedergeriffen Hätte. Dies war der Lofungsfpruch zum fürmlichen, gewaltfamen Aufftande, Noch an demfelben Tage, den 2, Juni, wurden die Kapellen des baterifchen und des fardinifchen Minifters zerſtört, ohne daß die durch Die Friedensrichter zur Anwendung der Gewalt aufge forderten Soldaten e8 hindern konnten. Schon am 2, waren die Pairs und die Glieder des Unterhaufes bedroht, mit Koth geworfen zu werden, und zum Theil fo mißhandelt worden, daß drei Pairs nur mit Mühe gerettet wurden; am folgenden Tage war für die we— nigen, die fich einzufinden wagen würden, Feine Sicherheit zu hof— fen, das Unterhaus vertagte fich daher bis zum fechsten. Das Oberhaus Hatte fich unter dem tobenden Lärm, wegen deflen in ganz London die Läden gefchloffen waren und jedes Geſchäft ſtill— ftand, am 3. wieder verfammelt und eine Adreffe an den König gerichtet, um ihm neue Gewalt zu übertragen. Dies konnte mes nig nüßen, denn wenn die Mintfter wagen follten, darnach zu handeln, fo bedurfte die Addreffe der Pairs der Autorität des Unterhanfes, Die Pairs erfuchten namlich in ihrer Addreſſe den König, einen unmittelbaren Befehl zu erlaffen, um Urheber, An— ftifter, Werkzeuge der am vorigen Tage verübten Gewaltthätigfet= ten nachdrücklich zu beftrafen. Sp fern das Oberparlament erftes Gericht des Reichs ift, konnte e8 den Beichluß zwar faffen, aber es fonnte nicht dem Könige das Necht geben, zu diefem Zwecke die nö— thigen, in der Conſtitution nicht begründeten Mafregeln zu ergreifen. Der dritte Juni war verhältnigmäßig ruhig vorüber gegan- gen, am 4, aber, der auf den Sonntag fiel, begann die Zerſtö— zung mit vermehrter Wuth. Die Kapellen ſowohl als die Häu— jer der vornehmſten Katholiken in dev Nähe von Moorfields wur— ben vernichtet, jedes Gigenthum in der Stadt bedroht. Am fünf- ten ward Lord Savilles Haus und die einiger feiner Freunde ge— ſchleift und London war in der Macht des Pöbels, als wenn die Stadt vom Feinde genommen wäre Am fechsten Hatten zwar zweihundert Mitglieder des Unterhaufes den Muth, ſich unter drohender Todesgefahr in die auf diefen Tag feitgefette Sitzung zu begeben; allein jest war ſchon das Militäv im Gefecht mit dem Böhel, umgeben von Soldaten, eingefchloffen som Pöbel, Fonnte

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man feine gültige Bejchlüffe fallen. Man verordnete zwar Einiges, aber auch diefes war für den Augenblick nicht einmal ansführbar, Man trennte fich, als man erfuhr, es werde im der ganzen Stadt auf Tod und Leben gefampfi und brenne an allen Ecken.

Das Volk hatte damals das Criminalgefängniß für die ärg— jten Verbrecher (Newgate) geftürmt und in Feuer gefebtz es hatte über dreihundert ſchwere Verbrecher und auch die gefangenen Schuld- ner befreit, und des Oberrichters Lord Mansfields Palaft dem Boden gleich gemachtz er felbft Hatte nur mit Mühe fein Leben gerettet. Das Gefängniß von Clerkenwell war ebenfall® geftürmt und fehr viele Privathäufer zeuftört worden. Am fiebenten und achten ward Tumult und Zerftörung noch ärger, die Menge. der Tobenden größer und die ganze Stadt und ihr Wohlftand ſchien mit dem Antergange bedroht, Auch die noch übrigen Gefängnifle, Kingsbench, Bridewell, Fleet, wurden geftürmt, die zwei Lebtern genommen und die ganze Menge der Berbrecher ergoß fich bos— haft, Unheil fliftend und plündernd über die Stadt, ſo daß es an ſechs und dreißig Stellen zu gleicher: Zeit brannte.) Die Herrn Longdale führten einen großen Handel mit geiftigen Getränken und Hatten jehr große Niederlagen und ein durch feine Ausdeh— nung. bevühmtes Laboratorium; auch diefes ward geſtürmt, bie Stürmenden durch Trunfenheit zur höchſten Raſerei gebracht: und durch die fich über die Straßen ergießenden geiſtigen Grtvänte die. Flammen vermehrt,

Su diejer Noth, als auch die Banf, die Vorrathshäuſer und Kaſſen bedroht waren, wagten die Friedensrichter nicht, auf ihre eigne Gefahr, an allen Stellen und ganz im Allgemeinen dem Militär Befehl zum Feuern und Einhauen zu geben, weil voraus zu ſehen war, daß Hunderte umkommen würden, es ward alſo der geheime Rath (dd. Alle, die jemals die höchſten Aemter be— Heidet haben) zufammenberufen, damit fich dev König mit einem Beſchluſſe der minifterielen und antiminifteriellen Mitglieder dej-

jelben gegen den Vorwurf der Willkür ſchütze. Man war Yange zweifelhaft, ob der König das Recht habe, Kriegsgeſetze zu pro— Hamiren und militärifch verfahren zu Taffen, endlich aber exflärte der Staatsanwalt Wedderburne, daß es nach englifchen Geſetzen ſo gut als nach dem Naturgeſetz Rechtens jet, Gewalt mit Ges

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sont zu vertreiben, Der König zeigte bei diefer Gelegenheit, wie immer, Ruhe, Faſſung und viel moralifchen Muth. Er ließ fich das Nechtsgutachten des Staatsanwalts jchriftlich übergeben, über- nahm, darauf fich ſtützend, die perfönliche Verantwortlichfeit und unterzeichnete allein, ohme Miniſter, den Befehl, überall Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen. Gin furchtbares Blutbad in der feit ſechs Tage brennenden Stadt war die Folge des Befehls, und es war ein großes Gfü für England, daß man ſich durchaus auf die Truppen verlaffen konnte. Unftreitig ward London durch dieſe Anwendung der Milttärgewalt gerettet, man war alſo dem Kö— nige Dank fehuldig; dennoch gab man dem Miniftertum Schuld, daß es die Unruhen, damit es Vorwand habe, Gewalt zu ges brauchen, abfichtlich fo weit habe kommen laſſen.

Am großen Stadthaufe (Mansion house) und an der Banf war eine fürmliche Schlacht, Der Haufe fhirmte mit großem Ver— luſt an Menfchen wiederholt beide Gebäude, dev Sturm ward wiederholt durch furchtbares Feuern der Soldaten zurückgetrieben. Beim Kingsbench und an der Black Friars Brücke ward ebeufalls, wie beim Sturm einer Feſtung gekämpft, doch fielen die mehrſten Menfchen beim wiederholten heftigen Stürmen auf die Banf, Wie viele gefallen, wie viele Leichname bei dev Brücke: in die Themfe geworfen wurden, iſt nicht befannt geworden; doch waren es ges wiß über Taufend. Sp wenig wir font Wraxall als Autorität gebrauchen möchten, fo müflen mir doch. hier, mo er als Augen- zeuge fehreibt, „die Leſer auf feine Beſchreibung der Seenen vom

J bis 10. Juni verweiſen. 57)

57) Wraxall historical memoirs of my. own time, Vol, 1. 'p. 324 356, . Die folgenden Worte ©, 324—326 werben die Ausführlidfeit un- feree Schilderung diefer Scenen rechtfertigen. Er fagt: In 1780 the flames were originally kindled, as well as rendered far more destructive by a populace of the lowest and vilest description, who carried with them, wherever they moved the materials of universal ruin. It was only in their blood, by the interposition of an overwhelming military force, that the convulsion became finally: arresied, and that London af- ter being desolated by fire, was rescued from plunder, bankruptey and subversion. Even the French revolution, which, from July 1789 down to April 1814 ete. etc. yet did not ar in the capital of France any similar oytrages.

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Das Unterhaus Hatte fich bis auf den 11. vertagt, es war daher in der letzten Woche Fein anderes obrigfeitliches Anfehen, als das Fonigliche und militärifche mehr übrig, auch noch am 11; fonnte das Parlament Feine Berathichlagungen halten, weil das proclamirte Martialgefeb fortdauerte, alſo die Berathichlagung nicht frei war, Man konnte unter den Waffen feine friedlichen Sitzungen halten, und beide Häufer eröffneten die Ihrigen erſt amt 19. wieder. Seit dem zehnten glich die Stadt und ihre rau= chenden Trümmer einer mit Sturm eroberten Feftung. Alle Ge- werbe ſtanden ftill, Häufer und Gewölbe waren gefchloffen, die Brücken, die Bank, die vffentlichen Gebäude, die Straßen und Plätze waren mit Soldaten beſetztz überall vauchende Trümmer und Alles ftille und leer, wie in einer Landſtadt. Die Eigen- thümlichkeit des englifchen Gerichtsweſens zeigt fich auch bei die— jer Gelegenheit, wie bei andern, auf eine folche Weiſe, daß man es, wie man Luft hat, entweder jehr mangelhaft, oder fehr —— finden, und Beides mit guten Gründen —— gen kann.

Sir Gordon nämlich, Anſtifter und Arheber des ganzen un⸗ fugs, ward zwar verhaftet und unter einer ſtärkern militäriſchen Bedeckung als man je einem Gefangenen gegeben, in den Tower gebracht; ein Fehler in der Form feiner Anklage machte aber, . daß er aller Strafe entging. Man Fagte ihn nämlich des Hoch- verrathes anz es war aber die gefeßliche Definition dieſes beſon— dern Verbrechend auf feinen Fall nicht anwendbar, er mußte da= her in Freiheit gefebt werden, während die von ihm irre’ geleite- ten Banatifer mit dem Leben büßten. Gr machte übrigens- der toffen Streiche noch mehr in feinem Leben, nur Fonnte er als Mann von Familie nicht ing Armen oder Irrenhaus gerathen, weil er eine Penfion von feinem Bruder hatte, Cr trat zum Ju= denthum über und ließ fich in Birmingham befchneiden, endigte aber fein Leben im Gefängniß von Newgate, weil er um 1789 wegen eines Pasquills auf die unglüdliche Königin von Frank— reich zur gerichtlichen Haft war verurtheilt worden. | In dieſem Unglücksjahre der Stadt London war Indeffen dag Glü den Engländern zur See günftiger als vorher. Was zus nächſt Weftindien angeht, fo waren ſowohl die Franzoſen als bie

England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781. 989

Englaͤnder mit den Befehlshabern ihrer Flotten in den Gewäſſern jener Gegenden im Jahre 1779 unzufrieden gewefen und erſetzten fie im Jahre 1780 durch ander, D’Ejtaing ward, als er nach Europa zurückkam, nicht mehr gebraucht, weil er fich beim An— griff auf Savannah in Georgien und auch bei andern Gelegen- heiten jehr übereilt und unverftändig bewiefen hatte; die Englän—

der waren mit Lord Byron unzufrieden, weil er ftatt feine in

Weftindien erfochtenen Vortheile zu verfolgen, eine Kauffahrtet- Flotte nach Europa geleitet hatte, Das englifche Minifterium, mit allen alten Admirälen gefpannt, war daher höchlich erfreut, als der tüchtigfte Admiral der englifchen Flotte, der fich aber durch Auf- wand und Spielen zu Grunde gerichtet Hatte und durch Schul- den in Paris zurücgehalten wurde, feine Dienfte anbot. Admi—

ral Rodney war in jeder Hinficht tüchtiger Seemann, aber er

hatte auch alle Fehler der Helden. Er prahlte gern, ex verfpielte was er hatte und was er borgen konnte, und feine Liebfchaften fofteten viel Geld; er bedurfte daher der Priſengelder ebenfofehr als das Mintfterium feiner Dienfte, Die Frangofen erzählen, was man aber bei Lacretelle Tefen muß, weil fich die- Acht franzöſiſche Bravade in einfachen Deutfch nicht gut ausnimmt, er habe bei

Marſchall Biron 'gefpeist und diefen durch die Prahlerei geärgert,

daß er, wenn ihn nicht feine Schulden in Paris hielten, Spanter und Franzoſen fohlagen werde! Dieſe Prahlerei Habe den Düe de Biron bewogen, ihm zu zeigen, daß fich die Franzoſen vor ihm nicht fürchtetenz er habe ihm daher zur Bezahlung dev Schulden Geld geliehen und Rodney fet abgereist, 59)

Wie es fich nun auch mit diefer franzöſiſchen Anekdote und mit den großprahlenden Nedensarten verhalten mag, deren wir bei den Franzoſen gewohnt find, Rodney reiste nach England und

88) Für die Lefer, die Lacretelle nicht zur Sand haben, wollen wir wes nigftens den prächtigen Schluß der ſchönen Geſchichte herſetzen. Vol. V. p 212. Le marechal de Biron tira une vengeance noble mais indiscröte de cette insulte faite a sa patrie: peu de jours apres il acquitta les dettes de Rodney. Partez, Monsieur, lui dit-il; essayez de r&aliser vos promesses; les Francais ne veulent Be se prevaloir de l’obstacle, qui vous empechait de les accomplir; c’est par leur bravoure qu'ils met- tent leurs ennemis hors de combat. BERN

Schloffer, Geſch. dr 18, u. 19, Jahrh. IV. Th, 1, Aufl, 19

u

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290 England, Frankreich, Spanien, von 1776-1781:

erhielt den Oberbefehl der nach Weftindien beſtimmten Flotte, welche, zwanzig Segel ftark, im Januar 1780 auslief. Da fchon damals Gibraltar mit einer Belagerung bedroht ward, fo hatte Rodney den Auftrag, zuerft Vorräthe und Berftärkungen in dieſe Beftung zu bringen, von dort aber fogleich nach Weftindien über— zugehen. Er ward auf feiner Fahrt vom Schickſal ganz befon- ders begünftigt.. Zuerſt traf es fich, daß die vereinigte franzöſi— ſche und fpanifche Flotte, welche, vierzig Schiffe flarf in Breit lag, nicht fegelfertig war, als Rodney ausfuhr, obgleich Aranda ausdrücklich von Parts nach Breſt gereift war, um das Auslau= fen zu betreiben, Die Brefter Flotte konnte alfo Rodney nicht folgen und auch die Befehlshaber der Schiffe von Gibraltar und die der Schiffe in den galliciſchen Häfen fühlten fich vereinigt nicht ftarf genug, um es mit der englifchen Flotte aufzunehmen, Rodney traf außerdem durch Zufall unterwegs eine bedeutende Flotte son Transportichiffen, welche Vorräthe und Munition von San Sebaftian nach Cadix bringen follte. Alle dieſe Schiffe und Vor: räthe nahm er: weg nebſt dem Linienfchiff yon 64 Kanonen, mel- ches fie geleitete. Die zwei fpantfchen Geſchwader, welche verei— nigt Rodney Hatten angreifen follen, wurden hernach durch Un— wetter getvennt und jo befchädigt, daß das eine in Garthagena, das andere in Cadix mußte ausgebeffert werden. Als hernach Don Juan von Langara mit feinem: Theil der Flotte aus Cartha— gena auslief, traf er bei Cap. Set. Vincent auf die ihm dop— pelt überlegene engliiche Flotte und lieferte ihr ein Treffen, In diefem Treffen beiviefen die Spanier zwar bewunderungswürdige Tapferkeit, fie unterlagen aber gleichwohl, Don Juan ſelbſt ward nach tapferer Gegenwehr gefangen, alle feine Schiffe ges nommen oder vernichtet; nur vier entfamen, von denen zwei jehr beichädigt waren.

Nach diefem Stege fegelte Rodney erſt nach Gibraltar ——— füllte dort Alles, was ihm aufgetragen war, und ſchickte alle von ihm erbeuteten Schiffe und einen Theil ſeiner Flotte nach Eng— land. Auf dieſer Fahrt nahm Digby, der die geleitenden Schiffe kommandirte, unterwegs noch ein Schiff von 64 Kanonen. Mit den übrigen gelangte Robney im März nach St. Lucia, wo er eine an ng franzöſiſche Flotte unter Guichen vor⸗

England, Frankreich, Spanien, bon 1776—1781, 291

fand, der in Verbindung mit den Spantern Jamaica und Flo— rida angreifen ſollte. Guichen erwartete den von den Spanier ausgeſchickten Admiral Solano, der mit zwölf Kriegsſchiffen, ei= ner ganzen Flotte von Transportichiffen und eilftaufend Mann Landungstruppen nach den Antillen beftimmt war; er juchte daher einem Treffen fo Tange auszumweichen, bis er ich mit den Spa— niern vereinigt habe, Dies veranlaßte in den Monaten April und Mai einen Wettftveit zwiſchen Guichen und Nodney, der in der Gefchichte des Seewefens und der Kunft, den Seekrieg zu führen, ſehr merkwürdig iſt. Rodney nämlich ward zunächit ges priefen, weil er es dahin zu bringen wußte, daß die Franzoſen, noch ehe ſich Solano mit ihnen vereinigt hatte, am fiebenzehnten April einem Gefecht nicht ausweichen konnten, und Guichen ward in ganz Guropa berühmt, weil er mit gleichen Kräften einer engs

liſchen Flotte, von einem Admiral commandirt wie Rodney war,

ein Treffen Vieferte, ohne eine Niederlage zu erleiden, Rodney Elagte bet Gelegenheit des Treffens laut über das englifche Mi— nifterium, über die Admiralität und. ihren Prafidenten Lord Sand wich. Auch über den tapfern Hyde Barker, der unter ihm come mandirte, und wie er hernach bewies, eben jo unzufrieden mit dem Minifterium war als er, beklagte ſich Rodney. Er lobte in fetz nem Bericht über das Treffen mit den Franzoſen auch nicht einen Einzigen feiner DOffiztere. Er, wie Hyde Parker, fagten gang laut, das Minifterium richte die Marine zu Grundez denn es befördere nicht die verdienten Offiziere, fondern die miniſteriell Gefinnten oder die, welche ihm durch ihren Einfluß ab durch ihre Verwandtſchaft nüglich werden könnten.

Am fünfzehnten und am neunzehnten Mat brachte zwar Rodney die franzöſiſche Flotte zu neuen Gefechten und konnte fich eines am neunzehnten erfochtenen Sieges rühmen; dev Schaden aber, den die Cnglander ihren Feinden zugefügt Hatten, war gleichwohl fehr unbedeutend, Während diefer Zeit näherte fich Solano der Infel Martinique, immer in den Engen zwiſchen den Inſeln den Engländern entjchlüpfend, indeſſen Rodney in der Bay von Garlisle auf Barbados Tag, und Guichen in Martinique auf eine Gelegenheit harte, fich mit den Spantern zu vereinigen. AS Rodney aufs neue gegen Solano unter Segel ging, war

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909 England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781.

diefer fo glücklich, ihm auszumweichen und in einen Hafen einer der Heinen Infeln einzulaufen, wo fich hernach Guichen mit ihm verband, ohne dag Rodney im Stande war, es zu verhindern, Da Solano ein bedeutendes Landheer an Bord hatte, melches gegen Jamaica beftimmt war, und ohne Geleit der franzöſiſchen Flotte nicht dahin gelangen Fonnte, jo hatten die Franzofen und Spanter ihren Zweck erreicht, die Engländer den ihrigen verfehlt,

Die Bereinigung der ſpaniſchen und franzöſiſchen Flotte er- folgte oberhalb Dominica, und die vereinigte, jetzt ſechs und dreißig Schiffe ftarfe Flotte war Nodney fo jehr überlegen, daß er ſich nach Sancta Lucia 309. Die Infel Jamaica ward aber gleichwohl son den Feinden nicht angegriffen. Clima, jchlechte Verpflegung, anfterfende Krankheiten richteten nämlich unter den Seeleuten und den vielen Soldaten, welche ſich auf den Schiffen befanden, größere Niederlagen an, als eine blutige Schlacht hätte hun Tonnen, und Guichen, nachdem er die ſpaniſche Flotte nad) St. Domingo geleitet hatte, fand rathſam, ſchon im Juli nad Europa zurüczufehren. Rodney folgte den Franzofen und erfuhr in Europa, daß feine Landsleute in dem Jahre, ohne geichlagen zu werden, an Geld und an Kauffahrteifchiffen fehr großen Ver— Yuft erlitten hätten, Der Verluſt der englifchen Seehandlung war in dem Jahre großer, als jemald in einer Zeit son wenigen Monaten in irgend einem andern Kriege vorher oder auch nach— ber. Das Gefchret gegen die Regierung ward dadurch ſehr per mehrtz ob man gleich eingeftehen muß, daß der Verluſt eher Durch Fügung des Schicffals, als durch Schuld der engliſchen Miniſter erlitten ward.

Während namlich die Franzoſen mit den Engländern an ihren eigenen Küften und in den weftindifchen und oſtindiſchen Meeren Fampften, lief Ludwig son Gordoya mit einer ſpaniſchen Blotte aus, um eine große englifche Flotte wegzunehmen, welche Alles an Bord Hatte, was man zur Kriegsräftung in Oftindien and Weftindien gebrauchte und alle zur Verpflegung nöthigen Borräthe in die Golonien bringen ſollte. Die beiden nach Weft- indien und nach Oftindien bejtimmten Flotten fegelten bis an den Drt, wo ihr Weg fich trennte, vereinigt und unter derſelben Be— deckung, und Ludwig von Cordova war jo glücklich, fie vor ihrer

Bewaffnete Neutralttät: Krieg mit Holland, 293

Trennung einzuholen und mwegzunehmen. Gr nahın am 9. Au— guft 1780 fünf und fünfzig Schiffe, auf denen fich 2865 Perfo- nen befanden und brachte fie nach Gadir, Faft zu derfelben Zeit nahmen die Amerikaner 14 Schiffe von der englifchen nad Canada beftimmten fogenannten Quebec-Flotte.

2.

BDewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland,

Im Jahre 1781 waren die Engländer mit der Gefahr bes droht, daß fich die ſämmtlichen neutralen Mächte von Europa endlich einmal gegen die Anmaßungen der Engländer zur See verbinden und daß ſich Rußland dabei an die Spite stellen würde; es blieb indeſſen bei diplomatifchen Schritten, Wir wür— den der Unterhandlungen und Traftate über die gewaffnete Neu— tralität, wie vieler andern blos dem Diplomaten wichtige Dinge daher nicht erwähnen, wenn nicht das Neutralitätsprojeft den Krieg zwifchen Holland und England herbeigeführt, und Katfer Paul in Verbindung mit Bonaparte im Anfange unferes Jahr— hunderts den Entwurf, den Katharina IL den Engländern zu Gefallen vereitelt Hatte, wieder hervorgeſucht hätte, Die Gefahr, welche den Engländern plößlich von Rußland aus drohte, Fam ganz unerwartet, da der englifche Minifter zu Petersburg ein fehr genauer Freund der Katferin war, und biefe felbft glaubte, daß die bewaffnete Neutralität, von dev ihr Panin, der Minifter dev auswärtigen Angelegenheiten, jo lange geredet Hatte, den Engländern jehr Lieb fein werde, Panin wußte recht gut, welche Bewandtniß es mit einer Behauptung der neutralen Schifffahrt während eines Seefriegs habe; die Katferin wußte es aber nicht.

Was das Verhältniß der englifchen Negterung zur ruſſiſchen angeht, jo hatten die englifchen Minifter, ehe fie deutfche Trup— pen in Sold nahmen, fogar den Plan gehabt, zwanzigtaufend Mann Rufen nach Amerika zu fehiefen, und waren hernach über eine nähere Verbindung mit Katharina in Unterhandlung getre- ten, Diefe Unterhandhungen leitete dev englifche Miniſter Harris, der im Nevolutionsfriege als Unterhändler mit der franzöfifchen republikaniſchen Regierung unter dem Namen Lord Malmsbury

294 Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland,

als Diplomat glänzte. Diefer Hatte Katharina's ganzes Ver— trauen, und nach einer fehr guten Quelle 569) waren die Ynter- Handlungen über eine ganz befondere engere Verbindung zwifchen Rußland und England fchon weit vorgefchritten, als Panin der Kaiferin son einem Projekt redete, deſſen Ausführung, wie er behauptete, das Anfehn, die Größe und den Glanz der Kaiferin auf den höchſten Punkt heben und auch den Engländern, wie - allen andern Mächten Europa’s vortheilhaft fein werde, Diefes urſprünglich aus Spanten herftammende Projekt Tegte Panin fei- ner Katferin vor, als diefe ihre Ehre von den Spaniern gekränkt glaubte, welche ihren höchſten Unwillen dadurch erregten, daß fie ſich Gewaltthätigfeit gegen die ruffiichen Schiffe erlaubten, die den Engländern in Gibraltar hatten Lebensmittel zuführen wollen. Die Katferin Fonnte daher nicht: ahnen, daß das ihr vorgelegte Projekt, welches fie billigte, weil fie die Verhältniffe nicht genau Ffannte, den Engländern tödtlich zumider fein werde.

Die Spanier nämlich hatten damals ſchon längſt den Hafen yon Gibraltar für blofirt erklärt, und zwar lange vorher, ehe nur Anftalten zu einer Belagerung getroffen waren, fie hatten, wie man das nennt, eine Papterblofade eingerichtet und zwei ruſſiſche Getreidejchiffe, welche trog der nur in der erlaffenen Erklärung, alſo nicht in der Wirklichkeit, fondern auf dem Papiere eriftiven- den Blokade in den Hafen einlaufen wollten, weggenommen. Harris beftärkte die Kaiferin in diefem ihrem Unmwillen über Ver— letzung neutraler Schifffahrt, hütete fich aber wohl, ihr zu jagen, - daß dieje bei andern Mächten nur als Ausnahme geftattet werde, bei den Engländern aber als Syſtem und ald Recht gelte, Die Kaiferin ließ darauf zu feiner großen Freude fünfzehn Kriegs— fchiffe zur Beſchützung ihrer Flagge in Kronftadt ausrüften. Die

59) Dohm iſt unftreitig über vie bewaffnete Neutralität die befte Duelle, feine Nachrichten ftehen in feinen Denkwürdigkeiten im 2. Theil, ©; 104 u. f. Damit muß man verbinden, was Core aus den Papieren der engltfchen Staatsmänner urkundlich, wenn gleich etwas breit und unkritiſch, zufammenftellt, in feinen Memoirs of the kings of Spain etc. etc. Vol. IH. Chapter LXXIII. p. 438 sqgq. der Ausgabe von 1813 in 4. Die Aftenftüde ſelbſt muß man bei Martens; Recueil des traites etc, etc. im 2. und 4. Theile nachleſen.

Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 295

fen Augenblick bezeichnete ihr Graf Panin als den günftigften, um fich als Schützerin aller kleineren Seemächte geltend zu ma= chen, und erhielt den Auftrag, einen Entwurf der Behauptung der Rechte dev Neutralen zu entwerfen, gab jedoch den Spaniern einen Wink davon, Weil Panin feinen Entwurf auf einen ſchon früher son. Spanien ansgegangenen und den Franzoſen mitge— theilten Plan gründete, gab Florida Blanca, deffen Bericht man bei Core in feiner Gefchichte des ſpaniſchen Zweige des Haufes Bourbon nach englifchen Gefandtichaftspapieren findet, feine Zu— ſtimmung fehr- bereitwillig.

Der englifche Gefandte Fannte zwar den wörtlichen Inhalt der Erklärung, welche Panin auffeten follte, nicht, wohl aber der Kaiferin Neigung für England und die Rüftungen in Kron— ftadt, Er traute auf die Verficherung dev Katferin, daß fie näch— ftens eine den Engländern fehr vortheilhafte Beitimmung über Neutralität zur See werde ausgehen laflen, Wie jehr ward er überrafcht, als das Aktenſtück darüber am 26, Februar 1780 er= ſchien und dem von den Engländern bisher geübten Gewaltrecht ganz und durchaus entgegengefeßt war!! Panins Antrag ging namlich dahin, die fammtlichen neutralen Mächte aufzufordern, in einen Bund mit Rußland zu treten, um, wenn es fein müßte, das in einem Manifefte von Rußland aufgeftellte und von den friegführenden Mächten anzuerkennende Seerecht mit den Waffen zu behaupten, Die wejentlichen Punkte des zufolge der ruſſiſchen Er— Harung zu behauptenden Rechts dev Neutralen find folgende fünf:

1) Neutrale Schiffe dürfen an den Küften der Friegführenden Mächte von Hafen zu Hafen Handel treiben.

2) Ein neutrales Schiff macht auch die Waare neutral, die es geladen Hat, außer, wenn diefe Waare eigentliche Con— trebande iſt.

3) Gontrebande im engern Berftande find nur Waffen und Kriegsbedürfniffe,

4) Nur alsdann kann ein Hafen für blokirt angeſehen werden, wenn er ſo eingeſchloſſen iſt, daß man ohne Gefahr nicht einlaufen kann.

5) Kein Urtheil eines Priſengerichts wird als gültig erkannt, bei dem dieſe Grundſätze nicht berückſichtigt ſind.

296 Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland,

Durch die Bekanntmachung diefer Artikel und durch die Auf- forderung, im Namen feiner Regierung beizuftimmen, ward Harris in große Derlegenheit geſetzt, denn das englifche Minifterium fchten nur die Wahl zu haben, entweder feine Art zu handeln dffentlich zu befennen, oder auch mit Rußland in Streit zu gera- then, weil ja Spanien und Frankreich die. von den Nuffen auf- geitellten Grundſätze ſogleich anerkannten und gelten ließen. Die Engländer wichen vorerſt nur aus, fie juchten Zeit zu gewinnen, und verjchoben ihre beftinmte Erklärung, weil Harris recht gut wußte, daß auch die Katferin keineswegs wünſche, mit England in ernften Streit zu gerathen, Von Rußland” wurden indeſſen alle neutralen Mächte pomphaft eingeladen, der von Panin vers fündigten Neutralität, welcher durch ein vereinigtes Geſchwader Nachdruck gegeben werden follte, beizutreten. Bon der. Handlung, Rhederei und dem ganzen Seewefen der übrigen Mächte Hatte England wenig zu beforgenz; Holland allein war durch Flotte und durch Kapitalien im Stande, die ganze englifche Handlung, bie e8 ehemals gehabt Hatte, wieder an fich zu bringen, wenn es auf die von Rußland verfündigte Weife in feinem neutralen Handel wäre gefchüst worden. Englische Kabalen und Englands Einfluß am Hofe de3 Erbitatthalters, auf deflen Gemahlin und auf den braunfchweigifchen Prinzen, der ihn leitete, bewirfte aber ein Zö— gern und Zaudern dev hollandiichen Regierung, welches den Bei— tritt Hollands zum Neutralitätsbunde jo lauge verzögerte, bie England einen Vorwand zum Bruche mit Holland gefunden hatte, wodurch die Republif dann son der Zahl der neutralen Mächte ausgeſchloſſen war.

Die Verzögerung der Annahme des für Holland vortheil⸗ haften Bundes ward mit Recht der erbſtatthalteriſchen Partei in den Generalſtaaten zugeſchrieben, welche ſich ſcheute, die Englän— der zu beleidigen, weil ſie an dieſen eine Stütze gegen die in Amſterdam und an andern Orten immer mächtiger werdende altrepublikaniſche Partei (die Patrioten) hatte. Im April ward ſchon Holland zum Beitritt aufgefordert, die Regierungspartei verzögerte aber die Annahme bis im November.

Daß der Vorwurf, den die Holländer in dieſem Falle, wie in andern, ihrer damaligen Regierung machten, daß ſie aus Ab—

Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 297

neigung gegen die in Amſterdam und auch in vielen Provinzen immer mächtiger werdende altrepublikaniſche Partei ſich zu ängſt— lich an England anſchließe, nicht ganz ungegründet war, geht aus den Debatten in den Generalſtaaten bis November deut— lich hervor. König Guſtav III. von Schweden trat ſchon im Juli der Neutralitätsverbindung beiz Dänemark zögerte, denn Bernftorf, der die Angelegenheiten dieſes Reichs leitete, wäre aus vielen Urfachen gern der Zumuthung ausgewichen, doch gab ev Ffüglich den Umftänden nad, Unmittelbar darauf fchloffen die drei nordifchen Mächte, außer der allgemeinen, unter fich noch) eine befondere Verbindung. Sie verfprachen ſich nämlich unter einander, ihre Flotten auszurüften, die in der oben angeführten Erklärung aufgeftellten Grundfäße jegt und in der Folge zu be= haupten, Feine Kaper, von welcher Nation ſie auch fein möchten, durch den Sund in die Oftfee zu laſſen und nicht zu dulden, daß auf diefer See Feindfeligkeiten ausgeübt würden. Die Ver— zögerung des. Beitritt dev Niederlande zum Neutralitätsbündniſſe hangt mit der Gefchichte der nachherigen holländiſchen Revolution fo enge zufammen, daß wir bei diefer Gelegenheit auf die Ver— hältniffe und die Gefchichte der Republik der fieben vereinigten Provinzen der Niederlande fett dem Aachner Frieden einen Blick werfen müſſen.

Georgs II. Tochter Anna hatte nach dem Frieden von Aachen die Erbſtatthalterſchaft bis an ihren Tod um 1759 geführt, von diefer Zeit an blieb, Ludwig Ernſt von Braunfchweig, der ihr

= ſchon feit dem Jahre 1748 zur Seite geftanden, als Vormund

des nach feines Vaters Tode geborenen Wilhelms V. an der Spite des Kriegsweſens zu Waffer und zu Lande, Die Gefchäfte der Statthalterfchaft fielen an die Staaten der einzelnen Propin- zen. Dadurch erhielt die ariftofratifch= republifanifche, in den Niederlanden die patriotifche Partei genannt, ein ſehr bedeutendes neues Gewicht, befonders in der Provinz Holland, wo Amfterdam alle andere Städte an Einfluß in den Proyinzialftänden und auch in den Generalftanten übertraf. In Amfterdam gab «8 theils eine jogenannte alte Lömwenfteinifche, dem. Haufe Oranien entge= gengeſetzte Partei, theils fah man dort, wie in den andern Städ- ten mit Betrübniß Handel, Gewerbe, Schifffahrt, Seemacht von

298 Bewaffuete Neutralität, Krieg mit Holland,

Holland an England übergehen und ſchrieb der Regierung zu, was Folge der Umftände war, Man war befonders mit dem braunfchweigifchen Prinzen und mit feiner Vorliebe fir England unzufrieden. Man klagte mit vollem Rechte darüber, daß er den künftigen Grbftattbalter der Republik gerade fo fchlecht erziehen laſſe, als man deutfche zur Regierung beftimmte Prinzen zu erziehen pflegt, ja daß er ihm nicht einmal militäriſch und höfiſch dreflire, was man doch in Deutfchland noch allenfalls zu thun pflegt.

Schon vor dem Tode der Wittwe Wilhelms IV. war zwi— chen den Staaten und dem Herzog Ludwig Ernſt mancherlei Zwiſt; feit 1759 hörte der Streit gar nicht auf. Die Engländer benutzten nämlich, jo lange Anna lebte, das Verhältniß diefer Prinzeffin zum Könige von England und die Vernachläfftgung des hofländifchen Kriegsweſens, befonders der Flotte, zu ihrem Bortheil. Anna's Vertrauen auf die Freundfchaft Englands und der ewige Streit der Negterung mit einzelnen Staaten machte e8 den Engländern leicht, Hollands Handel zu befchränfen und ihre eigne Herrichaft zur See überall geltend zu machen, Sie verleßten bie - ausdrücklichen Verträge, welche die neutrale Schifffahrt der Nieder- länder anerkannten, auf eine brutale Weiſe, ſobald der fiebenjah- rige Krieg in Amerika zwifchen ihnen und den Franzoſen begon- nen hatte. Sie erklärten jeden Handel mit dem franzöſiſchen Weftindien für unerlaubt, Schiffbauholz und andere Schiffmate- vialien für Gontrebande und nahmen in dem einzigen Jahre 1756 ſechs und fünfzig holländiſche Schiffe, denen fie Schuld gaben, daß fie das von den nglandern ganz willfürlich aufgeftellte Recht verklebt Hätten, Im Jahre 1758 ſtellte die holländiſche Kaufmannfchaft den Generalftaaten vor, daß fie in der Furzen Zeit des Kriegs zwiſchen England und Frankreich ſchon über zwölf Milfionen Gulden verloren hätte,

Der Schein war dabei offenbar gegen die hollandifche Re— gierung, welche den Klagen der Handelsleute nicht mit Nachdruck abzuhelfen juchte, obgleich die Engländer nicht bloß das Natur— vecht, fondern die pofitiven Beftimmungen des Ütrechter Friedens verleiten, nach denen auch ſogar feindliches Eigenthum durch bie neutrale Flagge gedeckt werden follte.e Der Herzog Ludwig Ernit hätte alferdings beſſere Rüftungen machen und energifcher handeln

Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 299

folfen. Dies ſchien um fo mehr die Pflicht eines Generalcapitäng und Generaladmirals, als es fehr oft zu fürmlichen Seegefechten fam, wenn die hollandifchen Kriegsſchiffe, welche die Kauffahrer geleiteten, mit den englifchen Kapern oder Kriegsichiffen zuſam— mentrafen, Man vechnete damals, daß bis zum Pariſer Frieden in jedem Jahre wenigſtens ein Dutzend holländiſche Schiffe in England nach dem einfeitigen englifchen Geſetze für gute Brifen erklärt wurden,

Nach dent Ende des. fiebenjährigen Kriegs oder vielmehr ſchon feit dem Tode der Prinzeffin Anna (1759) ward der innere Zwiſt in den Niederlanden durch die Perfönlichfeit des Herzogs und durch feinen antirepublifanifchen Charakter fehr verbittert, Der Herzog war eingebildet und herrſchſüchtig, er vermehrte die natür— liche Unfähigkeit des Prinzen durch die Art der Erziehung, die er ihm geben ließ, und machte ihn endlich fogar durch einen vor jedermann geheim gehaltenen, alfo gefeg= und verfaffungswidrigen Vertrag von fich abhängig. Das Geheimnig erbitterte die Gemü— ther doppelt, weil diefe Urkunde, welche fich der Herzog von feis nem Mündel ausftellen ließ, fobald er volljährig geworden war, der Kenntniß feiner zahlreichen Feinde nicht gänzlich Fonnte ent- zogen werden, wenn gleich ihr wortlicher Inhalt erft ganz fpat ang Licht Fam. Der Prinz ward nämlich 1766 volljährig, er hatte in den Generalftanten jowohl, als in den Staaten der ein- zelnen Provinzen eine mächtige Partei gegen fich; die Magiftrate der einzelnen mächtigen Städte waren unter Ludwig Ernſts Ver— waltung faſt durchaus antioranifch geworden, er glaubte fich daher ohne den Herzog nicht helfen zu können und ward in dieſer Mei— nung von Preußen und England beſtärkt. Dies war die Veran— laffung zu dem auf des Herzogs Verlangen gewagten ganz ges jeßwidrigen Schritt, um ihn bei fich zurückzuhalten, fich ſelbſt und jeinen freien Staat einem fremden Prinzip zu unterwerfen. Gr ftellte nämlich eine Urfunde aus (Acte van Consulentschap), worin er fich verbindlich machte, in jeder Stantsangelegenheit dem Rathe feines vormaligen Vormunds zu folgen, Don diefer Acte wußte bloß der Rathspenſionär (Minifter der auswärtigen Ange- legenheiten), der englifche Gefandte und zwei Häupter der orani— ſchen Partei, die Andern ahneten nur, daß ein Contract vorhan—

300 Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland,

den fein möge, nahmen aber die ganze Sache für eine Gonfpisation gegen die Ariftofraten oder Patrioten und arbeiteten unaufhörlich der ftatthalterifchen Regierung entgegen. Es erfolgte unter diefen Umftänden, was in freien Staaten ungermeidlich, wenn fish zwei fat gleich mächtige Parteien gegen- über ſtehen; auch die billigften und weifeften Vorfchläge des Her- 3098 fanden Widerftand in den einzelnen Staaten, wo die Ariſto— fratie übermächtig war, während dev gemeine Haufe überall blind- lingd dem Prinzen anhing. Schon um 1767 wollte der Herzog dem gänzlichen Verfall der Seemacht vorbeugen und Fonnte nicht durchdringen; ev wollte um 1769, um 1770 und 1771 Lands und Seemacht wenigitend fo weit vermehren, als durchaus erfor= derlich war, um nur das Beftehende "zu erhalten und die Garni— jonen in den Barrierepläten Belgiens zu verſtärken; ex feheiterte aber jedesmal an dem Kräamergeift, an der Parteiung und an der Kleinlichfeit der Staaten. Um 1773, als man fah, dag ſowohl Spanten als Frankreich nicht bloß zur See große Rüftungen mach— ten, ſondern eine ganz neue furchtbare, der englifchen an Zahl der Linienfchiffe gleiche Marine fchufen, wollte die Provinz Hol- Yand endlich die Seemacht verftärkt wiffen. Weil aber jede Ver: ftärfung des unbedingt dem Statthalter gehorchenden Heers den Patrioten verdächtig war, weigerte fich die Provinz auch in dieſem entjcheidenden Augenblicke, dem Borfchlage der ftatthalterifchen Re— gierung Gehör zu geben, dem zu Folge Land= und. Seemadht zugleich zu einer folchen Stärfe an Zahl und Organifation ges bracht werden follten, daß die Republik bei den damals ſchon ausgebrochenen Feindfeligkeiten zwifchen England und Amerifa ihre Neutralität geltend machen könne. Man gab nichtödeftoweniger den Verfall der Land- und Seemacht ganz allein der ftatthalteri= fchen Regierung Schuld, obgleich die Generalftaaten im Jahre 1776 den einzelnen Provinzen offen und rund heraus anzeigten, daß die vereinigten Staaten weder Land= noch Seemacht hätten, die fie einem Feinde entgegenfegen dürften. Die Engländer wußten, daß die Niederländer durchaus nicht im. Stande wären, weder eine Seemacht, noch eine Landmacht aufzuftellen, oder * nur unter ſich über eine energiſche Maßre— gel eintg zu werden, weil immer die oraniſche Partei den Patrios

Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 301

ten und diefe jener nicht trauten; fie erlaubten daher, nicht bloß ben Holzhandel zu ſtören, der nach dem Völkerrecht frei fein follte, fondern auch die ausdrüclichen Verträge mit Holland zu verlegen, Trob der den Holländern in dem durch den Utrechter Frieden be= ftätigten Freundfchaftsvertrage von 1674 zugeftandenen Vorzugs— rechte vor andern Nationen machten fie ihr Durchſuchungsrecht mit Gewalt und mit den Waffen mitten im Frieden geltend.

Man fah übrigens deutlich, daß bei der fonderbaren Ver— faffung der Niederlande, mo Städte, wie Amfterdam und andere, wo fogar ganze Provinzen in vielen Punkten son den General- ftaaten ganz unabhängig waren, auch in Rückſicht der Amertfaner und Engländer ein verſchiedenes Syſtem befolgt ward. Die Re— gierung und ihr Anhang, der befonderd aus den Provinzen, two, wie in Seeland und Geldern, der Prinz große Güter Hatte, und aus der holländiſchen Nitterfchaft beftand, waren den Engländern günftig, die holländischen Städte dagegen, und bejonders Amiter- dam, waren zu einer Verbindung mit Sranfreich und zur Begün— ſtigung der Nordamerifaner geneigt, Der Prinz war fett 1767 mit einer Nichte des Königs Friedrich II., der Schweſter feines Nachfolgers Friedrichs Wilhem IL, vermählt, die fich bald auch in die öffentlichen Angelegenheiten mifchte, weil der Prinz ſelbſt phlegmatifch, träge und unbeholfen war und, wie es ſchien, fich offenbar an England lehnte. Die Generalftanten empfanden bald den Einfluß dev Pringeffin, die Stadt: und Provinzialregierungen handelten dagegen um fo öfter im Widerfpruch mit der allgemet- nen Landesregierung. Auf diefe Weiſe konnten die Engländer mit einem Schein Nechtens Hagen, daß die Provinz Holland den berühmten Freibeuter Paul Jones im Texel zugelaffen habe, daß man die niederlandifche Infel St. Euftathius in Weftindien zum formlichen Stapelplate des Handels der Nordamerifaner mache, daß eine englifche Fregatte faft unter den Kanonen der Infel ges nommen jet und daß englifche Brifen dort verkauft würden, 60)

60) Man wird aus Franklins Briefen ſehen, daß, während Franklin in Paris war, feine offictelle Correſpondenz über St. Euſtathius und Holland ging, ſobald der Krieg zwiſchen Frankreich und England erklärt war. Das ganze Benehmen und das Verhältniß der Holländer zu andern Mächten gibt Franklin in einem Briefe som 13, Jun, 1780 in wenigen Worten fehr rich⸗

302 Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland.

Gefandter Englands mar ſchon damals derſelbe Joſeph Yorke, dev hernach die Prinzeſſin in allen ihren preußifchen Hofgrilfen beitärkte und ihr gebieterifches und ftolzes Benehmen durch feine Cabalen unterjtüßte, Diefer bewirkte dann freilich, daß der Erb— ftatthalter den Heren de Graf, welcher Gouverneur von St, Eu— ftathius war, zurückrufen ließ; de Graf führte aber feine Sache jo gut, daß er gerechtfertigt und auf die Infel zurückgeſchickt wurde, Bei dem innigen und freundichaftlichen Verhältniß zwiſchen

den Niederlanden. und England während des öſterreichiſchen Erb— folgefriegs, als das Haus Hannover den Anhang des Prätenden- ten aus dem Haufe Stuart fürchtete, war mit den Niederländern ausgemacht worden, daß, im Fall Schottland oder England mit - einer Landung des Feindes bedroht würden, der Grbftatthalter feine fchottifchen Garden zur Vertheidigung des bedrohten Königs von Großbritannien leihen ſolle. Diefen Artifel wollten die Eng— länder geltend machen, als die Spanier und Franzofen an ihren Küften erfchtenen; die Staaten willigten aber nicht in ein Begeh— ven, welches der Prinz gern gewährt hätte, Ihre Redner bewieſen, daß in jenem Artifel nur von dem Fall die Nede geweſen, wenn die hannöverſche Dynaftie bedroht werde. Dies erbitterte die Eng- länder; noch mehr zürnten fie aber. darüber, daß ber dirigirende Minifter oder fogenannte Penſionarius der Provinz Holland und die beiden Bürgermeifter von Aınfterdam, welche Stadt in Be— ziehung auf Handel und auswärtige Berhältniffe mehr galt als Das ganze übrige Land, ganz erklärte Republifaner und Freunde der Franzofen waren. Die Amfterdamer unterhielten eine genaue Verbindung mit den Amerikanern, fo übel auch fonft der demo— fratifche Franklin mit der bürgerlich ariſtokratiſchen Partei der Holländer zufrieden ift, fie begünftigten auch die Anleihen, welche

die Amerikaner unter franzöſiſcher Bürgſchaft machten. Die Eng

länder neckten dagegen die Holländer auf mancherlei Weile. Sie

tig an. Works Vol. VIII. p. 471. Holland, offended by fresh insults from England, is arming vigorously. That nation has madly brought itself into the greatest distress, and has not a friend in the world. Das ift dafjelbe was von den Menfhen unferer Seit gilt und was Jugur⸗ tha beim Scheiben yon Rom fagt: O civitatem venalem si onietem in⸗ venerit!!

Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 46

vernichteten ihren Holzhandel, weil das Holz zum Ban von Kriege: ſchiffen gebraucht werden könnte, fie hinderten mit Gewalt ihren Verkehr mit den franzöſiſchen weſtindiſchen Colonien. Die Hol- länder, um den Franzofen gefällig zu fein, unterfagten dagegen ihren Landsleuten die Fahrt nach Gibraltar, damit die Engländer nicht durch holländiſche Zufuhr verforgt würden.

Während es das Anfehn hatte, als wenn England mit der Provinz Holland und der Stadt Amfterdam in ftiller Fehde, mit ber Regierung des Erbftatthalters und mit den Generalitaaten aber im-beften Einverſtändniſſe jet, ereignete fich ein Vorfall, der das gute Verhältniß zwifchen dem Grbftatthalter und den Dritten nothwendig ftören mußte, wenn auch gleich die Holländer wegen des fchlechten Zuftands ihrer Flotte und ihres Heers nicht daran denfen fonnten, einen Krieg anzufangen. Gerade um die Zeit nämlich, als in Rußland der Plan einer Neutralität, welche durch die ver— einigte Seemacht aller nicht in Krieg begriffenen Mächte geſchützt werden follte, zur Neife Fam, geleitete der hollandifche Contread— miral (Schout by Nacht) Bylandt mit drei Kriegsichiffen und einigen Fregatten eine holländiſche, ins mittelländifche Meer be= ftimmte Handelöflotte. Zu diefer Flotte gefellten fi, ohne daß ihnen jedoch Bylandt feinen Schuß zufagte, einige mit Bauholz beladene Schiffe, welches von den Engländern als Krieggmatertal betrachtet wurde, weßhalb fie diefe Schiffe auffuchten. Der. eng: liſche Capitain Fielding hatte Befehl, mit einem Kleinen Geſchwa— der die unter Bylandts Geleit fegelnde Handlungsfloite, die er im Januar 1780 einholte, zu durchfuchen und die mit Schiffsbedürf- niffen und mit Schiffsbauholz beladenen Schiffe wegzunehmen, Bylandt weigerte fich mit Recht, das Durchfuchen zu erlauben, er gab erſt nach, als die Engländer, die ihm weit überlegen wa— ven’, wirklich fenerten, dann fenfte ex feine Flagge, ald wenn er im Kriege wäre genommen worden. Er folgte dem englifchen Geſchwader mit feinem ganzen Convoy, ald wenn dev Krieg von ihnen erklärt und begonnen worden, in den Hafen, den er nicht eher verlafien wollte, bis jeine Obern ihm, als einem Kriegsge— fangenen, ihren Willen Fund gethan hätten,

VUeber diefen Borfall entftand ein heftiger diplomatiſcher Streit, ein Wechſel yon Schriften und Gegenichriften soll bitteren Bes

304 Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland,

Ichwerden und Vorwürfe beider Theile, bis die Engländer, die ſchon Tängft gern des Traftats von 1674 und der ihrem Seerecht entgegenftehenden Artifel des Utrechter Friedens entledigt geweſen wären, troßig erklärten: daß wenn nicht die Holländer innerhalb ei= ner Frift von drei Wochen Alles das erfüllt hätten, was fie von ihnen forderten, fie fich nicht ferner durch die befondern Verträge gebunden halten würden. Als hernach über diefe Forderungen in den Generalftanten bevathen ward, waren alle Provinzen, außer Seeland, gegen die Bewilligung und man erwartete ſchon damals eine Kriegserklärung; doch fanden die Engländer vorerft noch nicht rathſam, Feindfeligfeiten anzufangen, Das englifche Miniftertum wollte Zeit gewinnen. Die Regierung wollte die Nation nicht gleich in einen dritten Krieg verwickeln, wahrfcheinlich fuchten auch die englifchen Minifter durch ihre Zögerung zu bewirken, daß nicht die Fleinlich fparfamen und Angftlichen Staaten den Bor: Ichlag ihres Statthalters wegen Nüftungen unmittelbar annäh— men, Dielleicht wollten fie auch die ftatthalterifche Partei ab— halten, den angebotenen Neutralttätsbund mit Rußland ſchnell ein— - zugehen; fie ließen daher Fortdauer des Friedens hoffen, während fie in der That feindfelig handelten. Die englifche Regierung löſte nämlich Anfangs blos durch eine Erklärung an die Gene- ‚ralftanten den Bund mit den Niederländern, vermöge deſſen fie jeit 1674 auf befondere Vortheile Anfprüche hatten, förmlich auf, und erließ erſt dann eine dieſer angepaßte Proklama⸗ tion an die Britten.

Sn der Erklärung an die Generalſtaaten heißt es: „Die ‚vereinigten fieben niederländifchen Provinzen hätten den fett einem Sahrhundert zwifchen den beiden Nationen bejtandenen engen und beiondern Freundichaftsbund dadurch gebrochen, daß fie die gegen den feindlichen Einfall erbetene Hilfe nicht geleiftet hätten; Eng— land werde alfo Fünftig die Niederländer als eine Nation anfehen, die durch Fein befonderes Band an England geknüpft, fondern neutral jet, wie die andern nicht im Kriege begriffenen Nationen auch." Dies iſt ungefähr dev ſehr ing Kurze gezogene Inhalt der langen und ausführlichen diplomatifchen Erflärung, welche am 17, April 1780 der Proklamation vorausgeſchickt ward, In dies fer heißt 68 dann: „Die Bewohner der fieben vereinigten Propinz

Bewaffnete Neutralität. Krieg init Holland. 305

zen follten fortan nur angefehen und behandelt werden, wie jede andere fremde Nation, welcher England durch keinen bejondern Traktat irgend ein Vorrecht vor andern eingeräumt hätte, Es werde daher hiedurch im Namen des Königs verfündigt und auf feinen Befehl ausgerufen, daß bis auf weitern Befehl alle Be— günftigung der Niederländer angehenden Beitimmungen der Ver— träge, welche jemals mit den Generalftaaten abgefchloffen worden, aufgehoben bleiben follten, Inſonderheit gelte dies, von allen den BDegünftigungen, welche den Holländern in den Schifffahrtsver— trägen som 11. Dezember 1674 zugeftanden worden

Die Niederländer betrachteten mit Recht diefe einfeitige Auf— hebung eines feit Hundert Sahren beftehenden Seerechts als eine Brutalität, die weniger aus politischer Feindfchaft, als aus Han— delgeiferfucht hervorgegangen und darauf berechnet zu fein ſchien, der niederländtfchen Handel gänzlich niederzudrüden und die ver— einigten : Provinzen der Bortheile ihrer Neutralität zu beranben. Jetzt erſt beſchloſſen fie endlich. fi zu rüſten. Auch bei dieſer Gelegenheit zeigte ſich aber wieder, daß jeder große Gedanke den Krämerſeelen fehle, daß ihre Großen ſeit dem weſtphäliſchen Frie— den entartet ſeien und daß ihre Reichen allen republikaniſchen Sinn verloren hätten. Sie wollten nicht einmal Geld hergeben, als ihre Regierung, die ſie doch ſo heftig anklagten, nichts als Billiges und Nothwendiges forderte, da ja ohne Geld keine Rü— ſtungen konnten gemacht werden. Die Regierung forderte nämlich die Staaten auf, ihr die Mittel zu geben, um das Landheer auf fünfzig bis ſechzigtauſend Mann zu bringen und die Flotte durch fünfzig bis ſechszig neu zu erbauende Kriegsſchiffe zu verſtärken3 darüber begann eine lange Berathung und viel Gezänk. Nach langem Streiten und Zanken, nach vielem Mäkeln und Feilſchen ward die Forderung des Landheers ganz abgelehnt und nur die Erbauung son 32 Schiffen bewilligt, Die Partei der Patrio— ten war aljo im Bertrauen auf die Franzoſen eben jo langſam und träge, als die des Haufes Oranien im Vertrauen auf Eng— land. Die Regierung, das heißt der Herzog Ludwig Ernft und die Prinzeſſin Sriederife Wilhelmine, machten nämlich zu derſel— ben ‘Zeit das große Verfehen, daß fie ſtatt die von Rußland an—

getragene Verbindung fogleich anzunehmen, aus Rüsfficht auf Eng- Schlofſer, Geſch. d. 18, 19, Jahrh. IV. Thl. 4 Aufl, 20

806 Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland

land neun Monate lang zögerten. Da unter den neutralen Mäch— ten nur Holland allein die Meere mit ſeinen Schiffen hätte be— decken können, ſo wäre durch den ſchleunigen Beitritt des einzigen Hollands England mehr in Verlegenheit gekommen, als en die ganze übrige bewaffnete Neutralität,

Uebrigens war au dem serzugerten Beitritt ber. Niederlander zu der von Rußland proclamirten Verbindung nicht die Regierung allein Schuld, ſondern die Formen der verwickelten Föderativver— faſſung, die zuſammengeſetzte Verwaltung und Regierung, die na— türliche Langſamkeit und Bedachtſamkeit der Holländer im Bera-⸗ Ehen und Beſchließen Hatten Antheil daran. Erſt am 20. No— vember 1780 beſchloſſen die Niederländer dev bewaffneten Neu— tralität beizutretenz; die Engländer hatten daher Zeit genug, ber Kaiferin von Rußland einen fcheinbaren Vorwand zu geben, bie Annahme der holländifchen Unterfchrift ihres Tractats zu verwei— gern, wodurch diefer den Engländern ziemlich unfchädlich gemacht ward. Der Vorwand der Kaiferin, die Holländer abzuweifen, war, daß fie zwar in dem Augenblick, als fie fich im November für den Beitritt zur bewaffneten Neutralität erflärt hätten, noch eine neutvale Macht geweien ſeien, aber nicht mehr, als dieſe ihre Erklärung am 24, Dezember 1780 in Betersburg angekommen, Daß dies eine ſophiſtiſch-diplomatiſche Ausflucht war, verſteht fich son ſelbſt. Die Engländer nämlich hatten ſchon am 20, Dezem- ber der Republik den Krieg erklärt und Harris hatte im Novem- ber der Kaiferin einen Wink gegeben, daß diefes gefchehen werde, Die Engländer benutzten im entjcheidenden Augenblick die Un— terhandlungen ber Handelsverbindung, welche die Provinz Hol- Yand und befonders die Stadt Amfterdam einfeitig mit dem ame- rikaniſchen Kongreß begonnen hatte, um ihrem diplomatifchen Kunft- wiff ein Anſehen des. Rechts zu geben.

Nach der fonderbaren Verfaſſung der aus verbündeten, von der allgemeinen: Regierung in den mehrſten Dingen ganz unab— hängigen Provinzen beftehenden Republik Fonnte eine Provinz oder eine Stadt befondere Verträge mit fremden Staaten verab- zeden, ohne der allgemeinen. Regierung darüber Mittheilungen zu machen; dies hatte: die Stadt Amfterdam ſchon feit 1778 gethan. Die Verbindung. mit der neuen demofratifchen Republik ward

Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland. 307

durch das Amſterdamer Handlungshans Neufpville angeknüpft, weis ches, wie wir aus Franklins Briefen fehen, auch dieſem Geſand— ten der Republik: allerlei andere Anträge gemacht Hatte, denen er fchon darum nicht traute , weil er fih ganz unbedingt am Frank- veich Halten wollte, Die Bürgermeifter und. befonders der Pen— fionariug der Stadt Amfterdam waren für eine innige Verbindung mit Frankreich, ihre Bewegungen und Gorrefpondenzen wurden das her von England ganz genau beobachtet und es Eonnte den Enge Yandern nicht entgehen, daß die holländifchen Kaufleute den eng- liſchen die Vortheile des Handels mit Nordamerifa zu entziehen fuchten, Die Unterhandlungen wurden fchon im Sabre 1777 be— gonnen und die Sache fo Tebhaft betrieben, daß ſchon 1778, ſo— bald die Frangofen einen Bund mit der neuen Republik gemacht hatten, auch der Benfionarins wegen eines Handelövertrags mit dem Kongreß einig ward. Da die ganze Nepublif der Nieder: ande damals noch mit den Engländern in gutem Verhältniß war, jo wurde freilich dem verabredeten Tractat die Klaufel beigefügt, daß er nicht eher vollzogen werden und gültig fein Tolle, als bis die Unabhängigkeit der Nordamerifaner son Seiten Englands an— erkannt ſeiz aber eine fo offenbare Lift konnte Niemand täuſchen

Die Krämerpolitik der Stadt Amfterdam machte die Hollan- der überhaupt verächtlich und das Wappen ber Republif der vers einigten Niederlande ‚Lächerlich, denn diefes bedeutete ja, daß nur Einigkeit und Uneigennützigkeit eine aus verbündeten Provinzen beftehende Republik fortdauernd erhalten kann. Die Unterhand- lung mit Franklins Kollegen Lee war. aber nicht allein mit der Berfaffung der Republik nicht wohl zu vereinigen, fondern Am— fterdam, vom ſchmutzigen Krämerfinn befeelt, wollte fich auch Vor— theile für feine Schifffahrt gewähren Iaffen, welche andern Hol— Ländern nicht zu Theil werden follten. Wir ſehen daher aus Franklins Gorrejpondenz, daß ſich die andern Städte ganz eilig bet ihm meldeten, ob fie nicht auch dergleichen befondere Tractate mit Amerika jchließen konnten, Als Mlles in Ordnung gebracht war, übertrug der Kongreß den formlichen Abſchluß des Tractats mit der Stadt Amfterdam einem feiner ehemaligen Präfldenten (Lauren) ; feine Abreife verzögerte fich aber im Jahre 1779 und fiel im. Jahre 1780. In eine Zeit, im welcher die bet ihm gefuns

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308 Bewaffnele Neutralität, Krieg init Holland,

denen. Papiere den Gngländern den Vorwand zum Kriege mit den Niederländern geben Eonnten, den fie Angftlich ſuchten.

‚gm September des Jahrs 1750 nahmen nämlich die Eng- ander an der Küfte von Newfoundland das Schiff, auf welchen fich Laurens befand, und es gelang ihnen, feine Papiere, die er zerriffen und über Bord geworfen hatte, wieder aufzufifchen, fo daß er und ‚feine Depefchen am 8, Oftober nad) England ges bracht wurden,

Mit Laurens verfuhr man in England ſehr Hart, denn feine Haft im Tower war eher die eines Verbrechers als eines Kriegs- gefangenenz den Holländern begegnete man aber fehon unfreund- ich, ehe man noch die Papiere über die Unterhandlungen der Stadt Amfterdam in Händen hatte. Der englifche Gefandte im Haag, derſelbe Joſeph Yorke, der beim Herzoge-und bei der Brin- zeifin fo viel galt, Hatte in der Angelegenheit des Statthalters yon St. Euftathius ein in fo unpaffenden und groben Ausdrücen abgefaßtes Memorial eingereicht, daß die Generalftanten es ihm unbeantwortet zurückjchiekten und auf feine Abberufung beim eng= liſchen Mintfterium antıngen. Gr ward nicht abberufen, mußte vielmehr im Haag den Staaten trotzend zurückbleiben und yon ihnen ganz peremtorifch wegen des von Amfterdam mit Amerika geſchloſſenen Vertrags Genugthuung fordern, obgleich man vorher wußte, daß diefe nicht geleiftet werden Tonne. Das engliiche Mi- niſterium theilte nämlich der erbftatthalterifchen Regierung und den Generalftaaten. die Papiere mit, die bei Laurens gefunden waren. Diefe forderten Nechenfchaft son der Provinz Holland und von der Stadt Amſterdam und gaben beiden, als fie fich da— rauf beriefen, daß ihr Schritt durch bie Verfaffung gerechtfertigt werde , nffentlich ihre Mißbilligung zu erfennen, Da die Eng- Kinder abfichtlich Streit ſuchten und wahrfcheinlich ſchon Damals mit der ruſſiſchen Kaiſerin perfünlich, wenn auch nicht mit Banin, wegen der Holländer einig waren, fo befriedigten fie fih damit nicht, jondern ihr übermüthiger Gefandter verlangte in einer in— jolenten, drohenden Note, der Penfionarius von Holland und die Dürgermeifter son Amſterdam follten fürmlich beftraft werden. Das konnte ſchon der Verfaſſung der Republik wegen nicht ge= ſchehen und die Engländer, an Formen aberglänbig gebunden;

Krieg mit Holland und zur Ser um 1751, 309

wußten dies am beftenz fie erklärten nichtsdeftoweniger am 20, Dezember den vereinigten Niederlanden den Krieg

Da gegen die Holländer, als fie fich am 24, Dez, zum Betz tritt meldeten, fchon am 20. eine Kriegserffärung von den Eng- ländern war erlaffen worden, dieſe aljo nicht mehr neutral’ waren, ſo Eonnte man fich hernach entfchuldigen, wenn man fich ihrer nicht annahm. Es verlor alfo der unter dem pomphaften Schuß der ruffifchen Kaiferin verfündigte Neutralitätsbund den größten Theil feiner Bedeutung. Die Kaiſerin genoß indefjen darum nicht weniger fortdauernd des Ruhms am der Spike eines Bundes zu ftehen, der die Schwachen gegen die Starfen ſchützen follte, Daß ed nur allein auf den Ruhm der Verbindung unter ihrem Panier yon der Katferin abgefehen fei, erfuhr König Guſtav IIL, als er darauf antrug, daß man von den Engländern ftatt des Stil ſchweigens, eine formliche Anerkennung der aufgeftellten Grund: faße fordern follte, Das wollte Katharina nicht, fie fuchte den Engländern gefällig zu fein, ob fie gleich des Glanzes „wegen fortfuhr, auch ſogar die Mächte, die weder Kriegsichiffe noch be— deutende Seehandlung oder Rhederei hatten, zum Beitritt zur bes waffneten Neutralität einzuladen. Preußen war ſchon am 8. Mat 1781 beigetreten, der Kaiſer trat am 9, Oftober beiz ſpäter * Neapel und Portugal.

Die Holländer ernteten im Jahre 1781 Sie Früchte ihres Zwieſpaltes, ihrer engherzigen Politik, ihrer ängſtlichen Doppel— ſinnigkeit und ihres Geizes, der fie abhielt, ihrer Geſammtregie— rung zu rechter Zeit die Mittel zu geben, beim Ausbruche eines Kriegs mit Nachdruck handeln zu können. Die Franzoſen dage— gen nennen mit Recht dieſes Jahr die glänzendſte Periode ihrer Geſchichte, weil ſie ohne Rückſicht auf eignen Vortheil Geld und Blut für fremde Freiheit opferten. Das Edle und Uneigennützige der franzöſiſchen Handlungsweiſe gegen die Amerikaner und Nie— derländer verdient als Ausnahme und ſelbſt als Irrthum um ſo mehr geprieſen zu werden, je mehr die Politik Großmuth im Ver— kehr der Staaten mißbilligt, je weniger ſie Nutzen bringt, wie ſich aus dem Beiſpiel Englands, welches ſeinen beſondern Vortheil nie aus dem Auge läßt, deutlich ergibt. Die Engländer nämlich ver— fuhren damals gleich. Seeräubern mit ihren älteften Freunden und

810 Krieg mit Holland und zur See tim 1781,

Bundesgenoſſen, den Niederländern; die Branzofen dagegen, von dem Enthuſiasmus ihrer Schriftftelfer, ihres guten Königs, eines Lafayette und ſeiner begeifterten Ritterſchaft fortgeriſſen, ſtürzten ſich um der Amerikaner willen, ohne ſich irgend etwas dafür zu bedingen, in große Schulden. Sie halfen, ohne noch durch einen Bund mit den Niederländern verknüpft zu ſein, dieſen wieder zu ihrem Gut und gaben ihnen zurück, was die Engländer geraubt hatten. | ? r ad

Mas die Engländer angeht, fo blieben fie auch heim Auge bruche des Kriegs mit Holland einer Sitte getreu, die man ihmen im achtzehnten Jahrhundert bei jedem Kriege als eine fchändliche und eine civilifirte Nation entehrende Hinterlift vorgeworfen hatte: Sie gaben nämlich Tange vor der. Kriegserflärung Befehle und Erlaubniß, das Eigentum ihrer Gegner wegzunehmen, Damit die Capitäns der Kriegsichiffe und Eigenthümer der Fretbenter gleich im Augenblidfe des Ausbruchs des Kriegs einen bedeutenden Fang thäten. Ehe daher noch die englifche Kriegserklärung im Hang ankam, waren ſchon auf allen Meeren die Nichts ahnenden Hand- lungsſchiffe der Holländer aufgebracht, jo daß vom zwanzigſten Dezember, an welchem Tage die Kriegserflärung erlaffen ward; bis Ende Januar 1781 ſchon zweihundert holländiſche Schiffe ge— nommen waren, deren Werth man auf fünfzehn Millionen Gul- den anſchlug. In Weftindien benahm fich der englifche Seeheld Rodney gegen die Holländer auf eine Ähnliche Weife, wie fich der Statthafter Warren Haftings in Oftindien am Ganges betragen Hatte, und wie fich jener Elive betrug, dem Englands Ariftokratie jet bei jeder Gelegenheit im Parlament ewige Dankbarkeit und Heldenlob schuldig zu fein befennt. Er war es allerdings, der fie zuerft zu Herren des Landes machte, aus welchem fie das Optum ziehen, welches fie in China jo theuer verfaufen, daß der reine Ertrag der indifchen Befigungen vorzugsweife aus dem Handel mit Opium gezogen wird.

Das englische, Mintfterium hatte längſt den Plan gefaßt, durch den Meberfall der Infel St. Euſtathius den Stapelplak des Handels der Amerifaner und die Niederlage der Waaren der Hol- länder zu vernichten; es ward daher gleich am Tage der Kriegs- erklärung eine ſchnell fegelnde Fregatte an Rodney abgefertigt,

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welche ihm den Befehl überbrachte, den lange entworfenen Plan gegen die Inſel fogleich auszuführen. Rodney erhielt die Bot: fchaft in der Nähe von Barbados, er ſchien Anfangs die Franz zofen in Martinique auffuchen zu wollen, wandte fich aber am 3. Februar 1781 plötzlich nach St. Euſtathius, wo man einen nahen Ausbruch eines Kriegs auch nicht einmal ahnete, wo alſo auch son der holländiſchen Regierung durchaus Feine: Anſtalten zur Bertheidigung getroffen waren, Man verſuchte auch nicht einz mal Widerftand zu thun, fondern die Infel, die einem ungeheuer Magazin glich, ward fogleich übergeben, Zweihundert und fünf- zig Schiffe und eine Fregatte Tagen im Hafen und wurden dort genommen, fechztg andere fuchten- fich unter: der. Bedeckung eines Kriegsſchiffs durch die Flucht zu retten, Rodney fegelte ihnen nach und nahm die Handelsfchtffe und das: Kriegsſchiff, welches: ſie ga

Da die Infel nicht mit Sturm genommen, ſondern mit pitulation übergeben war, ſo hätte das Privateigenthum unverletzt bleiben ſollen; Rodney aber und fein Genoſſe Vaughan, der Be— fehlshaber der Landtruppen, verfuhren nicht als Anführer der Heere eines europäiſchen Volks, ſondern als Räuber. Wir wol— len zur Ehre der engliſchen Nation bemerken, daß ſich bedeutende Stimmen gegen Clive und Warren Haſtings erhoben hatten, und daß auf dieſelbe Weiſe, bei aller lauten Bewunderung für Rod— neys Verdienſte als Admiral, ein Geſchrei des Unwillens erfolgte und daß in England fein räuberiſches Betragen allgemeinen Ab— ſcheu erregte. Er übte nämlich in Verbindung mit feinem Col— legen Vaughan diefelbe Art von Grpreffung, um ſich und die Seinigen gu bereichern, welche Bonaparte, feine Marfchäne und Generale in unferm Jahrhundert ausübten, was freilich die, welche” es nicht ſelbſt erlebt Haben, jeßt weder wiſſen noch glauben wollen, weil e8 ihre Heldenpvefie zerftürt, Es ward auf Set, Euſtathius die unerhörtefte Härte und grauſamſte Erpreſſung gegen das Ei— genthum wie gegen die Perſonen reicher Privatleute ausgeübt, Geh, Waaren, Schiffe, jede Art der Habe ward ohne Weiteres den Einwohnern weggenommen und fehr Viele mußten, ihres. Ei- genthums beraubt, die Inſel gänzlich räumen. Engländer, Fran— zojen, Dänen ſpelulirten auf den Raub und eilten zu kaufen ; ſie

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erfchtenen auf der Infel wie Raubvögel an dem Orte, wo ein Thier gefallen ift, weil Rodney und fein College, um nur fchnell baar Geld zu erhalten, das auf dreißig bis vierzig Millionen an: gefchlagene, yon ihnen eingezogene Staatd= und PBrivateigenthum um den vierten Theil des Werths verjchleubderten

Det diefem Raubſyſtem Titten die englifchen Kaufleute ſelbſt am meiſten, da dieſe mehr als andere den neutralen Markt be— nutzt hatten. Dieſe brittiſchen Kaufleute in Weſtindien, die ihr Eigenthum den Holländern auf St. Euſtathius anvertraut hatten, und die grauſam verjagten Einwohner, die ſich auf den engliſchen Inſeln verbreiteten, weckten Ankläger und ſogar mächtige Redner im Parlament gegen die beiden Räuber. Burke erhob ſich in ſeinen Reden faſt eben ſo heftig gegen Rodney und Vaughan, als ſpäter gegen Warren Haſtings; der engliſche Admiral und General machten es aber wie Bonaparte und ſeine Marſchälle. Sie ſteckten das Geld ein, prangten damit und lachten der phi— lanthropiſchen Reden und Klagen. Wir wollen unter dem Text die Antwort beifügen, welche Rodney ſeinem Landsmanne, dem britiſchen Generalfiscal auf Set. Chriſtoph gab, als dieſer ihm im Namen ‚der von ihm beraubten Gngländer ein Memorial überreichte; man wird daraus fehen, daß Rodney auf St. Euftas thius und die Marfchälle Soult und Augerenu in Spanien völ— fig diefelbe Sprache führten, daß alfo Milttär= und Polizeideſpo— tie ſich überall gleich tft und fich gleicher Mittel bedient, 61)

Die holländiſchen Beſitzungen auf der Küfte des feſten Lan— des, Surinam, Demerary, Baramaribo und Eſſequebo, welche

61) Der brittifche Generalfiscal (solicitor general) von St. Chriftoph, Slanville, fagt in feiner an Rodney und Vaughan gerichteten Vorftellung gegen ihr ganz wiberrechtliches Betragen unter andern: That if by the fate of war the British Westindia islands should fall into the hands of an enraged enemy, the conduct of St. Eustatia would be a pretext for them to retaliate; that the conquerors of all eivilized countries had ‚avoided the invasion of private property; that the generosity of the ‚enemy had been very conspicous; and even in the case of Grenada, . which had been taken by storm, the rights of individuals had been held sacred; that Eustatia was a free port, and the rich and various ‘commodities found there were far from being the sole property of the Dutch; that a great proportion of it belonged to British subjects; and

Krieg mit Holland und zur See um 1781, 313

ſich ohne Aufforderung ergaben, verdanften es ber allgemeinen Stimme, die fich gegen Nodneys Benehmen auf St, Euftathiug erhoben hatte, daß fie mit großer Schonung behandelt wurden, Seit diefem Augenblick verſchwanden übrigens die ſieben verei— nigten Provinzen völlig aus der Neihe dev Stanten, welche irgend ein Gewicht in Europa hatten, fie wurden son fremder Gunft abhängig, weil fie auch in Oftindien bedrängt wurden, nachdem fie alle weftindifchen Befitungen ohne Gegenwehr aufgegeben hatten. Im Oftindien wurde ihnen eine Niederlaffung, eine Fe— ftung, eine Infel nach der andern entriffen, ihre Schiffe durften fich nirgends mehr zeigen, ihre Kriegsflotte war unbrauchbar und felbft der Handel nach der Oſtſee Fonnte nicht mehr geführt wer- den, weil die Engländer die niederländifchen Häfen bewachten. In eben dem Maße, als die holländische Seemacht herab: ſank und ihr Gewicht verlor, weil der Grbftatthalter und der Bormund, den er fich felbft gefebt Hatte, beftändig nur die Land- macht, die, Staaten nur die Seemacht vermehren wollten, jo daß wegen ihres Streits Beides unterblieb, ſchien fich die franzöſiſche Flotte in allen Meeren mit der englifchen meſſen zu können. Obgleich namlich Rodney nebft drei andern englifchen Admiralen fich mit einer Flotte in den weitindifchen Gemäflern befand, wag— ten dennoch die Franzoſen einen Verſuch, nicht blos den Englän— dern wieder zu entreißen, was fie den Holländern abgenommen Hatten, jondern auch englifche Infeln zu erobern. De Graffe Tief am 22, März 1781 mit einer der ftärfiten Flotten, welche Frankreich je ausgefendet hat (25 Lintenfchiffe und der Sagittatre

that previous to the declaration of war, the trade to Eustatia was strictly legal and the oflicers of his Majesty’s customs cleared out ves- ‚sels from all the ports of Great Britain and Ireland for this island. And not merely the legality, but the propriety of this trade was con- firmed by the conduct of his Majesty’s naval officers in those seas; for if the king’s ennemies were supplied by the trade of his subjects to Eustatia, they were also supplied through the same channel by the sale of the prizes captured by his Majesty’s ships of war. Darauf gab Rodney ‚ben eines Barbaroffa oder Mehemed Alt würdigen Beſcheid: That he had not as yet leisure to peruse the memorial, but that the island of Eustatia was Dutch, every thing in it was Dutch, every thing was under the _ protection of the Dutch flag, and as Dutch it should be treated.

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son 64 Kanonen), von Breft aus, begleitet yon einer Flotte von zwei bis dreihundert Transportichtffen, melche mit allen möglichen Kriegsbedürfniffen, auch mit ſchwerer Artillerie befrachtet waren, und fechstanfend Mann Landtruppen an Bord hatten, Rodney fchiefte gegen de Graſſe den Admiral Hood mit dem Befehl, die Flotte anzugreifen, diefe wich aber jedem Treffen aus, um erſt die Truppen auf Martinique ans Land zu fesen, Am 28; April vermied fie glücklich das von den Engländern gefuchte Treffen, am 29. Fam es zwar zur Schlacht, aber die Franzofen Titten nur unbedeutenden Schaden, und die Engländer fanden hernach nicht rathſam, ein neues Treffen zu beginnen.

Die Truppen, welche de Graffe aus Frankreich gebracht hatte, wurden hernach auf Martinique ausgefchtfftz man behaup— tete aber, was wir unentſchieden laſſen, da wir alle Krieggunter- nehmungen nur ſummariſch erzählen und flets fremdem Urtheile folgen, de Graſſe ſei nicht fähig gemefen, große Flotten und Un— ternehmungen zur See tüchttg zu leiten. Dagegen erwarb fich der Statthalter von Martinique, der Marquis von Bouillé, bei den Landungen großen Ruhm. Er verfuchte zuerſt im Mat eine Landung auf St. Luca, entfagte aber diefem Unternehmen und eroberte dagegen Tabago am 2. Juni in demfelben Augenblick, als die englifche Flotte. bei der Inſel erfehten, Gleich darauf fegelte de Grafje an die Küfte von Nordamerifa, wo er, wie im sorigen Bande erzählt ift, im günftigften Augenblick anlangte, und ‚feinen Landsleufen und den Nordamerifanern gegen Corn— wallis wefentliche Dienfte leiſtete. Dies gefchah im Monat Of tober, im November unternahm der Marquis Bouille einen Zug gegen St. Euftathtus, der ihm und feiner Nation durch den Con— traft feines Betragens mit dem der englifchen Befehlshaber, als dieſe diefelbe Infel-eroberten, mehr Ehre machte, als der glän- zendfte Sieg im Felde, weil er und die Seinigen bei der Gele- genheit ihre Tapferkeit gleich Nittern, Rodney und Vaughan aber gleich Räubern bewiefen.

Rodney hatte fich für feine Perſon der Gefundheit wegen nach England begeben müffen, die von ihm zurücgelaffene Be— fasung der. holländifchen Infel überließ fich der. Sicherheit und dem Wohlleben, Das erfuhr Bouillé; er befchloß, es zu benutzen,

Krieg mir Holland und’ zur See um 1781, 315

und die Engländer Tiefen ſich von ihm auf eine ganz umbegreif- Viche Weife überraſchen. Er Tandete am 26. November einige Hundert Mann an einem etwas außer dem Angefichte liegenden Platze, ohne daß die Engländer weder feine Schaluppen wahr— nahmen, noch dte gelandeten Soldaten erblickten, bis diefe in ber Stadt waren, Jeder Widerftand war dann um fo mehr vergeb> lich, als die Garniſon nicht verfammelt war und als der Com— mandant Cockburne gefangen wurde, ehe er noch etwas angeordnet hatte. Auf dieſe Weife ward die Infel von den Franzoſen wie— der genommen, ohne daß fie auch nur einen einzigen Mann ver— loren; fiebenhundert Engländer, welche die Beſatzung ausmachten, wurden gefangen. Bouillé war edel genug, die ungeheure Beute, welche gemacht ward, weil die Güter, die man den Einwohnern abgenommen hatte, größtentheils. noch nicht fortgefchafft waren, anzuwenden, um die Beraubten fo viel als möglich zu entichä= digen, ° Ganz im Gegenſatz zu Rodney und DBaughan erlaubte er fogar dem englifchen Gommandanten und den Offteteren die Summen zu behalten, die fie als Privateigenthum in Anſpruch nahmen. 62) Er machte zugleich befannt, daß er die Infel nur jo lange in Beſitz behalten werde, bis eine hinreichende Zahl hol= Yandifcher Truppen gefendet jet, denen er fie übergeben könne. Der Theil der Beute, den Rodney auf zwanzig Schiffe geladen und nach Europa geſchickt hatte, ward den Engländern ebenfalls größtenteils entriffen, weil der tapfere La Mothe Piquet, der das Linienſchiff Hannibal commandirte, viele der Schiffe Furz

vorher weggenommen hatte,

Im Anfang des folgenden Jahrs (1782) wurden auch die niederländifchen Golonten Surinam, Demerary und Eſſequebo dur) die Waffen der Franzoſen wieder von den Engländer be— freit, weil die Holländer weder Krieasichiffe noch Truppen nach Weſtindien fchiefen Fonntenz dagegen machten die Spanter auch in: diefem Jahre erftaunliche Anftvengungen. "Die franzöſiſche Flotte unter de Graffe war von ihrer Reiſe nach Nordamerika

62) Die ganze Sache war fo auffallend und Cockburnes Gefangenneh— mung, wie die ſchnelle Einnahme der Citadelle fo unerklärlich, daß biefe Zahlungen hernach fehr zum Nachtheil des Oberften gedeutet wurden.

316 Krieg mit Holland und zur See um 1781:

jogleich zurücigefommenz verteilte aber einige Zeit hindurch auf Martinique, um die Schiffe auszubeffern und die Mannfchaft zu erquicken; dann juchte fie die in einem Hafen der Inſel Barba— dos Tiegende englifche Flotte auf und erfehten endlich bei St. Chri- ftoph, im Januar 1782. De Graſſe hatte damals zwei und dreißig Linienfchiffe, an Bord derfelben war eine Armee von acht taufend Mann unter dem Marquis Bouillé mit einer Artillerie, welche hinreichend gemweien wäre, die bedeutendfte Feftung zu be— ſchießen, obgleich von Feiner eigentlichen Feftung die Nede war, fondern nur son der Einnahme eines ſtark befeftigten Hügels (Brimstonehill), den der General Prefeott ſehr tapfer vertheidigte, Auch bei diejer Gelegenheit zeigten übrigens die Engländer ihre Meberfegenheit überall, wo es auf Gefchieflichkeit, Gewandtheit und Grfahrung zur See anfam, denn in diefen Vorzügen, mie in mechanischen Künften und in Regſamkeit und Ausdauer kann fich Fein anderes Volk mit ihnen vergleichen. De Graſſe nämlich lag im Hafen der Infel, er ließ fich vom Admiral Hood aus demfelben herausloden und war hernach nicht im Stande zu ver— hindern, daß fich Hoods Flotte mit großer Gefchieflichfeit zwiſchen feiner Flotte und der Inſel durchfchob und in den Hafen einlief, De Graffe verfuchte hernach vergebens, feine vorige Stelle wieder einzunehmen und die Engländer wieder zu vertreiben, fein Angriff ward drei Mal zurücgefchlagen.

Bouille war zu Lande glüclicher als de Graſſe Aue ‚Ser. Er nahm gleich nach feiner Landung acht vierundzwanzigpfündige Kanonen, fechstaufend Kugeln, zwei metallene Mörſer und fünf- zehnhundert Bomben, welche son den Englandern zwar ausge- Ichifft, aber noch nicht auf den Hügel gebracht waren, Er be— gann hernach eine fürmliche Belagerung nach der Regel des Kriegs- wejens und bejchoß einen Pla, der nur etwa zweihundert Ruthen im Umfange hatte, aus dreiundzwanzig ſchweren Kanonen und eben fo viel Mörfern, fo daß Admiral Hood bald einfah, daß ſich der General Prefeott, den er and Land gefebt hatte, unmög— Yich werde behaupten können. Hood verließ den Hafen und Prefeott mußte am 13. Februar 1782 capituliven, Auch die Infeln Nevis und Montferrat wurden von den Franzoſen erobert. Rodneys Rückkehr am 19. Februar 1782 Anderte die Lage der Dinge in

Krieg mit Holland‘ und’ zur See um 1781. 517

Weftindien gänzlich, Die Engländer erhielten im amerifanifchen Infelmeere das Mebergewicht wieder, nachdem ihnen vorher von den Spaniern auch Penſacola in Weftflorida, welches Spa— nien im Bartfer Frieden den Engländern abgetreten hatte, ent— riffen war,

Die Holländer jchoben damals die Schuld des Verluſts, den fie in Oftindien erlitten und den ſchlechten Zuftand ihrer Schiffe ganz allein auf ihre Regierung und auf deren Begünftigung der Engländer. Der Unwille gegen den Herzog von Braunfchweig, der ald Fremder alle Schuld tragen mußte, wuchs hernach, als die tapfern Befehlshaber dev Flotte, welche am Gingange der Dftfee mit den Engländern kämpfte, fich laut über ihre fchlechten Schiffe, fowie über die Beförderung der Offictere nad) Gunft und nicht nach Verdienſt beklagten. Der Handel nad Oft: und Weft- indien war faft ganz vernichtet, ſogar in die Oftfee mußte man unter fremder Flagge fahren, e8 kam fo weit, daß, ftatt daß im Sahre 1780 zweitaufend und achtundfünfzig holländiſche Schiffe duch den Sund gegangen waren, im Jahre 1782 nur fechs durchführen, In derfelben Zeit wurde die oftindifche Geſellſchaft, welcher Holland jeine Blüthe verdanfte, fat vollig zu Grunde gerichtet, die Beſitzungen an der Weftküfte yon Afrifa wurden verloren, die Rettung der Injel Ceylon und des Vorgebirgs der guten Hoffnung verdanfte man ganz allein dem franzöſiſchen Ad— miral Süffrein, der in den öſtlichen Meeren Ruhm erwarb, während de Graffe in Weftindien den eigltiigen Admiralen unterlag.

Der Zwieſpalt in den Niederlanden, der ſich in fort letzten Kriegsjahren offenbarte, war ein Vorſpiel der Revolution im In— nern, welche gleich nach dem Frieden ausbrach. Alle fremden Staaten behandelten die Niederländer gleichgültig oder verächtlich, weil ſie unter ſich uneinig und ohnmächtig waren; nur die Fran— zoſen allein thaten Alles was ſie konnten, um die republikaniſche Partei enge an Frankreich zu knüpfen. Katharina erwiederte den Beitritt zur bewaffneten Neutralität nur durch Vermittelung und Verwendung für Holland, alſo durch Worte; vom Handeln für fie wollte fie um jo weniger wiffen, als fie im vertrauten Gefpräch ihrer eignen bewaffneten Nentsafität, der fie Feinen Nachdruck

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geben wollte, durch die Benennung bewaffnete Nullität ſpottete. 63)

Die vepublifanifche oder ſogenannte patriotiſche Partei in Holland, d. h. die franzöſiſch geſinnte Ariſtokratie, die nicht bet Hofe figurirte, brachte damals den Herzog von Braunfchtweig aufs Aeußerſte. Sie fchrieb feinen Rathſchlägen alles Verkehrte zu was geſchah und verlangte öffentlich vom Prinzen, daß er ihn aus dem Lande ſchicken ſollte. Ein unentſchiedenes Seegefecht machte endlich den ſchon ſeiner Corpulenz wegen zu Geſchäften untauglichen Herzog vollends: zum: Gegenſtande des Haſſes des gefammten Seevolks und der Admirale. Es wurde nämlich im Sabre 1782. endlich ein Kleines Kriegsgefchwader ausgerüſtet, welches unter dem Admiral Gornelius Zoutmann und dem Com— mobdore Kinsbergen eine Handelsflotte yon zwei und fiebenzig Schiffen in die Oſtſee geleiten follte. Die Augrüftung ward aber jo langſam betrieben, daß erſt nach drei Monaten ı die Schiffe auslaufen konnten und auch dann noch im fchlechten Stande waren.

Eine englifche Slotte unter Hyde Parker lag bei Helfingör, um die Holländer anzugreifen, ehe fie den Sund erreichten, und jegelte ihnen ins’ Kattegat entgegen, wo beide Flotten in ber Nähe einer Sandbank, die Doggersbanf genannt, am 5. Auguſt auf einander trafen. Dies Treffen zwiſchen den Englandern und Holländern, bei denen fih ein amerikaniſches Kriegsjchiff von ungewöhnlicher Lange und: Bauart befand, war das heftigite, das in dent ganzen Kriege zur See geliefert ward. Die. Holländer fiegten zwar nicht, fie wurden aber durch den Ausgang neu bes lebt, denn in allen Städten und Zeitungen aller fieben Provinzen jubelte man, daß die Zeiten dev Opdam und der de Ruyter doch nicht ganz worüber ſeien. Die Schiffe hatten den Kampf ‚nicht eher begonnen, als bis fie fich auf die Weite eines Piftolenfchuf- ſes genähert hatten, dann dauerte: das Feuern aber drei Stunden lang mit unerhörter und mörbderifcher Ausdauer son beiden Sei— ten fort, bis beide Flotten außer Stande waren, das Gefecht |. Sie * beide den * * weil fie. .

63) Die atttenſtice kann der, welcher en her Kai dem Annual⸗NRegiſter yon 1781 in extenso finden.

Krieg mit Holland’ und zur See um 1781, 319

mehr die See halten konnten. Der: einzige Vortheil, deffen fich die Engländer etwa rühmen konnten, beftand. dartır, daß die hol- ländiſchen Handelsfchiffe mit den Kriegsfchiffen zugleich. in den Terel zurückkehren mußten und daß das Lintenfchiff Holland, ehe es den Hafen erreichte, unterging. Die drei tapfern Befehlshaber, Cornelius Zoutmann, Kinsbergen, van Braam, wurden hernach in Holland vom Volke geehrt und gepriefen, als wenn fie den glänzendften Steg erfochten hätten, und auch die Negterung be= mühte fich, die vom Volke vergätterten Helden auf jede Weiſe auszuzeichnen; fie beſchwerten fich ‚aber gleichwohl, daß ihre Aus- rüſtung fchlecht geweſen jet, wie ihre Schiffe. Man darf fich nicht wundern, daß fich die Admirale über den Herzog als Rath— geber und über die Regierung des Prinzen als fein Werkzeug bejchwertem, denn es waren allerdings die Verhaltungsbefehle der erbftatthalterifchen Regierung an die unmittelbar von. ihr allein abhängenden Befehlshaber zur See und zu Lande ſehr zweideutig. Mit welcher Wuth übrigens bei der Doggersbanf war geftritten worden, kann man daraus fehließen, daß manches englifche Schiff dort über 2500 Schüffe gethan hatte,

Hyde Barker, der in England mit eben: dem: Triumph empfangen ward, als Gornelius Zoutmann in Holland, war: eben jo unzufrieden mit der englifchen Negterung und Admiralität, als biefer mit dev hofländifchen, Seine Unzufriedenheit ging fogar jo weit, daß er eine ganz ungewöhnliche Ehre, die ihm der König anthun wollte, mit dem Trotz eines. Seemanns aufnahm. König Georg IL war nämlich nicht wie fein Sohn Gesrg IV. geboren und gemacht, um den Glanz der Ritterfchaft und die Majeftät des Königthums in feiner Perfon und feiner Bewegung bei feier- lichen Gelegenheiten zu vepräfentivenz dafür war er denn freilich auch nicht jo tief moraliſch verdorben als fein Sohn; er zeigte fich daher nicht gern öffentlich als König. In feiner Familie, in der Kirche, bei feinen Aderbaugeichäften, Hei feinen. aſtronomi— ſchen Spielereien war er für Herfchel eine Art Gottheit. Er führte Lichtenberg, der durch ihn bezaubert ward, ſelbſt in det Sternwarte u. ſ. w. herum und zeigte ihm Alles, In Staats- angelegenheiten. Dagegen figurirte, ex nur, wenn er durchaus mußte; es war daher eine ganz ungewöhnliche Erſcheinung, daß er für

320 Engliſche Angelegenheiten.

Hyde Parker eine Ausnahme machte, Er felbft, begleitet vom Prinzen von Wales, veifte an den Ort, wo Parker mit feinen Schiffen lagz 2) er befuchte ihn auf feinem Admiralfchiff, fand aber nicht, daß fein Befuch und die große Ehre den Admiral fs beglückt machten, wie dies fonft bei Generalen und Admiralen und Gelehrten der Fall zu fein pflegt. Der alte. Seemann Yehnte alle Beweiſe der königlichen Gunft fehr barſch ab und bellagte ſich ganz laut und Rn über die Admiralität.

$. 3.

Engliſche Geſchichte. Seetrieg. Belagerung von Oibraltar, Minifterium bis auf Pitts India-Bill um 1784,

Die Ereigniffe in Nordamerika und beionders ‘Lord Corn— wallis Capitulation in Yorktown, die Unternehmungen des Mar— quis Boutlle in Weftindien, die DVertheidigung der holländiſchen Defisungen im Often durch den franzöſiſchen Admiral Suffrein ward der englifchen Admiralität Schuld gegeben, alle tüchtige See— offietere waren unzufrieden. Man klagte befonders über Die Un— fahtgfeit des erſten Lords der Admiralität, deffelden Mannes, den Cook und unfer Georg Forfter fo fehr preifen, und des Staats- ſekretärs für die amerikaniſchen Angelegenheiten. Es ſchien daher, als fich 1781 das neue Parlament wieder verfammelte, eine Auflofung des Mintfteriums unvermeidlich. Selbſt Lord North, fo dreift und eifern er war, erfannte, daß ey einige feiner Colle— gen werde aufgeben müffen, wenn er noch ferner auf den Bei— ftand des Königs, der hernach auch fogar im letzten Augenblick er von ko * vertrauend, ſein Syſtem durchſetzen ._

64) Die Scene, die in ihrer Art einzig in ber englifchen Geſchihi⸗ iſt, wie des Lordmajor Bedford Rede an den König bei der feierlichen Audienz, fiel auf dem Admiralſchiff Fortitude vor, Dies Schiff, wie die übrigen, Tag an der Mündung des Fluffes Nore, um: nebft den übrigen ausgebeflert gu werden; der König fuhr daher die Themfe herauf, um den Admiral auf ſei⸗ nem Schiffe zu beſuchen. Der alte Seemann beantwortete bie Artigfeiten mit den Worten: „Er wünfhe Seiner Majeftät beſſere Schiffe und jüngere Seeleute, er fet für den Dienfi zu alt.“ Er nahm unmittelbar hernach ſeinen Abſchied. IR NE

Englifche Angelegenheiten, 391

Ein Mann, der jo außerordentlich viel Talent hatte, die Mas jehine zu leiten, welche man englifche Negierung nennt, erkannte aber jchon 1781, daß es fehr fehwer jein werde, neue Federn und Räder zu finden, wenn er nicht die ganze Mafchine einem andern Mafchiniften übergebe und ſelbſt abtrete. Dies zeigten ſchon die letzten ftürmifchen Situngen des Parlaments von 17805 beſonders die allerlete,

Dies Parlament, deſſen letzte Situngen jo drohend und jtürmifch waren, ward im September 1750 entlaffen, und Alles aufgeboten, um zu bewirken, daß die Wahlen für das neue Par— lament, welches fich im Oktober verfammeln follte, nicht ganz zum: Nachtheile des Minifteriums ausfielen. Zu den Mitteln, welche Lord North und feine Collegen gebrauchten, gehörte auch eins, deſſen man fich in unfern Tagen oft im Frankreich bedient hatte. Man machte die Wohlhabenden um ihr Cigenthum beforgt, und verbreitete, um die Oppofition verhaßt zu machen, daß zur Zeit der Plünderung in London, als fogar Wilfes auf feinem Poſten geweſen jet, Fox fich verkleidet herumgetrieben und bie Menge aufgehetzt habe. Da ſich kein Beweis führen ließ, war die Verbreitung eines ſolchen Gerüchts ſchmählig. Auch die Ge— fahr des Staats und die der Küſten, welche eine Art militäriſcher Ordnung nöthig machte, wurde benutzt, um die Gegner des Mi— niſteriums von den Wahlen zu entfernen. Jeder Volksbeamte mußte auf feinem Boften fein, weil Gefahr drohe, hunderte konnte man militärisch fefthalten, weil fie der damals aufgebotenen Miliz angehörten, Die beiden Männer, welche durch Einfluß und Ver— mögen, durch Glientel und Berwandtichaft dem Miniſterium langt entgegengeſetzt waren, Rockingham und Shelburne, son denen befonders der Erſte Liberale Gefinnungen äußerte und Liberale Männer ind Unterhaus zu bringen juchte, fanden gleichwohl in dem neuen Parlamente nicht blos ihre alten, durch Beredfamkeit ausgezeichneten Freunde wieder, fondern es kamen zwei neue hinzu.

Zwei Männer verftärkten in dem neuen Parlament die Op— pofitton gegen Lord North und erhielten von diefer Zeit an für England und dadurch. für Europa politifche Bedeutung. Diefe Männer waren Sheridan und der jüngere Sohn de3 Grafen von Chatham, William Pitt, von denen dev Eine in unferm Jahre

Schloſſer, Geſch. dr 19, m 19 Jahrh. IV. Th 2 Aufl . 21

333 Englifche Angelegenheiten.

Hundert, nachdem ex eine Reihe von Jahren als Nebner md Dichter geglänzt hatte, in einem nicht unverſchuldeten Elende, der Andere ald Schüger des ariftofratifchen und monarchiſchen Europa im sollen Genuß der königlichen Macht, die er feit 1784 erlangt hatte, geftorhen iſt. Beide erfchtenen schon gleich im Jahre 1784 unter verſchiedenen Fahnen. Sheridan ſchloß ſich an Rockinghams Freunde, beſonders an Fox an, und war heftig wie dieſer; Pitt war, wie Juriſten zu ſein pflegen, Diener der Um— ſtände. Er hielt als Engländer für Engländer nicht ein von Sparſamkeit unzertrennliches, einfaches Leben und eine auch den ärmeren Bürgern gewährte Freiheit, ſondern Reichthum, Herr— ſchaft, Macht, Glanz einiger Günſtlinge des Glücks für das höchſte Ziel eines großen Miniſters. Pitt näherte ſich zwar Shelburne, aber. er diente ihm nicht; er ſchonte auch den König, den ‚For mißhandelte, denn auf des Königs Namen wollte er ſeine und) feiner Freunde Herrichaft gründen , und er hat feinen Zweck erreicht.

Beide, Sheridan und Pitt, traten im Februar 1784 Fr eriten Male als Redner auf, aber mit. einem ganz verſchiedenen Erfolge, weil Bitt, zum Diplomaten und ſchlauen Staatsmann geboren und gebildet, obgleich erſt zwei und zwanzig Jahre alt, den rechten Gegenftand und dem rechten Augenblick wähltes She— ridan nicht. Der Lehtere ward freilich fehon damals! als Manır son Talent erkannt; aber die Schlauen fahen auch ſogleich ein, daß er nur ein gutes Werkzeug der Art fet, wie fie in den Par— Yamenten und Ständeverſammlungen nöthtg find, um durch Dumft der Rede zu betäuben und das Volk bei langweiligen Berathun— gen zu unterhalten und zu täufchen. Sheridan nahm einerlei Richtung mit For und glänzte Durch Wit, der dann freilich, wie das zu gehen pflegt, gar zu oft in Witelet ausartete, Er war ſehr brauchbar, um durch fein flackerndes Licht den oft Dunkeln Bombaft son Burfes Neben zu exhelfen. Pitt erſcheint gleich Anfangs als vorfichtiger Staatsmann und Geſchäftsmann, der fich bald für, bald gegen den Hof erklärt, deffen er nicht entbehren kann, dabei nie durch irgend etwas "edles im Braftiichen irre geleitet wird, alſo für König Georg der rechte Mann iſt. She⸗ ridan —— bahehen ro * rn wo II. er war

Engliſche Angelegenheiten. 323.

aber: wie geboren zum Gefellfchnfter des. wüſten Bringen von Wa—⸗ les, an dem: er fich auch Später anſchloß. Sheridan war Beller keit, er fehrieb Dramen, er hat als Dramatiker, als Schriftftel- ler, als gewandter und einnehmender Redner, als witziger Gefell- ſchafter Ruhm und Anſehen gehabt, hätte ſich auch wohl vielleicht behaupten können, wenn ev nicht durch; Neigung zum Trunke zus letzt zu tief ogefunfen wäre; Staatsmann oder Diplomat war er nie, Pitt hatte, wie alle Fuge Juriſten, gerade ſo viel Rechte lichleit und Gewiffen, als ein Staatsmann und Diplomat des neunzehnten Jahrhunderts Haben darf, und Fein Quentchen mehr; ſeine Beredſamkeit war ganz ſeinem Charakter angemeſſen. Beide, Sheridan und Pitt, kamen auf dem Wege ins Par— lament, auf welchem damals die großen Familien vermöge ihres jetzt durch Abſchaffung der ſogenannten verfallenen Flecken (rot- ten borougks) wenigſtens etwas, wenn gleich unbedeutend wenig geſchwächten Einfluſſes auf die Wahlen, Talente ins Parlament brachten, die fie, für ſich benutzen wollten. Erſt als Pitt dirigi⸗— render Miniſter ward, machte er ſich frei von der Abhängigkeit von der Familie, die ihn ins Parlament gebracht hatte. Sir Ja— mes Lowther konnte für mehre ſogenannte verfallene Flecken Bars lamentsdeputirte ernennen, er brachte auch den jungen Pitt für den Flecken Appleby ins Unterhaus. Pitt konnte jedoch nicht ſo⸗ gleich) bei der Eröffnung des Parlaments erſcheinen, weil Sir James erſt abwarten wollte, ob ev nicht den Flecken für Einen aus der Familie Lowther gebrauchen müßte, wenn dieſer etwa art einem andern nicht ganz verfaulten Orte durchfallen ſollte. dor hatte gleich in den erften Sitzungen des neuen Parla— ments, im November 1780, eine lange Rede. darüber gehalten, daß auf: königlichen Befehl, zur Zeit des; Gordonſchen Tumults, die Truppen gegen das Volk waren gebraucht worden, hatte aber wenig Gehör gefundenz Sheridan machte den großen Fehler, durch diejen Vorgang nicht abgeſchreckt zu werben, ſondern denfelben Ge— genſtand für; ſeine erſte Rede zu wählen.) Diefe-erfteim Februar 1781 gehaltene Rede wurde daher mit Recht num als eine ſchöne Deklamation angeſehen, die den, der ſie gehalten hatte, als libe— ralen Rhetor oder Schauſpieler, nicht aber als Staatsmann em— pfehlen könne, Ganz anders Pitt. Dieſer ſchloß wufh an 21

326 Engliſche Angelegenheiten.

Lord North fich einiger feiner Collegen mit Manier zu entledigen, am feine Schuld: auf ſie zu ſchieben. Giner der auf ihren Vor— theil fo ungemein fehlauen Schotten, der hernad). Pitts unverän: derlicher Anhänger blieb, zeigt fogleih Ahnung, dag anf das Miniftertium, das ihn bis dahin verforgt hat, nicht mehr * St cherheit zu rechnen fein möge,

Dieſer Schotte war der damalige Bord Abbeeat von Scott land, Dundas, der in den: indifchen Angelegenheiten unter Pitt Seine fehr bedeutende Rolle geſpielt und als Lord Melville eine für feinen Charakter und für den der herrſchenden englifchen Ariſto— Fratie ſehr ſchimpfliche Celebrität erlangt hat. Dieſer war es, der ſchon im Dezember son’ der Miniſterialbank ans andeutete, daß eine Veränderung dev Mitglieder des’ Miniſteriums nöthig ſei, um tt Amerika amd Holland unterhandeln zu Finnen, und zugleich anf Pitt, als auf der Mann hinwies, dev. Falte Klugheit und Talent genug beſitze, um zugleich dem Könige "gefallen und dem Wolke nützlich fein zu können. Dundas erkennt in feiner Rede Pitt als ein frühreifes politiſches Genie anz er rühmt, daß er die Talente feines Vaters ererbt Habe und glänzende Rednerga— pen zeige. An den Lord Advocat von Schottland ſchloß ſich ſchon in der Mitte Dezembers ein’ anderes Mitglied des Miniſteriums, der Kriegszahlmeiſter Rigby san, amd’ beide befragten den leiten⸗ der Minifter öffentlich im Parlament, ob e8 wahr fei, daß er und Lord, George Germaine nicht mehr einerfei Meinung wären? Er gab zwar auf diefe Frage Feine bejahende Antwort, verlief ‚aber ſonderbarer Weife ‚feinen ‚Sib, ‚ohne eine: gegeben zu haben: her bisherige Leiter Der amerikaniſchen Angelegenheiten fand: * gleich im Januar 1782 feine Stellung unhaltbar.. As Lord George Germatne im Januar feine Stelle‘ aufge, ‚ward er unter dem Titel Viscount Sackville zum Pair erhoben; der neue Pair und. die zurückbleibenden Mitglieder von, „Lord Norths Miniſterium, wie der König ſelbſt, erlitten aber auch bei dieſer Gelegenheit eine Kränkung. Eine nicht unbedeutende An- zahl Pairs, in deren Geſellſchaft Lord Sackville im Oberhaufe ſitzen follte, trugen zuerft darauf an, ihn der Pairle unwürdig zu erklären, weil: er als Generaloffizier im. fiebenjährigen Kriege we— gen feines Betragens im Felde yon einen. Kriegsgerichte war per-

Engliſche Angelegenheiten. 327

urtheilt worden. Als dies nicht durchging, legten fie wenigſtens eine förmliche Proteſtation gegen ſeine Erhebung zur Pairswürde ins Protokoll nieder, 66): Lord North war aber nicht der Mann, ber ſich einfchlichtern oder: aus feinem fpaßhaften Phlegma brin= gen lief, welches ihm in den Stand ſetzte, mit nie. erröthender Stirn Acht praftifch zu fein und jeden Grundſatz, der nicht Vor— theil bringt, zu verſpotten. Er fand freilich Niemanden von gro— ‚Ber Bedeutung, der inndiefem Augenblick mit ihm in fein. vom Sturm bedrohtes Schiff Hätte treten: wollen, «Doch übernahm El— 18, der ſchon einmal im Miniſterium geweſen war, den Platz, den Lord George Germaine nicht hatte behaupten können. Die zwei verſchiedenen Arten von Perſonen, welche unter Rockingham ‚und unter Shelburne zwei verſchiedene Arten son Oppoſition bil⸗ ‚beten, waren damals endlich gegen das Minifterium vereinigt und -geiffen , um es ſtückweiſe zu zertrümmern, im Februar Lord Sandwich an. Schon am 23. Februar hatte: For den Vorſchlag gethan, das Parlament möge ſich zu einem Ausichuffe bilden, um die Gefchäftsführung des, Grafen Sandwich genau: gu prüfen. ‚Lord North und der Admiral Mulgrave redeten zwar zu Gunften ihres Gollegenz fie: widerfeßten ſich aber dem Vorſchlage ſelbſt nicht. Als die Unterſuchung im Februar wirklich vorgenommen ward, hielt Fox eine: ſeiner merkwürdigſten Reden. Er geht da— ‚rin die Geſchichte des Seekriegs und der ganzen Verwaltung des engliſchen Seeweſens von 17771784 genau und prüfend durch, um den Antrag zu begründen, mit welchem er ſchließt: Das Bar- lament möge erklären, das Reſultat der von ſeinen im Ausſchuſſe vereinigten Mitgliedern angeſtellten Unterſuchung jet: Daß im Jahre 1781 grobe. Fehler (gross mismanagement) bei der Verwaltung des Seewefens vom Großbritannien begangeniworden: Schon biefer erfte, das Miniſterium ſchwer er Vorſchlag ward mit der Lange m. von en

v -

40) Weil ihn Das Dr at wegen feines in der Schlacht bei Minden unwürdig erklaͤrt Habe, ferner im britiſchen Heere zu dienen, fo ſei feine Promotion zur Pairſchaft: A méasuré fatal to the interests of the ‘erown, insulting to the memory of the late sovereign, and highly de- ‚rogatory t0 the dignity of that house,

328 Engliſche Angelegenheiten.

und zwatizig Stimmen (205 gegen 183) abgelehnt; dies veran- Yaßte, nachdem Dundas ımd Rigby fchon 1780 den Anfang ge— macht hatten, auch die übrigen fogenannten Schiffbruch ahnenden Ratten des Miniſteriums, nicht zu ſäumen, ihnen zu folgen. Die Veberzeugung, daß das Minifterium fich auf diefe Weiſe auflöfe, bewog For, denfelben Antrag, den er in dem einen Ausfchuß bil- denden Parlamente gethan hatte, zu wiederholen, als e8 wieder in der gewöhnlichen Form unter feinem gewöhnlichen Präfidenten, dem Sprecher, über diefe Angelegenheit berathichlagte.

Ein harter Kampf entftand im Parlament als For am 20. Februar den Antrag machte, den Grafen Sandwich einer ſchänd— Yich fchlechten Verwaltung des brittifchen Seeweſens fchuldig zu erflären. Es war faum Freifprechung des Miniſters zu nennen, dag der Antrag in einer Verſammlung, wo vierhundert und drei und fünfzig Parlamentsglieder anweſend waren, mit einer Mehr- heit von blos neunzehn Stimmen abgelehnt ward. Jetzt fuchte Lord North feinen Gollegen durch freundliches Zureden zu be= wegen, den Streit aufzugeben und eine Penfion und den Hy jenbandorden anzunehmen; das war aber vergeblich, er harrte ang, Kaum acht und vierzig Stunden nach dem Ende des letzten Streits im Parlament über die Sache des Präſidenten der Admiralität that dann General Conway den Vorfehlag: „Den König zu bit ten, allen weiteren Verſuchen, Amerifa mit Gewalt zu bezwingen, zu entſagen.“ Ms diefer Antrag in einer Verſammlung von dreihundert und neunzig Mitgliedern nur mit Mehrheit einer ein- zigen Stimme abgelehnt ward, war vorauszuſehen, daß er bald aufs neue werde vorgebracht werden, Dies um jo mehr, da es in der oben angeführten Brieffammlung (I. p. 23) heißt: Der Her- zog von Richmond habe an Lord Rodingham: gejchrieben, er ſehe voraus, daß Feine wefentliche Veränderung der Maßregeln ‚und gar Feine Beränderung der Perſonen beabfichtigt werde, und fügte Hinzu, wenn ich vom Mintfterium rede, meine ich den Kö— nig, denn feine Diener find fersiler als je andere waren. Als daher am Ende Februar das Minifterium mit neunzehn Stim- men überftimmt ward, ſchreckte auch dies Lord North nicht, da er ‚auf. den Gigenfinn des Königs und auf feine. eigne Verbindungen und Künfte vertraute, Die Oppofition bot darauf erlaubte und

Engliſche Angelegenheiten. 329

unerlaubte Mittel, nicht fowohl mehr gegen den Minifter, als gegen den König felbft auf, den man im Hintergrunde wahrnahnt,

Diefer Kampf und die folgenden find von ganz anderer Wich— tigkeit, als die gewöhnlichen Zänfereten dev Parteien um dag Mi- nifterium und um die Vertheilung der Vortheile des Regierens; es galt diefes Mal nicht einem bloßen Miniſterwechſel, fondern einer Abfchaffung der feit Georg II. Negierungsantritt ſtets er— neuten Befchwerde über den perſönlichen Einfluß des Königs und feiner Greaturen, Es ſollte eine Art Revolution erfolgen; der König follte von den Gefchäften gewiffermaßen ganz entfernt und genöthigt werden, nicht blos in den Gefchäften, fondern in feiner perfönlichen Umgebung und im Innern feines Haufes nur folche Leute zu dulden, die ihm perfänlich nicht angenehm waren; das Parlament begann daher einen fürmlichen Krieg. Auf die Bitte des Parlaments, dem amerifanifchen Krieg ein Ende zu machen, Vieß Lord North dem König eine freundliche, aber ausweichende Antwort gebenz darauf antwortete aber das Parlament fogleich durch eine drohende Erklärung gegen die Minifter. 6) Bon dem Augenblife an erkannte wahrfcheinlich Lord North, daß nachdem ſchon fo viele Mitglieder der untergehenden Sonne den Rüden gewendet, um von der aufgehenden gewärmt zu werden, bie Be- hauptung des Miniſteriums unmöglich fein werde und ſetzte den Kampf nur fort, um den König nicht allein zu Yaffen. Diefer urtheilte mit Necht, daß, wenn fein Mintfter nur bis Ende März bei ihm ausharre, wo die Ferien begannen, felbft For nicht wa- gen würde, mitten im Kriege unter drohenden Umftänden auf eine Verweigerung des Budgets anzutragen. Hätte alfo Lord North bis zum 28: März ausgehalten, jo wären ſechs Monat gewon- nen geweſen. Das mußten die Häupter der Oppofition ſehr gut,

67) Der Köntg hatte geantwortel: That in pursuance of the advice “of the house of commons he would assurediy take such measures as should appear to him condueive to the restoration of harmony between Great Britain and her revolted colonies. Der Beſchluß des Haufes gegen die Mintfter vom 4, März lautet: That the house will consider as enne- mies to his Majesty and the country all those who should advise a pro- secution of offensive war on the continent of North America.

330 Engliſche Angelegenheiten,

fie ruhten daher auch Keinen einzigen Tag, ſondern nahen immer heftiger und heftiger. |

Der heftige Antrag am 8. März war kaum min * Mehr- heit von 10 Stimmen abgelehnt, als man am 15. einen zweiten that, wo die Mehrheit dev Minifter nur neun Stimmen betrug. Man nahm, um dieſe Mehrheit im Schrecken zu ſetzen, feine ‚Zuflucht zu einem Mittel, deffen man fich zur. Zeit Carls J. in Straffords Prozeß mit Glůe bedient hatte. Man ließ nämlich Liſten im Rande vertheilen und auſchlagen, worin die Namen der - einzelnen Abſtimmenden bei jedem einzelnen Vorſchlage, die mint- ſteriellen roth, Die andern Schwarz gedruckt waren, um fie dem Haß und der Verfolgung des Volks preiszugeben. Am 18. hatte ein Parlamentsglied (John Nens) darauf angetragen: das Par— lament ſolle eine öffentliche Erklärung ausgehen: laſſen, daß das Minifterium wegen des exlittenen Verluſts und der von ihm auf Das Land gebrachten Schuldenlaft das Vertrauen des Parlaments ganz verloren habe. ‚Der Borfchlag ward mit dev Mehrheiteiner ‚einzigen Stimme abgelehnt, der Graf von Surrey kündigte aber an, daß er ihn am 19, erneuern wolle "Ganz: London! war in ‚geipannter Grwartung auf die Debatten dieſes Tags, als Lord North vor dem Lärmen, der ihm in den folgenden zehn Ta— gen noch bevorſtand, zurückwich. Er erſchien am 20. in ‚dem An— zuge, in dem er eben vom Könige kam, mit ſeiner gewöhnlichen Faſſung, Ruhe und Spaßhaftigkeit im gedrängt vollen Parlamente und erklärte zu Aller Erſtaunen, was keiner erwartet hatte: Es ſei unnöthig, die am 19. angekündigte Debatte anzuſtellen, weil er ſo eben ſeine Entlaſſung eingereicht habe, und einige Inge nöthig feien, um ein neues Minifterium einzurichten, Der König litt dies; Mal am mehrſten, weil er die Sache der Miniſter zu einer perſönlichen Angelegenheit gemacht hatte und ſich mit Leiten umgeben mußte, die ihm nicht angenehm, zum Theil ſogar tödtlich verhaßt waren, wie 13:8. Bor, oder vielmehr Rockingham und feine ganze Glientel: König Georg war daher auch heftig tiber Lord North erbittert, von dem er verra= then zu fein glaubte, weil ex nicht ausgehalten hatte. Der Kö— nig würde unter. den: damaligen Umftänden gewünfcht haben, Shel⸗ burne nebft allen denen, die fich an dieſen fchloffen, ins Cabinet

*

Engliſche Angelegenheiten, 331

nehmen zu Können, befonders ‚weil unter Shelburnes Clienten Lord Chathams Sohn nebft allen denen war, die einſt Lord Chathams Partei gebildet hatten." Shelburne fühlte, ſich aber nicht mächtig genug, ohne Rockingham das Nuder übernehmen zu Tonnen, Der König, mitten im Kriege verlaffen, mußte fich ein ſonderbar ges miſchtes Mintftertum, unter dem nur ein Tory, Lord Thurlow, als Kanzler war, und fogar tiefe Kränfung bei der Einrichtung feiner Hofhaltung gefallen laſſen. Man findet unten in der Note die Namen dev Berfonen, welche vom März bis Zunt das Cabi— net ausmachten. 6%) Die Stellen! waren zwiſchen Shelburnes und Rocklughams Anhängern, welche fich His dahin zum Theil zu ganz :entgegengefehten Grundſätzen bekannt Hatten, getheilt; "Die etgent- Yiche Regierung beſtand aus eilf Verfonen , ſtatt daß vorher nur neun das Cabinet ausmachten. Daß Sheridan neben For Staats— ſecretäͤr wurde, mußte dem Könige höchſt widrig ſein, Burke, der damals durch republikaniſche Rhetorik glänzte, als Kriegszahlmei— ſter war ihm ebenfalls nicht angenehm. Rockingham war erſter Lord der Schatzkammer, For und Sheridan theilten das Staats— ſecretariat auf die Weife, daß der. Eine die Innern, der Andere die auswärtigen Angelegenheiten Teitete, Nur Lord Thurlow be— hauptete feinen Platz als Kanzler, es fehlte aber wenig, daß fich nicht die beiden Häupter des Miniſteriums aus Eiferſucht über ‚eine dem Einen vom Könige gewährte Gunſt ſogleich entzweit hätten. Der König gewährte nämlich einem Herrn Dunning, dem er vorher ſchon immer gewogen geweſen war, auf Shelburnes Bitte, die. Würde, eines Baronet; dies nahm Rockingham ſo übel, daß er darauf beſtand, daß der Monarch ſogleich und bei einer Gelegenheit, wo man ſonſt dergleichen Promotionen nicht vorzu—

68) Rockingham, erſter Lord der Schatzkammer, For und Sheridan, Staatsſecretärs, Lord Camden, Präſident des geheimen Raths, der Herzog von Örafton, Stegelbewahrer, Lord John Cavendiſh, Kanzlerdes Schatzkam⸗ mergerichts, Admiral Keppel, erfter Lord der Admiralität, General Conway, Oberbefehlshaber der Truppen’ (Commander: in chief ‘of the- Forces) , ‘der Herzog von Richmond, General⸗Feldzeugmeiſter (Master General’ of the Or- ‘donances), Lord Thurlow, Kanzler, Dunntng, den der König Shelburne zu Sefallen zum Baron son Aſhburton machte, war Kanzler des za. Lancaſter.

332 Engliſche Angelegenheiten.

nehmen pflegte, auch einem Manne, den er empfohlen hatte, die— felbe Würde ertheile. Bitt war daher auch in dieſem Minifte- rium an feinen Platz zu bringen, der feinen gerechten Ansprüchen einigermaßen anpafend gewejen wäre, Am härteften war es un— ftreitig, daß Rockinghams republifanifcher Anhang den König, der als Hausvater und als Tiebenswürdiger Privatmann alle Achtung verdiente, durch die gänzliche Veränderung feiner täglichen Gefell- ichaft feines Hofes und feines Hausweſens gewiffermaffen abficht- lich Fränfte, 69)

Das neue Minifterium mußte dann freilich fogleich das Beriprechen, welches feine Mitglieder, fo lange fie in der Oppo— fition waren, fo oft gethan hatten, erfüllen, es mußte den Hol- Ländern und den Amerikanern entgegenfommenz obgleich beide, jo lange ihnen nur ein befonderer Friede angetragen warb, fich unmöglich in Unterhandlungen einlaffen Eonnten. Sobald fie ohne ihre Bundesgenoffen unterhandelt hätten, würden fie fich von ihren alten Freunden getrennt und in die Arme ihrer bitterſten Feinde und Nebenbuhler geworfen haben. Den Holländern Tieß freilich For durch die Vermittlung des ruſſiſchen Minifters in London vortheilhaftere Vorſchläge thun als ſpäter gethan wurden; denn er bot ihnen an, die Traktate von 1674 zu erneuern; aber bie vepublifanifche oder patriotiiche Partei war damals in den Nie- derlanden fchon überwiegend und hoffte zu viel von Frankreich,

69) Wir wollen, ohne uns weiter auf die Hofgefchichte und auf die Aufzählung der Namen der Hofbeamten einzulaffen, nur ein paar Stellen anführen, deren neue Beſetzung dem Könige befonders empfindlich fein mußte, Es war der Graf von Hertford fünfzehn Jahre lang als Oberfammerherr um den König gewefen, er mußte jest die Stelle einem Andern überlafen. Man drang ihm denfelben Grafen von Effingham, der 1780 bei dem Auf: ftande in London, wo For nur eine verbädgtige Rolle gefpielt Hatte, eine gräßliche fpielte, zum Schatzmeiſter des königlichen Haushalts auf, Der alte Lord Batemann fogar, ein Mann von 70 Jahren, der dem Könige befonders angenehm war, durfte das Zitularamt eines Master of the buck hounds nicht behalten. Auch Gtbbon, der, beiläufig gefagt, fih Hatte gebrauchen laſſen, das Manifeſt gegen Spanien zu verfertigen, verlor damals ſeine Sinecure; denn Burke beſchränkte freilich ſeine Reformbill, ſo ſehr er immer konnte, durfte aber doch des Scheins wegen nicht den ganzen Antrag zurückziehen.

Seekrieg um 1782. 333

um plößlich von ihm abzufallen. Holland verdanfte übrigens den Franzofen die Rettung yon Geylon und vom Vorgebirge der guten Hoffnung. Was die Amerikaner angeht, jo hatte das Mintftertum zuerſt öffentlich im Parlamente erklärt, daß e8 bereit fei, die Un— abhängigkeit der dreizehn Provinzen von Amerika anzuerkennen, und hatte dann den Admiral Digby und Sir Guy Garleton nad) Amerika herüber geſchickt. Man wählte ausdrücklich diefe Män— ner, weil man gegründete Urfache hatte, zu glauben, daß fie des Zutrauens der Nepublifaner gensffenz fie fanden aber um fo weniger Gehör, als das Kriegsglück die Engländer in diefem Fahre nur allein in Weftindien begünftigte, ihnen aber fonft an vielen Stellen entgegen. war,

In Weftindien erntete das neue Miniftertum durch Rodneys Triumph die Frucht einer Saat, welche es nicht gefaet hatte, und diefer Triumph war um fo größer,. als vor der Rückkehr des Admirals das Anfehen der englifchen Seemacht in jenen Gemäf- fern ganz gefunfen gewejen war, AS Rodney am 19, Februar 1782 mit einer DVerftärfung von Schiffen aus Europa zurück— fehrte und das Kommando der ganzen Flotte wieder übernahm, waren alle englifchen Befitungen und Eroberungen außer Antigua, Barbados und Jamaica verloren. Die fpanifche und franzöſiſche Flotte Hatten fich vereinigen und auf Jamaica eine Landung ver— fuchen follen, um den Englandern auch dieſe ihre Hauptbefigung zu entreißen. Die Bereinigung der beiden Flotten Hatte fich aber verzögert umd die franzöfifche Flotte für fich allein war, wenn gleich die Engländer das Gegentheil behaupten, der eng- liſchen an Zahl der Schiffe nicht gewachſen; fie fuchte daher vor ihrer Vereinigung mit den Spaniern einem Treffen auszumweichen. Nach der Vereinigung würde die Zahl der Tpanifchen und fran= zöſiſchen Schiffe auf fechzig angewachjen fein, Die franzofifche Flotte war übrigens nicht blos viel zu ſtark bemannt, was man überhaupt damals franzöfifchen Kriegsſchiffen vorzumerfen pflegte, jondern fie hatte noch außerdem fechstaufend Mann Landtruppen zum Angriff auf Jamaica an Bord, fo daß ihr Verluft an Menfchen bei einem Treffen ungewöhnlich groß werden mußte, Die Bauart der. franzöfiichen Kriegsichtffe, welche bekanntlich noch im Anfange dieſes Sahrhunderts den englifchen Schiffbau—

334 Seekrieg um 1782

meiſtern als Muſter empfohlen. ward, erforderte eine ſtärkere Be— mannung. Die Ville de Paris, de Graſſes Admiralſchiff, galt allgemein als das größte und ſchönſte Linienſchiff, welches je in England oder Frankreich erbaut worden jet. Es hatte 120 Ka— nonen und 1300 Mann an Bord, die anderen Binlenfihffe wenigfteng 900.

Die franzöſiſche Flotte bildete dret Geſchwader * de. Graf; Vaudreuil, Bougainville, ſie ſuchte zwischen: den Inſeln hindurch zu ſegeln und ſich in deren Engen und an den Küſten derſelben ſeit dem Ende des Monats März der engliſchen Flotte zu ent— ziehen. Sie wollte ſich auf dieſelbe Weiſe, wie ſich vorher de Graſſe mit Solano vereinigt gehabt Hatte, mit der großen fpani- ſchen Flotte verbinden, Die englifche: Flotte: unter Rodney, Hood, Drake: war dies Mal glücklicher, als fie im vorigen Jahre gewe⸗ fen war, fie zwang die franzöſiſche Flotte ſchon am 9. April zu einem Gefechte in: der: Nähe: der Infel Dominica. Dies erſte Treffen, war dem Franzoſen rühmlich, weil fie fich ohne Schiffer zu verlieren, heranszogen 5 doch ward die Zahl ihrer Schiffer dadurch vermindert, daß ſie zwei derſelben, welche, in dem: Treffen ſtark bejchädigt waren, zurüdichiefen mußten, um fie ausbeflern zu laſſen. Auch die Mebrigen Hatten ſo viel ‚gelitten , daß ſie nicht mehr mit den englifchen gleichen Lauf halten konnten. Das Lebz tere gab Rodney Gelegenheit, fie zu zwingen, unter ungünſtigern Umſtänden als vorher ein zweites Treffen zu Kiefern. Die franz zöſiſche Flotte war nämlich der englifchen ſchon völlig ans dem Geſichte gekommen und Rodney war im Begriff, die Verfolgung derſelben aufzugeben, als ſich de Graſſe genöthigt ſah, umzu—⸗ kehren, wenn er nicht zwei ſehr beſchädigte Schiffe dem Feinde überlaſſen wollte. Dadurch ward am 12. das zweites Treffen unvermeidlich. Die Schlachtordnung der beiden Flotten ward in dem Meere zwiſchen Dominien und Marta Galante gebildet und son Rodney durch ein kühnes von ihm erfundenes Maneuvre zur See gewonnen. Dieſes Maneuvre nennt man ein Durchſchneiden der feindlichen Linie, denn. Rodney trennte zum Erſtaunen der Franzofen ihre Linie dadurch in zwei Theile, daß er; am dritten oder vierten Schiffe, von der Mitte DR * * ſens Schiffen glücklich durchfuhr erh mi

Minorca und Glibraltar. 335

Das Treffen dauerte son neun Uhr Morgens bis neun Uhr Abends und endigte mit einem furchtbaren Verluſt der Franzoſen, obgleich Vaudreuil und Bougainville mit ihren Gefchwadern fich glücklich vetteten, "De Grafje felbft gab Beweife yon Heldenmuth und Ausdauer, welche ſelbſt vom Feinde bewundert wurden, Er vertheibigte nicht allein, als feine, Linie durchfhnitten war und die Ville de Paris von ‚zwei - feindlichen Schiffen angegriffen wurde, fein Admiralſchiff, bis die ganze Maunſchaft getödtet oder verwundet war, ſondern ließ ſich erſt gefangen nehmen, als er ſich nur noch allein mit zwei Mann auf dem Verdeck befand. Erſt dann ward die Ville de Paris mit noch fünf andern Linien— ſchiffen genommen, ein anderes Schiff war während des ‚Treffens geſunken und der Cäſar flog in die Luft, als das Gefecht kaum beendigt war, Der Verluſt an Menſchen, den die Engländer er— litten, war unbedeutend, die Franzoſen dagegen verloren, weil ihre Schiffe überfüllt waren, ſiebentauſend Mann und konnten vorerſt an eine Landung auf Jamaica nicht denken. Das für Jamaica beſtimmte ſchwere Geſchütz und die Vorräthe von Mu— nition fielen in die Gewalt der Engländer, nebſt den zur Bezah— lung der Truppen beſtimmten Geldern und der Ville de Paris. Das Schickſal des vorigen engliſchen Miniſteriums verfolgte aber auch das neue, und zwar ſelbſt im dev Mitte feines Triumphs. Die Wegnahme der feindlichen: Lintenfchiffe brachte nämlich den Engländern eher Verluſt als Gewinn ‚70) und Rodneys Steg war kaum ein Erſatz für den Verluſt von Minorca, der haupt— ſächlich der Nachläſſigkeit des vorigen Miniſteriums zugeſchrieben ward, "Die Spanier ſuchten Gibraltar und Minorca, als zwei im ſpaniſchen Erbfolgekriege auf ihrem Gebiete gegründete eng—

70) Auf dem Caſar befanden ſich, als er in die Luft flog, außer 400 Gefangenen ein engliſcher Schiffslieutenant und fünfzig Matroſen. Von der Ville’de Paris, welche im September unterging, erfuhr! manı nit einmal, wo fie geblieben ſei. Der Glorieux verfhwand am 17. und 18. Septeniber mit der ganzen englifchen Bemannung, ber Centaur fheiterte und gingiunter, ebenfo ber Hector, der Ramillies brannte auf der See ganz ab, und, der Verluſt der den Franzoſen abgenommenen Schiffe ward im Auguſt noch durch den Verluſt des ſchönſten Schiffs Ser engliſchen Flotte vermehrt. Dies Schiff war ber Royal George son 108 Kanonen, welches ‚ganz: ausgerüſtet im

336 Minorca und Gibraltar.

liſche Niederlagen des Eontrebande-Handels auf ſpaniſchen Küften, welche zu Bollwerfen des See- und Landfriegs der Gngländer geworden waren, wieder zu erobern, fie hatten deshalb Gibraltar ihon jeit 1779 zu Waffer und zu Lande enge eingefchlofjen. Außer den andern Anftalten, welche fie feit Juli 1779 son der Landfeite her gegen Gibraltar gemacht hatten, befeftigten fie auch) für ihre Heer ein Lager bei St. Rogue, und fanden Mittel, dem Hafen enge einzufchließen , da ein Theil der: englifchen Flotte ſich in den oftindifchen und weftindifchen Meeren befand und ein an— derer die bedrohten englifchen Küften ſchützen mußte. Rodneys erſte Fahrt in diefem Kriege ward daher dadurch wichtig für England, daß er, ohne fich Tange aufzuhalten, der bedrohten: Fe— ftung die Truppen, deren fie zur Verſtärkung der Beſatzung be— durfte, die Lebensmittel und die Kriegsporräthe für eine lange Belagerung zuführte. Das Mebrige that hernach der Commandant Elliot, der fich nicht fowohl durch Ausdauer des Duldens, wegen deren man jonft die Vertheidiger von Feftungen zu preijen pflegt, als durch feine Gefchieklichkett in Vernichtung dev coloſſalen Anz ftalten des Angriffs berühmt machte. | Während hernach die ganze Aufmerkſamkeit auf Gibraltar gerichtet war, fjann Karl II. von Spanien in feinem Kabinet auf eine Unternehmung gegen Minoren, wobei er franzöſiſche Ingenieurd zu Rathe zug und von franzöſiſchen Truppen unter= ftügt ward, Gore, der feine Gefchichte Spaniens unter Karl III. aus Papieren englifcher Staatsmänner, aus ihren Gejandtichafts- berichten und Meittheilungen, kurz aus allem dem Gerede und Gejchreibe der Diplomaten zufammengefeßt hat, worauf wir nur in jo fern einige Bedeutung legen, als ich in den Thatſachen

Hafen von Portsmouth Tag und einer Aushefferung wegen auf die Seite ge⸗ legt und vielleicht ein wenig zu flark geneigt war. Alles war fertig, es be— fanden fich ein paar hundert Weiber, um Abfchied zu nehmen, an Bord und 900—1000 Mann nebft dem wadern Admiral Kempenfeld. Um zehn Uhr Morgens, während ber Admiral in feiner Kajüte mit Schreiben beſchäftigt war, erhob fih ein Kleiner Windſtoß, und das Schiff ſank fo ſchnell, dag nur dreihundert Menfchen gerettet wurben, bie fi gerade auf dem Verbede _ befanden. Der Strudel, ven das finfende ungeheure Schiff ——— war

ſo ſtark, daß ein Proviantſchiff mit hinabgeriſſen ward. aan

Minsrea und Gibraltar. 93%

ein deutlicher Erfolg oder Zufammenhang des Redens und Den— fend mit der Handlung ergibt, bringt das Unternehmen mit einem Projekt des englifchen Minifteriums in Verbindung. Wenn es aber auch wahr fein follte, daß die engliſchen Minifter die Kat- ſerin Katharina und Potemkin durch ein Tächerliches Projekt von Abtretung der wichtigen Feſtung zu täufchen gedacht hätten, fo verdiente dies doch Feiner hiftorifchen Erwähnung, weil es ein diplomatifches Luftgefpinnft war, wie deren alle Tage hundert gemacht werden. Ausgemacht gewiß dagegen und aus ben That- fachen ſelbſt Hervorgehend ift, daß König Karl II, ohne fein Miniftertum zu befragen und ohne. anfänglich auch nur den frangöfifchen Hof davon zu unterrichten, um 1781 den Entſchluß faßte, plötzlich Minorca anzugreifen, welches eine ſchwache Be— fasung hatte und ſchlecht verforgt war. Der Herzog von Grillen, der dem franzöfifchen Heere und franzöſiſchen Militärſchulen feine Militärbildung verdankte, aber ſchon feit dem fiebenjährigen Kriege in spanifchen Kriegsdienften war, follte das Landheer anführen und den Angriff Yeiten, die vereinigte ſpaniſche und franzöſiſche Flotte aber follte die Unternehmung gegen die englifche Seemacht beſchützen. Es waren nämlich damals wegen der Belagerung von Gibraltar unter Guichen und Don Juan de Cordova acht und vierzig ſpaniſche und franzöſiſche Linienfchiffe vereinigt; dieſe Flotte war den Engländern an Zahl überlegen. Unter dem Schutz der Flotte wurden achttaufend Mann Spanier von dem Belagerungs= heer vor Gibraltar eingefchifft und ohne daß weder Frankreich noch England etwas von. dem Plane geahnt hatten, am Ende Julius 1781 durch die Meerenge nach Minorca gebracht. Die Landung ward durch den Beiſtand der Minoreaner, welche mit Spanien wieder. vereinigt zu werden hofften, erleichtert. Sogar Citadella, Sort Fornella und einige andere Poften in der Nähe des Hauptorts Bort Mahon wurden ohne Schwierigkeit erobert, ſchon in der Mitte Auguft fiel ein bedeutendes Arjenal und ein Magazin in die Gewalt der Spanier und die ganze Belakung mußte fich in das Fort San Felipe ziehen, Dies Fort ganz allein vereitelte die Hoffnung der Spanier, die Inſel ohne eine fürmliche Belagerung in wenigen Wochen zu nehmen, denn es hatte einen tüchtigen Commandanten, war feit und beherrichte Bort Mahon. Sqhlofſer, Geſch. dr 18: u. 19 Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 22

338 Minorea und Otbraltar.

Grillen hatte gehofft, den englischen Befehlshaber Murray, einen Mann aus einer der angefehenften fchottifchen Familien, entweder zu überrafchen oder durch eine Million Livres zu beſte— chen; er gerieth in nicht geringe Verlegenheit, als beides fehlſchlug, weil man auf eine fürmliche Belagerung nicht gefaßt war md eine. bloße Einſchließung fich fehr in die Länge ziehen und den Erfolg zweifelhaft machen konnte. Die Spanier fahen ſchon im . September ein, daß ihre eigne Ausräftung zur Einnahme des Forts nicht hinveichen: werde und wandten ſich an Frankreich um Beiftand. Man fandte ihnen unter. dem Baron von Falfenbayır viertauſend Mann guter Truppen, alle Vorräthe und das fchwere Geſchütz, welches zu einer förmlichen Belagerung erforderlich war. Als im Oktober das: frifche Heer, die: Kanonen und: Kriegsvor— räthe ankamen, hatte ſchon das Entbehren frifcher und grüner Nahrungsmittel unter den Engländern und den Hannoveranern, welche, zwei Drittheile der Beſatzung ausmachten, furchtbare Ver— heerung angerichtet, Durch Genuß des gefalzenen und gedörrten Fleiſches und der trocknen Gemüfe waren die erwähnten‘ zwei Drittheile durch. Scorbut dienſtunfähig und unter dem dritten Drittheile befanden ſich vierhundert Invaliden. Je ſchwächer die Engländer waren, um deſto mehr ward eine kühne und glückliche Unternehmung im ganz Europa gepriefen und auch. vom den Feinden anerkannt, welche Murray noch im November mit feiner Heinen Zahl von Leuten, die noch dazu Frank und ausgemergelt waren, gegen das Hauptquartier der Belagerer ausführte: Der Herzog von Crillon hatte nämlich‘ fein Hauptquartier am Gap Mila und ward dort son den wenigen Engländern des Forts fo plötlich überfallen, daß er nicht allein fein Heer von dieſem Po— fen ganz. weggtehen mußte, fondern ihn audy geraume Zeit hin— durch nicht wieder einnehmen Fonnte, Die Belagerungsarmee beftand aus fechzehntaufend Mann, hatte hundert und nem Stüd ſchweres Geſchütz und fechsumddreißig Mörſer, die Beſatzung war durch Scorbut faſt ganz dienftunfähig gemacht und ein Pulver magazin gefprengt, nichtsdeftomweniger mußte man die Belagerung ganz nach der Regel fortfegen Im Januar 1782: war man endlich mit den: Arbeiten: dieſer Belagerung ſo weit fortgeſchritten, daß man das Feuer aus hundert und fünfzig Stücken eröffnen

Gibraltar. 339

konnte. Die Engländer vertheidigten ſich trotz des zerſtörenden und mörderiſchen Feuers der Belagerer aufs ſtandhafteſte, was um fo mehr bewundert ward, als Commandant und Vicecom⸗— mandant gewiſſermaßen in offnem Zwiſt waren, Ms endlich much der für fo ſehr viele Kranke ganz unentbehrliche Vorrath son Arzneimitteln durch eine Bombe zerſtört ward, mußte man am 5; Februar an eine Kapitulation denten. Die Tauſende det Bes lagerer mit ihrer migehenven Menge, von Geſchütz wurden gang befchämt, als die Paar hundert Leite vom elendem Ausſehen, die fich fieben Monate Yang gewwehrt hatten, der Kapitulation gemäß aus dem Thore des Forts zogen, 71)

Die Infel Minoren war feit achtzig «Jahren im dem Händen der Engländer gewefen, die Hoffnung des Königs von Spanien, endlich auch Gibraltar nehmen zu können, erwachte Daher mit nener Stärke, obgleich ev fett dret Jahren Koſten und Mühe ganz vergeblich auf die Belagerung, dieſes Felſens verſchwendet Hatte, Der Bericht über die Anftalten zu diefev Belagerung und aber deit Aufwand, den man dafür machte, lautet faft wie eine orientalifche Ge= ſchichte. Im Fahre 1782 wollte man mit der franzöſiſchen und ſpa⸗ niſchen Flotte auch die niederländiſche zum Behuf dieſer Belagerung vereinigen, dies gab aber nur Veranlaſſung, daß die Regierung des Erbſtatthalters ihrem Gegnern noch verdächtiger ward: als ſie vorher war, weil man fie beſchuldigte, Dev große Plan ſei durch ihre Schuld geſcheitert. Es zeigte ſich nämlich bei dieſer Gelegenheit aufs neue, daß das Intereſſe des Erbſtatthalters und ſeiner Familie ein ganz anderes ſei, als das der Ariſtokratie des Landes, ſoweit dieſe nicht innig mit Oranien verbunden: war, Das eine erfor⸗ derte, ſich an England zu halten, das andere, ſich innig mit Frankreich zu: verbinden, Es hatten daher die Generalſtaaten ind die Regierungen dev einzelnen Provinzen ſich ſeit Frühjahr 1782

71) Die Garniſon erhielt alle militäriſchen Ehren und durfle nach Eng⸗ land zurüdfchrem Es waren ſechshundert alte abgelebte Soldaten, hundert und zwanzig königliche Artilleriſten, zweihundert Matroſen, zwanzig Corſica⸗ ner, fünfundzwanzig Griechen, Türken, Mauren, Juden u. ſ. w. Am Abend vor der Capilulallon gebrauchte man zur Beſehzung der nöthigſten Poſteu 415 Mann, Hatte aber, um fle —52 nur 245 Mann, alſo 170 weni⸗ ger, als nöthig waren ·

22*

340 Gibraltar.

immer enger an die nordamerikaniſche Republik, an Spanien und Frankreich angeſchloſſen, die Regierung, oder vielmehr Ernſt Lud— wig, Herzog von Braunſchweig, im Namen des Prinzen als Ober- admiral und Generalfapttäan, unterhandelte insgekeim mit dem neuen englifchen Miniftertum. In dem Augenblide hätte die Verbindung der erbftatthalterifchen Partei mit England der Re- publik nüßlich werden können; denn das englifche Miniftertum bot einen guten Frieden an, die Batrioten bewirften aber, daß die Generalftanten dieſen verwarfen. Die oraniſch-engliſche Re— gierung rächte fich dann, als das holländiſche Geſchwader, welches die franzöſiſche Flotte verftärfen und dann in Verbindung mit der ſpaniſchen bei Gibraltar gebraucht werden follte, in Breſt erwar— tet ward. Es erflärte namlich zum Erſtaunen der ganzen niederländi-

C ſchen Nation der Erbftatthalter und Erbadmiral in Meberein-

flimmung mit den durchaus oraniſch gefinnten Befehlshabern im September 1782, daß e8 für dies Jahr zu ſpät ſei, große Kriegsichiffe nach Breſt abgehen zu laſſen.

Dadurch ward dann auf der einen Seite der Plan eines Angriffs: auf Gibraltar, wobei mit großer Uebermacht an Zahl der Schiffe die englifche Flotte abgehalten oder vernichtet werden ſollte, vereitelt; auf der andern aber die Unzufriedenheit in den fieben Provinzen und die Gährung fo vermehrt, daß man ſchon damals einen Ausbruch von Unruhen fürchtete. Die Verabredung wegen der Bereinigung der: fümmtlichen Flotten war eine Folge des veränderten Plans der Belagerung von Gibraltar, worauf damals die Erwartung und Aufmerkſamkeit yon ganz Europa gejpannt waren, weil Frankreich und Spanien ihre ganze Macht zur: Groberung, England zur Vertheidigung der 1704 ohne Wi- deritand eingenommenen Felſenburg aufboten, Diefe Belagerung war fett Juli 1779 nur son der Landfeite her anhaltend betrieben worden, Bon diefer Seite her war fo wenig auszurichten, daß der General. Elliot ruhig zufah, wenn die Spanier neue Batterien bauten und fehr bedeutende Summen auf Errichtung und Ein- richtung derſelben verwendeten und hernach, wenn Alles fertig war, mit. feiner vortrefflichen Artillerie die Batterien in einem Sage zuſammenſchießen ließ. Bon der Seeſeite her ging e8 den Spaniern noch Schlimmer; fie waren nicht einmal im Stande, bie

Bo

Gibraltar. 311

engliſchen Kriegsichiffe, Panther und Experiment, welche den Hafen vertheidigten, zu verbrennen, obgleich Brander gebaut und eingerichtet und Don Barcellos Flotte zur Befchlitung der Unter nehmung gegen den Hafen beordert war. Die Brander wurden aber ungefchieft geleitet und Don Barcellos Flotte bei dem Un— ternehmen ſehr übel zugerichtet,

Wir Haben ſchon oben erwahnt, daß nach diefen vereitelten Verſuchen von der Seeſeite aus die Engländer nicht konnten ab— gehalten werden, die Feſtung mit allem Nöthigen reichlich zu ver— ſehen, ſo daß ſie um 1781 viel beſſer verſorgt und beſetzt war, als um 1779 vor der Einſchließung. Die Beſatzung, großen Theils Hannoveraner, war nach und nach bis auf ſiebentauſend Mann vermehrt und beſtand aus lauter auserleſenen, kräftigen Leuten, auch hatte man die geſchickteſten und geübteſten Artilleriſten dahin geſchickt. Seit dem einem Feldzuge ähnlichen merkwürdigen Ausfalle, den die Beſatzung mit dem glänzendſten Erfolge gegen die Spanier, welche die Stadt von der Landſeite angegriffen, un— ter Elliots eigner Anführung und unter dem General Roß am 27. November 1781 ausgeführt hatte, gab man die Hoffnung, allein von diefer Seite her die Feftung zu nehmen, aufs neue auf und verfuchte ganz neue Mittel von der Seeſeite her anzu= wenden, Zu der Zeit namlich, als Elliot und Roß den merk- würdigen Ausfall thaten, Hatten die Spanier fich mit: der Vor— ftellung getäufcht, daß fie auf der: Landfeite eine vierte Parallele zu Stande gebracht hätten, welche dem Feuer der Feinde trotzen werde, und nahe genug fei, um dem Geſchütze Wirkung geben zu fonnen, Sie war in der That bis auf taufend Ruthen von der Feftung fortgeführt, als ploglich die ganze Garnifon in drei Ko— lonnen ausrückte und die Spanier überrafhte, Die Kanonen wurden vernagelt, die Werke zerftört, gefprengt, verbrannt und innerhalb einer Stunde die Arbeiten mehrer Monate vernichtet.

Um diefe Zeit, als die mehre Monate Hindurch genährte Hoffnung, der Feftung son der Landfeite beizufommen, vereitelt war, ließ fich dev König von Spanien, der die Erpedition gegen Minorca angegeben und gleich der Belagerung von Gibraltar als perfünliche Angelegenheit angefehen und betrieben Hatte, auf dein ganz abentenerlichen Plan einer Beſchießung son der Seefeite

342 Oibraliar.

durch ſchwimmende Batterien ein. Die Erfindung der ſchwimmen⸗ den Batterien kann nur mit Xerxes Zug gegen die Griechen, oder doch mit ſeinem Brückenbau verglichen werden und hatte eben ſo verderbliche Folgen für die Urheber als der letztere. Der frau— zöſiſche Ingenieur, mit dem Karl III. ſelbſt den Plan verabredete und welcher den Bau angab und leitete, war und blieb als einer der geſchickteſten Männer ſeines Fachs bekannt, gleichwohl fällt jedem, der weder vom Seeweſen noch vom Belagerungskrieg das Geringſte verſteht, die Abenteuerlichkeit ſogleich ins Auge. Es war nämlich der Rathgeber des Königs von Spanien derſelbe Ritter Areon, der fpAter in der Schreckenszeit Carnot zur Seite fand, als er die bewunderten Inftruftionen für die erobernden Armeen der franzöfifchen Republik entwarf, Er ftarb 1800 unter Bonapartes Gonfulat als Divifionsgeneral, als Inſpektor der Beftungen und Mitglied des Inftituts, wie man die Academie damals nannte. Der Plan diefes Ingenieurs, den König Karl II. biffigte, ging dahin, die Feftung von dem Hafen aus zu beſchie— Ben und zu diefem Zweck den Hafen mit ungehenern ſchwimmen— den hblzernen Bauwerken anzufüllen, worauf man das fchwere Geſchütz und die Mörſer den Werfen nahe bringen könne, Den zu dieſer Abficht auf Unterlagen von Schiffen gebauten, fehr zu— fammengefeßten hölzernen, fchwerfälligen Gebäuden gab man den Namen ſchwimmende Batterien,

Ganz Europa harrte mit gefpannter "Erwartung auf den Ausgang des Unternehmens gegen einen bloßen und vereinzelten Selfenz denn die Anftalten auf der Landfette waren nicht weniger furchtbar, als die Rüftungen auf der Ser Es Tagen nämlich hinter den Landbatterien vierzigtauſend Spanier, zu denen ein Hülfsheer von zwölftauſend Mann Franzofer tief. Aus allen Gegenden Europas, befonders aus Frankreich, Spanten und Sta- lien ſtrömte die vornehme Welt zufammen, um dem Schaufpiele der Eröffnung des Feuers’ vor Gibraltar beizuwohnen. Auch Lud- wigs XVL Brüder vermehrten ihren loſen Aufwand und ihre Schulden durch die in der Tofifpieligen Begleitung ihrer Teichtfer- tigen Umgebung unternommene ‚Reife ins Rager von St. Roque. Eine ſehr üble Vorbedentung für den Ausgang des aben- tenerfichen Unternehmens und fir den Grfolg der coloffalen Vor—

Gibraltar 343

bereitungen war, daß, während König Karl IIL und dArçon, welche zwar Theorie des Kriegsweſens, aber auch nicht die ges ringſte praftifche Erfahrung hatten, an dem Ausgange gar nicht zweifelten, die beiden ſpaniſchen Feldhern, die zu Lande und zur See gedient und Erfahrungen erworben hatten, Griffen und der Admiral Bonaventura Moreno, auch nicht das geringfte Zutrauen zu den großartigen Anftalten zeigten. Die ungeheuern Hokmaf: fen waren in der Bay son Aldſcheſiras gebaut und die Englän— der Tachten im Stillen der im Gabinet ohne alle nautifche Erfah— zung bereshneten Unternehmung, welche ihnen eine fichere Beute bereitete.

Der Angriff ward auch diefes Mal wieder von der Lande feite begonnen und endigte, wie er noch jedesmal geendigt hatte, jobald das Feuer eröffnet war. Elliot richtete vom 5. bis 8, September fein furchtbares Feuer auf die nen errichteten Batte— vien am Lande und fchoß auf diefelbe Weiſe wie er hernach durch glühende Kugeln und Bomben die fchwimmenden Batterien ver— nichtete, in den drei Tagen alle die Werfe vollig zufammen, welche die Feinde in neun Monaten an der Landſpitze errichtet Hatter, Die Spanier bauten indeffen fogleich eine neue Batterie von 64 Ka— nonem und warfen bis zum 13. September, an welchen Tage auch das Feuer von der See aus eröffnet ward, 6300 Kugeln und 1080 Bomben in die Stadt, Elliot erwiderte das furcht- bare Fener gleich heftig und feßte, als am 16, die ſchwimmenden Batterien aus dem Hafen von Aldſcheſiras jchwerfällig an den Fuß des Felfens: gebracht waren und das betäubende Schießen. be= gann, fein Hauptvertrauen auf die glühenden Kugeln, deren er nach einer vorher mit großer Einficht gemachten Cinrichtung in einem einzigen Tage viertaufend auf die unten Megenben hölzer⸗ nen Bauwerke herabſchleuderte.

Die Einrichtung der Dächer der Batterien ſchien einige Stun- den lang die gewünfchte Wirkung zu thun, denn ſelbſt die Bom— ben vollten von den durch die Taue elaftifchen naffen Fellen her- unter, mit denen fte gedeckt warenz aber fobald eine einzige glü— hende Kugel tiefer in das größte der Schiffe eindrang, zeigte fich, daß die Einrichtung der Lagen von Korkholz und naſſem Sande auf Feine Weife die Entftehung einer Entzündung verhindern könne.

344 Gibraltar.

Sobald es einmal an verſchiedenen Stellen rauchte, verlor her— nach die Bemannung die Beſinnung. Schon um ein Uhr in der Nacht des 14. Septembers ſtanden die beiden größern Batterien, bald auch einige andere in Flammen, und Capitän Curtis be— nutzte ſogleich den günſtigen Augenblick, und erſchein mit ſeinen Kanonenboten. Er commandirte zwölf engliſche Kanonenbote, von. denen jedes einen Achtzehn= und Vierundzwanzigpfünder führte; diefe fehiefte er jett in die Bay, um die ſpaniſchen Kanonenbote zu vernichten, welche den Batterien hätten Hilfe Teiften können und foffen. Die Kanonenbote flohen und überließen die Batterien ihrem Schieffal. Acht der ungeheuern Schiffe verbrannten und flogen in die Luft, unter ihnen war das Admiralſchiff; eins fiel in die Gewalt der Engländer und das zehnte serbrannten dieſe, weil fie es nicht fortbringen konnten, 72) | Einen Theil der Mannfchaft, welche fich auf den Batterien befand, retteten die Spanier, etwa vierhundert Menfchen wurden son den Engländern aus dem Waſſer gezogen, doch kamen über fünfzehnhundert auf die elendfte Weife ums Leben, Die uner- meßlichen Koften der Belagerung waren auf diefe Weiſe für Spa— nien gänzlich verloren und Hatten nur gedient, dem englifchen Ge- neral Efliot und dem Generallieutenant Boyd einen unfterblichen Ruhm zu verfchaffen. Den Ruhm der DVertheidiger der Feſtung theilte hernach der Admiral Home, als er von der See aus das sollendete, was fie zu Lande begonnen hatten, Cr verhöhnte die fpanifche und franzöfifche Flotte, die ihn nicht anzugreifen wag— ten, wie die Vertheidiger von Gibraltar die vereinigte Landmacht beſchämt hatten, Admiral Howe Tief nämlich mit einer Flotte von

72) Es waren die zu ſchwimmenden Batterien eingerichteten Schiffe fol- gende: 1) Paſtora, 211 Stück und 10 Referve, 760 Mann, Contreadmiral Moreno; 2) Talla Piedra, 21 St. 10 Ref., 760 Mann, Prinz von Naſſau; 3) Paula Prima, 21 St. 10 R., 760 M., Don Cajetan Langara; 4) El. Rofaris, 19 St., 10 R., 700 M., Don Franzefeo Xavler Munoz; 5) San Epriftosal, 18 ©t., 10 R., 650 M., Federico Gravina; 6) Principe Carlos 11 St., 4 R. 400 M., Antonio Bafurta; 7) San Juan, 9 St., 4 Ref., 340 M., Joſef Angelos; 8) Paula Serunda, 9 St., 4 R., Bablo de Coſa;

9) Santa Anna, 7 ©, 4 R., 800 M.; 10) Los Dolores, 6 St, 6 R. 250 Mann.

For und Pit bis 1784. 345

vier und dreißig Linienfchiffen in demfelben Augenblick von Spit— head aus, als zwifchen den Belagerten und den Belagerern ein fo heftiges und anhaltendes Artilleriefener unterhalten werden mußte, daß Elliot faft alle Vorräthe feiner Munition erfchopfte und ſoviel Leute verlor, daß er einer Verftärkung bedurfte, Howe hatte Auftrag, ihm mit dem Nöthigen zu verforgen und führte diefen Auftrag troß der feindlichen Flotte von 64 Segeln, unter denen 42 Lintenfchiffe waren, glücklich aus, Howe griff zwar bie feindliche Vebermacht nicht gerade toflfühn an, aber er erjchien in ihrer Nähe, er forderte die Feinde gewiffermaßen heraus und deofte in der Nähe dev Bay, mo er feine Vorräthe und Truppen ausfchiffen wollte, dem Feinde trotzend, die achtzehn Transport- fchiffe, die er in den Hafen fehiefte, mit feiner Flotte gegen bie ihm an Zahl weit überlegenen Feinde. Er fchiffte außer andern Borräthen zwei Negimenter aus und lieferte der Feftung von den Borrathen feiner Flotte fünfzehnhundert Fäſſer Pulver, ohne daß man ihm anzugreifen wagte. Ein Zeitgenoffe diefer Greigniffe, dem wir fonft nicht gerade viel Mrtheil zutrauen (Wrarall), ur— theilt über Diefe That fo verftändig, daß wir fein a unten beifügen wollen, 73)

$.4

Kampf zwifhen For und Pitt bis 1784,

AS die im. Vorhergehenden erwähnten Kriegsereigniffe er- folgten, befand fich der König yon England an feinem eignen Hofe in der größten Bedrängniß. Ein neues Minifterium war jeit —2 1782 eingerichtet, aber es gerieth mitten im Glück in

73) Without engaging he defied the combined fleets, offered battle, but did not seek it; effected every object of the expedition by relie- ving Gibraltar and then retreated; followed indeed by the enemy, but not attacked. They made, it is true, a show of fighting, but never 'ventured to come to close action. And with such contempt did Lord Howe treat the cannonade commenced by the van composed of French ships under La Motte Piquet, that having ordered all his men on board the Victory to lie down flat on the deck, in order that their lives might not be needlessly exposed, he disdained to return a single shot against such cautions or timid opponents.

8346 Kor und Pitt bis 1784

größere Verlegenheit, ald die war, in welcher ſich Lord North und feine Gollegen, während das Schickſal fortdauernd ihnen ent- gegen war, befunden hatten, Das gemifchte Minifterium nämlich, welches im März 1781 war eingerichtet worden und zum Theil aus folchen Leuten beftand, welche fo wenig als möglich vom alten Wege abweichen wollten, und von Shelburne abhingen, war gleich im Anfange unficher und ſchwankend. Der Herausgeber der oft anzuführenden Gorrefpondenz fagt (L pag: 26): das Gabinet be— ftand aus Whigs, Rockinghams und Chathams oder Shelburns zwei Sectionen derfelben Partei, welche fich nie innig vereinig- ten (cordially coalesced). Außerdem wollte damals der König feinen perfönlichen Einfluß noch nicht aufgeben und Fonnte Män- ner wie For, Sheridan, Burke und Andere durchaus nicht leiden. Das Minifterium löste ſich aber fehneller auf, als man erwartet hatte, weil Rockingham ſchon am 1. Juli in feinem zweiundfünf⸗ zigften Jahre ſtarb. Da ſich Shelburne nach dem Tode feines Collegen mit deſſen fcheinbar revolutionären Freunden nicht mehr vereinigen Fonnte, jo wagte er, was er vorher nicht gewagt-hatte, aus feinen eignen Anhängern ein Minifterium zu bilden. Dies . Minifterium mar von zwei Seiten gedrängt; auf der einen vom Anhange des Minifters, der den nordamerkfanifchen Krieg ange— fangen hatte, auf der andern von For und feinem Anhange, welche dem Scheine nach republifanifche Grundfäte vertheidigten. Shel— burne hatte daher einen fehr fehweren Stand, Schon von dem Augenblick an, als For, Burke, Sheridan und die andern Freunde Rockinghams im Juli aus dem Minifterium austraten und Op- pofitton bildeten, war der drei und zwanzig Jahre alte, jüngere Pitt, mit dem fehon feit Dezember 1781 Dundas innig verbun— den gewejen war, derjenige, welcher die Sache des neuen Mini— fteriums im Unterhaufe, aljo auf dem entfcheidenden Kampfplatze verfechten mußte, Pitt Hatte Hinter und um fi Lord Cha— thams ganzen Anhang, der von dieſer Zeit an ihm ſtets treu blieb, weil ev Alles aufrecht hielt, was der. Ariftofvatie theuer und werth war, Pfründen, Sinecuren, verfallene Flecken mit ein- gerechnet. Nicht Shelburne, fondern Pitt als Kanzler der Schab- fammer war daher eigentlich Hauptperfon des im Juli errichteten dritten Minifteriums des Jahrs 1782, neben ihm fand Dundas,

Fox und Pitt bis 1784. 347

ber unter Lord North Generaladvofat yon Schottland geweſen war, als Schatmeifter dev Flotte, und machte fich durch feine genaue Bekanntichaft mit den imdifchen Angelegenheiten ganz unentbehr- lich für Pitt. Schon das vorige Minifterium hatte, die Noth- wendigfeit eingefehen, dem Kriege ein Ende zu machen, Bor hatte ſich deßhalb beſonders an Holländer und Nordamerikaner gewendet. Shelburne wandte fih an Frankreich,

For, als Stantsferretär, hatte mit Franklin, dev fih in Pa⸗ ris befand, längſt einen Briefwechfel angefnüpft. Er hatte im April Lord Temples Bruder Grenpille, alſo einen Mann aus einer Familie, in welcher der Nepublifanismus erblich war, in Oswalds Begleitung nach Paris gefchteft and zu Anterhandlungen mit Ders gennes und Franklin bevollmächtigt, auch hatte dev Congreß noch neben Franklin, Jay, Adams, Laurens Vollmacht zur Friedens— unterhandlung gegeben, Nach der neulich befannt gemachten Cor— vefpondenz hatte aber Shelburne, als feine Eollegen den Thomas Grenville fchieften, um mit Amerika anzufnüpfen, in feinem und in des Königs Namen Lord Fitzewilliams geſchickt, der ihm ent— gegenarbeiten ſollte. Wir fehen zugleich aus Franklins jest voll- ftändig gedruckter, Correſpondenz, daß Franklin eigentlich allein die ganze: Ünterhandlung Teitete und dabei die Franzoſen hinterging, ohne daß man ihm jedoch irgend einen gerechten Vorwurf machen konnte; ſo ehrlich Schlau benahm er fi, Franklin brachte es namlich dahin, daß er in Baris für Amerika befonders unterhan= deln durfte, ohne den Abgeordneten der andern Mächte Mitthei- lungen zu machen. Auf diefe Weite ſchied er die Forderungen der Amerikaner an England, deren Erfüllung diefes ſchon vorher verfprochen Hatte, bei denen alfo gar Feine Schwierigkeit ftatt- fand, pon den ſchwierigen Unterhandlungen in Berfatlles und konnte fie gleichlanfend mit denjenigen führen, in welchen Vergennes für Spanien und Holland auf Punkte beftand, welche England nicht einräumen wollte. Sowohl die Unterhandlungen in Paris als die in Verſailles wurden vom April bis zum Juni nicht einmal Im eigentlichen Sinne in Gang gebracht, obgleich For wiederholt erklärt hatte, daß, wenn auch die förmliche Anerkennung der nprd- amertfantichen Republik erſt eine Folge des Friedens fein könne, England doch Fein Bedenken trage, mit derſelben, als mit einen

348 For und Pitt bis 1784,

unabhängigen Staate, zu unterhandeht, Die Zögerung, welche zum Theil von dem Zwieſpalt im englifchen Miniſterium, zum Theil von dem geringen Einfluß herrührte, den die liberale Par— tei, deren Nepräfentant For war, auf König und Nation hatte, zum Theil son Sheridans Leichtfertigfeit, erklärt John Adams in einem Briefe an Franklin kurz und durchaus richtig, wir fügen deghalb feine Worte unten bei. 7%)

Sobald Shelburne die Leitung des Minifteriums übernom— men hatte, bot fich der König willig zu Allen, was man von ihm forderte, um des Kriegs entledigt zu werben und des Parla— ments weniger zu bedürfen. Schon gleich im Juli erhielt Fitz— herbert, der unter dem Namen Lord St. Helens ſpäter bekannter geworden tft, den Auftrag, wegen der Präliminarien mit den enropätfchen Mächten in Berfailles zu unterhandeln, Oswald ward befonders beauftragt, wegen Nordamerifa mit Franklin in Paris übereinzufommen. Franklin hätte gern den Abſchluß der Präliminarien aus Dankbarkeit gegen Frankreich und aus Recht- Tichfett verzögert, bis England auch mit Frankreich in Verfailles einig geworden jet, er ward aber von Jay und Adams überſtimmt und diefe unterzeichneten, ohne DVergennes, dem Amerika Alles verdankte, auch nur zu fragen. Das englifche Minifterium gab namlich nicht blos über. die Unabhängigkeit von Nordamerika, ſon— dern auch über das Gebiet jenfeit der blauen Berge, mo jebt die blühendften Provinzen und Städte find, über Häfen, Infeln, Fiſcherei nach; es forderte fogar, um nur Amerika fchnell von

74) John Adams, der damals im Haag war, ſchreibt (Franklin, Works Vol. IX. p. 232) am 13. Junt 1782 an Sranflin: The discovery, that Mr. Greville’s power (feine Vollmacht) was only to treat with France, does not surprise me at all. The British ministry are too divided among themselves, and have too formidable an opposition against them in the king and the old ministers, and are possessed of too little of confidence of the nation, to have courage, to make concessions of any sort, especially since the news of their successes in the West and East Indies. What their vanity will end in, God only knows; for my own part, I cannot see a probability, that they will ever make a peace un- til their finances are ruined, and such distresses brought upon them, as will work up their parties into a civil war.

For und Pitt bis 1784, 349

feinen Verbündeten zu trennen, nicht einmal eine genaue Beſtim— mung der Gränzgen im Norden, weßhalb darüber noch bis vor wenigen Jahren heftiger Streit geweſen iſt. Nach dem in Ame— rika geltenden Grundſatz, dafs materielles Streben des Menjchen höchfter Zweck, großer Reichthum und äußeres Wohlfein fein letz— tes Ziel ift und fein fol, hatten die amerifanifchen Advokaten Jay und John Adams gegen Franklin im Sinne ihrer Lande- leute ganz Recht. Die amerikaniſchen Rabuliften erfanden dabei einen Ausdruck, welcher dienen follte, die Bedingung des Trac— tats mit Frankreich zu umgehen, nach welchem fie nicht eher Prä— Yiminarten unterzeichnen durften, bis Frankreich das Gleiche ges than habe. Ste nannten nämlich das, worüber fie einig wurden, nicht Präliminar⸗, fondern Proviſional-Artikel. Die Engländer mußten die Eiferfucht der Amerikaner zw ervegen, und Frank— lins Golfegen überftimmten und übereilten den Abſchluß. Frank— lins neueſter Lebenshefchreiber hat deutlich ausgefprochen, was Franklin in feinen Briefen nur leiſe andeutet, daß er die Fauf- männifch=juriftifche Undanfbarkeit, welche die Herren Jay und John Adams gegen Branfreich bewieſen, keineswegs billigte, 75)

75) Sparks, Works of B. Franklin Vol. I. p. 489. The most re- markable circumstance attending. the treaty of peace remains to be no- ticed. The American envoys not only negotiated it without consulting the court of France, but signed it without their knowledge, notwith- standing they were pointedly instructed by congress „to make the most candid and confidential communications upon all subjeets to the mini- sters of our generous ally, the king of France, and to undertake no- thing in the negotiations for peace or truce without their knowledge and concurrence, and notwithstanding the pledge in the treaty of al- liance „that neither of the two parties should conclude either truce or peace with Great Britain, without the formal consent of the other first obtained.“ It is true, that the treaty was only provisional and was not to. be ratified until France had likewise concluded a tre— aty, but this reservation did not alter the nature of the. act. When the American treaty was signed, it was not known to the commissioners what progress had been made by the French in their negotiation, or whether it was likely to be completed, or the war to continue, There was also a separate article, which was not intended to be communica- ted to the French at all, concerning the southern boundary of the Uni- ted States, in case West Florida should be given up to the British in their treaty with Spain.

350 For und Pilt bis 1784.

Vergennes war daher mit Necht gekränkt und fand ſich fehr über⸗ vafcht, als ihm die amerikaniſchen Benoflmächtigten, ohne ihm mr die geringfte Nachricht son dem Erfolge ihrer Unterhandlungen gegeben zu haben, meldeten, daß fie am. 30, November 1782 Ste fogenannten Proviſional-Artikel unterzeichnet hätten,

Durch die Anterzeichnung diefer Provifional-Artifel Hatte fich die nene Republik dev Sache nach ſchon ganz von Ihren Verbün—⸗ deten getrennt; e8 war daher blos eine jener Fietionen der Porn wegen, welche alle Tage in den englifchen Gerichten vorkommen und Niemand täufchen, wenn es hieß, die Unterzeichnung der Ba- rifer Präliminar-Artikel werde erft in Verſailles erfolgen, wenn auch die Engländer und Pranzofen über die Ihrigen einig ges worden feten, Die Uebereinkunft über die vorkäufigen Punkte des Friedens zwiſchen England und Frankreich ward befonders dadurch verzögert, daß König Georg TEE und feine Minifter während Des Kriegs, den König Karl von Spanten durch einen Wink wegen Abtretung oder Vertaufchung son Gibraltar zw einem befonderen Frieden zu bewegen verfucht hatten. Died mar des Königs son Spanien Lieblingsgedanfez er bot daher, als er den Pla mit Ge walt nicht hatte nehmen können, den Engländern an, ihnen für Gibraltar fehr bedeutende fpanifche Beſitzungen in ander Gegen- den abzutreten; aber. das englische Volk verlangte eben fo Teiden- ſchaftlich, daß der Felſen englifch bleibe, als Karl forderte, daß ex. wieder mit Spanien vereinigt werde. Das bloße Gerücht son dev Möglichkeit einer Abtretung von Gibraltar evvegte eine ſolche Bewegung In ganz England, gab der Oppofitton ſolche Stärfe und veranlaßte jo Heftige Neden im Parlamente, daß die Mini— ſter dieſe Reden nur durch Gefchtwindfchreiber durften nachſchrei— ben: und den franzöſiſchen Miniftern. mittheilen. laſſen, um. dieje und endlich auch dem König von: Spanien oder wenigſtens feine Minifter zu überzeugen, daß man an eine folche Bedingung nim⸗ mer denken dürfe, wenn man wolle, daß der Friede ‚den man ſchließe, som Parlamente gebilligt werde.

Wenn in Holland- Einigkeit geweſen wire, wenn bie. umgite friedenen: Patrioten das: Beiſpiel dev Amerikaner hätten befolgen und jest wenigſtens der Negierung ihres Erbſtatthalters solle Vertrauen ſchenken wollen, fo Hätten fie viel beſſere Bedingungen

For und Pitt bis 1784. 351

erhalten können, als fie hernach erhalten haben; aber der Unwille der Staaten der Provinz Holland gegen England und gegen ihre eigne Regierung war zu groß. Die Staaten von Holland waren durchaus franzöſiſch geſinnt, fie trauten auf Vergennes, weil er ein ehrlicher Mann war, da bekanntlich fonft in feiner Sphäre Ehrlichkeit ſich nur felten mit der nöthigen diplomatifchen Klug— heit verbinden Yapt. Darum zirnte Franklin auch feinen Collegen darüber, daß ſie fich einen juriftifchen Kniff gegen Männer, wie Vergennes und Ludwig XVL waren, erlaubt hatten. Vergennes opferte in der, That, um Spanien nicht zu beleidigen und doc, den hartnädigen König Karl zum Frieden zu bewegen, Vortheile anf, die Frankreich hätte erhalten Fünnen, wenn es für fich allein hätte forgen und die Bundesgenoffen ihrem Schickſal überlaffen wollen. Dies hebt Franklin befonders hervor, als er am 14 Dezember 17823 dem Gongreß die Artikel meldet, über welche man an diefem Tage vorläufig übereingefommen war, welche auch den Hauptinhalt der hernach am 10, Jannar 1783 unter- zeichneten Präliminarien ausmachten. 76)

Florida und die Bahama-Inſeln waren den Engländern entrifjen worden. Diefe hatte anfangs’ Spanien herausgeben: follen, um Anderes: behalten zu dürfen, die Engländer hatten aber die

76) Er ſchreibt am 14. Dezember (Worksi Vol. IX, p. 442): 1 have this day learned, that the; principal: preliminaries between Franee: and England: are, agreed; on,. to, wit:

1) France. is to enjoy the,right of fishing and. drying on all the

.. west coast of Newfoundland, duwn to cape Ray. Miquelon and St. Pierre are to be restored and may be fortified.

2) Senegal remains to. France and’ Göree The Gambia is to be re— stored: entirely: to) England.

3). All’ the. places. taken from France, im the East. Indies: to: be: re- stored, with a certain quantity of territory round them.

4) In the West Indies, Grenada and the Grenadines, St. Christo- pher’s, Nevis and Montserrat, to be restored to England; St. Lu- eia to France;

Es wurde an dem, was Franklin hinzufügte, noch Manches geändert, und Frankreich, durfte: auch, Tabago behalten: Die einzelnen Bedingungen anz zuführen, gehört nicht zu unferm 8weck, außerdem. findet man bei Lacretelle. hist. de Franco ro le 18, Vol. Y Dag- 324. die En in extenso. —2

352 For und Pitt bis 1784.

Inſeln in der letzten Zeit wieder erobert. Frankreich wollte aber Spanien bei guter Laune halten, weil ſowohl das franzöſiſche als das englifche Minifterlum den Frieden weit jehnlicher wünfchten und feiner viel mehr bedurften, als der König von Spanien; man überließ daher den Spaniern beide Floridas und die Inſel Minorca. Auch Frankreich erlangte einige Vortheile, Es erhielt die Infeln St. Pierre und Miquelet nebft dem Rechte des. Fifche fangs bei Terre Neuve auf demfelben Fuße zurück, wie es im Utrechter Frieden feftgefegt war. Frankreich mußte freilich. die eroberten Injeln in Weftindien wieder herausgeben, erhielt aber dafür die Niederlaffungen auf der Weftküfte von Afrika und Bon- dichery zurück, Wir werden freilich weiter unten zeigen, daß in Dftindien dadurch, daß Vergennes die Namen Vilnour und Val— daour verwechjelte, ein bedeutendes Gebiet für Frankreich verloren ging. In Weftindien behielt Frankreich die -Infel Tabago. Der wichtigfte Punkt für feine Ehre war, daß die läſtige Aufficht, welche die Engländer nach) den frühern Traktaten über Dünkirchen führen durften, endlich ganz. aufhörte. Frankreich ward des eng— liſchen Auffehers in einer Stadt feines Gebiets entledigt, es durfte den Hafen derfelben wieder eröffnen und die Stadt wieder befe- ſtigen. Holland allein ward im Frieden, wie vorher im Kriege, von Freunden und Feinden als ein Verbündeter betrachtet, den man weder ald Freund zu achten im Stande fei, noch als Feind zu fürchten brauche. Man gewährte zwar auch den Holländern Waffenſtillſtand, ward aber mit ihnen über die eigentlichen Be— dingungen des Friedens erit einig, als endlich am 3. September 1783 der fürmliche Friede. abgejchloffen war, dem bie im den erften Monaten des Jahrs unterzeichneten Bräliminarien zu Grunde gelegt wurden. Zu diefer Verzögerung des fürmlichen Friedens— abfchluffes trugen die Stürme, die fich im englifchen Parlament wegen der Präliminarien erhoben hatten und die Veränderung des Miniſteriums nicht wenig bei.

Die Präliminarien verkündeten dem englifchen Volke, welches fogar mit den durchaus vortheilhaften Bedingungen des Pariſer Friedens um 1763 unzufrieden gewejen war, trotz ber bedeuten- den Abtretungen, welche Frankreich und Spanien ihm machen mußten, nicht hefviebigt ward, Die ganze Schmach des letzten

For und Pitt bis 1784. 353

Krieges, Dieſer Friede war der ehrenvollite, den Frankreich fett einem Jahrhundert mit England, und umgekehrt dev nachthei- ligite, den diefes Reich mit jenem: gefchloffen Hatte, Das war mehr als der brittifche Stolz ertragen konnte. Man erhob ſich von allen Seiten nicht blos gegen das Minifterium, das die Nation verrathen haben follte, fondern ganz beionders auch gegen den König, der durchaus dem Kriege ein Ende habe machen wollen. Seht endlich redete Lord North, der bis dahin fich ruhig verhalten hatte, im Parlamente mit gleicher Heftigfeit, als Bor und fein Anhang gegen die Präliminarien. Dürften wir hier die für ung aus den neulich befannt gemachten Briefen der beiden Gren— ville Lord William Wyndham Grenville, der bis 1834 eine bedeutende Rolle fpielte, und Lord Temple, hernach Herzog von Buckingham) hervorgehende Anficht des fo laut gepriefenen confti- tutionellen Zreibens in England darftellen, jo würden wir viele Erbärmlichkeiten, welche unfere Anglomanen nicht zu kennen ſchei— nen, ans Licht bringen können. Das dürfen wir nicht wagen, theild weil wir dann viel ausführlicher werden müßten, als ung hier erlaubt ift, und dabei vieles Einzelne hervorziehen, welches den gewöhnlichen Lejer ermüden würde, Hauptfächlich aber, weil es ganz umfonft wäre, etwas zu berichten, was die Leute nicht wilfen wollen. Wir wollen daher den von Macaulay u. ſ. m. Erfüllten keinerlei Nergerniß geben, fondern nur denen, die fich auf Thatfachen, nicht auf Ideen in der Gefchichte und in der Politik jtügen wollen, empfehlen, in dem oft angeführten, fonft wenig intereflanten und nichts Neues enthaltenden Buche die Briefe aus den Jahren 1783 und 1754 aufmerkſam zu leſen. Die vornehmen Korrefpondenten hatten damals noch Schaum, was jebt nicht mehr der Fall iſt. Es machten namlich die beiden Parteien, welche Jahre Yang unverföhnlichen Krieg geführt umd deren Führer fich einer den andern einen fchamlofen Deſpoten und einen gott- Iofen Demokraten gefcholten Hatten, gegen - einen rechtlichen und nach der Art feines Volks zwar blind aber doch treu gläubigen König einen Bund, um ihm ihre Führer, welche er als Treuloſe verabſcheute, zu Miniftern aufzubringen.

For und Lord North waren weder der Eine noch der Andere

im Stande, ein Mintfterium und ein Parlament gegen Shelburne Schloſſer, Geſch. d. 18, u, 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 23

354 For und Pitt bis 1784.

und Pitt zufammtenzubringen, fie ſchämten fich daher nicht, ohne alle Rücficht darauf, daß fie Hundert Mal erflärt Hatten, daß der Grundſatz ihres Lebens und ihrer Verwaltung fich verhalte, wie Tugend zum Lafter oder wie Wahrheit zur Lüge, eine innige Verbindung einzugehen, über welche alle rechtlichen Leute tief be— trübt waren, Dieſe Verbindung nennt man das Goalitiong- Miniſterium Englands, Ber diefer Gelegenheit fah man au, wie wenig bie ehrlichen Leute in der Politik gehört werden dür— fen; denn das ehrfiche Miniſterium Shelburne mußte weichen und die beiden Häupter der Gegner deffelben durften wie zwei Mächte über die Theilung der Beute deſſelben unterhandeht, Shelburne wollte anfangs For die Hand reichen, damit wenigſtens Lord North nicht zum Schande der mit ihm jetzt verbündeten de— mofratifchen Oppofitton wieder ing Miniftertum komme; aber For war tiber dergleichen bürgerliche Bedenklichkeiten hinaus, er wollte nicht mit Shelburne im Miniftertum feinz auch wäre außerdem die Sache an Pitt geſcheitert, der von dergleichen Traktaten nicht hören wollte.

Die Unterhandlung über die ſogenannte Coalition ih über die Theilung der dadurch. zu erobernden, vom 'englifchen Volke bezahlten Stellen und Benftonen und Stneruren, und über ihre Bertheilung zwifchen Freunden und Berwandten von Lord Hol- Sands Sohn, dem Redner und Republikaner For und dem Ur— heber des nordamerkfanifchen Kriegs ward ganz öffentlich betrie- ben.) Lord North Tieß durch, zwei Bevollmächtigte (den nach⸗ herigen Grafen von Gutlford und den Oberfien Fitherbert) mehre Tage hindurch, ohne daß der König nur befragt: worden wäre, die Bedingungen der unnatürlichen Minifterialalltang aus— machen, dann ward die Goalition am 16. und 17, Febuar 1782

77) Der Herausgeber des Court and Cabinets of George I. fagt (I. 154): Powis observed that it was an age of sirong eonfederations a monstrous coalition had taken place between a noble lord and am illustrous commoner ihe lofty assexter of the prerogative had joined. in, alliance, with the worshippers of the majesty of the people. Cr fügt fehr bebeutend hinzu; such words had more purpose and meaning in those days, than the would have

in our own. 5

For und Pitt bis 1784. 355

mit beifptellofer Dreiftigfeit im Parlamente verkündigt. Um ven Zweck zu erreichen und das Miniſterium Shelburne zur Nieder- legung der Stellen zu zwingen, wollte man eigentlich den Präli— minarien die Zuftimmung des Parlaments verfagen, dies Fonnte aber nicht gefchehen, weil das Oberhaus feine Zuſtimmung ſchon gegeben Hatte. Das Minifterium konnte fich gleichwohl nicht behanpten , die Goalitton nahm vielmehr mit großer Keckheit von der Regierung im Parlamente Befis, ehe fie noch im Kabinet einen Sitz hatte.

Lord North erklärte mit feiner gewohnten Dreiftigfeit, ex und fein Verbündeter wollten den durch die Präliminarien vorbe— reiteten Frieden nicht foren, fie wollten auch das Miniſterium nicht zur Verantwortung ziehen oder eine Abänderung der zuge= ftandenen Bunkte fordern, fondern blos Alles mißbilligen, damit das getadelte Miniftertum ihnen weichen müffe. For, deffen eigne Worte wir unten anführen, erklärte fich ganz damit einverftanden. Seine Worte zeigen, mit welcher Leichtigkeit, mit welcher genialen Verhöhnung deffen, was man im gemeinen Leben Wahrheit und Treue der Innern Meberzeugung nennt, er fich über feine Verbin— dung mit dem Manne ausfpricht, den er fechzehn Jahre Yang -als Urheber des Kriegs, als Unterdrücer der Freiheit und als Feind des Baterlandes verfolgt hatte. 79) Das Minifterium gab, ſchon dem Könige zu Gefallen und weil es die Mehrheit im Oberhauſe für fich Hatte, nicht fogleich nach, beſonders weil ſelbſt int Unter— hauſe die Goalition nur eine Mehrheit von wenigen Stimmen zählte. Der Kampf ward som 16. bis zum 22, Februar ohne Entfchetdung fortgefeßt, an dem Tettern Tage aber legte Shel- burne, dem man allgemein vorwarf, er Habe als Mintfter ein

78) Im Texte wird nach den Anfichten geurtheilt, welche jeßt veraltet find. In Spanien, in England, in Frankreich nennt man jest Höcdfte Staatswiffenfhaft, was von uns gefcholten wird. Die ſpaniſchen Minifter, denen die franzöſiſche Reglerung die Breiten Ordensbänder gibt, werben reden, wie For bet dieſer Gelegenheit ſpricht. Diefer fagt nämlich mit einer Dreiftigfett, die Guizot unter Ludwig Philipp von Zeit zu Seit, Thiers Immer zur Schau trug, welde vor 1848 noch etwas befremdend war, jest niemandem mehr auffällt: I’have been accused of having formed an union with the noble lörd (North) whose prineiples Thave opposed for several years of my life, but ihe grounds of our opposition are

23*

356 For und Pitt bis 1784

fchandliches Spiel mit Staatspapieren getrieben, jeine Stelle ploglich nieder. Wäre er rein vom Schmub der Geldfpefulation gewefen, wie Pitt hernach war, fo hätte er fich, wie man damals allgemein glaubte, gegen die verachtete und verhaßte Goalition zweier unmoralifchen Gegner behaupten können, obgleich dieſe durchgejett Hatten, Daß das Unterhaus die Erklärung erließ: „daß die Abtretungen, welche Großbritannien feinen Feinden durch den Proviſionaltraktat und durch die Praliminarartifel bewilligt Habe, bedeutender wären, als die Feinde in Nückficht der gegenwärtigen Lage ihrer Angelegenheiten und der gegenfeitigen Stärke hätten erivarten dürfen.“ Uebrigens ift der Vorwurf, den man. Shel- burne macht, nie eigentlich erwiejen worden; doch hat ihn Pitt, der noch fünf Wochen lang nach feinem Austritt: in der. Schaß- fammer dem Könige zur Seite blieb, um ihm den bittern Kelch, de Männer der Coalition um fich zu dulden, zu erfparen, jpäter nie wieder im Kabinet dulden wollen. |

Der König zögerte und zauderte. Pitts Leitung dev Ge— jchafte war nur eine Nothhülfe, die mehrften Geſchäfte fanden in den fünf Wochen ganz fill und doch Konnte der König fich nicht entfchließen, fich und das Volk in die Hande einer gewifjen- Iofen Oligarchie zu geben, die alle Vortheile und Aemter, ohne ihn zu fragen, getheilt hatte, ehe nur das vorige Miniſterium entlaffen war. Der König ließ nicht allein das Miniftertum während der fünf Wochen von Pitts Interimsverwaltung ganz ohne Haupt, jondern er drohte fogar in einem Augenblid, als durch die Unficherheit des Kabinets alle Gefchäfte in Stocken ge— riethen, auf einige Monate nach) Hannover zu gehen und Eng= fand fich ſelbſt zu überlaſſen.

removed and I do not conceive it to be honorable, to keep up ani- mosities for ever. I am happy at all times to have a proper oppor- tunity to bury my reseniments and it is the wish of my heart thatmy friendships should never die. The American war was the source of my disagreement with the noble lord and that cause of enmity being now no more, it is wise and fit to put an end to the ill-will, the any- mosity, the feuds and the rancor, which it engendered. It is a satis- faction to me to apply the appellation of friend to the noble lord; I have found him honorable as an adversary, and have no doubt of his openess and sincerity as a friend. |

For und Pitt bis 1784. 357

Schon feit Mitte März beſtürmte das Unterhaus den König mit wiederholten und dringenden Vorftellungen wegen. Beftellung eines neuen Miniſteriums, während die Coalition mit großer In— jolenz jeden Mann verjchmähte, der dem Könige zu Gefallen im Kabinet oder auch nur am Hofe zugelaffen werden follte, und jede auch noch jo Heine Aenderung an der verabredeten neuer Einrichtung der Verwaltung verweigerte. AS gegen Ende März auch Pitt feine Stelle aufgab und in den acht Tagen von feinem Austritt bis zur Entſchließung des Könige vom 2, April die ganze englifche Staatsmafchine ind Stocken gerathen war, gehorchte endlich der König der harten Nothwendigfett, Er ließ dann den Herzog von Portland rufen, gegen den er ſich Yange eben fo heftig geſträubt hatte al8 gegen Bor, der aber in der Korrefpon- denz der Grenville als der Gemäßigte unter den Liberalen bezeichnet wird. Der König wählte diefen, weil ihn die oligarchifche Parla— mentsbande zu ihrem Haupte erforen hatte, oder vielmehr, weil fte ihm gern die Ehre der Repräfentatton überlaffen wollte, Der Her- zog ward eriter Lord der Schatfammer, die ganze Kabinetsoligarchte beftand nur aus fieben Mitgliedern, ftatt daß das letzte Kabinet ans eilf Perfonen und das vorige aus neun befanden hatte,

For war wieder Staatsſekretär für die auswärtigen, Lord North Für die Innern Angelegenheiten, Lord Keppel erhielt die . Stelle eines erften Lords der Admiralität wieder, Burke und Sheridan gehörten zwar zum eigentlichen Kabinet nicht, Doch

wurden fie mit Stellen bedacht, die ihren Bedürfniffen und Wins

chen angemefjen waren, fo daß auch fie für ihre Reden im Par- lament bezahlt wurden. Burfe ward wieder Zahlmeifter und | Sheridan Sekretär der Schabfammer, Die eigentliche Negterung während der Zeit des Coalitionsminiſteriums war in Bor Händen, die Hofämter, ‚Chrenftellen und Auszeichnungen ertheilte zufolge der Mebereinfunft Lord North; e8 mußte daher nothwendig bie Abneigung des Königs gegen Alles, was die Minifter vorſchlu— gen, fortdauern. Diefe Abneigung des Königs, verbunden mit der Oppofition, die von William Pitt und Dundas ausging, hemmte die Thätigkeit des Miniftertumg, dem ſonſt das Unter Lord Norths Leitung gewählte Parlament gänzlich angehörte, weil fich ja die vormaligen liberalen Mitglieder mit den abſolutiſtiſchen

@

398 - Kor und Pitt bis 1784,

vereinigt hatten, Alle Mühe, die Abneigung des Königs zu überwinden, war vergeblich, obgleich er in der Kunft fich zu vers ſtellen Meifter war, weßhalb man ihn falſch und Falt nannte, Gr gab den Miniftern Audienzen, empfing aber alle Glieder des Kabinets ſtets mit fteifer Förmlichkeit, feierlich und kaltz er ließ fich, son ihnen die nöthigen Maßregeln angeben oder vielmehr vorschreiben, fügte fich ihrem Nathe, unterzeichnete die vorgelegten Papiere, beivies aber nie das geringfte Vertrauen, ſondern Tief ihnen deutlich merken, daß, wenn er auch ihre Talente und ihre Fähigkeit im Geſchäfte anerfenne,: er fie doch als Menjchen: tief verachte. In dem merfwürdigen eigenhändigen Briefe des Königs an Lord Temple, der damals die Stelle eines Vicekönigs yon Srland niedergelegt hatte, fpricht er fich einen Tag vorher, che er das Coalitionsminiſterium offiziell anerkannte, ganz offen und hart ans (L. 218 fg). „Um den Zwieſpalt zu endigen, fagt er, welcher macht, daß alle Räder der Regierung Stille ftehen und welcher dem öffentlichen Credit nachtheilig fein würde, wenn er länger dauerte, gedenfe ich noch heute Abend dem dankbaren Cjein eigner Ausdruck) Lord North jagen zu laſſen, daß die fieben Kabinetsminifter, welche die Coalition ernannt hat, als folche von mir angenommen werben follen (shall kiss hands). 79) Der König fügt hernach hinzu: Er Hoffe, daß nicht viele Monate ver— fließen würden, bis die Grenville, die Pitt und andere Männer von Talent und Charakter ihn aus der Lage zögen, in welche ex nie würde gerathen fein, wenn er nicht geglaubt hätte, es ſei Fein anderes Mittel übrig, dem weſentlichen Schaden des ofen lichen Credits zu verhindern.

AS For am Könige und folglich an der Dauer feines!’ Mi— niſteriums verzweifelte, Fam er anf den unfeligen "Gedanken, die Coalition In eine Oligarchie zu verwandeln, welche: Parlamente machen und fich ohne den König follte behaupten können. "Dies ya dadurch gefchehen, daß die ie Geſellſchaft und alle

79). Er fügt Hinzu; A ministey., which i * ah —JJ to avoid by calling on every other description of men, cannot be sup- posed, to have either my favour or confidence, and as such I m. most certainly refuse any honours the may ask for.

For und Pitt bis 1786 359

ihre ungeheuern Befigungen in Oftindien, nebft dem Haupthan- delsintereffe der ganzen Nation, unbedingt von der Herrichaft des gegenwärtigen. Miniftertums und. von der -Fortdnuer des dieſem angehörigen Parlaments abhängig gemacht würde, Der Zuftand der. pripilegivten oftindifchen Handelsgefellichaft und das Verfahren ihrev vom den Eigenthümern dev Actien erwählten Directoren, Beamten u. |. w. hatte ſchon vorher eine Einmiſchung des Mi— niſteriums und des Parlaments in die oftindifchen Angelegenheiten nothwendig gemacht. Je ausgedehnter das Kaiferthum der Ge- ſellſchaft in Indien, je größer der Handel ward, deſto mehr Geld hatte das englifche Volk hergeben müſſen, wenn nicht durch die jchlechte Verwaltung Stillftand oder Banferott erfolgen ſollte. Man mußte daher die ganze Einvichtung der Gefellfchaft ändern, um die Millionen unterjochter Indier der Regierung habſüchtiger Kaufleute zu entziehen und fie als Unterthanen des Krittifchen Reichs zu behandeln. Die Einrichtung der Gefellfchaft, vermöge deren jede Actie von fünfhundert Pfund zu einer Stimme, alſo hunderttaufend. Pfund zu zweihundert Stimmen in einer Gefell- ſchaft, welche man die dev Eigenthümer nannte, berechtigte, brachte die, Regierung eines Gebiets, das Schon damals. größer als Deutichland war, an wenige reiche Engländer, Die Eigenthümer wählten nämlich Direetoyen , welche nur ihnen allein Rechenichaft ablegten. Dieſe Einrichtung zeigte ſich fchon vor dem fiebenjäh- rigen Kriege als durchaus mangelhaft, weil ſchon feit dem Erb— folgefriege die Geſellſchaft fortdanernd vermöge des Parlaments zur Staatsfaffe Zuflucht nehmen mußte; nach Rem fiebenjährigen Kriege ward. fie vollig unhaltbar.

Seit dem fiebenjährigen. Kriege oder vielmehr fett den grau— ſamen, ‚treulofen und vanberifchen Unternehmungen des aus einem Handlungsdienen zum Staatsmann und: Helden gewordenen Lord Clive, der. alle. Eigenfchaften eines großen aftatifchen Diplomaten mit den Talenten eines ausgezeichneten. curopätfchen Generals verband, mar ein großer Theil von Indien von den Truppen ber oſtindiſchen Geſellſchaft beſetzt, ihre Directoren konnten aber un— möglich in Aſien Könige, in Europa Kaufleute ſein, ohne daß England die verderblichſten Folgen fühlte. Dieſe wurden ſchon unter Clive und. durch ihn fühlbar und erregten den Hefen Uns

360 Tor und Pitt bis 1784.

wiffen de3 unverdorbenen Theils der Nation, der auch ſogar In unfern Tagen in England noch anfehnlicher ift, als unter andern reichen aber entfittlichten Völkern Europa’. Indien von London ang zu regieren, war unmöglich, ſo lange die Divertoren son der englifchen Staatsregierung ganz unabhängig blieben und die obe- ven Beamten in Indien jelbft nur den Directoren Nechenfchaft ablegten, deren Kreaturen oder Inftrumente fie waren, "Die oberften Beamten, Statthalter auf der Küſte von Goromandel und in den Provinzen am Ganges Hatten fich daher auch feit dem Pariſer Frieden alle ohne Ausnahme auf eine niedrige und empörende Weife gegen die Fürften und Einwohner des eroberten Landes betragen, Während alfo die oftindifche Geſellſchaft ihre Statthalter wegen ihrer DVerdienfte und Talente belohnte, ehrte, befchenkte, riefen die Repräfentanten der englifchen Nation fie zur gerichtlichen Verantwortung, weil fie den englifchen Namen durch öffentliche Verbrechen beſchimpft hatten... Rumbold, der auf der Küfte yon Goromandel defpotifch graufam und unterdrücend hab— füchtig Gefeb und Moral verachtet Hatte, entging der Anklage durchs Unterhaus vor dem Oberhaufe nur durch feinen zur gele— genen Zeit für ihn erfolgten Tod; Clive und fein Nachfolger Warren Haftings (ebenfalls ein Mann von Talent und Kraft, aber wie Clive ohne Schaam oder Grundfäße) wurden unter großem Lärm zu ganz verfchtedenen Zeiten wirklich als Verbrecher angeklagt.

Die Handlung der Gefellfchaft fogar ward son den Londoner Directoren, fo Tange fie Niemand überwachte, jo fchlecht beſorgt, daß das Parlament, um einem Banferott vorzubeugen, der den englifchen Kredit würde vernichtet und unzählige Menfchen in den Abgrund gezogen haben, mehre Mal mit Millionen zu Hilfe fommen mußte. Die Nation, welche bezahlen mußte, hatte daher unftreitig ein Necht, fih um die Verwaltung der Finanzangele- genheiten der von ihr unterftügten Privatgeſellſchaft und zugleich um die Art der Verwaltung der mit englifchen Truppen eroberten Provinzen zu befümmern. Dies war um 1773 gefchehen, ale Lord North an der Spike des Minifteriums fand. Lord Clive ward damals im Parlamente mit alfer der Heftigfeit angeklagt, welche Burfe ſpäter auch gegen Warren Haftings zu beweiſen

For und Pitt bis 1784, . 361

Gelegenheit hatte, Dies war zu einer Zeit, als die oſtindiſche Geſellſchaft eim Anleihen von 440,000 Pfund vom Parlamente fuchte und diefe Summe auch wirklich erhielt, Lord North brachte damals einen Geſetzesvorſchlag ins Parlament, wodurch er bie indiſchen Angelegenheiten einer Oberaufficht des Mintftertums unterwarf und dadurch die Protection der Minifter, worauf ihre Macht über das Parlament und auf die Wahl deffelben befon= ders beruft, ungemein. vermehrte. Diefes erfte Staatsgefe in den Angelegenheiten der oftindifchen Gefellfchaft tft unter dem Namen der Regulattonsbill bekannt. 80) | | Durch das Negulationsgefeb ward feſtgeſetzt, daß Fünftig die Directoren auf je vier Jahre follten gewählt werden, daß das Stimmrecht in der Verfammlung der Gigenthümer an den Beſitz der Summe von 1000 Pfund an Aktien follte geknüpft werden, ftatt daß vorher fehon der Beſitz von 500 Pfund ein Stimmrecht gab. Es follte ferner diefem Gefete zufolge in Calcutta ein neuer Obergerichtshof errichtet werden, beftehend aus einem Ober- richter und drei Richtern, welche die Krone zu ernennen habe. Endlich follte künftig in Bengalen ein Generalgouvernement be= ftehen, dem die andern Präfidentichaften untergeordnet wurden, Der beftehende Nath und der gegenwärtige Statthalter, hieß es darin, follten zwar beftätigt werden, doch wurden ihnen andere Perfonen von Seiten der Regierung beigeordnet, In der Folge folfte Niemand mehr von der oftindifchen Gefellfchaft allein, ohne Befragung und Einwilligung des: englifchen Minifteriumg, zu den höheren ‚Stellen ernannt werden. Bet diefer Gelegenheit ward auch ausgefprochen, daß Glive wegen feines Betragens zur Nechen- jchaft gezogen werden folle und daß Fünftig jede Erwerbung von Land und Gebiet, welche im Namen der Gefellfchaft gemacht werde, Gigenthum des brittifchen Staats fein ſolle. Dies Gefet half aber dem Hauptübel, der fchlechten Verwaltung, nicht ab, und die Gefellichaft fuhr auf der einen Seite, trot des Regulativs

80) Wir führen die BEN unter dem Titel an, unter dem fie befannt tft und eitirt werden muß; der ausführliche Titel Yautet: A bill for esta- blishing certain regulations for the better management of the affairs of the East India company, as well in India as in Europe.

362 For und Bitt bis 1784,

fort, Croberungen für ihre Rechnung gu machen, und auf der andern dauerten unter Warren Haftings, dem erſten ‚General gouperneur, die Geldverlegenheiten fort. Der nachher fo furchtbar angeklagte und durch Burkes im Oberhaufe gehaltene Reden als Unmenfh und Tyrann gebrandmarkte Warren Haftings wird übrigend von vielen Schriftitellern wegen feiner Einrichtungen und feiner Verwaltung eben fo fehr gepriefen, als von andern gefcholten. Die Unterfuchtungen darüber gehören theils in diefes ausſchließend den europäiſchen Gefchichten gewidmete Werk nicht, theils fiel Warren Haſtings Prozeß in eine viel ſpätere Zeit als die, deren Geſchichte dieſer Band umfaßt.

Schon zur Zeit des vorletzten Miniſteriums, alſo noch unter Lord North, war durch die Klagen über die Regierung der Kauf⸗ leute und ihrer Beamten in Indien, noch mehr durch die fchlechte Verwaltung der Einnahme und des Handel und wegen des ſtets aufs neue drohenden Banferotts die Meberzeugung allgemein geworden, daß durch die NRegulationsbill wenig oder nichts ge— wonnen ſei. Man war zu der Meberzengung gekommen, daß das Parlament ernftlich durchgreifen, eine Radicalreform der Geſell— ſchaft und ihrer Berwaltung vornehmen und ganz bejonders bie Regierung der im fiebenjährigen Kriege und nachher erworbenen Provinzen den Kaufleuten ganz entziehen müſſe. Den Kaufleuten war nämlich ſowohl Numbold als Warren Haſtings ein wortreff- licher Mann. Beide hatten ja von den Maratten und durch bie Befiegung des furchtbaren Hyder Alt im Sarnatif viel Geld und viel ı Land gewonnen. Allein die politiſchen Verbrechen dieſer Männer hatten nur fie und die Begünftigten bereichert, den Fi— nanzen der Gefellfchaft Hatten die auf ihre Koften erworbenen unermeßlichen Reichthümer mehr gefchadet ald genügt, fie mußte aufs nene die Staatskaſſe in Anfpruch nehmen. ı Da das Privi- legium (charter) der oftindifchen Geſellſchaft immer nur auf bes ftimmte Jahre ertheilt ward, fo wollte man ſchon im Sahre 1780 den Ablauf des Termins im Anfange des folgenden Jahrs (1781) zu einer Veränderung benußen, doch verlängerte man hernach das Priotlegtum noch auf eine kurze Zeit und ſetzte blos einftweilen zwei Ausſchüſſe nieder, um. die indischen Angelegenheiten genau zu unterſuchen. In dieſen Ausſchüſſen war. ſchon unter - Lord

For und Pitt bis 1784, 363

North der damalige Generaladoofat von Schottland, Dundas, ſpäter Lord Melville, eine Hanptperfon und auf Antrag der Ausſchüſſe wurden im Laufe der Jahre. 1781 und 1782 allerlei Reformen der Gefellfchaft und Abanderungen der Maßregeln der Divectoren beichloffen. Dieſen Befchlüffen ward auf eine ganz auffallende Weiſe von Seiten der oſtindiſchen Gefellfchaft und ihren Directoren entgegengehandelt, Rumbold follte einem Par— Iamentsbefchluß gemäß vor Gericht geftellt. werdenz das geichah nicht, er ſtarb, ohne daß feine Bergehungen wären gerügt worden. Warren Haftings follte ebenfalls zurückberufen und angeklagt werden; die Directoren befolgten aber den Barlamentsbejchluß nicht, fie beftätigten ihn im Amte und er febte feine, eines aſia— tifchen Defpoten würdige Regierung noch lange Jahre fort. Die Urſache diefer Verachtung der Verordnungen des Parlaments war, dag Niemand mehr: über die Ausführung dev Befchlüffe wachen fonnte, feitdem der eine Ausſchuß, der zur beffern Einrichtung yon Recht und Gericht in Indien und. zur Unterfuchung der Urs jache des Kriegs im Carnatic beitellt war, fich aufgelöfet hatte, Der andere zur meuen Organifatton beftellte Ausfchuß dauerte fort, brachte aber den von ihm gebilligten, von Dundas entwor— fenen Reformationsyorichlag erft ans Parlament, als fich ſchon alle Umstände geändert hatten,

Der von Dundas ausgearbeitete Bericht kam nämlich erſt 1783 ans Parlament, als der Verfaſſer deſſelben ſchon neben

Pitt in der Oppoſition ſeinen Platz genommen hatte, Der Vor—

ſchlag, der in dieſem Bericht enthalten war, wurde daher verwor— fen und Fox verſprach, eine Totalreform vorzuſchlagen. Pitt und ſeine Freunde ſtimmten übrigens mit ihren Gegnern darin überein, daß man den Uebeln der Verwaltung und der Regierung nur dadurch abhelfen könne, daß man die oſtindiſche Geſellſchaft unter die Vormundſchaft der brittiſchen Regierung bringe. Fox ſchlug zu dieſem Zwecke im November 1783 zwei Geſetze vor, welche ſeine Abſicht, das Miniſterium und ſogar das Parlament ganz vom Könige und auch vom Volke unabhängig zu machen und fortdauernd unter dem Einfluß der Coalition zu erhalten, ſo ſchlau unter dev Form der Verbeſſerung der Einrichtung einer Handels- geſellſchaft verſteckte, daß fehr wenige: Staatsmänner den eigent-

364 For und Bitt His 1784,

lichen Sinn dev Vorſchläge erriethen, den der König nicht einmal ahmete, Das eine der vorgeſchlagenen Geſetze enthielt namlich die weiſeſten, gevechteften, mildeften und vortrefflichſten Befttm- mungen über Verwaltung son Gericht, Negterung und Recht in Indien, wodurch allen bisherigen Befchwerden über englifche Bru— talität und Bedrückung der Indier abgeholfen werden follte. Das Andere enthielt die Einrichtung der Gefellfchaft ſelbſt. Das Eine hat mit der Gefchichte, die wir hier behandeln, nichts zu thun, jo wichtig die Kenntniß deſſelben auch in andern Beziehungen ift, das andere mit dem Erſten unzertvennlich Verbundene führte dagegen den Sturz des Goalitionsmintfteriums herbei. Es unter- warf nämlich nicht blos die Compagnie der Aufficht des Minifte- riums, was jedermann wünfchte, fondern es richtete Die neue Drdnung der Gefellfchaft jo ein, daß dadurch die Auflöfung des Minifteriums dem Könige unmöglich werden mußte.

Das Monopol der Gefellfchaft, welches erft in unfern Tas gen aufgehoben worden tft, ſollte nach For Vorſchlag fortdauern, auch war nichts dariiber bejtimmt, ob die Territorialrechte der Geſellſchaft bleiben oder der Krone überlaffen werden follten. Aus— drücklich feftgefegt ward dagegen, daß den Diveftoren und den ſo— genannten Eigenthümern oder Befigern son taufend Pfund ar Aktien, von denen die Direktoren gewählt wurden, die ganze Ver— waltung, fowohl des Handels als der Negterungsangelegeniheiten der von der Geſellſchaft befeßten und eroberten Provinzen entzo= gen werden folle. Die Verwaltung, die Ernennung der Beam— ten und Angeftellten, das Recht des Kriegs und des Friedens ward durch die Art, wie die Commiſſarien, denen Alles dieſes überlaffen werden follte, beftellt und mit der Landesregierung und dem Parlament in Verbindung gebracht wurden, dem Miniſterium überlaffen. Fox wollte die oberfte Leitung der. indifchen Gejchäfte an fieben Mitglieder aus den in England durch Landbeſitz oder Geldreichthum angefehenften englifchen Familien, die Ausführung der von dieſen gegebenen Verordnungen oder gemachten Ginrich- tungen an neun Direktoren der Handelsgefellichaft übertragen Yaflen. Auf welche Weife For durch die fieben zur Anordnung der indiſchen Angelegenheiten beftellten Commiſſarien das befte- hende Miniftertum erhalten und durch daſſelbe vermöge der von

For und Pitt His 1784. 365

ihnen ganz abhängigen Wahlen (den Einfluß von Geld und Land- befit auf die Wahlen kennt jebt Jedermann aus den Parlaments- bebatten) die Goalition in eine Oligarchie verwandeln wollte, zei= gen jchon die Namen derer, die er vorichlug. Es waren: der Graf Fitwilliam, der Viscount Lewisham, dev Erbgraf Monta= gue, der ältefte Sohn des Lord North Auguft), die Baronets El— liot und Fletcher und der Junker Nobert Gregory. Diefe Män— ner waren aus denfelben Bamilten, welche auch das Minifterium erobert hatten, und fie waren gerade in eben dem Verhältniß ge- wählt, in welchem die Goalition dag erſtürmte Miniftertum unter fich getheilt Hatte,

Foy verſteckte übrigens, wenn er auch, als er die Namen der Commiſſarien nannte, ganz offen zeigen mußte, daß man bie Herrſchaft des Miniftertums viel weiter ausbreiten wolle als bis— her geichehen war, die Abficht, deſſen Herrfchaft auf fehr Lange Zeit zu befeftigen, durch allerlei Fünftliche Kreuz= und Querbe— flimmungen. Es ward namlich, was bloße Täuſchung war, in dem Borfchlage nur fürs Erfte die Ernennung der Commiſſa— rien dem Parlament, d. h. dem Minifterium, unter deffen Ein— flug dieſes gewählt war, überlaſſen, in der Folge follten fie von den Actionärs gewählt werden. Den Actionärs war aber dadurch das: Schwert über den Nacken gehängt, daß die ganze Verfügung nur auf kurze Zeit gelten follte. Um nämlich dem Gefchrei, daß die Minifter einen Eingriff ins Eigenthum thäten, entgegen zu gehen, ward vorgeichlagen, daß die Parlamentsacte, wodurch der oftindifchen Geſellſchaft ihr Privilegium entzogen ward, nur, auf vier Jahre gültig fein folle; auf diefe Weiſe behielt man die Ac— tionärs fortdauernd in der Hand. Durch dieſe Beſtimmung fef- jelte man zugleich das folgende Parlament an die Goalitton, Da namlich erſt nach vier Jahren über die Fortdauer der ganzen Maßregel ein Beſchluß gefaßt werden follte, fo fiel die Wahl ei- nes neuen Parlaments in diefe Zeit und Alle, die ein Intereſſe bei dem einmal Cingerichteten hatten, waren gendthigt Alles auf- zubieten, das Parlament aufs Neue nach dem Willen der Mint- jter zufammenzufeßen, 81)

81) Man wird in Pitts Neben näher und beftimmter das entwisfelt fin ben, was wir nur Im Allgemeinen angegeben haben: Box wolle König, Par⸗

366 For und Pitt bis 1784,

Die Abficht der India Bil entging Niemanden. Nur König Georg, zu dem Niemand gelaffen wurde, der nicht durch das Her— fommen dazır berechtigt war, ahnete nichts, obgleich der König in diefer Zeit mit der Oppofttion in ununterbrochenem Verkehr war. Hätte er nur Pitt? Neden in einer Zeitung anfmerkfam gelefen, jo hätte er wiffen müffen, daß diefer und feine Freunde öffentlich im Parlament fagten, daß ex durch diefen Vorfchlag ein Untergebener feiner eigenen Minifter werden folle. Gr Hatte den Vorſchlag nur gebilligt, weil er nicht im Stande war, die ver— borgene Abficht deſſelben zu entdecken, in der kurzen, den oft an= geführten Briefen der Grenvilles beigefügten hiftorifchen Notiz wird Burke als Fabrifant derfelben genannt. 2) (1. 282.) Die Bill ward mit einer bei jo wichtigen Dingen unerhörten Eile im Un— terhaufe drei Mal Hinter einander verlefen und jedes Mal mit einer Mehrheit von hundert und vierzehn Stimmen angenommen, jo daß fie fchon am 9 December ans Oberhaus gebracht werden fonnte, Auch Hier nahmen ſich bei der erften Lefung am 9. Lord Temple und der Herzog von Richmond als Gegner der Coalition und Lord Thurlow als Freund des Königs der in Ihren Grund- lagen bedrohten Gonftitution vergebens an, das Geſetz erhielt bie Zuftimmung dev Bars, obgleich Lord Temple, som Herzog von Richmond unterftügt, den Mintftern fchändlichen Volks und Kö— nigsverrath vorwarf.33) Auch Lord Thurlow, der als Mitglied des

lament und Volk einer Partei aufopfern. Er wolle bie beftehende fhmäh- liche Coalition von Liberalen und Oligarchen zu einer folden Größe erhe- ben, daß Fein Werhfel, Leine veränderte Verbindung der —— ſie ſürien, oder auch nur ihr Anſehen ſchwächen könne.

82) The main: object of the East India bill, get es dort, was to, withdraw from ihe Company the entire administration of the, civil and, commercial affairs of India and to vest it in a board of commissionery, who should be nominated by Parliament and rendered perfectly inde- pendent of the erown. The scheme is said to have been divised by Mr. Burke. But even the paternity.of Mr. Burke could not mitigate the: odium that: was heaped upon it by the Pitt, and Grenville party: |

83) Er fagt wörtlih: That he was happy; te embrace, the. ‚first: op- portunity of entering his protest against so infamous a bill against a streich of power so truly alarming, and that. went near to. seize upon the most inestimahle part of our Constitution our, charlered righis.

For und Bill bis 1784, 367

geheimen Raths vorher dem: Könige den erften an ihn gelangten Wink über die eigentliche Abſicht der beiden Vorſchläge, der von feinen Miniftern beftellten Commiſſion gegeben hatte, fuchte in feiner heftigen Rede Alle, die irgend mit dem oftindifchen Handel etwas zu thun hatten, gegen die vom Unterhauſe befchloffene Maß— vegel aufzwwegen. *) Alles war vergeblich, die Bill ging nicht blos am 9, Dezember, fondern auch bei der zweiten Lefung am 45. mit fieben und achtzig gegen neun und fiebenzig Stimmen durch, und das Miniſterium hielt feine Sache für gewonnen, weil die dritte Lefung nad dem Ausgange dev beiden andern zu ur— theilen eine leere Form ſchien.

Zwiſchen dev erften und zweiten Leſung der Bill hatte indeffen am 11. Graf Temple dem Könige endlich über die wahre Abficht der Minifter bei der mit ſoviel Eile durch beide Häuſer getriebenen Bil die Augen genffnet und ihm im einer bis dahin nie vorgefomme- nen Sache auch zu einem ganz unerhörten Schritt gebracht. Der König nämlich, im Schrecken über die ihm bevorſtehende Beſchrän— fung. der freien Wahl feiner Minifter, bat den Grafen, den ge— fährlichen und nach, den Grundſätzen der englifchen Gonftitution unerlaubten Schritt zu thun, feine (des Königs) perſönlichen Freunde zu beſchwören, dem verhaßten Vorſchlage bei der dritten Abftimmung ihre Stimmen zu verfagen. Um Glauben zu finden hatte Lord Tempfe dazu einer Vollmacht nöthig. Der König ſchrieb deßhalb ein Bilfet (a card), welches er dem Grafen in geheimer Audienz zuftellte, worin ev durch feinen Namenszug be— fcheinigtes „Daß er dem Grafen Temple erlaube, den Treunden des Königs unter den Pairs zu fagen, daß Jeder von ihnen, der für die India-Bill feiner Mt- nifter ſtimme, nicht nur fein Freund nicht fein könne, Ä Eu auch als fein Feind von ihm betrachtet

84) Er ſagte: Die Bill wäre eine eniſetzliche Verletzung alles Privat⸗ eigenthums, ein Unternehmen, das jedem Engländer durch die Seele ginge und das ſich durch nichts als durch die dringendſte Nothwendigkeit entſchul⸗ digen ließe. Dieſe Nothwendigkeit müßte durch Beweiſe vor den Schranken des Hauſes dargethan werden, nicht durch Berichte eines Ausſchuſſes des Un⸗

—— denen er ſo viel Glauben füsuk, ala dem Leben des älter ruſoe.

368 For und Pitt bis 1784,

werde Wenn diefe Worte nicht ftarf genug fein jollten, jo möge Lord Temple folhe Worte gebrau- hen, welche ſtärker oder dem Zwede angemefjener wären‘ Diefe gewöhnliche Erzählung des Hergangs der Sache wird in dem oft angeführten Buche (the court and cabinets 'ete.) als ganz unwahrſcheinlich beftritten. Es wird dort bewiefen, daß Lord Temple dem Könige längſt die Augen geöffnet gehabt, daß er ihm aber geraten, mit dem Aeußerſten zu warten bis fich zeige, wie die Pairskammer die Sache behandeln werde, Daß die Sache fich fo verhalte und daß Lord Temple abfichtlich den unerhörten und unftreitig als rettende That (coup d'état) zu be⸗ trachtenden Schritt des Königs bis auf den letzten Augenblick ver- jchoben habe, beweist das zum Theil von Lord Temple eigen: händig gefchriebene Memorandum vom 1. Dezember,

Die Biſchöfe und alle die, welche mit dem Hofe in näheret Berbindung ftanden oder den König perfonlich und als Privat mann achteten, wollten ihn nicht offenbar und perſönlich beleidi— gen, wenn fie auch politifch nicht mit ihm auf einem Wege waren, fie mußten ſchicklicher Weife alfo bei der dritten Lefung am 17, auf den ausdrüdlichen Willen des Königs Nückficht nehmen. Auch des Königs Altefter Sohn, der Prinz von Wales, der am 15. eine der acht Stimmen der Mehrheit für die Miniſter abgegeben hatte, konnte doch, ohne allen Anftand zu vergeffen, dem ausdrück⸗ lichen Befehl: feines Vaters nicht widerſtreben, er blieb bei der dritten Abſtimmung weg. Dadurch ward Die Verwerfung der Bill bei der. dritten Leſung entfchieden 9) und der König gerieih mit feinen eignen Mintftern in offnen Krieg, ohne daß fich ihm eine Möglichkeit zeigte, ohne fie zu regieren. Oberhaus und Unter- haus wurden dadurch fürmlich entzweit, die Meinifter uud ihre Freunde mwütheten Ärger und gröber in ihren Reden im Parla= ment gegen den König und die Pairs, als je vorher Wilkes, oder der Berfaffer son Junius Briefen, oder der demofratifche Lord- Mayen oder auch der über Schieflichkeit und Wahl der Ausdrücke

35) Wer das Einzelne und die Namen derer, die am 17. ihre Stimmen gegen die Bill gaben oder geben ließen (by proxy), nachdem fie am 9. und 15. dafür geſtimmt Hatten, willen will, der Iefe Wraxall Vol. IL Pag. 45860,

For und Pitt bis 1784, 369

niemals ängſtlich beforgte Gemeinderath von London gethan hatteı, Ein Mitglied des Parlaments. überbot immer dag Andere durch Heftigfeit der anträge und beleidigende Reden.

Ein miniſterielles Parlamentsglied, Bader, den man zu den leichten Truppen diefes Kriegs zahlen muß, trug zuerft darauf an, daß das Parlament erklären jolle, daß Lord Temple duch Borzeigung des Königlichen Bilfets im Oberhaufe ein ſchweres Staatsverbrechen begangen habe, Dieſer Vorfchlag ward ange- nommen. 2%) Nach ihm trat Bor auf und hielt eine Rede, wie fie um 1792 jchwerlich einer der Girondiften in der franzöſiſchen Vegislativen Verſammlung gehalten hat, und doc, war For damals Minifter deffelben Königs, den er öffentlich in diefer Nede heftig ſchmähte. Er griff zugleich das Oberhaus furchtbar an, For klagt ſowohl die Pairs als den König einer Gonfpiration gegen die Mehrheit der Mitglieder des Unterhaufes an und geht fo weit, daß er von denjenigen Gliedern des Oberhaufes, welche gegen den vom Unterhaufe gebilligten Vorſchlag geftimmt hatten, jagt: Es wären des Tiberius Brätorianer, oder vielmehr Sanitfharen, die auf ihres Sultans Befehl feine Dill ftrangulirt Hätten, Dabei richtete er ſich beſonders gegen Pitt und klagte ihn an, daß. er auf eine unredliche Weiſe fich des Minifteriums zu bemächtigen juche, Lord Temple wirft er vor, daß er eine Art Refeript, wie es Tiberius von Capräa aus gegen Sejanus an den Senat gefchickt, gegen feine BIN ans Oberhaus gebracht habe. | Lord Temple und William Pitt waren allerdings ſchon da⸗

mals im Stillen Rathgeber des Königs, auch ließen ſie ſich weder durch die heftigen Beſchlüſſe, die das Unterhaus in dieſer erſten ſtürmiſchen Sitzung faßte, noch durch die drohenden Anſtalten für eine folgende erſchrecken, obgleich alle Beſchlüſſe ganz im Sinne und nach den Anträgen der Coalition mit einer Stimmenmehrheit von dreiundſiebenzig Stimmen gefaßt wurden. Pitt hatte ſchon in der Sitzung vom 17. Dezember die Miniſter aufgefordert, ihre

86) That to report the opinion or pretended opinion of the king upon any bill or other proceeding, depending in either house of par- liament, with a view to influence. the 108 of the member, was 4 higk erime and misdemeanor.

Schloſſer, Geſch. d. 18, 19, Jahrh. iv. Thl. 4, Aufl. 24

870 For und Pitt bis 1784.

Gntlaffung einzureichen; er war ſchon damals Willens, im Ver— trauen auf die durch Flugſchriften und Zeitungen zu erregende Beſorgniß für die Gonftitution, auf den Widermwillen gegen bie Coalition und auf das Gefchrei gegen den Eingriff ins Privat- eigenthum, den das Miniftertum gewagt habe, fich in den Kampf nit dem Parlamente muthig einzulaffen. Auch der König ermar- tete nach den heftigen Ausfällen auf ihn, welche fich die Minifter am 17. im Barlamente erlaubt hatten, daß fie am folgenden Sage. thre Entlafjung fordern würden, er wartete aber den ganzen achtzehnten hindurch vergebens darauf, Als fie nicht erfchtenen, fendete er endlich um Mitternacht einen Botfchafter an fie, der fie erfuchte, dem Könige die Stegel durch die Unterſtaatsſecretärs äuftellen zu laſſen, ihn felbft aber mit ihrer Gegenwart zu ver ſchonen. Um ein Uhr Nachts erhielt dann der König die Siegel, welche Lord Temple einftweilen in Verwahrung nahm; erſt am folgenden Morgen wurden die fümmtlichen Glieder des Cabinets verabſchiedet.

Die Briefe, durch welche die Glieder des Miniſteriums ent- laſſen wurden, hatte zwar Lord Temple unterzeichnet; Pitt aber war e8, der am 19. in feinem vier und zwanzigſten Jahr die Lei— tung der Gefchäfte übernahm, indem er die Stelle eines erften Lords der Schatfammer mit der eines Kanzlers des Schabgerichts vereinigte. Dabei duldete er auch nicht einmal Lord Temples Einfluß neben dem feinigen. Lord Temple nämlich ward zwar anfangs Staatsfecretär, fehted aber ſchon nach drei Tagen aus, weil Bitt weder fein Verfahren in Srland billigen, noch bie von ihm Empfohlnen anftellen, noch ihm ein Zeichen des königlichen Wohlwollens wegen der in der lebten Zeit geleifteten Dienfte ver— Schaffen wollte. Sn einem Briefe som 29. Dez. (I. 299) ſpricht er fich Heftig gegen Pitt aus, Es ward bei der Gelegenheit eine ſo große Veränderung in Nückficht der Perfonen, welche Stellen beffeideten, vorgenommen, mie felbft im Jahre 1782 nicht ges ſchehen war.

Nach den durchgreifenden Veränderungen bei den Stellen am Hofe und im Staate erwartete jedermann eine Auflöfung des Parlaments, weil das: Gpalitionsparlament fich jedem Vorſchlage des neuen Miniſterlums widerſette und zu fürchten mar, daß es

For und Pitt bis 1784. 371

auch die Bewilligung des fiehenden Heers und des Budget ver— mweigere, Pitt hielt daher für nöthig, den Streit fo lange fortzu= ſetzen, bis ex fo viele große Herrn und fo viele Stimmen im Publikum gewonnen hätte, daß man nicht wagen dürfe, das lange verichobene Budget ganz zu verweigern. Meber den Punkt der Auflöfung des Parlaments waren übrigens Bitt und Lord Temple völlig einig, nicht aber über die Zeit, wann dieſe vorgenommen wer— ben follte, und der Erfolg der Maßregel, worauf Pitt hartnäckig bes stand, hat bewieſen, daß er fchon damals den politifchen Takt be— faß, den er in der folgenden Zeit bei jeder Gelegenheit bewährt bat. Pitt wollte das Parlament durch drohende Auflöfung fort dauernd in Schrecken halten, bis es nicht mehr wage, bie Akte wegen des ftehenden Heers (Mutiny act) und dag Budget zu vers jagen; Lord Temple wollte e8 fogleich entlaffenz er ſchied als Pitt nicht zuftimmmte ſchon nach drei Tagen aus dem kaum erſt gebildeten Minifterium. Bon diefem Augenbli an boten bejonders Pitt und Dundas im Unterhaufe dem Sturme Trotz. Lord Thurlow als Kanz- Ver hatte im Oberhaufe einen weniger heftigen Kampf, weil die Pairs, welche die Mehrheit gegen die Indiabill gebildet Hatten, ihre eigne Sache verfechten mußten, Das Parlament hatte die Auflöfung gefürchtet, und noch ehe das Kabinet gebildet war , fuchte es am 22. Dezember Bertagung und Auflöſung durch eine ſehr heftige Adreffe zu Kindern, Pitt felbft war an dem Tage nicht anwe— jend, er ließ aber in feinem Namen feierlich erklären, daß er weder daran denke, das Parlament aufzulöſen, noch es zu werta= gen, Nichtödeftomeniger ward mit einer folchen Mehrheit der Stimmen, daß man eine Zählung unnöthig fand, die heftigfte Adreffe an den König gemacht, welche ſeit der Zeit der Revolu— tion an einen brittifchen Negenten je war gemacht worden, ?7)

87) Das Parlament wolle, heißt es, Sr. Majeftät unterthäntg vorftel- Ion, daß ein gefährliches Gerücht von einer bevorſtehenden Auflöfung des Parlaments verbreitet werde, Davon feten aber die größten Schwierigfeiten und die gefährlichften Folgen zu befürdten, denn die Erhaltung des öffent⸗ lichen Credits, die Erhebung ver Abgaben, die Abftellung der in ber Regie⸗ ung von Oſtindien eingertffenen Mißbräuche, der Zuftand der Finanzen der Compagnie erforberten die unmittelbare Hülfe des Parlamente, Es wäre das Verderblichſte zu befürchten, wenn befonders hie Inbifchen Angelegenheiten

24*

372 For und Pitt bis 1784

Diefe Adreffe ward dem Könige von einer ſehr zahlveichen Deputatton überreicht, der ganze Anhang der Goalition ſoll un— artig genug gewefen fein, bei der Gelegenheit in Maſſe vor dem Könige zu erſcheinen, der dadurch geärgert werben ſollte. Da gleich hernach die Fefttage eine Baufe der Parlamentsfigungen von ſelbſt herbeiführten, jo begnügte fich der leitende Minifter, eine austweichende, übrigens aber ganz freundliche Antwort geben zu laſſen, welche indeffen fo gefaßt war, daß die Furcht einer Auflöfung fortdaguern mußte Ms ſich das Parlament am 12, Sanuar 1784 wieder verfammelte, erließ e8 hinter einander fünf oder ſechs Erklärungen, eine heftiger als die andere, gegen Das Minifterium. Unter diefen Erklärungen des Parlaments war eine, worin es hieß: „Bei der gegenwärtigen Lage der Staaten der Majeſtät jet durchaus eine Regierung nöthig, welche das Ver— trauen des Parlaments und des Publikums Habe.” Bitt, obgleich er fortdauernd die Mehrheit im Unterhaufe gegen fich Hatte, blieb im Miniftertum, behielt feinen Gang bei, ließ das Volk auf jede Weiſe bearbeiten und bemächtigte fich vorerſt der Mehrheit im Dberhaufe, Bis fich, wie er feſt erwartete daß gefchehen werde, das ganze Publikum von feinen Gegnern abgemwendet habe. Der Herzog von Rutland und Graf Gower, hernach Marquis von Strafford, fchloffen fich mit ihrem Anhange an Pitt an, den an— dern Pairs zeigte er fich auf diefelbe Weiſe conſervativ, wie er ſich Hernach immer bewieſen hat, und alle die Herrn erfannten in ihm den Srhalter ihrer. Vorrechte und den. der alten für fie guten Zeit: Das Unterhaus verfuchte indeffen um jo mehr das Aeußerſte, als fich feit der Zeit, dag Rutland und Gower über- getreten waren, das Minifterium auf das Oberhaus ſtützte und auch die Stimmung des Publikums fich zu —* des Königs wendete.

einem neuen Parlamente überlaſſen werben ſollten, welches durch die langen und verwickelten Unterſuchungen, welche das gegenwärtige beſchäftigt Hätten, nicht vorbereitet wäre. Der Schluß enthielt den heftigen Theil: Das Haus erfuhe Se: Majeftät in Unterthäntgkett, ven Vorfehlägen deffelben, nicht aber den geheimen Rathſchlägen befonderer Berfonen Gehör zu geben, welche eigne Privatvortheile, unterſchleden von dem 7 des Königs und Bolts, haben Fonnien, | |

For und Pitt bis 1784. 373

Am 16, Januar ward Lord Karl Spencers Vorfchlag ange: nommen, daß das Haus erklären folle: „die Tortdauer des gegen— wärtigen Minifteriums, zu dem das Parlament Fein Vertrauen habe, jet verfaſſungswidrigz“ allein ſchon bei diefer Gelegenheit offenbarte fich, daß der Anhang der Gpalition fich vermindert und Pitt den Fäuflichen Mitgliedern beffern Lohn geboten habe. Die frühere Mehrheit der Oppofitton, welche vier und fünfzig betrug, war auf ein und zwanzig herabgefunfenz Doch war Pitt in folcher Berlegenheit, daß er mit dem Herzog von Portland in Unterhand- Yung trat, Als diefer aber Feed genug war, zu fordern, daß er ab- trete, brach er diefe Unterhandlung ab. Gleich hernach verfuchte er feiner Seits eine Indiabill durchs Parlament zu bringen, weil der Zuftand der oftindifchen Gefellfchaft eine neue Verordnung dringend nöthig machte. Diefe BIN ward nicht, wie man erwar- tet hatte, gleich bei der erſten Leſung verworfen, fondern erſt bei der zweiten, umd auch dann nur mit einer Mehrheit son acht Stimmen, Dies war am 23, Januar; feitdem wurden son allen Ecken und Enden die in folchen Fällen gewöhnlichen Adreſſen gegen Bor Indiabill eingereicht, das Parlament und der König mit Borftellungen zu Gunften des Minifteriums und gegen bie Mehrheit im Unterhaufe beftürmt, und die im Parlament firei- tenden Parteien ſahen fich gemöthigt, einige Zeit hindurch den Schein anzunehmen, als wenn fie eine Verſöhnung durch ein ge— mifchtes Miniftertum bewirken wollten. Die Verſuche, welche von Ende Januar bis Mitte Februar in diefer Beziehung gemacht

wurden (mit denen es fchwerlich Gruft war), fcheinen uns der

englifchen Sperialgefchichte anzugehören, Für unfern Zweck, eine Veberficht der enropätfchen allgemeinen Gefchichte zu geben, tft es genug, wenn wie den Weg bezeichnen, auf welchem unter Pitt die Artfiofratie über den König fiegte, ihn von dem Einfluß, den er jeit 1763 gefucht und zum Theil erhalten Hatte, ganz aus— ſchloß und zugleich auch das demokratiſche Streben, welches For einigermaßen begünftigt hatte, unterdrückte.

Das Oberhaus fühlte fich Schon im Anfange Februar mächtig genug durch die öffentliche Meinung, um fich in einen Streit mit dem Unterhaufe einzulaffen. Es ließ die Erklärung ausgehen: daß es der Verfaffung zumider ſei, wenn es eins son beiden Häu—

374 For und Pitt bis 1784,

fern fich eine im Geſetz nicht enthaltene (diseretionary) Macht anmafe; es fet ein ganz unbeftreitbares Vorrecht des Königs, ohne jemand zu befragen, die höchſten Beamten der Regierung zu beftellen, und das Oberhaus habe allen Grund, das feftefte Ver— trauen in den König zu jeben, wenn von Ausübung dieſes Vor— rechts die Rede fei. Dadurch ſah fich das Unterhaus genöthigt, den Schein der Verlegung der Gonftitution, worauf die Nation fehr eiferfüchtig ift, von fich abzuwenden und zu erklären, daß es erftfich fich nie angemaßt habe, ein Recht zu haben, die Geſetze zu. fufpendiven. Zweitens, daß es jedoch ganz mit den Gefeten und dem Gebrauche übereinftimmend fet, wenn fich das Unterhaus über die Anwendung eines Vorzugsrechts ausſpräche. Hernach ward der durch die Unterhandlungen der Goalition mit der minifte- vieffen Partei bis in die Mitte Februar verzögerte offne Krieg am 20. Februar wieder begonnen.

Un diefem Tage ward eine nene Adreffe an den König ges richtet, worin er dringend gebeten ward, jein Mintftertum zu ändern. 28) Ms auch auf diefe Adreſſe eine freundliche aber ab— lehnende Antwort erfolgte, ſchien zwar For im folgenden Monat geneigt, die Militärbill und das bis dahin von einer Woche zur andern verfchobene Budget zu verweigern, er erkannte aber ſchon im Anfange März, daß fein Anhang nicht geneigt fer, ihm bis zum Aeußerſten zu folgen. Am erſten März nämlich erließ das Parlament einen fürmlichen und beitimmten Befchluß (resolution), worin es dieſes Mal ganz ausdrücklich die Entlaffung der Minifter vom Könige forderte. °?) Dieſe letzte Reſolution des Parlaments fonnte Pitt um fo ruhiger vom Könige freundlich, wenn gleich ablehnend, beantworten Taffen, als er ſchon damals ganz ficher wußte, daß auch das bisherige, ihm durchaus feindliche Barlament nicht mehr wagen werde, durch eine Verfagung feiner Stimmen

88) Die Worte der Nefolutton find: That the continuance of the present ministers in trust of the highest importance and respeectability was contrary to the prineiples of ihe censtitution and injurious to the

interests of the king and the people. 89) The house humbly prays his Majesty, that he will be graciously

pleased, to lay the foundation of a strong .and stable government by the previous removal of his present ministers,

For und Bill bis 1784, 375

den ganzen Gang der Verwaltung zu hemmen. Dies ward in der That öffentlich kund, als Fox auch nach der letzten Antwort des Königs eine neue Vorſtellung und Beſchwerde im Parlament durchſetzte. Dieſe Vorſtellung war heftiger, ausführlicher, mehr mit anſcheinenden Gründen unterſtützt, als eine der vorigen, “0) da fie aber nur mit der Mehrheit einer einzigen Stimme angenommen ward, jo mußte For wohl erfennen, daß es Flug jet, den Kampf vorerft wenigſtens nicht lebhafter zu treiben, um nicht jelbft die Auflöſung des Parlaments herbei zu führen,

Dies war ein Signal für Alle, die nur irgend möglich fan— den, Aufnahme zu erhalten, ſich an das neue Miniftertum anzu— ichliegen, da an eine Verweigerung des Budget nicht mehr zu denfen war, Die Zeitungen hatten damals gegen For Indiabill und gegen den Eingriff ins Gigenthumsrecht, den man der Coa— Yitton vorwarf, den Unwillen der Nation rege gemacht und nie= mand zweifelte mehr, daß die Gunft des Volks fich von For abs gewendet hätte, Pitt übereilte fich indeſſen nicht, er legte, auch nachdem die bisher immer verfchobene Hauptfache wegen Ginnah- men und Ausgaben am 9, März entjchteden war, dem Parla⸗— ment noch andere Dinge vor und vertagte e8 erſt am 24 Am folgenden, 25., ward dann endlich das Parlament der Coalition entlaffen und neue Wahlen angeordnet, Bei der Gelegenheit er- laubte ſich freilich Pitts Partei bei der Wahl in Weſtminſter einige Schritte, welche dem Geſetze entgegen waren, weil fie For aus dem Wahlbezirk der größten Stadt drängen und ibn auf eine ſchottiſche Inſel beichränfen wollte. Die Wahlen waren indeffen doch im Allgemeinen der. Soalitton entgegen, und Pitt würde im neuen Parlament noch viel bedeutenderen Einfluß er— halten haben als er erhielt, wenn nicht der König und fein Sohn, der Thronerbe, in offnem Zwift gelebt hätten. Da fich Bor und

90) Die Yange Vorftellung an den Köntg, welche mehre Setten füllt, beginnt mit den Worten: Wir bezeigen unfere Betrübnig, daß, da Sr. Ma- jeftät waterliche Güte Se. Majeftät bewogen Hatte, fih von den Vortheilen zu überzeugen, weldes aus einer Adminiſtration, wie wir fie in unferer Res folution angegeben hatten, entfliehen könne, dennoch Se, Majeſtät ſich verleiten laſſen, die Meinungen einzelner PBerfonen dem wiederholten Nathe ber im Barlamente verfammelten Nepräfentanten feines Volls In Anfehung der Mit- tel einen fo erwünſchten Smwer zu erlangen, vorzuziehen u. ſ. w.

576 Kor und Pitt bis 1784,

Sheridan des Prinzen von Wales annahmen, fo mußte Pitt die perfünliche Angelegenheit des Königs auch zur Seinigen machen, das erfchwerte ihm hernach fein Geſchäft.

Die Gefchichte des neuen Miniftertums und des Barlamentg, von dem es unterftübt ward, gehört in diefe Periode nicht, ſon— dern in die Zeit der Revolution, einige wenige Bemerkungen mögen daher dieſen Abſchnitt beſchließen. Zuerſt ward Pitts zweite Indiabill, vermöge deren die Oberaufficht (Control) über die oftindifchen Angelegenheiten und über die oſtindiſche Gefell- Tchaft an das Miniftertum Fam, gleich anfangs im neuen Parla— mente angenommen. Dadurch ward die Protertion, wurden alle Bortheile und Stellen, über welche die oftindifche Compagnie ver- fügen konnte, nicht wie For gewollt hatte, an ein einzelnes Mi— niftertum,, ſondern an jedes nach der gewöhnlichen Ordnung be= ftellte, gebracht. Hernach begann unter Pitt, deffen jet der Kö— nig gar nicht entbehren Fonnte, wenn er nicht feinen Feinden, die fich feines Sohns, des Prinzen von Wales, bemächtigt hatten und für deffen Schulden und Aufwand im Parlament fehöne Re— dent Hielten, im die Hande fallen wollte, langſam und vorfichtig eine ariftofratifche, oder, wenn man will, confervative Bewegung, welche der demofrattfchen, der wir bisher feit 1763 gefolgt find, gerade entgegenfeßt war, -Diefe Bewegung rückwärts, oder mit andern Worten die Sorge, alle alten Mißbräuche, alle überfiüfft- gen Penſionen, alle Borzugsrechte gewiffer Familien bet einträg= lichen und ehrenvollen Stellen in Flotte und Heer, alle faulen Wahlflecken, alle Sineeuren und unnützen Pfründen, alle wefent- lichen Stücdfe der, wie es immer heißt, beglücdenden Verfaſſung als ehrwürdige Nefte des Mittelalters aufrecht zu erhalten, wuchs jeit 1784 in England in eben dem Maße, als auf dem feiten Lande am Ende des Jahrhunderts alles Alte zu verſchwinden drohte. Daher kam es, daß ſich hernach Bonaparte und Bitt feit 1800, wie die neue und bie alte Zeit, wie ein ftrenger militärifcher Monarch und das Haupt einer aus Kaufleuten, Hlerarchen und Dynaſten der Zeit des Feudalismus beftehenden Ariftofratie fo entgegenftanden, wie die Republikaner Frankreichs fich dem, was fie Pitt und Coburg nann— ten, entgegenftellten.

Heiſet Joſeph IL. bis 1787. 377

Zweites Kapitel.

Zeiten der unruhigen Bewegung im Innern der Staaten des feſten Landes bis auf die erſten Anzeichen der franzöſiſchen Revolution.

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Kaiſer Joſeph I. vom Tode feiner Mutter bis auf den Türkenkrieg.

Joſeph IT. wollte mit monarchiſcher Gewalt bewirken, was man in andern monarchifchen Staaten mit Gewalt zu hindern fuchtz er geriet daher aus einem ganz entgegengefeßten Grunde als andere Autofraten mit dem Volke und mit dem Zeitgeifte in Swift, Er wollte Verwaltung, Regierung und Unterricht, Er— ziehung und Ginvichtung des Neligionsverhältniffes, wie die Ge— jebgebung und die Rechtspflege feiner Staaten verändern; dad war freilich ohne Revolution und ohne das Volk zu Nathe zu ziehen unmöglich, und das Volk wollte Sofeph nicht befragen, Joſephs Gefchichte tft daher die lange Leidensgefchichte eines Fürften, der, vom beiten Willen befeelt, mit dem Beſtehenden fampft, ohne Gehülfen und Bundsgenoffen zu finden, oder aud) nur zu ſuchen. Er ſetzte feinen eignen gefunden Verſtand dem Herfommen und Schlendrian, der Bolitif, dem Pedantismus, der Rechtswiſſenſchaft, dem herrſchenden Aberglauben, der Verfaſſung ſogar und allen Urkunden entgegen; er mußte daher oft wider ſeinen Willen zum Tyrannen werden, um auch nur ſogar die Einrichtungen durchzuſetzen, deren ſich bis auf den heutigen Tag die Verſtändigen in Oeſterreich freuen. Ge allein iſt fett Maxi— miltan IL. im Stande gewefen, einmal wieder ein dämmerndes Licht zu verbreiten; dieſes Licht ift es, deflen fich die Freunde des Fortſchreitens in Defterreich jest doppelt freuen und wegen deſſen fie den Katfer noch jeht im Stillen ſegnen. Ste erlangten diefe Bortheile nicht immer ohne einige Ungerechtigkeit und Härte von

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feiner Seite; Radicalveformen find aber unvermeidlich mit tempo- rärer Ungerechtigkeit und Härte verbunden.

Gleich beim Antritt feiner Regierung am 28, Nov. 1780 fündigte er an, daß er, auf das Bewußtſein feiner guten Abficht als Herrſcher vertrauend, ohne Nücficht auf Worurtheile und DBorrechte der verſchiedenen Völker und Stämme feines Reichs, nur das Wohl der Gefammtheit im Auge haben werde. Das hieß mit andern Worten, er werde die Bevollmächtigten der Böhmen, Ungarn u. |. w. nicht befragen, fondern fie wie die germanifchen Stämme feiner Unterthanen nach feiner deutfchen Anficht behan— deln, Er wollte nicht einmal vom Palladium der Ungarn, von ihrer heiligen Krone und ihrer Verfaſſung etwas wiſſen, ließ fich auch nicht nach altem Brauch als Madſcharenkönig krönen; Daraus zogen fie für ihre Berfaffung eine höchſt ungünſtige Vorbedeutung, In Belgien ſchien er anfangs das Vorurtheil fcheuen zu wollen, weil ihn Tractate mit den Bürgen des Utrechter Friedens fefjel- ten. Er Tieß fich nämlich als Herzog oder als Graf der ver- Ichtedenen Provinzen Belgiens perfönlich Huldigen und auf bie beftehende Verfaſſung verpflichten. Schon damals (Juli 1781) jchrieb er jedoch, nachdem er im vorigen Monat (Juni) Holland und bejonders Amfterdam unter dem Namen eines Grafen von Falfenftein befucht hatte, den großen Unterfchted der Gewerbfam- feit und des Wohlftandes, den er zwifchen den fieben Provinzen und ben belgifchen beobachtete, ganz allein der in Belgien fortbe- ftehenden Verfaſſung des Mittelalters, der Hierarchie und der Feu— dalität zu. In Wien machte hernach Joſeph der jeit undenklicher Zeit hergebrachten und unter Franz IL völlig wieder hergeftellten Regierung der großen Familien und‘ der Anftellung einer großen Anzahl vornehmer Herrn, welche die Gefchäfte durch die unterge- ordneten Beamten, oder durch ihre Secretärs, oder auch gar nicht beforgten, plößlich ein Ende. Er richtete Feine neue Hierarchie der Ber- waltung ein, weil er mit Recht niemanden ganz traute, er wollte au— ßerdem Alles ſelbſt fehen, anhören und Leiten, was unmöglich war, Gr umgab fih in feinem Kabinet bloß mit Seeretären, °') hörte

91) Der Kaifer, Heißt e8 in dem Bettrage zur Charaftertftif und Regierungsgeſchichte der Katfer Joſeph IL, Leopold IL

Katfer Joſeph TI. bis 1787, 379

ſelbſt jedermaun an und war Tag umd Nacht thätig; aber er vergaß, daß Harun Alraſchids im Orient berühmtes Negierungs- ſyſtem im Occident durchaus unanmwendbar fei. Die Ankündigung des einen und untheilbaren Hfterreichifchen Neichs, die ex ausgehen ließ, erfehverfte daher auch die Ungarn, Böhmen, Belgier, Lom— barden nicht weniger, als die Ankündigung der einen und untheil- baren. helvetifchen Nepublif um 1798 die mehrften Gantons der Schweiz. Den Ungarn, oder doch einem ungarifchen- Magnaten, erklärt Sofeph in diefer Beziehung um 1785 rund heraus, feine Regierung fet eine deutfche, und er wolle daher nicht einmal die Sprache der Millionen feiner Unterthanen, welche eine andere als die deutfche vedeten, offiziell anerkennen. ??)

Joſeph theilte daher ohne Niückficht auf Nationalität feine ganze Monarchie in dreizehn Statthalterfchaften, deren jede wieder in Kreiſe zerfiel. Dadurch ward den Ungarn gewiſſermaßen die Auflöfung ihrer Jahrhunderte Yang hartnäckig vertheidigten Con— ftitutton verkündigt, denn diefe knüpfte fich an ihre Heilige Krone, an die Krönung, welche der Katfer vernachläffigt Hatte und an die Abtheilung ihres Landes, welches Joſeph in zehn Kreife theilte, Statt daß es sorher An fünfzig Gefpannfchaften getheilt war. Die Veränderungen, welche der Kaiſer vornahm und die unzähligen fich vielfach durchkreuzenden und nicht felten fich wi— derfprechenden, aber immer wohlgemeinten Verordnungen Joſephs aufzuzählen, gehört nicht zum Zwecke dieſes Werks, man muß zu

und Franz IL, ließ faft zu allen Stunden des Tags jedermann vor fi. Wollte man dem Monarchen etwas vortragen, fo durfte man nur in ten ſoge— nannten Gontroleurgang gehen, Wer zu feinem Kabinete führte. Joſeph fah faft alle Stunden heraus, und wenn Leute da waren, fo ſprach er mit ihnen oder führte fie in fein Kabinet. Er hatte feinen Thürfteher und Kammerheren, fondern öffnete felbft jedermann die Thür und machte fie auch wieder zu.

92) Das fagt Joſeph In einem Briefe in der oft angeführten Samm- lung. Er iſt vom Januar 1785 und war an_sınen ungariſchen Magnaten gerichtet. Dort heißt es: Die deutſche Sprache tft Untverfalfpradhe meines Reichs; warum follte ich die Geſetze und die öffentlichen Geſchäfte in einer einzigen Provinz nad der Nationalfprache derfelben trastiren Yaffen? Ich bin Katfer des deutſchen Reichs, demnach find die übrigen Staaten, die id beſitze, Provinzen, die mit dem ganzen Staat in Vereinigung einen Körper bilden, wovon ich das Haupt bin.

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diefem Zweck die zahlreichen Biographien des Kaiſers, beſonders die neuefte son Groß Hoffinger zu Rath ziehenz auch findet man bei Dohm Vieles, was dahin gehört. Cine genaue chronologiſche Geſchichte aller Veränderungen Joſephs würden wir nur in dem Salle diefen Werke einverleiben, wenn wir im Einzelnen ent- wiceln wollten, auf welche Wetfe der Kaifer perfünlich und allein mit feinen zum Theil durchaus verblendeten Zeitgenofen, mit Beamten und Ständen feiner Länder, mit Adel und Geiftlichkeit, ja ſogar mit.den Juden und ihren VBorurtheilen in beftändigem Streit war, Wir wollen aber nur im Allgemeinen andeuten, theild was er zu Gunſten feines im Geifte der franzpfifchen und italienifchen Defonsmiften entworfenen Plans einer Totalreform verjuchte, theild mo und wie er dabei auf unüberfteigliche Hin— derniſſe ftieß.

Am glüclichiten war ev in der Reformation des Zuftandes der geiftlichen Angelegenheiten feines Reichs; denn er begann gleich bei feinem Regierungsantritt und fehritt jo ſchnell vorwärts, daß man troß aller Bemühungen bis auf unfere Tage nicht im Stande gewejen tft, den alten Zuftand gänzlich wieder zurückzu— führen. Ban Swieten hatte freilich fchon unter Maria Thereſia, deren volles Bertrauen er befaß, bei der Aufficht über Hierarchie und Klöfter, und der Abt Felbinger in Rückficht des Unterrichts in den niedern Schulen und. der Lehrbücher. ftille Verbeſſerung verfucht, auch ward der Katfer gerade in diefem Fache von allen den Männern Defterreich® unterftüßt, welche an dem damaligen neuen Leben unferer Literatur Antheil nahmen, Defterreich befand fich aber ‚gleichwohl Damals gleich Baiern in geiftlicher Beziehung in dem Zuftande, worin es im ſiebenzehnten Jahrhundert geweſen war. Kaunitz dachte über Geiftlichkeit und Hierarchie nicht blos wie Zofeph, fondern fogar wie die Barifer Philofophen, von denen der Katfer nichts wiſſen wollte; er unterftüßte daher den Katjer in feinem Gifer gegen Papismus, Mönchthum und Hierarchie, obgleich er in andern Punkten mit dem eilfertigen Reformiven nicht zufrieden war. Die Männer, welche Joſeph in geiftlichen Dingen gebrauchte, verdienen fchon darum genannt zu werden, weil fie als gelehrte und vechtgläubige Katholifen nur dem Papis- mus, dem Mönchthum, dem Jeſuitismus und Fanatismus entges

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gentraten, die eigentliche und reine Fatholifche Lehre aber auf jede Weiſe zu erhalten und zu befeftigen fuchten. Die vorzüglichiten unter ihnen waren son Born, von Sonnenfels, von Greiner, der Prälat Rautenftrauch, der Baron Krefel, der Staatsfefretär Mo— linari, die Bröbfte de Terme und Wittola, der Unterfimmerer Valery, ein Riegger, ein Eybel, ein Schneller, deren befanntere Namen wir anführen, um zu beweifen, daß es dem Kaifer an gelehrten Nathgebern nicht fehlte, und daß die vorzüglichften Män- ner unter den Katholiken feine Schritte Hilligten.

Die Hauptveränderungen betrafen die Klöfter, Man nahm es dem Kaiſer ſehr übel, daß er die Güter der aufgehobenen Klöfter entweder ganz einzog, oder fie wenigſtens unter der Auf- ficht des Staats’ verwalten ließ. Dies war aber das befte Mittel, dem Mönchthum ein Ende zu machen, Sobald nämlich die arbeit ſcheue Jugend nicht mehr durch müßiges Wohlleben in die Klöfter gelockt wurde, verminderte fich die Zahl derer, die ſich als No— vizen anboten, täglich, jo daß manche Klöfter, welche fonft jährlich zwanzig Novizen zählten, deren kaum zwei hatten. Man tadelte freilich Joſeph nicht ganz mit Unrecht darüber, daß er bie Ein⸗ fünfte der Kloſtergüter zum Religionsfond zog, wodurch Vieles verloren ward; dieſer Tadel war aber ungerecht. Es fielen aller— dings beim Verkauf der geiſtlichen Güter und der Kirchengeräthe Unterſchleife vor und es wurden Summen veruntreut; aber mit des Kaiſers Wiſſen ward nie von der Religionskaſſe ein anderer Gebrauch gemacht, als der, für welchen die Kaſſe beſtimmt war.

Es waren bei der eingeführten Verwaltung die Ausgaben für das Heer für jedes Jahr gedeckt, die Militärkaſſe bedurfte alſo des Zuſchuſſes nicht. Die Gelder des Religionsfonds wurden auf Erbauung yon Kirchen und Austattung von Pfarreien und Anftellung neuer Pfarrer auf dem Lande, beſonders in gebirgigen Gegenden u. ſ. w. verwendet und ganz allein dazu angewieſen. Der Katfer fehlte aber darin, daß er viele geiftliche Güter unter ihrem Werthe verkaufen ließ und daß ihre Verwaltung mehr Geld foftete als Recht war.

Der Katfer behauptete zwar Immer, daß ex fich in Reli— gionsangelegenheiten nur in fo weit mifchen wolle, als es bie Außere Disciplin oder das mit dem Kirchlichen verbundene ganz

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allein vom Staat abhängige AWeltliche betreffe; dies fcheint auch ſogar Bapft Pius VL, als er ihn in Wien befuchte, geglaubt zu haben. Wir glauben jedoch auf eine unter dem Text ange führte Stelle eines im Oftober 1781 von ihm an den Kardinal Herzan, der fich feiner Sachen in Rom annahm, gefchriebenen Briefs geftüßt, behaupten zu dürfen, daß er recht gut mußte, ba die Geiftlichfeit des Mittelalters und ihre Concilien das Innere und Aeußere fo genau verbunden hätten, daß man das Eine nicht verbeffern könne, ohne auch das Andere anzurühren.%) Zuerſt ließ er daher eine allgemeine Toleranz verfündigen, hob den un— mittelbaren Zufammenhang der Mönche und Nonnenflöfter mit Nom auf und befchränfte die Gewalt, welche der Papft über den Glerus der nfterreichifchen Lande ausgeübt hatte. Die Maß— regeln wurden ihm von denjenigen Lehrern des Fatholifchen Kir chenrechts angegeben, welche in ihrem, Schulfyftem das, was man Spifeopalregierung der Kirche nennt, der abjolut monarchiichen papftlichen vorzogen. Was das letztere angeht, fo baute Joſeph dabei auf eine unter feiner Mutter Regierung 1767 erlaſſene Verordnung und auf den feiten Widerfiand, den auch Maria Therefia den Sefuiten und den Päpſten entgegenfegte, wenn fie son Anwendung der Bullen unigenitus und in coena domini redeten. Sofeph ging weiter; er gebot namlich, daß feine Bulle oder“ Breve des Bapftes bekannt gemacht werden dürfe, ohne daß fie vorher die Billigung der höhern Landesftellen erlangt habe, Es ward ferner verboten, Enthebung von den Firchlichen Verord— nungen und befondere geiftliche Befreiungen künftig unmittelbar som Bapfte ftatt von den Biſchöfen und Erzbiſchöfen des Landes zu fuchen, Weil die Mönche und ihre Klöfter bisher als eine

93) Es Heißt am Schluffe diefes Briefes (Briefe, 1822, bet Brodhaus, Seite 52): Ich werde dafür Sorge tragen, daß das Gebäude, weldies id für die Zukunft errichtet, dauerhaft bleibe, Die General -Seminarten find Pflanzfhulen für meine Priefter; die Seelforger, welche darin gebildet wer: den, bringen einen geläuterten Geiſt mit in die Welt und theilen ihn durch einen weiſen Unterricht dem Volke mit. So werden fie nad einem Zeitraum von Jahren Chriften fein; fo werben, wenn ich meinen Plan vollbracht, die Bölfer meines Reichs genauer die Pflichten Fennen, bie fie Gott, dem Bater- Yand und- ihren Nebenmenfihen ſchuldig ſind fo werden auch noch bie Enkel fegnen, daß wir fie yon dem übermächtigen Nom befreit u. ſ. w.

Katfer Sofeph IL bis 1787. 883

Armee Noms und als Pflanzſchulen dev BPriefter und der im römischen Sinn unterrichtenden Lehrer dienten, jo ward unterfagt, die Priefter aus den Klöftern zu nehmen; alle follten in den auf £atferlichen Befehl eingerichteten Generalfeminarten gebildet werden. Sur Sahre 1787 ward endlich fogar verboten, irgend einen Titel, eine Würde, eine Gunftbezeugung vom Papſte anzunehmen, ohne vorher bei der Regierung darüber anzufragen. Allen Geiftlichen wurde bei Verluſt ihrer -Benefizten verboten, Gelder fir Meffen zu bezahlen, welche außerhalb Landes gelefen werden follten, das hieß mit andern Worten für folche, die in römiſchen Kirchen oder was man an den Schwellen dev Apoftel nennt, gelefen würden.

Gleich die erften Verordnungen, befonders die wegen der Toleranz, wegen der Aufhebung des Zufammenhangs der geift- lichen Orden in den Erbſtaaten mit einem Ordensgeneral in Rom und ihre Unterwerfung unter die Biſchöfe und Erzbiſchöfe ihter Provinzen weten die Beſorgniß der Exjeſuiten und ihres gut— müthigen, wohlmeinenden, aber höchſt beſchränkten Werkzeugs, des ſächſiſchen, oder, was einerlei iſt, polniſchen Prinzen. Dieſer Erz— biſchof von Trier und Biſchof von Augsburg, Clemens Wenzel von Trier, hätte immerhin den Kaiſer gutmüthig warnen mögen, Jo— ſeph hätte ihm gewiß nicht ſpöttiſch oder vielmehr höhnend geant— wortet, wenn er nicht gewußt hätte, daß Clemens von den Je— ſuiten getrieben werde und daß ein fanatiſcher Jeſuit, der Abbe Beck, für ihn die Feder geführt habe. Dieſer ſchrieb den war— nenden Brief des Kurfürften an den Kaiſer, Clemens ſetzte nur feinen Namen darunter.

In diefem Ermahnungsbriefe an den Katfer, den der Erz biſchof von dem Jeſuiten auffegen und abgehen ließ Anfang Juni 1781) beſchwert er fich über fünf Punkte, ganz beſonders aber darüber, daß eine allgemeine Toleranz verfündigt ſei und daß insfünftige die Biſchöfe nur folche Bücher follten verbieten dürfen, welche auch vom Wiener Cenſurcollegium verboten ſeien. Der jejuitifche Brief ſpornte einen jo lebhaften und auf fich und feine Einficht unbedingt vertrauenden Fürften wie Sofeph, ftatt ihn zurückzuhalten; doch feheint uns aus feiner Antwort heroorzu= gehen, daß er auch dieſe religiöſe Angelegenheit zu ſehr als eine perſönliche beirachtete, feiner Fntferlichen Würde durch die Art feis

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ner Ironie etwas vergab und nicht genug Nückjicht darauf nahm, daß er es mit Dienern einer pofitiven Lehre und Kirche, nicht mit Philofophen zu thun Habe Er antwortet nämlich zuerſt dem guten, aber im Geifte des Mittelalters warnenden Grabifchofe auf die fünf Punkte einiges, was ihm in dem Augenblick gerade ein- fällt, fchließt aber feinen Brief mit folgenden Worten: „Kurz und gut, ich hoffe, wir gehen beide den Fürzeften Weg felig zu werden, wenn wir die Pflichten des Berufs erfüllen, worin ung die Borfehung gefest hat und wenn wir dem Brode, das wir efjen, Ehre machen. Sie effen das Brod der Kirche und prote- fliren gegen alle Neuerungen, ich das Brod des Staates umd pertheidige und erneuere feine urfprünglichen Rechte.“

Die unverftändige Oppofition ermunterte den Kaiſer, ſtatt ihn abzufchreeken, denn feit der Zeit, daß der Erzbifchof ihm ges ſchrieben Hatte, begannen exft die Hauptveränderungen. Der Erz biſchof von Trier oder vielmehr der Sefuit, der in feinem Namen Briefe ſchrieb, goß aber aufs neue Del ins Feuer, Der gute Kurfürft fand fich nämlich durch. des Katjers verlegende Antwort und bejonders durch den Teichten Ton, in dem fie abgefaßt war, ſehr gefranft und fandte am Ende November einen zweiten Brief, Diefer Brief tft ganz im geiftlichen Tone abgefaßt, aber verbrieß- lich und durch einen Wink von der Holle ſehr beleidigend. Der Erzbiſchof fchreibt: „Er habe, als er des deutfchen Kaifers Ant- wort erhalten, fich aufrichtig gefreut, daß er nach dem Beifptele des Apoſtels würdig befunden jet, um de8 Namens Jeſu Chriſti willen Verfolgung zu leiden, und fchließt: Ja ich fage es mit aller Freimüthigfett des Amtes, weldes mir an- vertraut ift: So groß auch jebt die Feftigfeit ſein mag, womit fie gegenwärtig entjehloffen ſcheinen, fo wird ein Tag fommen, wo fie darüber untröſtlich fein werden.” Daß diefe Drohung mit der Höfe den Katfer heftiger gegen alle Pfaffen und gegen das Pfaffenthum 'erbittern würde, hatte der Kurfürſt oorausfehen müſſen; man wird aber aus dem in den Noten mitgetheilten Stick der Antwort des Katfers9)

94) Ih habe den Brief fo eben empfangen, welchen Ew. Hoheit Beliebt hat, an mih zu ſchreiben. Sch fehe, daß wir auf einerlei Wege find,

Katfer Joſeph IT bis 1787. 385

jehen, daß diefer fich auch im diefer Angelegenheit von feinem lebhaften Gefühl über die Schranfen der Schieflichfeit hinaus— reißen ließ.

Um diefe Zeit Hatte Joſeph ſchon feine Hofſtiftungscommiſ⸗ ſion errichtet, deren Präſident der Baron von Kreſel war, und hatte über die gleich beim Antritt ſeiner Regierung nur im All— gemeinen verkündigte Toleranz im Oktober 1781 ein beſonderes Edikt erlaſſen, worin er noch weit mehr gewährte, als er vorher verſprochen hatte; auch hatte er in Beziehung auf das Kloſter— weſen in feinen Staaten die erſten Schritfe gethan. In dem Verfahren gegen die Klöſter bewies Joſeph, daß es ihm um mo— raliſche und politiſche Verbeſſerung des Zuſtands ſeines Reichs, nicht aber darum zu thun ſei, die Militär- oder auch die Staats— faffe, oder gar des Katfers Schatulle mit dem Gelde der Stif⸗ tungen frommer Seelen für fromme Zwecke zu bereichern, Man kann befanntlich diefes weder son Heinrich VIIL in England, noch von vielen deutfchen Fürften der Neformationszeit, am mes nigften aber von den Nittern in Preußen, Liefland und Curland und ihren Großmeiftern fagen, welche die Güter und die Com— menden zu Eigenthum und fich zu erblichen Herzögen machten. Sofeph hob nämlich nicht zunächſt die reichen Stiftungen und die jehr begüterten Klöfter auf, jondern gerade die ganz unbegüterten, deren Bewohner eine Peſt des Landes find, weil fie, gleich den Schacherjuden, fich überall eindrängen, das Volk im Aberglauben erhalten, das Scherflein der Wittwen umd Armen an fich ziehen, und die Armeen der Bettelorden aug dem Wolfe vefrutiven, um auf diefe Weile das ftehende Heer bettelnder Faullenzer im Lande zu unterhalten. Die Bettelorden, welche Joſeph zunächſt anſehn— lich vermindern wollte, Hatten in Defterreich, wie in Baiern und in der Pfalz in Verbindung mit den Sefuiten, dem ſchlecht unter=

Ew, Hohelt nehmen die Form für die Sache, da ich mich in der Neligton genau an die Sache Halte und nur den Mißbräuchen wehre, die fih in dies - felbe eingefchltchen und ihre Reinigkeit entftellt Haben. Ihre Briefe find ganz tragiſch und meine ganz komiſch, und obſchon Thalta und Melpomene als Schweftern auf dem Parnaffe nicht Immer zufammengehen, fo erlauben Sie mir doch, den Zeitpunkt zu erwarten, wo unfere Schweftern, Abkömmlinge som Helikon, ſich näher verbinden. In diefer Erwartung u. f. w. Schloffer, Geſch. d. 18, m 19 Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 2

386 Katfer Joſeph IL bis 1787.

richteten Volfe durch Betgänge, Brüderfchaften, Wallfahrten, Feſte, Fahnen und Almofen das Faullenzen und den mechaniſchen, 'ge- danfenlofen Ceremoniendienſt fo werth und thener gemacht, daß jeder befleve Unterricht fruchtlos war. Wer wiffen will, wie es 3: B. bei dem Kapuzinern in Wien zu Joſephs Zeiten ausfah, dem vathen wir, Die erſten zweihundert Seiten der Selbftbiographte eines ſpäter als Schriftfteller jehr befannt gewordenen Gelehrten zu Lefen, der damals in einem Wiener Klofter als Kapuziner lebte. 9)

Joſeph Hatte, wie wir Schon angeführt hatten, zunächſt alle Verbindung und jeden Zufammenhang der Klöfter feines Landes mit den Ordensgeneralen in Nom und hernad; mit fremden Klö— ftern und Oxdensmitglieden aufgehoben und feine Klöfter der Aufficht der Landesbifchöfe unterworfen, hernach fchritt er zur Aufhebung folcher, die er für überflüffig oder ſchädlich hielt Schon im Jahre 1751 verordnete er, daß alle ausländifchen Mönche aus den Klöftern der öſterreichiſchen Erblande entfernt werden follten; dann ward dem Nefrutirungsiyftem der Klöfter eine Schranfe geſetzt. Innerhalb der nächſten zwölf Jahre follten

FE

95) Feßler, bekanntlich hernach ein deutſcher Vielſchreiber, Proteſtant und Generalſuperintendent in Rußland, war damals Kapuziner in Wien; er gibt uns in ſeinem Leben (Dr. Feßlers Rückblicke auf ſeine ſiebzigjährige Pilgerſchaft. Ein Nachlaß an feine Freunde und feine Feinde. Breslau 1824. 8.) gleich vorn ein traurtges Bild vom Treiben der Kiberalen und der illiberalen Mönde. Zu den Erften gehörte damals Feßler; er wollte ſich alſo an den Kaifer drängen, und. ſchrieb daher ein Büchlein unter dem Titel: Was tft Her Kater. Dafür ward er im Klofter gepeinigt und wandte fi durch viele Canäle endlich an den Baron Krefel und durch diefen an den Kaifer. Darauf erfolgte das Handbillet (Rückblicke, S. 153): Mein lieber Baron Krefel, Hier iſt das Buch zurück; ich Habe es durchgelaufen; der Inhalt ift der rechte Schlüffel zum Verfahren des. Karbinals Migazzi und der Kapuziner gegen die Patres Innorentius und Seraphinus. Ich nehme beide Geiſt— liche in meinen Schuß; fie follen in Wien bleiben und vom Kloſter aus Die Untverfität beſuchen, welches: eiligft. dem Kardinal und den Kapuzinern befannt zu machen und ihnen nachdrücklicher einzuſchärfen ift, daß fie ſich aller. weitern Chicane gegen diefe zwei Gefftlichen enthalten. Mit diefem muß man vergleiihen, zuerii, was ber Abbe de Bellegarde aus dem Munde des Probſt Batifte de Terme in den Nouvelles ecclesiastiques d’Utrecht: 1783 berichtet, dann die Beiträge zur Gefchlchte der. Kapuziner in: Defterreih, Köfn. 8., und Oeſterreichiſche Biedermanns⸗Chronik. Wien 1784, 8, |

Katfer Joſeph U. bis 1787. 387

von den Kloftern Feine Noyizen angenommen werden dürfen, Schon im Januar 1782 ward mit der Aufhebung der Klöſter der Anfang gemacht und zunächſt die Kamaldulenfer und Kar— thäufer, Karmeliterinnen, Rapuzinerinnen und Franziskanerinnen aufgehoben: Unmittelbar hernach wurde. ein genaues Verzeichniß der beweglichen und imbeweglichen Güter der Klöfter, der Welt: geiftlichkett, der Stiftungen und Brüderfchaften aufgenommen. Wie wohlthätig diefe Mafvegel für die öſterreichiſchen Staaten war, von welcher Plage und von einer wie großen Anzahl von Blut: faugern die niedern Klaſſen des Volks befreit wurden, wird man auf den erften Blick erkennen, wenn man das Verzeichniß dev nur allein in den Jahren 1782 «und 1783 aufgehobenen Orden ans fieht. Diefe Hatten wenig oder gar Fein Eigenthum, fie * alſo ganz dem Volke zur Laft. 9)

‚a age Allgemeinen rechnet man, daß der Kaiſer von 1782 bis am feinen Tod, alfo in acht Jahren, die Zahl der Mönche und Nonnen in ine Staaten um dreißig bis ſechsunddreißig tauſend Perfonen, die dem: Lande ebenſoviel koſteten als ein ſtehendes Heer von bderfelben Zahl, vermindert habe, und dennoch ließ er noch 1324 Klöfter übrig. Die Bevölkerung dieſer übrigen Klöſter, die gerade in unferm Jahrhundert wieder mit einigen neuen wer: mehrt find, rechnete man auf ſiebenundzwanzigtauſend Seelen. In Belgien allein fand der Kaiſer bei feinen Maßregeln gegen die Anftalten des Mittelalters, die fich diberlebt Hatten, einen: unüber— windlichen Widerftandz im den andern Provinzen war der Ein: fluß des Geiftes feiner nach Licht und Freiheit ſtrebenden Zeitges nofjen, obgleich deren Zahl nur Hein war, doch ſo mächtig, daß der Adel, die Pfaffen, der abergläubige, träge, an kirchlichen Feſten und Wallfahrten hängende Pöbel vergeblich gegen ihn tobtem -

| Uebrigens waren: damals die Verftändigen noch durch Feine Romantik, feine krauſe Myſtik, Feinen Kunſtſchwindel oder Deutſch⸗ thümelei und Bewunderung alter) deutfcher Poeſie berauſcht. Der Bet Grzbiſchof Kardinal Migazzi, fand daher nur unter

90 Im vierten Bande von Groß⸗Hoffingers Lebens» und Regierungs⸗ geſchichte Joſephs des Zweiten, welcher das Archiv enthält, findet mar ©. 233 dns Verzeichniß aller In den Jahren 1782 und 1788 inchusive in dei fämmts

lichen tt, Staaten erloſchenen Manns⸗ and Frauenorden *

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Schriftſtellern, die Niemand als feine Pfaffen und ihre Beicht— finder Iefen mochte, Verbündete, und auch fogar die mit allem theatralifchen Pomp eines vortrefflichen und dabei ſehr ſchönen Firchlichen Figuranten unternommene Reife des Bapftes nad) Wien war vergeblich. Ueber diefe von den jchlauen Römern jehr miß— bilfigte Reife Pius VI. ließ fich der Schweizer Müller in moder- ner Weiſe jophiftifch vernehmen, und es ſchien, als wolle er fei- nem Buche dadurch größere Bedeutung geben, daß er als Prote— ftant mehr Reſpekt für Päpſte zu haben fchten als der Eatholifche Kaiſer. Nichtsdeftoweniger verichwand der augenblicliche große Enthuſiasmus, den die Reiſe des Papftes im füdlichen Deutfch- land erregte, gar bald gleich Nebel und Dunft,

Faſt um diefelbe Zeit, ald Clemens Wenzel dem Kater jo ernftlich son feinem Streben, Duldung zu üben und das Mönch— thum zu verbeffern, abmahnte, überreichte ihm Migazzi eine dringende Vorftellung im Geifte Clemens Wenzels. Diefe machte Sofeph ohne Bedenken üffentlich befanntz einer der gelehrten, dem Weſen der Fatholifchen Religion fehr günftigen, dabei aufgeflär- ten Männer aber, die ihn umgaben, begleitete fie mit ſehr beißen- den Noten, Der Erzbifchof z0g gleichwohl noch einmal gegen die Duldung und für die Bettelmönche polemifivend ins Feld, Er richtete eine längere, mit Stellen aus den Kirchenvätern reichlich geipiefte Schrift an den Kaifer, worin viel von heiligen und frommen Orden die Rede iftz er fand aber fo wenig Gehör, ala der Erzbifchof von Gran und Primas von Ungarn, ein Graf Bathiany, der fich ebenfalls dem Kaiſer aufs heftigfte widerſetzte. Nebereilung und zu großes Selbfivertrauen des Kaifers waren übrigens Urfache, daß die neuen Schulen und Bildungsanftalten, die er einvichtete, dem Zwecke des wohlmeinenden Fürften jelten entfprachen. Ste boten daher den Grjefutten gewünſchte Gelegen- heit, alles Neue zu tadeln. Es follte Alles nach des Katfers eigenem Sinn fein, er durfte alfo feine fefte und erfahrne Män- ner zur Ausführung gebrauchen, denn dieſe Fannten das Miß— trauen des Volks gegen alle gewaltiamen Verbeſſerungen und würden fich nicht haben gebrauchen laſſen.

Ein Theil des Widerſtands gegen die wohlgemeinten Neue: zungen des Katferd ging beionders von Rom aus, wo man be=

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kanntlich auf den Grundſatz befteht, daß durchaus Alles in Europa bleiben müffe, wie e8 zur Zeit Gregors des Siebenten und des dritten und vierten Innocenz war, Der Kaifer mußte den römi— jchen Einfluß abzuwehren juchen. Gr Tieß vermöge feiner Be— hörden, deren Aufficht er die päpftlichen Schreiben, Befehle und Mittheilungen unterworfen hatte, den Gottesdienft einfacher ein— richten ; unnütze Geremonien, Wallfahrten, Prozeffionen, Andachten abſchaffen, deutfche Kirchenlieder einführen. Gr wollte die Fatho- Yifche Religion dadurch wieder zur Angelegenheit des Herzens und Wandels machen, daß er die Mißbräuche der Werkheiligkeit ab— jchaffte. Zu demfelben Zweck verordnete er die Ueberſetzung der Bibel in die Landesiprachen und befahl im September 1781, daß die Dispenfation vom Faftengebot und ſelbſt in Eheſachen künftig nicht mehr in Rom oder beim päpftlichen Nuntius, fondern ganz allein won den Bifchufen und Erzbiſchöfen der Erblande follten gefucht werden dürfen. Der Cardinal Migazzi, dem er das Bis- thum Walzen entzogen hatte, ward ein Vorkämpfer der römiſchen Ufurpationen, der Kaiſer erinnerte ihm durch Einziehung feiner Einfünfte an feine Unterthanenpflichten. Er Tieß auch allen Geiftlichen, die in Nom gebildet wären und dort das papftliche Kirchenrecht erlernt hätten, die Anftellung in den Faiferlichen Staaten verfagen, Die in den Faiferlichen Generalfeminarten ge— bildeten Geiftlichen wurden nad Nieggers Grundfäsen des Kir— chenrechts, nicht nach jefuitifchen gebildet.

Papſt Pins VI. erkannte jehr gut, daß das Syſtem papft- licher Regierung von der Zeit und ihrem Geifte gewaltig erſchüt— tert jet, daß e8 nicht blos vom Kaiſer, fondern auch von den deutfchen Erzbiſchöfen und beſonders in Frankreich bedroht werde, er fuchte daher als kluger Steuermann zu laviren. Zunächſt erließ er an den Kater ein Breve wegen des Verfahrens mit den Mönchsorden, dann übergab der Nuntius Garampi dem Staats— kanzler eine Note, welche diefer nach feinen, den Getftlichen über— haupt nicht günftigen Grundſätzen und in der ihm eigenen ſtolzen Manier beantwortete. In diefer Antwort beftimmte er die Schran- fen ganz genau, melche Sofeph Künftig als wmeltlicher Monarch der päpftlichen und der Firchlichen Negterung überhaupt jegen wolle, ohne daß er fich dabei auf irgend einen dogmatiſchen oder

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ganz eigentlich geiſtlichen Punkt einließ. Fürſt Kaunitz unterläßt dabei nicht, dem Nuntius ziemlich ernſt zu verweiſen, daß er ſich überhaupt in eine Sache der kaiſerlichen Staatsverwaltung ge— miſcht und ſich dabei eines ganz. unpaſſenden Tons bedient habe. Der Nuntius erwiderte darauf, Anderte aber den Ton und drückte fich ſehr beſcheiden aus, nichtsdeftoweniger ſchreibt ihm Kaunitz am 19. Dezember 1781, er wolle nichts mehr über dieſe Sache ſchreiben oder geſchrieben Tefen. 9%)

Pius VI. glaubte darauf, daß vielleicht das Ungewöhnliche einer. Reife des Papſts zum Kaiſer und‘ befonders feine Perſön— lichkeit bewirken könne, was fich durch Breven und durch offizielle Noten nicht erlangen ließ; er Fam daher auf den Einfall, ſelbſt nach Wien zu reifen. Der Bapft war ein fchöner und auf dieſe Schönheit ſtolzer Mann, er verſtand mit einer in Wahrheit Fünft- Verifchen Meiſterſchaft die papftlichen Gewänder zu tragen, mit großer Würde und Haltung feinen Theil der kirchlichen Ceremo— nien zu verrichten und durch feine äußere Gricheinung Ehrfurcht einzuflößen; er machte daher, wie man fagt, großen. Effekt, wenn ev auftrat: Darauf rechnend, Findigte Pins VI jchon im Des zember 1781 gegen den Rath und Willen der Kardinäle dem Kaijer feinen Beſuch an, reifte im Februar 1782 von Rom ab und Fam im April dahin zurück. Die Kardinäle Hatten ſehr gut sorausgefehen, daß. Joſephs Grundfäge nicht durch die Erſchei— nung des Papftes würden erfchüttert werden, daß das päpftliche Anſehen alfo durch die Reife verlieren müffe. Die ganze päpft- liche Reife und die perfonlichen Bemühungen des Bapftes Hatten einerfet Schieffal mit: Müllers Sophismen im feinen Reifen ber Bäpite, d. h. der Eindruck, den‘ die Reiſe und das Buch machten, mar vorübergehend. Die Reiſe des Papſtes erregte in- deſſen doch allgemeines Aufſehen. Zaufende ſtrömten überall her- bei, wo fich der Papſt fehen ließ, die Strafen und Bläte, wo er in. feiner, impofanten Manter den Segen austheilte, waren gedrängt

07 Im; der kurzen Gegenantwort des Staatslanzlers heißt ed: Da auch her Wille, Sr, Majeftät tft, daß man fid, Fünftighin in feine Unterfuhung - der. Materien, worüber Sie Ihre Meinung in dem angeführten Billet vom 19. d. M. erffärt haben, weiter einlaffe, fo müffe der Hof- und Staats kanz⸗ Ver ſich darauf einſchränken, den Herrn Nuntius davon zu ——

Katfer Joſeph IE bis 1787. 391 |

soll knieender Gläubigen, felbft Augsburger Broteftanten wurden entzückt, was hernach dent Bibliothekar im Augsburg von feinen deutfchen Glaubensgenoſſen fehr übel gedeutet ward. Die Eitelkeit bes Bapfted ward befriedigt, auch gab der Kaifer dem Papſte viel glatte Worte; die Römer nahmen es aber fehr übel, daß fich ein Italiener von einem Deutfchen damit täuſchen Tief,

Clemens Wenzel von Trier, die: Stabt Augsburg, Karl Theodor von Pfalzbaiern und feine Münchener, wie die Baiern überhaupt, gleich den Venetinnern, die der Bapft ebenfalls befuchte, ehrten ihn wie einen Gott; aber gerade die beiden Hauptperſo— nen, mit denen er zu thun hatte und um derentwillen er gefom= men war, ber Kaifer und fein profatfch diplomatifcher, und wenn es die Umſtände fügten, auch vecht umgezogener Staatskanzler, blieben ganz ungerührt. Sp wenig wir allen Anekdoten trauen, auch wenn ein Plutarch fich ihrer bedient, ſo könnten doch, dieje— nigen, welche man von dem Zufammentreffen des Staatskanzlers mit dem ihm befuchenden Bapft erzählt, nach der infolenten Weiſe, wie er fich gegen Marta Thereſia fogar und gegen ihren Hof und Familie, fowie gegen feine eignen Gäſte ohne Unterſchied des Standes beiragen durfte, wohl wahr fein, Hätte er wirklich dem Papſt jo unartig empfangen und begrüßt, wie man erzählt, daß er that, als ihn Pius befuchte, jo müßte man fich allerdings wundern, daß ein fo umterrichteter amd feiner Staatsmann fo gröblich vergeſſen konnte, daß er: ſelbſt, der Form nach wenigſtens, Katholik ſei, daß er den vornehmſten Geiſtlichen der Welt und einen angeſehenen weltlichen Fürſten in Pius Perſon vor ſich habe. Der Kaiſer war höflich, wie es ſich gebührte, hörte aber des: Papſts Vorſtellungen gegen: die von ihm eingeführte allge— meine Duldung eben’ fo wenig: an, als er Clemens MWenzels Vor⸗ ſtellungen angehört hatte,

Der Bapft ließ dem Conſiſtorium in Rom Bericht: ber dert Erfolg feiner Reife geben; allein die in aller weltlichen Arglift und Schlauheit ergrauten geiſtlichen Herren, die dies! Gonfiffortum bilden, waren über den Bericht ihres Hauptes wenig erbaut. Papit und Kaifer fuchten. fih auch hernach fortdauernd durch freundliche Worte. bei guter. Laune zu, erhalten, fie. blieben fort- - dausınd in: Correſpondenz aber die Abfehaffung dev Bettelorden

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in. den vfterreichtichen Staaten hatte ihren ununterbrochenen Fort gang und Joſeph gab das Recht der Obervormundfchaft über die Kirche feiner Staaten und die Verwaltung der Güter derfelben nicht auf. Maria Thereſia hatte die Ertheilung der lombardi— ſchen Pfründen und die Beſetzung der Bisthümer dem römiſchen Stuhle gänzlich überlaffen, Joſeph hatte dem Papſte Pius dieſes Recht wenigſtens auf deffen Lebenszeit zugefichert, gleichwohl be— jeßte er die Bisthümer des Matländifchen und Mantuantfchen, ohne ihn zu fragen. Er verjagte fogar, als das Erzbisthum Mailand erledigt ward, allen denen, welche der: Bapft vorfchlug, feine Beftätigung; dies veranlaßte endlich einen förmlichen Zwiſt.

Als nämlich Sofeph endlich einen Visconti zum Erzbiſchof ernannt hatte (im September 1783), verweigerte erſt der Papſt ihm die Anerkennung, dann gab Kaunit zu verftehen, daß der. Kaifer, im Fall der Papſt feinen Erzbifchof nicht. einfegen wollte, die alte lombardiſche Sitte erneuen werde, die ſämmtlichen lom— bardifchen Biſchöfe zu verfammeln und ihn durch diefe einzuſetzen. Um dieje Zeit befand fich der Exjeſuit Berk, der. vorher für. den Erzbifchof von Trier die Briefe gefchrieben und auf den der Kai= - fer in feiner Antwort fo bitter. anfpielt, beim Papſte. Joſeph fchrieb daher ihm und feinen jefuitifchen Brüdern zu, daß Bapft Pius in der Mailänder Sache einen Schritt that, der feinem fonftigen Charakter. nicht angemefjen war. 8) Das Breve, mel- ches der. Bapft an den Kaiſer erließ, war fo heftig abgefaßt, daß Joſeph es gänzlich ablehnte; e8 ward dem Papſt zurücfgegeben und feiner Antwort gewürdigt. Der Papſt oder der deutſche Sefuit, der für ihn das Breve abfaßte, Iptelte darin auf den In— halt des DBriefed an, den Clemens Wenzel an dem Katfer gejchrieben hatte; dies veranlaßte den Katjer, dem Bapfte, als er ihm fein Breve unbeantwortet zurückſchickte, Dazu jchreiben au laſſen:

98) Wir Yaffen unentſchieden, welchen Antheil der Exjeſuit Bet an dem Brief hatte, den Pius VI. ſchrieb; an dem des Kurfürften von Trier gibt‘ ihm Joſeph felbft einen Antheil, wenn er in der Nachſchrift feines Briefes vom 24. Nov. 1781 an den Kurfürften fohreibt: „Der Abbe Bed fol au " Theil an meiner Dankffagung haben, fofern er dazu beigetragen hat, mir bie- fes ſchmeichelhafte Zeichen der Theilnahme Ew. königl. Hoheit zu verſchaffen.“

Kaiſer Iofeph IL bis 1787; 393

Diefer angebliche Brief Seiner Heiligkeit müfle offenbar von einem Menfchen herrühren, der ihre zu ihrem wechjelfeitigen Vor— theile dienende Eintracht zu flören ſuche, es verfehe fich daher der Kaifer von der Gerechtigkeit de8 Papſtes, daß Se. Heiligkeit alfogleich nach dem Urheber. diefer beleidigenden Schrift forſchen und ihm die gebührende Strafe zukommen laffen würden.

Jedermann war jchon darauf gefaßt, daß Joſeph feinen Borfab, die Geiftlichen feiner Staaten ganz von Nom abzureißen, ausführen werde, ald er plöglich andern Sinnes ward, und wenn er auch nicht geradezu rückwärts ging, doch dem meitern Fort- fchreiten Einhalt that. Dies geſchah befonders,. weil er ſelbſt des Papftes zur Ausführung feiner Plane zu bedürfen glaubte,

Um einen lebten entjcheidenden Schritt zu thun, war Joſeph über. die Grundfäße, die er in Sachen des Cultus und der Außern Religionsverfaffung befolgen wolle, zu wenig mit fich jelbft einig. Mir legen wenig Bedeutung darauf, daß Sofeph zu behaupten pflegte, die ihm von Kindheit auf feit eingeprägten Glaubens- lehren und die eingeübten Firchlichen Gebräuche Hätten in feinem Gemüth fortdauernd noch diefelbe Bedeutung, welche fie von gend auf für ihn gehabt hätten. Gewiß ift aber, daß. der K

ihm ferner die franzöſiſchen Bhilofophen wegen und demokratiſchen Meinungen zu verhaßt waren, ( veligisfen Anfichten hätte theilen können. Sobald man ihn alfo überzeugte, daß das päpftliche Spftem der Kirchenvegierung viel befjer zu einer autofratifch=monarchifchen Staatsregierung paſſe als das Epifeopalfyften, fo wandte er fich zum Papſte zurück; wahrfcheinlich feit feiner Anwefenheit zu Nom im Dezember 1783-

Männer von Geiſt, Erfahrung und politifcher Klugheit, welche den in unfern Zeiten allgemein befolgten Grundſatz hatten, daß die chriftliche Religion gleich der. alten- romtfchen nur ein po= fitiveg Syftem und als folches ein Zügel des Volkes fet, den man feithalten müſſe, weihten ihn in ihr Geheimniß ein, Zu die— jen Männern gehörten bejonders der Kardinal Bernis und der Nitter Azara, son denen der Eine die geiftlichen Angelegenheiten Frankreichs, der Andere, die fpantfchen beſorgte. Diefe machten

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ihm handgreiflich, daß wenn er ſich vom Papſte entferne, er dem Feinde preisgegeben ſein werde, der ihm gerade damals am aller furchtbarſten war. Sobald er nämlich den Biſchöfen die unbedingte geiſtliche Herrſchaft überlaſſe, werde er im die Hand der Ariſto— fratte fallen, die er auf jede Weiſe im feinen Staaten: zu Gun— jten des Volks befehdetez denn aus dem hohen Adel beitanden ja die Capitel, aus denen und vom denen bie Biſchöfe gewählt wur- den. Daß der erwähnte franzöfifche und: fpanifche Gefandte den Kaifer in Rom auf andere Gedanken brachten, tft ausgemacht. Auch hat es feine Richtigkeit, daß das Epiſcopalſyſtem die Macht feines Adels vermehren mußte; anderes laſſen wir umerwähnt. Dahin gehört, daß man ihm sorgejtellt Haben: fol, daß der Abbe Ciofani, der. damals geheimer Ordensgenerak der Sefuiten oder doch Mittelpunkt aller Betreibungen der Grjefuiten war, im Auf trage: des Königs von Preußen, mit dem er allerdings in directer Berbindung ftand, den Zwiſt zwifchen Katfer und Bapft zu ers halten fuche, um Sofephs polittfehen Planen: ein: Hindernif in den. Weg zu werfen, Wie dem auch fein mag, Sofeph hörte ei auf, den Papſt zu Franken, und diefer , beffeve Zeiten ers wartend, wie fie feit 1814 und 1849 eingetreten find, legte der autofratifchen Reformation des geiftlichen Weſens und des Unterrichts, welche der Kaiſer vornahm, kein bedeutendes oder öffentliches Hinderniß mehr in den Weg.

Der Kaifer erregte gerade damals in: Ungarn durch offene: Verletzung dev Verfaffung die großte Anzufriedenheit, da ex dem Biſchöfen des Reichs ihre großen Einkünfte ſchmälerte und: dieſe großen Herrn mit ungeheuern Hofhaltungen auf Beamtenbeſoldungen herabſetzte. Er verminderte die Summe des Betrags der Ein— nahme der Biſchöfe und Erzbiſchöfe son 900,000 auf 265,000 Gulden, fo daß ein Bilchof mm 12,000) und ein Exrzbiſchof 20,000 jährliche Einkünfte behielt. Die ungariſche Geiftlichkeit unterhielt daher den Unwillen der Nation über Verletzung der Verfaſſung, Verachtung der Krone, Krönung und Sprache durch jedes Mittel, welches in ihren Händen war, und der Kaiſer ge— wöhnte ſich, um ihr zu widerſtehen, Willkür zu üben, ſtatt, wie er: gewollt hatte, eine geſetzliche Ordnung einzuführen, Gr: bes durfte daher des. Bapftes und mußte dem größern höher Beruf,

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als deutfcher Kaiſer mit Hilfe der deutfchen Erzbiſchöfe ein Ziel zu erreichen, nach welchem einft Kaiſer Friedrich II. fein ganzes Leben hindurch vergeblich gerungen- hatte, aufgeben, um in jeinen Erb— fanden in geiftlichen Sachen eine Gewalt zu üben, die kurz— dauernd fein mußte, fo Lange nicht die ganze katholiſche Kirche veformirt oder zerftort ward.

Der Bapft felbft nämlich war und ift nicht im Stande, mit der kirchlichen Ariftofratie, die ihm als Gonfiftortum zur Seite fteht, fertig zu werden, wenn es Aufrechthaltung der Herrſchaft Roms oder des: Ueberreſts des Glanzes der alten weltbeherrichen- den Stadt angeht. Die Sardinäle waren daher ſehr unzufrieden, als der Papft ihnen um 1784 angeigte, der ange Streit wegen des Erzbistums Mailand ſei endlich durch eine Freundliche Ueber— einfunft zwifchen Sr. Heiligfeit und dem Kaifer beendigt wordenz fie geriethen um fo mehr in Bewegung, ald gleich im folgenden Zahre 1785 der Katfer und die vier vornehmften Grzbiſchöfe Deutſchlands fürmlich ein neues deutjches Kirchenrecht gründen zu wollen fchtenen. Karl Theodor in München nämlich, der feine Freude am geiftlichem Pomp hatte und ganz in der Jeſuiten Ge— walt war, fand fich ſehr erfreut, als ihm der Papſt die Ehre erzeigen wollte, eine Nunttatur in Batern zu errichten. Er glaubte dadurch den größern ſouveränen Fürften gleich zu werden und wollte daher feine Geiftlichkeit zum: Nachtheile der deutſchen Kir- chenfürften unmittelbar an Nom: knüpfen. Der Nunting, ben Pius VL: abjendete, um auf Unfoften der nach der Römer Mei- nung ſehr einfältigen und eben deßhalb für fie ſehr brauchbaren Deutfchen die päpftlichen Rechte in den pfalzbaterifchen Landen, jo wie im Jülichſchen und Bergifchen auszuüben, ward in Mün— chen als Himmelsbote empfangen und ganz Batern fühlte ſich glücktich, unmittelbar yon Rom abzuhängen. Der Primas von Deutſchland, deſſen Rechte, und der Erzbiſchof von Salzburg, deſſen Sprengel: verlegt werden follte, waren deſto unzufriebener. Diefe beiden Erzbiſchöfe proteſtirten wegen Verletzung ihrer Rechte als Oberhirten der deutſchen Kirchenfprengel, folglich wegen Vers letzung des deutfchen: Kirchenvechts, welche fchon feit: dem vierzehn⸗ ten Jahrhundert ſchreiend geweſen war, die größten Befchwerden veranlaßt und: den; ftets nur fehreibenden, niemals handelnden

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Deutſchen viel Papier und Schreibgebühr gefoftet Hatte, An diefe beiden ſchloß fich auch Joſephs Bruder, der Kurfürft von Cöln; ſogar der von Trier glaubte fich dem Bunde der drei andern deutſchen Erzbiſchöfe zur Erhaltung der. von Batern höchſt Ichmählich preisgegebenen Unabhängigkeit der deutfchen Kirche nicht entziehen zu dürfen. Salzburg und Mainz wandten fich zunächft an den deutfchen Katjer, als an ihren rechtmäßigen Schußheren gegen römische Anmaßungen, und diefer nahm ſich anfangs auch ihrer Sache kräftig an. Joſeph erwiderte:

Ein Nuntius des Papfts fet durchaus nichts anderes als was der Gefandte einer jeden weltlichen Macht auch fei. Er werde daher nie zugeben, daß ein päpftlicher Gefandter im Reiche oder auch an feinem Hofe irgend eine geiftliche Gerichtsbarkeit ausübe. Diefe Antwort ward dem Papſte offiziell mitgetheilt und ſpäter im Oftober 1785 eine kaiſerliche Verordnung bekannt gemacht, in. welcher den Nuntien verboten ward, irgend eine geiftliche Ge— richtsbarkeit in Dentfchland auszuüben Wie nöthig es geweſen wäre, daß die Baiern fich diefem Fatferlichen Befehl gefügt hätten, fann man aus Bronnerd Leben lernen, wo man fieht, daß man die Nuntiatur und auch ſogar die Agentur in Rom zu fchändlichen Geldprellereien benutzte. Man lernt dort aus den Thatſachen, welches fchändliche Gewerbe die mit den papftlichen Behörden in Rom correfpondirenden Agenten auf Unfoften der armen See— len trieben, welche Gottes Ungnade durch ein gefauftes Stück Papier. abzuwenden gedachten. Die Agenten trieben es gerade, wie unter Ludwig Philipp in Frankreich in einem Falle geſchah, der hernach vor den Gerichten verhandelt wurde, Dort hatte ein geiftlicher Gauner einem eiteln Mann den Orden vom goldenen Sporn Gregord XVL um viele Taufende verkauft, obgleich er fie hernach nicht einmal tragen durfte, weil die Fünigliche Erlaubniß fehlte. Die Nachforderung ward deshalb gerichtlich zurückgewieſen. In Batern waren aber überhaupt unter dem Schützer aller Iofen Künfte, Karl Theodor, die armen Unterthanen übel daran, fie wurden vom Lotto, von den Mönchen, von Trägheit, von Dummheit, von Mä- treffen und von der Induftrie römischer Schlauföpfe ſchwer gedrückt.

Die Kurfürften von Mainz und Cöln Tiefen die Fatferliche Verordnung fogleich zur Ausführung bringen; aber. an Patriotig-

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mus war Yeider bei dem hohen Adel, in deffen Gewalt die Ka— pitel und die Bisthümer waren, ebenfowenig zu denfen als bei Karl Theodor, oder bei feinen Mätrefien, Jeſuiten, natürlichen Kindern und Pfaffen Die papftlichen Nuntien, Römer in jenem Rom, wo fie, wie Dante fagt, ohne Chriftus Römer fein können, Pacca und Zoglio, wußten fih mit den Biſchöfen zu verftändigen, die Vteber mit Stalienern als mit deutfchen Erzbifchofen zu thun haben wollten, fie vertrauten auf die Mönche, fürftlichen Reichs— äbte, unmittelbaren Klöfter, Domherren und auf unzählige Pfaf- fen, von denen es damals noch in Deutfchland wimmelte, und teogten dem ohnmächtigen deutjchen Recht. Pacca war umver- ſchämt genug, auf die Blindheit der Weltphälinger und Bewohner des niederrheinifchen Kreifes, die bis auf den heutigen Tag ihre Religion durchaus aus der römiſchen Curie holen wollen, fo viel zu vertrauen, daß er an Prälaten und Pfarrer des Erzbisthums Cöln gerade in dem Augenblide ein NRundfchreiben erließ, worin er ihnen verbietet, in vielen Graden der Verwandtſchaft, in wel— chen ſchon feit langerer Zeit die Heirathen erlaubt geweſen waren, irgend eine Erlaubniß der Ehe, die von der erzbifchöflichen Be— hörde ertheilt worden, ohne befondern päpftlichen Indult anzuer— fennen. Damals waren aber felbft im Cölniſchen die Gemüther anders geſtimmt ald in unfern Tagen, die neue Univerfität in Bonn hatte Licht verbreitet, nicht, wie das oft mit theologifchen Anftalten der Fall tft, die Finfterniß durch philofophifche Phan— tasmagorie verdichtet, Barca ward nicht gehört und fein Nuntia— turbefehl nicht befolgt. Der Neichshofrath ließ ein Decret gegen des infolenten Nuntius Ausfchreiben ergehen und gab dem Kur- fürften von Baiern einen Verweis, daß er dem Papft zu Gefallen das Neich und feine eignen Unterthanen fremden Pfaffen verrathe, Die deutjchen Erzbiſchöfe erinnerten fich, wie ſchändlich fie zur Zeit, als die Franzoſen bei Gelegenheit des bafeler Goneiliums durch die pragmatifche Sanction die Freiheiten der. gallicanifchen Kirche erlangten, die ftetd ein Dorn in den Augen dev Römer blieben, von Aeneas Syloius, dem nachherigen Bapft Pius IL, durch Beftechung der Mainzer Kanzlet waren betrogen worden, Sie waren damals über ein Goneordat übereingefommen und er- hielten ein gang anderes, oder mit andern Worten, fie erhielten

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durch ein ſchändliches Taſchenſpielerkunſtſtück ftatt einer goldnen Uhr, die fie dem Aeneas Sylvius und feinem einfältig gelehrten Kaiſer anvertraut Hatten, eine hölzerne zurück. Was im fünf- zehnten Jahrhunderte verſäumt war, wollten jet am Ende des achtzehnten die deutſchen Erzbiſchöfe um jo mehr wieder gut zu machen fuchen, als Rom auch nicht einmal das gehalten hatte, was es im Gedränge zwiſchen dem Bafeler Concilium und den deutfchen Prälaten verfprochen hatte. Leider mar auch dies Mal nur durch Autokratie des Katfers zu helfen, wenn nicht unendlich Gezänk und fruchtlofes Concilienweſen die Verwirrung ärger machen ſollte; dieſe Autokratie ſcheuten die Erzbiſchöfe und von ihrer Oligarchie wollten weder der Kaiſer noch die Biſchöfe etwas wiſſen; dadurch ward Alles vereitelt.

Um endlich zu einem deutſchen Kirchenrecht zu gelangei oder wmenigitend den Anmaßungen Roms auf immer ein Ende zu machen, wäre ein Nationalconcilium nöthtg geweſen. Dieſes hätte der Kaiſer verfammeln müſſen; er Hatte aber damals Händel genug, Hatte Unruhen in allen Provinzen feiner Staaten zu ber fampfen und fonnte viel beffer mit dem Papſt fertig werden als mit der ganzen Klerifei. Er war außerdem überhaupt Fein Freund der Ständeverfanmlungen, weder in Beziehung auf die Kirche noch auf den Staat. Es Fam aber damals noch ein bejonderer Grund Hinzu, der den Kaiſer abhielt, fich einer Sache anzuneh⸗ men, welche vor allen den Kurfürſten von Mainz anging, und von diefem als Erzkanzler und Primas vorzüglich betrieben wurde, Der Kurfürft von Mainz nämlich hatte gerade in demfelben Jahre gegen den Katfer eine weltliche Oligarchie deutſcher Fürften unter dem Namen des Fürftenbundes gebildet; der Katfer mußte daher beforgen, daß man auf dem Gongreß zu Ems am Ende much noch einen Firchlichen oligarchifehen Bund’ der deutſchen Erzbiſchöfe herauspunetire,

Die Erzbifchöfe ließen namlich auf einem Congreß, ben ſie in Ems hielten, wo ihre Gebiete und Sprengel zuſammenſtießen und ſich durchkreuzten, von ihren gelehrten Geiſtlichen und. Rechts: kundigen die Punkte des in den falſchen Deeretalen eines vorgeb⸗ lichen Iſidor von Sevilla im neunten Jahrhundert exdichteten und im eilften durch Gregor den Siebenten der. occidentaliſchen Chriſten⸗

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heit aufgedrungenen päpftlichen Kirchenrechts, welches fie nicht ferner anerkennen wollten, aufſetzen. Dies in drei und zwanzig Punkten oder Artikeln zufammengefaßte bifchöfliche, dem päpftlichen entgegengefegte Kirchenvecht des erzbifchöflichen Congreſſes tft unter dem Namen der Gmfer Punctation befannt. Der Kaifer hatte gerathen, gleich bei den erſten Berathichlagungen auch die andern deutjchen Bifchöfe zuzuziehenz allein, wenn man den Bifchof yon Würzburg und Bamberg ausnimmt, war mit den andern. auf dem Wege der Vernunft nichts anzufangen; es war daher jehr weiſe gehandelt, daß man, ehe man die, welche, wenn fie auch jehend waren, ſich doch blind ſtellten, herbeiriefe, erſt durch ge— lehrte, religiöſe, aber verſtändige und patriotiſche Männer die Punkte ausmachen ließ, worüber man freundlich und gütlich mit dem Papſte unterhandeln wollte, ehe man felbft Gejebe gäbe, Die Erzbiſchöfe waren übrigens zu gut mit der römischen Zähheit and dem ſchlauen Darren der: Gurte auf beifere Zeiten befannt, um: zu erwarten, daß fie durch Unterhandhingen etwas gewinnen würden; fie wandten fich daher an ben Kaiſer. Joſeph IL war aber mit Recht längſt über die Langmweiligfeit und Pedanterie der deutſchen Kanzleien exbittertz er begnügte fich daher, dieſe deutſche Sache für die von ihm ausgehenden Reformen feiner Erblande politisch zu benutzen, den Bapft durch die Erzbifchöfe und diefe durch: jenen zu: ſchrecken, um won. beiden Bortheile für ſich zu erlangen.

Die Erzbiſchöfe wandten fich namlich, an den: Katfer, theilten ihm das mit, worüber fie übereingefommen waren, zeigten ihm an, daß fie ed dem PBapfte zur Billigung vorgelegt hätten und baten ihn, wenn der: Bapft ihre Bunetatton innerhalb zwei Jahren nicht annehmen: follte, ein Nationalconcilium zu: berufen, wozu man. nicht, wie zu einer allgemeinen Kirchenverfammlung, den Papſt nöthig Habe, Darauf erwiderte der Kaifer, ohne fich auf Einzelne einzulaffen, im Ganzen günftig, obgleich er auch in. diefer Antwort fich nicht: beſtimmt zu Gunſten der Punctation ers Härte, ſondern den. Erzbiſchöfen gewiffermaßen. dadurch auswich, daß er fie nochmals: aufforderte, auch die andern Biſchöfe, ja ſogar die weltlichen katholiſchen Fürften zu Rathe zu ziehen: Schon. dies: bewies, daß der Kaiſer lieber den Papft als. bie

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Ariſtokratie geiftlicher Fürften in Firchlichen Angelegenheiten begiin- ftigen wolle, um nicht eine oligarchiſche Theokratie gegen fich zu haben, denn diefe Befragung der verſchiedenſten Perfonen hieß die Enticheidung auf unbeftimmte Zeit (in Calendas Graecas) vertagenz ex machte aber diefe Vertagung noch auf andere Weife fund, Es war auf des Katfers Veranlaffung nämlich eine Reichs— hofraths⸗Commiſſion zur Unterfuchung der Punctation niederge— jetst, welcher aber von Seiten Pfalzbaierns und, was merkwürdig genug tft, von Seiten Kurbrandenburgs folche Schwierigkeiten gemacht wurden, daß es mit der Commiſſion und Punctation ging, wie es fonft mit Reichstagen und Concilien zu gehen pflegte, dag heißt, e8 war großer Lärm und man Fam zu. feinem Refultat,

Joſephs Bruder, Leopold, der unter Stalienern zum Staliener geworden war und bis an fein Ende eine doppelte Rolle geſpielt hat, regierte damals in Toscana als Neformator, Geſetzgeber, Weifer und Oeconomiſt, obgleich er Tpäterhin in Deutichland und in den Erbftanten alle alten Mißbräuche wieder hergeftellt, jedes freie Wort verfolgt, Spioniren nad) Jakobinismus gehegt und ntederträchtige Ankläger beſchützt hat. Diefer ging damals meiter als jein Bruder Joſeph, denn ftatt daß diefer den Begünftigern des alten biſchöflichen Syſtems der Kicchenregierung in Deutſch— land jeinen Schuß verfagte, um den Papft zu gewinnen, gewährte Leopold den Prälaten von Toscana, die fich den römtjchen Be— drüfungen entziehen wollten, jede Unterftügung. Die Biſchöfe von Toscana wollten aber auf der Synode zu Piſtoja den Ita— lienern, wie fie jeßt find, zumuthen, eine uralte Gewohnheit, denn mehr it ihre Religion nicht, abzulegen und eine mora= liſche Religion ftatt Muſik und Geremonien, janfeniftifche Strenge ftatt der leichten Abſolution, einfache Geiftliche ſtatt der Pracht des Firchlichen Ceremoniels der papftlichen Kirche bet fich einzuführen. Ste wollten das aufheben und wegräumen, wodurch Stalien und befonders Nom immer noch wenigſtens den Schatten der Weltherrfchaft behauptet; das konnte unmöglich friedlich durch— geführt werden. Wir wollen indefjen doch des Verſuchs erwäh— nen, wäre e8 auch nur, um zu beweifen, daß überall das Vorur— theil ſtärker tft als der Grundſatz, und daß auch fogar die Preis heit, wenn fie indem Volke, wie es in unfern riviliſirten Staaten

Kaiſer Joſeph IL bis 1787. 401

zu ſein pflegt, dauerhaft ſein ſoll, auf dem Erſtern, nicht auf denm Letztern begründet fein muß.

Der Clerus von Toscana, der ſich ſeit langer Zeit, gleich dem beſſeren Theil des franzöſiſchen Clerus, zum Janſenismus bekannt hatte und deßhalb von Rom ärger gehaßt und verfolgt war als Ungläubige und Heiden, benutzte nämlich den Reforma— tionseifer Leopolds, um kirchliche Mißbräuche abzuſchaffen und die alte Kirchendiſciplin wieder herzuſtellen. Leopold hatte die Ver— waltung des Landes ganz nach den Grundſätzen geordnet, denen hernach die conſtituirende Nationalverſammlung Frankreichs Hul- digte; er hatte für Landbau und Staatshaltung, für Civil- und Griminalgerichtöpflege durch Verfügungen geforgt, deven Samm— lung ein Muſterbuch für monarchifche Staaten bildete; es mar daher natürlich, daß die Reihe auch an die Kirchenserfaflung fan, fjobald Ricci Hauptperfon des toscaniſchen Clerus wurde, Ricci war ein ſehr eifriger Janſeniſt; ſobald er Bifchof von Piſtoja geworden war, verſammelte er in dieſer Stadt ein Pro— vinzialconcilium. Auf dieſem Concilium bewog er die Prälaten von Toscana zu einem fo kräftigen Widerſtande gegen die An— maßungen Roms, daß jo lange Kaifer Joſeph Tebte und fo lange jein Bruder Leopold fich felbft gleich Hlieb, die Katholiken von Toscana ſich im Befit von Nechten und Bortheilen befanden, welche die Vertheidiger der alten chriftlichen (noch nicht wie fett Gregor VII. papiftiichen) Kirchensrönung in Deutjchland vergeb= lich zu erfireben fuchten, und deren fiernoc immer entbehren.

Die Beitimmungen des Provinzialeoneiliums von Piſtoja find unter dem Namen der Propofitionen von Piſtoja bekannt, weil den dort im Jahre 1787 verfammelten Prälaten fieben und fünfzig Kirche und Kirchenrecht veformivende Säbe vorgelegt waren, von denen die mehrften gebilligt und angenommen wurden, Vermöge der Synodalbefchlüffe der in Piſtoja verſammelten Prälaten von Toscana ward nicht blos das bisherige päpftliche Kirchenrecht ver— worfen, fondern auch das MWefentliche der Religion vom Unwe— jentlichen genau unterſchieden. Es ward dort die firenge Sitten= lehre der Sanfentften und des Urchriſtenthums, welche über lauter Geremonien und Kirchen⸗Symbolik ganz in Vergefienheit gefom=

men war, wieder für Hauptfache des Chriſtenthums erklärt und Säloffer, Geſch. de 18, u. 19, Jahrh. IV. Th 4. Aufl, 26

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der bloß Außerliche, für Herz und Wandel unfruchtbare Theil des Gottesdienſtes förmlich mißbilfigt und verworfen. Das war freilich in einem Lande, wo Moral für Proſa, wir möchten fait fagen für Dummheit gilt, wo Poeſie und Kunft das Leben regie- ven und auf dem Zünftlerifch geordneten Gultus beruhen, wo ber gemeine Mann von Sparfamfeit, Ordnung, Reinlichteit, häus— licher Zucht und Wohlſtand auch nicht einmal einen Begriff hat, nicht Durchzufeßen. Das Volk glaubte den Jeſuiten, Mönchen, Papiſten des Landes und befonders dem Bapfte herzlich gern, daß der moralifche Katholicismus der Synode yon Piſtoja nichts an- ders ſei als die teuflifche Lehre des ketzeriſchen Luther, deſſen bloßer Namen die Staltener wie die Batern um fo mehr erjchrecit, je faljcher und jchmählicher er ihnen alle Tage auf den Kanzeln, im Leben, in Schriften son Sefutten und Rapuzinern, mit und ohne Kutten, abgemalt wird.

Der Papft mußte übrigens eine Zeit Yang dem ihm fehr verdrießlichen geiftlichen Weſen in Toscana zufehen und Zeiten der Reaction erwarten, weil feine erften Schritte. durch Leopolds Beftigkeit und Riccis Entfchloffenheit fruchtlos gemacht wurden. Als namlich die Synode son Piſtoja die vier berühmten Sätze billigte und als die ihrigen anerkannte, welche auf Ludwigs XIV, Veranlaſſung die gallieanifche Kirche um 1682 den päpſtlichen Anmaßungen entgegengejett Hatte, fo erlieh Papſt Pius gegen diefe als Grundfab der Kirche von Toscana aufgeftellte Sätze eine befondere Bulle, worin eigentlich auch die Synode verdammt war. Er erklärte in diefer Bulle die Billigung für ärgerlich und beleidigend für den heiligen Stuhl, tobte aber hernach ganz an= “ders, jobald die Zeit der Reaction und des Conſervirens aller alten Mißbräuche eingetreten war, Dies fiel nicht mehr in die Pe— ziode, deren Gefchichte diefer Band behandeln fol, wir bemerken daher nur, daß der Papſt ſpäter die Vernichtung der von Leopold begünftigten Religions⸗ und Kirchenverfaflung und die Verfolgung der edlen Männer, von denen fie gemacht war, durchſetzte und daß er die Propofitismen dev Synode son Piftofa als Irrthümer und ſchismatiſche, alſo als Feeriiche Lehren verdammte, Der Kaiſer gerieth in ernftere Verlegenheiten als fein Bruder, weil Preußen jede Gelegenheit wahrnahm, um Die Wiederherftellung

Katfer Joſeph IN. bis 1787. 403

des alten kaiſerlichen Anfchens im Netche, worauf 68 Joſeph ab- gefehen zu haben fehten, zu Kindern, König Friedrich IL Watte zur Zeit des Emſer Gongrefjes den Fürftenbund gegen ben Katfer ‚geftiftet, fein Nachfolger ward durch die Verbindung des Kaiſers mit den Nuffen zum Nachteil der Türken zu ernfteren Schtit- ten getrieben. Che dieſes geſchah, erbitterte jedoch Joſeph durch fein Benehmen gegen die Republik der fieben vereinigten Provinzen der Niederlande auch fogar das damals enge mit Oe— fterreich verbundene Frankreich gegen feine Anmaßung fo fehr, daß er dadurch der ſehr ſtarken Gegenpartet des Hofs Gelegen- heit gab, dev Königin Schuld zu geben, dag fie ihrem Bruder zu Gefallen die Mintfter irre geleitet habe.

Es verhielt fich mit den Unternehmungen des Katfers gegen Hollands Anmaßungen und gegen die Mißbräuche in Belgien, sie mit feinen Schritten gegen den Hohen Adel jener Crhftaaten zu Gunften des gebrückten Volks und mit feiner aus beit vor— trefflichſten Abfichten Herrüßrenden Einmiſchung in die Gerechtig— feitspflege. Wir wollen beides zuerft durch ein Beiſpiel erläutert, ehe wir zu den holländiſchen md belgifchen Angelegenheiten übergehen,

Um den Landmann aus einen drückenden Verhältniſſe zur eriöfen, verordnete der Katjer eine neue Steuerregufirung in allen Erbſtaaten, wodurch der Bauer nothwendig gewinnen, der Adel aber, ‚der ein furchtbares Gefchrei erhob und erheben ließ, verlieren mußte. Die ganze Maßregel ward durch Heftigkett und Ueber— eilung des Katfers vereitelt. Joſeph ſtand Hier allein; er fah böſen Willen und paffiven Widerſtand, dies bewog ihn, die Aus— meffung der Grundſtücke zu übereilen, ſo daß, weil für eine fo umfaſſende Meffung nicht Landmeffer genug im Lande waren, oft ganz unkundige Leute zu dem Geſchäft gebraucht werden muß- ten, was dann Mängel und Schaden veranlaßte, Dadurch erhielt der Adel, der durch die neue Einrichtung verlieren mußte, Gele⸗ genheit, allerlei Hinderniffe in den Weg zu werfen und die Abſicht des Kaiſers zugleich mit der Ausführung Lächerlich oder gehäſſig zu machen, Daß dies In der That der Fall war, zeigen bie Worte des Grafen von Chotef, mit denen er gewiffermapßen als Märtyrer für die Sache des Adels wegen ur Steuerangelegen⸗ heit: ſeine Stelle niederlegte.

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404 Kaiſer Joſeph II. bis 1787.

Der Graf Chotek war ſehr von Joſeph begünſtigt, er war "Kanzler der böhmiſch-öſterreichiſchen Hofkanzlei, welche die neue Steuerregulirung befannt zu machen hatte, gegen deren Einführung Chotek mehre Male Borftellungen an den Kaifer abgehen ließ. Die Gründe, die er anführte, waren alle davon hergenommen und die Borftellungen beruhten blos darauf, daß der Adel dabei perliere. Darauf gab der Kaiſer wiederholt die Antwort, daß aber der Bauer jehr dabei gewinne, und beharrte, als feine bei- fern Gründe sorgebracht wurden, auf der Ginführung. Als Graf Chothek jah, daß feine VBorftellungen fruchtlos waren, legte er, um das Patent nicht unterfchreiben zu müffen, feine Stelfe nieder und machte dadurch die populärfte Mafregel dem Lande verhaßt, Die Worte, deren er fich in der Akte, die er dem Kaiſer über- jhiefte, bedient, beweifen, daß er mit einem Ban der Noot und und Gonforten auf einem Wege war. Mein Gewiffen, fo jchreibt er, erlaubt mir nicht, meinen Namen unter eine Verordnung zu feßen, welche dem Adel ſoviel Unrecht zufüget. Der Kaifer hatte ihm vorher Freundlich gefagt: Lieber Chotek, iſt es nicht beffer, wir laſſen den Bauern etwas nach, als daß fie uns gar nichts geben. Chotek erwiderte: Das jet nicht zu fürchten, da man die MWiderfpenftigen mit Gewalt zur Gntrichtung der Abgaben zwingen könne. Mit Gewalt, erwiderte der Kaiſer, die phyſiſche Gewalt ift beim dritten Stande, Glauben Sie mir, wenn der Bauer nicht will, find wir alle pritich (ein böhmiſch Wort).

Auf gleiche Weiſe ward die Gerechtigfeitsliebe des Kaiſers und fein Wunſch einer unparteitfchen Juſtizpflege Urſache der Unzufriedenheit und des Widerftandes. Er fonnte niemandem trauen, er firitt gegen den Schlendrian der Gerichte und gegen verjährte Mißbräuche ganz iſolirt. Er mußte heftig mit autofratifcher Ge— walt kämpfen; dies ward oft nachtheilig und gab Gelegenheit, ihn der Willkür und Härte anzuflagen, Cr fand überall Unter fchleif und Käuflichkett, Veruntreuung äffentlicher Gelder und un— verſchämte Beſtechlichkeit, wodurch hernach auch im Revolutions— kriege die öſterreichiſchen Angelegenheiten zu Grunde gerichtet wur— den, als Herkommen und, al3 Privilegtum geltend, Es mar nicht

Kaiſer Joſeph IT. bis 1787. 405

möglich, dem Nebel abzuhelfen, weil die Gerichte gegen vornehme Leute unthätig oder doch ohnmächtig waren. Der Katfer, welcher ſah, daß die Behörden, die Gerichte und die privilegirten Klaffen gegen gleiches Necht in einem fürmlichen Bunde waren, übernahm jelbft die Sorge, über die Juſtiz zu wachen, und drang darauf, daß jedes Vergehen, an dem Vornehmften wie am Geringften, jollte auch; der, welcher fich verging, in feiner größten Gunft ges weſen fein, umerbittlich Hart beftraft werde, Aus Mißtrauen gegen juriftifche Deutung und Mißdeutung des Geſetzes folgte er dabei oft mehr feinem Gefühl von Recht und Unrecht als dem Gefeke und dem Urtheil dev Richter. Wenn diefe daher aus allerlei Nückfichten die Strafe, welche das Geſetz ausfprach, zu mildern juchten, fo erlaubte er fich oft, fie, wie in Rußland Sitte tft, im Cabinet zu jchärfen. Dies ſchrieb man der Grauſamkeit zu, obgleich der Katfer gewiß nicht graufam war, fondern nur bie Ariſtokratie in Schranken Halten wollte. Die Ariſtokratie zog danır in den Erblanden, wie hernach in Belgien, das Volk das durch in ihr Intereffe, daß fie den Katfer der Geſetzverletzung be= ſchuldigte. Daß Sofeph ſich befonders der Beamten und der Ari— jtofratie wegen hart bewies, ſieht man fchon daraus, daß bie zwei Fälle, welche man vor andern benutzt hat und zu benuten pflegt, um Sofeph als einen Tyrannen auszufchreten, Perſonen der höheren Klaffen angingen. Diefe Berfonen waren der Graf Po— daczky-Lichtenftein und der Oberſtlieutenant Sezefely, obgleich die Verſchärfung der Strafe bei dem Letztern, genau betrachtet, nur eine Veränderung der Strafe war, welche Sezefely ſelbſt als eine Milderung betrachtete.

Mas Holland und Belgten angeht, jo konnte der Katfer den Gedanken nicht ertragen, daß ihn ein Friedensſchluß von 1711—1714 bet ganz veränderten Umftänden in alle Ewigkeit hindern follte, Here in feinem eigenen Lande zu fein. Weil er das pofitive Recht gegen feine eigene Ueberzeugung von dem, was vecht fet, nicht wollte gelten Taffen, jo fand er es umvernünftig, daß er niederländifche Truppen in feinen Feftungen dulden und feinen Belgiern verbieten mußte, die Schelde und die See zu befahren. Der Streit mit Holland tft übrigens aus einem doppelten Grunde für die europäiſche Gefchichte bedeutend. Es zeigte fich nämlich

Pr Katfer Joſeph U. bis 1787.7

erſtlich bei dieſer Gelegenheit, daß Joſeph ſich bei ſeinen Ent— würfen übereile und um ſo leichter durch unerwartete Hinderniſſe und ernſtlichen Widerſtand zurückgeſchreckt werde, je heftiger, hitziger, übereilter er, jeden fremden Rath verachtend, anfangs zu verfahren pflegte. Zweitens ſind dieſe Streitigkeiten wichtig, weil der Ausbruch der ſogenannten holländiſchen Revolution dadurch beſchleunigt ward. Der Entſchluß Joſephs, gegen die Holländer, wie überall, das Recht der Vernunft gegen Verträge, Privilegien, Diplome und Siegel autokratiſch geltend zu machen und ſeinen Belgiern in ihrem eignen Lande die Rechte zu verſchaffen, deren die Holländer in dem ihrigen genoſſen, war ſchon bei ſeiner Huldigungsreiſe nach Belgien und während des Beſuchs, den er damals in Holland machte, in ihm gereift. Es ſchien ihm, als ob die Holländer und beſonders Amſterdam ihren Wohlſtand auf dem Ruin ſeiner Belgier und beſonders der Stadt Antwerpen, welche nicht aus der Schelde in die See fahren durften, gegrün— det Hätten. Noch mehr fand er ſich Dadurch gekränkt, daß feine nieder— ländiſchen Feftungen holländifche Garnifonen hätten. Der Kaiſer hatte das Kriegsweſen in Holland ganz vernachläfftgt, Marine und Heer im elendeſten Zuftande getroffen. Die Holländer hätten die Feftungen Belgiens, in denen fie Garnifon halten durften, im guten Stande hal⸗ ten ſollen, ev fand fie vernachläſſigt, die Garniſonen fchlecht ausgerü— jtet und verfehen, und gleichwohl mußte er dulden, daß, dem fogenann- ten Barrieretraftate gemäß, die Holländer in gewiffen Diſtrikten feines Landes Eontributionen vorgeblich zur Erhaltung der Feftungen und zum Bezahlung der nie vollzähligen Garniſonen ausfchrieben,

Der Barritretraktat, deſſen Joſeph zunächſt entledigt fein wollte, war Karl dem VI. durch die Königin: Anna, oder eigent- Yich durch die Tories, die zur Zeit des Utrechter Friedenstongref- jes ihr Minifterium bildeten, mit Gewalt aufgezwungen worden, damit nur die Holländer (1713) deſto ſchneller den Frieden unter— ichveiben möchten, In diefem Traktate war feftgefest, Holland: ſolle in den belgiſch-öſterreichiſchen Plätzen Namur, Dornick, Me- nin, Fürnes, Warneton, Ypern und Knode Beſatzungen haften dürfen und eine hofländifchöfterreichifche Armee von dreißig bis jechdunddreißigtaufend Mann, beſtehend aus drei Fünftel hollän— diſcher und zwei Fünftel öſterreichiſcher Truppen, follte den öſt—

Katfer Joſeph IE. bis 1787. 407

lichen Theil der Niederlande, von wo aus ein Einfall in die jieben Provinzen umd in ihre Generalitätslande leicht ausführbar ſei, gegen Frankreich beſchützen. Das Verhältniß Defterreichg ward in den erjten zwanzig Jahren nach dem Utrechter Frieden noch sieh drüsfender in Beziehung auf Belgien und Holland. Die Engländer bedurften der Holländer erft gegen Alberoni, dann gegen Karls VI Handlungsprojefte und gegen die oftindifche Compagnie in Oftendez fie opferten ihnen daher das Hfterreichtfche und belgifche Intereffe. England und Holland vereinigten fich, um den Katjer zu nöthigen, einzumilligen, daß weder von Oftende,. noch von Trieft aus indifcher Handel getrieben werden dürfe. Zuerft mußte (1722) die Handelsgefellfchaft in Oſtende aufge hoben werden, dann (1731) ward feſtgeſetzt, daß nicht nur die öfterreichifchen Seeftädte von ihrer günftigen Lage am Meer kei— nen Nuten ziehen dürften, fondern daß auch die Mündung dev Schelde, folglich der unvergleichliche Hafen von Antwerpen auf immer verſchloſſen bleiben folltee Man ging fogar fo weit, daß man feſtſetzte, int Falle einer Verlegung diefes Artikels follten die holländiſchen Forts am Ausflug der Schelde auf die von Ant— werpen ausgefendeten Schiffe feuern dürfen,

Hollands Macht und Wohlitand nahm indeffen in der erften Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in eben dem Grade ab, als England reicher, mächtiger, betriebfamer wurde und feine Schiff- fahrt fih bis zum Unglaublichen vermehrte; es kam endlich da— hin, daß die holländiſche Regierung, welche eine halbe Million Gul— den für Truppen und Unterhaltung der Beftungen jährlich aus Bel— gien 309, die dafür übernommenen Berbindlichkeiten nicht erfüllte. 99)

Nicht einmal die Bedingung, unter welcher den Holländern diefe unerhörten Vortheile zugeftanden waren, hatten diefe erfüllt, denn als 1745 die Franzoſen in Belgien einrücten, zogen die Generalſtaaten ihre Beſatzungen aus den Städten, weil fie dem Kriege ausweichen wollten, was gleichwohl nicht möglich war,

99) Urfprünglich war im Barrieretraftat feftgefebt, die Holländer follten eine Subfidte von einer Million und zweimalfunderttaufend Gulden erhalten, Die Einnehmer gewiffer Diftrifte waren angewiefen, beftimmte Summen un> mittelbar an Holland abzuliefern, und im Fall hierin ein Rückſtand erfolgte, war fogar den Holländifchen Truppen ein Recht der Execution geſtattet.

4083 Katfer Sofeph IT. bis 1787.

Die Franzofen fehleiften hernach die Feſtungswerke der Barriere pläße und die Holländer blieben während des fiebenjährigen Krie— ge8 ihres Beſatzungsrechts beraubt. Erft um 1763 durften fie ‚wieder Truppen ſchicken; fte ftellten aber die Feſtungswerke nicht wieder her und erhielten deshalb auch die ihnen im Barriere traftat zugeftandenen Subfidien nicht. Marin Therefia erklärte um 1776, daß fie den Barrieretraktat in Rückſicht gewiſſer Land- ftriche und Orte, welche die Holländer in Anfpruch nahmen, nicht mehr mollte gelten Taffen, weil ev ihrem Vater mit Gewalt und Verlegung der Nechte der Belgier fer aufgedrungen worden; Kaunit und Joſeph hatten ſchon damals weiter gehen wollen, Sie fuchten die Katferin zu bewegen, den ganzen Traktat für ungültig zu erklären, fie war indeffen nicht dahin zu bringen geweſen. Joſeph war Faum von feiner erjten Reiſe in die Nie derlande zurücfgefehrt, ald er erflärte, daß er die fremden Trup— pen nicht ferner dulden wolle Er zwang im März 1783 die Holländer wirklich, ihre Truppen zurückzuziehen, regte aber fchon damals ganz Europa weniger durd) den Gewaltſtreich als durch die höchſt Hedenklichen Erklärungen feines Staatskanzlers über bie Haltung beftehender Verträge gegen fich auf. # Die Unterhandlung über die Räumung Belgiens von Seiten der Holländer wurde in Wien zwtfchen dem Grafen von Waffe naer und dem Fürften Kaunitz geführt umd der Letztere redete dabei von beitehenden Verträgen und von dem Rechte der Schwa= hen gegen bie Starken in einem fo vornehmen und verächtlichen Ton, daß der Andere durch die bloße Bekanntmachung der Unter- haltung mit Kaunig den Planen des Katfers mehr fchadete, als durch die feinſten diplomatifchen Kabalen hätte gefchehen können.) Die Holländer waren damals wegen ihrer engherzigen Krämer- politif und ihrer innern ganz öffentlich geführten Streitigkeiten und oft ganz armſeligen Zänfereten, wobei mehrentheils beide Theile jchuldig oder verächtlich waren, in Europa nicht gerade beliebt; man mußte fich aber ihrer annehmen, wenn ber Kaifer 19 dachte wie Kaunitz redete. Daß er aber wirklich fo denke, zeigte er, als er Anftalt machte, der Inftruftion gemäß zu han-

1) Reflexions sur une conversation ministerielle entre le prince de Kaunitz et le comte de Wassenaer 1782.

Kaifer Joſeph IL bis 1787, 409

bein, welche der Herr von Nenny, Präfident des belgiſchen ges heimen Raths ehemals aufgefeßt hatte, um ihn vollſtändig von den niederländifchen Sachen zu unterrichten. In diefen befannten Snftruftionen, welche Dohm im feinen Denkwürdigkeiten vortrefflich benußt hat, war der Rath gegeben, alle längſt vergeffenen An— ſprüche an holländifche Orte und Landfchaften, welche aus den Berhältniffen des fechzehnten Jahrhunderts abgeleitet werden könn— ten, jebt geltend zu machen, wo die Umftande fehr günſtig ſeien. Dies fallt nämlich in: die Zeit, ald8 Spanien und Frankreich ohne befondere Nückficht auf Holland fir fich allein den Berfatller Frieden gefchloffen Hatten, jo daß Holland in dem Augenblick weder auf England, noch auf Frankreich rechnen konnte.

Das Benehmen des Katfers gegen die Holländer war eines edeln Mannes, der, wie Sofeph, Gerechtigkeit liebte und fie ſogar oft mit Willkür ausübte, durchaus unwürdig. Gr ward, als er am Ende feine Sache nicht durchfeßen konnte, verächtlich, und was ſchlimmer für einen mächtigen Herrfcher tft, ſogar Tächerlich. Den Anfang machte er neben andern kleinlichen Schifanen, denen ahnlich, welche Preußen damals gegen Danzig und fpäter, als es Anſpach und Bayreuth au fich gebracht Hatte, gegen Nürnberg übte, mit der Forderung des Dorfs Doel in der Nähe des hol— ländiſchen Forts Lieffershoet und des Forts St. Donaas zwiſchen Sluys und Brügge. Die vfterreichtfchen Truppen nahmen von dem Dorfe mit Gewalt Befis und jagten die Hollander, denen fie an Zahl überlegen waren, mitten im Frieden aus ihren Duartieren. Da diefe Sache zu unbedeutend war, als daß fich fremde Mächte hätten einmifchen follen, fo trat der Katfer bald mit ftärferen Forderungen hervor, Er verlangte nicht blos die bedeutende Stadt und Feftung Maftricht, fondern kam endlich mit einem ganzen Negifter von Abtvetungen zum Vorſchein. Wir fügen die ſämmtlichen Forderungen unten bei, weil der. Katfer gleich im erften Artikel diefes Regiſters erklärt, daß er von allem dem nichts wiffen wolle, was die Spanier einft den Holländern and Dankbarkeit für die Vertheidigung Belgiens gegen die Fran— zoſen zugeſtanden hätten.?2) Gleich anfangs erboten ſich übrigens

2) Die Forderungen waren: 1) Defterreich erfenne nur den 1664 ges ſchloſſenen Gränztraktat für gültig und fordere alles, was Durch fpatere Vers

410 Kaiſer Joſeph IT. bis 1787.)

die Defterreicher, auf alle Artikel des langen Negifters nicht weiter zu beſtehen, wenn man dagegen die Schifffahrt auf der Schelde freigeben wolle und wenn Antwerpen feinen Sechafen wieder öffnen dürfe. Die Ungeduld des Kaiſers erwartete aber den Ausgang der Unterhandlungen nicht, fondern er forderte durch eine Erklärung vom 23. Auguft 1784, daß die Gröffnung der Schelde fogleich zugeftanden werden folfe, wofür er son allen andern Forderungen abzuftchen verfprach.

Der Kaiſer benahm fich bei diefer Gelegenheit, wo er auch nicht einmal von Kaunitz VBorficht und Behutfamkeit lernen wollte, anf eine ganz umbegreifliche Weiſe unflug und gegen alfe Regel einer gefunden Politik. Er wollte, im feften Vertrauen, daß bie Holländer nicht wagen würden, fich ihm zu widerfeßen, Antwer— pen für einen Freihafen evflären, und der Präſident feiner Re— gterung in Brüffel mußte befannt machen, daß der Kaiſer fchon jest die Schifffahrt aus der Schelde ins Meer als völlig frei anſehe. Er fügte droßend hinzu, daß der Kaiſer jedes Hinderniß, welches man ber freien Schifffahrt feiner Unterthanen entgegen= jeßen würde, als wirkliche Feindfeligkeit und als Kriegserflärung betrachten werde. Durch diefen Schritt, den Kaunitz ſehr miß— billigte, kam Joſeph in größere Berlegenheit, als er geahnet hatte. Der alte König von Preußen gab bet der Gelegenheit feinen’ Unwillen laut zu erkennen und fragte bei Rußland an, ob er

träge abgetreten fei, zurück. 2) Die Holländifchen Forts Kruitſchanz und Friedrich Heinrich follten geräumt und gefchleift, von den Werfen des Forts Liefkenshoek und Lille folte der Theil, der Die ehemals befiimmte Gränze überſchreite, gefchleift werben. 3) Das Wachtſchiff, welches Holland bei dem Fort Lille Halte, follte für immer entfernt werden und die ganze Schelde unter Zatjerlicher Hohelt ftehen. 4) Stadt und Feftung Maſtricht follten abgetreten werden, weil Holland dies in dem am 30. Auguft 1573 mit Spa- nien gefchfoffenen Traftat verfprochen Habe. 5) Alles Land über der Maas folle als zu Maftricht gehörig abgetreten werden. 6) Mehrere andere Diftrikte und Drie follen aus demfelben Grunde abgetreten werben. 7); Die Hollän- der. folfen alle Einkünfte, die fie aus den abzutretenden Orten feit ihrer Be- febung gezogen, erftatten. Die Artifel 8, 9, 10, 11 enthalten Yauter Be: ftimmungen über Vergütungen, welche die Holländer für die Vortheile Teiften follen, die fie fett dem fiebenzehnten Jahrhundert aus deu Verträgen gezogen, die der Kaiſer jetzt für ungültig erklärt.

Katfer Joſeph IL His 1787. 41

sieffeicht allenfalls weiter ‚gehen könne, ohne Rußland zu reizen. Ludwig XVI. ward durch diefen Schritt feines Schwagers in die größte Verlegenheit gebracht. Die Miniſter, beſonders Vergennes, und, die ganze franzöſiſche Natton verlangten dringend, daß fich Frankreich der Holländer annehmen follez die Königin fuchte Ihren Gemahl zu bewegen, dem Willen dev Nation entgegen zu han— deln, zu deren Organ in diefer Sache fich derfelbe Graf Mira- beau aufwarf, der einige Jahre Später den Gang der Revolution leitete. Er schrieb damals in feiner heftigen, aber der Aufregung

des. franzöſiſchen Volks ganz angepaßten Manier über die hollän= -

difchen Angelegenheiten, Wir Halten es nicht dev Mühe werth, gegen den auch won unſern liberalſten Gonftitutionellen jo laut gepriefenen Haupturheber der franzöſiſchen Revolution ein Wort zu fagen, weil es ausgemacht fcheint, daß die gewöhnlichen Be— griffervon Tugend auf Leute von großem Talent nicht anwendbar find. Bei einem gewöhnlichen Menfchen würde es uns fonft aufs - fallen, daß Mirabeau damals Für die ihm tödtlich verhafte, £leinlihe und felbftfüchtige holländiſche Patrioten-Partei fehrieh, daß er alfo Feudal= und Geldariftofratie, d. h. Leute voll Vor— urtheil, welche blos son Selbftfucht und Geldgier geleitet wurden, gegen deu Kaifer vertheidigte, der ſich für Bernunft und Men: fchenrechte ſelbſt aufopferte, den ung aber gleichwohl der Tiberale Franzoſe als einen gar argen Tyrannen und Deſpoten ſchildert. Mirabeaus Schrift gegen Katfer Joſeph ward: zwar in Frankreich verboten, es wurden aber doch Rüſtungen gemacht, und: die franzöſiſche Regierung fehten fich, wenn ihre Vermittlung nicht gelingen follte, dev Holländer annehmen zu wollen, Es ward den Franzoſen erlaubt, oder vielmehr den Militärs zu ver- fiehen gegeben, in Holland Dienfte zu nehmen; man lieferte Kriegsvorräthe, ſchickte franzöſiſche Ingenieurs, franzöſiſche Stabs= / offiziere, um die holländiſchen Vertheidigungsanſtalten zu leiten. Die Holländer übten im Vertrauen auf Frankreich gleich darauf Thätlichkeiten gegen die Belgier, welche von der von der Brüſſeler Regierung erlaſſenen Erklärung Gebrauch machen wollten. Da— durch wurden die Franzoſen wider ihren Willen zu feindſeligen Anſtalten gegen den Kaiſer genöthigt, weil dieſer bei der Nachricht von den Feindſeligkeiten der Holländer im Begriff ſtand, ein Heer

412 Katfer Joſeph II. bis 1787,

von vierzigtaufend Mann nach Belgien zu ſchicken und einen Theil defjelben wirklich marſchiren ließ. Als nämlich die Brigantine Ludwig unter Kapitän Iſeghem am 8: Oftober 1784 die Schelde hinabfahren mollte, feuerten die Holländer von Saftingen aus auf das Schiff und nöthigten es, nach Antwerpen zurückzukehren. Ein anderes Fatferliches Schiff, das von Oftende Fam und die Schelde hinauf fahren wollte, ward bei Vlieſſingen es hernach wieder frei gegeben wurde.

In dieſem Augenblicke nahm Alles ein kriegeriſches Anſehn; die kaiſerlichen Truppen marſchirten, der öſterreichiſche Geſandte ward vom Haag abgerufen, in den vereinigten Provinzen zeigte ſich eine Nationalbewegung, wovon man ſeit langer Zeit keinen Begriff mehr gehabt hatte, und es ſammelte ſich ein holländiſches Heer an den Gränzen, welches von franzöſiſchen Offizieren orga— niſirt ward. Um dieſelbe Zeit als Kaiſer Joſeph mit Krieg - - drohte, erreichten die Streitigkeiten der Städte von Holland mit der ftatthalterifchen Regierung den höchſten Punkt, und der Her- zog von Braunſchweig ſah fich genöthigt, endlich das Land zu verlaſſen. Er war fehon im Juli auf Antrag der Städte der Provinz Holland von den Ständen diefer Provinz gemwiffermaßen abgefegt worden, als fie ihm durch eine beleidigende Refolution anfündigten, daß fie nur bis Ende des Jahrs die Summen zah— len würden, die fie zu den ihm- angewieſenen Geldern beitrügenz Seeland trat hernach dem Befchluffe bei. Der Herzog wendete fich am Ende Auguft zwar am die fünf andern Provinzen, ſah aber fchon im September, daß feine Stellung unhaltbar fet, und gab am 8. Oftober feine Entlaffung ein.

Sp fchlecht beim zerriffenen Zuftande ihrer Civilregierung und der Verwaltung ihres Kriegsweſens auch die Anftalten der Holländer waren, fo zeigte fich doch bei dieſer Gelegenheit Joſeph noch ſchwächer als die Niederländer. Cr wagte nicht ‚einmal, ihre thätliche Beleidigung raſch und nachdrüclich zu rächen, wie der Fürft von Ligne als Commandant von Antwerpen Hatte thun wollen. Diefer war nämlich im Begriff, den Schaden, den Die Holländer den Belgiern durch das Anhalten und Befchiepen der Schiffe und durch die Vertheidigungsanftalten, die fie in ber Nähe der Schelde machten, gethan Hatten, durch Beſetzung der

Kaifer Iofeph IL. bis 1787. 3

Forts Lille, Lifkerhoek, Kruitſchanz und. Fort Friedrich Heinrich zu rächen. Dazu bedurfte er der Grlaubniß der Regierung in Drüffel, dieſe wagte aber nicht, fie ihm zu ertheilen, Vergennes bi8 an feinen Tod (Febr. 1787) Minifter dev auswärtigen An— gelegenheiten in Frankreich, benuste die Umftände, um durch feine _ Bermittelung für Holland ein Band der Freundfchaft mit diefer Republif zu knüpfen. Dieſes Band ward hernach von England und Preußen zur Zeit der holländiſchen Revolution wieder zerriffen.

DBergennes Erönte feine lange diplomatifche Laufbahn durch die meifterhafte Weife, wie er, ohne feinen König durch offenbare Seindfeligkeiten gegen feinen Schwager zu betrüben, durch Unter- handlungen die ganze Ehre in dieſen Handeln für Frankreich zu gewinnen und die ganze Schmach auf den Kaifer zu werfen ver= ſtand. Er gewann bei der Gelegenheit die Freundfchaft der Hol- länder für Frankreich, entzweite fie tödtlich mit Defterreich und trennte fie von England. Die Franzofen, welche ſchon in jener Zeit ihre Königin mit unbegreiflichem Haſſe verfolgten, fchrieen freilich damals und auch fpäter, daß es gegen die Ehre der Na— tion ei, daß man durch Geldzahlung und nicht durch die Waffen den politifchen Zweck erreicht Habez aber Sofeph ward mehr da= durch beichimpft, daß er das Geld annahm, als Franfreich da— durch, daß es ihm Tieber Geld zahlte als Krieg anfing. Wäre die Behauptung des: Gefchichtfchreibers dev franzöſiſchen diploma— tifchen Unterhandlungen zuverläffiger und begründeter, als fie uns zu fein fcheint, fo verdiente Vergennes noch weit mehr. Lob als wir ihm ertheilt Haben, Wenn Flaffan Recht Hätte, verdiente Joſeph auch nicht den Vorwurf eines übereilten Vorwärtsſchreitens und eines zaghaften Zurücweichens, welcher ihm damals alfge- mein gemacht wurde. Flaffan berichtet namlich, Sofeph habe nur . darum nachgegeben, den Feindfeligfeiten Einhalt gethan und die Bermittelung der Franzofen angenommen, weil Vergennes feinen König bewogen habe, über diefe Angelegenheit, ehe fie noch an Geſandte übertragen werde, in unmittelbare Gorrefpondenz mit Joſeph zu treten.) Aus dem Tone der eigenhändigen Briefe

8) Flassan, histoire de la diplomatie frangaise, Vol. VII, berichtet auerft pag. 400 im Text: Mr. de Vergennes remit au zoi un premier

414 | Kaiſer Joſeph IL Bis 1787.

des Königs habe fich der Katfer überzeugt, daß ſich Ludwig per ſönlich der Sache annehme, und daß feine Gemahlin ihn nicht umftimmen könne und werde. Flaſſan entſchuldigt zugleich den Minifter mit Gründen, die uns gut und treffend feheinen gegen den Vorwurf, den man ihm darüber machte, daß er aus der franzöftichen Staatsfaffe die Heine Summe für den Katfer zahlen lieg, welche die Holländer nicht zahlen wollten. "Die Holländer verließen ſich auf Sranfreich, als fie fich weigerten, mehr zu zah— len als fie geboten hatten, und Vergennes wollte Tteber Gel —* ſie ausgeben als für ſie ins Feld ziehen.

Nachdem Ludwig XVI. zuerſt dem Kaiſer energiſch zu ver— ſtehen gegeben hatte, daß er nie zugeben werde, daß das Recht des Starken gegen die ſchwachen Holländer in Rückſicht auf Trac— tate ausgeübt werde, die im der erſten Hälfte des ächtzehnten Jahrhunderts mit Frankreichs Beiſtand von Defterreich erpreßt worden, Fam hernach die Sache ans Kabinet und an die Bevoll— mächtigten. Am 17. Nov. 1784 ward dem Katfer durch eine jehr kräftig und beſtimmt abgefaßte dringende, oder vielmehr höf— lich drohende Note die Vermittelung Frankreichs im Scheldeſtreit angeboten; erſt am 24. Januar 1785 nahm der Kaiſer dieſe Vermittelung, oder mit andern Worten die Entſcheidung Frank⸗ reichs an. Auch nachdem Joſeph ſich gefügt hatte und nach und nach den wichtigſten Punkten, der Freiheit der Schifffahrt auf der Schelde und der Erwerbung eines bedeutenden Landſtrichs oder befeſtigter Oerter entſagt hatte, erſchwerte er durch ſeinen Eigen— ſinn und durch kleinliche Geldforderung, die Holländer durch den Geh, womit fie über den Betrag der yon ihnen zu *

mémoire le 14. Octobre 1784, Il y établissoit l’interet de plus dun genre, que la France avoit & la contestation presente; exposant en

möme tems les dangers auxquels pourroit entrainer une r&solution trop precipitee à l’ögard de Pempereur, avec lequel il engageoit le roi d’ouvrir une correspondance directe pour le disposer ä la paix. Dazu fügt er pag. 401 die Note: Cette correspondance eut lien en effet; et c’est aux explications qu’elle amena insensiblement, que l’on .doit l’accommodement auquel l’empereur se preta, mais apres avoir mani- fest& I’humeur la plus aigre, piqu& de ce que le roi, qu'il croyait do- ininer par le er&dit de la reine, n'avait &cout6 en * que Tavis ds son. conseil, |

Katfer Joſeph I. bis 1787. 415

Summe feilfchten und bald mehr bieten, bald weniger geben woll⸗ ten, den Franzoſen das Gefchäft der Friedensftiftung. Die Hol- länder und der Katfer nämlich handelten von Februar bis Sep— tember über die Summe, welche die Erſten dem Lektern als Ent- ſchädigung zahlen follten, damit es wenigſtens den Anfchein Habe, als wenn er einige Genugthuung für eine thätliche Beleidigung erhalten habe.

Der Kaiſer forderte anfangs fünfzehn Millionen Gulden und die Holländer Hatten die Unverfchämtheit, ihm darauf drei Millimen zu bieten. Hernach ward Monate lang über eine zu zahlende Summe wie über eine Waare in Wien und DVerfailles gehandelt, bis endlich der Katfer auf neun und eine halbe Mil- lion herabgehandelt ward. Diefe Summe forderte Joſeph für fich, außerdem noch eine halbe Million für feine Unterthanen, welche durch die Holländer gelitten hatten, Auch dabei zeigte fich die öſterreichiſche Politik kleinlich; denn, jo wenig es dem Kaiſer Ernft war, erklärte doch Graf Mercy, wenn die Holländer nicht bis zum 22. Sept: filh zur Zahlung diefer Summe erböten, ſo werde der Krieg (alſo nicht um Ehre, ſondern um ein paar Millionen) beginnen. Da die Handelsleute ſahen, daß die Sache eine Angelegenheit Frankreichs geworden ſei, ſo boten ſie auch von dieſer Summe nur die Hälfte, und Frankreich fand am Ende vortheilhafter, die andere Hälfte zuzulegen, als ungeheure Kriegs⸗ koſten zu tragen und alle europäiſchen Mächte in Bewegung zu bringen.

Exit am 8. November ward übrigens zu Fontainebleau der Ausſöhnungstraktat abgefchloffen. Vermöge des erſten Artikels dieſes Traktats blieb die Schelde verſchloſſen und die Holländer behielten Maftrichtz dagegen verſprachen dieſe, die Forts Lillo und Liefkenshoek befeſtigt, wie ſie waren, Fort Friedrich Heinrich und Kruitſchanz aber geſchleift dem Kaiſer übergeben zu laſſen. Sie verſprachen außerdem zehn Millionen Gulden zu zahlen, wo— von Frankreich, um die Ausſöhnung zu beſchleunigen, die Hälfte übernahm, Dohm rechnet, daß allein die Unkoſten, die der Kai— jer gleich anfangs gehabt habe, als ex über die damals eigentlich ganz wehrlefe Republik eine Bedrängung verhängte, welche alle Mächte und feine eignen Provinzen gegen jede Verbeſſerung die

416 Katfer Iofeph IL bis 1787.

er vornehmen wollte, argwöhniſch machte und mit feiner Befchä- mung endigte, über fünf Millionen Gulden betragen hätten; doch icheint e8 ung, ald wenn er das Einzelne etwas zu hoch anrechne,

Die vranifche Partei in den Niederlanden konnte und durfte, als England in diefer Sache nichts für die fieben Propinzen that, Frankreich aber handelte und zahlte, nicht weiter hindern, daß die patriotijche und ariftofratifche Partei ihre Abficht, eine nähere Berbindung mit Frankreich einzugehen, durchfete. Die Republif riß fich von England ab, Schloß einen Defenfiotraftat mit Frank: veich und johten dadurch das ganze feit 1672 beftandene Verhält- niß der Seemächte zu einander und zu Frankreich zu Andern, Das erite politifche Meiſterſtück Pitts, dev feit feiner IndiasBill Regent des Königs und des Reichs war, beitand darin, daß er die Franzoſen um den Vortheil ihrer Freundfchaft mit Holland zu bringen und den Bund zu zerreifen wußte. Die unter dem Text angeführte Stelle aus Flaffans Geſchichte der franzöſiſchen diplomatischen Verhandlungen mag zeigen, wie meifterhaft ‚Pitt die holländiſche Revolution benußte, um Englands Bortheil * preußiſche Bajonette zu erreichen, )

4) Es Heißt Vol. VIL pag. 409: L’alliance entre la France et les Provinces-Unies &toit un coup de force politique, et Fon n’avoit pu y arriver que par une grande suite de combinaisons adroites, à la faveur desquelles on rompait l’intimit& de la Hollande et de l’Angleterre et l’on privait le stathouder d’une prepond&rance dont il: usait trop fré— quemment en faveur de la cour de Londres. Ce brillant succés fut principalement au duc de la Vauguyon, qui dans le cours de son am- bassade de Hollande s’etoit oceupe A detacher les Provinces-Unies de V’Angleterre et à les rapprocher de la France dans la vue essentielle de combiner les marines frangaise, espagnole et hollandaise pour de- truire ou du moins balancer la supremacie maritime de l’Angleterre. Les consequences de ce trait6 furent profondement senties à Londres. En effet elles &taient telles, qu’ aux approches d’une guerre maritime la cour de Versailles, en vue de garantir son alli6, et par une suite de ses engagemens pouvoit envoyer au cap de Bonne Esperance et ä Trinquemale des forces respectables qui eussent decide sa vvpen dans cette partie du monde etc. etc, ä

Belgien bis 1788, 417

$ 2.

Borfpiele der großen franzöfifhen Staatsumwälzung. Innere politifhe Streitigkeiten und Kämpfe in Belgien, Holland und Frankreich bis zum Jahre 1788,

a. Belgien.

Mährend fich der Kaiſer auf der einen Seite in einen für ihn ſehr nachtheiligen Streit mit Holland und Franfreich zu Gun— ften der Belgier einließ, gerieth er auf der andern mit der Ari— ftofratte und Hierarchie der Belgier in einen Streit, der mit einem fürmlichen Aufftande feiner Niederländer endigte. Diefer Aufftand in den, öfterreichtfchen Niederlanden Hatte gleich den Unruhen in Holland feinen Grund darin, daß die verwicelte Staatsverfaffung und Regierung der ſämmtlichen Niederlande fett dem jechzehnten Sahrhundert nie im Geringften verändert war, daß fie daher auch den Bedürfniſſen der Zeit durchaus nicht mehr entſprach. In den proteftantifchen und in den Eatholifchen Niederlanden füllte und mußte veformirt werden; die Reform follte in beiden gewaltſam, in dem erften aber nad) vepublifanifcher, in dem andern nad monarchifcher Weife durchgefett werden.

Die an fich unbedeutenden belgifchen und Hollandifchen Un— ruhen find ung hier als Vorſpiel dev Bewegungen in Frankreich merkwürdig, auch waren dabei in Holland ganz bejonders Fran— zofen und unter ihnen vorzugsweife Mirabeau tätig. Außerdem müffen wir des Aufftandes in Belgien auch aus dem Grunde gedenken, weil bei der Gelegenheit aller Welt offenbar ward, daß Joſeph unvorfichtig und thoricht verfahre, wenn er alle die ver— fehiedenen Völkerſtämme, welche er zu Unterthanen habe, ohne fie zu Rath zu ziehen, autofratifch durch unzählbare aus dem Kabinet erlaffene, nur auf dem Papiere ausführbare Gefete und Ver— ordnungen reformire,

Sofeph wollte offenbar das Regierungsſyſtem Türgots ein— führen, ex wollte die Verwaltung der Staatspolizei und der. Fi— nanzen In feinen Staaten überhaupt und in Belgien insbeſondere in der Art einvichten, wie hernach Dupont de Nemours als Herausgeber son Türgots Schriften deſſen einzefne Winfe zur

Schlofſer, Geſch. d+ 18: m 19, Jahrh, IV. Thl, 4. Auft. 297

418 Belgien. bis 1788,

einem Ganzen verbunden Hat. Dabei wollte er das monarchiſche Prinzip ſtreng aufrecht halten. Auf welche Weife der unermüd— lich thätige und unglaublich arbeitiame Katjer dies auszuführen verſuchte, kann man aus dem zweiten Theile von Groß Hoffingers Biographie deſſelben Ternen, wo alles Einzelne aufgezählt wird. Wir wollen in der Note nur Furz und fummarifch die Gegen- ftände, auf welche fich Joſephs Thätigkeit erſtreckte, anführen und den. Lefern, überlaffen, das Nähere in dem angeführten Buche nachzulejen.>)-

5) Was in der erſten Ausgabe diefes 18; Jahrhunderts 1 S. 333 aus Pezzl angeführt if, bezieht ſich eigentlich nur. auf das, Religionsweſen, es ſcheint daher paſſender, den Inhalt des zweiten Theils von Groß Hoffingers Lebens⸗ und Regierungsgeſchichte anzugeben und es dem Leſer zu überlaſſen, das Einzelne in dieſem Buche ſelbſt aufzuſuchen. Die ganze erſte Abthellung dieſes Bandes Handelt ausſchlleßend von Reformen in Religionsſachen. Im dritten Kapitel findet man. die Schritte gegen Rom; im vierten wird bie Reform des Prieſterſtandes, die Umgeflaltung des Mönchweſens und die Erz richtung, von Anftalten zur, beffern Bildung des Prieſterſtandes bexichtet. In den folgenden Kapiteln findet man die neue Regulirung des Gottesdienſtes, die Aufzählung der abgeſchafften ſchädlichen Gebräuche, die Befhränkung des Ablaß handels Abſchaffung der Brüderſchaften und Einrichtung eines eigent⸗ lichen Rellglonsunterrichts. Im fechsten Kapitel find die neuen, Verfügungen: über. Chen. und, Begräbniffe und im fiebenten die Toleranzgefebe zu finden. Im zweiten, Abſchnitt wird berichtet yon der, Einrichtung der Volks- und, Normalfigulen, von den allgemeinen Anftalten zur Verbefferung des Volls— ainterrishts, von den Oymnafien und ausführlid von der Cenſur. Im dritten Abfeänift. findet man alle Einrichtungen, welde die Unterthanenverhältntife betreffen. Dahin gehören. die Vorfehrtfien für Beſchwerden, die Geſetze gegem den Wucher, die Abſchaffung ſchädlicher Gebräuche, die Nobotabolition, bie, Verordnungen, die jih auf Aufhebung. der Leibeigenfhaft beziehen; die, Steuergeſetze. Dann folgt ein Abſchnitt über das Juſtizweſen. Zuerſt gift. es Joſephs Civilgeſetzgebung. Es wird ferner der Criminalgeſetze, hernach der neuen Einrichtung des Unterrichts über Rechtspflege, der Gerichtsorbnung und der Juſtizverfaſſung überhaupt gedacht, dann beſonders der Reform der Stadt⸗ räthe, der Beamten, der ſogenannten Landtafel, der Ordnung der Gerichtslo⸗ ſten, Erbfolgeverordnungen, Pupillenſachen u. ſ. w. erwähnt. Dann folgt ein Abſchnitt von neuen Polizei- und Humanitätsanſtalten. Im ſechsten findet man einzeln angeführt, was für Handel und Induſtrie, Landeskultur, Viehzucht geſchah. Mauthweſen, Straßenbau u. ſ. w. Der ſiebente Abſchnitt begreift die Cameralgegenſtände, Münze, Berg⸗, Jagd⸗, Forſt⸗, Poſtweſen. Judengeſetze, Penſtonen, Stempelpapier, Abzugsgeld, Fiſcusangelegenheiten. Darauf folgt

©

F

Belgten bis‘ 1788, 419

Geht man die einzelnen Provinzen des Reichs in Beziehung auf Ausführbarfett der unten bezeichneten Pläne Joſephs durch, ſo hatten die Böhmen dem wefentlichften Theil ihrer National- rechte längſt verloren, die Poſtulaten⸗ Landtage anderer Provinzen fonnten auf die Dauer einen Widerftand gegen einen Regenten feiften,. welcher Verwaltung und Negierung durch feine Beamter leitete und durch Polizei und Militär unterftügtez nur in Ungarn und Belgien war dies anders‘, in diefen Ländern war daher ein MWiderftand ohne Nebellton möglich, Die Verwaltung, die Ges ſetzgebung, die Gerichtsverwaltung. tw allen Inſtanzen war in beiden Provinzen nicht öſterreichiſch, ſondern ganz national und ward im Lande von Eingebornen in ihrer Sprache verwaltet, Joſeph Hatte in Belgien nicht blos gleich bei feinem Regierungs— antritt alfe überlieferten und beftehenden Privilegien, Herfommen, Gebräuche, Geſetze, Verbriefungen der einzelnen Stäbte, Graf— fchaften, Herzogthümer und Corporationen beftätigt, fondern er “hatte auch die höchſt merkwürdige Urkunde der Freiheitsbriefe der Herzogthümer Brabant und Limburg über die Nechte der Unter- thanen und die Pflichten der, Regeutenb6) öffentlich beſchworen. In dieſen Provinzen war die Gefeßgebung ganz den Deputirter überlaffen, welche von den drei: fogenannten Ständen, der Geiſt— Vichkeit, dem Adel, den Städten erwählt: wurden. Diefelden Stände entjchteden nicht: blos über die Erhebung, Verwendung, Verthei— fung der Steuern und Auflagen, fondern festen auch einen Auge ſchuß nieder, der zwiſchen der Zeit der Situngen der Stände an der Regierung förmlich Antheil nahm. Jede Provinz, jede Stadt, ja man. möchte faſt fagen jeder Flecken und jedes‘ Dorf! Hatte eine eigne Ginrichtung und Verwaltung, die oft von denen: des benachbarten Orts ganz verfchleden waren, Jede Prosinzialre- gterung beſtand, wie die Landesregierung in Brüſſel, nur aus Landeseingebornen, außer daß dte allgemeine Landesregierung in Brüſſel einen Faiferlichen Minifter zum Brafidenten hatte, Sogar

ein. Abſchnitt über, Milttärwefen u. ſ. w. Man: ficht blos aus ver Aufzäh— Yung, daß Joſeph mehr leiſten wollte, als die ganze franzöfifche conſtituirende Verſammlung leiſten konnte. 6) Dies iſt die ſogenannte Joyeuse entrde, die man in Meiners und Spilllers hiſtor. Magazin tim 1, Bande ©, 724 leſen kann. 27*

420 Belgten bis 1788.

die Repräfentation der monarchifchen unabhängigen Regierung und eines Hofes fehlte in Brüffel nicht. Ein Statthalter oder eine Statthalterin, gewöhnlich fürftlichen Geblüts, unter Joſeph feit Sanuar 1781 feine mit dem Herzoge von Sachſen-Teſchen ver— mählte Schwefter Marie Chriftine, hielten in Brüffel einen glän— zenden Hof, bei dem fremde Gefandte, wie bei andern regierenden Herren, beglaubigt waren. Auch die Hierarchie der Gerichte, wie die Landesregierung, waren von ber Juſtiz der andern Erblande unabhängig. Jedes Tribunal entjchied nach Localgefegen und nach ganz verſchiedenen Herkommen. Es war ein anerkannter Grund- fat, daß niemand vor ein anderes Gericht geftellt werden könne, als vor das ihm oder feinen Voreltern durch Geſetz und Her— fommen beftimmte,

Nach der Heftehenden Verfaſſung des Landes fiel die größte Macht und der ftärffte Einfluß aus vielen Urfachen der Getftlich- feit zu, und gerade diefe wollte Joſeph zunächt reformiren. Der Einfluß der Hierarchie war nicht blos geiftlicher Art, er beruhte nicht blos auf Aberglauben und Fetiſchismus der Menge, unter halten durch tauſende von Mönchen, Biſchöfen, Aebten, Geiftlichen aller Art, fondern das Grundeigenthum war auch größtentheils in geiftlichen Händen, Es waren in Belgien wie damals in Deutfchland und noch jest in England die älteren Söhne der großen Familien mächtig durch das Erbe des Vaters, die jünge— xen aber reich durch Pfründen, Abteien, Bisthümer; fie bildeten das erite Sollegtum der Stände, Belgien war damals, wie Spa= nien und Neapel, das Paradies der Geiftlichfeitz denn man zählte in diefem Lande neben einem Erzbiſchofe und fieben Bifchofen hundert und fieben Aebte, deren jeder Ginzelne von fechzig bis dreimalfunderttaufend Gulden Einkünfte Hatte. Die Univerfität Löwen, wo alle Belgier, welche geiftliche oder weltliche Aem— ter befleideten, gebildet wurden, war dem Erzbiſchofe von Mecheln untergeordnet und ward ganz von Exjeſuiten geleitet, Jeſuitiſcher Unterricht war alfo einzige Quelle aller belgiſchen Einfichten in Staats- und Kirchenangelegenheiten. In Löwen wurden ganz im Geifte des Mittelalters alle die Kechtsgelehrten gebildet, die in den drei höchſten Tribunalen Belgiens, dem Ge— richte von Geldern, dem großen Rathe von Brabant, dem Rathe

Belgien bis 1788. 421

von Mecheln in höchſter Inſtanz entſchieden. Diefe fogenannten fouveränen Gerichtshöfe entfchteden nicht allein, wie unfer Reichs— fammergericht, unfer Reichshofrath und die franzöfifchen Parla— mente ganz unabhängig vom Regenten oder von einer höhern Inftanz in Rechtsfachen, fondern fie genoffen auch verfaſſungs— mäßig der polittfchen Rechte, welche die franzofifchen Parlamente zwar in Anfpruch nahmen, die ihnen aber son der Regierung nicht eingeräumt wurden. Die Verordnungen der Regierung hat— ten nämlich nur dann Gültigkeit, wenn fie yon diefen Gerichten, den Stüßen und Aufrechthaltern. jedes Schlendriang, vorher ge= prüft waren. | |

Da man auch noch heutigen Tags, nach zwei Revolutionen, nach der Bereinigung mit Frankreich zur Schreckenszeit, nach Bo— napartes Regierung und nach der Vereinigung mit Holland in gewiffen Gegenden Belgiens den Aberglauben, das Geremonien= wejen, die Prozefitonen und Wallfahrten völlig wie in Spanten und Italien aufrecht Halt, fo denkt man fich Teicht, mie es dort zu Joſephs Zeiten ausfehen mochte. Es war ja fett dem fechzehn- ten Jahrhundert auch nie ein einziger Lichtftrahl in das von Mön— chen und Jeſuiten unterhaltene Cimmeriſche Dunkel des Unterrichts der gelehrten Schulen gefallen. Sofeph hatte das DVerfehen be= gangen, daß er in demjelben Augenblick, als er auf durchgreifende Reformen in Belgien dachte, den ganz unfähigen Fürften son Stahremberg feiner Schwefter und ihrem Gemahl, die blog reprä= jentiven follten, als Minifter zur Führung der Gefchäfte zur Seite gegeben Hatte. Diefer war nichts als ein großer Herr, d. h. ex that nichts und mußte nichts, als Vornehmthun, fondern überließ Alles dem Intriguanten Grumpipen, der hernach neben dem Ad— vokaten van der Noot und dem Abt von Tongerloo Haupt der hterarhifch-ariftofratifchen Gonfpiratton ward. Diefer Grumpipen | war der Sohn eines Kammerdieners des Visconti, welcher durch Joſeph Erzbiſchof von Mailand ward, und Hatte feine Laufbahn als deſſen Serretär in Neapel begonnen. Da diefer Mann die Seele der Landesregierung in Brüffel war, jo begreift mar leicht, warum diefe, Statt wie fie follte, die kaiſerliche Reformation zu fordern, ihr Hinderniffe in den Weg legte, ohme daß der gute Stahremberg wußte, wohin die Verordnungen zielten, die er jelbit machte.

422 Belgien bis 1788.

Der Kaifer Schritt indeffen in Belgien ebenfo raſch vorwärts als in andern Provinzen. Er nahm durchaus Feine Rückſicht auf den Einfluß der Geiftlichfeit, der Univerſität Löwen, des Cardi— nals und Erzbiſchofs won Mecheln (Frankenberg), des in Belgien refidivenden päpftlichen Nuntius und dev Exjeſuiten, ſondern for— derte fchon in den Jahren 1781 und 1782, daß feine Verord- nungen in Religionsfachen, ohne Rückſicht auf die hergebrachten Formen, auch in Belgien ausgeführt werden ſollten. Wie wenig die. belgischen Theologen und Juriften geneigt waren, im Gering- ften der Negierung nachzugeben, zeigte fich gleich im Novem— ber 1781, als Joſephs Toleranzediet in Belgten auch, nicht einmal befannt gemacht werden durfte, Die Univerfität Löwen bewies gleich bei diefer Gelegenheit, in welchem Geiſte fie die Jugend unterrichte. Sie ließ verfündigen, daß jede Toleranz den Grund» fäßen der heiligen römiſchen Kirche entgegen fer, weil nach dem Glauben derjelben alle Reber ewig verdammt feien. Sofeph beftand aber auf jeinem Opuveränetätsrechte, wie er ed nannte, und ver fuhr im Namen der unveräußerlichen Menfchenvechte gewaltfam, wie Dies hernach auch die Männer der Schreckenszeit thaten, welche fich ebenfalls darauf beriefen. Diefe Republikaner ſowohl als Joſeph Hielten das Volk für unmündig, weil es von Vorur— theilen deipotifch beherricht werde und Handelten daher als eigens mächtig beftellte Bormünder deilelben in deſſen Namen. Der Kai- fer verordnete (1783) Einziehung vieler Mlöfterz er erklärte jede Berufung auf den Bapft für vollig umftatthaftz er änderte die Formel der, Immatrikulation: auf dem Univerfitäten, weil fie, im Geiſte der Hierarshie abgefaßt, den Rechten des Negenten entge— gen jet und nahm den Bifchöfen das Recht, in geiftlichen "Ange legenheiten unabhängig zu ſchalten. Er forderte Rechenfchaft über die Eide, welche die Bilchofe son den Seminariften, von den GSeiftlichen, denen fie Weihen ertheilten, von den Seelforgern zu fordern pflegten, und verordnete, daß bifchöfliche Hirtenbriefe, ehe fie befannt gemacht werden Fünnten, den weltlichen Behörden vorgelegt werden jolltenz auch nahm er ihnen die Enticheidung in Ehefachen.

In Religionsangelegenheiten und in allem demjenigen, was fich auf Bildung und Unterricht dev Jugend bezog, war Sofeph

Belgien 618 1788, 193

aus einem Grunde, der feinem Verftande und feinem Herzen auf gleiche Weiſe Ehre macht, durchaus unerbittlich, Verbeſſe— rungen, die ſich darauf bezogen, wollte er gewaltſam durchſetzen; andere: Reformen follte die Landesregierung nach und nach ein— führen. Weniger hartnäckig beſtand er auf feinem Willen Yet der neuen Anordnung des Gerichtsweſens. Er verkündigte näm— lich in diefer Beziehung im Jahre 1785 den Niederländern durch ein Ausichreiben, daß er auf die Vorſtellung feines Statthalters der Niederlande alles, was die Errichtung der von ihm neu be— ftellten Gerichtöhnfe in Flandern, Dornick, Namur und Geldern angehe, fo lange aufgeſchoben Habe, bis die Gemüther über dieſen wichtigen Gegenftand beffer beruhigt ſeien. Er verordnete zugleich, daß die Obrigfeiten dev Städte, wie bie der verſchiedenen Gerichts— ſprengel und des platten Landes, überhaupt alle Juſtiz⸗ und Po- Vizetbeamte in den genannten Provinzen ihre Amtsverrichtungen, welche auf feinen Befehl eingeftellt waren, wieder antreten ſollten. Dadurch ward der damals wegen der Gerichtsverfaffung drohende offne Ausbruch der Unruhen gehindert; es Fam aber bald uber die geiftfichen Dinge zu Argerm Zwiſt. In diefen geiftlichen Dingen ſchritt nämlich der Katfer unaufhaltfam fort und nahm gerade tm Jahre 1786 eine ganz entjchtedene Maßregel gegen Mönchsgeiſt, Aberglauben und Hierarchie:

Der Kaifer Fannte den Lärm, den Mönche und Pfaffen im Beichtſtuhle amd auf den Kanzeln gegen ihn erhoben, er Fannte die Verlaͤumdungen, welche die Ins Innere aller Familien zuge laſſenen frommen Heuchler verbreiteten und die Wirfung jeſuiti— fcher Künftez er war daher überzeugt, daß er ohne Reform der Untverfttät Löwen niemals einen befferen VBolfsunterricht in Schulen und auf den Kanzeln Hoffen dürfe. Aus diefem Gründe verlangte er, daß in Löwen ein Generalſeminarium, wie in feinen andern Staaten, eingerichtet werden folle. Dieſe Generalfeminarien Jo⸗ ſephs ſtanden unter Aufſicht des Staats, dev Sinn der Verord— nung war daher, die ſämmtliche Geiftlichfeit der Niederlande ſolle nicht mehr, wie 518 dahin, unter der Aufſicht des Erzbiſchofs, feiner Erjeſuiten und des Nuntius, ſondern durch die von ber Regierung angeftellten Lehrer und unter Aufſicht der Regierung gebildet werdem Wie es mit diefem Generalſeminarium ſollte

424 Belgien bis 1788.

gehalten werben, wird man aus bem in der Note?) mitgetheilten Schluffe des Faiferlichen Edicts jehen. In der Einleitung diefes Edicts wird die Nothwendigkeit dev Mafregel ganz vortrefflich aus dem Weſen der Religion und aus dev Nothwendigfeit, ihren ſchon drohenden gänzlichen Verfall durch eine befjere Lehrmethode zu verhindern, hergeleitet, Das ganze Ediet, beſonders aber die Darlegung der Gründe und die Darftellung der durch die Zeit erforderlich gewordenen Beichaffenheit. einer neuen Lehrmethode, welche ftatt der ganz veralteten der Univerfität Lumen eingeführt werden follte, tft. mehr eine Belehrung als eine Verordnung zu nennen. Gerade deshalb fand es aber heftigen AWiderftand; denn, wer mit Gründen gegen. ein hartnäckiges Vorurtheil kämpft, der wälzt den Stein des. Siſiphus.

Geftehen muß man übrigens, daß das nach dem Muſter der übrigen neuen Seminarien eingerichtete Generalſeminarium zu Löwen Vieles zu wünſchen übrig ließ; das war es aber nicht, was die an Mechanismus und abergläubiſchen Ceremonien kle— benden, oder nur an Gedächtnißwerk gewohnten belgiſchen Geiſt— lichen erſchreckte. Die Aufgabe, ſich fünf Jahre lang mit wiſſen— ſchaftlichen theologiſchen Studien zu beſchäftigen, ehe ſie Amt und Pfründen und Wohlleben erlangen könnten, ſchien den ſämmtlichen Geiſtlichen und ihren Obern eine ſchreiende Ungerechtigkeit, ſie ſchrien daher überall aus, der Kaiſer habe die Abſicht, die Religion zu zerſtören. Die neuen Lehrer wurden gleich dem Kaiſer Feinde der Religion geſcholten, weil die Erſtern vom blind papiſtiſchen

7) Sowohl die theologiſchen Schüler vom weltlichen Clerus unferer bel; giſchen Prosingen, fo lautet diefer Schluß, als aud) diejenigen, die nachher in einen Möndsorben treten wollen, werden mit dem erſten Wintermonat 1786 entweder in das Generalſeminarium, welches ‚wir in Löwen errichtet haben, oder in das Filtalfeminartum nach Luremburg fi begeben. Was bie Theologen der Ordensgetftlichkett betrifft, fo müffen alle, Luremburger ausges nommen, nad Löwen geſchickt merden, um dort in den öffentlichen Vorleſun⸗ gen auf der Untverfität ihren Curſus zu vollenden. Die Luremburger aber verfügen ſich nah Luremburg, um dort die Vorlefungen der daſelbſt ange- ftellten PBrofefforen anzuhören. Die Ordensobern haben demnach freie Willkür, ihre Religioſen, welche nad Löwen oder Luremburg geſchickt werden müſſen, in einem Kloſter oder Convent ihres Ordens, oder auch in jedem andern Haufe während ihres wiſſenſchaftlichen Aufenthalts zu verſorgen.

Belgien bis 1788, 425

Kirchenrecht und von jefuttifcher Religion und Moral abwichen, und der Andere die vielen Walfahrten und Prozeſſionen verbo— ten und auf zwei in jedem Jahre beſchränkt Hatte, Dies war nach jefuitifchem Grundſatz Hinreichender Grund, dem Nuntiug, das hieß bei ihnen Gott, mehr zu gehorchen als der weltlichen Obrigkeit.

Die in dem Generalſeminariumsgebäude von Löwen wie in einer geiſtlichen Caſerne vereinigten Studenten wurden daher heim— lich aufgewiegelt. Dieſe rohen Muſenſöhne der guten alten Zeit, die man unter uns durch Landsmannſchaften conſervirt, beklagten ſich über heterodoxe Lehre, alſo über eine Sache, die ihre Seelen anging, zugleich aber über eine Angelegenheit, die ihr wahres Selbft, d. h. den Leib betraf, nämlich über fehlechtes Brod und Bier und erregten darüber am 6. Dezember 1786 einen förmli— chen Aufftand, Unter den Studenten waren die Söhne der erften Familien des Landes, der Mitglieder der Stände, der ſouveränen Ge— richte und der Regierungen der Provinzen, fie wurden insgeheim Yon der mit der Studienveränderung unzufriednen Landesregierung, vom Nuntius und dem Erzbiſchofe unterftüßt. Weil der Katfer wußte, welches Bewandtniß es mit dem Aufftande Habe, erbitterte er ihn ganz anders als ‚ein gewöhnlicher Studenten= oder Handwerfsburfchen- tumult würde gethan haben. Die Studenten fteinigten bei der Gelegenheit den: Profeſſor Stögler, fie widerſetzten fich dem Faifer- lichen Commiſſar Te Clere mit gewaffneter Hand, Statt: jugend= liche Unbefonnenheit diſeiplinariſch zu ftrafen, erſchrak die Re— gierung jo fehr, daß fie Soldaten marfchiven ließ, welche auf die thörichten jungen Leute, die man leicht hätte einschließen können, ernftlich Feuerten. Dadurch ward das ganze Land, befonders die Eltern und Verwandten der nach ihrer Meinung um des Glau— bens willen verwundeten jungen Leute vollends erbittert, und zwar um jo mehr, als die Landesregierung, nachdem zuerft ganz militärifch verfahren war, nachher auf eine jehr ſchwache Weife mit fich un— terhandeln ließ.

Man hatte fünf und zwanzig Studirende als Empörer ver— haftet, man hatte das ganze Generalfeminartum unter eine Art milttärifcher Difeiplin geftellt, unmittelbar nachher trat man aber mit den Urhebern des ganzen Lärms in friedliche Unterhandlung,

426 Belgien bis 1788.

als wenn man es mit einer fremden Macht zu thin Hätte, Der Kaiſer glaubte ſich alfo von feiner eignen Landesregierung in Brüffel verrathen, und er war es in der That, wenn man an Stah— remberg und feinen treulofen Grumpipen denkt. Die Regierung son Brüffel nahm fogar eine Vorftellung der Studenten an, wo— vin die unverfchämteften Forderungen gethan wurden und gab denfelben zum Theil Gehör. Ste fteflte nämlich das ſtrenge Verfahren gänzlich ein und verfuchte, nachdem fie mit Bajonetten und Flintenfugeln angefangen hatte, durch Gründe und Ermah— nungen auf Leute zu wirken, die weder Verſtand noch guten Willen hatten und daher nothwendig in der auf Gewalt folgenden Nachficht und Milde nur Schwäche und Furcht fehen mußten. Aus den Forderungen, welche die Seminariften in diefer Vorſtel⸗ fung an die Negierung richten, geht klar hervor, daß fie durch ihre Entfernung und Zerſtreuung die Aufpebung dev ganzen neiten geiftlichen Einrichtung zu erzwingen gedachten, Es ftand in der That, wie die Studenten gedroht hatten, am Ende des Jahrs 1786 das Seminarium faft ganz verlaffen da,

Die Nachricht von den Unruhen und von dem ſchwachen Benehmen feiner ntederländifchen Behörden führte den Kater aufs neue auf den Sat, den er unglücklicherweife nur zu ſehr ſiets vor Augen hatte, daß er fi auf Niemand verlaffen könne als auf fich felbft. Er nahm daher auch dies Mal feine Maßregeln nach feinen perfönlichen Anfichten, ſuchte dem Uebel abzuhelfen, fannte aber die eigentliche Duelle nicht, fondern gebrauchte denfel- ben durchtriebenen Grumpipen, der Stahremberg irre Teitete, zu ſeinen Zwecken. Joſeph ließ zunächſt den Erzbiſchof von Mecheln zu ſich nach Wien kommen, und gab ſich die lächerliche Mühe, zu verſuchen, dieſen Mann, der nicht belehrt ſein wollte, zu be— lehrenz den Nuntius dagegen jagte er fort. Dieſer Nuntius, Zondadarie, war bis dahin Haupt und Quelle alles Widerſtandes gegen jede Verbeſſerung des Unterrichts geweſen und ſcheute ſich nicht, trotz des Verbotes, das der Kaiſer erlaſſen hatte, die Bulle, durch welche Pins VI Eybels von Joſeph gebilfigte Schrift: Was tft der Papſt? verdammt Hatte, in Belgien bekannt zu machen. Der Katfer war aber verrathen und verkauft, er mochte machen was er wollte; der heuchelnde Verbündete der im Finftern

Belgien bis 1788, 49%

fchleichenden Pfaffen, Crumpipen, war überall und verrieth ihn unter allen Formen,

Der Kaifer nämlich, der felbft von fechs Uhr Morgens bis ſpät in die Nacht mit feinen Cabinetsſecretärs arbeitete, vief zwar den trägen Stahrenberg, der zu Gefchäften zu vornehm war, aus Brüffel ab; aber Stahrembergs Seele und Rathgeber, Crumpi— pen, wußte fich zu behaupten. Gin wackerer Mann, der Graf Belgiofo, ward Mintfter, der Baron yon Neuß Prafident, aber Grumpipen blieb in Thätigkeit und ward fogar, als ſpäter auch Belgiofo und der Baron von Neuß wieder entfernt wurden, Haupt- perfon im der ganzen Verwaltung. Es ward nämlich nach der beiden Männer Entfernung ein Toniglicher Nath zur Ausführung der Fatferlichen Abfichten errichtet und Grumpipen an deſſen Spitze geſtellt. Diefer brachte feinen pfäaffifchen Anhang und feine Ver— wandten in die vorzüglichiten Stellen und diente zu einer und derjelben Zeit dem Kaiſer und den Gegnern und Feinden der kai— jerlichen Maßregeln. Der Kaiſer überfchritt bei der Gelegenheit durch Strenge die Schranken politifcher Klugheit, wie fie die bel- giiche Regierung durch übertriebene Nachgtebigkett und Milde über- jehritten hatte, Er war überzeugt, daß die aus dem Mittelalter ſtammenden ariftofratifchen und hierarchiſchen Einrichtungen mit feiner wohlthätigen Abſicht und mit dem Bedürfniß, dem Zeit— geiſte in manchen Dingen nachzugeben, durchaus unvereinbar wä— ven, er glaubte ſich daher durch einen Staatsſtreich helfen zu können und zu müſſen.

Im Januar 1787 ward der Befehl erlaffen, daß” Belgien in Kreife getheilt werden folle, wie die andern Provinzen des Reichs. Damit war eine völlig neue Organtfatton der Behörden, Gerichte und Verwaltungen verbunden, wobei weder Verfaffung, noch Nationalität, noch Herkommen berücfichtigt ward, Daß fat alle die Veränderungen, welche man in. dev Notes) aufgezählt

8) Die drei fett Karls V. Seiten beftehenden Räthe, der Staats, Finanz⸗ und Geheimerath hörten auf und an ihrer Stelle ward ein Regterungs- rath umter der Leitung eines von Wien aus ernannten PBräfidenten beftellt, Die ganze alte Provinztalahtheilung ward in eine Kretsabthetlung umgewan⸗ delt, deren neum fein follten: Brüffel, Antwerpen, Gent, Dornick, Mons, Namur, Luremburg und Limburg: Jedem Kreiſe follte ein Intendant vor—

428 Belgien bis 1788,

findet, im Bedürfniß der Zeit gegründet waren, geht aus dem Zus ftande der ganz hinter der Zeit zurücfgebliebenen, blindlings und unbedingt am Alten Hebenden damaligen Bildung des belgiſchen Volks Hervorz allein das Volk wollte das nicht anerfennen, und Bildung läßt fich nicht erzwingen. - Der ganz blinde Haufen war längſt von Mönchen und Pfaffen in die heftigfte Bewegung ges bracht worden, jest proteftirte nicht blos der Adel, fondern auch die Advokaten, die Procuratoren, die Juſtizbeamten, die in ihrem Schlendrian geftört, oder der Vortheile, die fie aus den Mißbräu— chen zogen, beraubt wurden, das Volk fchalt den Katfer einen Tyrannen und die Verfechter der Mifbräuche gaben die Verthei— digung der Dinge, welche ihnen und ihren Familien Vortheil brachten, für einen Kampf um Recht und Freiheit aus. Die Zahl der. öfterreichifchen Truppen in den Niederlanden mar da— mals nicht bedeutend, Feiner dev Stellvertreter des Kaiſers war den Umjtänden gewachfen, denn Belgiofo, der e8 vielleicht geweſen wäre, ward von Srumpipen, dem er Alles überließ, ſchändlich hintergangen.

Die enge Verbindung aller Privilegirten in Belgten zur Reaction d. h. zur Erhaltung der Hierarchie und Fendalität ge= wann dadurch Beitand, daß Sofeph gerade in dem; Augenblide, als feine perfünliche Gegenwart in feinen Staaten am: nöthigiten gewefen wäre, eine Reife zum Beſuch der ruſſiſchen Katjerin nach Sherjon unternahm, wo er bei der Zuſammenkunft mit Gatha= rina II. in die Plane derfelben gegen die Türken hineingezogen ward. Im Februar und März war in den Niederlanden Alles zu einem förmlichen Aufftande im Stillen 'veif ‚geworden, im April gaben die Stände von Brabant das. Signal zum Aus— bruche. Diefe Stände erklärten nämlich. am 27. April 1787, daß fie die weitere Erhebung der zur Unterhaltung der: Berwal-

ftehen. Jeder Kreis war in mehre Diftrikte getheilt, denen Commiſſarien vorgefest wurden. Die beputirten Staaten-Eollegien wurden abgeſchafft; Brabant, Flandern, Hennegau, Luxemburg mit Limburg und Namur mit Dornick follten zufammen fünf Räthe ernennen, bie im Regterungsrath in Finanzſachen Sitz und Stimmen haben follten. Für Gerichtsſachen warb auch der Rath von Brabant adgefhafft, ein fouveräner Rath und unter die— fem zwei Appellattiongräthe zu Brüffel und zu Luremburg eingerichtet. Orö- Bere Städte behielten Tribunale erfter Inftanz. Die Tortur wurde abgefhafft,

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fung und Regierung erforderlichen Gelder nicht geftatten würden, wenn man ihnen nicht alles zugeftände, was fie in einer von ihnen überreichten Vorftellung verlangten. Ste hatten zu diefem Zwecke alle diejenigen Punkte zufammengeftellt, welche nach ihrer Meinung dem vom Katfer beſchworenen Freiheitsbriefe dev Belgier (dev Joyeuse entrde) entgegen waren. In diefer Zeit war Crum— pipen Belgiofos Nathgeber, fein Bruder war Kanzler, er ward daher damals noch vom Volke mit Steinwirfen verfolgt, während fein nachheriger Genoffe, der Advocat van der Noot, ſchon an der Spite der Unzufriedenen ftand. Diefer elende und ausfchweifende Rabuliſt benutzte den Prozeß zweier Menfchen, die den Staat fchändlich betrogen hatten, um ein lautes Geſchrei über Verlegung der Rechte jedes Niederländers und des Staatsbürgers überhaupt zu erheben, Wahr ift e8, daß der Katfer in dem Prozeß zweier Gauner von Stande, feine Gerechtigfeitsliebe und feinen Eifer, vornehme Verbrecher zur Strafe zu bringen, beweifen wollte und fich dabei derfelben Verlegung aller fchügenden Rechtsformen ſchul— dig machte, die man ihm in der Sache von Potzdaczky-Lichtenſtein und Sczekely vorwarf.

Der Oberſt Legisfeld Hatte fich nämlich bei den Lieferungen für die Truppen bedeutender DBetrügereten fchuldig gemacht; ein reicher Seifenfieder, Namens de Hont, hatte des Oberften Beftech- lichkeit benutzt, um fich ebenfalld auf Unkoften des Schatzes zu bereichern. Diefe Sache ift oder war wenigftens in Oefterreich jo gewöhnlich, daß die großartige Spitzbüberei dort fo wenig auf- fallend war ald in Rußland, denn wir felbft haben in der erſten Zeit de3 Revolutionskriegs die wichtigften Unternehmungen vor unfern Augen durch die von den commandirenden Generalen mit reichen Lieferanten geſchloſſene betrügerifchen Verbindungen ſcheitern jehen. Die Niederländer nahmen daher auch diefe Sache, die der Kaiſer durchaus ſtrenge unterfucht wiffen wollte, ſehr leicht, und e8 fchten, ald wenn es unmöglich fein würde, von niederländtfchen Gerichten und Behörden ftrenge Unterfuchung und Beftrafung des Vergehens zu erhalten; de Hont follte daher feinem natürlichen Richter entzogen und nach Wien abgeführt werden,

Dieſe Abführung des Kaufmanns de Hont ward mit der Staatspolizei oder mit dem, was man jet unter uns hohe Po-

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fizei nennt, in Verbindung gebracht, die fie eigentlich nichts anging, da von einem Griminalverbrechen die Rede: war, Man machte fie namlich zum Vorwande des Ausbruchs des lange vorbereiteten Volks— aufitandes, Die Städte ftellten eine bewaffnete Bürgermacht auf / und die bürgerlichen Zünfte von Brüſſel, Antwerpen und: Löwen überreichten den Ständen Vorftellungen, welche in den. heftigften Ausdrüsfen abgefaßt waren. Die Stände wollten etwas behut- famer verfahren, fie beriefen fich. daher in ihren Beſchwerden nur auf diefe Vorfiellungen. Die Landesregierung, welche eigentlich ganz andere Anfichten hatte als die, welche Joſeph geltend machen wollte, benußte den Vorwand der Unuhen und Befchwerden, um die Ausführung der Fatferlichen Verordnungen und beſonders die Einführung der Kreiseintheilung und der damit in Verbindung jtehenden. nenen Berwaltungs= und Gerichtsformen: wenigfteng auf- zufchteben, weil die Aufhebung. nur vom Kaiſer fommen Ffonnte, Die Anftifter dev Unruhen beruhigten ſich mit dem vorläufigen Verordnungen: nicht, fie juchten die Schwäche umd die Furcht, welche die Regierung gerade zur unvechten Zeit: gezeigt hatte, noch weiter zu benutzen. Sie forderten jetzt ausdrücklich eine unbe— dingte Beibehaltung, allen der Mißbräuche, deren Aliſchaffung der Kaiſer verordnet hatte. Der Rath; vom Brabant: hatte daher, ohne Rücklicht, auf den Kaiſer oder die Landesregierung, die Drei— ſtigkeit, Alles für nichtig zu erklären, was etwa die neuen Ge— richte nach Urtheil und Recht in Prozeßſachen oder auch ſonſt erkennen würden. Auch Flandern proteſtirte gegen jede Verbeſſe— zung des. Beſtehenden, blos weil es eine Neuerung jet: und dem Herkommen Abbruch thue. In allen Städten, beſonders in Brüſſel und Namur übte der Pöbel, von den Geiſtlichen und Reichen, von deren Arbeit und Almoſen er abhing, ermuntert, grobe Ex— ceſſe gegen Aufgeklärte und gegen ſolche Perſonen, welche. dem) Abſichten des Kaiſers Gerechtigkeit widerfahren ließen, wenn ſie auch die Art feines, Verfahrens mißbilligten. Städte und Stände, bedrohten. die fchwache Landesregierung und betanden darauf, daß alle neuen, Verordnungen: fogleich. abgefchafft, alle dem Volke verhaßten Perſonen fogleich aus dem Nathe der: Statthalterjchaft‘ entfernt. werden ſollten. Man fieht, wie ungerecht die Vertheidiger der Arxiſtokraten und Hierarchen, welche Dies: Alles thaten und -

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anſtifteten, Glos um das Alte, zu erhalten, gegen. die Urheber der franzöſiſchen Revolution find. ' Diefe werden von ihnen ges ſchmäht, verflucht und verläumdet, weil fie ſich Ahnlicher Mittel bedienten, um Neues einzuführen, das. fie für eben ſo vortheilhaft für fich, hielten, als: die. Hierarchen und dev Adel das Alte,

Diefes Alles geſchah, während der. Katfer in fo weiter Ent- fernung war, daß. eine. bedeutende Zeit verging, ehe die Botſchaften ihm. erreichten und feine, Antworten in, Wien, geſchweige in Brüſ— jel eintrafen, weil Fürſt Kaunis, der in Wien den Gefchäften vorſtand, dem Kaiſer nicht vorgreifen wollte. Die Brüffeler Re— gierung war dem Alten geneigter als dem kaiſerlichen Neuen, ſie benutzte daher auch ihrer Seits des Kaiſers weite Entfernung als Vorwand. Sie ſetzte dem Trotz und dem Ungeſtüm der Bel— gier nur Freundlichkeit und Milde entgegen, ſie gewährte ſo weit ſie konnte, Alles, was von ihr gefordert ward. Fürſt Kaunitz erkannte einſtweilen, bis er den Willen des Kaiſers näher kenne, die. Verfügung der niederländiſchen Landesregierung, an. Der Beſcheid, welcher am 25. Mat 1787. den: Ständen von der Schwefter des Kaiſers als: Stellvertreterin: deffelben auf ihre Be— ſchwerden und Forderungen gegeben wurde, lautet: „daß fte die Beſchwerden und Vorftellungen der Stände an den Kaifer. jelbft geſchickt habe, daß bis. zu deſſen Rückkehr von, feiner. weiten Reife nichts: gegen. die Joyeuse entrée ſolle unternommen werden; und daß ſich die Erzherzogin von dev Billigfeit ihres Bruders feine vollkommene Ginwilligung zur Gewährung der Bitten der Stände verſpräche.“ Auch damit war man noch nicht. zufriedenz. man. wollte ſich Feinen Aufichub gefallen laſſen; alle Neuerungen: follten ſogleich abgeftellt werdem Die Landesregierung: des) größten: Mo— narchen in Europa war ſchwach genug, ſich von den Adligen und Pfaffen, welche einen förmlichen Volksaufſtand organiſirt hatten, eine Bewilligung abtrotzen zu laſſen, wozu ſie nicht einmal berechtigt war.

Der Kaiſer konnte nach feinen Zurückkunft aus Cherſon un— möglich zugeben, daß dasjenige, was ſeine Landesregierung, ohne ihn zu befragen, blos aus Schwäche zugegeben hatte, erfüllt und ihm dadurch, auch die Möglichkeit abgeſchnitten werde, auf; einent, andern Wege den Zuſtand m dem ex. unzufrieden war,

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zu verbeffern, Gr gab indeffen eine ganz freundliche, Antwort, entbot aber die Statthalterfchaft und zugleich Deputirte aller Pro— sinzen nach Wien, weil er zwar nicht unbedingt auf feinem Sinne beftehen, aber ebenfowenig, wie vorher feine Statthalter- haft gethan hatte, alles Alte aufrecht erhalten wollte. Er wollte in Wien durch die Glieder der Statthalterfchaft mit den Depu- tirten über dasjenige unterhandeln, was er durchaus eingeführt haben wollte, er wollte durch Gründe fiegen. Der Katfer gibt in dem Bejcheid, den er auf die ihm vorgelegten Befchwerden ertheilt, eine vollftändige und gründliche Auskunft über feine Be- weggründe. Wir fügen die Antwort des Kaifers in der Note bei, weil man aus berfelben das Ginzelne, was wir in der all- gemeinen Darftellung der Sache übergehen müſſen, vollſtändig fennen lernen fan, ?)

9) Joſeph fchreibt den Ständen: Mein Hof- und Staatskanzler hat mir eure Vorftellungen vorgelegt, und ich will mir noch gefallen Yaffen, euch über den Inhalt derfelben durch Gegenwärtiges zu fagen, daß es nie meine Abficht war, die Landesverfaffung meiner niederländifhen Provinzen umzuwerfen und dag alle Anordnungen, die id meinem Generalgouvernement aufgetragen habe, einzig und ohne den mindeften Anfchein des perſönlichen Intereffe zum grö- Bern Vortheil meiner getreten Unterthanen in den Niederlanden abztelten, ohne daß ich dadurch die verſchiedenen Gorporationen der Nation ihrer alten Rechte und Freiheiten berauben wollte. Alle meine Schritte müffen eud) son der Wahrheit diefes Sabes überzeugen, wenn ihr noch fähig feld, ihnen bie ſchuldige Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen. Blos das In einer Menge Bitt: fhriften enthaltene vielfache Anfuchen um Herftellung einer fürzern und we- niger koſtſpieligen Rechtsbehandlung Hat mich bewogen, mid mit einigen Berbeflerungen bet der Gerichtsverwaltung zu befchäftigen. Die Kreishaupt: mannfchaften Hatten Keinen andern Zwed, als über Ausübung der Gefege zu wachen, um bie durch ihren Stand zur Beobachtung derfelben verpflichteten Perfonen zu ihrer Schuldigfeit zu Halten. Was verſchiedene alte Freiheiten betrifft, fo Habe ih nur die ſchädlichen Mißbräuche, welche fih im Laufe der Zeit eingefchlichen haben, felbft mit Einwilligung derjenigen, die dabei Antheil nehmen, abändern wollen. Indeß will ich als Vater und als Menfch, der viel vergeben Tann, dasjenige, was bisher vorgefallen tft, und ihr euch zu thun unterfangen habt, nur allein Mißverftändniffen und faljchen Auslegungen meiner Abfichten zufchreiben, die Durch folche Pexſonen erzeugt und ausgeftreut worden find, welche mehr ihrem Eigennutz als dem allgemei- nen Wohl anhängen und nichts zu verlieren Haben, Wie dem auch immer fetn mag, fo will ich es doch gefchehen laſſen, daß alle meine Anordnungen,

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Auch diefer Maßregeln des Kaiſers ſchienen den Belgiern verdächtig, fie ſetzten wenigſtens ihren Widerftand fort. Die Stände wollten anfangs Feine Deputirten jenden, man ſchien ſo— gar die Statthalterin mit Gewalt an der Reife nach Wien hin— dern zu wollen, denn die Studenten und das Volk wurden be= waffnet und bildeten eine lächerliche Miliz. Es wurden Freicorps geworben und man merkte, daß es den Pfaffen und dem Hohen Adel, welche bei der Sache thätig waren, am Gelde nicht fehlte, Die Stände von Brabant wollten fogar fi am Franfreich wenden, welches vordem ihre Berfaffung verbürgt Hatte, Das konnte freilich Sofeph nicht ruhig ertragen, wenn er fein ganzes monarchifches Anfehen nicht an Oligarchen wollte fallen ſehen.

Er ließ die Unterhandlungen fortfegen, er fuhr fort, auf freundlichem Wege der Verblendung durch Belehrung zu begeg— nen; allein ex beorderte zugleich vierzehn Negimenter und einige Bataillons Infanterie, vier Regimenter Cavallerie und einige Ar— tiflerie in die Niederlande, Die Belgier hatten fich zwar endlich zur Abfendung einer Deputation der Stände nad) Wien verſtan— den, hatten aber dabet ausdrücklich und trotzig erklärt: „Daß die Deputirten feinen ander Auftrag oder Vollmacht Hätten, als aus Wien die Beftätigung aller son der Statthalterin ertheilten Be— willigungen vom Kaifer zu Holen.” Der Aufftand dauerte indeſ— jen fort; die Deputirten evrfchienen nicht an dem som Katfer als. Außerften Termin beftimmten vierzehnten Julius, die Statthalterin

von welden die Rede ift, gegenwärtig fufpendirt werden und ſobald ihre königl. Hoheilen meine Statthalter und ©eneralgouverneurs nad meinen ihnen letzthin eröffneten Geſinnungen mit den Deputirten der Provinzen ſich zu Wien einfinden, und letztere mir mündlich ihre Befchwerden vorgelegt und meine Anfichten vernommen haben werden, bie fie allezeit nach den Grund— ſätzen der vollfommenen Bilfigkeit und blos auf das Wohl meiner Unterthas nen abzielend finden follen; dann wollen wir uns über die zum allgemeinen Beften zu treffenden Anordnungen nad Maßgabe Ser Grundgeſetze des Lan— des einverfiehen. Wenn aber gegen alle Erwartung diefer Teste Schritt meiner Güte gegen euch fo fehr verkannt würde, daß ihr euch weigern folltet, eure Klagen, Beforgnifje und Zweifel hierher vor mich zu bringen und mid mit Vertrauen anzuhören, fondern eure entehrenden Ausſchweifungen und unverzeihlichen Schritte fortfeben wolltet, dann werdet ihr euch felbft alle bie unglüdlichen Folgen, die daraus enifichen werben, zuzuſchreiben haben. Schloſſer, Geh, dr 18, m. 19, Jahrh. IV. Th. 2, Aufl, 33

434 Belgien bis 1788,

ward fortdanernd an ihrer Abreife mit Gewalt gehindert, fie konnte ihre Reife erſt am 20, Juli antreten. Als die Statthalterin md ihr Gemahl abgereist waren, folgte ihnen Belgioſo und endlich reisten dann auch die Deputirten ab.

In diefem Augenblie gab offenbar der Kaiſer eine Blöße und ermunterte durch den Weg, den er einſchlug, die ſpätere bel— giſche Revolution, deren wir hier nicht mehr erwähnen, weil ſie dev Zeit der franzöſiſchen conſtituirenden Ständeverſammlung an⸗ gehört. Vielleicht war gerade in dieſem entſcheidenden Augenblicke dem Kaiſer wegen der Unruhen in Holland bange, vielleicht Hinz derte ihn der Türkenkrieg, den er beginnen: wollte, jo zu handeln, tie man erwartete, daß er handeln würde; er ging nämlich plötz- lich zurück. Man hatte erwartet, der Kaiſer würde durch feine abgeſendete Armee das Land beſetzen, die Aufrührer niederwerfen, die Urheber beſtrafen laſſen und hernach feine Verordnungen freundlich zurücknehmen, ohne darauf zu beftehen, den Blinden mit Gewalt die Augen zu öffnen. Die Truppen machten aber Halt, Nur ein Regiment ward gefendet, das Volk in Belgien Hlieb unter den Waffen, die Unterhandlungen in Wien vermehrten den Widerwillen des Katfers gegen das Pfaffenweſen und den Argwohn der Belgier. Die halben Maßregeln, über welche man des Friedens wegen übereinfam,. mußten nothiwendig bald einem neuen Bruch herbeiführen.

Die Verhandlungen mit den nach Wien gejendeten Bevoll— mächtigten der niederländifchen Vorurteile machten dem Kaiſer vielen Verdruß. Joſeph bewies fich dabei ſehr freundlich und mild und gleichwohl erfuhr er den unverſtändigſten Widerſpruch und mußte ſich, ſtatt wie er gewollt hatte, verbeſſernde Geſetze zu geben, die alten Mißbräuche als Geſetz vorſchreiben laſſen. Daß das Volk, dem der Kaifer helfen wollte, ein bloßes Werk— zeug der Menſchenklaſſen jet, deren Uſurpationen Joſeph ein Ende machen wollte, wußte er vecht gut, und doch fand er für den Augenblick rathfam, um das Volk zu beruhigen, den auf Koften des Volks privilegirten Obfeuranten nachzugeben. Das mußten die in Kabalen und Intriguen erwachjenen Pfaffen und Oligar— shen fehr gut, die VBerfühnung in Wien war daher nur ein Waf- fenſtillſtand. Die Belgier blieben in der Stiffe gegen den Kater

Belgien bis 1788, 433

verbunden, und dieſer wartete auf eine günftige Wendung dev Umftände, um endlich feine Abfichten durchzuſetzen.

Zufolge der Mebereinkunft in Wien. follte der Zuftand vom April 1788 normal fein, das heißt Alles follte in Belgien jo bleiben, wie es im Anfange diefes Monats geweſen war und die bis dahin aufgehobenen Klöfter follten nicht wieder hergeftellt wer— den, Die Erzherzogin Chriftine und ihr Gemahl Fehrten hernach nach Brüffel zurück, Belgioſo begleitete fie aber nicht, ev blieb im Wien; Graf Trautmannsdorf ſollte künftig in ihrem Namen als kaiſerlicher Minifter die Gefchäfte leiten. Die Belgier Hatten einmal geſehen, daß fich der Katfer vor dem Aeußerſten ſcheue, alle feine Verordnungen fanden daher Widerftand, und in den Städten brachen um fo mehr jeden Augenblick neue Unruhen aus, als auch der Militärkommandant Murray, während er in Ab— wejenheit der Statthalterin und ihres Gemahls die obere Leitung in des Kaiſers Namen führte, zu verichiedenen Zeiten ganz ver— ichtedene Wege einfchlug und dadurch Schwäche und Wankelmuth zu beweiſen ſchien.

Murray verbot Cocarden und Uniformen der Inſurgenten, er ließ den Aufſtand in Brüſſel und Mecheln, wo man ſich der Ausführung dieſer Verordnung mit Gewalt widerſetzte, militäriſch dämpfen, ſo daß am 20. Oktober in beiden Städten Blut ver— goſſen ward. Nichtsdeſtoweniger erklärte er gleich am folgenden Tage in einer öffentlichen Bekanntmachung, deren weſentlichen Inhalt wir in der Note angeben wollen, 10) es ſollte das Alte

10) Murray erklärt in der Proclamation im Namen des Kaiſers wie— derholt: Daß die Landesverfaſſungen, Grundgeſetze, Privilegien und Freihets ten, kurz die Joyeuse entrée, den Inaugurationsacten Sr. Majeſtät gemäß, ſowohl in Anſehung der Geiſtlichkeit als des Civilſtandes, unverletzt erhalten werden und bleiben ſollen. Daß die neuen Juſtiztribunale, die Intendanten und Commiſſäre gänzlich aufgehoben fein und bleiben ſollen. Daß die Ord⸗ nung der Juſtiz, die Stände und ihre Deputation in Zukunft. auf dem alten Fuße beftehen follen. Daß folglich die Stellen der Oberämter und des Civil⸗ gouvernements fortdauern , die Erhaltung der Stande in ihrem unverlesten Buftande, ebenfalls die Erhaltung der. Abteten, deren Aebte Mitgliever diefer befagten Stände find, in fich begreifen und die Abteten mit Aebten ber Joyeuse entree und den Conſtitutionen gemäß verſehen werben follten.. Daß mar fi wegen ber Gegenſtände, bie der Joyeuse entrée zuwider wären, mit beit Ständen, deren Verlangen gemäß, verſtehen werde. 28*

436 Belgten bis 1788,

wieder gelten, ohne daß man mußte, wie dieſes Alte mit dem bis zum April eingeführten Neuen könne in Hebereinftimmung gebracht werden, D’Alton ward hernach, als die Otatthalterin zurück— fehrte, Milttäreommandant neben Trautmannsdorf, der die Civil— -vegierung leitete, und Joſeph fchten dem Gedanken einer Reli— gionsverbeflerung entjagen zu wollen. Er gab im September 1787 die Idee eines Generalfeminartums entweder ganz auf oder bes Ichränfte uud beftimmte fie wenigftens nad) ntederländifchen Be— griffen fo, daß niemand erwartete, daß er darauf zurückkommen würde, Dies gejchah gleichwohl hernac und veranlaßte die Er- richtung einer befgifchen, Eurz dauernden Republik, Da die neuen Unruhen aber erjt 1789 begannen, fo gehört ihre Gejchichte in den folgenden Band,

2

Belgiſche, holländiſche, Franzöftfhe innere Streitigkeiten.

b. Holländiſche Unruhen und Friedrich Seh II. von Breußen.

Die Anfänge und die Beichaffenheit der Streitigkeiten in den ſieben vereinigten Provinzen der Niederlande ſind im Vor— hergehenden oft erwähnt worden, es iſt daher unnöthig, hier darauf zurückzukommen. Wir wollen nur kurz und ſummariſch das⸗ jenige berühren, was fich unmittelbar auf den offenen Zwiſt der Stände, oder, wie man das nennt, der Staaten, mit der erb— ftatthalterifchen Regierung bezieht. Die Gefchichte diefes Zwiſts, wobei der indolente aber eigenfinnige und unverftändige, ſelbſt zum bloßen Repräafentiven zu ungelenfige und unbeholfene, mehr eng- liſche als holländiſche Wilhelm V. nur eine ‚Nebenrolle fpielt, theilt ſich in zwei Zeitabſchnitte. Während des erjten, von 1766—1784, war Schlözers Ludwig Ernſt von Braunſchweig, der fich um 1766 durch die Gonfultationsafte dem Prinzen und dem Staat aufgedrungen hatte, Urfache und Gegenftand der Un- zufriedenheit und der Beſchwerden. Seit 1784 war des Prinzen männliche und militärtfch gefinnte Gemahlin, die Schwefter des nnachherigen Königs Friedrich Wilhelm son Preußen, dem fie in Geftalt und Geberde fehr ähnlich war, Stein des Anſtoßes.

Holland bis 1787, 437

Die Anführung dev Befchwerden über den Herzog und über die Art, wie er den Prinzen Grbftatthalter erziehen ließ und lei— tete, würde und in die ſehr verwickelte Verfaſſung der fieben Provinzen tiefer einzugehen nöthigen, als der Zweck dieſes Werks verträgt; wir erinnern daher nur daran, daß die Gegner des Herz 098 und der Prinzeffin beide fchon während des nordamerlfant- jchen Kriegs: bejchuldigt hatten, daß fie und der ganze Anhang des Hauſes Oranien die Engländer auf jede Weiſe begünftigt und gewiffermaßen heimlich mit ihnen gegen die Republikaner oder Batrioten conſpirirt hätten. Dieſe letztere, ſeit Wilhelms IL. Zeiten auch die Löwenfteinfche genannte Partei war in der Pro— sinz Holland, deren Gewicht in den Generalftanten überwiegend war, am ſtärkſten. Amfterdam, in und für die Niederlande ebenso bedeutend als London für England, bildete eine unabhängige Republik für fich und überwog in den: Generalitaaten alle Pro— sinzen zufammengenommen. Faſt alle Städte Hollands ftimmten wie Amfterdam, wenn man Rotterdam etwa ausnimmt, die Städte und ihre Abftimmungen überwogen aber die Nitterfchaft, unter welcher der Prinz allerdings, wie auch in andern Provinzen, einen nicht unbedeutenden Anhang hatte,

Der Herzog von Braunfchweig und die erbftatthafterifihe Regierung wurden während des Kriegs auf mancherlei Weiſe gekränktz man Teitete unter andern fürmliche Unterfuchungen wegen der Befchaffenheit der Holländifchen Kriegsichiffe ein, und nach der Schlacht bei der Doggersbanf wegen der som General— admiral den Admirälen Bylandt und Kinsbergen ertheilten In— firuftionen. Der Lärm ward hernach viel ärger, als die Vereini— gung der, niederländifchen Flotte mit der Tpantfchen und franzöſi— fchen im Breft durch die Schuld des Generalcapitäng und Gene- raladmirals nicht mit dem Gifer betrieben ward, den die franzö— fiiche Bartet in Holland gewünfcht hatte. Als Joſeph IL. anfing, die Republik zu bedrücken und zu bedrangen, ward der. Herzog, der fortwährend öſterreichiſcher Feldmarfchall geblieben war und doch die niederländtfchen Angelegenheiten leiten follte, endlich jo verdächtig, daß felbft der ihm fonft ganz ergebene, unter ihm die— nende Generalintendant Dümoulin gegen ihn Partei nahm. Der Generalintendant zeigte ‚nämlich den Staaten offiztell an, daß bie

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Regierung des Prinzen, von welcher Land= und Seemacht allein abhing, alle Feftungen jo vernachläfligt habe, daß fie jetzt im einem durchaus unhaltbaren Stande feten. Die hollandifche Preffe, welche fich niemals der feinften und behutfamften Ausdrüde zu bedienen pflegt, mißhandelte darauf den Herzog aufs furchtbarfte und geöbfte, Der Herzog beichwerte und vechtfertigte fich zwar, er ver— Yangte eine firenge Unterfuchung feines Betragens; auch mag Vieles von dem, was er vorbrachte und was Schlözer hernach in dem diefen Buche über diefen feinen sorgeblichen Phocion in Deutichland drucken ließ, wahr fein, es wollte aber niemand daran glauben, fondern man Fagte ihr, als die Gefchichte der Acte der Berathung Fund ward, fürmlich des Verraths am. Die gerichtliche Unterfuchung wegen der ohne Berathung mit den Staaten der Provinzen, ohne daß jemand außer dem Nathspen- ſionarius darum wußte, unter Einfluß des englifchen Miniſters zwiſchen dem Prinzen und dem Herzoge geſchloſſenen unauflös— lichen Verbindung hätte für den Herzog fehr empfindlich fein müſſen; er wich Daher dem ihm wegen der Conſultationsacte von 1766 angedrohten Prozeß Tieber aus, Ludwig Ernſt wollte das Aeußerſte nicht abwarten, er begab fich, als die Provinz Holland feine Entlaf fung vom Prinzen und von den Generalftaaten gefordert hatte, erft in fein Gouvernement Herzogenbufch und reichte hernach, als fich auch Seeland, Friesland und Utrecht an Holland anfchloffen, feine Abdan— fung ein (Dftober 1784). Er begab fich vorerſt nach Aachen. Diefe Streitigfeiten gingen eigentlich das Volk gar nicht an, es war ein Streit, wie der der Whigs und Toried in England, In Holland fuchte die republikaniſche Partei fich nicht einmal gleich den Whigs in England das Anfehen zu geben, ald wenn fie mit der Zeit fortfehreiten wolle, fondern fie wollte durchaus dad Alte nicht blos erhalten, fondern auch fogar wieder herfiel= len; der Anhang des Haufes Oranten war dagegen zeitgemäßen Verbefferungen nicht durchaus und unbedingt abgeneigt, Wie jehr eine Zufammendrängung und Einheit der Regierung in diefen Zeiten des Berfalls der ehemals jo blühenden Handlung und Seemacht dev Republik Wohlthat für den Staat geweſen wäre, geht aus den Vorwürfen hervor, welche die ftatthalterifche Wartet der vepublifanifchen machte, ohne daß man der einen oder ber

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andern Unrecht geben Fan. Daß aber die feit 1785 zu einen offenen Streite gediehenen Zwiftigfeiten des republikaniſchen Theils der erecutiven Macht mit dem: monarchifchen Theil derfelben in der alten, nicht mehr paſſenden Berfaffung ihren Grund hatten, wird einleuchten, wenn wir einige Winfe über diefe Verfaſſung geben. Jede Provinz bildete eine eigne fouveräne Macht, deven Haupt und Regierung die Verfammlung der. fogenannten Staaten war, welche aus Deputirten des Adels und der Städte, nad einem in den verſchiedenen Provinzen ganz verſchieden beftimmten Berhältniffe beitand, Da die Provinz Holland allein zu jedem hundert Gulden Abgaben ;o welches die fieben Provinzen zahlten, acht und fünfzig, alle übrigen zufammen nur zwei und vierzig beitrugen, da ſieben nordholländifche und drei ſüdholländiſche Städte drei oder vier Deputirte zu den Generalftanten ſchickten und die ſämmtliche Nitterfchaft nur einen, fo Hatten die hollän— difchen Städte in den Generalftaaten überwiegenden Einfluß, wie die Stadt Amſterdam in den Staaten der Provinz Holland,

Die Magiſtrate der Städte waren auf dieſe Weife gewiſſer— maßen die eigentlichen Souveräns ihrer Provinzen, fie hatten ſo— gar einen Theil der Verwaltung des Kriegsiwefens, weil die Com— mandanten der Feftungen diefer Provinzen unter den Bürgermei— ftern der Städte ftanden, welche zugleich Gouverneurs waren, Nur in den Generalitätslanden allein wurden eigne Gouverneurs vom Grbftatthalter beitellt; e3 hing daher die ganze Regierung der Provinzen von der Wahl der Glieder der Magiftrate ab: Diefe Wahl war in den mehrften Städten, wie in unfern ehema- ligen Reichsftädten, ein bloßer Schein, weil fich der Rath ſelbſt ergänzte, doch Hatte der Statthalter der Provinz, wenn diefe einen befondern Statthalter Hatte, oder dev Erbftatthalter, wenn er die Statthalterfchaften alle in feiner Berfon vereinigte, gewiſſe Nechte bei diefer Wahl, die in verfchiedenen Städten verfchieden waren. In einigen Städten durfte er felbit den Magiftrat ernennen, in andern drei oder wier oder mehr Berfonen bet der Wahl der ein- zelnen Magiftratsglieder vorſchlagen. Dies Recht fuchten ihm . die Staaten son Holland, als fie mit ihm zerfielen, zu ſchmälern und konnten dies, da fie Regierung und Gefebgebung der Provinz in fich vereinigten, Sie entzogen in der That endlich dem Prinzen

AAO Holland bis 1787.

feinen Einfluß auf die Wahlen gänzlich und einzelne andere Pro— vinzen folgten dem Beifpiele. In vielen andern Provinzen waren die Staaten über die Frage, ob man dem Prinzen feine Rechte nehmen oder erhalten follte, unter fich felbft uneinig, fo daß in manchen Provinzen die, Mehrheit dev Stimmenden mit der Min: derheit jo ſehr zerfiel, daß fie fich einander wie Feinde gegenüber ftanden. Sie trennten fich jogar hie und da formlich, begaben fich an verfchiedene Orte, von wo aus fich dann die Nepublifaner an die Provinz Holland, die Anhänger des Hauſes Oranien an den Prinzen wandten, um bewaffnete Unterftügung zu erhalten.

Der Mittelpunkt de3 Streits "war aus vielen Urfachen die Provinz Holland, nach welcher mit vollem Nechte die Republik der fieben vereinigten Provinzen benannt ward; bie übrigen war— fen ein jehr geringes Gewicht in die Waagfchale, Friesland und Gröningen lagen an den Außerften Enden des Landes und die dort herrfchende Stimmung wechfelte nad) den Umftänden. Inu - Seeland war der Prinz als Markgraf von Vliſſingen und ter Veere Befiser vieler Städte und Dörfer ; man hatte zwar dort dem Prinzen Wilhelm IV. die hohe Würde des erften Edeln der Provinz während feiner Jugend entzogen gehabt, er hatte fie aber wieder erhalten, als er Erbftatthalter geworden war, "Während der Minderjährigkeit Wilhelms V. blieb freilich dieſe Würde, welche Jan Bofjel van den Hoge für feinen Vater verwaltet hatte, einſtweilen erledigt, doch ward fie ihm ſpäter wieder zu Theil, nur mit der Beichränfung, daß fie Fünftig nicht mehr an eine befondere Landbefigung, Qualität, Familie geknüpft werden follte, In Utrecht war zwar ein großer Theil der; Ritterfchaft für den Eröftatthalter, die Mehrzahl der Deputirten der allgemeinen Ver— fammlung der Staaten war aber vepublifanifch, oder wie man das nannte, patriotiſch. Im Overyſſel war derfelbe Fall. In Geldern, wo der Prinz bedeutende Beſitzungen Hatte, war ihm der Adel auf Tod und Leben ergeben und blos die "Städtchen Elburg und Hattem widerftrebten hartnädig , fich den Beſchlüſſen der Mehrheit der Staaten ihrer Provinz zu fügen,

Jede Provinz und fogar jede Stadt Fonnte, wenn fie Gelder dazu hergeben wollte, eigne Truppen halten; dies thaten in dieſer Zeit die holländiſchen Städte, weil die Soldaten, welche die

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Provinz Holland beim gemeinfchaftlichen Heer unterhielt, jo Tange man noch nicht mit dem Generalfapitan öffentlich gebrochen hatte, diefem allein unterworfen waren Selbſt die fogenannten hoch— mögenden Herrn, oder bie Generalftaaten hatten mit dem Militärcommando nichts zu Schaffen, wollten daher die Staaten son Holland Truppen haben, ſo mußten fie dieſe jelbft bilden, Das war freilich fehwer, weil Officiere und Soldaten fich nicht gern von Juriften und Krämern ceommandiren liegen. Gleichwohl ward um 1783, als die mit dem Prinzen unzufriedenen Staaten, Städte und Obrigfeiten anfingen, vorauszuſehen, daß es zu Thät— fichfeiten kommen könne, yon den Städten eine, freilich herzlich fchlechte eigne Miliz errichtet. Diefe beſtand theils aus der auf eine Eomifche Weiſe in Soldaten und Officiere verwandelten bür- gerlichen Ghientel der Reichen, aus Handwerkern, Krämern und ihrem Dienſtvolk; theild aus geworbenen und bezahlten, eben fo jchlecht wie die Bürgergarde geübten Freicorps oder Volontärs. Diefe Werbung und die Waffenübungen der Geworbenen um 1783 war nicht eigentlich gegen den Grbftatthalter gerichtet, fondern man benußte dazu den Vorwand der Drohungen des Katfers und jene feindlichen Maßregeln an der Schelde. Man konnte deshalb auch dieſe gerüftete Stadt= und Provinzialmiliz der militärischen Oberbehörde entziehen, weil fie eine Art Bürgergarde und Lande wehr vorſtellte. |

Da die Streitigkeiten mit dem Katfer das ganze Jahr 1784 hindurch und auch noch, im Folgenden Jahre fortdauerten, fo konnte man auch die Militärmacht der Städte erhalten und ver- mehren, bis 1785 der fürmliche Zwiſt mit dem Erbftatthalter ausbrach. Weil die Patrioten in Holland und in Utrecht mehr als andere beforgten, der Statthalter möchte, wenn ihn die ora— nifche Minderzahl der Deputirten in der Staatenverſammlung anriefe, anf diefe geftüßt, im den unaufhörlichen Zänkereien mili— täriſch einfchreiten, jo fuchten fie endlich, teil e8 ihnen an Geld nicht fehlte, eine Art Reſervearmee aufzuftellen, Dazu erbot fich

zunächft der abenteuerliche NRheingraf son Salm-Grumbach, das

mals Oberft in holländiſchen Dienften, weil er die günftige Ge— legenheit ergreifen wollte, die reichen Holländer und Utrechter um Geld zu prelfen. Er ließ fich von den Patrioten zu Sen-

442 Holland bis 1787,

dungen und Werbungen gebrauchen, hatte vorgeblich ein Armee: corps aufgeftelltz aber er und fein Armeecorps und ganz bejon= ders die Kriegsfaffe verfehwanden hernach beim Einrücken der Preußen ploglich bei Nacht und Nebel, ‚ohne daß yon ihnen ix- gend etwas weiter gehört oder gefehen ward. Ein Franzoſe forgte etwas beffer für die, Holländer, als der faubere Nheingraf für bie Utrechter.

Der König von Frankreich hatte den Holländern, als ihnen der Kaiſer mit Krieg drohte, den General, Grafen von Maile— bois geſchickt, um das Kriegsweſen zu che Diefer ward her⸗ nach son den Staaten von Holland gebraucht, um die Rüſtungen zu leiten, wodurch fie ihren Beſchwerden über den Erbſtatthalter Nachdruck geben wollten. Der Rheingraf von Salm, Graf Mail- lebois und ein Glied der Generalftanten, der Penſionarius von Dortrecht, Gyzelaer, galten für die Seele aller Kabalen gegen den Prinzen und gegen Ludwig Ernft von Braunfchweig. Dieſe dret wurden von den Oranienmännern beſchuldigt, daß fie acht militärifche Abenteurer, die ſich nach Aachen begaben, wo Ludwig Ernſt noch immer verweilte, gedungen und abgefchieft Hätten, um den Herzog feiner Papiere mit Gewalt zu berauben. Die Unter juchungen über diefe Sache findet man in Schlözers Buch amd auch im feinen Staatsanzeigen; der Antheil Gyzelaers ander Sache jcheint fehr zweifelhaft, Gewiß ift dagegen bie Thatſache, daß die drei genannten Männer eine Militärmacht zu organifiren juchten , ‚als die "Staaten von Holland um 1756 dem Bringen dad. Kommando ihrer Truppen entzogen und die rege der regulären Armee dem Brinzen treu blieben,

Zu offenen Feindfeligfeiten kam es zuerſt in der Stadt Utrecht und in den andern Städten der Provinz, ald die Mehrzahl der Bürger die Streitigfeit feiner eifrig patetotifchen ‚oder vielmehr ariſtokratiſchen Stadtobrigkeit mit dem Statthalter benusen wollte, um von der bisherigen Magiftratur einen Antheil am der Stants- verwaltung: zu erlangen. Die Bürger wollten nämlich ihre oli= garchiſche Obrigkeit, die fich felbft aus ihren Verwandten ergänzte, zwingen, fie au der Wahl der Bürgermeifter und Rathsheren Theil nehmen zu laſſen. So verſtanden die Oligarchen den vor— geblichen Kampf für die Freiheit nichtz es ſchloſſen fich daher,

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fobald fich diefe demofratifche Bewegung zeigte, die oligarchiich- riftofratifchen Magiftrate an die NRitterfchaft an und erfuchten in Verbindung mit diefer den Prinzen um militärtfche Hülfe.

Unter den Eleineren Städten der Provinz Utrecht Hatten fich beſonders Amersfort und Rheenen ihren Stadtobrigfeiten thatlich widerfegt, diefe Hatten fich an die Stanten der Provinz und durch diefe an den Prinzen gewendet. Der Prinz konnte als ihr Gene— valsapitän ihnen ihre eignen Truppen nicht verſagen, die beiden genannten Städte wurden alfo militärifch beſetzt. Bei diefer Ge— legenheit bedienten fich daher die fonft eifrig patriotiſchen Magi— ftrate in Verbindung mit der Nitterfchaft der Milttärgemalt des Prinzen gegen die Bürgerfchaften. Die Bürger der Städte wand- ten fich darauf um Schuß gegen ihre Magiſtrate und gegen das Militär des Statthalterd an die Staaten von Holland, denen diefe Gelegenheit, ihren Freunden in Utrecht das Webergewicht zu verfcehaffen, gerade zur günftigften Zeit dargeboten ward. Die Staaten von Holland nämlich, evbittert, daß das geringe Volk der Ariftofratie abgeneigt, dem Prinzen gewogen blieb, während die mittlern bürgerlichen Klaffen immer wüthender pa— triotifch wurden, Hatten das Tragen der Oranienfarbe für ein Aufruhrzeichen erklärt und als folches verboten, Die Staaten hatten ſogar Bürger und Landleute, welche die Oranien-Cocarde oder die Schleife trugen, nach ihrem damaligen barbarifchen Cri— minalrechte richten und grauſam beſtrafen laſſen; die Haager Bür- ger Dagegen befämpften Gewalt mit Gewalt und widerſetzten fich den Staaten und ihren Dienern, Im Haag war nicht blos dev Pöbel, fondern auch) die eigentliche Bürgerfchaft oraniſch gefinnt, derjelbe Fall war in Rotterdam. Sobald fich alfo die Volontärs oder Söldner der Staaten in diefen Städten fehen ließen, wur: den fie mißhandelt. Dies erfuhren zwölf Volontärs der patrioti= jchen Stadt Leyden, am 4. September 1785, als ſie fich im Haag auf der Parade blicken ließen. Sie wurden übel behan— delt, flüchteten fich endlich in ein Haus, von wo aus fie um den Schuß der ftatthalterifchen Beſatzung batenz es ward auch eine Wache geſchickt, um den Pöbel zu zerjtreuen. Diefe Wache wandte ſich aber nicht gegen das Volk, fondern fie verhaftete die zwölf Volontärs und brachte fie aus der Stadt.

A4A Holland bis 1787.

Diefen Vorfall benutzten die Depntirten der Stadt Harlem, um bei den Staaten der Provinz Holland darauf anzutragen, die militäriiche Polizei im Haag und die Sorge für Patrouillen dent Prinzen und feinen Offteieren zu entziehen, und fie von Depu- tirten der: Staaten verwalten zu Taffen. Die Staaten nahmen diefen Antrag an und übertrugen Anordnung und Anführung der auszufendenden Patrouillen gerade dem Deputirten von Harlem, der den Antrag gemacht Hatte, Dies bewog dann den Prinzen, jeine Reſidenz, deren Polizei feine Gegner an fich genommen hatten, am 14. September ganz zu verlaffen. Seit diefer Zeit verweilte ev theils in feinem eignen Markifat zu Breda, theils in Seeland, oder in Friesland, oder In Nimwegen, oder endlich auf feinem Schloſſe Loo in Geldern. Durch diefen Schritt ward den Staaten gewiffermaßen offne Fehde angefündigt und diefe vergal- ten elf Tage nach des Bringen Entfernung Feindfeligfeit mit Feindfeligkeit. Sie hatten vorher nur die militärtiche Polizei im Haag dem Prinzen entzogen gehabt, am 25. September entzogen fie ihm auch den Oberbefehl über die am Verſammlungsorte der Staaten von Holland und der. Generalftaaten Tiegenden Truppen und übertrugen das Kommando derfelben dem General Sandoz.

Die unverſtändig heftige Ariftofratenpartei kam zugleich‘ auf den Einfall, einen leeren Vorzug, deffen der Prinz bisher genof= jen hatte, ohne daß jemand Bedeutung "darauf Tegte oder bie Sache nur bemerkte, mit ihm zu theilen und dem ihm blind an— hängenden Volke Handgreiflich zu machen, daß die Ariftofraten eigentlich Herren im Lande ſeien, nicht das vranifche Volk und jein Prinz. Der Prinz wohnte nämlich im. Haag, wenn er dort war, in dem fogenannten Binnenhofe, wo auch die Berfammlung der Staaten gehalten ward, fuhr aber dort zu einem bis dahin ihm sorbehaltenen Shore ein, welches das Statthalterthor genannt ward. Zwei wüthende Ariftofcaten unter den Staaten, unter denen auch Gyzelaer, der Freund des faubern Rheingrafen war, wollten dies unbedeutende Chrenrecht für ſich als Deputirte der. Staaten in Anfpruch nehmen, um zu beweifen, daß fie der eigentliche Souverän im Lande feien.

Schon die Nachricht, daß die Staaten und der den —* | Gefinnten tödtlich verhaßte Gyzelaer ſo etwas im Sinne hätten,

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brachte die Bevölkerung vom Haag in heftige Bewegung, wo man ſchon darüber erbittert war, daß die Oligarchen den Prinzen eines Borzugs nad) dem andern beraubten, um fich damit zu beffeiden. Sie liegen z. B. fein Wappen aus den Fahnen nehmen und feß- ten das der, Staaten hineinz fie nahmen für den Präſidenten der Staaten von Holland diejenigen militärtfchen Ehrenbezeugungen in Anfpruch, welche bisher: nur dem Präfidenten der General- ſtaaten war. eriwiefen worden; fie Fauften einen neuen Palaſt; fie liegen, wie der Prinz fonft zu thun pflegte, wenn er im Hang war, Speifen in der Stadt austheilen, die im herrfchaftlicher Küche bereitet waren. Der Berfuch, durch das Statthalterthor in die Berfammlung der Staaten zu fahren, veranlaßte endlich amt 17. März 1786 einen fürmlichen Tumult, und zwar bejchuldigte die patriotifche Partei die oranifche und diefe jene, daß fie den Pöbel am 17. aufgeregt und ermuntert Hätte, Es hieß, daß der junge, unverftändige und heftige Freund des Prinzen, der Graf von Bentink Rhoone, gleich Mirabeau im November 1789 und or um 1780 unter dem Pöbel, ihn ermunternd, ſei gefehen worden. Als der Verf. diefer Gefchichte den Grafen um 1796 in Barel, wo er ohne Bedenken eine folche Toyale Demagogie hätte geftehen können, weil diefe Art Demagogie damals rühmlich war, darüber befragte, 11) bewies ihm der Graf, daß dies nicht wahr jet. Gewiß ift indefien, daß der Aufftand am 17. zu ſpät fam, weil_am 16. bei der feierlichen Eröffnung der Staaten ſchon die ſämmtlichen Deputirten diefes ſouveränen Raths durch das Statthalterthor in den Binnenhof gefahren waren, Die Anhänger des Prinzen fagen daher auch, das Volk fet erbittert geweſen, daß am folgenden Tage die Unruheftifter Gevaerts und Gyzelaer für fih allein fich Hätten anmaßen wollen, was nur den ges jammten Deputirten als Generalftanten erlaubt geweſen ſei. ‚Sie wollten durch das Thor fahren, obgleich der tobende Haufen fich an demjelben gefammelt hatte, Die Anhänger des Bringen be= haupten, die Patrioten jelbft Hätten den Perückenmacher Morand betrunken gemacht, damit er ihnen Vorwand gebe, ihre Gegner mit der Staatspolizei zu verfolgen,

11) Der Verf. war damals Hofmelfter der Kinder des Grafen Jan, des Bruders des regierenden Grafen yon Varel und Kniphauſen.

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Den innern Zufammenhang der Sache zu willen, fcheint und hier eben fo unwichtig, als bet den mehrften Gelegenheiten ähnlicher Art, da die Thatfache ausgemacht ift, daß Gyzelaer und Gevaerts durch die tobende, fchreiende, hemmende Volksmaſſe ein- fahren wollten, und daß ber Perückenmacher Morand endlich ihren Pferden in die Zügel fiel. Er ward fogleich verhaftet und nach holländiſchem Griminalrecht, welches neben der Tortur noch viele andere ſpaniſche Reſte bewahrt Hatte, als Hochwerräther gerichtet, weil er ſich gegen die beiden Deputirten, die ein Theil des Sou— veränd waren, vergangen hatte, Er wurde zum Tode verurtheilt und die Dligarchen, Krämer und ihr Anhang, PBatrioten und Freiheitöfreunde genannt, unterftanden fich, Gyzelaers Milde zu preifen, weil ev bewirkt habe, daß bie Todesitrafe in ewiges Gefängniß umgewandelt werde,

Bei diefer Gelegenheit zeigte fich Friedrich IL befonders groß. Er bewies, daß er Achtung für freiere Berfaffungen habe, als die, welche für fein durchaus Fünftlich gefchaffenes, aus ganz un— gleichen Stücken gebildetes Reich paßte, welches trotz alles An— ſcheins von Civilregierung doch durch Ordres rein militäriſch re— giert ward und wahrſcheinlich noch lange jo regiert werden wird. Er wurde von allen Seiten her beſtürmt, ſich in die Sache des Gemahls ſeiner Nichte zur miſchen, er ermahnte aber ſtets dieſe ſeine ſtolze Nichte, innerhalb der Verfaſſung zu bleiben. Freilich ließ er zugleich wegen der Beſchwerden des Prinzen mit den Ge— neralſtaaten unterhandeln und insbeſondere wegen des Commandos der Haager Garniſon zwei nachdrückliche Vorſtellungen überreichen. So dringend dieſe Vorſtellungen abgefaßt waren, ſo ließ Friedrich, der Herzbergs Neigung kannte, überall das Preußenthum und ſeinen großen König mit Gewalt geltend zu machen, ſich doch alle die Inſtructionen zeigen, welche dieſer dem preußiſchen Geſandten im Haag gab, und ſtrich eigenhändig jede Stelle weg, worin dem conſtitutionellen Gewichte der Staaten zu wenig Bedeutung gegeben ward, oder, wo fie gebieterifch angefahren wurden.

In diefer Zeit Hatte fich mit Hülfe der Staaten von Hol— land in Utrecht ein Magiſtrat organiſirt, an deſſen Wahl die Bürgerſchaft den Antheil gehabt Hatte, den fie forderte und. durch Hülfe der Holländer durchſetzte. Es beſtand Daher in der Pro—

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vinz Utrecht neben dem aviftofratifchen Aufjtande, der fich zuletzt an die prinzliche Ariftofratie angefchloffen hatte, eine Art demo— fratifchen Aufftands der unter Antheil der Bürgerfchaften gewähl- ten Stabtobrigfeiten gegen die nach Art des Mittelalters nur aus einem gewiſſen Kreife und yon einem gewiſſen Kreife yon Bür— gern wählbaren Magiftrate. In Amersfort und Rheenen behaup- teten fich die alten Staaten mit Hülfe der vom Erbftatthalter verlangten Truppen, in den andern Städten fiegte aber die Par- tet der nenen Organifation der Stadträthe, die in der Hauptftadt gefiegt Hatte; denn die Staaten von Holland unterfagten ihren zum Heer des Generalcapitäns gehörenden Truppen, fich in ber Sache der Utrechter Staaten in Amersfort gebrauchen zu Taffen. Die in Ütrecht durchgefeßte demofratifche Bewegung gegen die alten ariftofratifchen Stadtobrigfeiten fehten fich auch in den. an— dern Provinzen auszubreiten.

In Friesland verlangte die Bürgerfchaft von Leuwarden die Beränderung der beftehenden Einrichtung; in Gröningen ward wirklich ein anderer Magiftrat beftellt; in Overyſſel ſchloſſen fich die Städte an den neuen Magiſtrat von Utrecht gegen die Staa— ten an, und felbft in Geldern, wo der Prinz vermöge des zahl: reichen Adels und wegen feiner eignen großen Güter faſt monar- chiſch Herrfchte, traten die Städtchen Hattem und Elburg mit den neuorgantfirten Städten yon Vtrecht und Overyſſel in Verbindung, Diefe Städte verlangten ebenfalls die Abſchaffung der oligarchiſchen Regierungsform des fiebenzehnten Jahrhunderts, fie forderten, daß den Bürgern Antheil an der Wahl ihrer Magiſtrate gegeben würde und wollten fich den Beichluß der Staaten von Geldern, das hieß der Nitterfchaft, nicht gefallen laſſen. Diefe Staaten hatten bejchloffen, daß die Gonftitution von 1674 ganz unverän— dert erhalten werben ſollte. Sie wiefen alle dagegen gerichteten Bittfehriften zurück und wollten die Städte mit Gewalt zwingen, ſich dem Befchluffe zu fügen. Dies veranlaßte zuerſt in Geldern, dann auch in Utrecht einen Bürgerkrieg. Die Negierungsverän- derung in Preußen gab um diefelbe Zeit den englifchen. Kabalen und der Leldenfchaft der Grbftatthalterin, deren Bruder den Thron beftieg, mehr Einfluß in Berlin, als fie vorher gehabt Hatten, und Herzberg durfte endlich fehreiben wie er wollte,

448 Holland bis 1787.

Der alte König von Preußen war am 17. Auguft 1786 geftorben, jein Nachfolger Friedrich Wilfelm IL mar durch feine phyſiſche Beichaffenheit, durch Verführung und Erziehung fchon ganz früh fo tief gefunfen, als Ludwig XV. erſt in feinen vei— feren Jahren fanf, Er war wie Ludwig XV. und alle der finnlichen Liebe huldigenden Männer und Weiber ganz der Kirche, wie man das heißt, ergeben. Er war dabei in der Gewalt feiner Mä— treffen und ihrer Verwandten und ward durch Männer, wie Bi— Ichofswerder und Wöllner, von Fanatifern, Myftifern uud Fromme lern für ihre Zwecke myftifieirt. Der Minifter von Herzberg an der Spige der auswärtigen Angelegenheiten und der Herzog von Braunschweig als Oberbefehlshaber des Heers glaubten die ‚Ehre des Königs durch energiſche Schritte zu Gunſten feines Schwagers heben und dem. preußifchen Staat politiſches Gewicht geben zu Tonnen. Beide waren lange um einen Vorwand verlegen gewe— jen, Preußens Einmifchung vor den Augen anderer Mächte zu rechtfertigen; es fcheint und daher die Behauptung der holländi— Ihen Republifaner (Patrioten) nicht ganz unwahrjcheinlich, obgleich fie nicht erwiefen ift, daß die oraniſche Faction den Waffenfampf in Geldern ausdrücklich veranlaßt habe, um Gewaltthätigfeiten ge— gen den Prinzen hevvorzurufen und ihm dadurch, Vorwand zu geben, fich fremder Hülfe zu bedienen. |

Die Staaten von Geldern forderten am 30. Auguft 1786 den Prinzen formlich auf, Truppen gegen die Städte Hattem und Elburg zu ſchicken, um diefe Städte zu zwingen, ich dem Be— Ihluffe dev Ritterfchaft als dev Mehrheit zu fügen; dagegen er= griffen die Staaten von Holland ihrer. Seits entfcheidende Maß— regeln, Ste verboten nicht allein, ihren Truppen, die unter dem Seneralcapitän ftanden und den größten Theil des. niederländifchen - Heers ausmachten, ſich gegen die Städte gebrauchen, zu laſſen, jondern ſie fchieften ihnen fogar ihre fogenannten Freicorps zu Hülfe, als e8 zum. wirklichen Kampf. Fam... Der Erbftatthalter lieg nämlich die Städte wirklich militäriſch auffordern, ließ fie beichteßen, als fie. die Thore verſchloſſen hielten, ließ fie endlich von feinen Truppen im Namen und Auftrag der Staaten beſetzen und es ward eine gerichtliche Verfolgung verhängt, wodurch viele, Bürger genöthigt wurden, nach Overyſſel und Utrecht zu fliehen

Holland bis 1787. 449

Auch in andern Provinzen erfolgte Achnliches, und die in Amers- fort verfammelten Staaten der Provinz Utrecht forderten ebenfalls Truppen vom Prinzen, um die Hauptftadt zu zwingen, fich ihnen zu fügen; Seeland und Groningen unterfagten aber ihren unter dem Prinzen dienenden Soldaten, fich zu diefem Zweck gebrauchen zu laſſen.

Die Staaten von Holland fehritten, ſobald es zu eigentlichen Seindfeligkeiten gefommen war, zum Aeußerſten und achteten nicht auf die Proteftation der Nitterfchaft, welche in den Staaten von Holland nur eine Stimme gegen neunzehn Stimmen der Städte hatte, Unter diefen neunzehn ſtimmten am zwei und zwanzigſten September jechzehn dafür, dem Erbftatthalter den Oberbefehl ihrer Truppen ganz zu entziehen. Als die Staaten auf diefe Weile, ohne die Generalftanten zu befragen, gegen den Willen der ganzen Nitterfchaft, ihren bisherigen Generalcapitän förmlich abfebten, gaben fie, um die Soldaten vom allgemeinen Heer an fich zu ziehen, ihren Truppen Zulage, nahmen den Rheingrafen Johann Friedrich von Salm-Grumbach nebft feinen Vagabunden in ihre ‚Dienfte, Tegten diefe ihre Truppen an die Gränzen und ertheilten dem General Ryſſel Befehl, fobald die Mtrechter es verlangten, mit feiner Heerabtheilung in diefe Stadt einzuricken.

Dies hatte die herrſchſüchtige Prinzeffin im Stillen längſt erwartet, und der Herzog Ludwig Ernft, der eben fo erbittert. über bie Nepublifaner war, ald die Alles Teitende und vorbereitende und mit dem intriguivenden englifchen Minifter confpirirende Prin- zefftn, Half ihr getreulich. Er war damals fchon Yängft von Aa— chen nach Eifenach gegangen und fpornte feinen Neffen, den regie— venden Herzog, der fich feit dem Gefecht bei Klofter Campen für einen der größten Generale hielt, die Gelegenheit zu nuben, um in Holland den Cäſar (veni, vidi, viei) zu ſpielen. Dies gelang ihm freilich gegen den Rheingrafen, e8 beftärkte ihn aber in feiner eiteln, von Mirabeau umd andern Franzofen genährten Ginbildung son fich ſelbſt jo ſehr, daß er durch dieſe thörichte Einbildung son feinen Feldherrneigenfchaften fich 1792 die Schmach in dev Champagne und 1806 die Schande bei Jena felbft zuzog. Die Wöllner, Biſchofswerder, Niet und Conſorten ließen ſchon damals

in Berlin niemand anders aufkommen als ihre Creaturen. Prinz Schloſſer, Geſch. d. 18. u. 10. Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 29

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Heinrich hatte ſich zwar nach Friedrichs Tode ſchnell herbeige- drängt, um im Namen feines Neffen zu regieren, er ſah fich aber betrogen; doch Hatte Herzberg noch die auswärtigen Angelegenhei- ten in feinen Händen, und war wenigftens über Holland mit dem Herzoge von Braunschweig einer Meinung. Die, welche in Berlin den König umgarnten, fahen ganz gern, daß ber Herzog nad) dem befannten Spruche (sit divus, modo non sit vivus)) in Hol- Iand Ruhm hole, wenn er nur nicht in Berlin. ihnen im Wege ſei. Man hätte auch gewiß ohne Bedenken fogleich Truppen, die man in den weftphälifchen Befikungen, beſonders im Cleveſchen An der. Stille fammelte, marſchiren laſſen, wäre man wegen der Franzoſen ruhig geweſen.

Frankreich hatte ſich neulich enger an die holländiſchen Re⸗ publikaner angeſchloſſen, und die Staatsklugheit ſchien den Fran— zoſen um ſo mehr zu gebieten, eine Heerabtheilung beveit zu. hal- ten, als der. neue englifche dirigivende Mintfter (Pitt) in dem— jelben Jahre (1784), als er fich im fichern Beſitz der Macht fühlte, einen. Meifter in diplomatifchen Künſten alfer Art an den ‚Sroftatthalter, d. h. an die Prinzeſſin, geſchickt Hatte, Harris, Sohn eines Lords dev Admiralität, nachher Lord Malmsbury, war einer der Gefellfchafter der Raiferin GSatharina IL gewejen and hatte im amerifanifchen Kriege meifterhaft cabalivtz er ward daher um 1784, ald die Schritte des Kaiferd gegen Holland und zugleich die, innern Streitigkeiten diefes Landes bedenklich wurden, als Meifter in diplomatiſchen Künſten nach dem Haag geſchickt. ‚Hier. leitete er die Angelegenheiten in Verbindung mit der Prin- zeſſin und der Ritterſchaft ganz vortrefflich im Dunkeln, während Preußen im Lichte handelte. Dies erkannte ſpäter ſowohl Pitt als Preußen, als ſie ihn der Cabalen wegen belohnten und öffentlich erklaͤrten, dies geſchehe, weil er die preußiſchen Bajonette mit ſei— ner diplomatiſchen Kunſt ſo mächtig unterſtützt habe. Schon im October 1786 ſagte der Herzog von Braunſchweig dem berühmten Grafen von Mirabeau, der ſich damals als franzöſiſcher Spion oder Emiſſär in Berlin und auch bei ihm in Braunſchweig befand: 0 „Herr Harris habe zu einer mächtigen und wirk— ſamen Beihülfe Hoffnung gegeben, im Falle der Amis: von Beenden die ——— Anselegen

war

Holland bis 1787. ‚451

heiten mit gewaffneter Hand vermitteln wolle; da— durch habe er dem Könige das Verlangen eingeflößt, mit ſeinen Staatsbedienten Rath zu pflegen.” Dieſe Stelle des ſieben und dreißigſten Briefs der geheimen Geſchichte des Berliner Hofs, oder der vertrauten Briefe des Grafen von Mirabeau über dieſe Geſchichte, darf man ohne Bedenken gebrau— chen, weil ſie durch hundert andere Zeugniſſe und durch den Aus— gang beſtätigt wird, ſo wenig Vertrauen ſonſt dieſe Briefe und ihre Klatſchereien verdienen mögen. Trotz der Erklärung Eng— lands an Preußen ſuchte man doch den Franzoſen zuvorzukommen, weil man hernach ihr Schwert durch engliſche Drohungen in der Scheide halten konnte, wenn es gelang, auch ſie vorerſt zu täu— ſchen. Man gab ſich alſo von Seiten Preußens das Anſehen, als wenn man gemeinſchaftlich mit Frankreich zwiſchen dem Erb— ſtatthalter und den Staaten vermitteln wolle.

Schon im Auguſt, alſo zwei Monate vorher, ehe der Graf Mirabeau die erwähnte Unterhaltung mit dem Herzoge von Braun— ſchweig hatte und dieſer aus ſeiner Reſidenz nach Berlin ging, wo über die engliſchen Anſchläge Rath gepflogen werden ſollte, hatte die Prinzeſſin ihren Bruder mit Sendungen und Briefen beſtürmt; Friedrich Wilhelm war aber kein militäriſcher Charakter. Schon als Jüngling durch Wolluſt, Schwärmerei und tolle Nacht- wachen geſchwächt, konnte er keine vierzig Zeilen hinter einander anhaltend leſen und war jeder ernſten Anſtrengung unfähig. Schwankend wie ev war, ſchickte er auf der einen Seite den Gra= fen son Görz nach Holland, um gemeinschaftlich mit den Fran zoſen zwiſchen dem Prinzen und den Staaten zu vermitteln, und ließ doch auch zugleich, wie Herzberg und die Prinzeſſin wollten, Truppen am den Granzen von Geldern zufammenziechen.

Graf Görz jollte über Loo nach dem Haag reifen, 12) ex jollte fich mit dem dort befindlichen preußtfchen Miniſter Thule— wen und Bon der Prinzeſſin verftändigen, und fich nicht in zu

12) Der ganze zweite Theil der Hiftorifchen Denkwürdigkeiten des königl. preußiſchen Staatsminiſters Johann Euſtach Grafen von Görz, aus deſſen hinterlaſſenen Papieren entworfen 1828, enthält nichts als die holländiſchen Angelegenheiten. Altenſtücke ſtehen in Herzbergs Recueil, und das ganze Detail, wie die Schriften der Holländer über diefen Strett mit F Erbſtatt⸗

29

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genaue Verbindungen mit Harris einlaffen. Was den Prinzen, alfo doch eigentlich die Hauptperfon, derentwegen der ganze Lärm angefangen ward, anbetrifft, fo heißt es ausdrüclich in der In— ftruetion: Der Graf wiffe ja recht gut, daß des Prin- zen Benehmen nihtimmer feinem wahren Intereffe angemeffen fei und daß er oft Blößen gebe. In Rüd- ficht der Hauptfache folle der Graf allein darauf dringen, daß dem Prinzen das Commando der im Haag Tiegenden Truppen zurück— gegeben werde, damit er wieder dahin gehen könne. Man hatte den Grafen von Görz auch darum zu diefer Sendung erwählt, weil er noch von Petersburg her dem franzöſiſchen Marquis von Berar, den er im Haag wieder antraf, perfonlich befreundet war. Die Unter- handlung ward indeffen dadurch erfchwert, daß der franzöſiſche Mi- nifter die entjchiedene Abneigung des Prinzen gegen Frankreich Fannte,

Görz Fam in dem Augenblide an, als bei Gelegenheit der Beſetzung von Hattem und Elburg die Staaten son Holland in pffnen Krieg mit dem Prinzen gerathen waren. Schon die Rich— tung feiner Reife und die Orte, wo er fich auffielt, mußte bie Abficht feiner Sendung verdächtig machen. Cr hielt ſich in Loo einige Zeit auf, er reiste über Amersfort, wo die Staaten der Provinz Utrecht unter dem Schub ber Waffen des Prinzen ihren Sitz hielten. Die fieben vereinigten Provinzen waren übrigens damals in einer höchſt traurigen Lage; da der Staatsſecretär (Fagel) nicht nur, fondern die fammtlichen Generalftanten mit den Staaten von Holland nicht einig waren, und auch die Stadt Amsterdam war mit ihnen entzweit. Die Stadt Amfterdam lei— tete befondere Unterhandlungen ein und die Generalftaaten mach— ten, als die Staaten von Holland ihren Truppen verboten hatten, ihren durch den Prinzen ertheilten Befehlen zu gehorchen, ein Anleihen, um diefe Truppen bezahlen und zurücdhalten zu kön— nenz für das Anleihen leiftete England Bürgichaft.

Aus Paris Hatte man indefjen zu den Unterhandlungen wegen der Ausfühnung den Herrn "von Rayneval geſchickt und Friedrich

halter muß man fuchen in Jacobis vollſtändiger Geſchichte der fiebenjährt- gen Verwirrung und daraus erfolgten Revolution in Holland, Caillards uemoire sur la revolution de Hollande bildet den 1. Theil von Segürs F. Guillaume II.

Holland bis 1787; 453

Wilhelm II. fcheute fih, wie man aus feinen Briefen an Görz fieht, 19 lange DVergennes lebte und die auswärtigen Angelegen- heiten Frankreichs Teitete, feindlich einzufchreiten, das Jahr ver= floß alfo ohne Entſcheidung. Görz ward indeffen fchon im Januar 1787 abberufen, im Februar farb Vergennes und nach feinem Tode hatte das Miniftertum und Galonne, der die Seele biefes Minifteriums war, jo viel mit der damals berufenen erften Ver— ſammlung der Notabeln zu thun, daß es die hollandifchen Ange— legenheiten einige Zeit hindurch aus den Augen verlor.

Diefe Zeit benußten die Engländer, um durch Geld und Gabalen die herrfchende Batriotenpartet zu tremmen und zu unters graben. Es hatte fich in Seeland, in Utrecht, in Friesland, fogar in Amfterdam und. in andern hollandifchen Städten die Stimmung merflich geändert, Es fchien fich endlich eine demo— kratiſche Partei zu bilden, denn die Gegner des Grbftatthalters nahmen die Bürgerfchaften gegen die Magiftrate in Schuß und erlaubten ihnen, unter ihrem Beiftande neue Obrigfetten zu wählen, Das Volk bewaffnete fich endlich überall, der Prinz dagegen, auf vier Provinzen vertrauend, ftand an der Spibe feiner Truppen bei Arnheim; dies veranlaßte die Holländer, einen Gordon an der. Gränze für Sudholland zu ziehen. Diefen Cordon comman— dirte der General Ryſſel, wahrend der Nheingraf mit feiner foge= nannten Legion den Utrechter Demokraten zu Hülfe zog. Endlich, nachdem es bei Utrecht zu blutigen Gefechten gefommen war, er= ließ der Prinz am 26. Mat 1787 eine Art Kriegsmanifeit gegen die Staaten von Holland. In diefem Manifeft ift freilich. nur von einer Partei von Unruheftiftern die Rede, daß diefe aber aus dev Mehrzahl der hollandifchen Städte beftehe, war jedermann be= fannt. Es galt alfo auch diefen, wenn e8 im Mantfeft heißt: diefe Partei in den Staaten der Provinz Holland Habe die Verfaflung und Rechte der Magiftrate, des Erbftatthalters und der General- ftaaten freventlich vernichtet, der Prinz könne daher in Verbin— dung mit den Staaten der andern Provinzen nicht langer anftehen, fih der Zwangsmittel zu bedienen, die ihm nad der Gonftttutton zufämen u. ſ. w.

Nach einem folchen Mantfeft und in einem Augenblick, in welchem fich die Truppen der Holländer und die des Prinzen

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feindlich gegenüberftanden, als jedermann wußte, daß der gemeine Haufen befonders im Haag und im der Nähe diefer Stadt ganz oraniſch gefinnt fer, mußte es fehr auffallen, daß die Pringeffin gerade vier Wochen nach Erlaſſung diefes Manifeftes eine Reiſe son Nimwegen nach dem Hang machen wollte, wo fie feine Ge— ichäfte Hatte und wo die Reſidenz der feindlichen Staaten von Holland war. Ste mußte, um dahin zu gelangen, durch die von Ryſſel befetten und bewachten Orte und Päſſe und durch die bes waffneten Bürger, welche ihr Gemahl durch fein Manifeft erbit- tert hatte, durchziehen; man behauptet daher nicht mit Unrecht, es jet entweder daranf abgeſehen geweſen, den Enthuftasmus des Pö— bels zu erwecken, oder irgend einen Vorwand zu erlangen, wenn die Prinzeffin perfünlich beleidigt werde, ihren Bruder, den König von Preußen, als Rächer anzurufen. Dies tft Feine Vermuthung, fondern Görz fagt es ganz ausdrücklich. 13)

Die Lage der Dinge zeigte übrigens zugleich die Unvollkom— menheit der Berfaflung und Einrichtung der Republik und die Unmöglichkeit, bei der damaligen Befchaffenheit der Dinge irgend eine Mafregel ceonfequent durchzuführen, Die Staaten von Hof Yand gaben nämlich dem General Ryſſel Gegenbefehl, als ihm die Generalftaaten hatten befehlen Yafjen, den Gordon gegen Utz vecht aufzuheben, die Generalftaaten fufpendirten ihn, weil er dem Befehl der Staaten von Holland gehorcht hatte, die holländiſchen Staaten dagegen Hatten ihm für feinen Ungehorfam gegen bie Generalftanten Schub, Sicherheit und völlige Schadloshaltung zu= gefichert, Ganze Regimenter und faſt alle Offiziere waren durch die Erflärung der Generalftanten kurz vor der Neife der is

13) 6 heißl nämlich in feinen Denkwürdigkeiten, 2. Th. S. 199: Me der bürgerliche Krieg) gerüftet war und. die Truppen: beider Parteien gegen einander im Felde ftanden, veränderte plötzlich der kühne und wohl berehnete Schritt ver Prinzeſſtn von Oranten, nämlich ihre Reife von Nimwegen nah dem Haag, die garze Geftalt der Sache. Denn das, was weder die Bitte des Prinzen und der Prinzgeffin, noch die Vorfchläge und Rathſchläge von Herzberg und Görz bet: dem Könige Hatten bewirken fönnen eine Fräftige, nöthigen Falls durch die Waffen unterftüste Inter ventton bewirkte bet dem Bruder die unlöbliche Beleidigung der Schweſter unweit Schoonhoven. Friedrich Wilhelm forderte dafür fchnelle Genugthuung und ließ, als diefe verweigert warb u. ſ. w.

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zefftn beivogen worden, fich den Befehlen der Staaten yon Hol— land zu entziehen und nur som Prinzen Befehle zu erwartem Der Dienft ward in den Gegenden, wo die Brinzeffin durchfahren mußte, von Bürgern, Bauern und von den fogenannten Freiwil— ligen verfehen. Die Brinzeffin gab vor, fie wolle nach ihrem Landitt, dem Haufe im Bufche, wie man es nannte, veifen, und son dort aus mit den Staaten unterhandeln; das hätte fie noth— wendig lange: vorher melden müſſen. Ste hatte außerdem denfel= ben Bentinf bei fich, den die öffentliche Meinung als Urheber des Tumults wegen der Einfahrt durch das Statthaltertfor an— Hagte. Außer diefem war, als veiste fie im tiefſten Frieden, nur die Baroneffe von Waffenaer und einige wenige Bediente bei ihr,

Bis Schoonhoven ließ man die Prinzeffin ruhig reifen. Erſt zwei Stunden hinter diefer Fleinen Stadt bei Welfche Sluys ward fie von einem kürzlich in einen Offizier umgewandelten töl— pelhaften hollandifchen Bauer oder Krämer, dem man wahrſchein— lich Diefe Rolle abfichtlich überließ, auf offner Landftraße ange— halten. Man bewog fie, um fie nicht auf offner Straße halten zu laſſen, im seinem einen Haufe eines benachbarten Dertcheng zu warten, bis dev neu geſchaffene Vorpoſten-Commandant Ver- haltungsbefehle aus Woerden erhalten hätte, wo eine Commiſſion ber Staaten von Holland ihren Sitz hatte. Dies währte einige Stunden, und der Holländer, der ſich in ſeiner militäriſchen Würde zeigen wollte, benahm ſich ungemein komiſch. Dies ward Alles von ſophiſtiſirenden Berliner Diplomaten als Beleidigung der Schwe— ſter ihres Königs gedeutet, Der Offizier nämlich bewachte fie in dem Haufe, als wäre ſie kriegsgefangen, ver behielt, wahrjcheinlich aus Höflichkeit oder Verlegenheit, den bloßen Degen in ihrer Ge— genwart in der Hand und ſteckte ihn erſt ein, als man ihn daran erinnerte. Selbſt feine Art von gutmüthiger bäuriſcher Gaſt— freundlichkeit ward als Beleidigung gedeutet. Er ließ nämlich, während man in dem Häuschen warten mußte, nach holländiſcher Weiſe, Pfeifen und Tabak, Mein und Bier für die Begleitung der Prinzeſſin aufſtellen.

Nach wenigen Stunden langten die Commiſſarien aus Woer⸗ den an, entſchuldigten, was vorgefallen war, mit der Unerfahren-

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heit des zum Offizier gewordenen Bauerd oder Krämers, bewieſen, als Leute von Lebensart, alle ſchuldige Höflichkeit, baten aber die Prinzeffin um Verzeihung, wenn fie durch den Stand der Dinge und durch die Unruhen im ganzen Lande gezwungen wären, fie zu bitten, in Schoonhoven zu warten, bi8 fie Befehl aus dem Haag erhalten hätten. Als diefe Befehle auch am dreißigften noch nicht angekommen waren, reis'te die Prinzeffin zurück und erhielt erft jenfeit der Gränze die ihr Verlangen ablehnende Antwort der Staaten von Holland. Dieſes Ereigniß ward dann nach der Art, wie ein Bentink darüber berichtet hatte, in preußifchen und enge liſchen Zeitungen erzählt, die Gefchichte der Tage vom 28, bie 30. ward in einen Beleidigungsroman verwandelt, und fo ftellte fie auch die Prinzeffin ihrem Bruder, dem Könige, vor, den bie Engländer von der andern Seite her: bearbeiteten. 14)

Bon dieſem Augenblid an Fonnten Herzberg und der Herzog von Braunfchtweig darauf rechnen, daß ihre Wünfche erfüllt wür— den, Herzberg durfte jebt durch Thulemeyer drohende Noten im Haag überreichen laſſen und der Herzog die längſt beorderten Truppen in einem fogenannten Luftlager in der Graffchaft Cleve vereinigen. Als Ludwig XIV, um 1672 wegen einer perfünlichen Beleidigung mit den Niederländern einen Krieg begann, erhoben fich alle Stimmen gegen ihn, und man fehalt ihn ſtolz und über- müthig, weil er feine gefränfte Ehre als Urſache des Kriegs im

14) So hat auch Segür die Sache gefaßt, ver als hiſtoriſche Duelle in feiner Tofen, vornehmen Manier freilich nicht zu gebrauchen tft, diplomatlſch und polttifch aber Hier um fo eher dienen Tann, als er redet, wie die andern auch redeten, und als er eigentlich Caillard nur ausfchreibt. Er fagt Hist. du regne de F. Guillaume II. etc. Paris (1800) Vol. I. p. 126: Harris avoit prevu que si les &tats laissoient venir la princesse à la Haye, leur foiblesse et sa presence enflamant, la populace il seroit facile de faire Eclater une revolte qui &craseroit le parti patriotique, et que si on T’arr&toit dans sa marche, le roi de Prusse qui avait plus de vanite que de prudence, seroit irrit& de cette insulte et verrof son honneur interesse à se venger de cot affront. Frederic Guillaume ordonna A son ambassadeur Thulemeyer d’exiger des etats une satisfaction écla- tante pour sa soeur et de les menacer de la guerre en cas de refus. L’effet de cette infrigue angloise devoit @tre un grand embrasement de V’Europe.

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Manifeft anzugeben wagte, Preußen drohte jebt gar mit Blutver- gießen und Raub, nicht weil die Ehre des Königs felbft gekränkt ‚war, ſondern wegen. einer fehr problematifchen Beleidigung der Schweiter des Königs, welche noch dazu blos Gemahlin des erften Beamten der Nepublit der Niederlande war. Herzbergs Note, welche Thulemeyer am 11. Juli 1787 im Haag übergab, war übrigens bet weiten infolenter ald das Betragen des guten Hol- länders bei Welſche Sluys. Frankreich ftellte fich zwar, als wenn es gegen das Luftlager des Herzo gs von Braunfchweig ein anderes Lager bei Givet und ein Heer einrichten laſſe, es wurden auch einige Soldaten und Offiziere nach Holland geſchickt; aber die preußifchen Kundſchafter, welche nach Givet gefchteft wurden, berichteten, daß dort weder Nüftungen noch Heer zu fehen fe. Thulemeyers erſte Eingabe ward fogar durch eine franzöſiſche Note unterftügt, worin die galanten Franzofen die Kränfung der Prins zeſſin laut mißbilligten und für eine grobe Beleidigung erklärten, In diefer Note ließ man den König von Frankreich fagen, Preu— pen habe ein Recht, Genugthuung für den erlittenen Schimpf zu fordern, und man dürfe fie ihm nicht. verfagen.

Die Staaten von Holland gaben auf beide Noten eine aus— weichende Antwort: Thulemeyer überreichte fehon am 6. Auguft einen neuen Aufſatz aus Herzbergs Feder, der in demfelben Tone abgefaßt it, in dem man damals den preußifchen Behörden zu jchreiben pflegte, welche fchon unter den beiden letzten Königen, Ariedrich IL. und feinem Vater, gewohnt waren, militäriſch an— gefahren zu werden. Zum Belege fügen wir den Schluß in der Note bei, 15) weil fich daraus auf das ganze Stück Schließen laßt,

15) Auf ausprüdlichen Befehl feines Königs fordert der Unterzeichnete nochmals von Ew. Edelgroßmögenden eine fehleunige und ber Beleidigung angemeffene Genugthuung. Se. Majeftät haben mir ferner befohlen, Ihnen nicht unbekannt bleiben zu laffen, daß der König unveränderlih auf dieſer Senugthuung beftchen und fih nicht mit Erörterung einzelner Thatfachen, unbeftimmten Entfchuldigungen-und welieren Ausflüchten begnügen will. Der König verkennt die Achtung nicht, die der Republik der vereinigten Provinzen und ber erlauchten Verfammlung der Generalftaaten gebührt, welche die Sous veränttät des Staats in Abficht fremder Mächte vorftellt. Seine Majeftät findet ein Vergnügen darin, dem Betragen ihrer Hochmögenden feinen Bet: fall zu ertheifen, da biefelben zu erkennen gegeben, daß fie bie Maßregeln

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Eine umittelbar nachher eingereichte Note fpricht aus, daß man yon einem fehwachen, aber unabhängigen Stante eine Art Genug⸗ thuung fordere, wie ſie einſt Ludwig XIV. von Genua erpreßt hatte, wodurch er aber nicht, wie er meinte, Genua und den Doge, ſondern ſich ſelbſt beſchimpfte. Er ließ bekanntlich den Doge nach Paris kommen, obgleich dieſer nach einem Grundgeſetze der Re— publik die Stadt Genma nicht verlaſſen durfte.

Frankreich war theils damals ſchon wegen der drohenden Unruhen und des Streits mit den Parlamenten ſehr beſorgt, theils war ſeit April der Erzbiſchof von Sens, Lomenie de Brienne, an der Spitze des franzöſiſchen Miniſteriums und dieſer fand nicht rathſam, auf den Borfchlag des Grafen von Montmorin, des Minifters der auswärtigen Angelegenheiten, einzugehen. Der letz— tere trug nämlich mit Zuftimmung des Kriegsminiſters und eines andern Gollegen darauf an, den Staaten von Holland Hülfe zu jenden. Die Staaten Hatten fich zudem erboten, Die Koften zu tragen, und auch fogar Salonne hatte die Truppen ſchicken wollen; aber der Erzbifchof war ein Intrigant, der für Fühne Unterneh- müngen feinen Sinn: Hatte. Er entſchuldigte fich mit dem Zus ftande der Finanzen, mit drohenden Winfen der Engländer, ſich für Preußen zu erflären, wenn Frankreich fich vegen follte, endlich mit der Unmöglichkeit, einen Seefrieg zu führen. Da die unter- laſſene Beſchützung der Holländer und der Teichte Triumph des Herzogs von Braunſchweig ſowohl der alten franzöſiſchen Regie— rung. als dem Herzoge später verderblich ward, jo wollen wir Ségürs, oder beſſer Eatllards (denn aus dieſem nimmt Segür das Seinige) ausführlichen Bericht über den ganzen Zuſammen— jo in der Note mittheilen, 16) Uebrigens war —— Verhältniß

De ARBEITETE ST REN

nicht billigen, die man in Holland in der. Sache, welche ben Gegenſtand die ſes Memorials ausmacht, befolgt hat. Von Ew. Edelgroßmögenden Klug- heit und nochmaligen ferneren Berathſchlagungen über die Sache erwartet der König eine ſchleunige und genugthuende Antwort.

16) Segur 1. e. Vol. Lp. 130: Mais la faiblesse qui causa pew de tems après la ruine du pouvoir monarchique en France, rendoit dejä toutes les r&solutions du cabinet de Versailles lentes et incertaines. Le comte de Vergenmes entraindg par l’activit® du duc de la Vauguyon, avoit coltre son voeu et celui du röi; pris part aux premiers tronbles

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der Dinge in den Niederlanden ſo ſonderbar, daß es ſchwer zu ſagen war, ob ein fremder Staat berechtigt ſei, der Provinz Hol- and beizuſtehen. Ms nämlich Frankreich anfangs den Staaten yon Holland Offiziere, Soldaten, Waffen zukommen ließ, beſchwer— ten ſich die Generalftanten darüber und nannten es eine Vers leßung der mit den ſämmtlichen Provinzen beftehenden Verträge.

Sn dem Augenblick, als die Preußen Truppen marfchiren liegen, um die Unabhängigkeit des freien Staats unter dem Vor— wande zu unterdrücden, daß fie die preußifche Prinzeffin und ihren Gemahl in den ihnen entzogenen Rechten gewaltfam wieder ein- jeßen wollten, zeigten fich die verderblichften Folgen der Zwietracht. Nicht blos die Generalftanten vereinigten fich mit dem Prinzen,

des Provinces-Unies. Engage dans cette querelle, le roi n’avoit sou- tenu les patriotes qu’ A regret; il craignoit, que celte contestation en suscitant une nouvelle guerre, n’achevät d’epuiser ses finances; cepen- dant il sentoit, qu’il ne pouvoit sans honte abandonner la Hollande à influence de V’Angleterre: il avoit toujours esper& terminer cette que- relle par un accomodement. M. de Montmorin qui avoit succed& a M. de. Vergennes dans le ministere. des afflaires Etrangeres, representoit, en vain, que pour parvenir à ce but il falloit developper autant de force que de sagesse, et que pour empächer la guerre il falloit se montrer pret à la soutenir avec succes; en vain le mar&chal de Segur, ministre de la guerre, renouveloit a chaque conseil la demande. des fonds ne- cessaires au rassemplement d'un camp a Givet. L’archeveque de Tou- louse, depuis archeväque de Sens, nouveau ministre des finances, homme de peu de moyens et d’une grande ambition, dont les femmes avoient fait la reputation et qui la perdit des qu’il fut à la tete des affaires, retardoit de jour en jour la deeision du conseil sur cette importante determination, et croyoit que les menaces d’un armement sans en fäire les frais suffiraient pour effrayer la Prusse. II &toit &vident que ce systeme pu6ril ne pouvoit pas avoir un long succ&s. Le duc de Bruns- wick, qui s'étoit avancé peu à peu jusqu’ aux frontieres de la repu- blique envoya des officiers reconnaitre les dispositions des Francois. N a dit lui-m&me souvent depuis son expedition, que s’il y avoit eu quelques tentes il n’auroit pas continue sa marche, parceque le roi de Prusse ne vouloit pas pour l’interet de sa soeur s’engager dans une guerre avee la France, dont la maison d’Autriche n’auroit: que trop profit. Mais en apprenant que les Frangois n’avoient pas un seul corps de troupes sous les armes, il jugea que la celerit& de son ex- pedition en assureroit le succès.

460 Holland bis 1787.

jondern nachdem Gelderland und Friesland fich ſchon längere Zeit hindurch oraniſch gezeigt Hatten, trennte fich auch Seeland von den jetzt demofvatifivenden Holländern und Utrechtern, mit denen nur noch Gröningen und das Fleine Overyſſel verbunden blieben, Sobald man fich verfichert Hatte, daß die Franzofen Feine Macht beifammen hätten, marfchirten die Truppen des Prinzen im Namen der alten Staaten von Utrecht von Amersfort aus gegen diefe Stadt und belagerten fie, während die Preußen fich in drei Heerabtheilungen vertheilt ebenfalls in Marfch festen. Die Staa- ten von Holland hatten namlich mit einer Antwort auf die info- Venten Forderungen, welche der preufifche Minifter an fie gethan hatte, bis zum 8. Sept. gewartet, an diefem Tage antworteten fie auf die Droßungen zwar demüthig und höflich, wichen aber doch der Forderung aus und billigten dag Betragen der Commif- jarien in MWoerden, indem fie bedauerten und um Verzeihung baten, daß der des Kriegsdienftes ungewohnte Officer mit blan= kem Degen vor der Prinzeſſin herumfpaziert ſei.

She diefe Ermwiderung der Staaten noch vom Gefandten nach Berlin gefchieft war, erhielt er von dorther in derfelben Nacht eine neue ganz brutale Erklärung, die er am 9. übergab, Die Antwort, welche die Staaten am 12. gaben, würde, auch wenn fie nicht ablehnend gewejen wäre, wie fie war, doch zu ſpät gekommen fein, denn die Preußen waren fchon im Anzuge. Fünf- taufend Mann unter dem General von Lottum gingen bei Arn- heim über den Rhein und zogen gegen Utrecht; zwölftaufend unter dem Herzoge von Braunfchweig gingen bei Nimmwegen über bie Waal; fünftaufend unter von Kuobelsdorf zogen nah Zutphen, Den Fortfehritten der Preußen ſtand bis nach Amfterdam hin nichts entgegen, wodurch fie auch nur hätten einige Zeit aufge halten werden können, als der moraftige Boden und die ſumpfigen Wege; mir werden daher in einer allgemeinen Gefchichte der ein- zelnen Umftände diefes preußifchen Triumphs gar nicht erwähnen. Das Refultat war, daß der Grbftatthalter den Holländern, mie die Bourbons um 1814 den Frangofen, durch Fremde Bajonnette wieder aufgedrungen ward. Ganz paßt jedoch dieſe Vergleichung nicht, denn die oranifche Partet in den ſieben Provinzen war der patriottfchen an Zahl unftreitig gleich, und der demokratiſche Theil,

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oder der in den lebten Jahren erft zum Bewußtfein gefommene Theil der Bürgerfchaften vermochte noch fehr wenig.

Obgleich Amfterdam einigen Widerftand that, fo war doch) die Unterwerfung der Provinzen unter die vorige Negterung in— nerhalb eines Monats beendigt, Die Sache war leichter als 1814 in Franfreich, denn man durfte nur unter preußifchem Schub überall die Patrioten verdrängen und die Anhänger und Freunde des Haufes Dranien einfeßen, jo war die Reaction vollendet und die Gegenrevolution feit begründet. Diefe Gegenrevolution berei= tete indeffen dennoch eine neue Nevolution ganz anderer Art vor, weil ein großer Theil son denen, welche tim Holland den Demo- fraten emporgeholfen hatten, nach Frankreich flüchtete, Dort errichteten fie, als die franzöſiſche Nevolution ausbrach, Ausfchüffe, reisten hin und her, knüpften Gorrefpondenz mit Gleichgefinnten in ihrem Vaterlande an und bereiteten Alles für eine Revolution anderer Art, ald die vorige geweſen war, vor.

Da der Prinz den Oberbefehl der ganzen Armee der ver— einigten Niederlande in der ganzen alten Ausdehnung. defielben wieder erhielt, jo bedurfte e8 Feiner fremden Truppen, um die Ruhe zu erhalten, doc wurden dem Prinzen fechstaufend Mann Preußen auf ſechs Monate geliehen. Auch bedurfte es Feiner Gewalttreiche, denn die Häupter der Batrioten entfernten ſich auf einige Zeit freiwillig, und da alle Obrigfeiten und Stadtmagi— firate mit Männern der oraniſchen Partei befett wurden, und der Erbftatthalter fein Recht des Einfluffes auf die Wahl der jouveränen Stadtmagiftrate noch in weiterem Umfange als vorher geltend machen Fonnte, jo herrfchte die oraniſche Faction im gan— zen Lande. Die preußifchen Truppen betrugen ſich mufterhaft und mußten oft dem oranifchen Pöbel Einhalt thun. Diefer plün- derte und mordete und verfolgte ſowohl die Urheber der demokra— tifchen Bewegung, als die Patrioten, Die vranifchen Gerichte und Obrigfeiten begünftigten heimlich den Pöbel; dieſe ftille Reaction, nicht öffentliche Verfolgung der Regierung, trieb jene bedeutenden Männer aus dem Lande, welche hernach die Aus— ichüffe zu St. Omer“ und Dünkirchen bildeten, deren Wirk— jamfeit exit feit dem Sahre 1792 der herrfchenden Partei ges fährlich ward,

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Der ganze Bortheil diefer Kataftrophe ward wie gewöhnlich den gut berechnenden Engländern zu Theil; den Schimpf hatte Frankreich; den Schaden die Republik der fieben Provinzen; den eiteln und augenbliclichen Ruhm eines Siegs, ohne einen Feind bekämpft zu haben, kaufte Preußen mit einem fehr ſchweren Geld- aufwand zu einer Zeit, ald der neue König die von feinem Vor— ganger gefammelten Schäbe auch auf jede andere Weiſe Teicht- finnig verfchwendete, Was zunächſt England betrifft, jo erreichte -28 blos durch politifche Künfte und durch die Rolle, welche Har- ris bei diefer ganzen Nevolutionsgefchichte vermöge der Prinzeſſin ipielte, ein Ziel, nad) dem es das ganze Jahrhundert hindurch vergeblich geftrebt hatte. Es unterdrückte nämlich die franzöſiſche Partei in den Niederlanden gänzlich und ſchloß eine innige und nothwendige Verbindung mit der Gegenpartei der Republikaner, bie fih an Franfreich zu halten pflegten, Es ward im April 1788 ein Defenſivtraktat zwifchen Holland, Preußen, England gefchlof- ſen, der für Preußen nicht den geringften Vortheil hatte, wodurch aber Holland, dem in diefem Traktat feine Verfaſſung, das Heißt die Regierung des Erbſtatthalters verbürgt ward, ſpäter in den Revolutionskrieg hineingezogen wurde.

In Frankreich benutzte die Partei, die ſchon damals sn arbeitete, Durch den Sturz des regierenden Zweigs der Bourbong, von dem durchaus Feine Aenderung des veralteten Syſtems der Regierung zu erwarten war, eine neue Einrichtung des Reiche möglich zu machen, den. Unwillen der Nation über die preufifche Expedition auf diefelbe Weife, wie fie vorher die Unzufriedenheit über die Geldzahlung an den Kaiſer bei der Vermittlung der Streitigkeiten über deſſen Forderungen an Holland benust hatte. Die auf ihre militärischen Eigenſchaften mit allem Recht ftolgen, und bis zum Kindifchen auf ihre Nationalehre eiferfüchtigen Fran— zofen haben e8 weder dem damaligen Minifterium, noch ihrem ſchwachen Könige je verzeihen konnen, daß auf die bloßen Dro- hungen der Engländer nicht blos die Rüſtungen gleich eingeftellt, ſondern auch Die geflüchteten Holländer entwaffnet und von den - -Gränzen entfernt wurden,

Breußen ward durch die unzeitige Großmuth des Königs in jehr bedeutende, ganz unnöthige Koften geftürzt, mel, "wenn es

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wirklich nöthig war, die Verhinderung der Reiſe einer preußiſchen Prinzeſſin mit den Waffen zu rächen und fie und ihren Gemahl mit einer Armee zurüczuführen, es doch höchſt ungerecht war, den armen Preußen zuzumuthen, aus ihrem Bentel zu bezahlen, was. die reichen Holländer gefündigt Hatten. Durch das Glück diefes fehnellen Zugs gegen Spiepbürger und ſchlecht geübte Sol— daten vermehrte ſich außerdem in Preußen die militärtfche Bürger- verachtung der adeligen Dffieieve, befonders der Garde, und das Selbftvertrauen und die Cinbildung des Herzogs von Braun— jchweig von feinen eignen fehr großen Feldherrntalenten, in wel- cher ſowohl Mauvillon als Mirabeau dieſen Oberanführer der preußiſchen Armee beftärkt hatten, bis auf einen unglaublichen Grad, daß felbft die Erfahrung in der Champagne weder: die Officiere noch ihren Chef von ihrer Verblendung heilen konnte.

Um: diefe Zeit glich Friedrich Wilhelms Regierung dem Ende dev Regierung Ludwigs XV; denn auch der König von Preußen hoffte, wie Ludwig, Gott wegen aller Sünden des Fleifches durch blinden Glauben ımd wilde Schwärmerei, befonders aber durch Eifern für die alte rechte Lehre und für den alten Kirchenglauben verföhnen zu können. Wöllner, der anfangs wentgftens äußerlich hatte an fich halten müffen, weil der König nicht fogleich als Reactionär hatte erfcheinen wollen, durfte fich mit einer Schaar Steifgläubiger umgeben, ein fogenanntes Religionsediet erlaſſen And gegen den Nationalismus - wüthen. Er hatte dabei einen ſchwerern Kampf als die, welche in unfern Tagen in feine Spu— ven treten, weil ev dabet nicht wie diefe, von zwei PBarteten, von ‚ben Unverbefjerlichen oder Köhlergläubigen und von den: mit Re— densarten und Modephiloſophie und Poeſie Spielenden, ‚die nad) der Mode und dem Ton der Zeit bald gläubig, bald ungläubig find, unterſtützt ward. ı Wollte man übrigens Scandale oder Sa— tyre Statt Gefchichte fchreiben., fo böte die preußifche Geſchichte der Zeit Friedrich Wilhelms IL. dazu denfelben reichen Stoff, als die Geſchichte Ludwigs XV. Der durch den Zug nach Holland vermehrte Uebermuth und die Verachtung alles Bürgerlichen und ‚der Moral war namlich unter dem preußtfchen Adel damals eben ſo herrſchend geworden als unter dem franzöftichen Hofadel, Der Hochmuth und das thörichte Selbſtvertrauen dieſer ſittenloſen Seit,

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wo man jeden jteif rechtlichen Mann einen unbrauchbaven Pedan- ten jchalt, überlebte fogar den unglücfeligen Zug in der Cham⸗ pagne und ward bis auf die Zeit der Schlacht bei Rt fort- gepflanzt. Wir alle freuten uns daher fehr, als das auf biefe Schlacht folgende Elend eine völlige Wiedergeburt ımter den Preußen bewirkt zu haben ſchien, und als endlich einmal’ das Prahlen und Pochen verfchwand. Wir alle hofften damals, daß der dejpotifche und ſervile Geift übermüthiger Beamten und Of- ficiere gänzlich und auf immer verſchwunden fet.

Wir wollen weder hier, noch im Folgenden uns auf Hofges. Ichichten einlaffen, weil wir auch in den franzöfifchen Gefchichten einen gleichen Grundſatz befolgt haben und befolgen werden; ob— gleich Yeider! darüber die Quellen am veichhaltigften find, und den, der nur Zeitvertreib im Leſen fucht, beffer unterhalten als ernste Sejchichte thun würde, Mirabeaus Briefe enthalten ſchon einen guten Vorrath von Klatjchereien, wahren und falſchen; nad) 1806 erſchien aber befanntlich eine ganze Bibliothek yon Schrif- ten über die preußifche Hofgeſchichte. Schon die allgemein be— fannten Gefchichten und das tägliche Leben eines ſchwachen von Sinnlichkeit und Fantafie, alfo auch durch Aberglauben und My— ſticismus beherrſchten Königs find anſtößig genug; die geheime GSefchichte der Scandale jener Zeit würde viele Bande füllen. Dahin gehört 3. B., daß anfangs die Königin, die längſt die Rolle fpielte, welche Ludwigs XV. Gemahlin an feinem Hofe hatte, geneigt geweſen war, für Geld ihre Einwilligung zu geben, daß das Fräulein von Voß dem Könige an der linken Hand an— getraut werde, fo daß der fromme König zur gleicher Zeit zwei Frauen, unzählige Betfchläferinnen und eine erklärte Mätreſſe in der Frau Nie würde gehabt Haben. Die Rietz machte übrigens bei Friedrich Wilhelm, wie die Pompadour * Lud⸗ wig XV. die Gelegenheitsmacherin.

Als das Fräulein von Voß 1789 geſtorben war, nämlich die Tochter des Waldhorniſten Enke, die der König mit ſeinem Kämmerer Rietz vermählt und deren Sohn er unmittelbar nach ſeinem Regierungsantritt zum Grafen von der Mark gemacht hatte, erſt eigentlich ihre Rolle zu ſpielen. Sie trieb das Ge— ſchäft der Pompadour, welche bekanntlich für Ludwig XV. auf

Frankreich bis 1788, 465

eine Weiſe forgen mußte, die ihr allein befannt war und bekannt jein konnte, Sie ward die Hauptperfon im Neiche, und wie e8 in diefem Neiche ausſah, welche Nolle fie darin als Gräfin von Lichtenau fpielte, hat fie ung ſelbſt durch ihren Defenfor jagen laſſen. Das von ihr eingegebene, durchaus gemeine und unver— ſchämte, mit gemeinen und niederträchtigen Aftenftücen geſpickte Buch, welches der Prorector Schummel in Breslau in unferm Sahrhundert herausgab, 17) ift nicht, wie Mirabeaus Briefe, ges fchrieben, um Alles ins Schwarze zu malen; fondern um fo viel wie möglich Alles zu vechtfertigen. Wer einigen Takt hat, wird ſich aus diefem Büchlein allein fchon ein Gemälde der Berliner Zuftande entwerfen können, welche. übrigens nicht mehr in bie hier behandelte Periode gehören.

& 3.

Belgiſche, holländiſche, franzöſiſche Innere Streitigkeiten. c. Frankreich.

Wir haben uns bemüht, in der erſten Abtheilung dieſes Bandes durch die Geſchichtserzählung und durch ihre Anordnung und Einkleidung handgreiflich zu machen, daß es nicht die jähr— liche Lücke in der Staatseinnahme und die ſteigende Unmöglichkeit, die jährlichen Ausgaben zu beſtreiten, an und für ſich ſelbſt wa— ren, welche das Bedürfniß einer gänzlichen Veränderung der Staatsverfaſſung ſchon unter Ludwig XV. allgemein fühlbar machten. Wir haben gezeigt, daß es unmöglich war, die Mittel zu benutzen, welche die Zeit und die neue Wiſſenſchaft der Staats- Haushaltung erforderten, wenn nicht eine völlige Neform des Her— gebrachten erfolgte. In allen Ländern Europas waren nach und nach viele Veränderungen, wenn auch nicht gerade zum Beſſern

17) Apologie der Oräfin Lichtenau gegen die Befchuldigungen mehrerer Schriftſteller. Bon ihr ſelbſt entworfen, Nebft einer Auswahl von Briefen an fie. Erſte und zweite Abthellung. Leipzig und Gera, bei Wilhelm Heinfius. 1808. 298 u. 306 ©. gr. 12.

Schloſſer, Geſch. d. 18: u. 19. Jahrh, IV. Thl. 4. Aufl. 30

466 Frankreich bis 1788,

gemacht worden. In Frankreich hatte man nicht einmal Hlerar- chie und Ariſtokratie in unweſentlichen Dingen befchränkt, wie doch Marin Therefin im ſtreng eonfersativen Defterreich zu thun ge— wagt hatte, Die Mafchine blieb wie fie unter Ludwig XIV. gewejen war, aber alle Räder waren vojtig und die Feder verlor alle Slaftieität. Weder der Wechfel der: Finanzminifter hatte ge= holfen, noch hätte die Sparfamfeit des Hofes, die Verminderung der Ausgaben und Bermeidung neuer Schulden, welche Neder als Univerfalmittel empfahl, auf die Dauer helfen Tonnen, Für den Augenbli wäre freilich die Sparjamfeit, wozu er rieth, nicht ganz überflüſſig geweſen und die Teichtfinnige Verſchwendung der Prinzen: war feineswegs, wie Galonne zu behaupten: fich un— terftand, als Mittel, Gewerbjamfeit zu ermuntern, dem Otaate unentbehrlich.

Schon feit Ludwigs XIV. Zeiten war die franzöſiſche Staats— kaſſe entweder wirklich im Bankerott oder in der Lage eines gro= Fen Haufes, das bald einmal feine Zahlungen einftellt, bald fich auf jede Art, redlich oder unvedlich, aus der augenblicklichen Ver— legenheit hilft und fie wieder aufnimmt, Es kam darauf an, im Kamen und mit Hülfe des Volkes auch. die bisher. Privilegirten zu gleichen Beiträgen mit.den andern Staatsbürgern zu zwingen und zugleich alle Hemmniffe und Beichränfungen der Betriebſam— feit und. des Verkehrs wegzuräumen; um dies zu thun, hätte man ‚aber Adel und Geiftlichkeit gebrauchen müſſen, de fich wohl hü— ‚teten, Zaften auf fich zu laden.

Es ſcheint uns, als wenn man auf Neckers Grundfäke, wie auf ſehr viele andere ganz zufällige, zu jeder andern Zeit unbe— beutende Dinge, ja ſogar auf das fogenannte Defieit und auf den Aufwand der Prinzen, der, verglichen mit dem, was unter 2ub- wig Philipp und. auch gegenwärtig wieder ganz ohne allen Nusen für die Gefammtheit ausgegeben wird, ganz unbedeutend erſcheint, bei einer Weltbegebenheit, wie die Revolution, welche eine reife Geburt der feit dev Negentfchaft mit einer gänzlichen Umgeſtal— tung ſchwangeren Zeit war, viel zu große Bedeutung gelegt hätte, Man kann jedoch ohne Bedenken zugeben, daß Neckers liberale Anſichten und ſein Anleiheſyſtem, wie Calonnes Leichtferligkeit und Verſchwendung für den Hof, die Prinzen, Günſtlinge und

Frankrelch bis 1788. 167

en die Kataſtrophe etwas ſchneller herbeiführte, als fie folgt wäre. Die DVergleichung des jetzigen Frankreich, erlich moralifcher iſt oder beſſer vegtert wird als Frank— ter Neckers Miniſterium regiert ward und die Summen, hrlich aufbringen muß und Tann, beweifen, daß diefe w heiffam fir das Ganze war,

gar der Blutſauger Frankreichs, deffen Herz hart mar Stein, der Finanzminifter di Terray, erflärte am Ende ——— rau, ohne daß es ihm einfiel, daß die Revolution irgend 9 anders herkommen könne als aus dem autofratifchen Ka— binet, daß ohne eine gänzliche Veränderung der beitehenden Ordnung der Dinge die Staatsausgaben nicht mehr beſteitten werden könnten.

Man hatte Necker geſucht und trotz ſeiner der Königin, dem Könige ſogar und dem Hofadel wenig zuſagenden doctrinären, auf Genfer und bürgerliche Weiſe etwas pedantiſchen Formen am Hofe und in den Geſchäften geduldet, weil er die nöthigen Sum— men für den nordamerikaniſchen Krieg anzuſchaffen wußte, ohne neue Steuern vorzuſchlagen. Man ertrug es darum auch, daß er ſich einbildete, daß die von ihm der Königin, den Prinzen und dem Hofe empfohlene Sparſamkeit, welche unſtreitig unter den Umſtänden moraliſche Pflicht geweſen wäre, auch eine Maß- regel politiſcher Weisheit und finanzieller Aushülfe für einen ſo großen Staat ſein könne. In Genf oder Schweden oder Dänemark wäre das anders geweſen. Necker ſelbſt ſagt ung, man Habe ihm, den Kaufmann, genommen, weil man Credit gebraucht habe und schlechterdings Anleihen habe machen müſſen, deren vortheilhafteſte Einrichtung und Erlangung der Gefchäftsführer eines fehr großen Bankierhauſes am beiten verftehe. Er gefteht bei.diefer Gelegenheit zugleich, daß er. fich als Mintfter einer großen und glänzenden. Mi- litärmonarchie, die. mit einer Hierarchie und einem: mächtigen Adel des Mittelalters und mit allem Flitter und Plunder, der zur Re— präſentation großer Höfe gehört, belaſtet geweſen fet, eingebildet Habe, mit den Mitteln, die in einer großen Privathaushaltung oder. in einen Kleinen Breiftant ganz vortrefflich fein - mögen, eingewur- zelten. ungeheuern Mebeln abhelfen zu können. Das bezeichnet den ganzen Mann, a wenn man die doetrinäre Sicher— 30*

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heit des Tons und Ausdrucks dazu nimmt, mit dem er das alles vorträgt. 18)

In der Vertheidigung feines zweiten Minifteriums berichtet ung Necker jelbit, daß es unmöglich geweſen ſei, dem Mentor des Königs, der an ber Spitze der Gefchäfte ftand, zu einer ernften Anficht der Dinge zu bringen. Maurepas war ein alter Höfling und Witzmacher; er konnte, wie die Weiber son großem Ton, von Allem veden und hatte yon Allem veden hören, Gr glaubte, wie Weltleute pflegen, Alles beffer zu willen, Sinn für einen großen und veiflich geprüften Plan Eonnte man ihm nicht bei- bringen. Necker erzählt, daß alles, was der fchwache aber mohl- meinende König gebilligt hatte, auch noch erſt der Kritik der Kö— nigin, die fich beffer auf Flitterfiaat als auf Politik und Finan- zen verftand, und der der Prinzen, der Polignacs und fogar der der Frau son Campan unterworfen wurde, welche Iebtere uns ihre Weisheit in ihren Denkwürdigkeiten mitgetheilt Hat. Er ſchil— dert auf eine wahrhaft tragifomifche Weife die Angft, die er je desmal empfand, wenn er die lange dunkle Treppe zu dem klei— nen Kabinet, welches Maurepas in Verſailles über dem könig— lichen zum Arbeitszimmer hatte, hinaufitieg und mit einem neuen Einfall fchwanger ging, den er dem alten Grafen begreiflich machen ſollte. Man lernt aus feinen eignen Worten, wie jehr

18) &r fagt (Sur Vadministration de Mr. Necker par lui méême. Paris 1791) pag. 8: Les moyens auxquels je mis ma prineipale con- _ fiance &toient l’ordre, l’&conomie et V’application de la morale à toutes les transaetions. Dann rechtfertigt er fein Anleiheſyſtem pag. 9 auf eine ſolche Welfe, daß man fieht, daß er auch 1791 noch nicht begriff, daß er eine Sade unternommen hatte, deren Unmöglichkeit jedermann auf den erſten Blick erkennt. Er fagt pag. 9: Il etoit reserve A l'ésprit de nouveaute qui nous gouverne sur tous les points, de censurer l’usage du credit pendant la derniere guerre, comme s’il y avait eu une possibilit& de subvenir par des impöts à des besoins immenses. Je ne sais ce que la nation pourra payer en extraordinaire sous un gouvernement elle reglera elle-m&me toutes les contributions et toutes les depenses mais autrefois on auroit &prouve des resistences tres-nuisibles a la confiance publique si des les commencemens de la guerre on eüt de- mandé un troisitme vingtitme et ce suppl&ment n’eüt valu que vn ä vingt cing millions.

Frankreich bis 1788. 469

der nad) Genf Manier gebildete Mann fich durch feine übrigens ganz vortvefflich gemeinte moraliſch-doctrinäre Predigt die Sache bei Leuten erfchweren mußte, die, weil fie in Talleyrands Manter geiftreich waren, auch dachten mie dieſer. Necker führte gleichwohl manche DVerbefferungen ein, worunter wir befonders der Pro— vinztalverfammlungen als eines erften Schritts zu wefentlichen Aenderungen erwähnen. 19) Dies war um 1779; er fiel aber, jobald er es wagte, den Schleier des Geheimnifjes, der die My- fterien des Kabinets und der Finanzen deefte, auch nur einwenig zu lüften. Necker wollte, um die Anleihen, die im Laufe des nordamerifanifchen Kriegs gemacht werden mußten, zu erleichtern, vieleicht auch gelegentlich und fich felbit unbewußt, um auf feine Verwaltung ein glänzendes Licht zu werfen, eine Billanz oder eine Rechenfchaft der Verwaltung der Finanzen öffentlich vorlegen. Dies geſchah durch ein gedruckte Buch (compte rendu) im Ja— nuar 1781 und verfchaffte Necker einen ſehr kurz dauernden Ruhm und eine gefährliche Popularität unter denjenigen Franzofen, welche wmefentliche Veränderung aller VBerhältniffe und Cinrich- tungen, nicht blos ein Ausflicken der alten morfchen Staatsma— ſchine und temporäre Finanzmaßregeln wünſchten. Zu einem ſol— chen Gejchäft war aber Necfer nicht gemacht; man pries ihn da= her in jener Zeit nur darum, weil er dreifteren. Männern den Meg bahnte. Vom Hofe ward feine Schrift als gefährliche Neuerung angeſehen, die Parlamente, alle zahlreichen Freunde des Alten und Veralteten erbebten, obgleich Necfer feinem neuen An— leihen dadurch allerdings einen günftigen Fortgang verfchaffte. Welche: Blößen übrigens Necker vermöge der Eitelkeit und der ſich und die Familie und die Freunde vergätternden Manier, die feiner Tochter, der Frau von Stack, beffer gelungen ift und fie weltberühmt gemacht hat, den Spöttern am Hofe, einem Calonne und andern Meiftern des Witzes der Salons gab, lernt man

19) Was Neders Verwaltung angeht, fo wird man wohl thun, darüber den vierten Abfchnitt des erſten Theils der Geſchichte der Staatsveränderung in Srankreih unter König Ludwig XVI. (Leipzig, Brodhaus 1827) nachzu⸗ lefen, da wir fowohl das Adminiſtrationsweſen und die Finanzen, als bie eigentliche Kriegsgeſchichte nur im Vorbeigehen behandeln dürfen, wenn wir unſern Zweck nicht verfehlen wollen.

ATO Frankreich bis 1788.

gelegentlich aus feinem Buche über die, Finanzen, Er kann fich nämlich nicht enthalten, im diefem Berichte über die Finanzen eines großen Reichs, der zwar an den König gerichtet ift, aber doch zum Druck beftimmt war, den König gelegentlich won feiner (Neckers) Frau und von ihren Berdienften zu unterhalten.

Durch den Schritt, den Necker gethan hatte, ward feine Stellung ſehr bedenklich. - Maurepas war nicht weniger als die Minifter dadurch gekränkt, daß Necker in feiner Ueberſchätzung deffen, was er zu leiften im Stande ſei, fich allein als Retter des Reichs darftellte und son den Staatäbürgern, welche Aende— rungen wünfchten, auch wirklich als folcher angefehen ward, Es war daher feinen Feinden jehr gelegen, daß er gerade in dieſem Augenblie darauf beſtand, wirkliches Mitglied des Minifteriums zu werden, Damit er im den Sitzungen deffelben perſönlich dem Könige vortragen könne. Necker nämlich war anfangs als Finanz- rath angeftellt, ev ward hernad) Diveftor des Schabes und ward endlich unter dem Titel eines: Generaldireftors der Finanzen eigent- lich Finanzminifter, mußte aber, weil er nicht Generalcontroleur ber Finanzen hieß, feine Berichte durch) Maurepas im Minifter- rathe vortragen und vertbeidigen laſſen, dem wenig daran lag, daß fie Erfolg hattenz feine Forderung betraf daher nicht bios eine leere Ehre. Man nahm feinen Proteſtantismus, der, wenn man gewollt hätte, damals Fein Hinderniß gewefen ſein würde, blos zum Vorwand, ihm den Titel des Amts, das er wirklich bekleidete, zu serweigern und ihn. won der Theilnahme an den Derathichlagungen des geheimen Raths auszufchließen. Den Wink, den man ihm dadurch geben wollte, konnte er nicht verkennen; er verließ Daher eine Stelle, yon der er) weder Befoldung noch irgend einen andern Vortheil gezogen hatte. Kaum hatte er am 20. Mat 1781 erklärt, daß er fich zurückziehen wolle, als er auch noch an demjelben Tage feine Entlafjung erhielt.

Sp ſchwierig der Bolten war, den Neder verließ, ſo fehlte es doch an Bewerbern nicht, und die zahlreichen Denkwürdigkeiten jener Periode, wie die aus ihnen geſchriebenen Geſchichten der letzten Jahre der alten Regierung von Frankreich find voll Anek— doten und Klatſchereien über die Kabalen der müßigen und leicht- fertigen Leute, die am Hofe, wo über das Minifterium unterhans

Frankreich bis 1788. 471

delt ward, inte über ein Ballet oder über eine. Oper, Einfluß hatten oder haben wollten, Wir erfahren dort alles, was Maus vepas, was die Königin, was der ganze Troß von Hofleuten und Bringen wollten oder nicht wollten. Wir Halten uns dabet nicht auf, Tondern erwähnen nur zwei Dinge, die uns zuverläfliger und bedentender ſcheinen, als. Anekdoten und Hofgefchichten.

‚Der eine Punkt, daß jeßt zum zweiten Mal dem Volke, das heißt allen Berftändigen, die Sinn und Urtheil für die An— gelegenheiten des Baterlandes hatten, weß Standes fie auch immer fein mögen, fund gegeben und bewiejen ward, daß von Dem ſchwachen Könige und ſeinem guten: Willen feine entfchiedene Mafregel zu Hoffen ſei. Dev König hatte eingefehen, daß Türgot, der die alten Mißbräuche mit der Wurzel austilgen wollte, der Mintfter jet, den die Zeit fordere, er hatte ihn fallen laſſen, ſo— bald er heftigen Widerftand im Parlamente gefunden. Daffelbe erfolgte, als jet dev Hof und die Prinzen gegen Necker ſchrieen, der fchon darum allein: dem Volke gefallen mußte, weil er gegen Verſchwendung und gegen den Aufwand eiferte, den der Hof und die Bringen, um des leeren und eiteln Glanzes willen, machten. Da in jener Zeit gerade der achtbarfte, kräftigſte und erleuchtetfte Theil der Franzoſen, den man nicht wie den Pöbel mit: Bajon— netten und Flintenkugeln zum Schweigen bringen fonnte, einfah, daß nur Widerftand und zwar heftiger und Fraftiger Widerftand, den König und den Hof zum Guten zwingen werde, jo wurden auch von denen, welche einen Umſturz nicht wünſchen Eonnten, die heftigften Gegner der Regierung den gemäßigten vorgezogen. Der zweite Punkt, den wir hervorheben möchten, hängt mit dem erften innig zuſammen. Necker erhielt namlich Durch dieſe Ent— laſſung in der Volksmeinung eine Stellung, die ihm nicht: ge= bührte, Er galt fortan für einen großen‘ Staatsmann. Dazu gehören aber in unſern Zeiten und bei verdorbenen Sitten und Zünftlichen Berhältniffen ganz andere Eigenfchaften, als die eines ehrlichen und verftändigen Mannes und eines gefchieften und er— fahınen Kaufmanns und Bankiers. Die Barifer Salons, das Gerede feiner Frau und feiner Tochter und ihrer fehr zahlreichen Freunde, der ganze damals herrſchende Liberalismus der Zeit, feine Vneigenmügigkeit und Sparfamfeit ſchufen ihm einen eolof=

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falen Ruhm, Diefer Ruhm ward durch den Contraſt der ſchran— fenlofen Vergeudung und der unredlichen Verwaltung eines Ca— Ionne fehr vermehrt, er Fonnte ihm aber, als hernach auf Ge— wandtheit und politifche Fähigfeit mehr anfam als auf Rechtlich- feit, nicht entprechen. Er mußte alfo das Schiff des Staats, welches er zu fleuern übernommen hatte, mitten im Sturme ſei— nem Schickſale überlaffen. Neder war in dem Augenblick, als er abtreten mußte, bejonders darum als Volksfreund beliebt, weil er Sowohl Türgots, beionders den Güterbefigern und Fleinen vä— terlichen Dynaften günftiges Syitem, als die Hoftheorie des mo— narchiſchen Glanzes und der monarchifchen Verſchwendung, welche hernach Calonne in Schuß nahm, öffentlich bekämpft hatte, Er for— derte außerdem Deffentlichfeit in Staatsangelegenheiten, ftiftete des— halb Brovinzialverfammlungen und wollte die Rechenfchaft der Fi- nanzverwaltung öffentlich bekannt machen. Necker hatte fich dem Volke vorzüglich durch viele unter feiner Verwaltung erlaffene, dem alten fisfalifchen Charakter der vom Finanzminifterium gefaßten Befchlüffe ganz unähnliche Verordnungen beliebt gemacht. Seine Ermahnungen zur Sparjamfeit im Hof- und Staatshaushalte und die Erjparniffe, deren er fich rühmte, über welche vielleicht Männer, welche Einficht in große Verhältnifje hatten und das Wefen der Monarchien Fannten, mit Recht Tächelten, fehienen dem Bürgersmann, der nach feinen häus— lichen Verhältniffen urtheilt, das rechte und einzige Mittel, den Banke— rott zu verhindern. Unter allen Hoffnungen, welche Necker wäh— vend feines Minifteriums erweckt hatte, war aber bejonders eine, wegen deren er mit Recht ala Erlöfer des leidenden Volks be trachtet werden konnte. Er wollte e8 nämlich wagen, dem Grund= übel des alten Frankreich abzuhelfen, er wollte von ben Privi— legirten einen Beitrag zu den Ausgaben des Staats fordern, beffen erfte und reichte Bürger fie waren. Necker hatte deßhalb angekündigt, daß die neuen Cinrichtungen, die er in Rückſicht der fogenannten Taifle, welche vorher ganz allein die auch in andern Beziehungen mit Steuern übermäßig gedrücten Staatsbürger traf, gemacht habe, nur die gleiche Beftenerung aller Klaſſen der Staats— bürger vorbereiten jollten.

Joly de Fleury, welcher nach Neckers Entlaffung Finanz= minifter wurde, befand fich in der größten DVerlegenheit, da er

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unmittelbar Geld anfchaffen follte und ſchon darum feinen Credit fand, weil diefer an Neckers Berfönlichkeit geknüpft geweſen war, Necker ftand mit allen Großhändlern und Bankters in Verbin— dung, fein Nachfolger nicht; er verfprach öffentlich Rechnung ab- zulegen, fein Nachfolger hüllte fich in das alte Dunkel, In dem Augenblick, ald Joly de Fleury Gontroleur ward, forderte gerade der amerifanifche Krieg den großten Aufwand, Von neuen Ein- richtungen und neuer Bertheilung der Abgaben konnte, weil fogar Necker wegen feiner Neuerungen und Freiheitsideen verfchrien ward, nicht die Rede fein, Joly de Fleury mußte alfo Anleihen unter höchſt ungünftigen Bedingungen ſuchen. Die Staatskaffe ward auf diefe Weife auf eben die Art aus einer Derlegenheit in eine größere geftürzt, wie oft das unermeßliche Vermögen reicher Herr— Ichaften unbegreiflich fehnell in die Hande der Wucherer fallt.

Die Wiffenfchaft, neue Auflagen durch eine Anzahl Leute, die fi) Repräfentanten des Volks nennen, ohne es zu fein, de— fretiren zu laſſen, war damals noch nicht erfunden; Solly de Fleury ſah fich daher gezwungen, diejenigen, welche Erleichterung wünfchten, durch Erhöhung der alten Abgaben noch härter zu belaiten.

In welcher Verlegenheit fich die franzöſiſche Regierung ge— vade im Augenblicke der Unterhandlung über die Präliminarien befand, fieht man ſchon allein daraus, daß der Finanzminifter abtreten mußte, weil er fich in Nückficht des Aufwandes des letz⸗ ten Kriegsjahrs nicht zu helfen wußte Joly de Fleury mußte am Anfange des Jahrs 1783: feine Stelfe verlaffen, weil er nicht im Stande war, die Summen aufzubringen, welche nöthig waren, die im lebten Kriege auf den Schat gezogenen, son bedeutenden Häufern als Zahlung angenommenen Wechfel zu zahlen. Als die Staatsfaffe ihrer DWerbindlichkeit nicht entfprach, kamen die erſten franzöſiſchen Bankiers und Großhändler in Gefahr. Die Widerbeſetzung der Stelle des Controleurs, die der König zu leicht nahm, war daher eine fehwierige Sache. Wenn man nämlich bei andern Gelegenheiten dem Könige vorwarf, daß er fich von jeiner Gemahlin und feinen Brüdern zu viel einveden Vie, oder Maurepas (der Ende 1781 geftorben war) zu unbedingt folgte, jo machte er dieſes Mal dadurch, daß er ganz allein feinem Kopfe

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folgte, aus Mangel an Gefchäftserfahrung einen fehr groben Fehlgriff. Nach Maurepas Tode hatten mit allem Rechte der Minifter der auswärtigen Angelegenheiten, Vergennes, und der Juſtizminiſter (Garde-des-sceaux) Miromentl, einen Theil feines Mentorge- ſchäfts übernommen. Sie fchlugen auch jest dem Könige drei Män— ner zu der erledigten Stelle vor, er ernannte aber keinen von diefen, fondern einen jungen Mann von zwei und dreißig Fahren, Diefen Mann hatte er in einer Verwaltungsftelle kennen lernen, wo er ganz vortrefflich fein konnte, ohne darum den Finanzge- ſchäften eines verjchuldeten Reichs, deſſen Ausgaben jedes Jahr die Einnahme um fünfzig Milftionen überftiegen, gewachfen zu fein,

Diefer neue, vom Könige unmittelbar ernannte Controleur war Lefevre d'Ormeſſon dAmboile, der erſt Parlamentsrath, dann gleich ſeinem Vater und Großvater Intendant der Finanzen geweſen war. Der König hatte ſeine perſönliche Bekanntſchaft gemacht, weil d'Ormeſſon die Verwaltung der königlichen Anſtalt zu St. Cyr unter ſeinen Augen geleitet hatte. Er war ein recht— licher Mann ind im. Gegenfat Neckers, den der König, weil er Broteftant war, immer nur mit Angftlicher Schen neben fich ſah, in der ftrengen Firchlichen Form aufrichtiger Katholif, Er empfand übrigens jelbft, troß des Zutrauens, welches der König in ihn feßte, daß er dem ſchwierigſten Poſten in den ſchwierigſten Zeiten nicht gewachſen ſei. Er lehnte gleich Necker alle Vortheile feiner Stelle und auch fogar die Befoldung ab, und als man ihm her— nach gleichwohl eine Summe aufdrang, überließ er fie der wohl- thätigen Anftalt von St. Eyr, die er leitete und die auch dem guten Könige ſehr am Herzen lag. Der Irrthum des Königs in der Wahl diefes Mannes ward fogleich Harz denn er ent- zweite fich mit Vergenned und vermehrte durch fein Schwanken, Zögern, Zagen, durch die Furchtfamfeit, die ihn unfähig machte, im entfchetdenden Augenbi einen ſchnellen Entſchluß an faflen, die natürliche Unentichloffenheit des Königs. Ä

Mit feinen Eolfegen gefpannt, am Inftigen Hofe Ar peban- tiſch verhtlicher und religiöfer Mann ohne Halt, war H’Ormeflon anfangs wenigftens im Publikum geachtet: Zwei Tehlgriffe beraubten ihn aber auch diefer Stüße und er mußte noch im November dei- ſelben Jahrs feine Stelle wieder aufgeben, Die Schritte, welche

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d Ormeſſon thun mußte, bemweifen am beſten, wohin es damals gekommen war, weil ſich ein Mann wie d'Ormeſſon zu den Maßregeln eines Terray verſtehen mußte. Der Controleur war ein rechtlicher, beliebter und ſogar den Maßregeln der nach— herigen Nationalverſammlung durchaus nicht abgeneigter Mann, man wollte ihn um 1792 durchaus zum Maire von Paris ma— chen, obgleich er Flug genug war, diefe Würde ftandhaft abzuleh- nen, und dennoch mußte er in der Furzen Zeit feiner Amtsfüh- rung zwei Mal Treue und Glauben verlegen. DOrmeſſon mußte nämlich, um nur baar Geld zu erhalten, aus der Caisse d’Es- eompte, welche damals ungefähr daffelbe war, mas jett die Banf it, ſechs Millionen heimlich wegnehmen und in den königlichen Schatz bringen laſſen. Der Raub konnte unmöglich verborgen bleiben ; es ward daher das Zutrauen zu dieſer Caſſe plötlich jo jehr erjchüttert, daß fle ihre Zahlungen auf eine Zeit lang ein— ftellen mußte. Die zweite Mafregel, welche er ergriff, war eben jo ſchneidend als die erwähnte erſte. Er ließ namlich ohne allen Grumd den Pacht dev Generalpächter caſſiren umd übernahm im Namen der Regierung die unmittelbare Verwaltung der Hffentlichen Gefälle. Das mochte allerdings nöthig und nützlich fein; aber in der Art wie es gefchah, war e8 gegen das gemeine Necht und ichrerfte in dem Augenblide, als die Regierung der Leute, welche Millionen anfchaffen konnten, am .mehrften bedurfte, jedermann ab, fich mit ihr in Geldſachen einzulafjen.

Diefe Lage der Finanzen erklärt vecht gut, warum Ver— gennes um 1784 feinen Krieg für Holland anfangen wollte, und 1785 lieber Geld zahlte, als Krieg anfing. Das Unglüd fügte, daß an d'Ormeſſons Stelle ein genialer Berfchwender fam, der bei der Verwaltung feines eignen bedeutenden, aber gänzlich. verfehuldeten Wermögens gelernt hatte, fich für den Augenblick zu helfen, ohne daran zu. denken, wie er tm näch— fen einer weit größeren Verlegenheit, worin er ſich geftürzt habe, entgehen wolle. Ueber den neuen Finanzminiſter Karl Ale— xander von Calonne und über die Art, wie er zu dem Amt kam, fehlt es uns nicht an Anekdoten und geheimen Nachrichten; unſer Zweck erfordert aber, daß wir auf allen Anſpruch, etwas ganz Neues ans Licht zu bringen, verzichten. Wir verweiſen jedoch in

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der. Note auf zwei Bücher, worin man alles, was in Beziehung auf Galonne hier nur kurz oder gar nicht erwähnt iſt, genau und mit Angabe der Quellen gefammelt findet. 20)

Calonne war der Sohn des erften Präfidenten des Parla— ment? von Donat und war felbft zur parlamentarifchen Laufbahn beftimmt. Als Parlamentsrath war er feit der Zeit, daß er fich in des Generalprocurators la Chalotais Sache hatte gebrauchen laffen, eben fo beliebt bei Hofe, als er den Barlamenten verhaßt war. Died machte ihm hernach als Finanzminifter jede Unterneh- mung jchwierig, wozu er der Parlamente bedurfte. Durch Gunft am Hofe, das heißt bei der Königin, den Prinzen, den Freun— den und Freundinnen der "Königin, gelangte er zur. Stelle eines dmanzminifters, und Niemand war reicher an augenblicklichen Ausfunftsmitteln ald er, dem es an Talenten nicht fehlte, deſſen Rede mit Teichtem und unaufhaltfamen Strome floß, und der der Sprache wie der Feder mächtig war. Er war nicht blos zierlich, modiſch, galant und machte den Aufwand: eines großen Herrn, jondern er wäre auch vielleicht in unfern Tagen ein vortrefflicher Minifter für Frankreich; jene Zeit aber war ernfter, und es war nicht genug, von einem Jahre zum andern Auskunft zu finden. Galonne felbft fühlte und fprach in feinen Briefen aus, daß alle Einrichtungen der alten Zeit morſch wären.

Wenn man den Briefen, die man um 1789 unter feinem Kamen drucfen ließ, mehr trauen konnte als wir zu thun wagen, obgleich er nie. dagegen: proteftirt oder ihre Aechtheit gelengnet

20) Im erftien Theile von Wachsmuths Geſchichte Frankreichs im Nevo- Yuttonszettalter im dritten Kapitel, und im zweiten Theil der in der vor⸗ hergehenden Note angeführten Geſchichte der Stantsveränderung u. f. m. Dort findet man im fünften Abſchnitte alle einzelnen Angaben und Notizen, die man hier vermißt. Wir berühren daher au nur Weniges von ber leicht⸗ fertigen Verſchwendung, deren man Calonne anflagt, weil das, was wir ge: fammelt hatten, aud bei Wachsmuth Seite 61 und 62, befonders aber Tote 21 bis 23 gefunden werden kann. Im fünften Abfchnitt des zweiten Theils der Gefhichte der Staatsveränderung u. ſ. w. findet man nicht ‚blos vollftändige Auskunft über das fogenannte rothe Buch, das Heißt über alfe von Ludwig XV. und XVI. direct aus der Staatskaſſe angeorbneten Sahlungen, fondern auch überhaupt über Calonnes Schritte und Maßregeln. Die Halsbandgefchtchte haben wir, fo viel nur immer möglich war, abgefürzt,

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hat, würden wir blos aus diefen Briefen eine vollſtändige Cha— rakteriſtik des Mannes, der Art feiner Talente und feiner umver- antwortlichen Leichtfertigkeit in Behandlung der Gefchäfte geben können. Wir wollen indeffen nur aus zwei Briefen, einem kür— zeren Billet, das er zur Zeit, ald er die Notablen verfammelte, aus Paris an den Hof nach Verſailles fchrieb, und and einem längern Briefe, den er zur Zeit der Berufung der dtats gene- raux aus London an feinen Bruder richtete, eine einzige Stelle ausheben. Es kommt für unfern Zweck auf Authentieität nicht an, die Stellen follen blos dienen, anfchaulich zu machen, wie die Dinge ftanden und wie Salonne und feines Gleichen am Hofe fie betrachteten und behandelten, Dies tft vortrefflich in den Stel— len, die wir anführen, ausgefprochen, ob von Galonne oder von einem Andern, darauf kommt es hier nicht an.21) Galonne war

weil ihr Wachsmuth die ganze erfte Bellage feines Buchs gewidmet und die Duellen angeführt Hat. Wir würden ihrer nur mit einem Worte gedacht haben, wenn ihr nicht in der erften Ausgabe diefer Gefchichte des achtzehnten Sahrhunderts und der Revolution (der der 2te und ftärkere Theil des Büd- leins war gewidmet worden) ein größerer Raum angewiefen worben wäre, | 21) Man zeigte dem DVerfafler, als er 1821 in Paris war, eine Samm- fung von Briefen angefehener Perfonen, welche 1789 in Parts und, wie man ihm fagte, auch in London gebrudt waren, ohne daß Calonne, der ba> mals in England war und von dem fih auch ein paar Briefe in diefer Sammlung fanden, dagegen reclamirt hätte. : Man fagte uns fogar, er habe fih um 1794 felbft dazu befannt, Der Verf excerpirte einiges, wagte aber doch hernach nicht recht, dieſe gedruckten Briefe als urkundliche Stüde zu ge: brauchen. Zu dem im Texte beftimmten Swede glaubt er jedoch hier zwei furze Stellen aus zwei dort gedruckten Briefen ausheben zu können, da fie, ächt oder unächt, doch den Mann und die Seit harakterifiren. Er ſchreibt dort. über die von ihm berufene Verfammlung der Notablen an die Frau Jules de Poltgnac: Je sens parfaitement tout le ridicule de cette as- semblée a laquelle j’ai donne lieu; mais les esprits fermentaient et il - falloit une &gide respectable pour parer à tous les traits. Ils ne feront rien sans nous et nous ferons tout sans eux. Ce sont de grands res- sorts dont nous nous servirons pour faire jouer la grande machine. Que sa Majest& ne tremble point A l’aspeet de cet &pouvantail formi- dable; il faudra moins de tems pour le detruire, qu’il n’en a fallu pour Vetablir. Il-faut fasciner les jeux du Frangais, et quand on sait bien lui offrir V’illusion il croit tenir la verit6 et il est content. Aus einem langen von uns abgeſchriebenen Briefe an feinen: Bruder, ben Abbe de Car

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übrigens unſtreitig ein Mann, der zum Miniſter und Diplomaten geboren war, und in unfern Tagen im franzöſiſchen Gabinet die Bewunderung von ganz Europa erlangen würde; damals war aber die Zeit, Me Umſtände und der herrfchende Geift den Kün— ften, die er trieb, und den Naturgaben die er hatte, ungünſtig. Dies ausführlich zu beweiſen, würde ung zu weit führen, wir wollen nur, einen Fingerzeig: iiber die Art geben, wie 8 ſich be— weiſen Tiefe,

Calonne namlich. vereinigte in den Projecten, mit denen er ſcheiterte, auf eine ſehr geſchickte Weife das, was andere ausge— dacht Hattenz er hatte die Unverfchämtheit, die Ideen eine! Ma— haut, Türgot, Necker mit der ihm eignen: Gewandtheit vortreff⸗ lich einzuffeiden und ohne alle Rückjicht darauf, daß das Refor— miven weder feiner Stellung, noch feinen Sitten, noch feinen Manieren und Bekanntſchaften angepaßt jet, als Reformator auf- zutreten, wenn es die Umftande forderten. Er unterhandelte fer- ner. zur Zeit. der erften und zweiten, Nationalverfammlung auf eine: merfwürdige und durch: Intriguen und Cabalen, die ſchon allein einen Diplomaten verewigen könnten, ausgezeichnete Weiſe mit den Gabineten yon Wien, Berlin, Petersburg und London, und ward in jener Zeit son allen Publiciſten und Staatsmän- nern. wegen. der Producte bewundert, die aus feiner Feder hervor—

Tonne, wollen. wir ebenfalls nur eine kurze Stelle abſchreiben. Er gehört in die Bett von Neders Verfanmlung der Notablen, In’ya, ſchreibt er, nachdem er bewiefen hat, daß Necker ſcheitern müffe, wie er geſcheitert fet, absolument qu’une banqueroute qui puisse mettre Fetat au niveau de ses aflaires, et il’ ne s’agit pas de discuter, si ce parti' est noble ou legitime, il suffit d’&tre persuad& qu’il est de nécessité. Je regarde la France comme un corps gangrene dans presque toutes ses’ parties; on eraint d’operer percequ’il y a trop d’amputations à faire, le mal aug- mente et le corps périt lorsqu’ on agite la guerison.. Sois sür, mon ami, que’ ce sera le résultat des: états generaux. La puissance royale d’abord y perdra, les ministres y seront soupgonnes et point &coutes, et: Messieurs des deputes des differentes provinces commenceront par fremir & V’aspect du gouffre qui va s’ouvrir & leurs yeux. Ils dispute- ront, analyseront, projeteront et ils ſiniront par desesperer du salut de la France. Ainsi' l’etat, sans: &prouver un heureux changement, n’aura et& que bouleverss ete. etc. Als Probe der Weisheit Calonnes oder doch der Leute, wie er, mag dies aus dem langen Briefe genug fein. Auf die⸗

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gingen. Wenn man Weit, was er damals fehrteb, wird man, fo ſehr man ihn verachten mag, Talent und Styl, klares Erörtern der ſchwierigſten Materien und Tebendige Darftellung trockner Finanzſachen bewundern müflen. Uns allen, die wir damals das Weſen und das eigentliche Bedürfniß der bürgerlichen Verhältniſſe des achtzehnten Jahrhunderts nicht Fannten, ſchien unübertrefflich, was er um 1789 in den zwei öffentlich befannt gemachten Briefen an den König diefem als das Mittel angab, die Monarchie zu erhalten, Wir alle hielten feine fehr gut gefchriebenen und fcharf- finnig entworfötten Abhandlungen, die er, als fich der Gonvent trennte und dem Direetortum Platz machte, in der erſten Zeit des Directoriums bekannt machte, für unwiderleglich.

Gerade diefe Teichten Gaben, fophiftifchen Talente, Iofe Fer— tigkeiten, gemüthlofe Geſinnungen, die jetzt vor allen andern ge- ſchätzt werden, und die hohe Gunft, deren Calonne unter den Prinzen. am Teichtfinnigen und verfchwenderifchen, menn auch) übrigens ziemlich moralifchen Hofe genoß, machten ihn damals dem Volke verhaßt, Die alten Juriſten und Sanfeniften des Parla— ments und der parlamentarifchen Familien (noblesse de robe) vergaßen es ihm immer noch. nicht, Daß er fich für den Herzog son Aiguillon gegen den Generalproeurator la Chalotais Hatte gebrauchen Yaffen, und daß er die Stelle eines Generalprocurators bei der im deffen Sache beftellten ennftitutionswidrigen Gerichts— commiſſion angenommen hatte,

Die Ernennung eines Mannes aus der Zeit Ludwigs XV, welcher zur Schule des Herzogs von Aiguillon und feiner None gehörte, zu dem. Boften, den Türgot und Necker beffeidet hatten, jchadete dent Könige bei allen feinen folgenden guten und mwohl- wollenden Maßregeln, befonders dadurch, daß offenbar ward, daß man unter einem ſtets von einem Extrem zum andern- übergehen- den Negenten durchaus auf nichts ficher rechnen könne, weil ev ein Spielball feiner Brüder, feiner Gemahlin und feiner Umge—

jelbe Welfe behaupteten immer er und Mallet Ban und der von Pitt zum Ritter gemachte d'gvernois, zwei Genfer Doctrinärs, Bonaparte werde aus Mangel an Geld ſcheitern, und das behauptete Calonne fogar gegen Pitt, und die andern beiden wiederholten es jedes Sehr Aa wenn Bonaparte fein Budget mittheilte.

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bungen jet, Er war feit feiner Thronbeſteigung und feit Türgots Minifterium immer vom Alten zum Neuen und umgefehrt hin und her geſchwankt, er Huldigte bald einmal der Zeit, bald wi- deritrebte er ihr geradezu, Neckers Minifterium und Galonnes Er- nennung zeigte einen Widerfpruch, der nur durch Mangel an Urtheil und Charakter zu erklären war. Dies Schwanken dauerte fort bis 1792 und gab denen, die damals allein confequent waren, den Sieg. Der Frau Jules Polignac oder der Königin, oder auch den Prinzen, die Galonne ſollen empfohlen haben, wäre nur etwa vorzuwerfen, daß fie durch ihm die alte Zeit, ihre Maßregeln und Manieren wieder auf den Thron geſetzt hättenz aber das war eben ihre Zeit und ihre Regtierungsformz; der König dagegen, ber eine Reform wirklich wollte, hätte widerftehen müſ— jen. Er war aber ein Rohr, das der Wind Hin und her weht. Die, welche Calonne empfahlen, Eonnten fich mit Recht darauf berufen, daß er nicht blos Juriſt, Redner, geichiefter und geübter publteiftifcher Schriftteller, fondern auch ein in Verwaltungsfachen geübter Geſchäftsmann fe. Er war Intendant der Generalität von Lille gewejen, wie Türgot von der von Limoges, war in den höhern Aemtern gebraucht worden, welche juriftifche Kenntniſſe forderten, und war im königlichen Staatsrathe thätig geweſen. Er war außerdem der beite unter den beiden Kandidaten des alten Syſtems, welche dem ſchwachen König yon den Unverbefler- lichen des Hofs empfohlen wurden. Dies- waren die Leute, welche man hernach in der Revolution ausjchließend Hof (la cour) nannte, und als Feinde der Nation und des Königs bezeichnete, ‚weil fie den letztern, wenn er einen Schritt vorwärts gethan hatte, immer drei zurück thun, und jeden Eid als gezwungen (cum reservatione mentali) geleiftet betrachten Liegen. : Es war näm— lich neben Galonne nur noch der VBolfsfeind Foulon in der Wahl, deſſen fteinhartes Herz Iprüchwörtlich war, und den der Pöbel um 1789 wegen eines hochmüthig ariftofratifchen Worte, das er entweder gefagt hatte oder welches doch feinen Charakter und feine Gefinnung ausdrückte, am Laternenpfahl auffnüpfte. Wir müffen den Lefern überlaffen, die Geſchichte der ein- zelnen Schritte des neuen Gontrolems in den oben (Note 20) angeführten deutſchen Werken aufzufuchenz; für unfern Zweck

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reicht e8 hin, der Nefultate dev neuen Verwaltung Furz zu ges denken. Calonne hob zunächft für den Augenblick den Eredit der königlichen Staatskaſſe dadurch, daß er alle Forderungen am die— ſelbe pünktlich am Berfalltage auszahltez; aber er machte dies nur dadurch möglich, daß er unter den Yäftigften Bedingungen Anleihen machte, um die Zinfen der frühern zu zahlen, alſo nothwendig am Ende dahin gelangen mußte, wohin er ſchon 1787 gelangte. Er hatte in den vier Sahren jechshundert Millionen entweder durch Anleihen oder durch früheres Ginfordern des erit ſpäter Falligen aufgebracht, hatte außerdem durch allerlei geheime und. unerlaubte Kunftgriffe die Einnahme um hundert Millionen ver— mehrt, und dennoch war mit jedem Jahre die Verlegenheit geftiegen und die Cinnahme immer weiter, hinter der Ausgabe zurückgeblieben. Dies brachte endlich den Finangminifter zu den Schritten, welche dienen follten, neuen Erpreſſungen den Schein der Rechtmäßigkeit zu geben.

Die Verwendung der geliehenen Summen und die Immo— ralität und Gewiſſenloſigkeit des Finanzminiſters, die es hernach rathſam für ihn machten, ſich einem ihm drohenden Staatsprozeß durch die Flucht zu entziehen, empörte ſelbſt die, denen er das Geld mit freigebiger Hand zuwarf, als ſie ſich gierig um ihn drängten. Wir glauben nicht, daß es wahr iſt, daß der Graf von Provence (Ludwig XVIII.) geſagt hat, was man ihm Schuld gibt, obgleich es ſeinem Charakter ganz angemeſſen iſt, daß er, als alle die Hand ausgeſtreckt, damit ſie von Calonne gefüllt werde, den Hut hingehalten habe. Der Graf von Artois (Karl X.) war von Jugend anf Schuldenmacher. Man Hatte im Jahre 1781 anderthalb Millionen Livres Schulden für ihn bezahlt; im Jahre 1782 gar vier Millionen; Calonne gab 1783 noch zwei Millio— nen her, und doch rechnet man, daß die beiden Prinzen zuſammen noch 14 Millionen Schulden hätten, Calonne predigte die Theo— vie, die man jet in Frankreich wieder nen aufpubt, daß eine Monarchie Glanz, Lurus und Verſchwendung fordert, und daß glänzende Thorheit beim ‚gegenwärtigen Zuftande der Civiliſation den Künften und der Betriebſamkeit vortheilhaft, ja nothwendig jet. Er machte fich daher auch durch Begünftigung königlicher Bauten und durch Feſte der Königin gefällig, wie den Prinzen,

Säloffer, Geſch. d. 18, m 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 31

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Er ſchaffte Geld, damit der König zu den vielen königlichen Luſtſchlöſſern noch Rambouillet kaufen könne, und zahlte aus der Staatsfaffe die nöthigen Summen für die Befriedigung einer Griffe der Königin, welche St. Cloud beiten und verfchonern wollte. Er verfchaffte ihr zugleich die Gelegenheit, ohne daß es ufftel, ihre Günftlinge zu bereichern. Er verwendete namlich. unter dem fcheinbaren Vorwande, daß dies finanziell vortheilhaft jet, eine Summe von zwanzig Millionen zum Anfauf von Do— mainen; man bewies aber hernach, daß biefe Güter unter dem Schein son Kauf nnd Taufch an die begünftigten Familien über- gegangen und die im Tauſch oder Kauf feitgefesten Summen nie bezahlt ſeien. |

Der höchſte Adel, der am Hofe auf Chrenrechte und Ehren— pläbe Anfpruch machte, welche die Königin ohne Nückficht auf die beftehende Gtifette, den von ihr begünftigten Herrn und Damen überließ, glaubte fich hernach im Jahre 1785 durch die Kränfung eines Mitglieds der dem Eoniglichen Haufe nahe jtehenden Familie Rohan tödtlich beleidigt: Bei diefer Gelegenheit benutzte auch das damals dem Hofe jehr feindfelig gefinnte Parlament den gegen den Kardinal Rohan eingeleiteten Prozeß, um die Königin in den Augen von ganz Guropa verdächtig erjcheinen zu Taffen. Die Familie, welche fich beleidigt glaubte, war um fo gefährlicher, je unverfchämter ihre erften Glieder dev öffentlichen Meinung, den Gefegen der Ehre und allen rechtlichen Grundſätzen Hohn zu Iprechen wagten. Gin Prinz diefer Familie (von Guemende) machte einen fchändlichen Bankerott, der zahlreiche Familien ind Elend ftürzte; der Prinz von Rohan, Kardinal und Biſchof von Strasburg und als folcher deutfcher Reichsfürft, trat mit Gaunern und Buhldirnen und Abenteuerinnen in Verbindung, um den Zorn der Königin zu befänftigen und ihre Gunft zu gewinnen, Um diefe Gunft hatte fich Rohan lange vergeblich beworben, er gerietl endlich, weil er fein Mittel zu feinem Zwecke verfchmähte, in die Netze einer Gaunerin, deren Lügen die Veranlaffungen der ſoge— nannten Halsbandsgefchtchte gegeben haben, worin man bie Königin felbft zu verwiceln verſtand. Wir glauben, daß fie ganz unſchuldig warz obgleich es heißt, daß felbft ihr Neffe, der Kater Franz, der übrigens durch Scharffinnn nicht gerade ausgezeichnet

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war, fie einiger Unvorſichtigkeit fchuldig gehalten habe, Der Zu— jammenhang diefer für das Schieffal der unglüdlichen Königin wichtigen Halsbandgeichichte tft folgender:

Man hatte den Teichtfertigen, verſchwenderiſchen, verfchuldeten Rohan im Januar 1772 nad Wien gefchiett, wo er fich durch einen ganz unerhörten Aufwand und durch die gleich bei feinem eriten Aufzug in der Stadt gezeigte unverftändige Pracht vollig zu Grunde richtete. in Prinz, welcher wenigftens dem Scheine nach Geiftlicher Hätte fein follen, und dabei ein Leben führte wie Rohan, konnte der Katferin Maria Therefia, einer in jeder Rück— ficht würdigen deutfchen Hausfrau, unmöglich angenehm fein, und fie ließ ihn das empfinden; dafür rächte er ſich. Er fonnte nämlich, wie das bekanntlich immer der Fall tft, in eben dem Grade, als er mit den Derdorbenften vertraut. und gränzenloſer Verſchwender war, die diplomatischen Geheimnifje Teishter erfahren als ein An— derer, und ‚erfuhr fie auch bei der Gelegenheit dev damaligen erſten Theilung von Polen. Marta Thereſia täufchte die Franzofen durch die Berficherung ihrer Abneigung von der Theilung, fie vergoß fogar Thränen darüber, daß fie wider Willen daran Theil nehmen müſſe; dieſe Verficherungen machte Rohan in einem Ge— fandtfchaftsbriefe mit dev Schärfe des beißenden Spotts Tächerlich, der Leuten wie ev war eigen und die Würze ihrer. Gefelligteit iſt. Er ſchrieb einen geiſtreich farkaftifchen Brief über die zur Natur gewordene Verftellungskunft der Kaiſerin und über bie Fähigkeit derfelben zu lachen und zu weinen, wie fie wolle, ohne daß es ihr mit dem) Einen oder dem Andern Ernſt fei. Der Herzog von Aiguillon, an den, als an den Minifter dev auswär— tigen Angelegenheiten, der Brief gerichtet war, brachte ihn, mie er pflegte, dev di Barry, die nach ihrer Art Scandal daraus machte. Das erfuhr die nachherige Königin; fie glaubte, Rohan habe den fpottenden Brief über ihre Mutter unmittelbar an bie Barry gerichtet gehabt und verzieh ihm nie, daß er ihre Mutter zum Gegenftand des Hohns und Spottes einer Dirne gemacht habe,

Man follte denken, Rohan hätte der Gunft der Königin ent= behren koͤnnen, denn er Hatte unermepliche Einfünfte und mar

der erfie Wiürdenträger des Reiche, Er war Kardinal, war Bi— | 31*

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jchof von Straßburg und als folcher deutſcher Reichsfürſt mit einer Refidenz in Ettenheim, war Großalmofenier yon Frankreich, Pro— viſor der Sorbonne und Oberverwefer der Blindenanftalt (Provi- seur de Sorbonne et administrateur des quinze vingts). Alles diefeg war ihm aber ohne Gunft bei Hofe von wenig Werth, So waren damals die Zeiten und fo ſcheinen fie wieder werden zu wollen! Die Putzſucht der Königin und ihr Findifcher Leicht: finn, wenn es auf Flitter, Zerfireungen und Glanz anfam, ſchien endlich dem Kardinal Gelegenheit zu bieten, fich ihrer Gunft zu serfichern. Gr fand glaublich und ihren Sharafter gemäß, was ihm Gauner vorfpiegelten, daß es ihr leid fer, den Kauf eines ihr von den Hofjuwelteren Böhmer und Baffange angebotenen Schmucks son Brillanten, der einzig in feiner Art war, aber 1,600,000 Livres koſten follte, wegen des damaligen Zuſtands der Staatskaſſe ablehnen zu müſſen. Die Gauner und Abenteu— ver, welche damals in Paris wie in Berlin eine große Rolle jptelten, mashten den Kardinal zum Werkzeug, um den Juwelier zu betrügen.

Eine Hauptrolle bet diefer durch Phantasmagorie unterſtützten Gaunerei zur Myſtification des Kardinals ſpielte ein in ganz Europa berühmter Sietlianer, der fich der Freimaurer und der auch vom Könige yon Preußen begünftigten Schwärmerei und Geheimnißkrämerei sorgeblicher Orden meifterhaft zu bedienen ver- ftand, Diefer Mann war Sofeph Balfamo, der um 1743 in Palermo geboren im vorletzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahr— hunderts unter dem Namen Graf Merander Caglioſtro in Deutfeh- Yand und Frankreich ganz unglaubliches Auffehen —— bis er endlich in Rom entlarvt ward.

Die Inquiſition zu Rom, die fich feiner Gemächtigt hatte, erpreßte Geftändniffe son ihm, die fie hernach in einem officiellen Berichte befannt machte. Wir würden aber auf dieſen Bericht durchaus Feine Bedeutung Tegen, wenn nicht die Hauptfache, worauf es hier allein ankommt, son anderen Seiten her beftätigt würde, 22)

22) Der. Bericht, den die Inguifition über das Nefultat der Verhöre and Geſtändniſſe Caglioſtros in italieniſcher Sprache befannt gemacht hat, tft zu Zürch bei Orell, Geßner, Füstt und Comp, deutfch überfest im Jahre 7791 erſchienen unten dem Titel: Leben und Thaten bes Joſeph Balſamo

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Die Natur hatte ihn offenbar zum Gauner und Wunderdoktor bes ſtimmt, denn. er Fam im dreizehnten Jahr zu einem Apotheker und lernte etwas Chemie und Pharmazie und trieb fich fehon ein Paar Jahre hernach in Palermo und Meſſina als Betrüger herum, Aus Mefjtna mußte er flüchtig werden, Fam dann nad Rhodus und Alexandria und endlich nach Malta, ftets als Gau— ner. Bon Malta ging er nach Neapel und nach Rom, fand aber auch Dort, wo er ſich als preußifcher Offizier herumtrieb, eben ſo wenig eine bleibende Stätte, als in Madrid und Liffabon, wohin er fich. von Rom aus begeben hatte, Später trieb er fich in Paris herum und hielt fich im Jahr 1771-1772 einige Zeit hindurch in London auf, Weder im Hang noch in Venedig, wohin. er auf kurze Zeit Fam, konnte er die nöthige Gelebrität erlangen; dies glückte ihm erft in Curland. Dort verrichtete ex MWunderfuren, galt als Hohepriefter altägyptifcher Geheimniſſe, als Soldmacher und ward der göttliche Caglioſtro genannt.

Seit dem Aufenthalt in Mietan, von wo er auf kurze Zeit nach, Petersburg ging, spielte Gaglioftro die Rolle eines großen Heren und eines Wunderthäters, und wußte, während Jedermann glaubte, daß er Gold machen könne, durch Gaufelei nnd Gaunerei

fogenannten Grafen Caglioſtro. Nebft einigen Nachrichten über die Beſchaf— fenhelt und den Zuftand der Freimaurerſecten. Ans den Akten des 1790 in Rom wider ihn geführten Prozeffes gehoben und aus dem in der päpft> lihen Kammerdruckerei erſchienenen italientſchen Originale, überſetzt. Der Ueberſeher hat in der Vorrede die römiſche Manier: zu unterſuchen, zu richten und zu beurtheilen, in wenigen Worten ſo vortrefflich charalteriſirt, daß wir fie als charakeriſtiſch für die offiziellen proteſtantiſchen Frömmler und für bie katholiſchen Eiferer für Nom, deren Baht jet Leglon iſt, abſchreiben wollen, Der Berfafler, fügt ‚er, oder vielmehr die Heilige Inquiſition In Rom, ſchadet fi in den Augen verſtändiger Menfhen offenbar dadurch, daß fie einen Be- trüger, wie Caglisftro war, fo Kritifch und. fo firenge in Nüdficht feines Irr⸗ glaubens behandelte und nebenbei auf fogenannte Keber fo hämiſche Seiten- blicke warf. Denn Caglioſtro wäre, wenn er and) ſtets die Gebote ber rö⸗ miſchen Kirche äußerlich beobachtet Hätte, nichtsde ſtoweniger ein grober Be- jrüger gewefen, da er num jebt nad der Art, wie ihn die heilige Inquſition behandelt, zum Theil ein Märtyrer der Bigotterie ſcheinen und folglich bei weitem nicht ſo ſehr verabſcheut werden möchte, als er es von Rechtswegen und aus Nüdfichten verdiente, die yon einer Philoſophie, welche den Römern fo verhaßt iſt, hergenommen find.

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einen unbefchränkten Aufwand zu decken. Sein Zug von Gurland durch Sachfen nach Frankfurt am Main glich dem Triumphzuge eines fiegenden Katferd oder der Reife eines lange erwarteten Meſſias. Cr that überall Wunder, er heilte die Kranfen, vief die Geftorbenen ans Licht, um den fie Befragenden Rede zu fte= ben, und Alle, welche durch feine Wunder nicht gerührt wurden, fette fein Aufzug und fein Aufwand in Erſtaunen.

Gr reiste mit dem zahlreichiten Gefolge ftets mit Poſt. Gr hatte Guriers, Laufer, Kammerdiener und eine zahlreiche Diener- fchaft, alle prächtig gekleidet. ine einzige Bedientenlivrée, die er in Paris machen ließ, Foftete ein paar Hundert Gulden, Seine mit der größten Pracht meublirten Wohnzimmer, feine Föftliche, ftets. für Viele gedeckte Tafel, fein und feiner Frau Aufzug, be— fonder8 aber feine Großmuth und Freigebigfeit ſetzten alle Welt in Erſtaunen.

Er heilte die Armen, die zu Hunderten herbeiftrömten, ganz umfonft und befchenfte fie noch dazu reichlich, auch fchlug er oft die Geſchenke feiner Verehrer, Glienten und Cingeweihten für fich felbit aus. Seine Frau dagegen mußte, wenn er Melancholie affeetirte oder diüfter fchten, der vornehmen Glientel einen Wink geben, von ausgebliebenen Wechjeln, von einem Diebitahle oder einem. andern widrigen Umftande, jo daß fie an ihn brachte, was feine fcheinbare Delicateſſe verſchmähte.

Auch ſogar in der alten, damals noch jehr profatfchen Reichs⸗ ſtadt Frankfurt am Main ſpielte Caglioſtro eine ſehr glänzende Rolle, ſo daß Perſonen, welche den Lärm, den der Zug des Gau— ners machte, in Frankfurt mit angeſehen hatten, dem Verfaſſer dieſer Geſchichte unglaubliche Dinge von dem Taumel und der Täuſchung erzählt haben, welche über ihre ſonſt ſo beſonnene Mitbürger gekommen war. Aerger war es noch in Straßburg, wo Caglioſtro zuerſt die Bekanntſchaft des Kardinals Rohan machte, die er hernach in Paris erneute. Der Jubel und der Enthuſiasmus, mit dem man ihn in Straßburg aufnahm, wo damals jedermann von Magnetismus und Somnambulismus re— dete und wo der Hauptſitz des geheimen Ordensweſens und der Maurer war, glich einem augenblicklichen Wahnſinn. Das Ge— dränge in der Straße, wo Caglioſtro wohnte, war dort eben ſo

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groß, als in Frankfurt und die angeſehenſten Perſonen ſtrömten ans der Nähe und aus dev Ferne herbei. In Straßburg beſchäf— tigte ihm befonderd das Ordensweſen und die damit verbundenen geheimen Künftez er ging von dort hernach erſt nach Stalten und verweilte in Neapel, ſpäter nach Bordeaux und von dort nach Paris,

In Paris traf er den Cardinal Rohan wieder, den er vor— her in Straßburg um Geld und Koftbarkeiten betrogen und durch feine Phantagmagorien, wie durch feine Lügen von Zaubern, Goldmachen, Geiftereitiren irre geleitet Hatte, und der jetzt feinen Zauber zu gebrauchen winfchte, um die Gunft der Königin zu erlangen. Um den Kardinal zu betrügen, verband fich Caglioſtro mit einer Abenteuverin, welche um 1785, als er fie fennen lernte, die Rolle einer Dame aus Foniglichem Gefchlecht mit eben der Unverfchämtheit |pielte, als er die eines Grafen oder Agyptifchen Prieſters der älteften Zeit. Dies Weib, welches fich rühmte, mit der Königin in genaner Verbindung zu ftehen und dem Kardinal zu ihrer Gewogenheit helfen zu können, war die Tochter eines Mannes von geringem Stande, der den Namen Balvis führte und deshalb vorgab, daß er ein Sproßling des Füniglichen Hau— ſes Balois ſei. Einige Parifer Damen glaubten dieg und nah— men fich ihrer an, und fie hat in ihren fogenannten Denkwür— digfetten oder ihrer Schandſchrift gegen die Königin die Babel ihrer Abſtammung, aufs befte ausgefchmickt, durch eine Gefchlechts- tafel begründet, Sie heirathete einen abgedanften Officer, der ſich Graf nannte, aber ganz ohne Vermögen war. Dies darf nicht auffallen, da man befanntlich damals in Frankreich, wie jest in Stalten, eine Legion der Grafen und Marquis hatte, deven Marqutfat im Monde lag. Die Abenteuverin, die er gehetrathet Hatte, nannte fich indeffen feit ihrer Heirath Gräfin la Motte Valois. Ste ward durch Caglioſtro mit Rohan in Verbindung ge= bracht, übernahm yon ihm geheime Botfchaften an die Königin, brachte Antworten, -beforgte Bilfets und bewog einen Herrn von Billette, einen Kameraden ihres Mannes, der Königin Hand nachzumachen und deren vorgebliche Antworten auf Briefe des Kardinals zu unterzeichnen, Um den Kardinal noch ficherer zu täufchen, ward die Oliva, ein Pariſer Freudenmädchen der höhe— ren Klaffe, nach Verſailles gebracht, wie die Königin angezogen,

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um In dev Dämmerung auf der Schloßteraffe die in den vorgeb— lichen Billets der Königin verfprochenen freundlichen Winke und Zeichen zu geben. Endlich hieß es in den Botfchaften und Brief- chen, die Königin wünſche das Halsband des Hofjuweliers zu kaufen, wolle aber nicht öffentlich Käuferin fein, fondern durch den Kardinal in Terminen zahlen; der Kardinal möge daher in feinem Namen im geheimen Anftrage der Königin das Hals— band Faufen.

Die Juweliers und Bankiers waren weder jo Teichtgläubig wie der Kardinal, noch wagten fie, einem gewiflermaßen cvedit- Yofen großen Herrn einen jo bedeutenden Werth anzuvertrauen; fie wollten eine fchriftliche Verficherung von Seiten der Königin, daß der Kardinal das Halsband in ihrem Auftrage faufez auch diefe ward von der Gaunerin gefchafft. Der Kardinal, den man ſchon vorher um bedeutende Summen, die er, ganz unbegreiflich geblendet, vorgeblich der Königin lieh, geprellt Hatte, erhielt won den Gaunern eine fchriftliche, von Villette mit dev Königin Na— men unterzeichnete Vollmacht, von Böhmer und Baffange für die Königin das Halsband zu kaufen. Man übergab ihm fogar einen mit der Königin. Namen unterzeichneten, bei jedem einzelnen Ar— tikel mit einem Zugeftanden (approuve) verfehenen Gontraft mit den Juweliers, worin die Termine angegeben waren, in welchen fie die Summe durch den Kardinal wolle bezahlen laſſen. Diefe Vollmacht übergab der Kardinal den Jumeliers, welche dann den Schmuck in feine Hande lieferten, obgleich e8 ein fir uns unauf— lösliches Räthſel bleibt, wie es möglich war, daß weder der Kardinal noch die Handlung Böhmer und Bafjange fich der Rich- tigkeit der Unterfchrift beffer verficherten, Die vorgebliche Unter— ſchrift der Königin enthalt namlich ein Prädikat, welches fie weder hatte, noch fich auch in einer Anterfchrift geben durfte, da fie nicht von franzöſiſchem, fondern von öſterreichiſchem Geblüt war. (Sie lautete Marie Antoinette de France.)

Der Kardinal überlieferte den Schmuck der In Motte; diefe jchiefte ihren Mann damit nach England und fpiegelte dem Kar- dinal vor, daß fie ihn der Königin übergeben habe, während die einzelnen Steine in England verkauft wurden. Sie mußte ihn 19 Inge gu täufchen, bis die Juweliers auf Zahlung drangen

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und fich an die Königin felbft wandten. Böhmer und Baffange zeigten endlich der Königin die vorgeblich von ihr dem Kardinal ertheilte Vollmacht und den Gontraft und erklärten, daß ihr Haus falliven müſſe, wenn die Zahlung nicht erfolge,

Darüber geriet die Köntgin außer fih, ſchob, da fie vom Zufammenhange nichts wußte, die ganze Schuld auf den Kardi- nal, theilte dem Könige ihre Xeidenfchaftlichfeit mit, und dieſer ließ den Kardinal, ald er am Maria Himmelfahrtstage (15. Au— guft 1785) im vollen Ornat und mit allen geiftlichen Pomp eines Großalmofenters in Verſailles erfchten, in fein Kabinet rufen. Als hier der Kardinal, im Vertrauen auf die von ihm für Acht gehaltenen Briefe in Gegenwart der Königin darauf be= harrte, daß er won ihr beauftragt worden, Tieß ihn der König, jo wie er war, im sollen Ornat, troß aller Bitten und Vorſtel— tungen ins Gefängniß bringen und einen Prozeß gegen ihn ein— leiten, Die Dliva, welche durch Geberden und Kleidung die Kö— nigin gefpielt Hatte, Villette, Caglioſtro und die la Motte wurden ebenfalls verhaftet, der Generalvicar Rohans aber, der Abbé Georgel, Hatte zu rechter Zeit, vor der Befchlagnahme der Papiere, auf ein im deutfcher Sprache gefchriebenes Billet des Kardinald die Korrefpondenz der la Motte mit diefem vernichtet. Dadurch ward es den Advokaten möglich, ein Dunkel darüber zu verbreiten, ob die Königin oder der Kardinal der Gaunerin Vor— wand und Anlaß zu dem Diebftahl gegeben habe,

Sp wenig man glauben kann, daß die Königin irgend einen Antheil an der Sache gehabt habe, To benahm fich doch der König übereilt, heftig und unvorfichtig bei der Verhaftung des Kardinals. Unbegreiflich ift e8 übrigens, daß die Frau von Campan, als pertrante Dienerin der Königin und die Königin ſelbſt die erften Winfe, die fie über die Sache erhielten, auf eine unverantwortlic, leichtſinnige Weiſe vernachläffigten und nicht gleich der Sache genau nachſpürten. Dadurch ward. dann ein falſches Licht auf fie geworfen. Auch der Baron son Breteuil, als Minifter des königlichen Haufes, benahm ſich ungefchteft, Dies alles ward von den damals fehr zahlreichen Feinden der Königin auf eine bos— hafte Ars, bejonders im Parlamente und in unzähligen Pasquillen benugt, Man warf auf den König und die Königin Schatten, um

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den Kardinal als Märtyrer erfcheinen zu laſſen. Der Ausgang des Prozeffes blieb Lange zweifelhaft. Die Familie Rohan bot alles auf, um der Königin einen Flecken anzuhängen, der Hof that Alles, um den Kardinal für ſchuldig erklären zu laſſen. Das Urtheil war fo abgefaßt, daß zwar nichts gegen die Königin darans gefchloffen werden Eonnte, daß aber doch ein ftiller Verdacht zurückblieb. Es ward nämlich, zum großen Verdruß des Königs, der Kardinal frei gefprochen, nachdem man den Prozeß noch bis zum 16, Au— guft 1786 verlängert hatte,

Das Parlament erflärte vermöge feines am 8. Mai 1786 gefällten Urtheils über die andern Beklagten, die la Motte und ihren Gemahl, der fich geflüchtet hatte, Für fchuldig und verur— theilte fie zu infamirenden Strafen. Die la Motte entkam jedoch ſpäter und fchrieb in England jene fchändlichen Denkwürdigkeiten, welche die franzofifche Regierung auffaufen Tieß und dadurch den. Gredit vermehrte, den befanntlich das Publikum aller Länder gerade den Argiten und dreifteften Lügen am erften zu fchenfen pflegt. Gaglioftro ward zwar freigeiprochen, aber des Landes verwiefen, 23) Billette mußte ebenfalls das Land verlaffen, die Dliva ließ man, wahrfcheinlich aus Bosheit gegen die Königin,

23) Nie waren unftreitig die Parlfer fammt und fonders freier von Aberglauben und Schwarmerei, als damals, nie waren die Juriſten und Staatsmänner Frankreichs reicher an wahrer und ächter polttifcher Weisheit, und freier in ihren Anfichten, beredter in ihren Darſtellnngen menſchlicher Verhältniſſe, wie die Einrichtungen der ronftituirenden Verſammlung bewei- fen, und dennoch durfte man dem gefammten Parlament, in einer Vertheidi⸗ gungsfhrift Caglioſtro's, woran fogar d'Esprémenil Theil gehabt Haben foll, wörtlich fagen, Gaglioftro fet: Le fils d’un grand maitre de l’ordre de Malte, mysterieusement élevé à la Meeque, à Medine. Voyageur des sa plus tendre jeunesse, c'était dans, les pyramides d’Egypte qu'il avoit appris les sciences occultes de l’Orient. Son gouverneur, le. sage Alt- hotas, qui Jui avoit donne tout ce savoir, etait chretien et de plus chevalier de l’ordre de Malte; mais il avoit l’habitude de se deguiser et de faire deguiser son &leve en musulman. Des grands honneurs avaient été rendus au Comte de Cagliostro dans l’ile de Malte. Par- venu ä la maturit6 de la raison et de son genie, il avoit voyage en Europe. Medecin et prophete, doue du pouvoir d’&voquer les: ombres, il s’etait annonc& partout comme l’ami des hommes; c’etoit le surnom que Jui avoit donné la reconnoissance.

Frankreich bis 1788. 491

durchſchlüpfen. Der König vermehrte, wie ſchwache Menſchen, wenn fie einmal erbittert werden, zu thun pflegen, den üblen Eindruck, den die auf ganz verfchiedene Weiſe erzählte und gedeu— tete Gefchichte machte, durch die Willkür, die er gegen den Kar- dinal übte, nachdem diefer yon den Richtern Tosgefprochen war.

Dies erfchten um fo mehr als eine ohnmächtige Nache, als der Kardinal durch feine Firchlichen Würden und Pfründen doch im Grunde dem Könige unerreichbar blieb. Der König ließ nämlich den Kardi= nal ſchon vier Stunden, nachdem er (im Auguft 1786) aus der Baftiffe entlaffen war, feiner Stelle als Großalmofenier, als Pro— viſor der Sorbonne und als Gurator der großen Blindenanftalt entfeßen, Tief ihm den heiligen Geiftorden abfordern und ihm be- fehlen, fich Togleich in feine Abtei Chaiſe Dieu in Auvergne zu begeben, Wie ohnmächtig dies alles war, und tie fchwanfend der König, kann man fchon allein daraus beurtheilen, daß ſchon drei Jahre hernach alles dies fo ſehr vergeffen tft, daß der Kar— dinal bei der Berfammlung der Stände des Reichs feinen Platz unter den geiftlichen Herren des Landes einnimmt.

Diefe Scandale wären zu jeder andern Zeit von feiner Be— deutung geweſen, fie wurden aber dadurch in jenem Augenblicke jehr wichtig, daß der König unmittelbar nachher, ald er die No— tablen verfammelte, der Gunft der vornehmen Familien und Geift- lichen, die Rohans Sache zu der ihrigen gemacht hatten, bedurfte um gegen die Parlamente eine Schugwehr zu haben, mit denen er durch Calonne in Streit gerieth. Calonne hatte ſchon zwei Jahre vorher den König zu einem Schritte gegen Necker verleitet, der eben fo willkürlich und eben fo ohnmächtig und fruchtlos war, als des Kardinald Verbannung. Necker hatte nämlich fein Werk über die Finanzen Franfreichd (Trait€ de l’administration des finances), welches man von dem 1791 erfchienenen Buche über feine eigene Verwaltung (sur l’administration de Mr. Necker par lui möme) wohl unterfcheiden muß, als Tieberficht des Zuftandes der Neichsfinangen um 1784 herausgegeben, Er hatte diefes fehr umfaffende Werk in der Vorausfegung, daß man den Drud in Frankreich, wo Calonne als königlicher offizieller Doctrinär allein reden ſollte, damit er allein Recht behielte, nicht erlauben, oder doch das gedruckte Buch gleich unterdrücken werde, an zwei Orten

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zugleich, nämlich in Lyon und Laufanne drucken laſſen. Was Necker vorausgeſehen hatte, traf einz. der König ward Werkzeug jeineg Minifters, Nerfers Buch, worin er fein Syftem hervorhob, und die Unhaltbarfeit des son Galonne befolgten Syſtems hand- greiflich machte, ward verboten, die Lauſanner Ausgabe aber, weil es damals in Paris. Mode war, von Finanzen zu reden, dem Berbote zum Trotz in der ungeheuren Zahl. von wenigſtens fünfzigtaufend Exemplaren (die Frau von Stael fagt gar.80,000, wir ziehen 30,000. fürs Prahlen ab) verbreitet, obgleich Calonne eine ausführliche Widerfegung ſchrieb. Das Buch war. bald in jedermannd Händen; es war daher die Erſcheinung deſſelben ſehr ungänftig für den. Sinanzminifter, der im Begriff war, durch Zug und Trug und durch eine mit fehlauer Beredfamfeit vorgetragene, an ſich Ihändliche Theorie die Welt zu täuſchen. Calonne näm— Lich fuchte damals durch den Dunft des Trugs, den Necker zer ſtreute, neue Anleihen zu erhalten. Der König ließ freilich Necker fund thun, daß er ihn nicht in Baris leiden wolle, damit er nicht die Bankiers irre leite, diefe hatten aber. ohnehin Fein Zutrauen zu GSalonne; auch diefe Handlung der Foniglichen Willkür war daher. vergeblich,

Die Ausichliefung Neckers son Paris machte ihn, wie PA nach Rohan, zum Märtyrer, und man wallfahrtete, um ihn zu befuchen und feine Orakel zu vernehmen, zu ihm in die Provinz; jein verbotenes Buch vol Zahlen und Rechnungen war nicht nur in den Händen derer, bie etwas davon verſtanden, jondern auch in der Hand der. Damen und der Hofleute, Es war hernach das Handbuch aller der vornehmen Herrn, die an den Sibungen und Debatten der Notablen Antheil nahmen. Der. Finanzminifter nämlich, der an Auskunftsmitteln jtets reich war, glaubte enime- der wirklich, daß er die Verbefferungen und Veränderungen, von denen er redete, feitdem er den Parlamenten Feine Anleihen mehr vorzulegen wagte, nur durch Muctorität der ſämmtlichen Arifto- fratie des Reichs durchſetzen könne, oder, was wahrjcheinlicher iſt, er wollte nur ein neues Gaukelſpiel aufführen... Er rieth dem Könige, die Noth der Finanzen einem großen. Rath vorzulegen, deffen man fich im fiebenzehnten Jahrhundert zumeilen bedient hatte, Seitdem man nämlich. die um 1614 zum Testen Mal

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berufenen Generalſtände des Reichs zu befragen nicht mehr für rathſam hielt und die Hartnäckigkeit der Parlamente fürchtete, hatte man, um gewiſſen Miniſterialbeſchlüſſen mehr Anſehen zu geben, Verſammlungen von höhern Beamten, Geiſtlichen, Würde— trägern und Bevollmächtigten der Städte und Provinzialſtände gehalten, denen man den Namen Notablen gab, die aber weder irgend eine geſetzgebende noch ausübende Gewalt hatten. Die Verſammlung der Notablen mußte den Verſtändigen im Volke als ein mit Gepränge und Prunk verſammeltes Collegium zur Be— drückung der ſchon gedrückten Klaſſen vorkommen.

Man war allgemein erſtaunt, als Calonne in einem Augen- blicke der Gährung unter allen Ständen und in allen Gegenden des Reichs einen Schritt that, der nichts nüsen Fonnte, weil nicht zu erwarten war, daß die zu dieſer Verfammlung berufenen Pri— silegirten ans ihrem Vermögen den Ausfall (Deficit) in der Staatseinnahme deefen würden, was allerdings für fie ſelbſt das Befte gewefen wäre. Der Nachtheil Teuchtete aber jedermann ein; er beftand nämlich darin, daß durch das Nutzloſe diefer nach dem Mufter der Notablen son 1616 berufenen Berfammlung die Na- ton unfehlbar darauf würde geleitet werden, die um 1614 ver fammelt gewejenen Generalitände zu fordern, deren Berufung bei der damaligen Stimmung, bet dem offnen Geftändnif des Königs und feiner Finanzminiſter Türgot, Necker, Calonne, daß das Reich durchgreifender Aenderungen bedürfe, von einer Revolution unzer- trennlih war. Wir werden unten jehen, daß ſehr bedeutende Männer unter den Notablen dies fühlten, und daß la Fayette es laut und trotzig ausſprach.

Der König war dem Plane des Controleurs keineswegs günſtig; es Foftete Mühe, ihn zur Berufung der Notablen zu be- wegen. Der Baron von Breteuil dachte wie der König, man fagte ihm daher. fo wenig als den beiden andern Miniftern das Ge— vingfte, fondern Vergennes, Calonne, Miromenil fetten durch ihren Einfluß auf den König die Sache durch.

Wie man in einer folchen Zeit, bet einer beiſpielloſen Gäh— rung ber Gemüther, bei der durch die Noth der Finanzen herbei— geführten Lähmung der ganzen Staatsmafrhine den Schritt wagen konnte, Dusch ein königliches Deeret am Ende Dezember 1736 bie

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Notablen zu berufen, ift ſchwer zu begreifen. Wir fehen indeffen

aus Calonnes Briefen, daß er meinte, es würde bei einem Gau- feljpiel der Art bleiben, wie die find, welche unter ung hie und da den Minifterien gelungen find; Galonne irrte fich indeſſen jehr. Die Verfammlung nämlich, welche dem Könige rathen follte, wie er die noch beftchenden Formen und Einrichtungen des Mittelalters mit den neuen Bedürfniffen und dem Zuftande der Nation in Mebereinftimmung bringen könne, beitand ganz allein aus folchen Berfonen, die unter und feit König Heinrich IV, und dem Kardinal Richelien alle Ehren und alle Vortheile des Staats unter fich theilten; was war von. diefen mit Güte zu erhalten? Nach dem Ausjchreiben vom 30. Dezember 1786 wurden. die Notablen berufen; Galonne hatte alfo die Keckheit, fich der Nation als einen Reformator, als einen Mann in Neckers Art empfehlen zu wollen. Er machte nämlich bekannt, dieſe Notablen, -alfo die Privilegirten, follten eine gerade den Pri— vilegirten durchaus verhaßte Verbeſſerung einführen. Dies war eine Art Hohn, denn er wußte recht gut, daß eine Ver— ſammlung, wie die in der Note22) bezeichnete der Notablen war,

24) Zu diefer Verfammlung wurden berufen: 3 königliche Prinzen, 3 geiftliche Pairs und 36 weltlihe, ducs, comtes, marquis, 12 Mitglieder des Föntglihen Raths. Diefe zufammen follten Nepräfentation des Königs and des hohen Adels vorfiellen. Dann ward die Geiſtlichkeit durch 11 Prä- Iaten, die Parlamente durch drei und dreißig Präfidenten und Oeneralpro- suratoren vertreten, zu denen man als fteife Verfechter aller hiſtoriſchen Ju— risprudenz und aller veralteten Formen, nod vier Prafidenten und General proruratoren der cour des comptes und den lieutenant civil de Paris zäh⸗ len muß. Die alten Feudalftände wurden repräfentirt durch zwölf Deputirte der Provinzen und Landſchaften, welde ſtändiſche Rechte hatten; unter dieſen zwölf waren 5 Geiftliche. Zu diefen kamen fünf und zwanzig Bürgermelfter aus den artftofratifhen Familien, die in Frankreth, wie bei uns und in Holland und in der Schweiz, die Städte regierten. Man rechnete, daß unter Hundert und fieben und dreißig Notablen nur acht Bürgerliche waren, und dies folche, die nach dem Adel ſtrebten. Zu diefen kamen noch fünf Minifter, damals: Der Marfhall von Segür, Kriegsminifter, ver Graf de la Lüzerne, Minifter des Seewefens, der Baron de Breteuil, Mintfter des königlichen Haufes, der Graf Montmorin, Mintfter der auswärtigen Angelegenheiten, Miromenil, Iufttzmintfter, Calonne, Generalcontrofeur. Die Namen der 137 und bie Vertheilung in Tafeln oder Ausſchüſſe findet man bei Lacretelle.

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nie darauf eingehen werde. Die Notablen nahmen es daher, jchon ehe fie verfammelt waren, dem Gontroleur fehr übel, daß er den Liberalen fpielen und den Haß des Volks gegen die Pri- silegirten, der ſchon furchtbar war, vermehren wollte. Galonne erklärte nämlich, feine Abficht bei der Berufung der Notablen jet, die allgemein geforderten Provinztalverfammlungen oder Landräthe endlich zu organifiven, die Grundftener auf alle liegende Güter, ohne Unterjchted der Beſitzer auszudehnen, die auf die niedern Stände durch ftete Erhöhung zu fehr drückende Steuer der Taille für dieſe zu erleichtern, und endlich ernftlich den Getreidehandel im Innern son jeder Abgabe zu befreien. Er verſprach zugleich die Abjchaffung dev Hand- und Spanndienfte gegen eine beftimmte Geldabgabe.25) Dies alles war dringendes Bedürfniß, aber man trante weder dem Finanzminifter, noch dem Hofe irgend etwas Gutes zu. Auch das Vortrefflichite wollte man nicht veritehen; man frittelte, man ftieß fich an den Perfonen, ftatt nur auf die Sache zu ſehen.

Galonne, der Hof, die Prinzen, felbft die Königin benahmen fich allerdings höchſt unvorfichtig in dem fo ernſten Augenblick, als ſich am 22, Febrmar 1787 die Notablen verfammelten, Des Finanzminiſters Ehrlichkeit war nicht blos zweifelhaft, fondern er war, wie fich nach feiner Flucht zeigte, grober Untreue fchuldig, führte ein Argerliches Leben und machte gränzenlofen Aufwand. Am Hofe wurden alle Kreaturen und Schrangen mit vollen Hän- den aus dem Schabe eines Staats beſchenkt, der felbft erklärte, daß er dem Bankerott nur durch gefährliche Neuerungen entgehen fonnte. Die Königin verfchwendete mit ihrem Zlitterpug größere Summen, ald die folidefte Pracht würde erfordert haben; bie Prinzen vergeudeten nach englifcher Art durch einen prächtigen Marftall, durch Nennpferde, durch Wetten bei Pferderennen, durch Sagdzüge und Jagdſchlöſſer, durch koſtſpielige Liebfchaften und Liebhabereien die Summen, die man ihnen zur Bezahlung ihrer Schulden freigebig aniwies. Die Pete in Verſailles waren nie

25) Wer Luft hat, kann bet Lacretelle Vol. VI. pag. 130 bis 138 das Wefentliche von Calonnes Rodomontaden zufammengeftellt finden. Pag. 152 und folgende findet man die weſentlichen Stücke feiner Eröffnungsrede an die Notablen.

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glänzender, häufiger, geſchmackvoller, verfchwenderifcher, als gerade in diefer Zeit und mancher richtete fich und feine Familie am Spieltifche der Geſellſchaften bei der Königin zu Grunde, 26) Mitglieder der Parlamente, der Feudalftände, die Bürgermeifter der Städte machten die Majorität der Notablem aus, Solchen Leu— ten war es feheinbar nicht zu verdenfen, wenn fie gleich anfangs dem Vorſchlage, das Alte zu ändern, den Ausruf entgegenſetzten: Wenn wir auch zugäben, was wir nicht thun, daß Reformen nöthig fein mögen, fo find doch Galonne und Gonforten nicht die Zeute, die ſich unterftehen ſollten, ſo etwas vorzuſchlagen.

Der Finanzminiſter machte außerdem gleich. in feiner Gröff— nungsrede einen groben Fehler. Er begnügte ſich nämlich nicht damit, zu ſagen, die Staatskaſſe habe eine Mindereinnahme (De— ficit) von jährlichen hundert und zwölf Millionen Livres, er for— derte nicht blos, daß durch neue Einrichtung dafür geſorgt werde, daß ſich die Einnahme künftig um dieſe Summe vermehre, ſon— dern er hatte die Unverſchämtheit, zu behaupten, dieſe Minder— einnahme ſei ſeit Neckers Zeit dieſelbe geblieben. Die Lüge war handgreiflich, da man die ſeit der Zeit gemachten Anleihen kannte; Calonne reizte dadurch ohne Noth Necker und ſeinen ganzen, ge— rade damals in Paris den Ton angebenden Anhang, weil er deſſen abgelegte Rechnung (eompte rendu), die ein anderes Re— jultat vorlegte, indivert Lüge und Betrug fchalt. ig

Necker war freilich nicht in der Stadt, aber feine machten über die ihn verletzende Rede * furchtbaren Lärm. Alle Hofleute und beſonders die ganze Mehrheit dieſer durchaus conſervativen Verſammlung tobte ſowohl über die vorgeſchlagenen

26) Dies erfahren wir von einem jener. unverſchämten Lobredner der Selten der rouds und höfiſcher Eleganz, die jebt überall wieder. hervorkom⸗ men und von den Negterungen begünfttgt, die Neichen mit glatter Rede be— trügen und vergiften. Der ächt Fatholifche aber in jedem Wort frivofe Mar» quis de Cüſtine fagt in feinem Buche: La Russie en 1839 (Paris 1843); Vol. L p. 35 von feinem Großvater (rühmend): Peu d’anndes auparavant il avoit perdu dans un hiver trois cent mille francs au jeu de la reine à Versailles. Diefer bejahrte faquin fügt Hinzu: Dans ce tems la Marie Antoinette, brillante, enviee fut adorde, par mon grand pere comme par toute la cour, d. h. yon allen Leuten welche Daten, wis er in den 4 Bänden ber Russie redet.

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Neuerungen ald über die heftigen Angriffe auf den Mißbrauch ber Privilegien, den die Rede enthielt. Necker faumte nicht, Del ing Feuer zu gießen; ev vechtfertigte feine Rechnung in einer Heinen, fehnell verbreiteten Schrift (Reponse au discours prononc& par Mr. de Calonne à l'assemblée des notables) und enthüllte zugleich Calonnes Fee Lügen und doctrinäre Sophiftif, Der Sinanzminifter ward den Notablen, wie der ganzen Welt, als ein. feiner und abgefeimter Gauner dargeltellt, der mit dem fran— zöfifchen Reiche ein gefährliches Spiel treibe. Calonne hatte da- mals noch den Hof, das heißt die Leute, deren glattes und ober— flächliches Geihwäs den König hin und her trieb, für fih, und der ſchwache Ludwig XVI. verbannte Necker wegen feiner Antwort auf Salonnes Angriff, Dadurch gab er dann freilich ſelbſt Fund, daß man weder feine Ungunft fürchten, noch feiner Gunft trauen, weder auf feine Güte Hoffnungen, noch auf feine Strenge Ver— trauen gründen dürfe, Dies beftätigte fich dadurch, daß er wenige Monate nachher denfelben Necker, den ev jebt verbannte, als rettenden Engel in der Noth an die Spite der Gefchäfte ftellte.. Bon welcher Art das ſchön und geiftreich Elingende Ge— ſchwätz der Salons war, dem der König fein Ohr lieh, mag ein Deifpiel zeigen, Wir führen Bezenvals Worte an, um zu bewei- jen, wie Teer die ganze Schönrednerei der großen Welt und ihrer Sünftlinge ift, da Bezenval felbft gleich darauf einen ganz andern Ton anftimmte.27) Freilich muß man diefe Stelle in ihrem gan—

27) Gleich nach den erften Sitzungen cabalirten der Juſtizminiſter und feine Parlamentspräfidenten gegen den Sinanzmintjter, die Weiber und Hof; leute für ihn. Das beſchreibt ung Bezenval, der hier ganz in feinem Efe- ment war, bis zum Weberdruß genau. Er machte den Unterhändler, er, Vaudreuil, die Pollgnac machen alfes unter fih aus, fie bewundern Calonnes Unverfhämiheit und Advofatentalent als Tugenden! Als aber Calonne den Schleier Tüften will, da ift e8 aus! Bezenvals Geſchwätz, feine Taute Bewun- derung futiler Eigenſchaften, feine Klagen über Calonnes Mangel an biplo- matifcher Gefchteflichkeit, die Keute bet guter Laune zu halten, kann alfo den Mapitab der Kreiſe geben, denen er Orafel war. Memoires de Mr. le baron de Bezenval. Paris 1805. Vol. II. pag. 195. Les notables ayant demandé quelques &claircissemens, Mr. de Calonne voulut les donner Iui meme, et l’on indiqua une assembl&e chez Monsieur, il se trouva, et chaque bureau envoya des deputes, Pendant pres

Schloſſer, Geſch. d. 18. u, 19, Jahrh. IV. Th. 4. Auf, 32

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zen Zuſammenhange leſen, und Sinn fir Ordnung, Recht, Ver— waltüng und ernfte Männtiäteit haben, um zu beurtheilen, wie ganz elend Die wichtigſten Gefchäfte des Reichs Im alten Frankreich betrieben wurden, wo man darüber ſchwatzte und Intri- guirte, wie über eine Hofceremonte, über einen Ball oder eine Oper,

Die Herrn der alten Zeit, befonders die Juriſten, das heißt die Parlamentspräſidenten und Generalprocuratoren, waren jeder Veränderung gleich anfangs entgegen und confpirirten unter dem Schutze des Juſtizminiſters förmlich gegen Alles, was der Finanz⸗ miniſter im Namen des Königs vorſchlug. Es begann eine lange Reihe von Cabalen und Intriguen, die man in den zahlreichen, zum Theil apoerhphiſchen Denkwürdigkelten leſen mag, da wir Diefe Er— bärmlichkeiten in Die allgemeine Geſchichte aufzunehmen nicht wagen.

So Tange nad einige Ausficht für den Mintfter war, ‚feine

de cinq heures que dura la scance; Mr.. de Calonne ful en butte a tout ce.que Ja mauvaise volonte, l’humeur, la grossieret6 m&me, ‚purent sug- gerer, sans qu’il sortit un instant du calme et de la moderation la plus parfaite ni que des questions tumulteusement faites et qui souvent se eroisoieht,, sans donner le temps de la reponse embrouillassent la clarte de ses repliques, il revint m&me à des matiöres que des questions nou- welles avoient interrompues, auxquelles il r&epondoit sur le ‚champ ‚et reprenoit en suite ces matieres a l’endroit il_les avoit laisees, ne laissant rien à desirer sur aucun des öbjets quil etoit' oblige de’ halle. En un mot Ies gens les plus acharnes ‘contre Tui, furent öntraints, de convenir que jammais homme n’avait montre aulant- d’eloquence, de pre- sence d'esprit ni de sagesse. Et cette épreuve à laquelle beaucoup de gens, meme tres capables , auroient peut être succombe, fut un ‚vrai triomphe pour lui. Je. n’etois point ami de Mr. de Calonne, je Ie con- noissois comme on. connoit les gens en place. Intimement lie avec Mr. de. Vaudreuil .et la duchesse de Polignac, il venoit tres souvent chez elle, et c’etoit la gue je jouissais de ses ‚[ormes ‚sedwisanles , de, la gaite, de l’agrement de son esprit, ce qui ne m’avoit donne de ui, que Y’opinion d’un homme infiniment aimable. Mais j'en pris, une toute autre.idee, lorsque je vis la grandeur du plan qwil avoit congu et le eourage ‚avec lequel il. en poursuivoit Vexecution; et javoue que la chose et la maniere dont il se presentoit, non seulement m’interesse- rent pour lui, mais me firent encore son defenseur. J’etois eloigne de prevoir, qu'un homme qui avoit eu, des pensees aussi fortes, &chou- ‚eroit par. sa legerete (und was war alles, was Bezenval trieb und an Ca lonne vorher rũhmt, als dies?) et par son inconduite!

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Abſichten durch die Privilegirten zu erreichen und ſich auf jener _ Stelle zu behaupten, erfuhr das Publikum nichts von dem, was in der Verſammlung der Notablen vorging, nian machte weder befannt, was den Notablen im Namen des Königs vorgelegt wurde, noch was die Ausichüffe darüber beſchloſſen. Plötzlich, als Galonne fah, daß man darauf ausginge, ihn zu verdrängen, hieß ev Alles drucken, was bis dahin Liberales vorgefchlagen und son der Verſammlung durch Schikane entfernt ober aufgehalten war, Er felbft machte durch Anmerkungen aufmerkſam darauf, daß die Notablen allein ſchuld wären, wenn dem Volke nicht bald ‚geholfen würde, Diefe Kechtfertigung der Regierung gegen die No— tablen ward fogar den Pfarrern zugeſchickt, um fie In den Ge— meinden bekannt zu machen. Dadurch war dann der Krieg er= klaͤrt und die Nevolution begonnen, weil auch die Notablen , wie der König, jetzt rathſam fanden, die öffentliche Meinung für ſich in Anſpruch zu nehmen, und den Schein eines unbarmherzig ari⸗ ſtokratiſchen Sinns und einer unerbittlich confervativen Härte von ſich abzuwenden. Dadurch geftanden fie ſtillſchweigend ein, daß das Regieren durch Polizei, durch Baſtillen, durch Bajonette and unbedingte Befehle am Ende ſei.

Die ſämmtlichen Ausfchüffe (Büreaux), in welche ich die Notablen vertheilt hatten, beſchloſſen, fobald fie den Schritt des Finanzminiſters erfuhren, den König um die Erlaubniß zu erſu⸗ hen, auch ihre Beſchlüſſe drucken zu laſſen und im Reiche zu vertheilen. "Ste wollten ſogar jetzt aus Rache die ganze Verwäl- tung des ihnen tödtlich verhaßt gewordenen Finanzminiſters einer gerichtlichen Unterſuchung unterwerfen. Dieſe Gelegenheit mußte Lafayette, der ſich in dem Büreau befand, deſſen Präſident der Graf von Artois war, um darauf anzutragen, zwei ſchänd⸗ liche Finanz⸗ und Domänenoperationen des vorigen Coutro— leurs, die um gewiſſe Herrn des Hofs zu bereichern gemacht waren, für gewiſſenloſe Vergeudung des Staatseigenthums zu erklären. Dieſer Vorſchlag, der vom Biſchof von Langres unter⸗ ſtützt ward, konnte freilich unter Leuten, welche zum Theil auf ähnliche Art von Calonne begünſtigt waren, kein Gehör finden; das hatte aber Lafayette wahrſcheinlich vorausgeſehen. Er wollte nur andeuten, daß man den Grund des Uebels erforſchen, nicht

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ein Gaufelfpiel mit Neden treiben müſſe. Die vier Neben, die Lafayette in dieſer Verſammlung der Notablen hielt, verlündigten alle vier, daf eine radicale Aenderung der Verfaffung nöthig fei. Dies entfuhr ihm fogar in einer Erwiderung auf eine Frage feines Präſidenten, des Grafen von Artois.2?) Als er nämlich in einer der erwähnten Reden von den allgemeinen Ständen ſprach, fragte ihm der Prinz: Wie, Sie fordern, daß man fo weit gehe? Er erwiderte: Ja noch weiter. Die Sikung am 12, März 1787 ward entjcheidend, man erklärte fich gegen jede Art gleicher Grumdfteuer (imposition territoriale) und gegen die Rede des Finanzminifters, worin er die Verbefferungen, die er am 12. März vorichlug, empfohlen hatte,

Der König benahm fich bei der Gelegenheit jo ſchwach, daß beide Parteien, d. h. diejenigen, welche eine Reform und die, welche die Beibehaltung alles Alten wünſchten, die Ueberzeugung gewinnen mußten, daß er nur durch kräftigen Widerſtand auf die eine oder die andere Seite getrieben werden könne. Er ließ ſich nämlich gefallen, daß ihm die Notablen ſagten, daß es unvor— ſichtig geweſen ſei, ſie zu verſammeln, gab ſogar zu, daß fie den Finanzminiſter gewiſſermaßen anklagten. Er dankte ihnen höflich für die guten Rathſchläge und beharrte dennoch auf dem, was ſein Miniſter vorgeſchlagen hatte, ſchwankte lange Zeit, ob er ihn entlaſſen ſollte, und ließ ſich, auch als er ihn entlaſſen hatte, noch einige Zeit hindurch insgeheim von ihm unterrichten. Der König war lange ungewiß, ob er den Siegelbewahrer, der ihm und dem Finanzminifter entgegengearbeitet hatte, oder ob er den Veßtern entlaffen follez er ſchien ſich ſogar am 8. April für Ca— Yonne entjchteden zu haben, weil an diefem Tage Miromenil feine Entlafjung erhielt; allein fehon am 9. ward auch Galonne ver- abſchiedet. Calonnes Syſtem, welches der König adoptirt hatte,

28) Er erhob ſich gegen die Willkür und den Mißbrauch der Föntglichen und der Miniftertalgewalt. Der Graf von Artois meinte, das gehöre nicht dahin. La Fayette fuhr fort und erklärte, die Notablen feien verfammelt, um dem Könige die Wahrheit zu fagen; er müffe alfo fagen, was er denke. Er trug ſchon damals förmlich darauf an, die letires de cachet und bie Staats- gefängniffe für conſtitutionswidrig zu erffären, und den Proteftanten bie bür⸗ MT wiederzugeben.

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ward zwar nicht aufgegeben, aber fo verſtümmelt und gefälfcht, daß jetzt erſt jedermann recht unzufrieden war, vorzüglich Neckers Freunde und die Parlamente. Das erledigte Miniftertum der Finanzen war jebt wieder ein Gegenftand der Gabale, und der König, der Feinen Willen und feinen Rath hatte, horchte bald auf den Nath derer, welche ihm den Grabifchof von Toulouſe (hernach von Sens), Lomente de Brienne, empfahlen, und bald auf ihre Gegner, welche auf Neckers Zurücherufung drangen.

Schon am 27, April erflärte ſich der König für den Erz— bifchofz am 1. Mat nahm diefer die Miene an, als wenn er ein Kardinal Richelien „zu werden Hoffe, da ihm als Kardinal, jobald er Minifter werde, der Vorſitz im Miniftertum feines Rangs wegen von ſelbſt zufiel. Der König mußte nämlich Villedeuil zum Generalcontroleur ernennen und. der Kardinal Tief fich an— fangs den Titel eines Haupts der Neichsfinanzen (chef du conseil des finances) geben, ſchon am 1. Auguft ernannte ihn aber der König zum Principalminiſter. Der Marſchall Segür und der Marſchall de Gaftries wollten unter ihm nicht dienen, fein Mint- fterium: beftand aus feinem Bruder Brienne, welcher Kriegsmint- ſter wurde, Lamoignon, der das Juftizminifterium erhalten hatte; Breteuil blieb Minifter des königlichen Haufes, de la Lüzerne des Seeweſens, Montmorin der auswärtigen Angelegenheiten.

Es fchten damals, als wenn der Hof die Notablen, und diefe das Volk durch Blendwerk täufchen wollten, Weil die No— tablen namlich auf Sparſamkeit und Erfparntffe beftanden, fo . machte man einen Lärm über unbedeutende Befchränfungen, wo— durch nur eine Anzahl von Leuten, die geringe Befoldungen hat— ten, brodlo8 wurden, Später, gerade ald man fich Feine Blöße geben und Feine Schwäche hätte zeigen follen, gab man ſich frei= Yich das Anfehen, als wenn man ernftlich ſparen und Schlöffer und Luxus reformiren wollte; man führte aber nie aus, was man damals durch Edicte verfündigte. Wie der Hof die Notablen und nachher die Parlamente durch den Schein täufchte, ald wenn er ihren Forderungen Gehör gebe, fo blendeten die Notablen das Bolt durch manche ſchöne Neden und durch Vorfchläge zu Aende— rungen, die theilg unbedeutend waren, theils ohne Notablen von Miniftertum und Parlament Teicht hätten gemacht werden können.

502 Frankreich bis 1788,

Der Erzbiſchof von Touloufe, der einige Monate hernach dies Erzbisthum mit dem von Send vertauſchte, hielt: bis zum 25. Mat regelmäßig die Derfammlungen der Notablen., An dem erwähnten. Tage ſchloß ex fie und Fündigte prahlend ihre Bes fehküffe an, von denen aber fehr zweifelhaft war, ob die Parla= mente fie ofme weiteres regiſtriren, das heißt: als Geſetze procla— miren würden. Der Erzbiſchof wollte fich als einen Freund Neckers und der philantrophiſchen Verwaltung zeigen; auf dieſe Art verkündigte er auch beim Schluſſe der Verſammlungen der Notablen die Reſultate derſelben in einer phraſenreichen Rede, Die jährliche Mindereinnahme (Deficit) war durch die unbedeu— tenden Erſparniſſe, die man projectirte, nicht gedeckt, eine Quelle neuer Einnahmen hatten die Notablen nicht gefunden ; der Erz⸗ biſchof rühmte daher allerlei unbeftimmte Bortheile, 3.8.) Ver- fprechen des Königs, Ausficht auf Veränderung ‚der Verwaltung, Abſchaffung der Salzſteuer in ganz allgemeinen Ausdrücen, gleich fam auf die Zukunft vertröftend, Nur ſechs Stüde gab er an, die mittelbar als Gefebe verkündet werden ſollten: 1) Einrich— tung von Provinzialverſammlungen oder Landräthen: zur gleichen Dertheilung der Abgaben. 2) Abichaffung der das Volk drücken— den Nebenfteuern bei den Hauptſteuern, die den gemeinen Mann trafen (suppression d’un grand nombre de droits sur les traites et gabeiles). 3) Abfchaffung der Frohnden. 4) Abſchaffung aller Zölfe im Innern und 5) Errichtung eines füniglichen Kammer— esllegiums; 6) um Doch auch etwas Fiir den Augenblick zu thun, ſollten ſechs Millionen neuer Leibrenten gefchaffen: werden. - Das Lebteve war für das Bedürfniß des: Augenblicke nicht hinreichend, der Minifter mußte alfo noch eine, nee Steuer zu erheben fuchen. Died ward um jo mehr erfordert , als Anleihen ſchwierig waren, denn die Verfammlung der Notablen hatte den öffentlichen Credit eher gejchwächt als gehoben. Er verfiel auf eine Stempeltare und auf eine Art Grundfteuer, die man mit dem Namen Sub- vention bezeichnete, |

Die Denkwitrdigkeiten der Staatsmänner, jener Zeit tadeln faft einftimmig den Erzbiſchof, daß er nicht alle ſechs von den Notablen gebilligten Vorſchläge und mit diefen feine Subvention oder Landtaxe und feine Stempelabgabe fchnell ans Parlament

Frantreich bie 1788, 903

gebracht, ſondern dieſem zur Befinnung Zeit gelaffen ‚habe, „Wir folgen auch hier unſerm Grundſatze, nie zu erörtern, was gefche- ben fein würde, wenn man dieſes oder jenes gethan Hätte, wir berichten daher am Schluffe dieſes Abſchnitts nur noch, wie der König dahin gebracht wurde, bie allgemeinen Stände und dadurch mittelbar eine Revolution zu verfündigen,

Am 17. Juni ward durch, königliche Verordnung das Geſetz der Freiheit des Getreidehandels yon 1774 erneut, fünf Tage hernach wurden die Landräthe zur Vertheilung der Abgaben in den verſchiedenen Provinzen beſtellt; am 27. Juni wurden die Wegfrohnen abgeſchafft und durch einen Geldbeitrag erſetzt. Dies ward ohne Schwierigkeit yon Seiten des Parlaments vegtitrirt, Die Subvention oder die Landtare brachte. die Junker des Herrn— ſtandes, aus denen der größte Theil der Paxlamentsräthe beſtand, in die hefligſte Bewegung, doch erleishterte dag Miniftertum dent Parlamente dieſen Widerſtand gegen eine nur den Parlaments- gliedern allein beſonders verhaßte Tare, deren Verwerfung alſo dieſe im gehäffigen Lichte zeigen mußte, dadurch, daß es gleich- zeitig auch Die Stempeltare zum Regiſtriren vorlegte. Die Land⸗ taxe ging nur beſonders den Adel, die Stempeltaxe aber alle, an; dag Volt ſchloß ſich daher, als der Streit heftig ward, ans Parla- ment. an, und begrüßte deſſen dreiftefte Nedngr als Sreißeitefeeunbe, was fie durchaus, nicht waren,

Die Parlamentsredner wollten dieſe Gelegenheit benutzen, um ſowohl dem Könige als dem Vol fe ihre Verſammlung, welche aus vornehmen Herrn, Landjunkern und Juriſten beſtand ‚ale Ständeperfammfung aufzubringen ; es wollte namlich die beiden Abgaben nicht cher regiſtriren, bis es ſolche Nachweſſungen, wie man fie nux den Ständen zu geben pflegt, erhalten hätte. Das Rarlament verfangte, daß ihm nicht allein Rechnung von der Einnahme und Ausgabe und vom jährlichen Ausfall (Defict) porgelegt werde, ſondern es wollte auch Auskunft haben über die verſprochenen Eöniglichen Einſchränkungen und Dies konnte der Miniſter nicht bewilligen, ohne zugleich dem Könige und dem Volke weſentliche Rechte zu vergeben und eine förmliche Parlamentsoligarchie zu begründen. Seit dieſem Augenblicke be⸗ gann der alte Kampf zwiſchen Sa und König mit eben

504 Frankreich bis 1788,

der Heftigfeit, mit welcher das Parlament unter Ludwig XV. in der Sache des Herzogs von Aiguillon gefämpft hatte,

Die Forderungen des Parlament? vom 6. Juli wurden am achten dadurch zurücgewiefen, daß man bewies, daß das Parla- ment fein Recht überfchreite. Diefen Vorwurf konnte das Parla= ment nicht anders widerlegen, als durch die Behauptung, daß man fein Einfchreiten durch Unterlaffung der Berufung der Stände des Reichs nothwendig gemacht habe. Dieſe Erklärung hätte das Parlament gern ſchon im folgenden Jahre wieder zurückgenom— men, als endlich der König durch die allgemeine Stimme genö— thigt und zugleich unaufhörlich vom Parlamente befriegt, im De— zember 1787 erklärt hatte, daß er Lieber, ftatt ewig mit den Par— Yamenten um augenbliefliche Steuern zu ftreiten, einmal bie allgemeinen Stände zu einer Radicalcur einberufen wolle, Das Parlament Hatte nämlich gegen den König umd feine Minifter,. mit fcheinbarer Aufopferung eines angemaßten Rechts, den Vor— wurf des conftituttionswidrigen Unternehmens. in Steuerfachen da= durch vergolten, daß es der Negierung den Vorwurf zurückgab. Es erklärte jelbit, e8 habe bisher die Abgaben nur darum regt ftrirt, weil e8 die Uſurpation der Negierung getheilt habe, das fei aber ganz unrecht gewefen, niemand als die Stände oder Repräfentanten der Nation hätten ein Recht, Auflagen zu gewähren Dies war das Signal zu den heftigften Debatten, die den ganzen Juli hindurch unter tobendem Lärm der Pariſer fortdauerten. Diefen Monat hindurch) jammelte fich das Volk alle Tage tumultnarifch am Orte der Parlamentsſitzungen und empfing die heftigen Freiheitsredner, be— jonderd Düport und d'Epresmenil, mit Jubel und Jauchzen, die Gegner mit Hohn, Daß Adrian Düport, der 1789 bedeutende Summen zur Volksbewaffnung beitrug, während d’Epresmenil damals fchon zum wüthenden Wertheidiger des Alten geworden war, in Verbindung mit den Freunden des Düe d'Orleans und mit andern Geld hergab, um handfefte Leute unter die Menge zu bringen, wird als zuserläffig behauptet, wir mollen es deshalb anführen, ohne es für ausgemacht anzugeben. .

Erft im Anfange des nächiten Monats entfchloß fich der Erzbifchof, der gerade in diefer Zeit Touloſe mit Seng vertaufchte,

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zu der unter Ludwig XV, fo oft gebrauchten Maßregel, das Re— giftriren der abgelehnten Verordnungen in einer feierlichen und fchmeigenden Sitzung (lit de justice) vornehmen zu laſſen; nach— dem das Parlament, feiner Gewohnheit gemäß, den drei Mal wiederholten Befehl durch dreimalige Gegenvorftellungen zurück— gewieſen hatte. Das Parlament, vom tobenden Volke umgeben und beſchützt, bildete darauf in Paris eine furchtbare Gegenregie— ung. Es hatte, ehe es am 6. Auguft zu der feierlichen Sitzung nach Verſailles entboten ward, wiederholt die Pairs in feine Ver- fammfungen berufen; dort veranlaßten die jungen Parlaments- räthe dann fogar Scenen des heftigiten Tumults, viele der Pairs hielten revolutionäre Neden, Man fehmähte den Hof und bie Mintfter ohne Schonung und ohne Rückſicht auf die Gegenwart der Brüder des Königs. Die Parlamentsderrete (arröts) waren heftig, wie die Nedenz es war daher vorauszufehen, daß man fich auch gegen die in Verſailles vom Könige mündlich ertheilten föniglichen Befehle fträuben werde. Das Parlament mußte in Verſailles zwar ftillfehtweigend die Verordnungen eintragen fehen; es war aber Faum am andern Tage wieder in Paris, ald es fich mehr erlaubte als je. Es proteftirte nicht mehr blos, fondern es erklärte das, was in Verſailles gefchehen war, für null und nich- tig und fchiefte dies caflirende Deeret (arr&t) an alle feine Un— terbehörden, was fo viel hieß, als ihnen verbieten, das Fünigliche Gebot der Steuer zu befolgen. Bet der Gelegenheit erflärte fich auch das Parlament endlich ganz in der Sprache und dem Sinne der fpatern Nationalverfammlung. Dies gefchah in der ausführ- lichen Deduction der Gründe feiner Widerſetzung. Es ftellt darin Furz das Recht der Franzoſen auf und fordert noch einmal, und zwar dieſes Mat beftimmt und ausdrücklich, die Berufung der allgemeinen Stände.

Auf diefe Weife verfündigte das Parlament die allgemein gewünſchte Reform, die unter den damaligen Umftänden nothwen— dig eine Revolution werden mußte. Alle Ordnung in Paris war geſtört. Wer irgend verdächtig fehien, ward als Polizeiſpion (mouchard) bezeichnet und wo er fich fehen ließ vertrieben und verfolgt; die Regierung verlor alle Haltung. Man gab zur un— rechten Zeit nach, man verriet thörichte Furcht und Schwäche, jelbft dann, wenn man das Parlament und das Volk auf jede

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Weife zu überzeugen ſuchte, daß der Hof haushälteriſch merden wolle... Galonne mochte. freilich, verdienen , wegen feiner, Verwal⸗ tung, als Berbrecher. vor, Gericht geftellt, zu. werden z nur ‚hätte ber König ihn in diefem, Augenblicke nicht dem Parlamente preisgeben dürfen. Das Parlament, begann, nämlich, am, 10 Auguſt ‚ein Prozeßverfahren gegen, Galsung, dev König. rief am 14, den Pro⸗ zeß nom Parlament an. den Staatsrathz es war aber ie, wenig auf des Königs: Feftigkeit zu, rechnen, daß Calonne rathſam fand, nach London zu flüchten. Faſt um dieſelbe Zeit (am 9- Auguſt mußten, auf des Erzbiſchofs Augeben der, König und der Hof be— weiſen, daß nur Toben und Geſchrei, nicht freundliche Bitte, Be— dürfniß des Volks, und verſtändige Ueberlegung ſie bewegen könne, Hofleuten und Müßiggängern die großen Summen ‚zu. entzi

wofür fie feine oder ſchaͤdliche Dienſte thaten. Am 9. uguft namlich. erließ Ludwig XVI. die oben erwähnte Scheinverordmung wegen dev Schlöffer und Häufer, die nie. erfüllt ward ‚29), ferner die wegen dev ganz überflüfligen Leute und wegen des unbrauch⸗ baren Prunks. Mit welchen Leuten die Vertheidiger der Volks— rechte es zu thun hatten, kann man daraus am beſten ſehen, daß ung der Hofſchweizer Bezenval erzählt, der Düe de Coigny ſei damals wüthend zum Könige gekommen und habe ihm heftige Vorwürfe ge— macht, weil dieſer gewagt hatte, des Herzogs Einkünfte zu ſchmaͤlern, um Leiden des Volks zu lindern. Er nahm keine Rückſicht darauf, daß dies geſchehen fei, weil es nothiwendig wer, und der ſonſt ſo ſer⸗ vile und kriechende Hofmann ward, wie Bezenval ſagt, bei der Gele⸗ genheit ſo unartig, daß ein förmlicher Zank zwiſchen beiden ent⸗ ſtand. Derſelbe Bezenval nennt es Güte des Königs, daß dieſer hernach ſagte, fie wären beide recht böfe geworden z aber er glaube, er würde dem Die de Coigny verziehen haben, wenn er ihn ges

29) Damit man fehe, daß es mit den Millionen Erſparniſſen, bie man in den Büchern augeführt findet, durchaus nichts war, ſo wollen wir nur ein Beifpiel anführen. Es liegt eine —— vom 9 uguſt 1787 vor ung, worin ber König zur Erleichterung der Staatskaſſe que ques reformes dans ses maisons civiles et militaires anfündigt, dort heißt es: bie Sälöffer Choiſy, Ta Muette, Madrid, Vincennes, Blois follten nebſt allen föniglichen Häufern in der Stadt auf den Abbruch verkauft werben. - Schlöſſer blieben, der ganze Lärm war leerer Mind, |

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fchlagen hätte; denn dem gutem Mann ſei doch; gar zu nahe geſchehen! Polignaes Großmuth und edeln Sinn. weiß Bezenval nicht genug zu preiſen, weil er der Königin nicht eine gleiche Scene bereitete. Was war mit diefem Könige und mit Hofleuten, die züenten wie Coigny und dachten wie Bezenval anzufangen? Als das Barlament nicht nachgab, als ſechs Wochen ang ſtets drei big viertauſend Menfchen Säle und, Zugänge des: ſoge— nannten Juſtizpalaſtes fühlten und mit Inutem Jauchzen jedes heftige, Dekret begrüßten und jeden gegen: Hof und. Minifter tobenden Redner lobend und jubelnd empfingen und begleiteten, beſchloß endlich Brienne, dev fett dem August Principalminiſter war, dies Mal nicht einzelne Barlamentsglieder, fondern das ganze Barkament an einen Fleinern und ftillern Ort zu ſchicken. Er rechnete, nicht ohne Grund, ficher darauf, daß die Parla- mentöglieder Paris nicht würden entbehren. konnen. Unter Lud— wig XV. hatten immer. die Musketiere. die königlichen Briefe (lettres de. cachet) gebracht, diefe koſtſpielige Hofmiliz Hatte aber gleich, nach, Ludwigs XRVI. Regierungsantritt der, Graf St. Ger- main abgefchafft. Man fchiekte alfo an jeden Barlamentsrath ‚in der Nacht vom 14. auf 15. Auguft einen. Offizier der Gardes Frangaises, um ihn nach Troyes zu begleiten, wohin das Parla— ment verbannt ward. Bei dieſer Gelegenheit zeigte fich, daß alle Gerichte de8 Landes den vom Parlament ausgefprochenen Wunfch einer Nadicalveform theilten. Alle Untergerichte ſchickten namlich Deputationen. an das Parlament, Tießen ihre Freude über den mutbhigen Widerftand deſſelben ausfprechen , erkannten „bie. von demſelben verfündigten Grundſätze über Bewilligung dev Steuern als die allein: richtigen an und verfprachen, ſich ſtets enge an das Parlament anzufchliegen. Der Haß des ganzen Volkes bewirkte, daß die blinde Maſſe gegen die Unverbefferlichen des Hofes durch Kath und Geld. der Gebildeten und Vermögenden zu einer ftehen- den Macht gegen Polizei und Militär, ward. Dies zeigte fich, als bei diefer Gelegenheit die. Brüder des Königs die. Steuern, welche das Barlament nicht hatte vegiftriren wollen, in der Ober- ftener- und Oberrechnungsfammer mit Gewalt vegiftriven. ließen, und. in der fogenannten großen Kammer die BProteftationen und Derrete des Parlaments ausftrichen.

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Die Strafen waren gedrängt voll Menfchen, als der Graf von Provence und der von Artois, von ihren Garden umgeben, die Handlung der Gewalt ausführten; der Erſte mar fchlau genug, fich als Volksfreund auszufprechen, er ward mit Freund- Vichfeit und Achtung begrüßt. Der Graf von Artois ward aus— gezifcht, ausgepfiffen und mit folcher Ungezogenheit empfangen, daß die Schweizer und die frangöfifchen Garden, welche im Hofe des Gebäudes aufgeftellt waren und nicht wußten, was der TZumult im Innern des Gebäudes bedeute, fich in Reihe und Glied ftell- ten. Der Chevalier de Grüfjol als Gardehauptmann des Prinzen, ließ zugleich die Garde, welche Spalter machte, das geladene Ge— wehr fehultern. Die Oberftener- und die Oberrechnungstammer proteftirten übrigens gleich nachher gegen dieſes gewaltfam Ein— regiftvirte und drangen in ihrer Proteftation ausdrücflich auf Ver— fammlung der Stände. Das Parlament Tebte hernach zwei Mo— nate lang in Troyes in Feiten und Zerftreuungen, weil es bort müßig war, die PVräfidenten und die Altern Näthe aber, denen ber Freiheitsraufch der jüngeren nicht gefiel, unterhandelten indej= fen insgeheim mit dem Minifter. Die Regierung wollte das Parlament befchwichtigen, weil die obere Juſtiz ſtill ſtand. Das Chatelet in Paris auf der einen, das Parlament in Troyes auf der andern Seite hielten zwar täglich regelmäßig Gerichtöfigungen, es meldeten fich aber weder Procuratoren noch Parteien, Schon damals Hatte Paris das Anfehen einer im Aufftande befindlichen Stadt, man durfte nur jemanden durch ein mit Kreide auf feinem Rode gezeichnetes M. als Polizeiſpion bezeichnen, jo warb er mißhandelt und ſelbſt die zahlreichen Patrouillen waren fruchtlos. Die Königin wagte ſchon damals, aus Furcht vor dem aufgereg- ten Pöbel nicht, durch Parts zu fahren.

Die Alteren Mitglieder des Parlaments in Troyes ſchloſſen jedoch eine Uebereinkunft mit dem Hofe (20. Sept.), deren Artikel den jüngern Näthen ein Geheimniß blieben, Nach diefen Artifeln follte dem Parlament die Ehre des Friedens, dem Principalmi— nifter der Vortheil, dem Bolt der Schaden der Ausjohnung der Regierung mit den Obergerichten zu Theil werden. Das Barla= ment durfte am 21. September zurückkehren und ward, weil man die geheime Bedingung des Friedens nicht Fannte, mit unbeſchreib—

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lichem Jubel vom Volke als Sieger empfangen, Als die Meber- einkunft fund ward, als im folgenden Jahr das Parlament fich jogar bemühte, die von ihm geforderte Ständeverfammlung zu hindern oder unwirkffam zu machen, erkannte man, daß vom Par— Iamente wie vom Minifterium nur Verfügungen der alten Zeit, nicht, wie jeder Gebildete wünfchte, eine neue Ordnung der Dinge zu erwarten ſei. Das Anfehen des Parlaments war daher fchon am Ende des Jahrs 1783 ganz dahin. Vorerſt blieb das Par- lament, in Ermangelung der Stände, das einzige Organ des Volks, denn das Barlament allein unter allen Gorporationen. war berechtigt, geſetzliche Widerfeßung und heftige Demonftrationen des Dolls gegen die Regierung zu veranlafien, ohne fich des Aufruhrs jchuldig zu machen. Um die VBolfsgunft nicht zu ver— lieren, hatten übrigens die alten Zuriften ihre Zugeftändniffe an bie Regierung ſorgſam elaufulixt, fie hatten für den Augenblick eigentlich nichts gewährt; als daher der Brineipalminifter acht Wochen nad) der Rückkehr des Parlaments auf die alten Herrn vechnete und die Bedingung der Zurüdberufung des Parlaments geltend machen wollte, waren die jüngern Räthe im Stande, alles zu vereiteln,

Die eigentliche Bedingung der Vebereinfunft der Präafidenten und alten Räthe mit dem Hofe am 20. Sept. war ein Geheim- niß unter Wenigen, fie ift e8 auch geblieben, weil die alten Her— ven nicht damit hervorkommen durften, Sie hatten verjprochen, die Zuftimmung des Parlaments zu fortfchreitenden und nach und nach vergrößerten Anlehen son sierhundert und vierzig Millionen Liores zu erwirfen, doch gewährten fie vorerſt nur, daß der ſoge— nannte zweite Zwanzigfte noch fünf Jahre lang dürfe erhoben und auf viele der bisher befreiten Güter und jogar auf Fonigliche Domäntalgüter ausgedehnt werden, Andere Parlamente, wie die zu Bordeaux und Grenoble, gaben auch nicht einmal zum Scheine nach. Malesherbes, welcher einft zu Ludwigs XV. Zeit die mächtigfte Stimme im Parlamente gegen die Regierung geführt hatte und im Anfange der neuen Regierung mit Türgot Minifter geweſen mar, erklärte daher auch dem Könige, als dieſer ihn am Ende des Jahrs wieder in den Minifterratö nahm, die gegen- wärtige Bewegung jet ganz anderer Art als alle frühern Parla—

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mentstumulte. 30) Die Ferien des Parlaments erlaubten übrigens dem Miniſter, feine Maßregeln zur Ankündigung der ſucceſſiven Anlehen von vierhundert und vierzig Millionen fo zu entwerfen, daß die Präfidenten und alten Räthe, mit denen man Tibereinge- kommen tar, mit ihren Freunden die Gegner überſtimmen könn— ten. Um ihnen diefes zu erleichtern, Tote der Antrag In einer jogenannten Föniglihen Sttung verhandelt werden, wo in Gegenwart des Königs zwar geredet werben durfte, was In einer Kiffenfigung (lit de justiee) nicht erlaubt war, wo aber doch Die Rückficht auf den König und den Hof eine ganz und freie Abſtimmung und Berathung hinderte.

Außerdem wollte mar, um die vom Miniſter vorgefchlage- nen, auf vier auf einander Folgende Jahre zu vertheilenden An- leihen im Parlament eintragen zu laſſen, dieſe Verſammlung gewiſſermaßen überrafchen. Der Köntg erfehten nämlich um 11 Uhr Morgens am 19. Roveinber 1787 faſt unerwartet in Begleitung des Hofs und der Prinzen tm Parlament, welches erft ganz kurz vorher Anzeige vom Eutſchluſſe des Königs erhalten "hatte, fo daß die mehrſten PBarlamentsglieder gar wicht davon unterrichtet waren, Der GSiegelbewahrer Lamoignon mußte die gewöhnliche ſophiſtiſch freundliche Rede Halten, auch Hatte der Principalmi— niſter der Gefdforderung zwei von der liberalen Partei Tangit ‚heftig verlangte Vorſchläge beigefügt. Diefe Yehteren waren aber unglücklicher Weiſe yon der Art, daß die eine den ſämmtlichen Privilegirten, die andere den Fanatikern und Janſeniſten, deren Zahl im Parlament ſehr groß war, ganz und durchaus mißfallen mußte. Lamoignon kündigte nämlich zuerſt in Gegenwart und im Namen des Königs an, daß nach Abfluß der vier den Anleihen

30) Er ſagte dem Könige unter andern: Que la resistance opposee dans: cette occasion A l’enregistrement des edits avoit presents un ca- ractere bien different de toutes les affaires que‘le gouvernement a Eu "a traiter avec les parlemens depuis la mort de Louis XIV. Dans toutes "es autres 'c’&toit le parlenient qui ‘&chauffoie le'publie, jei c’est le pu- blic qui schauffe de parlemient. ‚12 n'est pas ‚question 'dapaiser une ‚erise momentane, mais d’eteindre uneetincelle., qui peut preduire un ‚grand incendie. Aber die Leute, zu denen er ſprach, ſind überall taub; denn fe hören recht gut, aber fie wollen nit hören.

Frankrelch bis 1788. 5441 beſtimmten Jahre (alſo 1792) die aflgemeinen Stande berufen werden follten, jo daß bei der damaligen Stimmung vom Könige ſelbſt die Ansficht auf eine nahe Revolution erbffnet war. Der zweite liberale Vorſchlag betraf Aufhebung der noch immer geſetz⸗ lich Heftehenden und von den Fanatifchen Barlamenten auch bei vielen Gelegenheiten ausgeführten harten Strafgefete gegen bie franzöfifchen Proteftanten, Verkündigung der Toleranz und Zu— rückberufung der nach Aufhebung des Ediets von Nantes ing Ausland geflüchteten Neformirten, Was die Verkündigung der Generalftände und die liberalen Grundſätze angeht, fo glaubte verfehrter Weiſe der franzöſiſche Minifter auf der einen Seite durch eine Srklärung wieder vernichten zu Formen, was er auf der andern durch Verfpreihen dev Berufimg der Stände gewährt hatte, Er machte bei dieſer Gelegenheit denſelben Fehler, den das engliſche Miniſterlum in Rückſicht auf Nordamerika gemacht hatte, als es die Stempelſteuer u. ſ. w. unter Reſer ve auf hob, d. h. er beleidigte ben einen kr an befriedigte ee den andern nicht;

Der Juſtizminiſter erneute nämlich in dieſer Rede die um 1766 unter Ludwig XV. aufgeſtellte und damals von allen Set: ten beftrittene Theorie von einer auf göttlichen Nechte beruhenden Allgewalt des Königs. Cr berief ſich dabei auf ein nie vom Parlament anerkanntes Parlamentsderret vom März 1756. Den Könige, fagt ex, ſtehe in feinem Reiche unumſchränkte Gewalt zu, für deren Ausubung er nur Gott affein Rechenſchaft ſchuldig Te. Gr fer als Oberhaupt der Nation gewiſſermaßen die Nation ſelbſt; ohne Rückſicht auf den Willen der Nation gebühre dem Monarchen allein die gefeßgebende Gewalt. Die Berufung oder Nichtberufung der Reichsſtände, die nie etwas anderes fein könn— ten als bloße Rathgeber des Königs, hange blos von der Willkür des Königs ab; die Bericfichligung anderer "Bitten der Natton Vediglich son feiner Güte, Diele despotiſchen Phraſen gebrauchte übrigens dieſer Juriſt erſt, als er ſah, daß fein Kniff nicht ges lingen werde, Der Juſtizminiſter wollte nämlich die ſchon ange— fangene öͤffentliche Abſtimmung der Räthe, denen der König vorher ausdrücklich erlaubt hatte, auch in ſeiner Gegenwart laut und namentlich zum Votiren aufgeritfen zu werden und ihre Meinung

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über die Vorſchläge auszufprechen, auf einmal unterbrechen, weil ihm vor dem Nefultat bange ward, Er wollte im Stillen die Stimmen ſammeln, um im Stande zu fein, die Zahl der Be- jahenden und Berneinenden nach Belieben größer oder Fleiner an— geben zu können. Dieſe elende Auskunft wollte er mit dem ihm ertheilten Befehl des Königs entjchuldigen, darum erklärte er in den angeführten PBhrafen, daß der König über dem Geſetz fei und der Nation als Recht vorjchreiben fünne, was ihm zufällig ein- falle oder was feine Minifter ihm eingäben,

Auf diefe Worte geftüßt, fuhr dev Minifter fort, die Stim- men in. ber Stille einzufammeln und befahl dann den Schreibern des Parlaments, die Edicte einzutragen als wenn, wie gewöhnlich geichah, der Präfident die Stimmen ordentlich gezählt und das Refultat befannt gemacht hätte, Dies geſchah, damit nicht Dazu gefchrieben würde, auf ausdrücklichen füniglichen Befehl, wodurch das Eingetragene aufhörte ein freier Parlamentsbeſchluß zu fein. Der Herzog von Orleans benußte diefe Gelegenheit oder vielmehr, er ward bei dieſer Gelegenheit benußt, um der Gegen- partei der. regierenden Linie des Haufe Bourbon im Haupte der nächften Nebenlinie eine Stütze zu. geben. Diefer Herzog von Drleans, der fpäter als Philipp Egalite im Convent für den Mord des Königs ftimmte war derfelbe, der ald Dice de Chartres durch ein unerhört fchlechtes und gemeines Leben, deilen Spuren fein finnige8 Angeficht trug, durch feine wüfte Umgebung und durch die Feigheit, die er bei Dueffant bewies, berüchtigt geworden war. Daß er in der Seefchlacht bei Oueſſant Feigheit bewieſen, wollen wir nicht ald ausgemacht anerkennen, weil es oft beftritten worden; gewiß aber ift, daß er fich durch elenden Geiz umd niedrige Habſucht auszeichnete. Er ließ fogar einen Theil feines Palaſtes (Palais Royal) zu jchlechten Häufern gebrauchen, um mehr Geld daraus zu ziehen. 31) Diefer ganz in Sinnlichkeit

31) Hier ift Bezenval ganz auf feinem Felde, das hat. er ſtudirt und das verfteht er gründlich; wir theilen daher die Schilderung des Herzogs mit, weil fie eben fo treffend als furz if. Me&moires du baron de Bezenval. Vol. I. p. 307—8. Le comte de Pons-Sant-Maurice à donn& tout le soin possible à son Education; et lorsqu’il sortit de ses mains la ma- niere d’ötre de ce prince r&pondoit A sa figure. Bientöt les files,

Frankreich bis 1788. 513

und Schlechtigfeit verfunfene Prinz war allen edlen und feinfüh- lenden Seelen, von der reinen Seele der Königin und der ihres religiöſen Gemahls bis zu dev des Schwärmers fr Philanthropte, des vitterlichen: Lafayette und der der Freunde wtopifcher Freiheit, eine? St. Züft, einer Frau Roland und ihres Gemahle, ein Gräuel und Abſcheu. Bet allen genial wüſten und liederlichen Großſtädtern, bei allen denen, die den Genuß und den Schein der Tugend und der Wahrheit vorzogen, von Mirabeau, Sillery, Chauderlos de In Clos und der Frau von Genlis bis zum Mas tador der Antonsvorſtadt, dem veichen Bierbraner Santerre und bis zu den Frechften der nachherigen Gordelters, die ihn in den MWirthshänfern und andern Sammelplägen der Hefe von Paris fennen gelernt hatten, hieß er Volksfreund, Mann der Freiheit und vortrefflicher Geſellſchafter. Seinem Anhange, der aus dem ſchlaueſten und: energifchften, oder. wie man jetzt bei uns jagt, Acht praktifchen Weltleuten und aus: dem von aller Moralität und SHealität freien Theil der Revolutionsmänner beftand, mar er theuer und werth. Diefe feine Freunde bewogen ihn, am 19. No— vember den: Grund zu dem Gebäude zu legen, welches erit 1830 voffendet ward. Dies gefchah dadurch, daß er fich den Franzofen als den Urheber einer neuen Zeit anbot und fich nicht ſcheute, der Meinung von ganz Europa zu trotzen. Man hatte Mithe, feine Feigheit, welche fpäter feine Eräftigften Anhänger von ihm entfernte, ſo weit zu überwinden, daß er es wagte, ſich in öffent— licher Verſammlung, wo der Etikette gemäß niemand reden konnte als der, den der König auffordern ließ, mit einer impertinenten Frage an diefen zu wenden, um das Parlament im Widerftande zu befeftigen. „Darf ich, fagte er, Ew. Majeftät fragen, ob dies eine Kiſſenſitzung (lit de justice) iſt? Der König,

l’anglomanie, la table, en firent un étre d’autant plus etrange, que-les, traces d’une genereuse Education se confondireut avec les vices quil avoit acquis ce que fit qu'il en resulta n&cessairement un compose de tous: les contraires, Il est erapuleux' sans: grossierei6, prodigue et mesquin, haut, et. familier, facile. et dangereux; N! a: de l’aptitude & tout et ne peut s’appligner à rien. Par-libertinage d’imagination, il . vise à lindöpendance, deteste le peuple et le courtise, recherche une- fausse gloire, et touche au mepris. | Schloſſer, Gef. d. 18, u, 19, Jahrh. IV. Th. 4, Aufl, 39

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ftatt ihm Schweigen zu gebieten oder ihn fortzuweiſen, zeigte fich Schwach und unbeholfen wie ex war, durch die nichts fagende Ant- wort: Nein, es ift eine königliche Sitzung. Die Berle- genheit, worin der König gerathen war, machte den Herzog muthiger. Er erklärte, die fo eben befohlene Eintragung ing Protokoll fei gefebwidrig; er bäte zur Entfchuldigung der Perſo— nen, von denen man glauben könne, daß fie Theil daran hätten, die Worte beizufügen: Auf ausdrüdlichen Fonigliden Befehl wie bei einer Kiffenfigung. Die unbedeutende Antwort, welche der König darauf gab, beweist am beiten, daß er ſchwierigen Umftänden nicht gewachfen war und aller Geiftes- gegenwart ermangelte. Gr erwiederte: Die Gintragung tft rechtmäßig, weil ich vorher den Rath der Parla— mentsglieder gehört habe.

Die Dreiftigkeit des Herzogs von Orleans rief eine Bewe⸗ gung in der Verſammlung hervor, welche den König, der nur Ehrfurcht und Schweigen im Parlamente gewohnt war, vollends betroffen machte. Er machte, als er aufſtand, um ſich aus der unruhigen Verſammlung zu entfernen, in der Verlegenheit ein neues Verſehen, er vernachläſſigte nämlich die Aufhebung der Sitzung zu befehlen. Hätte er die Sitzung aufgehoben, fo würde fie das Parlament gewiß nicht gegen den ausdrücklichen Befehl des Königs zu verlängern gewagt haben. Der Hof und Die . Prinzen begleiteten den König nach Berfailles, nur bie Herzöge von Orleans und von Bourbon Fehrten, nachdem fie dem Könige dag Geleit gegeben, in die Berfammlung zurück, die dann ganz tumultuarifch ward. Selbſt die alten Heren, bie ‚vorher für bie Anleihe geftimmt Hatten, nahmen jest ihre Abftimmung zurück. Ganz jehranfenlos heftig redeten aus. bloßer Eitelkeit, befonders viele der jüngern Näthe gegen das Verfahren des Königs, die, wie ihre nachherige Neue zeigte, nicht wußten, mas fie thaten. Der Beifall des Parlaments machte ihre Eitelkeit irre; fie waren ent— zückt, daß für den Augenblick ihre heftigen Declamationen für Bered- famfeit genommen wurden, was fie eigentlich nicht waren. Unter

diefen zeichneten fich vor allen aus: Düval P’Epresmenil, Fe

teau, der Geiftliche (abbe) Sabatier de Gaftre und Robert de Saint Vincent, welche beide letztere ſehr genchtete Männer auch in

Frankreich bis 1788, 515

Rohans Prozeß die der Königin’ fo verhaßte Nelatton gemacht hatten, wodurch dev Kardinal gerettet und die Königin in Schat- ten geftellt ward. Im Parlament wurden nach den heftigften Reden nicht blos wie fonft Proteftattonen ins Protokoll gefchrte- ben, jondern ausdrücklich Hinzugefeßt, daß das, mas als Beſchluß des Parlaments eingetragen worden, Feiner jet, daß das Einfchret- ben ungefeglich gefchehen fet und daß das Parlament die pro- grefjiven Anleihen nicht verbürge,

Das Barlament wußte, daß der Finanzminifter Geld brauche und dieſes ofme Webereinfunft mit dem Parlamente nicht erhalten könne; ed nahm daher Feine Rückſicht darauf, daß fich der König das Protokoll der letzten Sitzung nach Verſailles bringen Tief und alles, was nach feiner Entfernung aus der PVerfammlung hineingefchrieben war, ausftrich. Der König gab zugleich einen Borwand, Uber Willkür und über gewaltfamen Gingriff in die freie Abſtimmung dev Betfiter des oberften Gerichtshofes zu kla⸗ gen, der fich doch ebem fo fouverän glaubte als der König felbft war. Es ward nämlich der Herzog von Orleans auf fein Schloß

zu Villers GoteretS verwiefen. Die Verbannung würde ihn erft recht bedeutend gemacht haben, wenn er fich nicht durch Die Ent- fernung von den Bartfer Vergnügungen fo unglücklich gefühlt hätte, daß er die elendeſten und niederträchtigften Schritte that, um nur wieder in die Stadt Fommen zu dürfen. Auch Sabatter ward wegen, ſeiner in einem Gerichtshofe, wo der alten Sitte gemäß das Reden frei war, gehaltenen Reden willkürlich verhaftet und auf den Mont St. Michel, das ſchrecklichſte Stantsgefängnig, melches es tn Frankreich gibt, Freteau auf die Fefte Doullens gebracht. Die fammt- lichen Barlamente nahmen fich daher des Herzogs und der Näthe an, weil -in ihrer Perfon die Rechte dev Gerichte verlegt waren, Ihre Haft veranlaßte eine allgemeine Bewegung im ganzen Reiche. Das Parifer Parlament beftand auf der Freilaffung feiner Mitglieder, es unterftand fich fogar, ſich in die Angelegenheit des Herzogs von Orleans zu mifchen, welche nur eine Sache des Familien— haupts der Bourbons mit einem Gliede der Familie war, alſo das Obergericht nur dann hätte angehen können, wenn ſich ber Herzog ans Parlament gewendet hätte. Die Vorftellung des Par— laments in der Sache des Herzogs von Orleans mar außerdem

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in einem Tome abgefaßt, den fich ein Gerichtscollegium gegen feinen König nicht hätte erlauben follen. Das Parlament jah fich aber als Volksvertreter an, was es nicht war md. verlieh fih auf die Gunft des Volks, ald es dem Könige zu jagen wagte: „Sive, wenn der Herzog von Orleans ſtrafwürdig ift, fo. find wir fämmtlichen Parlamentsräthe es ebenfalls.“ Hernach bittet das Parlament den König: „Er möge dad Andenken an ein Verfahren aus dem Gedächtniß verlieren, deſſen Fortſetzung am Ende eine völlige Zerftörung aller Geſetze, die Herabwürdi— gung der Gerichte und den Triumph der Feinde des franzöſiſchen Namens herbeiführen werde.” Auch dieſes Mal bewiefen Ludwig und feine Minifter durch Schwanfen und dadurch, daß fie von einem Aeußerſten zum andern übergingen, ihre Unfähigkeit, im Unwetter das Schiff des Staats zu ſteuern. Dies Schwanfen - war Urfache alles Unheils der Revolution und befonders des un— glücklichen Schickſals des Königs, weil die Männer, welche feit 1789 der Nation eine neue Exiſtenz gaben, erkannten, daß ein folcher König auch mit dem beiten Willen nicht im Stande fein werde, irgend ein Verfprechen zu erfüllen oder einen Eidſchwur zu halten. Gr ließ nämlich im April 1788 den Herzog nach Paris zurücfommen und die beiden Parlamentsräthe frei geben, um dem Barlamente gefällig zu fein, amd doch wollte faſt zu gleicher Zeit oder wenigftens Feine vier Wochen darauf der ſchwache Mann und fein nur in geheimen Kabalen ſtarker Principalmi— nifter das ganze Parlament auflöfen, Ludwig XVI. und Lomenie de Brienne glaubten eine Maßregel durchfeben zu können, melche die Macht der Parlamente Fräftiger brechen jollte als Alles, was Maupeon vorher durchgefest hatte, Ein König, der in Geldjachen nicht Rath wußte, wollte eine neue Körperfchaft erfchaffen, wo— durch die Stände und dad Parlament überflüflig gemacht werden foflten, was felbft Ludwig XIV. nicht würde gewagt haben.

Die Bewegung in ganz Frankreich war damals dahin ges diehen, daß die Parlamente, befonders das Pariſer Parlament und das von Bordeaur, welches deshalb nach Libourne verbannt ward, ald wären fie eine unabhängige Macht, der Füniglichen Macht trogig die Stirn boten. Um diefelbe Zeit drohten bie Stände der Provinzen, welche eine ſtändiſche Berfaffung Hatten,

Frankreich bis 1788, BT

Das Parlament von Grenoble gab im April 1788 zu exfennen, daß es das Delphinat wieder von Frankreich trennen könne, in Bretagne waren Adel, Bürgerfchaft und Parlamente in Krieg und die Staatsfaffe wußte fich nicht zu Helfer, weil das Parlament die Anleihen hinderte. In diefer Verlegenheit nahm der König feine Zuflucht aufs neue zu einer liberalen Maßregel, und ging doch dabei wieder zum Avaften Defpotismus, nicht in der That, fondern, was ſchlimmer war, blos in Worten über. Durch eine fönigliche Declaration vom 18. Dezember 1737 ward nämlich verkündigt, daß innerhalb Fünf Jahren die allgemeinen Stände follten berufen werden. Daſſelbe Hatte der Neichsftegelbewahrer ſchon einen Monat vorher im Parlamente verfprochen. Dürften wir einem Briefe des Erzbiſchofs von Sens an feinen Collegen von Narbonne trauen, fo war es den Finanzminlſter auch nicht einmal mit diefem DVerfprechen Ernſt, ſondern er gebrauchte auf eine fehmähliche Weife den Namen feines Königs, um das Volk officiell zu belügen,

Der Streit mit dem Parlamente von Paris dauerte indeſſen mit gleicher Heftigkeit fort und das Parlament erließ am 4. Ja— nuar 1788 nach heftigen Debatten ein Decret, wodurch es die Siegelbriefe (lettres de cachet) für conſtitutions- und geſetzwidrig erklärte und ſich über alle die willkürlichen Maßregeln, welche ſich die Regierung ſeit hundert Jahren erlaubt hatte, als wenn ſie im Rechte begründet wären, mit nachdrücklichem Unwillen und lauter Mißbilligung ausſprach. Das Parlament forderte aufs neue die Befreiung der beiden Parlamentsräthe, nicht als Gnade und Gunſt des Königs, ſondern als im Rechte begründet. Dies Parlamentsdecret caſſirte Freilich dev König am 175 aber das Parlament erneuerte es gleich am Folgenden Tage, d. h. am 18, Januar 1788. Es hatte fi) nach Bezenvals Bericht der Juriſt Lamoignon nach Galonnes Entfernung ins Juſtizminiſterium hinein⸗ intriguirt, und dieſer brachte den unglücklichen König im Jahre 1787 und 1788 zu allen den widerſprechenden Reden und Handlun—⸗ gen, die ſchon im Juni 1788 die Revolution unvermeidlich machten. Lamoignon führte auch, nach Bezenvals Erzählung, im Februar 1788 den ſchwachen König auf Moupeous Projekt zurück. Gr wollte die Parlamente unſchädlich machen und entwarf dazu einen

918 Frankreich bis 1788.

von dem von Maupeou entworfenen und ausgeführten ganz ver- jchiedenen Plan, den er ſchon im März den Leuten vertraute, welche ihn der Königin, die Teider in Alles gemijcht ward, emp= fehlen follten. Diefelben Leute, welche auf diefe Weiſe einen un— erhörten couftitutionswidrigen Staatsgewaltſtreich ausheeften und alfo den König mit Energie wollten handeln laſſen, riethen ihm zu einer fcheinbaren Nachgiebigkeit gegen die feit dem Monat De— zember unaufhörlich wiederholten dringenden und drohenden Bitten des Parlaments, um Rüdfehr des Herzogs von Orleans und Freilaffung der Räthe. Wir haben schon oben bemerkt, daß dies am 17. April geſchah. Man wollte aber mit diefer Freilaffung, wie mit der Verkündigung der Stände am 19. November, eine Erklärung über des Königs Autofratie einfchwärzen, wodurd man jede fünftige Willkür rechtfertigen Eonnte, Dies durfte das Par— lament um jo weniger mit Stillfehweigen übergehen, als ihm der vom Siegelbewahrer entworfene Plan der Vernichtung des poli= tischen Gewichts der Parlamente im Einzelnen zwar noch unbe— fannt war, im Ganzen aber fein Geheimniß geblieben fein Fonnte, da man jchon jeit März im Kreife der Königin davon ſprach. In der Erklärung, die man dem Könige am 17. April in den Mund legte, ſagte er, Frankreich fei eine abfolute Monarchie, der Mille des Königs, defien Macht allein von Gott: ſtamme, ſei einziges Gefeb, die Stände jeien ‚bloße Rathgeber, die Ge— richte Dolmetfcher und Ausführer des Foniglichen Willens. Dies war ganz im Tone der Regierung Ludwigs XV. geredet, und bie Erklärung war gleichen Inhalts mit der, welche am 19. Novem— ber den Vorfchlägen des Anlehens und dem Berfprechen der Be— rufung einer allgemeinen Ständeyerfammlung war vorausgefchiekt worden, Diefer Erklärung des Königs febte das Parlament Bor ftellungen entgegen, worin hiſtoriſch, philoſophiſch und juriſtiſch eine in Frankreich damals ganz neue Theorie von den conſtitutio— nellen Berhältniffen der alten franzöfifchen Monarchie aufgeftellt und der alten Monarchie ein demofratifches Element zugejchrieben wird, Diefes im Parlamente vom 18. bis zum 27. April debat- tirte und aufgeſetzte Aktenftück, welches erft am 4. Mai dem Kö— nige übergeben ward, ift das merfwürdigfte, welches je vom Par: Iamente ausgegangen tft, und beweiſet augenjcheinlich, daß es

Frankreich bis 1788, 519

ſchon damals mit dem Regierungsſyſtem, welches feit Richelieus

Zeit gegolten Hatte, völlig vorbei war. Das Aktenſtück ift zu lang, um hier feinen Platz zu finden; wir wollen in der Note auf ein Buch verweilen, mo man es wörtlich nach einer Copie, welche der Herr von Malesherbes fich davon genommen hatte, abgedruct findet. 327) Wir glauben nur zwei Stellen ausheben zu dürfen. Die eine bezieht fi auf den Vorwurf, die Parla— mente wollten eine Artftofratie der Gerichte an die Stelle der Monarchie jegen, und eine andere am Schluffe betrifft die ge— waltiame Beränderung und den Verluſt der politifchen Nechte, mit dem die Parlamente damals bedroht wurden,

Schon damals, nämlich im April 1788, war die Revolution wirklich und fichtbar vorhanden, fie ward in den folgenden Mo— naten bei Gelegenheit des glücklichen Widerjtandes gegen die be— abfichtigte Umfchaffung des Parlaments, bei der gewaltfamen Ver— treibung des Prineipalminifterd und des Großfiegelbewahrers, durch fortdauernde Volksaufſtände in ganz Europa vffentlich Fund. Dafür ift der Ton, den das Barlament in diefem Aufſatz annahm, und der Suhalt des die Gonftitution betreffenden Artikels befonders wichtig. Ehe nämlich das Parlament den Urfprung des harten militärifchen Defpotismus ſeit den letzten Zeiten Ludwig XIV. durchführt, und zeigt, wie feit dem Antritt der Regierung des damaligen Königs Ludwig X VL. nach und nach wieder von Recht und Geſetz die Rede geweſen fei, jagt ed-dem Könige: „Das Verfahren ehrgeiziger Minifter ift immer dafjelbe. Sie wollen ihre Macht unter dem Namen des Königs und unter dem Scheine, daß fie für ihn arbeiten, vermehren, Das ift ihr Zweck. Als Mittel dient

32) Wir haben befanntlich eine große Partelfchrift an der- unter Mont: galllards Namen in Paris verfertigten Compilation, die gar nichts mit Mont⸗ gilla rd gemein Hat, tin 14 Theilen. Die Compilation der erften zehn Theile ward unter der Neftauration vom Anhange des Köntgs Louts Philipp gemacht, darıım fommt, wenn rechts und links geſchimpft wird, Orleans leidlich weg. Die Leute, welche die Materialien gefammelt haben, gaben ihrer Com: pilation den Titel: Histoire de France depuis la fin du regne de Louis XVI. (einen Zitel, ten fie nicht verdient.) Wir wiffen aber, daß die Compilatoren ſehr gut unterflüßt wurden, darum findet man bei ihnen fehr viele Aften- ftüde, die man anderswo vergeblich furhen würde. Dort ftehen auch Vol. I. pP: 393 bi$ 402 diefe remonstrances in extenso, |

520 Frankreich bis 1788,

innen die Verläumdung derer, denen die Sorge Für die Rechte der Nation und für das Privatrecht vertraut iſt. Diefer alten unfeligen Methode getreu, behaupten fie auch jetzt yon ung, den Gliedern des parifer Parlaments, daß wir den unfinnigen Plan hätten, eine Ariftofratie der Parlamente in Frankreich zu errichten, Aber welchen Augenblick haben fie gewählt, um dieſe Beſchuldi— gung gegen und vorzubringen? Gerade denfelben Augenblik, in welchem das Parlament, durch Thatſachen eines Beffern belehrt, von der Anmaßung, Steuern bewilligen oder verweigern gu kön— nen, ganz zurückkam, und den öffentlichen Beweis gab, daß «8 eifriger für die Rechte der Nation kämpfe, als für die Berechti⸗ gungen, welche feine eigne Gorporation bisher in Anſpruch ge— nommen hat.” Daß das feit Heinrich IV. in der Geſetzge— bung und im Steuerweſen eingeführte Verfahren dem Volks— vechte entgegen jet, wird dann Hiftorifch nachgewieſen. Endlich heißt es in Beziehung auf die dem Barlamente gemachte Bes ſchuldigung: |

Welcher neue Dienfteifer hat denn jest das Mintfterium er— griffen? Die Minifter beftrelten unjere Befugniß (pouvoirs) fei- neswegs, fie laſſen unfern Abfichten Gerechtigkeit widerfahren, fo lange fie hoffen, umfere Abftimmungen dazu gebrauchen zu kön— nen, um die Nation unter Auflagen und Anleihen zu erdrücken; fobald wir und aber mweigern, ihren Deſpotismus zu begünſti— gen, oder Theil daran zu nehmen, fchelten fie und ehrgeizige Ariſtokraten.

Nein, Sire, keine Ariſtokratie ſoll in Frankreich beſtehen; aber auch kein Deſpotismus. Daß es ſich ſo verhalte, will die Verfaſſung, wünſcht das Parlament und ſo fordert es der Nutzen Ew. Majeſtät. Wir wollen einmal den Satz, den man Ew. Majeſtät als unbeſtreitbar in den Mund gegeben hat, gelten laſſen, daß blos der königliche Wille das letzte Urtheil in Verwaltungs— und Gefebgebungsangelegenheiten geben dürfe, fo wird es fich fogleich zeigen, welche Folgen unmittelbar daraus herfließen.

Der Erbe der Krone iſt durch ein Grundgeſetz beftimmt; die Natton hat ihre Rechte; die Pairs haben die ihrigen. Die Kichter können nicht abgeſetzt werden; jede Provinz hat ihr als Geſetz geltendes Herfommen (coutumes) und es hefteht zwiſchen

Sranfreich bis 1788, 521

ihr und der Krone eine Nebereinfunft, welche die Bedingungen enthält, unter denen fie mit Frankreich vereinigt ift (d. h. ses capitulations.) Jeder Unterthan des Neichs hat feinen natürlichen Richters jeder Bürger hat ein individuelles Eigenthum, und befigt

er Nichts, jo hat er wenigſtens feine Freiheit. Nun fragen wir,

welches von allen diefen Rechten, welches Gefeb auf der Welt würde ausreichen, wenn die Anfprüche, welche die Miniſter Ew. Majeftät in deren Namen gemacht haben, in der That geltend gemacht werden könnten?

‚Dann wiirde der Wille des Königs das einzige Geſetz fein, und die Gefeßgeber müßten es blos von ihm Holen, Der Wille des Königs könnte alfo durch ein von ihm nusgehendes Geſetz über die Krone verfügen, könnte den Kronerben wählen, könnte Provinzen des Reichs abtreten, könnte den allgemeinen Ständen das Recht nehmen, nene Auflagen zu machen und alte gu beftä= tigen; die Cinvichtung der Bairfchaft Andernz die Richter ab- ſetzbar machen; das Herfommen abfchaffenz; die Hierarchie des Gerichtsweſens umſtürzen; fich allein das Gericht anmaßen und nach Willkür entfcheiden, oder die Richter wählen, fowohl in bür— gerlichen Streitfachen als in Griminalprozeffenz endlich ſogar fich zum Eigenthümer der Güter feiner Untertfanen und zum Ge— bieter über ihre Freiheit erklären.

Diefe Theorie gefeglicher und: verfaffungsmäßiger Freiheit, bie das Parlament im Namen des franzofifchen Volks, als ihm tim Rechte und nad) dem Rechte gebührend, für daſſelbe gegen König und Minifter in Anfpruch nimmt, wird auf den folgenden ©eiten im Einzelnen und Befondern nachgewieſen und hiftorifch aus der beftehenden Einrichtung hergeleitet. Alles, was hernach die allgemeinen Stände forderten, läßt ſich fehr Teicht aus dem hier Geſagten vechtfertigen. Wir wollen jest noch anführen, welche Erklärung das Barlament am Ende des Aktenftücs in Beziehung auf die damals (am 4 Mai) ſchon bejchloffene, gegen das Parlament feindjelige Mafregel gibt. Die königliche Pro— Hamation wegen Auflöfung des Parlaments und Errichtung der cour pleniere war damals fihon ganz fertig und wurde ganz tm Geheimen in der königlichen Druckerei gedruckt, damit fie plötzlich und überrafchend in alle Provinzen gelange, Dies gibt den fol-

22 Frankreich bis 1788,

genden Worten am Schluffe diefer Gegenvorſtellungen beſonderes Gewicht und befondere Bedeutung:

Aber, Sire, heißt e8 dort, darf ihr Parlament die Beſorgniß noch äußern, daß es wirklich auf Zerſtörung der Parlamente ab— geſehen ſei? Wenn dies geſchehe, würde es gerecht, würde es klug ſein? Sollte es überhaupt nur möglich ſein, daß ihre Mi— niſter dergleichen Projekte gemacht hätten? Das iſt gewiß nicht die Abſicht Ew. Majeſtät, es könnte auch nicht ihr Vortheil fein, Was ihr Parlament angeht, fo find feine Grundſätze, oder viel— mehr die der Gonftitution des Staats, Sire, welche e8 zu verfech- ten hat, unveränderlich, und es ift nicht in feiner Macht, fein Detragen zu ändern. Zuweilen müſſen die, denen die Gerichte vertraut find, fich für die Geſetze opfern; aber ihre ehrenvolle und gefährliche Beftimmung tft einmal von der Art, daß fie noth— wendig erft aufhören müffen zu fein (d. h. zu eriftiren), ehe die Nation aufhören kann, eine freie Nation zu fein.

Was die gegen das Parlament gerichteten Edicte angeht, jo waren die Minifter, wenn fie auch fähig gewefen wären, in diefem Tone die veränderten Berhältniffe der Zeit zu erfennen und fich diefen anzupaffen, zu der Zeit, als dies Aktenſtück am 27. April im Parlament gebifligt, und noch mehr, als es am 4. Mat dem Könige übergeben ward, viel zu weit vorgefchritten, um noch zurückgehen zu können. Abgefehen von den Umſtänden und ganz befonderd davon, daß man die politifchen Nechte des Parlaments, welches doch eine gewiffe Art Unabhängigkeit Hatte, wenn fie auch nicht die rechte war, einem ganz vom Hof abhän— gigen, neun zu errichtenden, vom Könige präfidirten Collegium übertragen wollte, enthielten die ſechs oder fieben Edicte, die her— nad) bekannt gemacht, aber nie ausgeführt werden Fonnten, aller= dings eine DVerbefferung der Juſtiz; aber niemand achtete darauf. Man fah darin mit Necht nur den Verſuch einer ohnmächtigen Regierung, das einzige freie Organ der Oppofition gegen den Despotismus auf Immer zu vernichten, Diefe Ueberzeugung durch— drang plöglich die ganze Nationz alle Parlamente widerſetzten fich, alle Stände proteftirten. Das Volk blieb damals fünf Mo- nate lang innig mit den Parlamenten verbunden, um fich hernach am Ende des Jahrs auf immer von ihnen zu trennen. Wir

Frankreich bis 1788, 923

glauben, daß mit den von Lomenie de Brienne und Lamoignon gegen die Parlamente beftimmten Edieten die Revolution von 1789 auf diefelbe Weife ihren Anfang nahm, wie durch die Ordon— nanzen vom Juli 1830 der zufällige Anlaß der neuen franzö— fiichen Revolution gegeben ward, obgleich in beiden Fällen die Urſachen längſt vorhanden warem Es fcheint uns alfo auch bie Geſchichte des Streits über diefe Ediete von der Geſchichte des. Jahrs 1739 unzertrennlich; wir müſſen daher im Folgenden auf diefe Edicte zurückkommen und geben hier nur ſummariſch den weſentlichen Inhalt der drei wichtigſten an.

Sie betrafen zuerſt die Errichtung einer fogenannten Cour pleniere, ‘welche künftig die politifchen Nechte der Parlamente ausüben follte. Wir wollen in dev Note die Perfonen anführen, aus denen diefer Cour beftehen follte, 33) man wird auf den erften Blick erkennen, wie e8 um Frankreich wirde ausgefehen haben, wenn eine folche Berfammlung über Abgaben, Freiheiten und Rechte der Bürger hätte unbedingt entfcheiden können. Das Bars lament Hatte fich aber durch eine nicht gerade rühmliche Lift einen Abdruck dev Verordnung verſchafft und feßte ihm ein Dekret ent- gegen, welches noch vor der Bekanntmachung des Ediets in Tau— jenden von Exemplaren verbreitet ward und die Grundgeſetze der alten franzöſiſchen Gonftitution gegen die monarchifchen Uſurpatio— nen in Schuß nahm, Dies Devret, Declaration: genannt, iſt in gleichem Tone abgefaßt und Ahnlichen Inhalts mit der Erflä- ung. des: englifchen Parlaments zu Karl L Zeiten, ald es vom Könige drohend verlangte, daß ex der Engländer conftitutionelle Rechte feierlich anerfenne (die petition of rights.) Die Declaras tion hatte diefelbe Wirkung mit der som. englilchen Parlament

33) Es werden als Mitglieder der freilich toptgebsrnen cour pleniere genannt: Le roi, le chancelier ou en V’absence de celui-ci le garde des sceaux, les presidens du parlement de Paris, les princes du sang, le grand aumönier et les autres grands officiers de la couronne, les pairs, deux archeväques, deux mar&chaux de France, deux commandans de province, deux lieutenans generaux, en outre, quatre personnes qualifices, un certain nombre de conseillers d’&tat et de maitres des requötes, un député de chaque province; et quand un grand nombre de magistrats se trou- veroit absent, ils seroient ramplac&s par des magistrats du conseil.

524 Frankreich bis 1788.

erlaffenen, fie seranlaßte eine Revolution, die im folgenden Jahre jchon der ganzen alten Gonftitution ein Ende machte, nachdem die drei Edikte, welche die Parlamente und das Volk gegen den König vereinigt hatten, ſchon im Auguft 1788 verfehwunden waren. Das zweite jener Edicte verkleinerte durch Errichtung ganz neuer Obergerichte in verfchtedenen Städten und Diftrieten (grands baillages) die Sprengel der Barlamentez befonders den vorher ganz übermäßig großen des parifer Parlaments, und verminderte die von demfelben zu entfcheidenden Prozeffe fo fehr, daß die Zahl der Untergeordneten deffelben, wie Die der Prozepführenden auf eine verhältnigmäßig unbedeutende Zahl zurückgeführt ward. Die königlichen Untergevichte nämlich follen unter dem Namen Präſi— dinle Gerichte erfter Inſtanz bilden, die Obergerichte aber (d. 5. die grands baillages) in Griminalfällen und in Gisilfachen, Die eine beſtimmte Summe überftiegen, Appellationsgerichte fen. Den Parlamenten follten, ſelbſt innerhalb der ſehr verkleinerten Spren— gel, nur die Griminalprozefle der Privilegirten und die Civilpro— zeſſe über Sachen, die eine fefigefette bedeutende Summe über= - fttegen, vorbehalten bleiben. Das dritte Ediet war eine natürliche Folge der beiden andern, Es verminderte die Anzahl der Par— Iamentsräthe, alſo auch von dieſer Seite die Bedentung, deren dad Parlament bis dahin genoffen hatte, Diefe Bedeutung mußte ohnehin. verfchwinden, wenn die Pairs und einige Auserwählte allein in der Cour pleniere faßen, nicht aber umgekehrt die Pairs und Prinzen nur einen Heinen Anhang zum Parlament mehr bildeten, wie vorher, Dies war, man mochte fophiftifiren, wie man wollte, ein Eingriff in das erſte und weſentlichſte Recht aller Franzoſen. Die Gerichte wären dadurch abhängig geworden. Die Verminde— rung der Mitglieder der beftehenden Parlamente mußte, was man auch für gute Gründe dafür anführen mochte, doch vorerſt eine Abſetzung der. überflüffig. gewordenen. Räthe herbeiführen,

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