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Abraham Lincoln

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Ein mitreißendes Lebensbild. Wie der ungeschlachte, ehr- liche Holzfäller zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wird und Amerika von der Schmach der Sklaverei befreit, das ist hier meisterhaft beschrieben.

Rudolf Stickelberger

Abraham Lincoln

Die Erzählung seines Lebens Mit einem Porträt und einer Karte.

Ueberaus anschaulich ersteht hier vor uns das abenteuerliche Leben Abra- ham Lincolns, des Holzfällers, den kei- ner im Ringkampf bezwingen konnte, des ehrlichen Advokaten, der im ent- scheidenden Augenblick der Geschichte der Vereinigten Staaten ihr Präsident wurde und der Amerika von der Schmach der Sklaverei befreite, diese Tat aber mit seinem Leben bezahlt hat. Das Bild dieses einfachen, herzens- guten, aber willensstarken Menschen, der, die Ehrlichkeit selbst, sich den- noch den gerissensten Diplomaten ge- genüber durch seine Kraft und Auf- richtigkeit durchsetzt und seine große Heimat um ein gutes Stück vorwärts bringt, wird jedem Leser unvergeßlich bleiben. Aber noch ein Weiteres bietet dieser schmale Band. Amerika vor hundert Jahren, in seiner Primitivität und Lebenskraft, mit all seinen tausend Möglichkeiten, die es damals bot, wird hier meisterhaft knapp und lebendig geschildert. Gerade auch junge Men- schen werden von diesem Buch begei- stert sein, denn es weitet ihren Hori- zont und weist ihnen den Weg zu Mut und Tatkraft.

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ABRAHAM LINCOLN

1809 1865 Die Erzählung seines Lebens

o

von

Rudolf Stickelberger

Zweite Auflage

Verlag Friedrich Reinhardt AG., Basel

Printed in Switzerland Druck und Einband von Friedrich Reinhardt AG., Basel

INHALT

Harte Jugend 7

Die Lebensschule 17

Erste Lorbeeren 28

Das Gesicht Amerikas damals 39

Nicht alle Ehen werden im Himmel geschlossen ! 43

Das Turnier 51

Die Präsidentenwahl 59

Der Bürgerkrieg 70

Erster Bürger seines Landes 86

Krisen 97

Der letzte Tag 109

Zeittafel 116

Harte Jugend

Den ganzen Tag über hat die Wanderung wieder gedauert. Der Vater hat den Mund seit Stunden über- haupt nicht aufgetan; die Mutter hat dreimal geschimpft, einmal geflucht und einmal geweint. Geflucht über die Rastlosigkeit des Vaters, der es noch nie länger als drei Jahre in seinem Leben am gleichen Ort ausgehalten hat. Geweint, als der Weg dem Kentuckyfluß entlang plötz- lich aufhörte und ein abschüssiger Fels dem Ochsenwagen den Paß versperrte. Aber schließlich ist es dann doch ge- gangen. Am Ende geht es immer, wenn auch mit Hieben und Püffen, mit Schrunden und Wunden. Man bekommt auf solchen Reisen eine zähe gelbliche Haut, ein geübtes Auge und einen Charakter, der sich von nichts über- raschen läßt.

Die Siedlung Carrolton ist noch nicht erreicht. Man wird also wieder unter den Piachen nächtigen müssen. Alle vier frieren. Aber ein Feuer soll nicht angezündet werden; Vater Thomas ist dagegen. Die Indianer brauchen nicht zu wissen, daß es hier zu rauben und zu morden gibt. Er hat großen Respekt vor den Indianern, seit er vor zwanzig Jahren er war damals noch nicht erwachsen seinen eigenen Vater tot unter einem Baum gefunden hat. Das ist nun schon lange her, aber fast jede Nacht schreckt er aus einem wüsten Traum, weil sich ihm jenes Bild so tief eingeprägt hat: Sein Vater war frühmorgens in den Wald gegangen, um zu roden, Axt und Feuer hatte er mit- genommen. Als er am Abend nicht in die Blockhütte zu-

rückkam, fürchtete man bereits um sein Leben. Aber in der Dunkelheit nach ihm zu suchen, hatte keinen Sinn. Nach- barn waren meilenweit keine zu finden. Am nächsten Tag machte sich Thomas auf den Weg und fand den Vater nach einer Stunde schon. Er lehnte, den Kopf auf die Brust gesenkt, an einem Baum und sah von weitem ganz friedlich aus. Sein Gesicht aber war von Blut überströmt; die Mörder hatten ihm die Kopfhaut weggeschnitten. Diesen Brauch hatten eigentlich die weißen Ansiedler ausgeheckt: Man bezahlte den befreundeten Stämmen Kopfpreise für jeden erlegten Gegner und erreichte damit, daß die unbequemen Roten sich selbst dezimierten. Bald aber wandten sie die blutige Sitte auch gegen die Wei- ßen an.

Thomas Lincoln war damals nach Hause gerannt, und keine Macht der Welt hätte ihn dazu bewegt, den schreck- lichen Ort nochmals aufzusuchen. Sein Vater blieb un- begraben, an den Baum gelehnt. Und seither fühlt er den Wandertrieb in seinen Gliedern. Sobald er irgendwo eine Hütte errichtet und ein paar Flecken urbar gemacht hat, muß er wieder weiterziehn. Die Indianer könnten ihn überfallen, dieses verschlagene Pack, diese Ausgeburt der Hölle. Sie sind schlimmer als die Bären und als die Wölfe der Wälder; man muß jeden totschlagen, der einem be- gegnet. Man trägt immer eine geladene Flinte bei sich und ein geschliffenes Beil.

«Wohin reisen wir eigentlich, Lincoln?» wagt Mutter Nancy zu fragen. Sie nennt ihn stets «Lincoln», wahr- scheinlich weil sie findet, der Rufname klinge in ihrem Munde zu zärtlich und deshalb unschicklich.

«Nach Indiana.»

«Ist das Leben dort besser als in Kentucky

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«Ich weiß nicht. Nein, es ist schlimmer.»

«Weshalb ziehen wir denn hin?»

«Weil ich nicht unter den verdammten Sklavenhaltern leben mag.»

«Bist du sicher, daß es in Indiana keine Neger gibt?»

«Laß mich in Ruhe.»

In Lincolns Blut tobt wilder Haß gegen die Indianer. In seinem Herzen schwelt gleichzeitig Grimm und Ver- achtung gegen die Farmer des Südens. Mit ihnen hat er nie viel zu tun gehabt. Sie nahmen seine Anwesenheit überhaupt nicht zur Kenntnis, so lange er in Kentucky lebte. Denn sie, die Farmer, waren die Herren des Landes. Sie lebten in ihren weißen kühlen Häusern und errechne- ten die Börsenkurse in Boston und London. Die Arbeit auf den heißen Baumwollfeldern taten die Schwarzen für sie. Man erzählte sich, daß die ersten Ansiedler sich Rot- häute zu Dienern gedungen hätten. Aber die seien schlau und faul gewesen, seien auch nach der geringsten An- strengung krank geworden und, falls sie nicht rechtzeitig davonlaufen konnten, bald gestorben. Ein schlechtes Ge- schäft für rechnende Pflanzer! Dann sei ein menschen- freundlicher Priester, dem das Leiden und Sterben der In- dianer auf der Seele gebrannt habe, auf den Gedanken gekommen, afrikanische Neger zu importieren. So wur- den Segelschiffe nach dem schwarzen Erdteil geschickt, um dort menschliche Fracht einzukaufen. Die Häupt- linge im westlichen Afrika hatten nichts gegen das gute Geschäft einzuwenden: Sie erhielten bunte Glasperlen, Schießgewehre und Schnaps und lockten oder trieben be- reitwillig ihre Untertanen auf die Fregatten der Weißen. Traurige Fahrzeuge! Man nützte ihren Raum so gut als möglich aus und pferchte die Schwarzen in die kleinen

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stickigen Räume. Sie hungerten auf der Ueberfahrt und dürsteten noch mehr; denn das Trinkwasser war knapp auf der langen heißen Reise. Viele kamen unterwegs um. Seuchen brachen aus; oft töteten sich die Gefangenen so- gar gegenseitig in ihrer Verzweiflung und Enttäuschung. Manchmal ging ein Sklavenschiff auch unter. Immerhin gelangten noch genug Schwarze an die Märkte von Char- leston und Savannah. Sie vermehrten sich rasch, und das Klima sagte ihnen zu. Sie arbeiteten willig vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Sie waren mit Maismehl zufrieden und verlangten keinen Komfort in ihren Hüt- ten. Am Sonntag saßen sie begeistert in ihren Holzkirchen und sangen vom Paradies, und am Nachmittag stolzierten sie in einigen schreiend gelben und roten Fetzen um ihre Behausungen herum und fühlten sich wie Könige. Die Farmer waren gut versorgt mit diesen Dienern; wer klug war, gab ihnen genug zu essen und gönnte ihnen auch dann und wann ein freundliches Wort.

Doch Thomas Lincoln verachtete diese Sklavenhalter. Seine Familie stammte aus dem Norden. Sie war mit dem milden William Penn aus England in die neue Welt ein- gewandert. Hier wollte man nichts wissen von Ausbeu- tung und vom rücksichtslosen Geschäft: Ein Musterstaat mußte dieses Land Pennsylvanien werden, und zum Zei- chen aller guten Absicht hieß der wichtigste Ort von An- beginn «Philadelphia», «Stadt der Bruderliebe». Wahr- scheinlich hatten aber schon der Großvater und der Vater des Thomas den Wandertrieb in den Gliedern gespürt; so rutschte die Familie allmählich nach Süden, unter die Negerhalter. Hier galt man als arm und unpraktisch. Denn die Pflanzer schätzten das bequeme Leben, gönn- ten sich täglich weite Ritte auf halbgebändigten Pferden

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über Felder und Steppen. Auch liebten sie es, teure Klei- der aus Europa kommen zu lassen; sie tanzten viel, for- derten sich wegen eines Wildfangs oder Dämchens auf Pistolen und betrachteten sich selbst als die vollendeten Grandseigneurs.

Thomas Lincoln aber schlug eigenhändig die Stämme zu seiner Blockhütte und suchte zusammen mit Frau und Kindern die Nahrung für den kommenden Tag. Er säte wenig und erntete noch weniger; einen Neger hätte er nicht zum Diener genommen, auch wenn man ihm den treusten Gesellen geschenkt hätte. Wenn die Umgebung nicht mehr zum Leben ausreichte, zog man weiter.

So ist man also auch jetzt auf der Reise: Vater, Mutter, der siebenjährige Abraham und seine neunjährige Schwe- ster, die nach der Mutter Nancy heißt. Sie haben schlecht gegessen: rohe, in Stücke zerschnittene Kartoffeln. Zum Glück haben die Kinder einige süße Wurzeln gefunden, aus denen die Mutter Tee kochen konnte. Außerdem hat der Kleine wilden Honig entdeckt; nun schmeckt das Ge- tränk wie himmlischer Sirup. Ein Wanderprediger hat einmal vom Gottesmann Johannes erzählt, der ebenfalls in der Wildnis vom wildem Honig lebte. Der aber noch Heuschrecken dazu; pfui Teufel! Dann schon lieber Manna, das auch in der Wüste wachsen soll; aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Die Kinder schlafen vor Erschöpfung unter ihrer Plache bald ein; auch die Mutter begibt sich zur Ruhe. Der Himmel ist klar und sternenhell; es wird wenigstens nicht regnen heute nacht.

Vater Thomas wacht. Die Angst vor den Indianern kommt wieder über ihn und läßt ihn den Schlaf nicht fin- den. Hört er nicht leises Knacken im Geäst? Oder blitzen

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dort nicht zwei tückische Augen aus den Sträuchern? Er springt auf; nichts bewegt sich in der Runde außer dem emsigen Wasser des Kentuckyflusses. Thomas Lincoln greift zur Whiskyflasche und gießt unwahrscheinlich viel von dem schlechten Fusel durch seine Kehle.

Die Sklavenhalter in Kentucky datieren ihre Geschäfts- briefe mit der Jahrzahl 1816. Diejenigen, welche die Zei- tung lesen können, wissen, daß in Wien ein großer Kon- greß zu Ende gegangen ist, an welchem über Europas Schicksal verhandelt wurde. Nebenbei hat man in Wien viel getanzt, geliebt und geschachert. In den Zeitungen steht weiter, der große Kaiser Napoleon sei aus der Ver- bannung zurückgekehrt; es sei ihm gelungen, hundert Tage lang die Gewalt wieder an sich zu reißen, dann war seine Herrlichkeit endgültig zu Ende.

Thomas Lincoln kann weder lesen noch schreiben. Mit Mühe gelingt es ihm, seinen Namenszug zu malen; aber er fällt lieber eine dicke Kiefer, als daß er ein Papier unterschreibt. Seines Vaters Leben war hart und unstet und sein Ende blutig. Sein eigenes Leben verläuft ebenso hart und noch rastloser, und sein Ende weiß zum Glück kein Mensch voraus. Und das Leben seines schlafenden Sohnes wird auch hart sein. So will es Gott.

Anderntags erreichen sie Carrolton. Da muß ein Fest sein: Zwischen den Blockhütten wimmelt es von Men- schen, die meilenweit herbeigekommen sind. Fast alles verwegen aussehende Männer in Lederhosen und in bun- ten Hemden. Sie reiten wie besessen in dichte Menschen- haufen hinein und reißen ihr Pferd im letzten Augenblick noch zur Seite. Ein Unglück passiert fast nie. Wenn doch einmal eines geschieht, so nimmt man die Untersuchung nicht so genau. Kein Mensch kann verlangen, daß man

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sich in dieser abgelegenen Ecke des Kontinents, wo der Kentucky in den Ohio mündet, beträgt wie auf dem Stra- ßenpflaster der vornehmen Stadt Philadelphia. Immerhin herrschen auch hier das Recht und die Gerechtigkeit der weißen Rasse. Um der Gerechtigkeit willen sind die Men- schen nämlich heute zusammengeströmt: Es wird ein Pferdedieb gehängt.

Man sucht Leute, die am Galgengerüst zimmern kön- nen. Die Arbeitsgelegenheit kommt Thomas Lincoln ge- rade recht; er besitzt überhaupt kein Geld mehr. Und ar- beiten kann er; er schwingt seine Axt, er haut mit dem schweren Hammer auf die Pfosten. Sie hämmern alle, bis sie in Schweiß gebadet sind. Das ist amerikanische Art; nur so wird man Herr über die Roten, über die Tiere des Waldes und über die Steppe. Nur so dringt die weiße Zivilisation gegen Westen vor. Zivilisation heißt: harte Arbeit, Kampf ums Leben bis aufs Messer, Sieg oder Un- tergang.

Unübersehbar ist die Zuschauermenge, welche dem schändlichen Tode des Pferdediebes beiwohnt. Die Män- ner — sie sind in starker Ueberzahl verziehen kaum ihre Gesichter. Obwohl diese Männer alles Söhne von englischen oder holländischen Einwanderern sind, haben ihre Gesichter etwas Indianisches an sich: faltig, braun, ledern. Die wenigen Frauen unterhalten sich ungerührt über Aussehen und Haltung des Verurteilten. Auch Abra- ham und Nancy sehen dem Schauspiel zu; die Mutter hält an jeder Hand einen Sprößling. Ab und zu hebt sie ihr Söhnchen in die Höhe, damit es den Vorgang auf der Bühne besser sehen kann.

Am Abend drängt sich die vierköpfige Familie Lincoln in die Festhütte. Sie ist zur Feier des Tages mit bunten

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Stoff- und Papierstreifen ausstaffiert. Mit großer Mühe findet man seinen Platz am langen Holztisch. Für die Männer gibt es Kornschnaps, für Frauen und Kinder Tee, der ähnlich zubereitet ist wie der gestern abend im Ken- tuckytal. Nur schmeckt der heutige nicht so frisch nach Wald und Honig; es ist ein ekelhaftes, süßliches Gebräu. Die Luft in der Festhütte ist so qualmig, daß einem die Augen fortwährend überlaufen. Drei Männer spielen zum Tanz auf. Der erste bläst eine schrille Flöte, der zweite ein dumpfes Hörn, der dritte schlägt den Takt auf ein Holzbrett. Man tanzt mit bloßen Füßen, damit man sich nicht mit den schweren Stiefeln tritt. Ein ungewasche- ner Kerl kommt auf Mutter Nancy zu und fordert sie zum Tanz auf. Sie weigert sich, und Thomas blickt den Zu- dringlichen mit bösen Augen an. Der aber verzieht sein Gesicht zu breitem Grinsen, holt zwei seiner Kumpane herbei, die sich breitspurig vor die fremde Familie stellen, und sagt dann: «Wenn du nicht tanzen willst, dann brauchst du nicht hereinzukommen!» Da wagt Lincoln nichts mehr zu sagen oder zu tun und sieht mit verknif- fenem Mund zu, wie der Kerl seine Frau wild herum- schwenkt und wie er ihr seine Klauen in die Oberarme preßt. Endlich aber erhebt er sich langsam, bahnt sich mit den Ellbogen einen Weg durchs Gedränge und versetzt dem Tänzer so geschickt und blitzschnell zwei Schläge, den ersten unters Kinn, den zweiten in die Magengrube, daß dieser wortlos zusammensinkt, Lincoln seine Frau an der Hand nehmen und zum Ausgang führen kann. Dann aber geht ein wilder Lärm los; der Geschlagene sucht seinen Gegner, boxt zur Rechten und zur Linken nieder, was sich ihm entgegenstellt, und bald ist eine Schlägerei im Gang, bei welcher jedermann eines jeden

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Feind ist. Harte Becher und Krüge fliegen durch den Raum, Messer blitzen auf, Lampen stürzen um und dro- hen die ganze Hütte in Brand zu stecken. Die beiden Kin- der können sich mit Mühe und Not zu ihren Eltern retten, die ihren Wagen suchen. Sie überhäufen sich gegenseitig mit bittern Vorwürfen; Thomas schilt mit Nancy, weil sie getanzt hat; Nancy behauptet, sie wäre überhaupt viel lieber draußen geblieben. Solche Feste seien ihr in der Seele zuwider. Thomas spuckt aus und erklärt, er freue sich auf die Einsamkeit; in der Stadt wohne jedes Laster. Dieser Meinung scheint auch der Methodistenprediger zu sein, der jetzt von der Galgenbühne herab seine An- sprache hält. Er hat sich die Gelegenheit der Hinrichtung zunutze gemacht und redet pausenlos auf seine Hörer ein. Er geißelt die Trunksucht und die Unzucht, er schildert die Qualen der Hölle und die Seligkeiten des Himmels und läßt sich von den spöttischen Zwischenrufen aus dem Publikum nicht beirren. Im Gegenteil, diese Zwischenrufe feuern seinen Geist noch an; ernst und witzig zugleich setzt er sich mit den Zweiflern auseinander. Hier stehen nicht so viele Menschen wie am Vormittag, aber doch fast ebenso viele hören dem Prediger zu als in der Festhütte tanzen, trinken und raufen. Und manchen merkt man an, daß sie vom Regen dieses Wortgewaltigen befruchtet wer- den und in sich gehen. Sie begreifen, daß ihr Leben kurz bemessen, und daß man in dieser wilden Zeit und Gegend keine Stunde vor dem Tode sicher sei. «Die elfte Stunde ist vorüber», ruft der Mann mit lauter, schon etwas hei- serer Stimme, «wendet euch zum Herrn, bevor die zwölfte euch überrascht; verlaßt euer wüstes Treiben und sucht euren Gott, jetzt im Augenblick, ich beschwöre euch!» Zum Schluß stimmt er das Lied an: «Streiter Christi, mu-

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tig drauf!» Kein Mensch singt mit. Man hat keine Zeit und keine Lust zu singen; das Leben ist zu hart. Der Pre- diger soll zu den Negern im Süden, die haben noch die Ausdauer, nach ihrem bittern Tagwerk mit weichen Stimmen Psalmen zu üben.

Am folgenden Morgen fahren sie weiter mit ihrem Kar- ren. Das gestern verdiente Geld, soweit es nicht in der Festhütte geblieben ist, müssen sie dem Fährmann geben, der sie über den Ohio setzt. Sie haben kein bestimmtes Ziel. Sie werden reisen, durch die Hitze des Tages, die Kühle des Abends und den Frost der Nacht, so lange, bis ihnen ein Plätzchen zur Ansiedlung verlockend scheint. Im stillen hegen alle vier ihre Hoffnungen: Der Vater denkt an gutes, nicht zu hartes Holz zum Hausbau an einem lachsreichen Strom, die Mutter an einige Nachbarinnen, mit denen man doch ein menschliches Wort austauschen könnte; vielleicht ließe sich auch ein kleiner Kramladen eröffnen. Die kleine Nancy möchte endlich einmal statt Kartoffelstücke und Maisbrei von den Leckerbissen essen, von denen die biblischen Geschichten erzählen, und auch Abraham hat seine Pläne: Er will die Schule besuchen. In der Schule, das hat er gemerkt, findet man den Schlüssel zur Welt. Aber er spricht mit niemandem darüber.

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Die Lebensschule

Unter «Schule» stellt sich der kleine Abe so etwas wie einen Zauberkasten in Form eines Hauses vor: Zur einen Türe spaziert man hinein, so wie man ist, neugierig, wis- sensdurstig, voll guter Vorsätze, und auf der andern Seite kommt man als Allwissender wieder heraus. Wer viel weiß, leistet viel, und wer viel leistet, dem gehört die Welt.

Die Schule am neuen Wohnsitz in Indiana allerdings enttäuscht den eifrigen Schüler bitter. Er lernt zwar lesen und schreiben, auch die Anfangsgründe des Rechnens werden ihm beigebracht; über weitere Kenntnisse verfügt der Lehrer selber nicht. Er erteilt seinen Unterricht in einem Blockhaus, in welchem die Kinder der umliegen- den Siedlungen zusammenkommen. Dieser Lehrer ist von keinem Gemeinwesen richtig angestellt; er gilt als der verachtenswerteste Mensch weit und breit. Er bleibt nur deshalb Lehrer, weil er für jedes vernünftige Handwerk zu schwach ist. Und nach einem Jahr schon hat der junge Lincoln genug von diesem schalen Unterricht. Er kann nun lesen, das genügt ihm. Wenn nur die Bücher nicht so selten wären in diesem Lande! Aber die Pioniere haben in den ersten Jahren nach der Ansiedlung andere Sorgen als die, ihre Bibliotheken zu vervollständigen. Sie bauen Straßen und festere Blockhäuser, sie roden den Wald, sie friedigen ihr Besitztum ein. Aber da und dort findet sich doch ein Buch: die Geschichte des Robinson Crusoe zum Beispiel oder Gullivers Reisen, natürlich die Bibel und dann das Buch, welches in jeder englischen und ameri-

l Stickelberger, Abraham Lincoln j-

kanischen Familie jener Zeit mit der Bibel zusammen genannt wird: Bunyans «Pilgerreise». An einem Ort ent- deckt Lincoln die Lebensbeschreibung des großen George Washington, an einem andern die gesammelten Gesetze des Staates Indiana. Wenn man all diese Bücher genau kennt, ist man seiner Mitwelt um ein gutes Stück voraus; denn sonst nimmt sich ja im weiten Umkreis kein Mensch die Mühe, auch nur ein einziges Buch zu lesen.

Wo die Unbildung herrscht, da schwingt der wenig Gebildete obenaus. Abe verblüfft nicht nur seine Schwe- ster, sondern auch seine Nachbarn mit der Feststellung, er wisse ganz genau, daß sich die Erde um die Sonne drehe, und nicht die Sonne um die Erde. Die Leute stecken die Köpfe zusammen; einige Alte erinnern sich, früher, als sie noch im Osten geschult wurden, auch derartige Weisheiten vernommen zu haben wer kann solche Behauptungen nur nachprüfen? Auf jeden Fall beweisen sie die scharfe Auffassungsgabe des Jungen. Man kann ihn aber auch sonst zu allem brauchen; er ist gewiß kein Stubenhocker! Er liest zwar, wenn er seines Weges geht, und es kann ihm zustoßen, daß er mitsamt seinem buch über eine Wurzel stolpert, weil er nicht auf die eigenen Füße achtgibt. Daneben aber ist er stark wie ein Bär. Viel zu schnell gewachsen, erinnert er, was den Körperwuchs betrifft, an ein Kalb oder an ein Füllen. Die Arme schei- nen zu lange geraten und wissen oft nicht, was sie mit sich selbst anfangen sollen; auch die Beine sind unverhältnis- mäßig hoch. Sein Mund ist zu groß und immer in Be- wegung.

Lincolns Glanzstück ist die Imitation jenes Predigers, der vom Galgengerüst herab der Volksmenge zugespro- chen hat. Ihn muß er immer und immer wieder nach-

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machen; Mienenspiel und Stimme werden von Mal zu Mal grotesker. Er heizt den Holzfällern so sehr ein, daß sie sich vor der wirklichen Hölle fürchten und erleichtert aufatmen, wenn sie zum Schluß merken, daß der Junge nur aus Mutwillen predigte. Wenn ihm einer zum Spaß zuruft: «Du wirst wohl noch einmal Präsident der Staaten werden», dann lacht er laut und ruft zurück: «Warum nicht? Sie könnten noch Dümmere wählen!»

Dabei ist Abraham weder hochmütig noch spottlustig. Es freut ihn einfach, wenn die Nachbarn um ihn stehen und ihm zuhören. Er hat schon gemerkt, daß ihm jemand, dem er eine längere Rede hielt, nachher seine eigenen Weisheiten wieder vorgetragen hat, ohne selbst zu wissen, daß er fremdes Gedankengut weitergab. Und dann sind die Menschen doch so drollig, nein, so eigenartig, daß man sie nachahmen muß. Wie soll man denn einem Dritten erzählen, was die Frau Walker oder der dicke Jimmy gesagt hat, wenn man nicht die gleichen Worte, die gleiche Sprechweise und die gleiche Tonhöhe der Originale benutzt und nicht auch deren Gesichtsausdruck aufsetzt? Die Rede wirkt auf diese Weise viel eindring- licher.

Bei aller Welt ist der Junge beliebt. Die Art, sich über- all zurechtzufinden, hat er bestimmt nicht von seinem Vater geerbt. Der ist und bleibt ein Querkopf, wird leicht grob und ausfällig gegen jemand, der wagt, eine andere Meinung zu haben, und wenn er in der Auseinanderset- zung nicht Meister wird, dann verkriecht er sich. Oder er zieht weiter, zu Leuten, die er noch nicht kennt und die ihn noch nicht kennengelernt haben. Nicht so der Sohn: Dem ist's wohl, wo er hinkommt. Ob er als Holzfäller, als Vieh- treiber, als Flößer oder als Hausbursche hilft: Ueberall

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heißt man ihn willkommen. Die Frauen füttern ihn mit Leckerbissen, und die Männer hören seinem Geplauder zu. Es ist nicht immer harmlos, dieses Geplauder. Im Weitererzählen von Witzen ist er nicht wählerisch. Aber seltsam: was er da auch berichtet, er hinterläßt nirgends einen schmierigen Eindruck. Und obwohl man seine gren- zenlose Neugierde kennt und weiß, daß er gerne im zwei- ten Haus erzählt, was er im ersten gesehen und erlebt hat, so nimmt ihm dies kein Mensch übel. Man lacht, wo er erscheint, und nimmt sogar gern eine persönliche An- rempelung in Kauf.

Vielleicht hat er sein Wesen von seiner Mutter, der behutsamen Nancy, mitbekommen. Sie hat das Blockhaus in Indiana noch notdürftig eingerichtet; sie hat ihrem un- praktischen Mann geholfen, wo sie konnte, sie hat auch das Beil geschwungen und die Säge geführt bis es eines Tages zu viel für sie wurde. Sie legte das Werkzeug aus der Hand und schloß die Augen; kaum hatte sie Zeit, von ihren Lieben Abschied zu nehmen. Thomas Lincoln betrauerte sie in seiner Art und begrub sie in der Nähe seines Blockhauses. Ein Pfarrer war weit und breit nicht zu finden, und unter den Nachbarn, die zum Begräbnis herbeigeströmt waren, fühlte sich keiner würdig oder fähig, eine Abdankungsrede zu halten. So stellte sich der aufgeschossene Abraham neben das offene Grab und las mit lauter Stimme, ohne Fehler und Anstoß, der Ver- sammlung den neunzigsten Psalm vor. Darauf dankte er Gott im Namen des Vaters Thomas, der Schwester und auch in seinem eigenen für alles Gute, das ihnen die Mut- ter getan hatte. Mitten in seiner Rede ertappte er sich bei der Feststellung, daß er im Augenblick gar nicht trau- rig sei, sondern entzückt von dem Gedanken, daß er seiner

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Mutter die beredte Abdankung hielt. Doch verscheuchte er diesen Gedanken sofort, schon weil er die Rede zu beeinträchtigen drohte. Er hielt sie ohne Stockung zu Ende, und auch die härtesten Farmerherzen wurden ge- rührt. Sie vermeinten, einen würdigen, feierlich schwarz gewandeten Prediger vor sich zu haben; niemand stieß sich am Anblick des Jungen, der seines Amtes im Alltagskleid waltete. Er trug seine abgeschossene kurze Hirschleder- hose und dicke gestrickte Wadenstrümpfe. Zwischen dem ausgefransten Hosenrand und dem obern Saum der Strümpfe sah man seine schmächtigen blauen Knie. Noch lange redete man im ganzen Distrikt von dieser denk- würdigen Feier.

Ein Jahr darauf hält eine neue Mutter in die ärmliche Hütte der Familie Lincoln Einzug. Sie heißt Sally Johns- ton, ist selbst seit kurzer Zeit verwitwet und bringt die Habseligkeiten aus erster Ehe mit. Wir wissen von ihr, daß sie als tüchtige und resolute Person dem Hauswesen schlecht und recht vorgestanden hat, eher besser als die verstorbene Mutter Nancy. Aber ob irgendwelche Herz- lichkeit zwischen ihr und den Stiefkindern bestanden hat, wissen wir nicht. Abe ist zeitlebens nicht gerne auf seine Jugendzeit zu reden gekommen und hat der Nachwelt auch nicht mitgeteilt, ob er und seine Schwester gut mit den beiden Stiefschwestern ausgekommen sind, welche Frau Johnston nebst einigen mit Plüsch gepolsterten Sesseln, drei Bettstellen, einem Schrank und einer etwas wackeligen Kommode als Mitgift gebracht hat.

Eines Tages Abe ist gerade dabei, Aesops Fabeln durch einige frei erfundene, sarkastische Tiergeschichten passend zu ergänzen kommt der Redaktor des Wochen- blattes zu ihm und bittet ihn um seine Mitarbeit.

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Der Redaktor fristet ein ähnliches Leben wie der Schul- meister: von den Ansiedlern wird er als notwendiges Uebel betrachtet und samt seiner Zeitung gering eingeschätzt. Aber so wie die Kinder das Abc schließlich bei jemandem lernen müssen, so will man auch wissen, was in der großen Welt vorgeht. Der Redaktor sorgt für dieses Wissen, wenn auch höchst lückenhaft. Es wird noch zwei Jahr- zehnte dauern, bis der Telegraph im Staate Indiana seinen Einzug hält. Die Nachrichten treffen mit der Post ein, die oft einvBotenreiter, oft ein Lastschiff bringt. Die mei- sten Geschehnisse, von denen man in Indiana Kenntnis erhält, liegen bereits wochenweit zurück. Aber jemand muß doch für ihre verständliche Verbreitung sorgen. Der Redaktor ist auch kein Meister der Sprache, aber er weiß doch, wie man mit den Worten umgeht; er findet auch zügige Ueberschriften zu langweiligen Ereignissen. Er schreibt, setzt und druckt sein Blatt selbst, und der junge Lincoln soll ihm dabei helfen.

Der hat bald herausgefunden, daß er nicht nur münd- lich, sondern erst recht schriftlich zur Mitwelt zu reden versteht. Seine kurzen, witzigen Gedichte, in denen er sich über irgend etwas, über einen europäischen Politiker oder über ein fast gekentertes Boot lustig macht, werden mit Begeisterung gelesen. Die Leser schütteln dem Redak- tor die Hand: «Solches Zeug mußt du bringen! Laß den Lincoln schreiben, der versteht's!» Diesem macht eine einzige Hemmung das Schreiben sauer: der Mangel an Papier. Er muß sich stets so kurz fassen, weil das Schreib- papier nicht ausreicht. Die Entwürfe setzt er daher zuerst auf eine Holztafel, mit Kohle oder mit Kreide, und erst die Reinschrift kommt auf die kostbaren weißen Blätter.

Je mehr Lincoln schreibt, desto mehr möchte er schrei-

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ben. Und obendrein: je mehr er liest, desto mehr möchte er weiterschreiben. Jedes Buch regt ihn an; den Robinson mag er kaum zu Ende lesen, weil ihn dünkt, er selbst könnte noch eine viel spannendere, abenteuerlichere Ro- binsonade schreiben. Weil aber die Schreibgelegenheit fehlt, so erzählt er seine Romane. Und ist dabei doch kein Phantast; was er vorträgt, hat Hand und Fuß. Er steht mitten im Leben.

Es gibt Leute, die nie nein sagen können. Lincoln hat schon in seiner Jugend nicht nein sagen w o 1 1 e n. So wird er eine Zeitlang Briefträger. Er holt die Sendungen auf der Poststation; wenn er Glück hat, erfährt er dort aus erster Quelle, was in den Städten des Ostens geht. Dann steckt er die Briefe unter seinen Hut und beginnt die mehrtägige Wanderung. Man kennt ihn von weitem: Im Sommer trägt er einen uralten Strohhut ohne Band, der zugleich farblos ist und in allen Farben schimmert; im Winter zieht er sich eine Mütze aus Waschbärenfell über die Ohren. Noch genauer aber erkennt man ihn an seinem schlacksigen Gang. Mit seinen überlangen Beinen bleibt er übrigens bei jedem Wettrennen Sieger.

Doch man arbeitet schließlich um des Lohnes willen. Verhältnismäßig gut bezahlt wird die Mühsal des Fluß- schiffers. So läßt sich der Neunzehnjährige zu einer Reise nach New Orleans anstellen. Sein Gehalt beträgt zehn Dollar im Monat; die Arbeit ist zuweilen abwechslungs- reich, oft streng, aber fast immer eintönig. Es fahren noch keine Dampfboote auf den Strömen Amerikas; man rudert. Die Südländer schütteln jeweils lachend ihre

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Köpfe, wenn die Holztransporte aus den Nordstaaten an- kommen. Wie kann sich ein weißer Mensch nur so herab- lassen, selbst zu rudern und zu flößen. Wo man doch die gleiche Arbeit von Schwarzen so billig und gut geleistet bekommt! Die Reise erstreckt sich über 1500 Kilometer und nimmt mehrere Monate in Anspruch.

An dem Punkte, an welchem der Ohio in den Missis- sippi mündet, in den «Vater der Ströme», wie ihn die Indianer nennen, liegt die Stadt Kairo. Beide Benennun- gen sind übertrieben, sowohl «Stadt» als auch «Kairo». Man findet hier wir versetzen uns ins Jahr 1829! eine Ansammlung von Blockhütten, in welchen Kaufleute auf die Boote warten, die auf beiden Strömen herabgelangen. Keine einzige Straße ist gepflastert; von keinem Men- schen, der einen unterwegs anspricht und einem vertrau- lich auf die Schulter klopft, weiß man, ob er nicht im nächsten Augenblick ein Messer oder die Pistole zückt. Wer fremd ist, möge sich hüten, allein in Kairo zu näch- tigen, und tue sich mit guten Freunden zusammen. In den Gasthäusern fließt der Whisky in Strömen; die Wirtin redet jedermann mit Tante, ihre Töchter, die in auffallend bunten schmierigen Seidenroben herumlungern, mit Cou- sinchen an. Das Schlimmste in Kairo sind die Neger: hier haben die entlaufenen Sklaven sozusagen ihr Hauptquar- tier. In Banden lagern sie in den Wäldern und machen die Wege unsicher. Wer ihren Räubereien entgehen will, be- zahlt am besten vor der Durchfahrt durch die Stadt irgendeiner unregelmäßig eingesetzten Amtsstelle eine gewisse Summe, um dann ungeschoren zu bleiben.

Lincoln lehnt diesen Tribut ans Unrecht hohnlachend ab, und prompt wird das Boot zwei Meilen unterhalb der schmutzigen Stadt überfallen. Die Neger, baumstarke

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Kerle, rudern in kleinen Booten herbei; einige ballen die Fäuste, andere fletschen mit ihren weißen Zähnen unheil- drohend und rollen die Augäpfel, und einer trägt sogar ein breites Messer im Mund. Der Besitzer des Bootes, sonst kein ängstlicher Mann, will augenblicklich klein beigeben und zieht seine Börse, um mit dem Leben davon- zukommen. Lincoln dagegen richtet sich auf wie ein Mast und schmeißt den ersten, der aus seinem Kanu an Bord klettern will, ins Wasser. Gleich geht es dem zweiten und dem dritten; die andern machen kehrt und stehen vom Ueberfall ab. Zwei der unterlegenen Neger haben ihre gekenterten kleinen Boote wieder erreichen können; einer aber kämpft mit den Wellen. Der Besitzer schaut dem Todeskampf befriedigt zu und meint zu Lincoln: «Schade, daß nicht mehr ersaufen. Hoffentlich frißt die- sen ein Krokodil.» Da ergreift Abraham der Besitzer traut seinen Augen nicht ein Seil und wirft es dem Schwimmenden zu. Der besinnt sich einen Augenblick, wahrscheinlich überlegt er, ob der Tod oder neue Skla- verei das schlimmere Uebel sei. Doch der Lebensdrang scheint zu siegen. Auf jeden Fall ergreift er das Tau und klettert dann aufs Boot. Zitternd und schlotternd erwartet er die kommenden Dinge. Er heißt Daniel und ist seinem Herrn drausgelaufen, um das armselige Leben eines Baumwollsklaven mit demjenigen eines freien Räubers zu vertauschen. «Wenn ihr mich zum Master zurückbringt, wird mir Master die Haut zu Streifen schneiden», jammert er. «Wir aber kriegen Geld», ergänzt der Bootsbesitzer schadenfroh; er ist nun mit der Rettung plötzlich einver- standen.

Lincoln kümmert sich um Daniel und verspricht ihm, ihn nicht auszuliefern. Dafür besitzt er nun einen treuen

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Diener, der seinem Herrn auf Lebenszeit ergeben sein würde wie ein Wachhund. Schon nach wenigen Tagen haben sich Lincoln und Daniel so aneinander gewöhnt, daß sie sich die Trennung nicht mehr vorstellen können. Und doch müssen sie schon jetzt an diese Trennung den- ken; es ist ausgeschlossen, daß Abe mit einem Sklaven zu den Pionieren zurückkehren kann.

Die letzten hundert Kilometer der Reise sind die be- schwerlichsten. Der Mississippi scheint hier nicht mehr zu fließen; er verbreitert sich ständig, er bereitet sich auf die Vereinigung mit dem Meer vor. Auch ist der Weg nicht leicht zu finden; es wimmelt von Seitenarmen, In- seln, Seen und Sümpfen, und wehe dem Boot, das einmal in die seichten Gewässer nebenausgeraten ist! Ueber dem gelblichen Wasser brütet heiße Luft; man wird von den Stechmücken fast aufgefressen. Auf den unbewohnten Inseln stolzieren hochbeinige Vögel mit langen Schnä- beln, und man ahnt, daß in den Büschen unheimliche wilde Tiere zu Hause sind.

In New Orleans führt der gerettete Daniel seinen Herrn auf den Sklavenmarkt. Lincoln hat schon von sei- nem mürrischen Vater Thomas gehört, daß hier um Men- schen unmenschlich gehandelt werde. Was er aber nun in aller Oeffentlichkeit mit eigenen Augen sieht, treibt ihm die Zorn- und Schamröte ins Gesicht und raubt ihm viele Nächte den Schlaf. Dieser Anblick gibt seinen Zie- len eine entscheidende Richtung: Von nun an wird er nicht nur gegen die Sklaverei sein, weil dies in den Nord- staaten zum guten Ton und zum patriotischen Gesin- nungsarsenal gehört, sondern es brennt auch die Schande des Menschenschachers auf seinem Gewissen. Er weiß: so lange in Amerika mit Schwarzen gehandelt wird wie

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mit irgendeiner andern Kolonialware, so lange ist Ame- rika kein freies, kein christliches Land.

Er geht an den Reihen der unglückseligen Geschöpfe vorbei, die da auf freiem Platz zum Verkauf angeboten werden. Die meisten gleichen einem Häufchen Elend und lassen sich willig auf Zähne und Muskeln prüfen. Frauen klammern sich an ihre Kinder und schreien umsonst, sie wollten die härteste und schmutzigste Arbeit verrichten, wenn man ihnen nur ihre Kleinen lasse. Einige ebenholz- schwarze Riesen, wahrscheinlich des Fluchtversuchs ver- dächtig, sind angekettet wie Vieh. Eine Gruppe von halb- wüchsigen Burschen singt schwerfällig-leichtfertige Lie- der, und die Mädchen versuchen, mit aufmunternden Blicken diejenigen Käufer auf sich aufmerksam zu ma- chen, die ihnen am besten gefallen. Diese lassen sich Zeit für ihre Abschlüsse. Sie bleiben da und dort bei einer Gruppe stehen; die bisherigen Besitzer oder deren Makler preisen ihre lebende Ware in höchsten Tönen, während die Einkäufer abschätzige Bemerkungen brummen. Sie tragen breitrandige weiße Strohhüte und rauchen dicke Zigarren. Wenn irgendwo ein Geschäft zustande gekom- men ist, verschwinden die Pflanzer gemeinsam mit den Verkäufern für geraume Zeit hinter einer Wand aus Bast, um den Handel zu feiern. Die Sklaven warten geduldig unter der sengenden Sonne, bis der neue Herr sie holt. Sie vertreiben sich die Zeit damit, ihren künftigen Besitzer und damit ihr Geschick nach seinem Aussehen zu beurtei- len; manche würfeln auch oder raten einen Gegenstand, den sich der Mitspieler in den Sinn genommen hat. An diesem Abend nimmt sich Lincoln vor, ein flammendes Buch über die Hölle von New Orleans zu schreiben.

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Erste Lorbeeren

Den Vater Thomas ergreift wieder einmal das Wander- fieber. Es kommt über ihn wie eine geistige Krankheit. Einige Jahre hatten ihm Blockhaus und Nachbarn in In- diana nicht übel behagt. Nun aber wird er plötzlich ver- drossen; nichts ist ihm mehr recht hier. Das Wetter zu trocken, der Boden zu unfruchtbar, die Menschen zu hin- terlistig. Aber noch weiter im Westen, im Staate Illinois, pflügen die Ansiedler goldene Scholle. Von märchenhaf- ten Reichtümern erzählen die Durchreisenden, die ab und zu aus jener Gegend kommen. So ist Thomas Lincoln nicht länger mehr zu halten; er lädt seinen gesamten Hausrat wieder auf den Ochsenwagen und überläßt seine Hütte einem Neuankömmling aus dem Osten.

Die Familie hat sich, verglichen zu früheren Reisen, we- sentlich vergrößert. Abes Schwester Nancy ist noch nicht verheiratet, dagegen nehmen die beiden Töchter, welche Mutter Sally seinerzeit mit in die zweite Ehe gebracht hat, ihre Männer mit. Drei kleine Kinder sind auch vorhan- den; sie fahren samt ihren Müttern auf dem Wagen, machen sich's bequem in den rotgepolsterten Sesseln mit- ten in einem Berg von Kleinigkeiten und Vorräten. Die übrigen erwachsenen Leute wandern zu Fuß. Heute führt durch jene Gegend eine schnurgerade Autostraße, so breit, daß vier Wagen in sausender Fahrt aneinander vor- beikommen. Damit die Lenker unterwegs nicht einschla- fen, stoßen sie alle paar Meilen auf sinnige Rätsel, in rie- sigen Lettern am Straßenbord aufgestellt oder sogar auf

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den Belag gemalt. Nach wenigen Minuten begegnet ihnen die Lösung, in gleicher Weise wie die Aufgabe erkennbar. Meist kommt die Sache auf eine Reklame heraus; das schnellste Automobil, die würzigste Salatsauce oder der raffinierteste Kühlschrank werden auf diese Weise dem Publikum bekanntgegeben.

Von solchen Errungenschaften einer übertriebenen Zi- vilisation ahnt die Auswandererfamilie allerdings noch nichts. Unverdrossen, wenn auch sehr langsam, gelangt sie dem gelobten Ziele näher. Die neuen Ansiedlungen in Illinois tragen verheißungsvolle Namen: Eine dieser «Städte» heißt Genua, eine andere Paris, eine dritte Au- rora und eine vierte Buckingham. Manche dieser Siedlun- gen haben einen phantastischen Aufstieg vor sich; so wird sich Chicago zur beherrschenden Millionenstadt entwik- keln. Andere Orte dagegen, die an sich genau die gleichen Aussichten gehabt hätten, sind spurlos vom Prärieboden verschwunden, und man kennt nach hundert Jahren! nicht einmal mehr ihre Namen, mögen sie Jerusalem, Sanssouci oder Langenthai geheißen haben. Die Namen solcher Ortschaften wurden ja ganz willkürlich gewählt; meistens nannte der erste Ansiedler den Platz entweder nach seiner alten Heimat oder nach einer ihm besonders vertrauten biblischen Geschichte.

Thomas Lincoln beschließt, sich in New Salem nieder- zulassen. New Salem liegt, ganz anders als sein alttesta- mentliches Vorbild, nicht auf steilem Fels, sondern auf tellerflachem Grasland. In der Ferne erblickt man die Umrisse eines einzigen Hügels; er heißt passend Mount Carmel. New Salem besteht aus ein paar armseligen Blockhäusern; den Mittelpunkt bildet eine Mühle, ver- bunden mit Schnapsladen und Spezereihandlung. Dieses

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Geschäft gedenkt Abraham zu betreiben. Er ist, was den Dienst am Kunden betrifft, äußerst tüchtig: für jeden, der den Laden betritt, weiß er ein anregendes Wort. Auch zeichnet er sich so sehr durch seine Ehrlichkeit aus, daß man ihn weit und breit unter dem Namen «the honest Abe» kennt. Wahrscheinlich hat er sich diesen Ehrentitel damals zugezogen, als er der alten Frau, die ihm 35 Cents zu viel auf dem Ladentisch zurückließ, noch am gleichen Abend das Geld zurückbrachte, obwohl sie viele Meilen entfernt wohnte. Dagegen ist er alles andere als eine Krämerseele; demzufolge läßt er sich von gerissenen Händlern betrügen und minderwertige Ware aufschwat- zen, und in verhältnismäßig kurzer Zeit gerät sein Unter- nehmen in Konkurs.

Dies drückt ihn nicht besonders hart; er verdingt sich wieder als Taglöhner oder als Flößer, und eine Zeitlang übernimmt er sogar das Amt eines Postmeisters von New Salem; wieder trägt er die Briefe in seinem Hut aus, und wieder liest er, zugleich neugierig und geduldig, allen, die mit dem Geschriebenen Mühe haben, ihre Briefe vor und kommentiert sie nach Gutdünken.

Die Ansiedler haben nicht nur mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen; da sind außerdem immer noch die Indianer, die ihnen das Leben sauer machen. Diese fühlen sich von den Weißen überlistet und um ihr Land betrogen. Stück für Stück müssen sie vor den Pionie- ren zurückweichen; sie haben ihre Dörfer an den Fluß- läufen in den Wäldern und lassen sich nur selten blicken. Einige von ihnen sprechen ein wenig Englisch; mit ihnen versucht man notdürftig Handel zu treiben. Keiner von ihnen geht einem richtigen Gewerbe nach; sie jagen in ihren Gründen und stellen den Pelztieren Fallen. Die Felle

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vertauschen sie gegen die Erzeugnisse Europas und des amerikanischen Ostens und fühlen sich, obgleich sie selbst leidenschaftlich hinter Schießpulver und Whisky und ihre Weiber hinter den grellbunten Kattunstoffen her sind, nach jedem Tausch von den Bleichgesichtern betrogen, mit Grund! So holen sie sich den Lohn, den man ihnen vorenthält, selbst. In Banden schleichen sie nachts in die Siedlungen, rauben, plündern und morden auch, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Die Pioniere rächen sich, indem sie unbarmherzig jeden Indianer, der ihnen auf unlauterem Pfade begegnet, nach kurzem Stand- gericht öffentlich hängen. So herrscht bittere Feindschaft zwischen Weißen und Roten; Unrecht, Gewalt, Hinter- list und Vertragsbruch finden sich auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt. Aber die Ansiedler bleiben auf die Dauer die Stärkern.

1831 verdichten sich die Streitigkeiten mit den Indianer- stämmen im Nordwesten des Staates zum «Krieg des Schwarzen Falken». Der Gouverneur von Illinois sucht Freiwillige für seine Armee; eine Welle von Begeisterung für Recht, Freiheit, Kultur und Fortschritt geht durchs Land, und in den Forts sammeln sich die jungen Männer, welche gewillt sind, ihr Leben einzusetzen, damit der Indianerplage ein Ende bereitet werden könne. Abraham Lincoln, gleichzeitig wieder einmal ohne rechte Arbeit und unternehmungslustig wie immer, meldet sich und wird es geht in dieser Armee äußerst demokratisch zu! sofort von seiner Kompagnie zum Hauptmann ge- wählt. Zwar hat er zu seinem Leidwesen nicht ein einziges Mal Gelegenheit, seine Leute gegen die Banden des «Schwarzen Falken» ins Feuer zu führen, und Kriegs- ruhm bleibt ihm versagt. Dennoch hat er zeitlebens ver-

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sichert, jene Hauptmannswürde habe ihn mit größerem Stolz erfüllt als alle späteren Ehrungen. Er gilt als un- besiegbar stark im Ringkampf, als guter Redner, als kluger Anführer, als Friedensstifter und Tausendkünstler. Er hat nun, wahrscheinlich ohne es selbst zu ahnen, schon einen wichtigen Punkt seiner staatsmännischen Laufbahn erreicht: Sein Name wird von allen, die je mit ihm zu tun hatten, mit Achtung genannt. Man traut ihm zu, daß er hält, was er verspricht.

Und er verspricht seinen Freunden, er wolle ein zuver- lässiger, ehrlicher Vertreter des Guten werden, wenn sie ihn in den Landtag abordnen. Wer in der amerikanischen Politik eine Rolle spielen will, der darf sich nicht schämen, selbst vor seine Wähler hinzutreten und ihnen seine Ge- danken auseinanderzusetzen. Die Gedanken Lincolns ge- fallen seinen Mitbürgern: er wird gegen die Sklaverei und für ein freies, aufsteigendes, fortschrittliches Illinois kämpfen. Im Ausmalen von Zukunftsplänen ist er nicht gerade zurückhaltend: Er redet von den Kanälen, die gebaut werden, von den Eisenbahnschienen, die durchs ganze Land gelegt werden müssen. Wenn die Erzeugnisse des fruchtbaren Landes rasch und gefahrlos an die Küste gesandt werden können, dann haben wir ungeahnte Mög- lichkeiten vor uns! Seine klaren Darlegungen leuchten ihnen ein: mit 277 gegen drei Stimmen wählen ihn die Bürger von New Salem zu ihrem Abgeordneten. Beim ersten Anlauf gerät seine Wahl zwar noch nicht vollends; denn er müßte auch die meisten Stimmen im ganzen Di- strikt haben, und da kennt man ihn noch zuwenig. Aber drei Jahre später, 1834, zieht er in den Ratsaal der Haupt- stadt ein, die den schönen Namen Vandalia trägt.

In diesem Ratsaal herrscht ein fröhliches Leben. Die

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Ratsherren sind nicht, wie in den abendländischen Parla- menten, durch eine Verordnung «gehalten, zu den Sitzun- gen in dunklem Anzug zu erscheinen». Die meisten reiten in die Hauptstadt, mit der verwaschenen Lederhose be- kleidet, den Schlapphut auf dem Kopf und den unver- meidlichen Regenschirm am Sattelknauf. In ihren An- sprachen suchen die Abgeordneten nicht lange nach gewählten Ausdrücken. Sie reden frisch von der Leber weg, und wer seine Sache klar und kurz vorbringt und ihre Wichtigkeit mit dem saftigsten Witz unterstreicht, der hat gewonnen. Keiner von diesen Ansiedlern ist mit Schulweisheit oder mit altem Kulturgut überlastet. Jeder spuckt aus, wann und wo es ihm paßt; man ißt lieber mit dem Messer und den Händen als mit dem unpraktischen Besteck, und wenn ein Satz besonders ernst gemeint ist, muß unbedingt ein «verdammt» oder «Teufel» ein- geflochten werden. Die Ratsherren passen also nicht schlecht nach Vandalia.

In den ersten Jahren seiner politischen Tätigkeit zeich- net sich Lincoln durch nichts Besonderes aus. Er hört genau zu, was die andern sprechen, und ergreift selten das Wort. Wenigstens nicht in den öffentlichen Verhand- lungen. Dafür mischt er sich gerne in die Gespräche in den «Wandelgängen» des Parlaments, falls man diesen feierlichen Ausdruck hier anwenden darf. Er ist ein Freund von Kompromissen und Kuhhändeln, nie aus Charakterlosigkeit, sondern stets um des Ausgleichs und des lieben Friedens willen. Er hat von Kind auf erlebt, wie wichtig es ist, wenn ein Nachbar dem andern hilft, die Pfähle beim Bau des Blockhauses einzurammen. Ein Dienst ist den andern wert, und dem Menschen ist die Gabe der Rede geschenkt, um sein Herz und seine Ab-

3 Sticfc»ib«rg»r, Abraham Lincoln

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sichten dem Mitmenschen deutlich zu machen. Im Zusam- menspiel der Kräfte besteht das Wesen der Demokratie.

Aus dem mageren Gehalt eines Abgeordneten kann aber nicht einmal ein Lincoln leben. So sucht er wieder einen Nebenverdienst, diesmal als Geometer. Das Land in diesen jungen Staaten ist noch nicht vermessen; aber bald wird jede Quadratmeile wichtig sein. Schon reisen die Spekulanten aus dem Osten herbei, Leute mit dicken Brieftaschen und mit noch dickerem Selbstbewußtsein. Sie sind der Meinung, die Pioniere hätten ihre Sache nun getan, jetzt seien sie selbst an der Reihe, das eroberte Land zu erben. Auch die Kultivierung Nordamerikas geht ihren geregelten Gang: Zuerst haben die Indianer vor den An- siedlern zurückzuweichen, dann die Ansiedler vor den Spekulanten, von denen die meisten auch wieder beiseite gedrückt werden, verkrachen, in Konkurs geraten und das Feld einigen wenigen überlassen müssen.

Wer aber gehört zu diesen wenigen? Gibt es irgend- einen Adel, einen Vorrang der Familie oder des Blutes in diesen neuerstehenden Staaten? Keine Spur! Wer zäh ist und den Mut nicht sinken läßt, behält die Oberhand. Auch die Bildung spielt eine untergeordnete Rolle. Auf Hochschuldiplome pfeifen die Ansiedler und die Speku- lanten. Rechtsanwalt zum Beispiel kann jeder mit gesun- dem Menschenverstand und mit Mutterwitz begabte Bür- ger werden. Er braucht weder ein Gymnasium besucht noch die Maturität bestanden zu haben. So wird Lincoln Rechtsanwalt. Schon als Junge hat er ja die Gesetzessamm- lung des Staates Indiana zwar nicht wörtlich auswendig, aber doch dem Sinne nach gelernt. Und dies ist in Amerika wichtiger: Man wünscht dort nicht nach Paragraphen, sondern nach gerechtem Empfinden von den Gerichten

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beurteilt zu werden. In den Verhandlungen pflegt sich Lincoln wenig in die Debatten zu mischen. In etwas vorn- übergebeugter Haltung hört er sich Rede und Gegenrede an, freut sich, wenn sich die Gegner in Spitzfindigkeiten und kleinlichen Plänkeleien festhauen, damit er dann plötzlich lachend mit der Faust auf den Tisch schlagen und ausrufen kann: «Wozu denn diese Aufregung? Die Sache ist ja klar wie Erbsensuppe!» Und in der Tat gelingt es ihm fast immer, mit einem träfen Schlag den gordischen Knoten zu durchschneiden.

Zu besonderem Ansehen verhilft ihm der Fall Arm- strong. Dieser, ein junger Mensch von weder gutem noch bösem Leumund, ist des vorsätzlichen Mordes angeklagt. Seine Mutter bittet in ihrer Verzweiflung den Advokaten Lincoln, ihren Aeltesten vor dem schmählichen Tod zu retten. Ein einziger Augenzeuge ist vorhanden, ein Mensch von niederträchtigem Aussehen, der jedoch be- hauptet, Armstrong in jener Nacht beobachtet zu haben, wie er seinem Opfer das Messer in die Brust stieß. Ein Irrtum sei ausgeschlossen, versichert der Belastungszeuge unter rhetorischem Aufwand; denn die Tat sei im hellen Mondlicht begangen worden; man habe jede Einzelheit deutlich wahrnehmen können. Lincoln hat während dieser Rede gemächlich seinen Taschenkalender zu Rate ge- zogen. «Wissen Sie», fragt er den Zeugen freundlich und sachlich, «um wieviel Uhr ungefähr der Mord begangen wurde?» «Klar», ruft der andere selbstbewußt, «so etwas merkt man sich doch: Es war halb elf Uhr.» Nun steht der Anwalt auf und zeigt mit ausgestrecktem Arm und überlangem Finger auf den Zeugen. «Sie sind ein verfluchter Lügner», schreit er ihn an, «in jener Nacht ging der Mond erst nach zwölf Uhr auf!»

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Lincoln verdankt seine Beliebtheit allerdings nicht nur seiner Geschicklichkeit, sondern auch seiner Unbestech- lichkeit. Zweifelhafte Fälle lehnt er glatt ab, auch wenn ein fettes Honorar winkt. Hier unterscheidet er sich von den meisten seiner Konkurrenten, denen das Verdrehen der Tatsachen und das Schwarz-in-Weiß-Verwandeln Spaß macht. Sein Zuname bleibt weiterhin «the honest)/.

Doch darf man sich ja nicht vorstellen, Lincoln sei nun, einmal auf der ersten Stufe der Treppe nach oben an- gelangt, in schöner Regelmäßigkeit höher und höher ge- stiegen. Es folgten schon in den ersten Jahren seines Er- folges Rückschläge, die, hätten sie einen jungen Politiker Europas getroffen, ihn für sein weiteres Leben in der Oeffentlichkeit gelähmt hätten. Aber in den Staaten ist man in jener bewegten, rauhen Zeit weniger heikel und weniger nachträgerisch. Man nimmt es ihm weiter nicht übel, daß er den Bodenspekulanten im Zeichen des tech- nischen Fortschritts zu eifrig in die Hände gearbeitet hat.

Den Unternehmern von Illinois war der Bau des Erie- Kanals in den Kopf gestiegen. Ein Wunderwerk, das mit seinen 540 Kilometern Länge und mit seinen 34 Schleusen nicht nur wieder einmal Amerika als das Land der un- begrenzten Möglichkeiten bestätigte, sondern das auch der immer mächtiger werdenden Stadt New York un- geahnte Vorteile brachte; die Waren konnten nun auf dem billigen Wasserweg direkt aus den westlichen Staaten in den Atlantik geführt werden. Also: Kanäle auch in Illinois! Außerdem Eisenbahnen! Jenen Männern, welche in beständigen Händeln mit den Indianern lebten, welche noch Bären und Wölfe in den Wäldern jagten und von denen die meisten noch nie ein ganzes Buch gelesen hat- ten, bedeutete die Eisenbahn Glück und Zukunft. So

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nahm das Staatsparlament von Illinois 1836 zehn Jahre bevor in der Schweiz die ersten Schienen gelegt wur- den! — eine Anleihe von zwölf Millionen Dollar auf, um ein Bahnnetz von etwa 1800 Kilometern anzulegen. Dabei ging man ganz anders vor als im rückständigen Europa: Während sich dort die größten Städte noch über- legten, ob sie zwischen sich überhaupt einen Schienen- strang dulden wollten und hin und her debattierten, ob die Linie nicht durch einen Bretterhag unsichtbar zu machen sei Zuschauer könnten sonst vor Schreck über den Anblick des fauchenden Ungetüms an ihrer Gesund- heit Schaden nehmen! , legte man im Mittleren Westen Schienen über das Grasland, die Ortschaften miteinander verbanden, welche vorläufig erst auf dem Papier bestan- den. Noch nie vorher hatte Lincoln eine Sache so warm- herzig und eifrig im Parlament vertreten wie den sofor- tigen Eisenbahnbau, den tüchtige Unternehmer mit Hilfe der Allgemeinheit beginnen wollten. Amerika erwachte zu eigenem Leben; als Zeichen der Selbständigkeit über- nahm es nicht einmal die englische Spurbreite, sondern stellte seine Wagen auf dreizehn Millimeter breitere Gestelle.

Doch schon nach einem Jahr zeigt es sich, daß die Pläne zu übereilt waren. Der Aufschwung wird und muß einmal kommen, doch nicht mit der erwarteten Plötzlichkeit. Die Eisenbahnaktien sinken, sinken. Es gibt wieder einmal Konkurse und Börsenkrache, und fast jedermann beginnt unter der Krise zu leiden. Aber niemand nimmt dem be- gabtesten Vorkämpfer der neuen Verkehrsmittel seinen Eifer krumm: Lincoln genießt weiter das Zutrauen seiner Klienten und seiner Wähler: Sie schicken ihn bei jeder Neuwahl wieder als ihren Mann ins Parlament.

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Eine andere Sache ist ihm gelungen: die Hauptstadt von Vandalia nach Springfield zu verlegen. Möglicher- weise ein Kennzeichen dafür, daß der Staat Illinois keinen Wert mehr darauf legt, zu den barbarischen Ländern zu gehören; doch hat der anrüchige Name der älteren Haupt- stadt nicht Anlaß zu ihrer Degradierung als Kapitale ge- geben, sondern die Beobachtung, daß Handel und Ver- kehr sich stets deutlicher nach Norden verlagern. Chicago, die Drehscheibe des binnenländischen Handels, darf nicht zu weit von den Verwaltungen entfernt liegen.

Wenn aber das Parlament von Vandalia nach Spring- field übersiedelt, dann ist es an der Zeit, daß Lincoln seine Anwaltstätigkeit ebenfalls in die Hauptstadt verlegt. Bis jetzt war er immer noch in New Salem zu treffen. In Zu- kunft ist dies aber nicht mehr möglich; denn 1837, im Zusammenhang mit der großen Krise, die das Land heim- sucht, geht New Salem buchstäblich ein. Die Farmer suchen sich neue Wohnsitze an einem Kanal oder an einer der geplanten Eisenbahnstrecken, andere wandern weiter nach dem unerforschten Westen, die kühnsten versuchen, bis zum sagenhaften Goldland Kalifornien vorzudringen. So haben auch Schnapsschenken, Spezereiläden und Müh- len ihren Sinn verloren, und für einen Rechtsanwalt hat der tote Winkel erst recht keine Bedeutung mehr. Die vollbepackten Ochsenwagen verlassen die Siedlung nach allen Richtungen; bald liegen die Blockhäuser einsam in der Ebene. Ungestört wird sich die Klapperschlange in den grasbewachsenen Ecken verkriechen können, und das heisere Bellen des Präriehundes wird als einziger Laut zu hören sein. Der Name New Salem wird von der Land- karte gestrichen.

Das Gesicht Amerikas damals

Damals sprach man in Amerika viel von ungehobenen Goldschätzen. Im Jahre 1843 erregte ein Tagebuch Auf- sehen, das im unwirtlichen «Tal des Todes», einem Teil der kalifornischen Sandwüsten, gefunden worden sei. Neben dem Buch lagen ein menschliches Gerippe und ein massiv goldener Kessel. Die unordentlichen Eintra- gungen auf den vergilbten Blättern besagten, daß drei Soldaten, die sich in der Einöde verirrt hatten, schließlich von einem Indianerstamm freundlich aufgenommen und vor dem Verdursten gerettet worden seien. Als sich die Weißen einigermaßen erholt hatten, entdeckten sie, daß die Rothäute statt kupfernen oder eisernen Geschirrs gol- dene Gefäße verwendeten. Sie untersuchten das Gestein und wähnten sich in einer Märchenhöhle: Es glitzerte von goldenem Schimmer und brauchte nur abgetragen und eingeschmolzen zu werden. Kurzerhand erschossen die Soldaten den gastfreundlichen Indianerstamm und nah- men einen goldenen Kessel mit sich auf den Heimweg. Sie gelobten sich, keiner Menschenseele etwas von dem Schatze in der Wüste mitzuteilen, und traten wohlgemut ihre Wanderung an. Aber auf rätselhafte Weise brach unter einem Schmerzensschrei einer der Kameraden plötz- lich zusammen. Am nächsten Tag ereilte das nämliche Unglück den zweiten, und die letzte Eintragung im Tage- buch lautete: «Nun bin ich allein.» Der Kessel bewies, daß der Chronist nicht gefabelt hatte.

Damals erwarb sich der Baselbieter Johann August

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Suter für einen Pappenstiel riesige fruchtbare Landstrei- fen im unbesiedelten Lande Kalifornien. Er verwandelte sie in blühende Obstgärten und ward zum reichsten Mann des Westens. Und als eine kritische Zeit über seine Lände- reien hereinbrach, entdeckte auch er unversehens Gold; reine Goldkörner, welche von den Bergwassern zu Tal geschwemmt wurden. Von neuem wuchs sein Vermögen ins Sagenhafte und zerrann in nichts, da gierige Gold- sucher in Gruppen, dann in Haufen, zuletzt in wilden Scharen hergepilgert kamen, verwegene Gesellen, die Familie, Hab und Gut hinter sich gelassen hatten, um nach den neuen Schätzen zu graben. Die sich nicht um die Einsprüche des rechtmäßigen Besitzers kümmerten, auch nicht um die Gerichtsurteile, welche alles Gold, das auf seinen Gebieten gefunden wurde, Johann August Suter zusprachen. Viele Jahre lang war der alte «General Suter» wie ein irrendes Gespenst vor den Parlaments- gebäuden und Gerichtshöfen zu sehen. Es ging ihm nicht mehr um sein Land, auch nicht um sein Gold, nur noch um sein Recht. Städte entstanden inzwischen auf seinem enteigneten Grund und Boden, Eisenbahnen wurden gebaut, aus dem wilden Landstrich am Stillen Ozean wuchs der Kulturstaat Kalifornien. Niemand achtete mehr auf den alten Mann, der mit wirren Reden sein Gut zu- rückforderte; höchstens die Kinder rannten lachend hin- ter ihm her.

Damals beschäftigte sich die Oeffentlichkeit sehr mit der seltsamen Sekte der Mormonen. Sie selbst nannten sich am liebsten die «Heiligen der letzten Tage». Ihr Gründer, Joseph Smith, behauptete, ihm seien von einem Engel zwei wunderbare Kristalle gezeigt worden, mit deren Hilfe er das «Buch Mormon» gefunden und über-

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setzt habe. Wegen ihrer Lehre und ihres Lebens wurden die Mormonen in den östlichen Staaten nicht mehr gedul- det; ihrem Präsidenten Smith wurde Bankschwindel, Dieb- stahl, Meineid, Mord, Hochverrat und Brandstiftung vor- geworfen; schließlich verlor er sein Leben in einem Stra- ßenkampf. Unter seinem Nachfolger, dem Schreiner und Glaser Brigham Young, zogen etwa 15 000 «Heilige» in ihren Ochsenwagen westwärts, bis sie in das Tal des großen Salzsees gelangten. Sie priesen ihre Entbehrungen, die sie unterwegs zu erleiden hatten, als Prüfungen Gottes und verglichen ihre Reise mit dem Wüstenzug des Volkes Israel. Mit Bienenfleiß verwandelten sie das Tal des Salz- sees zum paradiesischen Garten. Im Mittelpunkt ihrer neuen Stadt erhob sich ihr Tempel, welcher mit seinen Zinnen und Türmen einer mittelalterlichen Burg nach- gebildet war. Das «Tabernakel», der Versammlungsraum dieser ausschließlichen Gemeinde, glich einer riesigen hölzernen Schildkröte. Am meisten verwunderte man sich allerdings über die gesetzliche Vielweiberei, welche die Mormonen von den alttestamentlichen Patriarchen her- leiteten. Young selbst brachte es zuletzt auf achtzehn Frauen und sechsundfünfzig Kinder. Daneben aber führ- ten die Mitglieder der Sekte ein fleißiges, stilles, arbeit- sames Leben. Grundbesitz konnte nicht gekauft werden; man ließ ihn sich familienweise zur Nutznießung zu- weisen. Wer sein Land schlecht bestellte, wurde verwarnt, schließlich aus der «Heiligen Stadt» ausgewiesen.

Damals befand sich die Dampfmaschine auf ihrem Siegeszug durch die Welt. In England wurden neue Ver- suche gewissenhaft erprobt, in Amerika wandte man die europäischen Erfindungen augenblicklich nützlich an. Auf den Strömen wimmelte es von flachen Dampfbooten,

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die den Marktverkehr schneller, zuverlässiger und billiger besorgten. Die nordamerikanischen Städte machten sich die großen Spinnmaschinen zunutze; der Reichtum aus der Baumwolle floß nun nicht mehr allein in die Hände der Pflanzer im Süden. Ein Erfinder namens Howe schuf die Nähmaschine, ein anderer, McCormick, die Mäh- maschine für den Farmer. Die Drähte des Telegraphen legten sich wie ein Spinngewebe über den Kontinent; Briefmarken kamen in den Verkehr und verbilligten die Geschäftsabschlüsse.

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Nicht alle Ehen werden im Himmel geschlossen!

An einem besonders unfreundlichen Novembertag des Jahres 1842 führt Abraham Lincoln seine Braut, Miß Mary Todd, zur Trauung in die Kirche. Die bestandenen Da- men der Stadt Springfield, die schon manche junge Ehe begutachtet haben und sich etwas darauf zugute halten, daß sich ihre Prophezeiungen fast immer erfüllen, schüt- teln bedenklich ihre Häupter. Der Bräutigam ist ihnen zwar sympathisch und die Braut sogar außerordentlich hübsch zu nennen; aber passen werden die beiden kaum zusammen!

Lincoln setzt zum Kirchgang eine besonders verdros- sene Miene auf. Hin und her schlenkert er seine langen Arme, bis ihn flüsternd ein Freund auf den Gedanken bringt, mit dem rechten Arm die in etwas zu glitzernde Seide gehüllte, blendend weiße Braut zu führen. Er ver- meint, einer unbequemen Zeremonie beizuwohnen; so fühlt man anläßlich der Beerdigung eines entfernten Ver- wandten, den man kaum gekannt hat. Vielleicht wird heute die Bestattung seiner persönlichen Freiheit, seiner Unabhängigkeit gefeiert?

Ein Gassenjunge, wegen seines widerlichen Aussehens und wegen seines großen Maules in ganz Springfield un- ter dem Namen «Catfish» bekannt, drängt sich durch die Zuschauermenge, stemmt die Arme in die Hüften und ruft dem Bräutigam frech ins Gesicht: «He, Abe, wohin gehst du heute?» «Vermutlich zur Hölle!» antwortet der so deutlich, daß seine Worte nicht nur von der Braut,

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sondern auch von einem entsetzten Chronisten gehört werden.

Vielleicht hätte Lincoln Mary Todd nicht heiraten sol- len. Sie war weder seine erste noch seine große Liebe. Als junger Advokat hatte er ein Mädchen kennengelernt, Ann Rutledge mit Namen. Sie fiel der Umwelt weder durch ihre Schönheit noch durch besondere Begabung auf. Sie gehörte zu den Menschen, die ihr Licht stets, wenn sie es vor den Leuten sehen lassen sollten, unter den Scheffel stellen. Sie hatte eine hübsche Stimme, weigerte sich aber standhaft, bei Nachmittagsgesellschaften zu sin- gen. Und das Vorsingen gehörte damals zum Pflichten- kreis einer Tochter, die etwas auf sich hielt. Außerdem zeichnete Ann mit Geschick, was ihr gefiel und was ihr einfiel: Landschaften, Porträts und Illustrationen zu phantastischen Geschichten. Am liebsten vertiefte sie sich in die Welt der Blumen, Schmetterlinge und kleinen Kä- fer, und die Albumblätter, auf denen sie Blüten oder Insekten wiedergab, hätten einem geschulten Künstler Ehre eingelegt. Doch sie verwahrte all ihre Blätter in einem alten Schrank und verschenkte sie niemandem.

Abraham Lincoln war stolz auf die Freundschaft zu die- sem lichtvollen, charakterfesten Wesen. Am Tage, an welchem er sie kennenlernte, nahm er sich vor, sie zu heiraten. Sie war mit diesem Plan einverstanden, nur wünschte sie, daß er zuerst «etwas Rechtes» werde. Zwar hätte sie sich nicht gescheut, mit ihm Armut und Strapa- zen zu teilen, doch wußte sie in ihrer Klugheit, daß zigeu- nerhafte Zweisamkeit einer künftigen Entwicklung nicht förderlich sei. Sie war die Frau nach seinem Herzen: Da

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er sich keine Sekretärin leisten konnte, schrieb sie ihm die längsten Gutachten fehlerfrei ins reine; sie bediente seine Kopierpresse und sorgte für Federn, Tinte und Streusand auf seinem Schreibtisch. Sie hielt seine Kleider in Ord- nung und machte ihn ohne daraus eine wichtige Ge- schichte anzufangen auf die dringende Notwendigkeit aufmerksam, endlich einen neuen Kragen zu kaufen. Er verglich sie mit Rebekka und Ruth, mit Rahel und Abisag von Sunem und mit sämtlichen lieblichen Frauengestalten aus der Bibel, die ihm aus seiner Bubenzeit noch eindrück- lich waren.

Aber Ann starb plötzlich. Da fühlte er sich so allein, daß er oft in wilder Verzweiflung einen Zwang verspürte, sich das Leben zu nehmen und zu ihr zu gehen. Seine Freunde fürchteten um seinen Verstand. Er konnte meh- rere Tage lang nacheinander in der Prärie umherirren, ohne Ziel. Nach solchen Reisen kam er jeweils todmüde nach Hause, ließ sich von irgend jemandem zusprechen und aß, was man ihm brachte. Man suchte ihm zu helfen. Man nahm ihn mit in Familien, in welchen Töchter im heiratsfähigen Alter auf passende Freier warteten. So traf er eine gewisse Nancy, die ihn in manchem an Ann erin- nerte. Wenn Nancy gegen das Licht am Fenster saß und sich mit einer jener augenmörderischen Stickereien be- faßte, die damals Mode waren, und wenn Abe die Augen zusammenkniff, dann schien sie seiner verstorbenen Braut aufs Haar zu gleichen. Nancy mochte ihn auch ganz gern leiden. Möglicherweise hätte sie ihn sogar geheiratet, wenn er ihr nicht beständig von Ann vorgeschwärmt hätte. «Diese Farbenzusammenstellung hätte Ann abge- lehnt», konnte er enttäuscht feststellen, wenn ihm Nancy ein neues Kleid präsentierte, oder «Anns Schrift war viel

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leserlicher. Gerichtsakten schreibt man nicht wie Liebes- briefe.» Diese stete Nörgelei ging Nancy auf die Nerven, sie gab einige Monate lang auf Lincolns förmliche Wer- bung ausweichende Antworten, um ihm dann bei erster Gelegenheit einen zwar langweiligeren, aber gesitteteren und geistig weniger anspruchsvollen Bewerber aus dem Kaufmannsstand vorzuziehen.

Darauf priesen ihm seine Freunde Mary Todd. Sie stammte aus Kentucky, war die Tochter eines reichen Far- mers und lebte hier in Springfield bei ihrem Schwager. Von Kindesbeinen an war Mary über die Maßen ver- wöhnt worden. Ihre eigenen Eltern kümmerten sich zwar wenig um sie, desto mehr ihre schwarze Amme, Viola. Diese rührende Negerseele hatte ihren Schützling auch nach Norden begleitet und ließ sie nicht aus den Augen. Sie kleidete Mary an und aus wie eine Puppe; sie weckte sie des Morgens mit girrenden Lauten und brachte sie abends ins Bett. Sie kostete jede Speise, die Mary vor- gesetzt wurde, und wehrte sich trotz ihrer angeborenen Sanftheit wie ein Muttertier, wenn sie ihren Pflegling in Gefahr wähnte.

Marys Hautfarbe war um eine Spur dunkler als die- jenige der Töchter des Landes. Sie konnte ein wenig Kla- vier spielen, ein wenig singen, ein wenig sticken und etwa drei Desserts bereiten. Daneben besaß sie eine unverhält- nismäßig reichhaltige Garderobe, von Viola aufs pein- lichste instand gehalten. Außerdem hatte Mary einige Bücher allgemeinen Inhalts gelesen, und sie meisterte die Kunst, mit einem Minimum an Wissen «geistreiche» Un- terhaltung zu pflegen. Sie verfügte auch über eine gewisse Gabe an Phantasie, die sie zu ihren Zwecken trefflich aus- zunützen verstand. So beherrschte Mary bald die «gute

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Gesellschaft von Springfield; sie ließ sich Blumen, Früchte und Konfekt zustellen und kargte nicht mit Gunstbezeugungen gegen ihre Verehrer. Ihre Viola galt hier nicht als Sklavin, sondern als Pförtnerin zum Tempel des Glücks, und sie spielte ihre Rolle mit viel Geschick, heimste dabei auch ordentliche Trinkgelder ein, die sie aber einzig und allein zum Wohle ihrer verwöhnten Her- rin verwandte.

Mary hatte keinen schlechten Charakter; sie war nur launisch und konnte sich glänzender nach außen geben, als ihrem Wesen eigentlich entsprach. Doch besaß sie die Gabe der Menschenbeobachtung, und bald hatte sie her- ausbekommen, daß von den jungen Männern, die sie um- schwärmten, Abraham Lincoln bei weitem der Geschei- teste war. Außer Viola offenbarte sie diesen Gedanken aber niemandem, sondern spottete im trauten Kreise laut und lustig über den ungeschlachten Advokaten mit seinen Wildwestmanieren. Doch zog sie ihn zielbewußt langsam, aber sicher in ihre Sphäre, und schließlich blieb ihm gar nichts mehr anderes übrig, als ihr einen Heiratsantrag zu stellen, den sie sofort annahm. Schon eine Stunde später wußte Lincoln, daß er sich in das unsinnigste Abenteuer seines Lebens eingelassen habe. Denn nach der Art des Herkommens und der Erziehung, aber auch in der Gesin- nung hatte er überhaupt keine gemeinsamen Berührungs- punkte mit seiner Braut. Zum Beispiel fand sie die Skla- verei die selbstverständlichste und angenehmste Sache von der Welt; er aber galt seit langem als deren verbis- senster Gegner im Norden.

Aber eine förmlich vorgetragene Werbung widerru- fen ? Ein Ehrenmann konnte das niemals, ohne seinen Ruf lebenslänglich zu gefährden. Außerdem sorgte Viola mit

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ameisenhafter Geschäftigkeit dafür, daß jeder Rückzug ausgeschlossen blieb. Bereits schwatzte sie die Verlobung auf der Straße und in den Läden herum; sie schleppte Blumen herbei und begann schon über die Beschaffenheit des Brautkleides zu verhandeln.

Die Zeit der Verlobung wurde für Abe zur Qual. Seine Braut erwies sich als launisch, eigensinnig und berech- nend; sie prahlte mit unzähligen Fähigkeiten, die ihr bei näherem Zusehen vollständig fehlten. Auch suchte sie ihren Bräutigam zu plagen, indem sie allzu freimütig mit ihren bisherigen Freunden weiterschäkerte. Abraham hoffte inständig, sie werde sich gelegentlich von einem ihrer Anbeter entführen lassen; doch davor hütete sie sich. Vielmehr machte sie ihm Vorwürfe über seine mangelnde Eifersucht. Um seine Arbeit im einzelnen kümmerte sie sich überhaupt nicht; doch wünschte sie deutlich, er möge sehr reich und sehr berühmt werden. Sie war in jeder Hinsicht das Gegenteil von Ann.

Um diese unschöne Verlobungszeit abzukürzen, setzte Lincoln im Einvernehmen mit Viola und den Verwandten seiner Braut den Hochzeitstag auf Neujahr 1841 fest. Er verlebte seine Silvesternacht in grimmiger Einsamkeit, nahm Abschied vom freien Leben, dachte einen Augen- blick daran, Mary oder wenigstens Viola zu erschießen, wollte sich vom Dach auf die Straße stürzen und schlief schließlich so erschöpft ein, daß er absichtlich oder unglücklicherweise die feierliche Trauung verpaßte.

Einige Monate sprach man in ganz Springfield von diesem Skandal. Lincoln konnte in dieser Zeit kaum als zurechnungsfähig bezeichnet werden. Er zeigte sich nicht in der Oeffentlichkeit; seine Freunde empfing er mit geballten Fäusten oder in tiefer Niedergeschlagenheit.

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Jemand, der es gut mit ihm meinte, brachte ihn aufs Land. Hier sah er in Gedanken Mary vor sich, als weinende, ver- lassene Braut, und sein Herz schlug ihm in Gewissens- qualen. Er schrieb ihr lange, schöne Briefe, in denen er sie um Verzeihung bat. Und siehe da: Mary verzieh ihm und versprach, ihn dennoch zu heiraten. Von neuem hub eine peinvolle Verlobungszeit an, und die Antwort, die er am endgültigen Hochzeitstag dem rothaarigen Gassen- jungen Catfish gab, entsprach dem Ergebnis gründlicher Ueberlegungen. Dieser Augenblick bedeutete den Tief- punkt seines Lebens. Schon in der Kirche, während der ermunternden Ansprache des ahnungslosen Pfarrers, nahm er sich vor, das Beste aus der leidigen Sache zu machen, und tatsächlich brachten es die Ehegatten Lincoln später so weit, ihren Bekannten ein «trautes Heim» vorzu- täuschen.

In die Pläne ihres Mannes hat Frau Lincoln ein ein- ziges Mal eingegriffen: Vor der Präsidentenwahl 1848 sandte ihn seine Partei als Wahlredner in die Neu-Eng- land-Staaten. Dort, in den strengen Städten, deren Bevöl- kerung sich auf ihre Abstammung von den puritanischen Pilgervätern allerhand einbildete, hinterließ seine saubere, ehrliche Art einen guten Eindruck. Sein Ruhm erscholl bereits weit über die Grenzen des Heimatstaates, und als seine Partei zum Siege kam, wurde ihm der Gouverneur- posten im Territorium Oregon angeboten. Seine Freunde rieten ihm zu: König in einem unerforschten Land der unbegrenzten Möglichkeiten! In wenigen Jahren wird Oregon zum Staat sich entwickeln; bereits sind Pläne vor- handen für Fabriken und Eisenbahnen, für eine Univer- sität und für eine landwirtschaftliche Hochschule. An- genehmes, mildes Klima, wie geschaffen für den aus-

4 Stickelberger, Abraham Lincoln

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gedehnten Ackerbau, für Obstkulturen, für Hopfenplan- tagen !

Doch Frau Lincoln weigerte sich unter allen Umstän- den, auch nur einen Fuß in jenes verwünschte Land zu setzen. Sie hatte sich sagen lassen, dessen Hauptstadt Salem gleiche einem Barackendorf, und das wichtigste Gewässer sei der «Schlangenfluß». Nein, zu diesen Wild- westlern und Schafzüchtern, zu diesen Indianerjägern und Lachsfischern, zu diesen Holzfällern und Branntwein- trinkern brachte man sie nicht lebendig! So verzichtete Lincoln auf die Bewerbung und blieb in Illinois, wo seiner in Bälde die wichtigsten Aufgaben harrten.

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Das Turnier

Jedes Kind im Staate Illinois kennt den ehrlichen Abra- ham Lincoln. Man hat die größte Hochachtung vor ihm; denn er ist klug, witzig und unbestechlich. Aber man lächelt auch ein wenig über ihn. Daß er sich nicht ge- schickter zu geben weiß! Da steigt er an einem heißen Sommertag des Jahres 1858 in einen überfüllten Zug ein. In der rechten Hand trägt er eine große, bunt bestickte Reisetasche, unter dem linken Arm den unvermeidlichen, riesigen, grifflosen Regenschirm. Der schlotartige Zylin- der weist große Flecken auf, und seine Kleider scheint ein böswilliger Schneider geschnitten zu haben; denn die Ellbogen und Knie stechen mit besonderer Eckig- keit heraus.

Ein junger Holzarbeiter bietet ihm seinen Platz an, halb ehrerbietig, halb vertraulich. Er weiß, daß der tüch- tige Mister eigentlich aus seinen Kreisen stammt, daß er es aber im Laufe der Jahre weit gebracht hat. Ebenso weiß er, daß der Mister niemals das Recht der «kleinen Leute» vergessen wird. «Schon wieder auf Reisen?» fragt der Bursche. «Ja», entgegnet Lincoln, «das Eisenbahnfahren macht mir Spaß.» Jetzt mischt sich ein anderer ins Ge- spräch: «Das ewige Reden gegen den unverfrorenen Douglas macht Ihnen wohl auch keine Mühe «Als Bub hab' ich mich mit Ferkeln herumgeschlagen», antwortete Lincoln lachend. Er spricht den Gedanken nicht fertig, aber er blinzelt munter die Mitfahrenden an und erzählt ihnen allerhand waghalsige Geschichten aus seiner

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Jugend. Von Büffeln und Schlangen, Indianern und Räubern. «Dann sind Sie wohl ein begeisterter Jäger und Fallensteller?» fragt der Bursche, der ihm den Sitz über- lassen hat. Aber dagegen verwahrt sich Lincoln energisch. «Tieren kann ich nichts zuleide tun, nicht einmal den wilden», erklärt er. Und er berichtet, wie er einst dazu kam, als ein paar Knaben einer Schildkröte glühende Kohlen auf den Panzer legten, wie er, selbst noch ein Junge, die Tierquäler verprügelt und darauf einen flam- menden Aufsatz über Tierschutz geschrieben habe. «Und das waren doch auch Sie, Mister Lincoln», fragt jemand, «der kürzlich den Postwagen anhalten ließ, um ein er- trinkendes Schwein aus dem Morast zu heben!» «Wo- her haben Sie diese dumme Geschichte?» fragt Lincoln unwirsch. Alles lacht und ruft: «Das stand doch groß in der Zeitung!»

Aus den Tiefen seiner Reisetasche zieht er nun ein Buch und beginnt eifrig zu lesen. Zuweilen nickt er Bei- fall, oft schüttelt er den Kopf, lächelt, murmelt eine halb- laute Bemerkung und zeichnet diese oder jene Stelle mit energischem Bleistiftstrich an. Er studiert das Buch, wel- ches die brennendste Frage Amerikas kühn in Angriff nimmt und die schon erhitzten Gemüter zum Glühen bringt: Onkel Toms Hütte. Noch nie, seit es in Amerika Bücher gibt, ist eines so viel gekauft, gelesen, disputiert, als neues Evangelium gepriesen oder als heuchlerisches Machwerk angefeindet worden. Die Sklavenfrage bedeu- tet gegenwärtig eine furchtbare Wunde am Leibe der Vereinigten Staaten. Wenn sie nicht bald geheilt wird, muß das junge Gemeinwesen an ihr zugrunde gehen.

Die Südstaaten, konservativ auf den Baumwollsegen bauend, welchen ihnen ihre von Schwarzen betreuten

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Plantagen einbringen, wollen sich nicht in ihre Gesetze reden lassen. Sie treten dafür ein, daß in den beiden neuen Territorien, Kansas und Nebraska, der Sklavenhandel er- laubt werde. Eine solche Regelung aber würde klar einem Abkommen widersprechen, welches «Missourikompro- miß» heißt und festlegt, daß nördlich von 36° 30' jede Sklaverei ausgeschlossen sei. In die Nordstaaten dagegen fluten alljährlich Einwanderungswellen aus der Alten Welt. Deutsche und Polen, Italiener und Iren suchen und finden in den rasch wachsenden Städten am Atlantischen Ozean Arbeit. Ihren europäischen Begriffen ist die Skla- verei in jeder Hinsicht eine verbrecherische, mittelalter- liche Sache; außerdem bedeuten die umsonst arbeitenden Neger für sie eine unwillkommene Konkurrenz. So mischen sich im Norden menschenfreundliches Ideal und geschäftstüchtige Spekulation, im Süden patriarchalisches Festhalten am Hergebrachten und bequeme Art des Wohl- lebens; immer härter und unversöhnlicher stoßen die Gegensätze aufeinander. Am besten vermag man in den mittleren Staaten das Für und Wider gegeneinander ab- zuwägen.

Lincoln freut sich über Frau Beecher-Stowes mutiges Buch. Natürlich erkennt er schon nach wenigen Seiten, daß es sich hier um eine Tendenzschrift handelt. Obwohl er eine mitleidige Seele hat, obwohl er das Beschämende einer Sklavenauktion mit eigenen Augen gesehen und im Herzen viel deswegen erlitten hat, weiß er, daß man diese wichtigste nationale Frage nicht auf sentimentaler Grund- lage regeln kann. Da gibt es Leute im Norden, die wahr- scheinlich noch nie einen leibhaftigen Neger gesehen haben, aber sogleich bereit wären, alle Sklaven von einem Tag auf den andern freizulassen, ihnen von Staates wegen

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irgendwo ein Grundstück auszuhändigen, ihnen das Stimmrecht zu geben und ihnen als Brüder um den Hals zu fallen. «Und damit wäre die Sklavenfrage endgültig aus der Welt geschafft!» pflegen diese oberflächlichen Idealisten am Schlüsse ihrer Ausführungen zu sagen. Was aus den Baumwollkulturen geschehen soll, interessiert sie weniger. Ebensowenig der Umstand, daß diese Schwar- zen überhaupt nicht geschult sind, daß man sie zuerst da- zu erziehen müßte, freie Bürger eines freien Staates zu sein. Man kann doch nicht, wie dies kürzlich ein Metho- distenprediger in New York getan hat, die Weißen im Süden einfach mit dem «reichen Mann» im Gleichnis und die Schwarzen mit dem «armen Lazarus» vergleichen und vorschlagen, man solle im Namen Gottes den Spieß nun umkehren, den Negern die Wonnen des Daseins gönnen und die Weißen peinigen lassen. Eine sofortige Freilassung aller Sklaven brächte die ganze Ordnung des Staates außer Rand und Band. Das weiß Lincoln. Er tritt für eine schrittweise Reform ein, ohne Gewalttat und Revolution. Das Stimmrecht möchte er nur den intelligen- ten Negern einräumen, die sich in der Freiheit bewährt haben. Aber das Ziel, die vollständige Abschaffung aller Sklavenhaltung, ist ihm so klar wie der Verfasserin von «Onkel Toms Hütte».

Doch vorläufig handelt es sich erst um einen kleinen Schritt: um die Verhinderung, daß die neuen Territorien von Sklavenhaltern besiedelt werden.

Heute nachmittag wird er wieder einmal mit seinem Gegner Douglas zusammenstoßen. Der stammt aus dem einfachen Volke gleich ihm, zeichnete sich ebenfalls schon früh durch seine lebhafte Auffassungsgabe aus, wurde Rechtsanwalt; Douglas und Lincoln haben recht

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viel Aehnlichkeit miteinander. Aber in anderm unter- scheiden sie sich voneinander desto gründlicher. Douglas verheimlicht seine Herkunft so gut er kann. Hätte er die feine Mary Todd geheiratet, er wäre ihr gelehrigster Schüler gewesen! Stets trägt er auf Reisen feine lederne Handschuhe; sein Anzug ist immer frisch gebügelt und sitzt bis zur letzten Falte. Auch er kann, wenn es sein muß, den leutseligen Volksfreund spielen. Doch viel lieber reist er im Sonderwagen und unterhält sich mit Leuten aus den gehobenen Schichten. So etwas gibt es bereits auch in den westlichen Staaten. In wenigen Jahr- zehnten ist hier eine gewaltige Wandlung vor sich ge- gangen: Aus den Ansiedlern sind Farmer geworden, aus den Schnapsbudenbesitzern Kaufleute, welche die tele- graphisch übermittelten Börsenberichte verfolgen. Und wenn sie selbst auch noch nicht ganz so reden, wie es sich für Gentlemen schickt, wenn sie auch hin und wieder ein «verdammt» und «verflucht» in ihre Aeußerungen einschieben und den Teufel allzu oft zitieren, wenn ihre Frauen mit der Eßgabel noch nicht sehr gewandt umzu- gehen wissen und schon am Nachmittag das üppige Abendkleid anziehen, so schicken sie ihre Söhne und Töchter doch an die Colleges im Osten, und wenn diese dann nach Hause kommen und zur guten Bildung noch mit dem sehr vielen väterlichen Geld ausstaffiert werden, dann ist die neue Aristokratie gesichert.

Auf diese einflußreichen Kreise baut Douglas. Ebenso auf das Wohlwollen der Südstaaten. Um es aber auch mit den Mächtigen im Norden nicht zu verderben, hat er eine Zwischenlösung ausgeheckt: Kansas soll der Sklave- rei geöffnet werden, in Nebraska soll sie verboten sein. Mit Eleganz und Geschick vertritt er seinen Standpunkt.

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Und viele jubeln ihm zu: Er hat einen weisen salomoni- schen Ausweg gefunden; Douglas mit dem Ei des Ko- lumbus!

In Alton v/ird Lincoln von seinen Freunden am Zu"

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abgeholt. «Seine Freunde» das sind Leute, die er von Haut und Haar nicht kennt. Es sind seine Gesinnungs- genossen, die für ihn durchs Feuer gingen, welche die Reklametrommel gerührt haben und dafür sorgen, daß die ganze Bevölkerung aus weitem Umkreis dem Rede- duell beiwohnen wird. Die Anführer von Lincolns Freun- den werden den Gegenredner, den eitlen Douglas, durch witzige oder bissige Zwischenrufe in Verwirrung bringen. Sie reden auf ihren Kandidaten ein, nicht zu sanft mit dem andern umzuspringen, ihm gehörig die Meinung zu sagen.

Auch die Stadt Alton besitzt so etwas wie ein Rathaus. Es wurde in klassischem Stil errichtet und sieht den Tem- peln auf der Akropolis'zum Verwechseln ähnlich. Nur steht es nicht auf einem Hügel, und den Platz umsäumen keine weitern Bauten im griechischen Sinn, sondern kleine Filialen großer Bankhäuser, Haushaltgeschäfte, Lebens- mittelmagazine und Barbiergeschäfte, in denen man auch gekühlte Getränke erhält. In der Mitte dieses Platzes ist die Rednertribüne errichtet, und bereits drängen sich die Neugierigen in großen Scharen. Alle wollen den Rede- kampf miterleben.

Die Bewohner der Siedlungen im Bannkreis der Stadt sind meist mit kleinen Wagen herbeigekommen. Die mei- sten von ihnen werden ihre Höfe nicht mehr am gleichen Abend erreichen, sondern übernachten bei Bekannten in

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der Stadt. Die Pferde sind bereits ausgespannt; die Fahr- zeuge stehen in Reih und Glied an einem eigens dafür bezeichneten Platz. Musikvereine ziehen spielend durch die Straßen; sie tragen Fahnen bei sich, und allegorisch aufgeputzte Mädchen künden den Umstehenden an, für welches Ideal ihre Gruppe kämpfe.

Die kleine Stadt liegt so weit im Süden, daß hier die Sklavenhalter großen Einfluß besitzen. Sie haben auf die- sen Tag hin mit Geschenken nicht gespart. Es besteht kein Zweifel: Douglas besitzt hier mehr Anhänger als der «ehrliche Abe», wie ihn die Seinen auf großen Plakaten bezeichnen. Douglas, der selbst noch kein vermöglicher Mann ist, kommt im auffallend bunt gestrichenen Son- derzug angefahren, wird am Bahnhof von einem m;t sechs Schimmeln bespannten Wagen abgeholt und fühlt sich seiner Sache sicher hier besonders. Es ist ja nicht das erstemal, daß sich die beiden Advokaten gegenübertreten. Erbittert kämpften sie diesen Sommer schon in Ottawa und Freeport, in Jonesboro und Charleston, in Galesburg und Quincy.

«Zeig's ihm, dem Sklavenhalter und Hochstapler, dem Lügner und Schönredner, dem ehrgeizigen Aemter Jäger!» wird Lincoln liebevoll ermahnt, bevor er das Rednerpult besteigt. Aber er wendet sich nicht an den Gegner. Die Sache ist ihm viel zu wichtig, als daß er das Volk durch billige Spöttereien auf seine Seite zu bringen versuchte. Sogar seinem berühmten Mutterwitz gestattet er heute keine Extratouren. Er spricht von der bedrohten Einheit der Vereinigten Staaten. «Ein Haus, das in sich selbst geteilt ist, kann nicht weiterbestehen. Ich glaube, unser Staat kann auf die Dauer nicht halb sklavisch, halb frei bleiben. Ich erwarte nicht, daß die Union zerfällt. Ich er-

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warte nicht, daß unser Haus einstürzt. Aber ich erwarte, daß es aufhören wird, geteilt zu sein. Entweder werden die Gegner der Sklaverei deren weitere Verbreitung ver- hindern und sie schließlich ganz auslöschen, oder ihre Befürworter werden sie vorwärtstreiben, bis sie schließ- lich überall von Gesetzes wegen eingeführt wird, in den alten und in den neuen Staaten, im Norden so gut wie im Süden.»

Lincolns republikanische Partei hat diese Schlacht da- mals knapp verloren. Sein Gegner Douglas wurde in den Senat gewählt. Aber der Redaktor einer großen Zeitung in Chicago schrieb dem «ehrlichen Abe» in einem begei- sterten Brief: «Sie sind wie Byron, der eines Morgens auf- wachte und sich berühmt fand!»

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Die Präsidentenwahl

Am 18. Mai des Jahres 1860 tagen und ratschlagen die Abgeordneten der jungen republikanischen Partei schon den dritten Tag über die Frage, wer für die nächsten vier Jahre am Steuer des amerikanischen Staatsschiffes zu ste- hen habe. Harte Jahre zeichnen sich am Horizont der Zeit ab, und das Schiff wird durch hochgehende Wellen, an wüsten Klippen vorbei, geführt werden müssen.

Am ersten Tag der Zusammenkunft schienen kaum Zweifel über die Person des kommenden Präsidenten zu bestehen: Jeder nahm an, daß William H. Seward aus New York fast einmütig vorgeschlagen werde. Ein be- währter Mann, das erprobteste Zugroß im republikani- schen Stalle. Seit zwei Jahrzehnten leitete er die Ausein- andersetzung mit den Südstaaten; der Mann verfügte außerdem über gute Bildung, ein angenehmes Wesen und über eine glänzende Beredsamkeit. Und doch: Der und je- ner zweifelte. Während die weniger wichtigen Geschäfte erledigt wurden, tuschelte man mit seinen Nachbarn ; auch während der Mahlzeiten besprach man die kommende Wahl. Und da und dort tauchten Zweifel auf: War dieser Seward nicht schon allzu bekannt? Und bekannte Leute, Kämpfer, müssen auch ihre Feinde haben. Und wußte man nicht allerlei recht ungeschickte Aeußerungen, die er da oder dort, natürlich nicht mit bösem Willen, getan habe? Zum Beispiel sollte er einst frei und offen erklärt haben, die kriegerische Auseinandersetzung mit den Süd- staaten könne gar nicht mehr vermieden werden. Ein

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Kriegsprophet ist bei seinen Mitbürgern nie besonders beliebt, sogar wenn ihm der Lauf der Dinge in jedem Stück recht gibt. Oder der andere Ausspruch: Es gebe ein höheres Gesetz, das sogar über der Verfassung stehe! Solche Sprüche, fanden die Abgeordneten, dürfe sich ein künftiger Präsident nicht leisten. Wenn die Gegner im Abstimmungskampf davon Gebrauch machten! So schlug schon am ersten Tage die Stimmung gegen Seward um. Den hatte er einmal durch eine hochfahrende Bemerkung geärgert, und jener wäre gern an einem seiner vielen Ehrenposten gestanden; Seward also nicht. Und Chase, der Gouverneur von Ohio? Auch kein übler Name; aber der verführe mit den Sklavenstaaten womöglich noch schärfer als der New Yorker; dem würden die Mittelstaa- ten, die sich noch nicht für den Norden oder für den Sü- den entschieden hatten, nicht zustimmen. Plötzlich sprach man von Bates aus Missouri, der war friedfertig und ließ sich zu keinen unbesonnenen Kriegsreden hinreißen. Aber eben: der war zu kompromißfreudig. Und Cameron aus Pennsylvania? Der hatte sich bei den kleinen Leuten un- beliebt gemacht; ein Geschäftspolitiker, bei dem man nicht wußte, ob er für das Gemeinwohl oder für seine eigene Tasche regieren würde.

Am dritten Tage ist die Lage viel weniger klar als am ersten. Mehr als zehntausend Menschen harren im «Wig- wam» auf das Ergebnis der Beratung und der Abstimmun- gen. Der «Wigwam» wurde eigens für diese Zusammen- kunft gebaut, eine riesengroße, häßliche Halle aus Eisen und Glas, nicht unähnlich dem architektonischen Unge- bilde, das einst zu den Wahrzeichen Londons gehörte und den irreführenden Namen «Kristallpalast» trug.

Ein neuer Name taucht auf: Abraham Lincoln. Jeder

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hat diesen Namen schon gehört: Heißt so nicht der Holz- fällerjunge aus dem Westen, der nie in eine rechte Schule ging, dem nichts Menschliches fremd sein kann, der kein höheres Gut kennt als die Wahrheit? Ein Kind des Vol- kes, das Ideal jedes rechten Amerikaners!

Bei der ersten Abstimmung schneidet Lincoln schon über Erwarten gut ab, und je mehr andere Namen weg- fallen, desto mehr Stimmen vereinigt der seine auf sich. Man wäre versucht, von einer Suggestion zu sprechen; denn wer zuerst noch Bedenken hegte, für den Hinter- wäldler mit dem untadeligen Ruf einzutreten, wird über- stimmt und überredet. Eifrige Freunde versprechen man befindet sich im hemmungsloseren Amerika! bereits Staatsstellen und angesehene Posten; für Lincoln wird Propaganda getrieben in einer Weise, die ihm selbst höchst peinlich wäre. Und schließlich erreicht er im drit- ten Wahlgang das absolute Mehr: Die Republikaner wer- den ihn dem Volke vorschlagen, Lincoln ist von nun an der am meisten gepriesene, am meisten verhandelte, am meisten aber auch bekämpfte Name in den Vereinigten Staaten. Zehntausend Menschen oder mehr jubeln im «Wigwam», als man die Wahl bekanntgibt. Wenn man diesen ohrenbetäubenden Lärm als «Jubel» bezeichnen kann: Jeder schreit nach Leibeskräften, man klatscht, man trampelt, man wirft Taschentücher, Hüte, Stöcke, über- haupt jeden greifbaren Gegenstand in die Luft.

So schnell als möglich setzt man den Erkorenen vom Stand der Dinge in Kenntnis. Aber er jubelt nicht, wirft auch nicht vor Freude Taschentuch oder Hut in die Höhe. Als man nachher die Boten fragt, wie sie Lincoln getrof- fen hätten, antworten sie: «Traurig und niedergeschla- gen.» Nun weiß er, daß er nicht mehr, so lange er auf der

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Bühne des irdischen Lebens stehen darf, aus dem Ram- penlicht zurücktreten kann. Vielleicht ahnt er, welch rie- sige Arbeit seiner wartet. Aber er nimmt die Wahl an. Nur bittet er sich aus, nicht selbst über Land reisen und für sich die Reklametrommel schlagen zu müssen, wie das sonst üblich ist. Um so eifriger sind seine Anhänger am Werk. Sie veranstalten Fackelparaden in den größten und in den kleinsten Städten; sie bilden Sprechchöre und las- sen Umzüge mit unzähligen Inschriften durch die Straßen marschieren. Zwar wählt ja nicht das Volk selbst, sondern die «Wahlmänner» den Präsidenten, aber jedem Knirps soll der Name «Lincoln» geläufig und liebgemacht wer- den. Mittelpunkt des Wahlkampfes da man den Kan- didaten in seiner imposanten Länge nicht selbst ausstellen kann sind zwei Stangen, die er in seiner Jugend als Bestandteile eines Viehhages selbst behauen haben soll. So kennt dieser Mann das harte Leben des einfachen Far- mers! Die Stangen werden verehrt wie Götzenbilder; ganz fanatische und zudringliche Anhänger versuchen, sich einen Splitter davon als Andenken abzuschneiden. Man läßt sie gewähren; es gibt ja schließlich noch mehr roh zubehauene Holzstangen in Amerika.

Es kommt den Republikanern zugute, daß ihre demo- kratischen Gegner gänzlich uneinig sind. Hinter Lincoln steht ziemlich geschlossen der ganze Nordosten. Der Sü- den aber kann sich zu keinem zügigen Gegenkandidaten aufraffen. Zwar besitzen auch nach den Präsidentschafts- wahlen die Demokraten die Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus, sogar im obersten Bundesgericht. Sie werden dem Präsidenten, dem Vertreter der eindeutigen Minderheit, das Leben so sauer als möglich machen. Wenn es nach ihren Köpfen geht, wird Lincoln nach Ab-

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lauf seiner Amtszeit nicht nur ein müder, gebrochener Mann sein, sondern die Republikaner werden sich hüten, wieder einen der Ihren durchzuzwängen. Aber die Ereig- nisse werfen die Pläne auf allen Seiten um.

Wenn in den Märchen der Schweinehirt durch seine Tüchtigkeit oder durch einen unerwarteten Glücksfall König geworden ist, dann findet die Geschichte bald nachher ihren Schluß. Der Glückspilz heiratet die Königs- tochter, zieht ins Schloß, lebt herrlich und in Freuden, und die Glocken von allen Türmen des Landes verkünden den Anbruch einer neuen guten Zeit. Aber das Leben ist kein Märchen. Der Holzfäller ist zum Präsidenten der Verei- nigten Staaten gewählt worden, und das bedeutet mehr an Macht und Ehre als manche Königswürde in monarchi- schen Ländern. Aber er befindet sich nicht im Glückstau- mel. Seine bedrückte Stimmung hält an, und er weiß nicht recht, was er den ungezählten Bekannten antworten soll, die ihm zu seinem Erfolg gratulieren. Der Telegraph in Springfield hat seit seinem Bestehen noch nie so viel Bot- schaften aufgefangen. Aber Lincoln legt die Briefe und Telegramme verlegen beiseite. Aengstlich überlegt er, was er der Menge zurufen soll, die ihm nachwinkt, als sich der Zug langsam in Bewegung setzt. Er steht auf der offenen Plattform des letzten Wagens, schwenkt mit dem viel zu langen Arm seinen Zylinder und bittet seine Mit- bürger, ihn nicht zu vergessen. «Ja, ja», tönt es tausend- stimmig zurück, «wir werden für Sie beten!» Die Augen der einen leuchten, die der andern füllen sich mit Tränen. Alle schauen dem hageren Abe nach, der nun, bevor der Zug den Blicken entschwindet, seine große Reisetasche aufnimmt und ins Wageninnere tritt.

Ein vorwitziger Schaffner erzählt ihm wichtig, daß die

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Polizei in Cincinnati einem Anschlag auf die Spur gekom- men sei; ein Italiener habe ihn auf der Durchreise ermor- den wollen; aber er sei nun dingfest gemacht. Und wenige Meilen schon nach Springfield hält der Zug auf offener Strecke. Eisenbahnarbeiter mit roten Wimpeln und mit Signalpfeifen eilen hin und her; Reisende steigen aus und erkundigen sich nach dem Grund des unvorgesehenen Aufenthaltes: Nur ein kurzes Stück weiter vorne ist das Geleise aufgerissen. Man flickt den Schaden notdürftig, und behutsam zieht die Lokomotive die kleinen hölzernen Wagen über die lotterige Stelle. «Diese Entgleisung hätte mich umbringen sollen», überlegt Lincoln. Er hat nun auf einmal das Gefühl, von unbekannten Feinden umgeben zu sein, von Leuten, denen er nie im Leben begegnet ist, die ihn aber hassen, und die seinen Tod wünschen.

Dabei bezeugt er von sich selbst mit gutem Gewissen, daß er eine friedliche Natur ist, die mit niemandem Streit will. Er lacht im Gedanken an jenen hitzigen Offizier, der ihn einst wegen einer Kleinigkeit auf Pistolen gefordert hat. «Es ist besser, man geht einem bissigen Hund aus dem Weg», ließ er damals dem Streithahn ausrichten. «Zwar kann man ihn totschlagen; aber vorher wird man von ihm möglicherweise doch gebissen.»

In der Hauptstadt Washington empfangen ihn nur wenige Leute. Die Polizei hielt seine Ankunft geheim; die Stimmung war erregt, und man fürchtet immer noch ein Attentat. Zum erstenmal in der Geschichte der Staaten wird dem Volke nicht erlaubt, den neuen Präsidenten im Triumphzug zum Kapitol zu begleiten. Aber nach und nach sickert die Kunde durch, daß «er» gekommen ist. Und um so größer sind Ueberraschung und Freude, wenn er irgendwo plötzlich erkannt wird. Und er ist ja so leicht

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zu erkennen; seine Schlacksigkeit ist ihm geblieben, und einen weniger elegant angezogenen Staatsmann hat man in der Kapitale kaum noch gesehen!

Vom abtretenden Präsidenten Buchanan wird er nicht unfreundlich empfangen. Der Herr mit dem gepflegten Aeußern lacht auf den Stockzähnen, als er dem Nachfol- ger lang und herzlich die Hand schüttelt. Das ist also der Stern der Republikaner! Der Mann aus dem Volke, der die Aristokratie abzulösen hat. Gut. Buchanan ist froh, daß er bald zurücktreten darf; denn der Abfall der Süd- staaten läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Jeder, der auch nur ein wenig hinter die Kulissen der Politik und der Wirtschaft sieht, weiß das, übrigens auch der «Mann von der Straße». Der Süden ist furchtbar erregt, daß ein Sklavenbefreier Präsident geworden ist. Aber die Wahl ist eindeutig, das muß auch der alte Präsident zu- geben: Lincolns drei Gegenkandidaten haben ja gemein- sam lange nicht die Stimmenzahl erreicht, die er allein auf sich vereinigen konnte. Am wenigsten fielen auf Douglas, den Rivalen, der auch jetzt wieder im Feuer ge- standen war. Er hatte wieder geschmiert und geredet, das Blaue vom Himmel versprochen und jedem, der ein Amt von ihm begehrte, die einträglichste Pfründe zugesichert. Ihm galten 12 Stimmen, Lincoln 180.

Das bisherige Kabinett, aus lauter Demokraten beste- hend, hatte den Wahlausgang kommen sehen. Man war- tete nicht untätig. Man schürte von höchster Stelle aus den Haß gegen die Nordstaaten, man bereitete kühlen Herzens den Krieg vor. Der Kriegsminister Floid sandte 115 000 Gewehre in die Zeughäuser des Südens. Man ver- breitete die Meinung, daß, sobald eine republikanische

J Stickolberger, Abraham Lincoln A r

Regierung am Ruder sei, die Sklavenarbeit mit Gewalt verboten werde.

Die Minister sind eben versammelt zur Stunde, da Lin- coln seinen Antrittsbesuch bei Buchanan macht. Er wird durch die hallenden Gänge ins Konferenzzimmer gelei- tet, in dem die Herren ihre Sitzung halten. Unterwegs er- teilt der scheidende Präsident seinem Nachfolger, dieser «Unschuld vom Lande», einige nützliche Ratschläge. Der Süden sei verschnupft, man müsse Sorge zu ihm tragen, müsse ihm Garantien geben, müsse die Sklavengegner im Norden im Zaum halten. Lincoln hegt die besten Vorsätze. Er schaut jedem Minister der Gegenpartei treuherzig in die Augen, und er meint es sicher ehrlich, wenn er jedem einzelnen von ihnen versichert, es «freue ihn ungemein, ihn kennenzulernen».

Die vorgeschriebene Einführungszeremonie kann na- türlich von der Polizei nicht geheimgehalten werden. Aber eine ungewöhnlich hohe Zahl von Mannschaften versieht den Ordnungsdienst. Unauffällig werden die Neugierigen gemustert, die sich in der Nähe des Kapitols herumtreiben; Gänge, Hallen, Estriche und Keller wer- den täglich zweimal abgesucht. Aber die Feier verläuft ohne Zwischenfall. Seward, der kluge Politiker, hat sich eingefunden und bietet dem Präsidenten seine Dienste als Berater und Minister an. Er ist ohne Neid, und seine Ratschläge bewähren sich. Auch Douglas erscheint, der gestürzte Rivale. Er drängt sich neben Lincoln und klopft ihm etwas zu wohlgemeint auf die Schultern. Und als die- ser, ungelenk wie immer, keinen Huthaken finden kann, springt ihm Douglas eilfertig zu Hilfe und hält ihm wäh- rend seiner ganzen Rede den Zylinder. Lincolns Rede ist an die Adresse der Südstaaten gerichtet, deren Vertreter

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ja vor allem die bisherigen Regierungsmänner sind. Er beschwört sie, an seinem guten Willen nicht zu zweifeln; von einer drohenden Invasion sei keine Rede. «Wir sind nicht Feinde», ruft er den politischen Gegnern begeistert und gewinnend zu, «wir sind Freunde und dürfen nicht zu Feinden werden!»

Bei einem vaterländischen Feste denkt das Volk nicht an Krieg und Kriegsgeschrei. So lange die Sonne vom blitzblauen Himmel strahlt, fürchtet sich niemand vor der grauen Wolkenwand hinter dem Horizont. Und ein neuer Präsident will von jedermann gefeiert werden, nicht nur von einigen Auserwählten. Längst haben die Zeitungen, die jeweils dem die lautesten Preislieder singen, den sie als den «kommenden Mann» wähnen, für die Volkstüm- lichkeit Lincolns gesorgt. Phantasiebegabte Zeichner haben reihenmäßig Bilder hergestellt, welche den «ehr- lichen Abe» als Holzfäller und als Schweinehirten zeigen; findige Journalisten schreiben Anekdoten auf, welche vom Edelmut, der Hilfbereitschaft und der Güte des ein- stigen Farmerjungen berichten. Solche Geschichten er- obern vor allem die Herzen der Frauen. Die Männer da- gegen lesen mit Wohlbehagen die wörtliche Wiedergabe seiner Antrittsrede, die er allerdings, wenn man ehrlich sein will, mit der Hilfe einiger Parteifreunde komponiert hat. Aber er steht mit seiner ganzen senkrechten Persön- lichkeit hinter dem, was er sagt; das spürt jeder, und das ist auch die Hauptsache. Er hat in dieser Rede, welche die entzweiten Brüder im Norden und im Süden wieder zu einigen suchte, von der heldenhaften Vergangenheit ge- sprochen. «Jedes schlagende Herz, jeder häusliche Herd dieses Landes wird durch das Blut, das einst auf unsern Schlachtfeldern für die gemeinsame Sache vergossen

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wurde, befruchtet. Vom Grunde jedes Grabes, in dem ein guter Bürger ruht, steigen geheimnisreiche Kräfte empor, die zu unserer Versöhnung beitragen. Fleiß, Vaterlands- liebe, lebendiger, christlicher Sinn und festes Vertrauen zu dem, der dieses Land noch nie verließ: diese Tugenden werden allen gegenwärtigen Schwierigkeiten ein Ende setzen.»

Solche Worte hört und liest man gern. Man glaubt im Augenblick nicht daran, daß Wühler an der Arbeit sind, welche ihren Sinn verdrehen, welche im Süden aus- streuen: man möge sich in acht nehmen vor dem Augen- verdreher und Heuchler, der sich fürchte, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, den Kriegsausbruch nur so lange verzögern wolle, bis auch der Norden gerüstet sei und zum entscheidenden Schlag auszuholen vermöge. An diese Dunkelmänner denken die Mengen nicht, welche den Festzug anstaunen, der sich durch die Straßen Wa- shingtons den Weg bahnt. Seinen Mittelpunkt bildet ein mit weißen Lilien, roten Nelken und blauen Kornblumen geschmückter Wagen, auf dem sich zwei in Seide gehüllte junge Damen schwesterlich die Hand reichen. Die blonde, blaugewandete stellt den Norden, die dunkle in der wei- ßen Robe den Süden dar. Hinter dem Prachtsgefährt mar- schieren vierunddreißig weitere Schönheiten, jede das Banner ihres Unionsstaates tragend, jede außerdem auch an bestimmten landwirtschaftlichen oder industriellen Symbolen kenntlich, die kunstvoll an ihre Gewänder ge- heftet sind. Man erkennt Baumwollzweige und Aehren- büschel, blühende Aestchen von Obstbäumen, auch Si- cheln, sogar Zahnräder und das kleine Modell einer Schleuse: die geeinte Kraft und der ganze Reichtum des Landes paradiert vorbei. Auch Abordnungen der Indianer

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sind eingetroffen, die mit ihrem klassischen Kopfputz Aufsehen erregen. Wild schwingen sie ihr Kriegsbeil, natürlich nicht mehr gegen die weißen Eindringlinge, sondern als die von den weißen Brüdern Beschützten und mit ihnen Verbündeten.

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Der Bürgerkrieg

Für die Eingeweihten bedeutet der Festzug zu Ehren des neuen Präsidenten eine naive Vorspiegelung falscher Tatsachen. Denn der Krieg ist unvermeidlich; seine schwerfällige Maschine steht im Anlaufen, und auch wenn sich gutgesinnte Männer wie Lincoln mit aller Kraft in die Räder dieser Maschine stürzen, vermögen sie ihr Schwungrad nicht mehr aufzuhalten. Der Vorgänger Buchanan hat Lincoln nur widerwillig Platz gemacht. Durch bewußte Fahrlässigkeit hat er in den letzten Mona- ten dem Bürgerkrieg Vorschub geleistet. Die Sklaven- schiffe aus Afrika, welche von Europa her längst als eine allgemeine Schande für die Neue Welt gebrandmarkt wurden, vermochten offen in die Häfen des Südens ein- zulaufen, ohne von der Polizei überhaupt beachtet zu wer- den. Der Abfall der «Konföderierten», wie die Südstaaten ihren Bund nannten, war genau vorbereitet. Als oberster Leitsatz der Konföderation galt die Wahrheit des von Gott gefügten Rassenunterschieds zwischen Weiß und Schwarz. Die Neger seien durch Gottes Weisheit zum Dienste für die Weißen bestimmt, und die vom Norden verlangte Gleichberechtigung bringe nicht nur Wirrwarr und Armut mit sich, sondern werfe auch die ursprünglich- sten Naturgesetze über den Haufen. Am 8. Februar 1861 war in Montgomery bereits eine gesetzgebende Versamm- lung zusammengetreten, welche die vorläufige Verfas- sung für die «souveränen und unabhängigen Staaten Süd- karolina, Georgia, Florida, Alabama, Mississippi und

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Louisiana» aufstellte. Auch der Präsident war schon er- koren worden: Jefferson Davis, der, wie Lincoln, als Bauernbub in Kentucky eine harte Jugend hinter sich hatte, später aber in einer Offiziersschule erzogen und un- ter Buchanan in die Bundesregierung berufen wurde. Jef- ferson Davis und seine Freunde erklären, die einzelnen Staaten der Union hätten nicht nur das Recht, unter sich einen Sonderbund zu gründen, sondern in zwingenden Fällen den Staatenbund auch wieder zu verlassen, dem sie seinerzeit freiwillig beigetreten seien. Im Norden da- gegen betrachtet man den geplanten Austritt aus dem Bundesstaat als Treubruch.

Der offene Krieg beginnt am 12. April. Es sind jeweils kleine Streitigkeiten, welche die großen Kriege der Ge- schichte einleiten: Am Anfang des trojanischen Krieges geschah der Raub der Helena; der Dreißigjährige Krieg wurde durch den Prager Fenstersturz begonnen, der Deutsch-Französische mit einer entstellten Depesche, der erste Weltkrieg durch den Mord von Sarajewo und der zweite mit einer Grenzverletzung bei Danzig. Doch be- deuten alle diese kleinen Ursachen, die weltgeschichtliche Berühmtheit erlangt haben, nicht die Gründe der nach- folgenden Auseinandersetzungen. An sich wenig von Be- lang und bei rechtem Willen leicht wieder gutzumachen, handelte es sich jedesmal um das längst erwartete Signal, um den Blitz, der das nun einsetzende Unwetter ankünden mußte, das auf die Völker niederprasseln sollte.

Der offene amerikanische Bürgerkrieg beginnt also mit dem Sturm der Konföderierten auf die Festung Sumpter im Hafen von Charleston. Alle andern festen Plätze im Süden sind schon vorher, unter dem saumseligen Bucha- nan, ohne großes Aufsehen in die Hände der Abtrünnigen

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gefallen. Außer Sumpter wird nur noch Fort Pickens an der Südküste von Alabama von regierungstreuen Trup- pen gehalten. In Sumpter weigert sich der Kommandant Anderson mit seiner siebzig Mann starken Besatzung, die Festung zu übergeben. Aber er vermag dem Ansturm der Uebermacht nur zwei Tage standzuhalten, dann kapitu- liert er. Die Eroberung des Forts wird in den Südstaaten als großes Heldenstück gefeiert. Mit schwerer Artillerie und mit großen Haufen von begeisterten Freiwilligen hatte man die Zwingburg genommen! Die Zeughäuser waren gefüllt; die Jugend des Landes zu allen Taten be- reit; auf nach Norden! In kurzer Zeit wird Washington genommen sein, und die starrköpfigen Feinde der Skla- verei müssen klein beigeben! Eine Woge der Begeiste- rung erfaßt jedermann; man feiert den glücklichen Be- ginn der Auseinandersetzung wie das Vorspiel des end- gültigen großen Sieges. Einige Mittelstaaten, die sich dem Krieg bisher lieber fernhalten wollten, schließen sich nach dem ersten Erfolg dem Süden an, so Virginia, das noch im Februar zu vermitteln gesucht hatte, außerdem Nord- karolina, Arkansas und Tennessy. Und täglich erhofft man auch den Anschluß von Kentucky, Maryland und West- virginia; denn auch diese fruchtbaren Landstriche sind durch Sklavenarbeit zu Wohlstand gekommen. Immer- hin erwartet hier die weiße Bevölkerung ihr Heil nicht ungeteilt von der Knechtung der Neger; die kleinen Far- mer, die deutschen Handwerker, die aus der Schweiz ein- gewanderten Küher und Käser halten es mit den Republi- kanern. Es kommt zur Enttäuschung des optimistischen Südens in diesen Staaten nicht zum Anschluß an die Konföderation.

Ueberhaupt können die leitenden Männer des Südens

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den Krieg nur vom Zaun reißen, weil sie die Lage durch eine rosig gefärbte Brille betrachten. Sie haben lediglich die Hoffnung auf ihrer Seite; bei nüchterner Ueberlegung müßten sie erkennen, daß sie auf die Dauer dem ungleich stärkeren Gegner nicht standhalten können. Den elf Staa- ten des eigenen Sonderbundes stehen vierundzwanzig des Gegners gegenüber, die von etwa zweiundzwanzig Mil- lionen Weißen bewohnt werden. Im Süden dagegen zählt man zwölf Millionen Weiße; die Sklaven wird man sich hüten müssen, unter die Waffen zu rufen, da sie bei erster Gelegenheit zu ihren Befreiern überlaufen würden. Au- ßerdem liegen zwei Drittel des Geldes in den Banken des Nordens; dort arbeiten auch die Ingenieure in den großen Fabriken; dort finden sich Erz und Kohle. Und wie steht es um die im Kriege so wichtige Sympathie des Auslan- des? Gewiß hat man Napoleon III. auf seiner Seite; er haßt jede Form von Demokratie und Gleichmacherei. England, das den Groll gegen die abgefallene einstige Kolonie immer noch nicht abgelegt hat, freut sich über die entkräftende Entzweiung unter seinen verlorenen Söhnen. Man zählt im Süden auf den englischen Adel, der sich gewiß die Schiffahrt offen behalten will und stets bereit ist, gegen die für die Textilfabriken so nötige Baumwolle Kriegsgerät nach der Neuen Welt zu schaffen. Doch England steht selbst im Zeichen der Demokratisie- rung. Die Stärke der vormals allmächtigen Lords ist schon gebrochen, und der Mann von der Straße, der in harter Arbeit sein kärgliches Brot in den Bergwerken, in den Spinnereien und Webereien verdient, ist entschlossen, lie- ber zu hungern, als für die Sklavenherren jenseits des Ozeans zu wirken. «Onkel Toms Hütte» wird in den Sonn- tagsschulen nacherzählt; die Prediger der verschiedenen

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Kirchen und Gemeinschaften überbieten sich gegenseitig in der Schilderung des Negerloses auf den Baumwollfar- men; man veranstaltet Meetings und Gebetsversammlun- gen für die Sklaven: Nein, die Masse des Volkes sympa- thisiert weder in England noch anderswo in der alten Hei- mat mit den Südstaaten. Die englische Regierung dagegen verhält sich dem Namen nach «streng», in Wirklichkeit sogar «wohlwollend» neutral. Schon allein dadurch, daß sie den Sonderbund als kriegführende Partei anerkennt. Sie hat auch nichts dagegen, daß sich zwei Diplomaten des Südens auf dem englischen Dampfer «Trent» ein- schiffen, um in Europa wichtige Missionen auszurichten. Vielleicht interessiert sich ihre Regierung für englischen Stahl, vielleicht für französische Präzisionsgewehre; mög- licherweise handelt es sich für sie nur darum, die öffent- liche Meinung in der Alten Welt geschickt zu beeinflus- sen. Genug: der Erkundigungsdienst der Nordstaaten hat Wind von dieser Reise bekommen und läßt durch ein Kriegsschiff die «Trent» aufhalten und die beiden Herren gefangennehmen. Da droht England sogar mit offener Parteinahme für den Süden, mit Eintritt in den Krieg. Auch diese Hoffnung der Optimisten in den Sklaven- staaten erfüllt sich nicht, denn Lincoln gibt nach und über- läßt die Diplomaten den Engländern zum Aerger seiner unentwegtesten Gesinnungsfreunde. So bauen die Opti- misten schließlich auf die Unzuverlässigkeit der Einwoh- ner in den Nordstaaten. Während nämlich im Süden das Schicksal fast jedes Weißen mit Haut und Haaren vom Ausgang des Krieges abhängt, weil die Baumwollplanta- gen nach der Wegnahme der Sklaven zugrunde gehen müßten, ärgern sich die Arbeiter und Bauern im Norden zwar über die Zwängerei der Großgrundbesitzer und ver-

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achten die Sklavenherren herzlich; aber der aufgezwun- gene Krieg ist ihnen in der Seele zuwider. Es lassen sich genug Stimmen hören, die finden, man solle die unzu- friedenen Negervögte doch machen lassen, und für die Union bedeute es bestimmt keinen Schaden, wenn man ihnen den Austritt gewähre. Diese Stimmung kennt man im Süden; man höhnt also nach Noten über die «Krä- merseelen», denen das Geld mehr bedeute als die Ehre. Vor allem weiß man, daß die soldatische Ausbildung im Norden nur fast zufällig betrieben wurde, daß Arsenale und Waffen in schlechtem Zustand sich befinden, und hofft, daß, bis dort nur eine einigermaßen schlagkräftige Armee auf die Beine gestellt werden kann, der Waffen- gang bereits entschieden sein würde. Man hofft also im Süden mehr, als daß man überlegt. Man erhitzt den Pa- triotismus mit allen künstlichen Mitteln bis zum Siede- punkt, man läßt den Volkszorn kochen. Märsche mit den anfeuernden Titeln «König Baumwolle», «Unser Präsi- dent Jefferson Davis» oder «Heil Alabama» werden kom- poniert, oder auch sentimentale Weisen, wie«Dämmerung am Mississippi» und «Die Jungfrau von New Orleans». Diese Melodien schmettern die Kaffeehausorchester in den Städten, verbreiten die fahrenden Musikanten, die heute hier, morgen dort ein Klavier mieten und mit der kleinen Trommel den Takt schlagen lassen, und bald pfeift sie jeder Gassenbub nach, was zugleich seine Hei- matliebe bezeugt und Spaß macht. Die Damen in den weißen Villen leben fortan nicht mehr allein ihren Reit- und Tanzvergnügen; sie entdecken plötzlich ihr patrio- tisches Herz, veranstalten Bazare zugunsten der Armee und nähen einzeln oder gruppenweise für die Soldaten. An diesen herrscht zu Beginn des Krieges kein Mangel:

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Von allen Seiten strömen die Freiwilligen herbei, die meisten beritten; manche wie mittelalterliche Feudal- herren mit einem ganzen Troß von Anhängern um sich. Die Uniformierung läßt anfänglich viel zu wünschen übrig, und von einer einheitlichen Bewaffnung kann noch keine Rede sein. Ebenso scheint der Begriff der Disziplin den meisten dieser Freiwilligen noch unklar: sie wählen ihre Offiziere nach Gutdünken und begehren auf eigene Faust möglichst rasch nach Norden zu reiten, um mit den «gottverdammten Krämerseelen» endlich ab- zurechnen, die ihnen den Wohlstand mißgönnen und ihre der Bibel und allem Herkommen hohnsprechenden Grundsätze von «Gleichheit und Freiheit für alle» auf- zwingen wollen.

Aber noch ungünstiger in militärischer Hinsicht trifft der Ausbruch des Bürgerkrieges den Norden. Abraham Lincoln hat seine versöhnenden Antrittsreden ehrlich ge- meint. Er sieht das Amt des Präsidenten nicht im Zuschla- gen. Er betrachtet sich als Arzt, der den verwundeten Staatskörper zu betreuen hat. Man ermutigt ihn von radi- kaler Seite, als Chirurg zu wirken. «Aergert dich ein böses Glied, so hau es ab, damit die Vergiftung nicht den ganzen Körper verseuche», raten ihm draufgängerische Freunde. Aber er wartet. Er setzt seine Hoffnung auf die mensch- liche Vernunft, die doch auch im Süden nicht ausgestor- ben sein kann. Die Mißverständnisse müssen beseitigt wer- den! Vielleicht fühlen sich die rebellischen Bundesgenos- sen gekränkt wegen alter Zollgeschichten; vor allem be- deuten ihnen die hohen Schutzzölle, aus welchen der Staat Gewinn zieht, einen Dorn im Auge, weil sie die Frei- zügigkeit des Handels einschränken. Möglicherweise sehen sie überhaupt mit scheelen Blicken dem Aufstieg

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der Industriestädte zu. Aufklärung tut not! Also hält er Reden versöhnlichen Inhalts, die von den Feinden höh- nisch zurückgewiesen, von den Freunden auch nicht ver- standen werden. Weshalb spricht der Präsident nicht klarer?

Auch aus Europa tönen solche Vorwürfe. Das Recht liegt doch eindeutig auf der Seite des Nordens, liest man in den europäischen Zeitungen. Wenn es dem Präsidenten um die Ideale der Menschlichkeit gehen würde, dann zöge er mit bewaffneter Streitmacht gegen die unbot- mäßigen Pflanzer und versuchte ihnen nicht als schwäch- licher Landesvater zuzusprechen. Und dann folgen die moralisierenden Folgerungen: Die Unterdrückung der Sklaverei sei also doch nur ein Vorwand; den Hinter- grund bildeten dunkle Machenschaften der Reichen und Mächtigen, die durch den Krieg noch reicher und noch mächtiger zu werden hofften. Ja, wenn Lincoln am ersten Tage seiner Regierung erklärt hätte: «Von heute an gilt die Sklaverei als abgeschafft!» Das hatte man von ihm erwartet!

In den düsteren Apriltagen, in denen er sieht, daß der Aufruhr nicht mehr einzudämmen ist, behält er seine vor- bildliche Ruhe. Sie verläßt ihn nicht einmal, als er das hartnäckige Gerücht vernimmt, der Feind rüste sich zum Marsch nach Washington. Richmond, von den Südstaaten zur Hauptstadt erkoren, liegt nur etwa 150 Kilometer entfernt. Dort hielten sich, immer dem Gerücht zufolge, sechstausend Mann zum Einbruch in das Gebiet des Nor- dens bereit. Und die Besatzung zu Washington zählt knapp sechshundert!

Der Präsident ruft 75 000 Mann unter die Waffen. Aber die Mobilmachung geht mit lähmender Langsamkeit vor

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sich. Während die Farmer im Süden, wenn auch nicht militärisch gedrillt, so doch im Schießen geübt und im Reiten gewandt sind und ganz allgemein Freude am Krieg bekunden, kommt die Kriegsnachricht eigentlich jeder- mann im Norden unbequem. Hier bedarf es erst recht der Werbung mit Schriften und Bildern, mit Musik und Tam- tam, und doch will die Begeisterung keine Wogen schla- gen. Wer irgendeinen Grund hat, drückt sich vom Waf- fendienst. Mit einer gewissen Summe kann man sich los- kaufen, auch noch, nachdem nicht mehr auf freiwilliger Grundlage rekrutiert wird. Mit der Trägheit geht auch eine gewisse Sicherheit Hand in Hand. Man ist ja ohnehin reicher und stärker; man wird den Krieg gewinnen. Wes- halb so viel Aufhebens daraus machen? Man lächelt über das Geschrei im Süden. Wenn nur erst die Kräfte voll entfaltet sind, kommt es kaum mehr zu einer rechten Schlacht. Man braucht sich also nicht, wie die im Süden, im voraus Siegesräusche anzutrinken. Man wartet in der Gewißheit, daß am besten lacht, wer zuletzt lacht.

Im Laufe der Monate Mai und Juni zeigt es sich, daß die Konföderierten ihre Drohung, Washington anzugrei- fen, nicht ausführen. Auch sie fühlen sich nicht stark genug zur Offensive und richten sich auf die Verteidigung ein. Der Krieg droht einzuschlafen oder sich sinnlos in die Länge zu ziehen.

Da beschließt endlich der Oberbefehlshaber des Nor- dens, General Scott, den Angriff. Und wenn Scott vor- gehen will, dann, denkt man, ist das Unternehmen ge- sichert. Er pflegt zuerst zu überlegen und erst nachher zuzuschlagen. Sein Name steht noch in guter Erinnerung aus dem Krieg gegen Mexiko: den hat er vor fünfzehn Jahren siegreich zu Ende geführt. Scotts Bild wird von

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geschäftstüchtigen Andenkenfabrikanten massenweise hergestellt. Man verkauft Kreide- und Oeldrucke, auf denen Lincoln und Scott einander feierlich die Hand rei- chen, der Staatsmann im schwarzen Bratenrock, der Gene- ral in Paradeuniform, im Hintergrund das Sternenbanner. Und die Musikvereine blasen den Marsch «General Scott».

Scott zieht, sobald seine freiwilligen Horden einiger- maßen zu kriegstüchtigen Einheiten geformt sind, dem Feind entgegen. Am 21. Juli stoßen die Heere beim Flüß- chen Bull Run aufeinander, und nach kurzer hitziger Schlacht laufen die Verteidiger des Nordens in aufgelö- ster Ordnung davon. In erbärmlichem Zustand treffen die Reste der geschlagenen Armee in Washington ein; Scott nimmt den Abschied und wird da die öffentliche Mei- nung stürmisch nach einem jungen Feldherrn ruft durch den 34jährigen MacClellan ersetzt. Trotz der Nie- derlage hat man den Ernst des Krieges noch nicht recht begriffen: Die Andenkenfabrikanten ersetzen den ehr- würdigen und greisen Scott auf ihren Drucken durch den jungen General, der nun dem Präsidenten die Hand rei- chen muß, und die Kapellen üben einen neuen Marsch. Immerhin merkt man doch im Norden, daß der Krieg ohne Anstrengungen nicht gewonnen werden kann. Zei- tungen und Pamphlete bereiten auf weitere harte Kämpfe vor; der Feind wird als wild und grausam geschildert; Erzählungen von Augenzeugen werden weitergegeben, nach welchen die Krieger aus den Südstaaten ihre ver- wundeten Feinde elend in der Sommerhitze auf dem Kampfplatze verschmachten ließen und daß sie, wenn sie einsame Farmen anträfen, marodierten, plünderten und es in schandbarer Weise auf die Frauen abgesehen hätten.

Zur ersten Niederlage des Nordens auf dem Lande ge-

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seilt sich bald die zweite zu Wasser: Am 19. April schon hat Lincoln die Küstenblockade verhängt. Wenn der Süden von Europa abgeschnitten werden kann, muß er ersticken; denn er ist auf die Ausfuhr seiner Baumwolle und auf die Einfuhr fast aller kriegswichtigen Dinge an- gewiesen. Sechs stattliche hölzerne Kriegsschiffe, halb Dampfer, halb Segler, fahren vor New Orleans, kreuzen bei jedem Wetter vor der Hafeneinfahrt hin und her und unterbinden jeglichen Seeverkehr. Unvermittelt setzt aber eines Tages der Angriff ein: Ein Ungetüm faucht auf die hölzerne Kriegsflotte des Nordens zu, ohne Masten, nur mit Dampf getrieben und scheinbar unverwundlich. Wenigstens prallen die Kugeln vom Rumpfe des Schif- fes, das den unheimlichen Namen «Merrimac» trägt, ab, ohne Schaden anzurichten. Es vermag ganz nahe an das Leitschiff der Kriegsflottille zu gelangen und schießt dieses mit wenigen gut gezielten Ladungen aus seinem Kanonenturm in den Grund. Dann wendet es sich dem nächsten schwimmenden Gegner zu, und auch die See- schlacht endet mit einer vollständigen Niederlage des Nordens. Der Zustand, in dem die Fahrzeuge in den Heimathäfen eintreffen, läßt sich höchstens mit dem- jenigen von General Scotts unseliger Armee vergleichen. Aber diese schlimmen Anfangserfahrungen öffnen den Schläfern in den Nordstaaten die Augen. Wie e i n Mann stellt sich der Kongreß hinter den Präsidenten, der eine eindringliche Mahnrede hält: «Der Süden hat uns vor die Wahl gestellt, entweder ihn aus unserm Bund zu entlassen oder Krieg zu führen. Ich habe ein dritte Möglichkeit er- wogen: ich wollte warten. Aber nun kämpfen wir um unser Dasein. Nur mit Schmerz greifen wir zu den Waf- fen. Wäre ich noch ein einfacher Bürger, ich könnte den

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Umsturz niemals gutheißen. Nun bin ich Präsident und fühle mich durch das Gewissen gezwungen, zum Krieg aufzurufen. Ich habe meine Pflicht getan; der Kongreß tue nun die seine!»

Gegen Ende des Jahres steht im Norden etwa eine halbe Million geschulter Soldaten unter den Fahnen. Der schwedische Konstrukteur Erikson hat ein gepanzertes Kriegsschiff gebaut, das den Schrecken der «Merrimac» brechen wird. Nun ist die Flotte des Nordens imstande, alle wichtigen Punkte der Südküste zu besetzen, ja den Mississippi aufwärtszudampfen und die wichtige Stadt New Orleans zu nehmen. Der Baumwollhandel mit Europa schrumpft mit jedem Monat und hört schließlich vollständig auf.

Der vier Jahre dauernde Bürgerkrieg der Vereinigten Staaten hat eine vollständige Umwälzung des Seekrieges gebracht. Die stolzen hölzernen Kriegsschiffe waren wert- los geworden. Der Kampf zwischen der «Merrimac» des Südens und der «Monitor» des Nordens wurde in den Journalen von Fachleuten breitgeschlagen und in den Salons von Laien beredet. Man sprach bereits von gepan- zerten Flotten und pries diejenige Macht, welche zuerst einen Park eiserner Schiffe anschaffen würde, als die Beherrscherin der Welt. Am meisten Gewinn aus der neuen Erfindung zogen allerdings weder die Völker noch die Admiräle, sondern die Besitzer der Werften und der Rüstungsfabriken, unter denen ein Wettlauf um die Fer- tigstellung der neuen begehrten Waffe begann. Die ge- panzerten Schiffe erhielten eiserne Türme in der Mitte, aus welchen durch Luken die Kanonen feuern konnten.

6 Stickelbergor, Abraham Lincoln

Es ist hier nicht der Ort, die komplizierte Geschichte des Sezessionskrieges zu schreiben. Die Namen der Gene- räle tauchten auf beiden Seiten auf wie Kometen und verschwanden wieder. Die Andenkenfabrikanten haben jedesmal von einem Wechsel profitiert, und die Musik- gesellschaften übten unverdrossen jedesmal neue Märsche ein. Der Krieg, in seinen ersten Monaten von vielen ledig- lich als unschöne Störung empfunden, riß auf die Dauer Handel und Wandel, das Leben jeder Familie mit in sei- nen Strudel. Die Freiheit des Einzelnen wurde beschnit- ten: Dem Vaterland zuliebe durfte man weder schreiben noch sagen, was einem durch den Kopf ging. Streng ge- nommen, waren sogar gewisse Gedanken verboten. Wo sich friedliebende Menschen zusammenrotteten, trieb sie die Polizei auseinander und nahm die Rädelsführer ge- fangen. In den großen Städten des Ostens, vor allem in New York, gärte zuweilen die Volksstimmung bedenk- lich. Es gab Monate, in denen Lincoln der verhaßteste Mann schien und als Hetzer und Kriegstreiber angegrif- fen wurde.

Auch dieser Krieg säte Unordnung und Verbitterung, Haß und Jammer, Enttäuschung und Elend. Um ihn zu führen, brachte der Norden täglich zwei Millionen Dollar auf, in vier Jahren dreieinhalb Milliarden; eine für dama- lige Verhältnisse phantastische Summe. Sie wurde durch außerordentlich hohe direkte und indirekte Steuern auf- gebracht. Schon in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn gaben die Banken im Norden kein Gold mehr für Noten. Später setzte die Regierung die berüchtigten «Green- backs» in Umlauf, eine Art von Schatzscheinen ohne Dek- kung, auf denen sofort ein Aufgeld von 17, später von 64 Prozent erhoben wurde.

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Im Süden trieb man das Geld noch rücksichtsloser zu- sammen. Man lieh Riesensummen in England, Frankreich und Holland und interessierte so die europäischen Regie- rungen am glücklichen Ausgang des Ringens. Die engli- schen Minister ließen es zu, daß auf ihren Werften ge- panzerte Kaperschiffe für den Süden gebaut wurden. Napoleon, gewalttätig und habgierig, benützte den Bru- derkrieg, um sich in Mexiko festzusetzen. Er ließ 35 000 Mann in die Hauptstadt einmarschieren und bot Maxi- milian, dem Bruder des österreichischen Kaisers, Thron und Krone an.

Am schwersten für beide Teile der gespaltenen Union wogen die Verluste an Menschen. An einem einzigen Tage verloren etwa 80 000 Mann ihr Leben. Nach dama- liger Kriegskunst marschierten ungeheure Heere einander entgegen und bezogen ihre Stellungen. Man ritt Attacken, man feuerte in die Reihen des Gegners, und sehr oft mußte der Kampf unentschieden abgebrochen werden, weil die Verluste auf beiden Seiten unerträglich wurden.

Im April 1865 ergaben sich die Generäle der Südstaaten Lee und Johnston. Mit der Eroberung der Hauptstadt Richmond am 8. April war der Krieg zugunsten des Nor- dens entschieden. Was noch folgte, waren verzweifelte Geplänkel einzelner Truppenteile in den Bergen, in den Wäldern, in den Wüsten.

Nach der endgültigen Besiegung der Südstaaten ver- loren diese auch die wenigen Sympathien, die sie vorher im Kampfe ermuntert hatten. Man warf ihnen Grausam- keit in der Kriegführung und grenzenlosen Hochmut vor. Auch hielt man ihnen die verschiedenen Manifeste vor, mit denen sie die Sklavenhaltung verteidigt hatten. Sie waren einer unmoralischen Idee wegen in den Krieg ge-

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zogen und sollten nun büßen. Der härteste Friede mochte eben recht sein für sie!

Tatsächlich waren die Friedensbedingungen an sich nicht hart. Der siegreiche Norden zeigte sich sofort groß- zügig, schickte Hilfskräfte für den Wiederaufbau, und die Gutmeinenden traten dafür ein, den Bruderzwist mög- lichst rasch zu vergessen.

Dennoch spürte jeder einzelne im Süden die Nieder- lage mit erdrückender Schwere. Man hatte alles für den Krieg weggegeben in der trügerischen Hoffnung, es der- einst, nach dem erträumten Siege, zehnfach wieder er- stattet zu bekommen. Im letzten Kriegsjahr mußten alle Männer zwischen siebzehn und fünfzig Jahren Waffen- dienst leisten. Die Frauen taten sich zu freiwilligen Hilfs- diensten zusammen. Aus den spielerischen Anfängen zum Wohle der Soldaten war längst grimmiger Ernst gewor- den. Die Damen arbeiteten von frühmorgens bis zur Dun- kelheit im Schweiß ihres Angesichts auf den Feldern. Die Baumwollfarmen verwilderten; längst konnte kein Bal- len mehr ausgeführt werden, da die Blockade ringsum kein Schiff durchließ. Die Zeit der Heldenverehrung war vorbei; verbissen arbeitete jedermann um sein Stückchen Brot. Es kam vor, daß selbst die Neger unter die Waffen gesteckt wurden; man versprach ihnen goldene Berge, wenn sie tapfer gegen ihre Befreier kämpften!

Der Friede brachte dann nach der letzten übermensch- lichen Anspannung die Ernüchterung. Die Farmen lagen brach. Alle schlimmen Prophezeiungen, welche vor Be- ginn des Krieges ausgesprochen waren für den Fall, daß man nachgebe und die Sklaverei abschaffe, trafen nun ein, nur in viel schrecklicherem Maße. Die Neger waren frei und wußten oft nicht, was mit dem gewonnenen Leben

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anfangen. Viele blieben freiwillig auf den Farmen. An- dere rächten sich an ihren ehemaligen Unterdrückern und verübten Gewalttaten. Manche schlössen sich zu Banden zusammen, die stehlend, oft mordend durch die Länder zogen und im Vollgefühl darüber, daß der Krieg ihret- wegen ausgefochten und zu ihren Gunsten entschieden worden sei, die Ordnungstruppen vor schwere Aufgaben stellten. In ihrer Not gründeten einige verwegene weiße Wagehälse, welche die aristokratischen Ideale des Südens nicht aufgeben wollten, Geheimgesellschaften mit spuk- haften Riten, den Ku-Klux-Klan oder die «Ritterschaft von der weißen Kamelie». Hinter furchterregenden Mas- ken schreckten sie die Neger, verschworen sich aber gleichzeitig auch gegen alles neue Wesen, das aus dem Norden kam.

Im ganzen waren die ehemaligen Plantagenbesitzer zu armen Leuten geworden, die nicht wußten, wo sie Nah- rung und Kleidung hernehmen sollten. Auch drohte ihnen in den auf den Krieg folgenden Jahren eine be- drückende Rechtlosigkeit: Radikale Vertreter der Sieger arbeiteten sogar an einem Plan, der den freigelassenen ungeschulten Negern das Stimmrecht einräumen, es aber jenen Weißen, welche die Trennung von den Staaten be- fürwortet hatten, entziehen wollten. Sie hatten den Krieg verloren und brauchten für Mangel, Hunger und Demüti- gung nicht zu sorgen.

Doch damit haben wir unserer Lebensbeschreibung weit vorgegriffen!

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Erster Bürger seines Landes

In Kriegszeiten spricht jedermann von militärischen Siegen oder Niederlagen, und aller Augen sind auf die Pläne und Taten der Feldherren gerichtet. Doch mögen nun die Generäle der Nordstaaten im Sezessionskrieg heißen wie sie wollen, mögen ihre scharf geschnittenen Gesichter die Wände der staatlichen Kontore und die Porzellantassen in den Haushaltungen zieren: Erster Bür- ger seines Landes ist und bleibt Präsident Lincoln. Natür- lich schimpft man auch über ihn: dem einen greift er zu wenig rabiat durch, dem andern zeigt er sich dem Süden gegenüber zu wenig nachgiebig. Aber im Grunde liebt ihn doch jeder als den Vater des Vaterlandes. Seine ganze Kraft, Einsicht, Beredsamkeit und Klugheit stellt er dem Lande zur Verfügung; das geht ihm vielleicht leichter, weil er sich im engsten Familienkreise nicht recht wohl fühlt. Doch spricht er nicht darüber. Mit niemandem.

Sobald ihn jeweilen die Kunde eines ausgefochtenen Kampfes erreicht, läßt er die Staatsgeschäfte stehen oder liegen und begibt sich mit größter Eile zur Walstatt, handle es sich um Sieg oder Niederlage. In diesen Stunden muß er bei seinen Soldaten sein. Denn sie sind Bürger wie er. Man kennt in den Vereinigten Staaten diese Zweitei- lung der männlichen Einwohnerschaft nicht, wie sie in Preußen und anderwärts in Europa im Schwange steht; man trennt nicht zwischen «einem Militär» und «einem Zivilisten». Vor allem in Berlin und Potsdam, aber auch in Paris und Wien und Petersburg hegen die Offiziere eine grundlose, aber desto überheblichere Verachtung ge-

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gen alles, was keine Montur trägt. Mag einer ein hoch- gelehrter Professor, ein geschickter Kaufmann, ein begna- deter Künstler oder ein gewissenhafter Handwerker sein, von den Bauern, die dem steinigen Acker die Nahrung abringen, gar nicht zu reden: Alle gelten sie als Menschen zweiter Klasse, als weniger gedrillt, weniger diszipliniert, weniger pünktlich und weniger der Ehre wert. Back- fischen wäre zur Not eine solche Bevorzugung der ele- ganteren Uniformträger zuzubilligen; aber die gesamte Menschheit, die zur zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- hunderts den europäischen Raum bevölkert, scheint in dieser Hinsicht der Backfischmentalität verfallen zu sein. Wer nicht mittut, wird verdächtigt, auf jeden Fall nicht ernst genommen. Nach einem ungeschriebenen Gesetz stehen in den Kulturstaaten der Alten Welt Leuten in Uniform besondere Rechte zu; sie dürfen Dinge tun, die gewöhnlichen Sterblichen streng verboten sind: am hei- terhellen Tage faulenzen, um Geld spielen, Schulden machen, Mädchen verführen, Nachtlärm verursachen, alle diese Untaten auch im tiefen Frieden. Statt dem Be- sitze eines ruhigen Gewissens, welches den normalen Menschen als höchstes Gut erfreut, legen sie großes Ge- wicht auf die «Offiziersehre», die durch irgendeine kri- tische Bemerkung tödlich verletzt werden kann.

Diese Zweiteilung also ist in den Vereinigten Staaten unbekannt. Im Kriege haben die waffenfähigen Männer notgedrungen einzurücken und in den Kampf zu ziehen; doch bleiben sie gleichzeitig Gelehrte, Bürger und Bau- ern, Handwerker und Büffeljäger und warten auf keine liebere Stunde als auf das Ablegen der Uniform mit allen goldglitzernden und bunten Grad- und Rangabzeichen.

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Eine der Schlachten, in denen der Norden endlich das Uebergewicht erlangt, ist die von Gettysburg im Jahre 1863. General Lee, auf den die Südstaaten die größten Hoffnungen gesetzt hatten, wollte endlich den Weg nach Washington erzwängen. Hätte er dieses Ziel erreicht, hätte der Norden seine Hauptstadt preisgeben müssen, dann wäre die Entscheidung vielleicht um Jahre verzögert worden, vielleicht sogar anders ausgefallen.

Es wird einer jener Kämpfe ausgetragen, bei denen die Gegner ungefähr gleich stark zum Gefecht antreten, mit wachsender Erbitterung vorgehen und bei denen der ein- zelne Soldat keine Ahnung hat, ob seine Partei im Siegen oder im Fliehen begriffen ist. Heldenmutig und mit gezo- genem Säbel stürmen blutjunge Leutnants ins kämpfe- rische Gewühl; die Soldatenhaufen, ordentlich nach der vorher auf dem Papier eingezeichneten Gruppierung auf- marschiert, schießen in die feindlichen Linien. Artillerie, Infanterie, Kavallerie: alles hat seinen Platz, alles ist scheinbar leicht zu übersehen, nur der Ausgang der Schlacht nicht.

General Lee muß weichen; sein Rückzug wird zur Flucht; die Sieger des Nordens beherrschen das Feld. Höchste Zeit! Denn Gettysburg liegt bereits im Norden Washingtons; ein Sieg Lees hätte der Hauptstadt die Ein- kreisung, die Belagerung und wahrscheinlich die Erobe- rung gebracht.

Am Tage nach der Schlacht schon erscheint Lincoln. Er pflegt, wenn er auf Reisen geht, einen besonders für ihn gebauten Eisenbahnwagen zu benützen. Nicht, um damit Aufsehen zu erregen und Staat zu machen, sondern weil er hier ungestört arbeiten kann. Der Wagen birgt einen bequemen Schreibtisch, sogar ein Feldbett; der

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Oberbau ruht auf besonders weichen Federn, damit Lin- coln auch während der Fahrt zu schreiben vermag.

Die Sonne sticht man zählt den zweiten Juli mit unbarmherziger Hitze auf den gestrigen Kampfplatz. Der Präsident läßt den Zug auf freiem Felde halten; niemand erwartet ihn hier; das ist ihm eben recht. Man beschäftigt sich damit, die Verwundeten zu laben, sie zu lagern und zu verbinden. Jede Einheit weiß ungefähr, wo sie gestern im Kampfe stand, und findet unschwer ihre Kameraden. Aber wie zufällig das alles vor sich geht! Seltsam: Für den Kampf wird alles so genau vorbereitet; das Auf- räumen geschieht planlos, oft so rührend, oft so un- menschlich. Die verwundeten Feinde können doch nicht einfach dem siegreichen Gegner auf Gnade oder Ungnade überlassen werden! Lincoln kniet neben einem schwer- verletzten Soldaten des Südens nieder. Er winkt einer Pa- trouille, die, mit Feldflaschen und einer Tragbahre aus- gerüstet, an ihm vorübergeht. Die Krieger, müde vom gestrigen Tag und von der heutigen widrigen Arbeit, kennen den «ersten Bürger des Landes» nicht. Sie geben kurzen Bescheid. «Soll schauen, wie er weiterkommt», sagt einer, «wir suchen die Unseren». Diesem einen Ver- letzten geht es gut: er wird in den Staatszug gebracht und aufs Feldbett des Präsidenten gelegt. Aber die andern Sterbenden gehen jämmerlich zugrunde, wenn nicht ein Gegner Zeit und Mitleid für sie hat. Ein überstaatliches Abkommen sollte getroffen werden, geht ihm durch den Sinn, nach welchem jedem Verwundeten die beste ärzt- liche Hilfe zuteil werden muß, handle es sich um Freund oder Feind. Die allerselbstverständlichste Christenpflicht wäre das!

Endlich hat jemand den Präsidenten erkannt. In weni-

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gen Augenblicken ist General Meade zur Stelle, der Sieger des gestrigen Tages. Lincoln läßt sich von ihm den Gang der Schlacht erklären. Er läßt sich von ihm führen, horcht zu, sagt wenig. Er möchte nachher zu den Soldaten spre- chen; aber das Reden fällt ihm heute sauer. Es ist nicht leicht, von allen als erster Bürger angesehen zu werden; es ist schwer, immer das rechte Wort zu finden. Nach der Niederlage dringen die Worte eher leichter aus der Kehle: Da ermuntert man die Niedergeschlagenen, spricht ihnen neuen Mut zu, preist die gute Sache. Aber jetzt? Nur nicht von «Waffenehre» und vom «gerechten Entscheid des Schicksals» anfangen wie ein schlechter Feldprediger. Das vertragen die Soldaten nicht!

Er sucht zusammen mit dem General, dessen Pferd hin- ter ihm geführt wird, einen baumbestandenen Platz. Hier will er seine Ansprache halten; hier sollen nachher die Gefallenen beigesetzt werden. Freund und Feind in Reih und Glied. Er erklärt es nachher den Truppen: «Alle sind sie Kinder eines Gottes, und alle sind sie Söhne desselben freien Landes, deren Väter die Unabhängigkeit erkämpft haben. Streitet männlich und tapfer, damit der Bruder- zwist bald beseitigt wird und wir wieder Hand in Hand in die Zukunft gehen können. Kämpft mit Tapferkeit, aber ohne Haß.» Die Gedanken Lincolns bewegen sich in ähnlichen Bahnen wie diejenigen General Dufours im schweizerischen Sonderbundskrieg.

Einmal fragt jemand den Präsidenten, ob er sich als überzeugten Christen bekenne. Nach kurzer Besinnung antwortet er freimütig: «Früher war ich kein Christ. Aber seit meinem Besuch auf dem Schlachtfeld von Gettysburg

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bin ich einer. Damals habe ich zum erstenmal das innerste Bedürfnis empfunden, mich ganz dem Herrn über Leben und Tod anzuvertrauen.»

Man darf aus diesen Worten nicht schließen, Lincoln sei dem christlichen Glauben vorher gleichgültig oder gar feindlich gegenübergestanden. Seine Jugend war rauh; aber die Bibel hat man als das köstlichste aller Güter hoch geschätzt. Man lebte nicht sehr exakt nach ihr; aber man wußte in ihr Bescheid. Vor allem im Alten Testa- ment. Diese Ansiedler, die jedes Jahr ein wenig weiter nach Westen vordrangen, verglichen sich gern mit den Helden aus der biblischen Richterzeit, die vom heiligen Lande Besitz ergreifen mußten. Die Rothäute waren die Keniter, die man durch List und Gewalt und zur Ehre Gottes zurückdrängen mußte. Nur die Quäker dachten milder, und zu ihnen fühlte sich Lincoln seit jeher am meisten hingezogen.

Man wird ja in Amerika nicht in seine Kirche hinein- geboren, hineingetauft und hineinkonfirmiert wie in Europa. Auch gibt es keine Landeskirche. Sondern über- all bestehen verschiedene Gemeinden, die in friedlichem Wettstreit miteinander rivalisieren. Wer den besten Pfar- rer anstellt, hat gewonnenes Spiel. Der Präsident besucht in Washington jeden Sonntag einen Gottesdienst. Er legt sich aber nirgends fest; einmal geht er zu den Methodi- sten, die haben den zügigsten Prediger, dann zu den Bap- tisten, dort werden die gemütvollsten Lieder angestimmt; oft auch zu den Kongregationalisten oder zu den Presbyte- rianern, aber nicht so gern und nicht so oft; die einen tun ihm zu vornehm und die andern zu streitlustig in Glaubensdingen. Am liebsten gesellt er sich immer noch zu den Quäkern; dort liest irgendeiner aus der Bibel vor.

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und dann bittet man gemeinsam um die rechte Erleuch- tung. Und bei ihnen weiß man, daß der «Glaube, der nicht Werke hat, tot ist in sich selber». Man weiß das, aber man spricht nicht viel darüber. Man handelt.

Aufs genaueste ist der Alltag des Präsidenten eingeteilt. Er spart seine Kräfte; was andere tun können, verrichtet er nicht selbst. Einen guten Mittagstisch verachtet er nicht; doch ist er das Gegenteil eines Feinschmeckers. Wenn man ihn nach einem Bankett fragt, was er gegessen hätte, dann besinnt er sich einen Augenblick ernsthaft, um dann strahlend sich zu erinnern: «Braten!» Von der Art und besonderen Zubereitung dieses Bratens, von Suppen und Zutaten und Desserts, von all diesen Dingen, von denen andere, die es zu Geld und Ehren gebracht haben, Abende lang ihren Freunden erzählen können, weiß er nichts mehr. Er genießt das Gute, das man ihm vorsetzt, zieht aber über ein mißratenes Gericht kein saures Gesicht. Er staunt zuweilen über seine Minister, die, wenn ihnen im Gasthaus eine Speise nicht paßt, diese zurückweisen, wenn sie nach besserem Wein verlangen, kaum haben sie den ersten Schluck des aufgetragenen gekostet. Solche Wäh- lerei dünkt ihn fremd und verächtlich. Er selbst nimmt, wie die tüchtigen Gottesleute Simson und Johannes, weder «Wein noch starkes Getränk» zu sich. Da es eine eigent- liche Abstinenzbewegung in jener Zeit noch nicht gibt und der Wein auf der bürgerlichen Mittagstafel nirgends fehlen darf, so erregt diese Enthaltsamkeit ein gewisses Aufsehen. Und ein Biograph, der wenige Monate nach seinem Tode ein begeistertes Büchlein über ihn geschrie- ben hat und seine Tugenden, dem Leser fast zum Ueber-

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druß, nicht genug preisen kann, schüttelt bei der Erwäh- nung dieser einen sein Haupt und findet: «Uebrigens trank er keinen Wein, worin er vielleicht ein wenig zu weit ging.» Besser gefällt diesem Beurteiler seines Lebens- wandels, daß er «übrigens niemals Tabak rauchte, und wir denken wie er, daß es dem menschlichen Geschlechte weder einen physischen noch einen moralischen Gewinn brachte, als es sich in den orientalischen Rauch hüllte, ohne die Milliarden zu zählen, die er kostet».

Wie Monarchen, denen die Anhänglichkeit ihrer Lan- deskinder am Herzen liegt, so hat auch Lincoln seine «vertraulichen Audienzen» eingerichtet, bei welchen es grundsätzlich jedermann erlaubt ist, mit ihm ein persön- liches Wort zu reden. Das ist allerdings eine mühsame Sache, die viel Zeit und Kraft in Anspruch nimmt; aller- dings mehr körperliche als geistige Kraft. Denn den mei- sten Besuchern ist es lediglich darum zu tun, dem «ehr- lichen Abe», dem «Mann aus dem Volke» die Hand zu schütteln. Das «Hände-Schütteln» bedeutet dem Ameri- kaner eine Art feierlichen Aktes, mit welchem er mög- licherweise andeuten will, daß er sich von der Denkweise des englischen Mutterlandes energisch gelöst habe. Denn während man sich in England nur selten die Hand reicht und findet, das sei das Aeußerste an körperlicher Berüh- rung, was man sich gegen einen außerhalb des engsten Kreises stehenden Mitmenschen erlauben könne, ohne sich etwas zu vergeben, ergreift der Amerikaner zum Zei- chen herzlichen Einvernehmens nicht nur die Rechte des Zeitgenossen und schüttelt sie heftig auf und nieder, son- dern er haut ihm womöglich zum Gruß auch auf die Schul- ter. Ob Lincoln öfter unter solchen Achselhieben von begeisterten Verehrern zu leiden hat, entzieht sich unserer

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Kenntnis ; aber die täglichen Hunderte oder Tausende von Schüttelhänden bedeuten eine gewaltige körperliche Be- lastung sogar für den ehemaligen Holzflösser.

Doch nahen sich auch Menschen, die ihm ihre Not klagen möchten. Er empfängt Briefe, von Kinderhand geschrieben und mangelhaft, aber voll Zutrauen adres- siert, Briefe, in denen er angefleht wird, die kranke Mammy zu heilen oder zu Weihnachten eine Riesenpuppe zu verschaffen, mit der man sprechen kann wie mit einem richtigen Schwesterchen. Er hält sich einen eigenen Sekre- tär, einen Mann, der die Volksseele kennt, einen Kinder- freund, der alle diese Zuschriften gewissenhaft im Namen des Empfängers beantworten und die persönlichen Wün- sche im Rahmen des Möglichen erfüllen muß. Als eine begeisterte kleine Tierfreundin dem Präsidenten schreibt, sie möchte ihm mitteilen, daß sie Tierärztin zu werden gedenke, entgegnet ihr der freundliche Sekretär, der Prä- sident freue sich jetzt schon darauf, der künftigen Fach- gelehrten seinen freßunlustigen Pudel anvertrauen zu dürfen. Der Briefkopf zeigt sogar einen stolzen Löwen, eigens für die Empfängerin gezeichnet.

Die meisten Besucher des Präsidenten sind Männer. Das Reisen durch das stets wachsende Land ist immer noch mit ziemlichen Strapazen verbunden; die Frauen bleiben zu Hause. Aber zuweilen unternimmt doch eine Mrs. Smith oder Walker die weite kostspielige Fahrt, um dem Mann im Weißen Haus, der an Weisheit und Macht- befugnis an zweiter Stelle hinter dem lieben Gott kommt, ihre Not zu klagen. Es handelt sich in diesen schwierigen Jahren stets um die gleichen Nöte: Der Mann ist im Felde, und man brauchte ihn so dringend daheim! Er, der Präsi- dent, solle doch endlich den dummen Krieg aufhören

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oder wenigstens den Mann nach Hause lassen. Da fruch- ten staatspolitische Vorträge über die leidige Notwendig- keit des gegenwärtigen Krieges herzlich wenig! Die Far- mersfrauen hören voll Ehrerbietung zu und bewundern die Gründe, die sie aus höchstem Munde vernehmen. Alles das sagt ja die Zeitung in ihrem Städtchen auch! Aber, beginnen sie bescheiden, sobald der Präsident seine Er- klärung beendet hat, nun sei es wohl endlich Zeit, sich zu versöhnen, auch die Nachbarn und die Pfarrer und die Lehrer an ihrem Orte hätten genug von diesem ewigen Krieg, und wenn das nicht gehe, dann solle man wenig- stens ihrem Manne Urlaub geben. Auf einen mehr oder weniger käme es in diesem Riesenlande gewiß nicht an, und abgesehen davon sei ihr Jim oder John keine Helden- natur. Dagegen verwilderten die Kinder, und es werde schlecht angebaut auf der Farm, was ja schließlich dem Vaterland auch nichts nütze.

Nur in ganz seltenen Fällen schickt Lincoln diese Frauen wieder weg. Meistens sieht er lächelnd die Bittstellerin hat den Eindruck: durch sie hindurch zum Fenster hinaus. Dann versucht er der biederen Seele die zivile und militärische Gewaltentrennung klarzumachen und setzt sich nachher nicht selten hin, um dem betreffen- den Obersten eigenhändig ein Urlaubsgesuch für den Jimmy Smith oder Jonny Walker zu schreiben.

Eines Tages gewahrt man unter der Menge, die vor dem Weißen Hause wartet, einige Neger. Das ist ein ungewohnter Anblick. Die, welche den Schwarzen zu- nächst stehen, kämpfen mit ihren Gefühlen. Zwar führt man gegenwärtig einen Krieg für die Befreiung dieser Armen aus der Knechtschaft des Südens, zwar liest man mit Begeisterung und Rührung «Onkel Toms Hütte» und

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lehrt in den Schulen, daß vor Gott kein Ansehen der Per- son bestehe, ob deren Haut nun von weißer oder schwar- zer Farbe sei. Aber ob diese Leute einfach das Recht haben, mit den Staatsbürgern zusammen dem Präsidenten ihre Aufwartung zu machen und die Hand zu schütteln? Sie haben sich in feierlichen Staat geworfen und wirken in ihren schneeweißen Hemden und in den enganliegenden Hosen und fast zu elegant geschnittenen Gehröcken eher bemitleidenswert als gefährlich. Fragt sie jemand nach ihrem Begehr, dann verziehen sie ihren breiten Mund zu einem unwiderstehlichen Lachen und antworten ein- fach: «God bress Massa Linkum!», was mit «Gott segne Meister Lincoln» zu übersetzen ist. Auch als sie endlich auf Anweisung Lincolns zur Audienz vorgelassen werden, wiederholen sie einzeln und im Chor ihren kurzen neger- englischen Glückwunsch; dabei strahlen ihre gutmütigen Gesichter; sie nicken fröhlich zu ihrem Sprüchlein, als wollten sie den Präsidenten auffordern, auf dem ein- geschlagenen Wege zu ihrer Wohlfahrt weiterzugehen. Das Ereignis wird natürlich von den Zeitungen groß aufgezogen; sie wissen zu berichten, die gequälten Neger des Südens hätten eine ganze Abordnung geschickt, die Lincoln ihre unsäglichen Leiden geklagt und nachher einige ihrer traurig-enthusiastischen Hymnen angestimmt und dazu sogar getanzt hätten. Unnötige Uebertreibun- gen; sie haben in der nur zwei Minuten dauernden Audienz freundlich ein paarmal ihr «God bress Massa Linkum» wiederholt; der Präsident weiß aber genau, daß in diesen vier Worten eine sechsmillionenfache Hoff- nung liegt, die ihm das Sklavenvolk entgegenbringt.

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Krisen

Nicht die gleiche uneingeschränkte Beliebtheit, deren sich der Präsident bei Mrs. Smith oder Walker, bei den «Kindern der kleinen Leute» und bei den Negern er- freut, genießt er jedoch bei allen Amerikanern. So wenig er sich in der kongregationalistischen Kirche heimisch fühlt, so wenig anerkennen ihn die Leute, die zu dieser Gemeinde gehören, als den Vertreter ihres Wesens und Blutes. Wir nennen hier die Kongregationalisten nicht als Partei oder als Kirche, sondern als Sammelpunkt einer bestimmten Schicht in Washington, Boston oder Phila- delphia, mit welcher Lincoln vor seiner Wahl zum Präsi- denten kaum zusammengekommen ist. Der Westen ge- hört dem mutigen Pionier, dem Waghals, dem zähen Schaffer, welchem Schule, Bildung, Zeitung und Buch als überflüssige Dinge erscheinen. Hier im Osten aber gibt es Familien, denen Zivilisation nicht einfach gleichbedeu- tend ist mit dem Blockhaus des weißen Mannes im Unter- schied zum Wigwam der Rothaut, und die den techni- schen Fortschritt nicht unbedenklich mit Kultur verwech- seln. Diese Familien ihre Ahnen wanderten vor Jahr- hunderten aus England, Schottland oder Holland ein haben es nicht mehr nötig, Palisaden zu errichten und ihr nacktes Leben mit der Pistole zu verteidigen. Sie gehen nicht auf die Goldsuche und betreiben den Eisenbahnbau höchstens als Aktionäre. Ihr Dasein ist gesichert; sie haben von den Vorfahren ererbte, wohnliche Häuser; auch

7 Stickelberget, Abraham Lincoln

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studieren ihre Söhne auf den teuren Universitäten, und ihre Töchter bilden sich aus im Gesang und im klassischen Klavierspiel.

Diese Familien betrachten Lincoln als Eindringling in ihren Lebenskreis. Zwar sieht er es nicht darauf ab, etwa den wilden Mann zu spielen; er hat ja schon als Bub jedes erreichbare Buch heißhungrig verschlungen. Auch jetzt noch liest er gern, besonders Shakespeare. Oft wird er auch ins Theater mitgenommen; seine ehrgeizige und ge- fallsüchtige Frau setzt ihn jedesmal unter Druck, wenn ein Drama seines Lieblingsdichters gespielt wird. «Du mußt den Leuten zeigen, daß du davon etwas verstehst», sagt sie dann, und gutmütig geht er mit. Und während sich die «erste Dame des Landes», etwas zu auffallend an- gezogen, in ihrer Loge dreht und wendet und den Mini- stersgattinnen augenfällig zulächelt, während sie allge- meine Urteile über die Schauspieler, die sie in der Zeitung gelesen oder am Abend zuvor bei einer Einladung gehört hat, mit wichtiger Miene wiederholt, sitzt er, die ganze Umwelt vergessend, möglichst nahe an der Bühne, um mit neugierigen Augen das Geschehen zu verfolgen. Ob gut oder schlecht gespielt wird, ist ihm nebensächlich, die Folgerichtigkeit der Heldenschicksale ergreift Besitz von ihm. Er erkennt in jedem Schaustück aus Shakespeares Feder ein Gottesgericht. Bevor er das Theater besucht, liest er jeweils den Text laut durch, und es mag geschehen, daß er ihn nachher halblaut mitspricht, wenn die Schau- spieler agieren. Er läßt sich sogar dazu hinreißen, bei einer besonders leidenschaftlichen Stelle die Arme empor- zuschleudern. All diese Aeußerungen bleiben, da oft mehr Augen auf die Loge des Präsidenten als auf die Szene ge- richtet sind, nicht verborgen, und die kultivierteren Thea-

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terbesucher legen ihm seine Teilnahme am Bühnen- geschehen als hinterwäldlerische Primitivität aus. Er wird von seinen Kritikern als wunderlicher Kauz, als Böotier geschildert. Diese sehen ihr Urteil bestätigt, wenn er nach- her, wieder überschwatzt von seiner Gemahlin, im Kaf- feehaus gelangweilt sein Sodawasser trinkt, während die andern genießerisch ihre Schnäpse und Weine schlürfen. Er scheint ihren geistvollen Gesprächen über die eben vollendete Aufführung nicht folgen zu können; ihm sind auch die Namen der berühmtesten Schauspieler nicht ge- läufig. Dabei packt ihn das Theater einfach an einer andern Ecke seines Wesens: nicht als gesellschaftliches Ereignis, aber auch nicht als künstlerisches Erlebnis, son- dern mehr als tatsächlichen Ausschnitt aus Gottes so reichgestalteter Welt. Es gibt Menschen, die keinen rich- tigen Ton singen und die kein ganzes Konzert über ruhig sitzen können und die man deshalb für unmusikalisch hält. Gibt man ihnen aber eine achtstimmige Partitur in die Hand und läßt man sie unbeobachtet, so fangen sie begeistert an nach den Noten zu krähen, sie schlagen mit der Faust den Takt auf den Tisch und erleben das Werk viel stärker und innerlicher als die vielen, die sich ab und zu zur Ausgleichung ihrer Gefühlswelt einen Ohren- schmaus gegen bezahlte Eintrittskarten leisten. So etwa muß man sich Lincolns literarische Freuden vorstellen. So ist es auch mit seiner Stellung zur Kunst bestellt.

Mit bedeutenden Kunstwerken ist ja das Amerika sei- ner Tage nicht gesegnet. Doch kommt ab und zu immer- hin eine rechtschaffene Ausstellung zustande, zuweilen schwimmen sogar aus Paris, London oder Brüssel wahre Prachtswerke in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten, die man «gesehen haben muß». Lincoln vermag ungeniert

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und ungerührt an den berühmtesten Bildern vorüberzu- laufen, und wenn seine Gemahlin davor stehenbleiben will, weil alle andern sie auch eingehend betrachten und man nachher über seinen Eindruck befragt werden könnte, lacht er wie ein Faun. Dann aber geschieht es, daß er vor einer von den Sachverständigen als «unbedeutend» ta- xierten Malerei ganz verzückt stehenbleibt und so nah davor hintritt, daß man meinen könnte, er wolle sie be- riechen. Es ist stets die gleiche Art, die ihn anzieht: Bilder, auf denen recht viel zu sehen ist, Menschen oder Tiere oder Blumen oder Insekten. Ob es von einem mittelalter- lichen Mystiker, von einem niederländischen Realisten oder von einem Biedermeier stammt, schert ihn wenig. Aber er sucht nach Bildern des Lebens mit klaren Kon- turen; alles Verschleierte, Verschwommene und Bom- bastische ist ihm verhaßt. Dabei verlangt er gar nicht nach photographischer Genauigkeit des Abgebildeten; er liebt auch das Phantastische, das Ineinander-Komponierte; aber der Sinn muß klar und deutlich ersichtlich sein. Die, welche ihn belächeln, haben in diesem Stück recht: er ist ein Kind geblieben, das sich wohl über seine Bilderbücher freut, dem aber Gespräche über die Kunst Zeitverlust bedeuten.

So ergibt es sich fast von selbst, daß der Präsident und seine Frau in der guten Gesellschaft mit leisem Spott be- dacht werden. Man erzählt sich als neueste Scherze die uralten Geschichten, die jedem Staatsmann angedichtet werden, der sich zum Aerger einer wenig geistvollen Bür- gerschicht an hohe Stellen hinaufgearbeitet oder besser: hinaufgeschwungen hat. Jene Geschichten, die meistens ihren Höhepunkt darin finden, daß der Präsident beim Essen das Messer in den Mund nehme und daß er keine

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Fremdwörter verstehe. Denn es gehört nun einmal in Washington wie auch anderswo zum Merkmal der Bil- dung, daß einer gesittet ißt, möglichst viel Fremdwörter im Gespräche anbringt, zu jeder Einladung in der vorge- schriebenen Kleidung erscheint und auch beim langwei- ligsten Gespräch ein interessiertes Lächeln zur Schau trägt. Armer Lincoln! In all diesen Dingen ist er nicht auf der Höhe und gibt sich auch gar keine Mühe, sie zu er- reichen, zur Verzweiflung seiner Gemahlin, der einstigen Blume von Springfield, die sich ihrerseits zwar alle er- denkliche Mühe gibt, aber die Höhe erst recht nicht erreicht.

Reden kann er glänzend, wenn er will, und er versteht auch, in seiner witzigen und geistvollen Art ausgezeichnet in eine Debatte einzugreifen. Aber, wenn er einen Kreis von ernsthaften Leuten um sich gesammelt hat, die sich geschmeichelt fühlen, solch gescheite Dinge aus dem Munde ihres Präsidenten höchst persönlich hören zu dür- fen, dann unterbricht er sich plötzlich mit einem gänzlich unsalonfähigen Wort, sogar mit einem Fluch, den man dem frommen Manne niemals zugetraut hätte, oder er macht eine seiner so zynischen Bemerkungen, die den feineren Zeitgenossen schließlich wieder das Urteil ab- nötigen: «Er ist eben doch ungebildet!» Dinge, die der damaligen Generation als «tabu» gelten, das heißt, über die man höchstens unter vier Augen, aber niemals in «gu- ter Gesellschaft» sprechen darf, nennt er kühn beim Namen: von den Hintergründen eines Ehescheidungs- skandals redet er wie ein Viehzüchter, und als man ihm einst nahelegt, für ein Staatsbegräbnis eines schon zu Lebzeiten als unnahbar und vornehm bekannten Ministers ein feierlicheres Gewand anzulegen, verteidigt er seinen

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nachlässigen Anzug mit der Bemerkung, er möchte gerne den Verstorbenen zum Lachen bringen, beim Lebenden sei es ihm leider nie geglückt.

Es muß zugegeben werden, daß Lincoln nicht nur in dei Kleidung und im gesellschaftlichen Ausdruck nicht ganz Maß halten und finden kann. Er ist in einer Umgebung aufgewachsen, die kein anderes Maß kennt als den Hori- zont im Raum und den von Gott gesetzten Ablauf von Tagen, Monden und Jahren in der Zeit. Gegen die von Menschen aufgestellten Maße und Richtlinien hat er nichts einzuwenden und nimmt sie an, so gut es geht. Aber er wächst nicht in sie hinein. Sie bleiben ihm nicht nur lächerlich und nebensächlich, sondern auch fremd und beängstigend, im Kleinen wie im Großen.

Sein Witz und seine Schlagfertigkeit gehören zu seinen berühmtesten Eigenschaften. Aber die Kehrseite darf, will man sein Wesen nicht nur oberflächlich erfassen, nicht außer acht gelassen werden. Ein Zeitgenosse schreibt: «Eine fast übermenschliche Traurigkeit lagerte oft auf dieser Stirn, deren Runzeln bereits zu Furchen geworden waren. Ich erinnere mich, als wäre es gestern, einst den Präsidenten bei hereinbrechender Nacht angetroffen zu haben. Er verließ eben das Weiße Haus und wollte nach seiner Gewohnheit Neuigkeiten auf dem Kriegsministe- rium einholen. Niemand begleitete ihn, obwohl man ihn oft gebeten hatte, sich nicht auf diese Weise der Gefahr auszusetzen. In einen schottischen Mantel gehüllt, ging er langsam, in seine Träumereien versunken, einem gro- ßen Gespenst ähnlich, seines Weges. Ich war bestürzt über sein leidendes und nachdenkliches Aussehen. Seit vier Jahren hatte er keine ruhige Stunde gehabt. Als Sklave des amerikanischen Volkes war er verurteilt, in

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Washington zu bleiben, wenn jedermann sonst aus dem Staub und aus der Hitze der Stadt floh. Auf seinen Spa- ziergängen sah er die schönen Gehölze niedergerissen, da sie Schutzmauern und Schanzen hatten Platz machen müs- sen. In geringer Entfernung sah er einen Kirchhof mit zehntausend frischen Gräbern.»

Lincolns Landhaus liegt etwas vor der Stadt, am Hange eines grünen Hügels. Dort ist er zeitweise seines eigenen Lebens nicht sicher. Die Front läuft unweit vorbei, und einige Male schon haben feindliche Reiter Handstreiche in dieser Gegend verübt. Zum Ueberfluß behauptet das Gerücht, ein Farmer in der Nähe, der sich das Aussehen eines loyal gesinnten Biedermannes zulegt, stehe ins- geheim mit den Konföderierten im Bunde und gebe ihnen des Nachts Lichtsignale. Der Vorsicht halber nimmt die Polizei den verdächtigen Nachbarn des Präsidenten in Gewahrsam und verhört ihn. Man kann ihm aber nichts nachweisen, und auf Lincolns Befehl läßt man ihn wieder laufen.

Wenn der Präsident wenigstens daheim seine Sorgen vergessen könnte! Aber seine Frau Mary lebt ihr eigenes Leben. Und die Kinder? Es ist seltsam; aber er scheint mit ihnen auch nicht viel anfangen zu können. Die zeitgenössischen ausführlichen Lebensbeschreibungen, welche sonst jeden Zug seines Wesens aufs genaueste schildern, erwähnen lediglich, daß ihm der Tod eines Knäbleins sehr naheging. Für seine Kinder hat er wahrscheinlich zu wenig Zeit. Es wird eine tüchtige Erzieherin da sein, welche den Eltern die Sorgen um ihre Nachkommen abnimmt. Auf jeden Fall spielen sie in Abraham Lincolns Leben kaum eine Rolle. Er ist über die eigene Familie hinausgewachsen; Millionen von Soldaten

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und Bürgern fühlen sich als seine Kinder, für die er zu denken und zu arbeiten hat.

Am hingebungsvollsten verehren ihn die Neger. Sie nennen ihn noch lieber als «Massa Linkum» vertraulich und schutzbedürftig «Vater Abraham». Ihr Jubel kennt keine Grenzen, als er sie in einer Neujahrsbotschaft für 1863 als frei erklärt. Vorläufig läßt sich dieser Beschluß ja noch nicht durchführen; denn in den Südstaaten, für welche das Gesetz gedacht ist, gelten die Erlasse des rechtmäßigen Präsidenten null und nichts. Sie betrachten sich als eigene, unabhängige Staatsgemeinschaft und leh- nen den Ausdruck «Rebellen», mit dem man sie im Nor- den bezeichnet, wütend ab. Nein, befreit können die Skla- ven an diesem Neujahrstag wohl nicht werden. Aber sie vernehmen die Botschaft, und überall, wo sie in ihren dumpfen Hütten sich zusammenfinden, stimmen sie die feierlich-anspruchslose Hymne an, deren Gesang von den weißen Herren allerdings unter schrecklichen Strafandro- hungen verboten ist.

Sie lautet:

In eighteen hundred and sixty three my people must be free, it is the year of Jubilee; my people must be free!

Die Neger sollen nicht nur frei, sie sollen gleichberech- tigt sein. So gliedert sie Lincoln in die Armee und in die Flotte ein, zuerst nur als Arbeitssoldaten, bald nachher auch als Waffentragende. Nach wenigen Monaten er- reicht das schwarze Heer die Zahl von 200 000 Mann, und bei jeder Gelegenheit betont Lincoln, daß ein hauptsäch- liches Verdienst an den gewonnenen Schlachten ihnen

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zukäme. Eine Maßlosigkeit und Torheit begeht er aber dadurch, daß er in die Hauptstadt des endlich gebodigten Südens zuerst ein Negerregiment einreiten läßt. Das heißt: den todwunden, um Gnade flehenden Feind grau- sam verhöhnen! «Seht», raunt man sich zu, «so wird es nun in Zukunft gehen, so lange dieser Emporkömmling am Ruder sitzt! Schwarze Banden lassen sie auf uns los; sie wollen uns demütigen bis aufs Blut und gleichzeitig zum Brudermord zwingen! Seht den Heuchler Lincoln, der Reden hält über die gemeinsame Verpflichtung den Vorfahren gegenüber und uns die Schwarzen auf den Hals hetzt!»

Tatsächlich hegt aber der Präsident alles Verständnis für die äußerst schwierige Lage der Baumwollpflanzer, denen nun plötzlich ihre Arbeiter genommen sind. Er weiß, daß mit der Sklavenbefreiung das ganze wirtschaft- liche System auf den Kopf gestellt wird. Deshalb faßt er sofort nach der Kapitulation einen großzügigen Plan, um den Besiegten wieder aufzuhelfen: Es sollen 400 Mil- lionen Dollar für die enteigneten Sklavenbesitzer bereit- gestellt werden. Nicht als ob er hinterher so etwas wie einen staatlichen Loskauf der ehemaligen Leibeigenen durchführen wollte! Er betrachtet diese Summe als Grundlage zu einem neuen, sklavenlosen Wiederaufbau.

Aber der Kongreß, der im Krieg seinem Präsidenten jeweils beigepflichtet hat, wenn dieser betonte, daß man den Besiegten möglichst rasch und möglichst umfassend helfen müsse, um das ganze Land wieder hochzubringen, dieser Kongreß zeigt sich nun plötzlich, nachdem der Friede fast errungen ist, kleinlich, radikal und rachsüch- tig. Die Wut dem Süden gegenüber ist so stark, daß die Abgeordneten finden, es tue den Großhänsen da unten

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eigentlich ganz gut, wenn sie die Suppe auslöffeln müß- ten, die sie sich eingebrockt hätten. Der Präsident in sei- ner Enttäuschung weigert sich, den von der Kongreß- mehrheit aufgestellten schäbigen Wiederaufbauentwurf zu unterschreiben. Es besteht eine unangenehme Span- nung zwischen ihm und den Abgeordneten.

Die Enttäuschung der Einwohner Richmonds kommt ihm zu Ohren. Es gab ja so viele kriegsmüde Seelen, auch in der Hauptstadt des Südens. Man hatte sich dort alles so anders vorgestellt: zuerst einen frischfröhlichen Krieg, dem nachher ein wirtschaftlicher Aufschwung folgen könnte. Und als die Erbitterung gegen die eigene Regie- rung, die falsches Geld ausgab, Zwangsrequisitionen durchführte und die waffenfähigen Männer polizeilich aufspürte und zusammentrieb, als diese Erbitterung ihren Höhepunkt erreicht hatte, erwartete man plötzlich das Heil von den Feinden. «Sie sind doch fortschrittlicher als wir», hieß es im letzten Kriegsjahr, als alles schief ging. Man erzählte sich von den großartigen Hilfswerken für die verwundeten Soldaten. Zweihundertzwanzig Knegs- spitäler waren gebaut worden mit 134 000 Betten. Und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bewegte nicht nur den Präsidenten. Ohne daß ein Gesetz oder eine Ver- ordnung über die Behandlung der verwundeten Feinde herausgegeben worden wäre, wurden doch recht viele ge- hegt und gepflegt, als ob sie in den eigenen Reihen mit- gekämpft hätten. Der todwunde Soldat, den der Präsident höchstpersönlich bei Gettysburg auf sein fahrendes Feld- bett lagern half, bildete keine Ausnahme; allein nach je- ner Schlacht wurden etwa 7000 feindliche Soldaten auf

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dem Kampffeld zusammengesucht und in den Kranken- häusern des Nordens gepflegt. Die Gerüchte von solcher Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft drangen über die Grenzen der «Rebellenstaaten». Und das Haupt all dieser guten Regungen war Lincoln. «Wenn doch der Friede endlich käme», dachte man in Richmond, «wenn die aus dem Norden einmarschieren würden; schlimmer als so könnte es uns nicht mehr gehen!» Und als der Friede kam und nur noch ein paar fanatische Bataillone in den Bergen weiterkämpften, lief die ganze Bevölkerung den Truppen Lincolns entgegen, mit Fähnchen der Union, in den Sonn- tagskleidern. Statt der erwarteten Männer aus New York und Philadelphia marschierte aber das Negerregiment da- her. Niemand schwenkte sein Fähnchen. Man verkroch sich in die Häuser. Man ballte die Faust und gründete Widerstandsvereine. «So zeigt man also seine Großmut, wenn man Lincoln heißt!»

Der Präsident reist sofort selbst nach Richmond. Dies- mal bedient er sich nicht seines Eisenbahnwagens. Ein kleines Kriegsboot setzt ihn am Ufer des James-River an Land. Den letzten Teil des Weges legt er zu Fuß zurück, etwa zwei Kilometer auf staubiger, heißer Straße. Zehn Matrosen bilden seine Wache. Ein freigelassener Neger dient ihm als Wegweiser; der hüpft und tanzt vor Freude, weil er der Auserwählte ist, welcher «Vater Abraham» in die gefallene Hauptstadt führen darf. Feierliche Emp- fänge hat er abgelehnt. Er wünscht weder ein klingendes Spiel noch einen Paradewagen; den Ruhm überläßt er den Generälen. Mehr als alle öffentlichen Ehrungen bedeutet ihm die Anhänglichkeit des schwarzen Völkleins, das ihm auf der Straße nachläuft, wo es ihn erkennt. Es küßt ihm die Hände, es fällt vor ihm auf die Knie, es betet ihn an.

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«Vater Abraham ist gekommen, uns aus dem Hause der Knechtschaft zu erlösen!» Er ahnt, daß er hier mit dem biblischen Erzvater verwechselt wird. Für diese be- drückten Menschenkinder ist ein kaum erhofftes Wunder endlich Wirklichkeit geworden.

Desto unwillkommener weiß er sich bei der weißen Be- völkerung. Erwartet ihn wohl ein Chaos? Sind in Rich- mond Plünderungen und Ausschreitungen vorgekom- men? Keineswegs! Erleichtert seufzt er auf: Gottlob, man hat ihm die Dinge zu schwarz berichtet! Die Neger hal- ten gute Disziplin. Er spricht zu ihrem versammelten Re- giment, ermahnt sie, nicht persönliche Rache für ihre Stammesgenossen an den weißen Einwohnern zu nehmen. Sie versprechen ihm im Chor, sich gut betragen zu wollen; das ganze Regiment strahlt und gelobt: «Yes, Massa Lin- kum!» Aber das Mißverständnis ist geschehen; die Ehre der Weißen ist furchtbar gekränkt.

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Der letzte Tag

Lincoln ist zum zweitenmal zum Präsidenten gewählt worden. Eine solche Wahl wirft ihre Schatten voraus. Die längsten Schatten fielen auf das Land in einem Augen- blick, in dem es aufs schwerste um seine Zukunft rang. Wenn Armeen geschlagen werden, haben nicht nur die Feldherren abzutreten; auch die Sessel der bürgerlichen Oberhäupter pflegen zu wanken. Lincolns persönliche und politische Feinde im Norden haben ihm einen sehr fähigen zweiten Kandidaten entgegengestellt: McClellan, den erfolgreichen General. Aber, so sehr dessen Aussich- ten in den Monaten der militärischen Rückschritte gestie- gen waren, so ungünstig schienen sie wieder am Tage der endgültigen Abstimmung. Denn sie fiel in die Zeit der Siege, Lincolns Siege. McClellan blieb um eine knappe halbe Million hinter Lincoln zurück, und nur drei Staaten, nämlich New Jersey, Kentucky und Delaware wünschten «mitten im Kampf das Pferd zu wechseln» und gaben McClellan den Vorzug.

Lincoln tritt seine neue Amtsdauer mit zuversichtliche- ren Hoffnungen an als die erste. Der Ausgang des Krie- ges ist entschieden. Gewiß: die Baumwollfelder im Süden liegen brach, die Einwohner in den Städten hungern. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie ehemals wohl- habende Bürger mit Kesseln und Säcken auf die Nah- rungssuche gehen. Alte Damen, deren Hände sich früher mit keiner andern Arbeit als mit einer feinen Stickerei beschäftigt haben mögen, ziehen Handkarren, auf denen

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sie irgendein eßbares Gemüse heimbringen. Gewiß, die Negerfrage ist noch lange nicht gelöst. Man wird die Schwarzen schulen müssen. Nach Jahrhunderte dauernder Knechtschaft ist kein Volk und keine Rasse imstande, ihr Geschick selbst in die Hände zu nehmen. Lincoln findet es nicht so absonderlich, daß manche Neger in Banden sich zusammengeschlossen haben und nun auf eigene Faust weiter Krieg spielen. Und daß sie an andern Orten faulenzen und finden, man müsse ihnen die gebratenen Tauben zutreiben; sie hätten es lange genug schlecht ge- habt und wünschten nun auch einmal zu feiern. Daß sie tagelang und nächtelang wilde Tanzfeste veranstalten, bei denen ihre raschen Instrumente zu immer tolleren Sprüngen sie anfeuern. Gewiß, Fabriken und Mühlen stehen still, und in den Häfen werden die Schiffsladungen nicht gelöscht. Gewiß, das gute Geld hat seinen Wert ver- loren. Jedermann will höheren Lohn, weil die Preise steigen. Und wer hohen Lohn erhält, kauft zusammen, was irgendwo angeboten wird, und dadurch gilt das Geld noch weniger und die Ware noch mehr. Gewiß, die radi- kalen Republikaner durchkreuzen seine Friedensanstren- gungen wo und wie sie können. Sie putschen die Neger auf, sie demütigen die Einsichtigen aus dem Süden.

Dennoch : das Land wird wieder auf die Höhe kommen. Wie oft hat er als Junge neu anfangen müssen. Wie oft hat sein Vater auf einem wüsten Stück Land haltgemacht und gesagt: So, hier wohnen wir nun für die nächste Zeit. Und siehe da: das Land war urbar geworden. Man wohnte gern darauf. Mit Dornen und Disteln hat der Mensch sein Leben lang zu kämpfen; das ist der Fluch Gottes über seine unfolgsamen Geschöpfe. Und im Schweiße seines Angesichts muß er sein Brot essen. Aber

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er darf doch essen. Und darf sich doch den Schweiß von der Stirn wischen, seinen Acker beschauen, auf den Gott ihn gestellt hat, und er darf zufrieden mit seinem Werk sein. Und am Schlüsse, bevor er wieder zur Erde wird, von der er genommen ist, darf er müde und glücklich sprechen: Und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.

Nun ist Lincoln ja noch lange nicht siebenzig oder gar achtzig Jahre alt. Nach menschlichem Ermessen hat er noch einige Jahrzehnte zu leben. Er wird seine vier Prä- sidentenjahre schon durchstehen. Und dann mag ein Mc- Clellan oder sonst ein tüchtiger Nachfolger die Vereinig- ten Staaten aus seiner Hand empfangen als ein genesenes, als ein gesundes Land mit fleißigen und zufriedenen Bür- gern, weißen und schwarzen, die einander vertragen und sich in ihrer Art ergänzen.

Von solchen Plänen und Vorsätzen zeugt seine «zweite Inaugurationsrede», welche er zu Beginn der neuen Amts- periode zu halten verpflichtet ist. Sein langjähriger Freund Karl Schurz, ein deutscher Demokrat, der nach den fehlgeschlagenen Revolutionen in Baden im Jahre 1849 auswandern mußte und in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat gefunden hat, der sogar im Sezessions- krieg die Generalswürde erlangt hat und leidenschaftlich an der politischen Entwicklung teilnimmt, dieser Karl Schurz schreibt: «Lincolns Rede, die er den Soldaten bei Gettysburg hielt, ist viel und mit Recht bewundert wor- den. Aber viel größer, erhabener und für seinen Charakter bezeichnender war jene Inaugurationsrede, in welcher er die volle Hingabe und die nachsichtige Milde seiner gro- ßen Seele offenbarte. Diese Rede hatte die ganze Feier- lichkeit der letzten Ermahnung und des letzten Segens,

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die ein Vater vom Totenbette an seine Kinder richtet. Sie schloß mit den Worten: , Lassen Sie uns versuchen, die unserem Volke geschlagenen Wunden zu heilen, für die- jenigen zu sorgen, die unter Schrecken und Not der Schlachten gelitten haben, und ihrer Witwen und Waisen gedenken kurz, lassen Sie uns versuchen, alles zu tun, was einen gerechten und dauernden Frieden unter uns und mit allen andern Völkern herbeiführen und sichern kann!' Kein Präsident hatte je solche Worte an das amerikanische Volk gerichtet.»

Und er selbst? Oh, wenn man ihn fragt, dann ist er nicht verlegen, was er nach achtjähriger Präsidentschaft tun wird, also im Jahre 1869: dann zieht er sich bestimmt von allen Staatsgeschäften zurück und baut sich ein klei- nes, angenehmes Blockhaus irgendwo in Kalifornien oder am großen Salzsee oder in den Rockys. Irgendwo unter dem blauen Himmel und an einem noch nicht durch allzu viele Dämme und Schleusen gequälten Gewässer. Bücher wird er mitnehmen, seinen geliebten Shakespeare natür- lich und den alten Milton, aber auch viele andere, die er zu seinem Bedauern erst vom Hörensagen kennt. Und Menschen? Am liebsten seinen alten treuen Neger, dem er einst auf dem Mississippi das Leben gerettet. Der würde ihm rechtschaffen kochen, ihm die Wünsche von den Augen ablesen und nicht über schlecht duftende Blüten des menschlichen Kulturackers mit ihm quatschen wollen. Ach ja, richtig, heute abend muß er ins Theater! Lady Lincoln besteht darauf.

Man zählt den 14. April; Karfreitag. Man ist nicht zur Kirche gegangen; das Theater wird spielen. Man lebt eben in einem puritanischen Lande, in welchem der ein- zige Feiertag der Sonntag ist. Ihn heiligt man streng.

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Denn am siebenten Tag ruhte Gott von seinen Werken, und auch der Mensch soll den siebenten Tag heiligen. Aber keine Feiertage zwischenhinein! Auch nicht Weih- nachten oder Karfreitag. Das wäre schlimm, sagen sich die Puritaner, wenn man nur an einem einzigen Tag im Jahre an des Jesuskindes Geburt oder an des Gottes- knechtes Tod am Kreuz denken wollte. Jeder Tag sei seiner Menschwerdung, seinem Tod und seiner Auferste- hung geweiht.

Die Gedanken über seine Zukunft hat Lincoln an die- sem Nachmittag seinen Ministern entwickelt. Eigentlich hatte er sie zu einer Sitzung bestellt, zusammen mit dem Held des Tages, General Grant. Denn stündlich wird die letzte Kapitulation einer auf eigene Faust kämpfenden Südarmee erwartet. Aber man ist in zu gehobener Stim- mung für geschäftliche Dinge; man plaudert zwanglos. Der Präsident erzählt einen Traum, der ihn in der letz- ten Nacht beschäftigt habe: ein schnell segelndes Schiff. Und, was weiter? wollen die Herren wissen. Weiter? Nichts, sagt der Präsident; es fuhr wie der Blitz. Die Herren lachen: ein etwas magerer Traum; wenig geeignet zur Deutung!

Nachher spricht man von den Heerführern der Kon- föderierten, von Lee und Johnson. Schade, sagt der Prä- sident, so tüchtige Leute! Man hätte sie für eine bessere Sache gewinnen sollen als für die der Sklavenhalter. Aber nun ist Friede; eine lichtere Zeit bricht an.

«Er ist ein unverwüstlicher Optimist», denken die Her- ren, «noch hat sich der Pulverdampf nicht verzogen, und schon sieht er nur den hellen Sonnenschein.»

Dann begibt er sich in seine Wohnung und kleidet sich in den ihm so ärgerlichen Theaterfrack. Er wird unwirsch

8 Stickelberger, Abraham Lincoln 11^

über seine eigene Ungeschicklichkeit; ob es ihm wohl in vier Jahren endlich gelingen wird, den Hut richtig auf- zusetzen? Es scheint leichter, einen Krieg zu gewinnen und den Frieden anzukurbeln, als die Halsbinde korrekt zu knüpfen. Wenigstens behauptet das seine Frau, die ihn ständig mit säuerlichen Vorwürfen bedenkt.

Uebrigens liegt es nicht im Ermessen von uns Nach- geborenen, zu behaupten, Lincoln hätte den Frieden ge- meistert, wenn er am Leben geblieben wäre. Die Schwie- rigkeiten hätten sich auch für ihn berghoch aufgetürmt. Politiker, die unmittelbar nach einem siegreichen Krieg aus voller Wirksamkeit durch den Tod gerissen werden, hinterlassen wohl im Augenblick eine besonders klaf- fende Lücke. Aber die Nachwelt preist ihr Andenken höher, als wenn sie ihre Kräfte in den zermürbenden Nachkriegsjahren aufbrauchen müssen und schließlich vielleicht, am Ende ihrer Möglichkeiten, aber nicht am vorgesteckten Ziel, den Neidern und Gegnern das Feld räumen müssen. Lincolns Schicksal hat in dieser Hin- sicht Aehnlichkeit mit demjenigen Roosevelts; nur kam dessen Tod immerhin nicht mit gleicher Plötzlichkeit.

Es gibt letzte Aussprüche von großen Persönlichkeiten, welche zu geflügelten Worten in der Weltgeschichte geworden sind. «Mehr Licht», soll Goethe ausgerufen haben; aber die Erzählung verschweigt meistens, daß er damit bitten wollte, die Fensterläden aufzustoßen. Aus Lincolns letzten Sätzen läßt sich keine Symbolik ertifteln, wie man sie auch liest und versteht. Es ist also wohl in Ordnung, wenn man, wie Karl Schurz, die letzte öffent- liche Rede als des Präsidenten Vermächtnis an die Nach- welt betrachtet. Seiner ganzen unfeierlichen Art jedoch entspricht es eher, wenn man feststellt, daß er ohne pathe-

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tische Gebärde, und ohne die Seinen auf ein Testament zu verpflichten, von seinem Arbeitsplatz weggetreten und in die große Ruhe eingegangen ist.

Bevor Lincoln also das Haus verläßt, wünscht ihn ein Besucher zu sprechen. Der Präsident nimmt in der Hast irgendein Stück Papier und kritzelt, seine Knie als Unter- lage, darauf: «Mister Ashmun und sein Freund sollen morgen um neun Uhr empfangen werden. A. Lincoln.»

Herr Ashmun ist nicht empfangen worden; aber er hatte ein wertvolles Autogramm in Händen: Lincolns letzte Worte.

Denn noch am selben Abend, kurz nach zehn, ist der Präsident in seiner Loge erschossen worden. Der Schau- spieler John Wilkes Booth trat durch die Kulissen, schrie auf lateinisch in den Saal: «So soll es den Tyrannen er- gehen!» und knallte mit seiner Pistole Abraham Lincoln nieder. Er hatte so die Niederlage des Südens rächen wollen. Aber er schuf damit einen Helden, den das ganze amerikanische Volk in den Nord- und in den Südstaaten bis auf den heutigen Tag als einen seiner mutigsten, un- erschrockensten, ehrlichsten Söhne verehrt und liebt. In seinem Charakter spiegelt sich die Seele des Nordameri- kaners besser als in allen technischen Errungenschaften, Büchern und Filmen, die uns gegenwärtig in so über- reichem Maße von den Vereinigten Staaten und ihren Menschen berichten möchten.

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ZEITTAFEL

1809 12. Februar Abraham Lincoln in einem Blockhaus in Ken- tucky geboren 1829 Fahrt als Holzflößer nach New Orleans

1831 Uebernahme eines kleinen Handelsgeschäftes in New Salem

1832 Hauptmann gegen die Indianer

1 834 Abgeordneter der gesetzgebenden Versammlung von Illinois 1837 Advokat in Springfield

3. März Manifest gegen die Sklaverei 1842 Heirat mit Mary Todd 1846 Wahl ins Repräsentantenhaus 1852 Beecher-Stowes Buch «Onkel Toms Hütte» 1854 Kansas-Nebraska-Akte

Redekampf Lincoln-Douglas 1856 Kandidat für die Vize-Präsidentschaft 1859/60 Vortragsreisen durch die neu-englischen Staaten

1860 18. Mai Republikanischer Kandidat für die Präsidentschaft 6. November Wahl zum Präsidenten derVereinigten Staaten

20. Dezember Absage der Südstaaten an die Nordstaaten

1861 12. April Angriff der Konföderierten auf die Festung Sum- pter; Beginn des «Sezessionskrieges»

21. Juli Niederlage der Nordstaaten am Bell Run Sommer Erste gepanzerte Kriegsschiffe

1862 Zwangsaushebungen in den Südstaaten

25. Juni I.Juli Unentschiedene «Siebentageschlacht» vor Richmond

22. September Alle Sklaven für frei erklärt

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1863 2. Juli Sieg der Nordstaaten bei Gettysburg; Rede Lincolns auf dem Schlachtfeld

1864 6. Februar General Grant Oberbefehlshaber der Nord- staaten

Sommer Militärische Rückschläge für den Norden; politi- sche Schwierigkeiten Lincolns; Wiederwahl steht in Frage 8. November Lincoln zum zweiten Mal als Präsident ge- wählt

1865 4. März «Zweite Inaugurationsrede»

März'April Kapitulationen der konföderierten Armeen

4. April Einzug Lincolns in Richmond

14. April Lincoln wird im Theater ermordet

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Verlag Friedrich Reinhardt AG., Basel

Rudolf E. Stickelberger Der schiefergraue Engel

Das Leben der Quäkerin Elisabeth Fry 4. Auflage. Leinenband Fr. 7.

Elisabeth Fry (sprich: Frei), 1780 1845, ist bekannt als die größte Bahnbrecherin auf dem Gebiete der Gefängnisreform und der Gefan- genenfürsorge. Sie war die Tochter eines hochfahrenden englischen Guts- besitzers, verlor mit zwölf Jahren ihre Mutter, fiel aber als Kind schon aus ihrer Rolle, weil sie mit den Leibeigenen ihres Vaters menschlich mitfühlte. Sie hieß die Schiefergraue, weil sie in spätem Jahren die graue «Mäusetracht» der Quäker trug. Nach einem kurzen Liebesidyll mit einem französischen Marquis, der als Emigrant in England weilte, heiratete sie einen Quäker, der als Kaufmann in London lebte und dem sie neun Kinder schenkte. Wie sie sich um das Schicksal der Armen kümmerte, während ihr Leben in ihrer Ehe nicht besonders glücklich zu nennen war, ist ergreifend. Sie sollte aber auf einem andern Gebiete als dem der Armenfürsorge ihre Lebensaufgabe finden. Wie und warum sie zum erstenmal ins Gefängnis kam, und wie aus diesem ersten Besuch der Anfang eines großen Reformwerkes entstand, ist ebenso schlicht wie ergreifend dargestellt. Der Verfasser hat zu seiner Biographie die Tagebücher Elisabeth Frys benützt, und daraus ist ein Lebensbild ge- worden, das wohl zu dem Besten zählt, was auf diesem Gebiete über- haupt erschienen ist. Ihr Wesen und ihr Werk schließen sich wie eine kostbare Blüte langsam auf und entfalten ihre ganze Größe und Schön- heit. Und die Frucht wächst daraus ganz selbstverständlich und ohne jedes eigene Dazutun. Evangelische Volkszeitung.

Verlag Friedrich Reinhardt AG., Basel

J. F. Cabrieres Booker Washington

Vom Negersklaven zum Erzieher seines Volkes

Mit 40 Bildern und einer Karte. 278 Seiten. 2. Auflage Leinenband Fr. 7.

Das Buch ist zunächst als Biographie wertvoll. Dieser Booker Washing- ton (1858 1915), der sich vom armen Sklavenbüblein zum auch von den Weißen geachteten Negerführer emporarbeitete, ist eine liebenswürdige Gestalt. Er behielt auch auf der Höhe seines Ruhmes etwas Bescheidenes, Menschliches. Aber über das Biographische hinaus hat das Buch für uns heute seine besondere Aktualität. Wir sind von den Problemen des Wie- deraufbaus bedrängt und verfolgen darum mit Interesse, wie dieser Neger eines der allerschwierigsten Probleme, die Negerfrage in Amerika, ange- packt und zu einem guten Teil gelöst hat. Das Geheimnis seines Erfolges lag in seiner Bereitschaft zum selbstlosen Dienen. Er opferte die Aus- sicht auf eine einträgliche Advokatenlaufbahn dem Dienst an seinem Volk. Diese restlose Hingabe machte ihn frei von aller Bitterkeit gegen die Weißen, die doch seinem Volk so viel Böses angetan hatten, und ge- wann ihm nicht nur die Herzen der Neger, sondern auch ihrer ehemaligen Unterdrücker. Er kämpfte ja nicht für die einen gegen die andern, son- dern für das friedliche Zusammenleben beider Rassen, zu dem jede ihren Beitrag leisten sollte. Die Kraft zu dem erstaunlichen Erziehungswerk, das allerdings sein Leben rasch aufzehrte, gewann er aus seinem christ- lichen Glauben. Er hat regelmäßig seine Bibel gelesen. So ist er uns ein Wegweiser zum soliden Aufbau. Der ist nur dort möglich, wo Menschen nicht um Interessen kämpfen, seien es ihre persönlichen oder die ihres Standes, ihres Volkes, ihrer Rasse, sondern wo sie durch ihren eigenen Dienst auch die andern zur Freiheit wahren Dienens erziehen. Die Er- kenntnis und die Kraft zu diesem Dienst gibt der Glaube an den Einen, der durch seinen Dienst uns alle erlöst hat.

Kirchenblatt für die ref. Schweiz.

Verlag Friedrich Reinhardt AG., Basel

Henry M. Stanley Mein Leben

Selbstbiographie

387 Seiten mit Bildern und Karte Auflage über 20 000. Leinenband Fr. 5.50

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mW Südstaaten ( Konföderierte)

^ Ungefährer Geburtsort Lincolns

- 1 Sog - 1 81 (> Wanderunf der Familie Lincoln nach, Westen

trw Seeknmpf ' zwischen «Merrimac» und '«Monitor»

X Qettyshrf (Schlicht und Rede)

Beliebte Lebensbilder

Der Verlag Friedrich Reinhardt in Basel gibt

eine Reihe Lebensbilder von Frauen und Männern

heraus, die ihren Mitmenschen im besten Sinne

des Wortes gedient haben.

Vor

Rudolf Stickelberger Der schiefergraue Engel

Das Leben der Quäkerin Elisabeth Fry 4. Auflage. Leinen Fr. 7.

Jean Francois Cabrieres Booker Washington

i Negersklaven zum Erzieher seines Volkes Mit vielen Bildern und einer Karte 2. Auflage. Leinen Fr. 7.

Henry M. Stanley Mein Leben

Von ihm selbst erzählt

Mit vielen Bildern und einer Karte

Volksausgabe. 20.- 25. Tausend. Leinen Fr. 5.50

Norman P. Grubb Karl T. Studd

Ein Bote Gottes in aller Welt 6.-8. Tausend. Leinen Fr. 7.50

Josef Reinbart Heinrich Pestalozzi

Ein Lebensbild. Jubiläumsausgabe 10.-13. Tausend. Leinen Fr. 8.50

Nikiaus Bolt Wege und Begegnungen

Ein Buch der Erinnerung 12.-14. Tausend. Leinen Fr. 9.80

Alfred Stucki Johann Friedrich Oberlin

der Vater des Steintals 3. Auflage. Leinen Fr. 5.50

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