. . y * ern armen ve: . En > MRS nenne wi E 1 ern - j 2° en > : : rer wann i re Ste te nr ge or > Baer SL ira ee De Fe re s WR wreieegen ejwerrn vr. gr Tee are Korerienert pg: res A een ie erereei er wre ae Ztr N a 40 070 ra REN A Ne 3 = 08S0TO0 ToOEDO 0 TIL IOHM/IaIN DIE KULTUR DER GEGENWART IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE HERAUSGEGEBEN VON PROF. PAUL HINNEBERG In 4 Teilen. Lex.-8. Jeder Teil in inhaltlich vollständig in sich abgeschlossenen und einzeln käuflichen Bänden (Abteilungen). Geheftet und in Leinwand ge- bunden. In Halbfranz gebunden jeder Band M. 2.— mehr. Die „Kultur der Gegenwart“ soll eine systematisch aufgebaute, geschichtlich be- gründete Gesamtdarstellung unserer heutigen Kultur darbieten, indem sie die Fundamen- talergebnisse der einzelnen Kulturgebiete nach ihrer Bedeutung für die gesamte Kultur der Gegenwart und für deren Weiterentwicklung in großen Zügen zur Darstellung bringt. Das Werk vereinigt eineZahl erster Namen aus allenGebieten derWissenschaft und Praxis und bietet Darstellungen der einzeinen Gebiete jeweils aus der Feder des dazu Berufensten in gemeinverständlicher, künstlerisch gewählterSprache auf knappstem Raume. Seine Majestät der Kaiser hat die Widmung des Werkes Allergnädigst anzunehmen geruht. Prospekthefte werden den Interessenten unentgeltlich vom Verlag B.G. Teubner in Leipzig, Poststr. 3, zugesandt. I. Teil. Die geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete. ı. Hälfte. Religion und Philosophie, Literatur, Musik und Kunst (mit vorangehender Einleitung zu dem Gesamtwerk). [14 Bände.] (* erschienen.) *Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der | *Die griechische und lateinische Literatur und Gegenwart. (I, 1.) 2. Aufl. [XIV u. 716 S.] 1912. Sprache. (I, 8.) 3. Auflage. [VIIlu. 582 S.] 1912. M. 18.—, M. 20.— M. 12.—, M. 14.— Die Aufgaben und Methoden der Geistes- | «Die osteuropäischen Literaturen und die wissenschaften. (I, 2.) j slawischen Sprachen. (I, 9.) [VII u. 396 S.] *Die Religionen des Orients und die altgerman. 1908. M. ıo.—, M. 12.— er 3 ee Die deutsche Literatur und Sprache. (I, 10.) Die Religionen des klassisch. Altertums. (I, 3, 2.) *Die romanischen Literaturen und Sprachen. *Geschichte der christlichen Religion. MitEin- | Mit Einschluß des Keltischen. (I, ız, ı.) [VIIIu. leitg.: Dieisraelitisch-jüdischeReligion. (I, 4, r.) 4995.] 1908. M.ı2.—, M. 14.— 2.Aufl. [X u.7925.] 1909. M.18.—, M. 20.— Englische Literatur und Sprache, skandina- *Systematische christliche Religion. (I, 4, 2) | vische Literatur und allgemeine Literatur- 2., Aufl. [VOII u. 279 S.] 1909. M. 6.60, M. 8.— wissenschaft. (sur 2.) *Allgemeine Geschichte der Philosophie. (I, 5.) . i I 2. Auflage. [X u. 620 S.] 1913. M. 14.—, M. 16.— Die MueiE 22 *Systematische Philosophie. (I, 6.) 2. Auflage. Die orientalische Kunst. Die europäische [X u.435 S.] 1908. M. 10.—, M. 12. — | Kunst des Altertums. (I, 13.) *Die orientalischen Literaturen. (I, 7.) [IX u.419S.] Die europäische Kunst des Mittelalters und der 1906. M. ıo.—, M. 12.— Neuzeit. Allgemeine Kunstwissenschaft. (I, 14.) II. Teil. Die geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete. 2. Hälfte. Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft. [10 Bände.] (* erschienen.) Völker-, Länder- und Staatenkunde. (II, ı.) | System der Staats- und Gesellschaftswissen- *Allg. Verfassungs- u. Verwaltungsgeschichte. schaften. (1176. e 2 4 (I, 2,1.) [VII u. 373 S.] ıgır. M.ıo.—, M.ı2.— | Allgemeine Rechtsgeschichte mit Geschichte Staat und Gesellschaft des Orients von den An- u EOCDinWIESEnEr na = N fängen bis zur Gegenwart. (II, 3.) Erscheint ıgıy. | *Systematische Rechtswissenschaft. (II, 3.) *Staatund Gesellschaft der Griechen u. Römer. 2. Aufl. 1913. M. 14.—, M. 16.— (U, 4,1.) [VIu.280S.] ıgro. M.83.—, M. 10.— Allgemeine Wirtschaftsgeschichte mit Ge- Staat und Gesellschaft Europas im Altertum schichte der Volkswirtschaftslehre. (II, 9.) und Mittelalter. (II, 4, 2.) *Allgemeine Volkswirtschaftslehre. (II, 10, ı.) *Staat u. Gesellschaft d. neueren Zeit (b.z. Franz. | 2-Aufl. 1913. M.7.—, M. 9.— Revolution). (II, 5,r.) [VIu. 349 S.] 1908. M.9.—, M.ıı.— Spezielle Volkswirtschaftslehre. (II, ıo, 2.) Staat und Gesellschaft der neuesten Zeit (vom System der Staats- und Gemeindewirtschafts- Beginn der Französischen Revolution). (II, 5, 2.) lehre (Finanzwissenschaft). (II, 10, 3.) III. Teil. Die mathematischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Kulturgebiete. [19 Bände.] (* erscheinen: J, ı. III, 2. IV, 2. IV, 4; + unter der Presse: I, 2. III, r. III, 3. IV, ı. VII, r.) *J. Abt. Die math.Wissenschaften. (1 Band.) Abteilungsleiter und Bandredakteur: F. Klein. Be- arbeitet von P. Stäckel, H. E. Timerding, A. Voß, H.G.Zeuthen. 5 Lieferungen. Lex.-8. I. Lfg (Zeuthen). UVu.955.] 1912. Geh.M.3.— +IILLfg (Voß und Timerding.) II. Abt. Die Vorgeschichte der modernen Naturwissenschaften u.d. Medizin. (1 Band.) Bandredakteure: J.Ilberg und K.Sudhoff. Bearb.von F. Boll, S.Günther, I.L. Heiberg, M.Hoefler, J. Ilberg, E.Seidel, H. Stadler, K. Sudhoff, E. Wiedemann u.a. III. Abt. Anorgan. Naturwissenschaften. Abteilungsleiter: E. Lecher. tBand ı. Physik. Bandredakteur: E.Warburg. Bearb. von F. Auerbach, F. Braun, E. Dorn, A. Einstein, J. Elster, F.Exner, R. Gans, E.Gehrcke, H.Geitel, E.Gum- lich, F. Hasenöhrl, F. Henning, L. Holborn, W. Jäger, W. Kaufmann, E.Lecher, H. A. Lorentz, OÖ. Lummer, St. Meyer, M. Planck, O, Reichenheim, F, Richarz, H. Rubens, E.v.Schweidler, H. Starke, W. Voigt, E. Warburg, E.Wiechert, M. Wien, W. Wien, O, Wiener, P. Zeeman. *Band 2. Chemie. Bandredakteur: E. v. Meyer. Allgemeine Kristallographie und Mineralogie. Bandred.: Fr. Rinne. Bearb. von K. Engler, H. Immen- dorf, +0. Kellner, A.Kossel, M.Le Blanc, R.Luther, E.v. Meyer, W. Nernst, Fr. Rinne, O. Wallach, O. N. Witt, L. Wöhler. Mit Abbildg. [IV u.6635.] 1913. M 13.—, MM 20.— tBand 3. Astronomie. Bandredakteur: J. Hartmann. Bearbeitet von L. Ambronn, F. Boll, A. v. Flotow, F.K.Ginzel, K.Graff, J. Hartmann, J. v. Hepperger, H.Kobold, E. Pringsheim, F. W. Ristenpart. Band 4. Geonomie. Bandredakteure: + I,B. Messer- schmitt und H. Benndorf. Mit einer Einleitung von F. R. Helmert. Bearbeitet von H. Benndorf, +G.H. Darwin, O. Eggert, S. Finsterwalder, E. Kohlschütter, H. Mache, A. Nippoldt u. a. Band 5. Geologie (einschließlich Petrographie). Bandredakteur: A. Rothpletz. Bearbeitet von A.Ber- geat, E.v.Koken, J. Königsberger, A. Rothpletz. Band 6. Physiogeographie. Bandredakteur: E. Brückner. ı. Hälfte: Allgemeine Physiogeographie. Bearbeitet von E. Brückner, S. Finsterwalder, J. von Hann, +0.Krümmel, A. Merz, E. Oberhummer u.a. 2. Hälfte: Spezielle Physiogeographie. Bearbeitet von E. Brückner, W. M. Davis u.a. IV. Abt. Organische Naturwissenschaften. Abteilungsleiter: R. von Wettstein. tBand ı. Allgemeine Biologie. Bandredakteure: C. Chun und W.L. Johannsen. Bearbeitet von E. Baur, P. Claußen, A, Fischel, E. Godlewski, W. L. Johannsen, E. Laqueur, B. Lidforss, W. Ostwald, O.Porsch, H.Przibram, E. Rädl, W.Roux, W.Schleip, H. Spemann, O. zur Straßen, R. von Wettstein. *Band 2. Zellen- und Gewebelehre, Morphologie u. Entwicklungsgeschichte. ı1.Botanischer Teil. Bandred.: +E.Strasburger. Bearb. von W. Benecke und +E. Strasburger. Mit Abb. [VII, 340 S.] 1913. M 10.—, tl 12.—. 2. Zoologischer Teil. Bandred.: O. Hertwig. Bearb. von E. Gaupp, K. Heider, O.Hert- wig, R. Hertwig, F.Keibel, H.Poll. Mit Abb. [VIII, 395 S.] 1913. A 16.—, M 18.— Band 3. Physiologie u. Ökologie. I. Botan. Teil. Bandredakteur: G. Haberlandt. IT. Zoolog. Teil. Bandredakteur: M.Rubner. Bearbeitet v.E. Baur, Fr. „Czapek, H. von Guttenberg u.a. Band 4. Abstammungslehre, Systematik, Paläon- tologie, Biogeographie. Bandredakteure: R. Hertwig und R.v.Wettstein. Bearbeitet von O. Abel, I.E. V. Boas, A. Brauer, A. Engler, K.Heider, R. Hert- wig, W. J. Jongmans, L. Plate, R.v. Wettstein. Mit Abb. V.Abt. Anthropologie einschl.naturwissen- schaftl. Ethnographie. (1 Bd.) Bandredakteur: G.Schwalbe. Bearb. von E. Fischer, R. F. Graebner, M. Hoernes, Th. Mollison, A. Ploetz, G. Schwalbe. VI. Abt. Die medizin. Wissenschaften. Abteilungsleiter: Fr. von Müller. Band ı. Die Geschichte der modernen Medizin, Bandredakteur: K.Sudhoff. Bearb. von M. Neuburger, K.Sudhoff u.a. Die Lehre von den Krankheiten, Bandredakteur: W.His. Mitarbeiter noch unbestimmt. Band 2. Die medizin. Spezialfächer. Bandredakt.: Fr.v.Müller. Zunächst bearbeitet von K. Bonhoeffer, A.Czerny, R.E.Gaupp, K.v. Hess, W,v. Leube, L. Lichtheim, H.H. Meyer, O. Minkowski, L.A.Neisser. Band 3. Beziehungen d. MedizinzumVolkswohl, Bandredakteur: M.v.Gruber. Mitarb. noch unbestimmt. VNH.Abt. Naturphilosophie u. Psychologie. +Bandr. Naturphilosophie. Bandredakteur: C.Stumpf. Bearbeitet von E. Becher. Band 2. Psychologie. Bandredakteur: C. Stumpf. Bearbeitet von C. L. Morgan und C. Stumpf. VOII. Abt. Organisation derForschung.u.des Unterrichts. (1 Band.) Bandredakteur: A.Gutzmer. IV. Teil. Die technischen Kulturgebiete. [16 Bände.] Abteilungsleiter: W. von Dyck und O, Kammerer. (* erschienen: Band 12; + unter der Presse: Band 2.) t+Band ı. Vorgeschichte der Technik. Band- redakteur und Bearbeiter: C, Matschoß. Band 2. Verwertung der Naturkräfte zur Gewin- nung mechanischerEnergie. Umwandlung und Verteilung der Energie. Bandredakteur: M. Schröter. Bearbeitet von H. Bunte, R. Escher, K. v. Linde, W. Lynen, Fr. Schäfer, R. Schöttler, M. Schröter, A. Schwaiger. Band 3. Bergbau. Bandredakteur: W. Bornhardt, Bearbeitet von H. E. Böker, G. Franke, Fr. Herbst M. Krahmann, M. Reuß, O. Stegemann. Band 4. Hüttenwesen. Bandredakteur und Mit- arbeiter noch unbestimmt. Band 5. Landwirtschaft. In 3 Teilbänden. I. Wirt- schaftslehre. II. Pflanzenproduktionslehre, III. Tier- produktionslehre. Bandredakteur: K. v. Rümker. Band 6. Forstwirtschaft. Bandredakteure und Bearbeiter: R.Beck und H. Martin. Band 7. Mechanische Technologie. Bandredak- teure: E. Pfuhl und A. Wallichs. Bearbeitet von P. v. Denffer, Fr. Hülle, O. Johannsen, E. Pfuhl, M. Rudeloff, A, Wallichs. Band 8. Chemische Technologie. Bandredakteur: B. Neumann. Mitarbeiter noch unbestimmt. ’ Band 9. Siedelungen. Bandredakteure: W. Franz und C. Hocheder. Bearbeitet von H. E. von Berlepsch- Valendas, W. Bertsch, K. Diestel, M. Dülfer, Th. Fischer, H. Grässel, C. Hocheder, R. Rehlen, R. Schachner, H. v. Schmidt, R.L. A. Weyrauch u.a. Band ıo und ır. Verkehrswesen. Bandredakteur: O. Kammerer. Mitarbeiter noch unbestimmt. *Band ı2. Technik des Kriegswesens. Band- redakteur: M.Schwarte. Bearbeitet von K. Becker, O.v.Eberhard, L. Glatzel, A. Kersting, O. Kretschmer, O. Poppenberg, J.Schroeter, M.Schwarte, W. Schwin- ning. Mit Abb. [X, 886S.] 1913. M 24.—, M 26.— Band ı3. Die technischen Mittel des geistigen Verkehrs. Bandredakteur: A. Miethe. Bearbeitet von E. Goldberg, A. Miethe u. a. Band 14. Die technischen Mittel der Beobach- tung und Messung. Bandredakteur: A. Miethe, Mitarbeiter noch unbestimmt. Band ı5. Entwicklungslinien der Technik im ıg9. Jahrh. Organisation der Forschung. Unter- richt. Bandred.: W.v.Dyck. Mitarb.noch unbestimmt. Band 16. Die Stellung d. Technik zu den anderen Kulturgebieten. Iu.II. Bandredakteur: W.v.Dyck. Bearbeitet von Fr. Gottl. von Ottlilienfeld, H. Herkner, C. Hocheder u.a. DIE KULTUR DER GEGENWARZ IIRESENTWICKEUNG UND’ IHREZZIEPRE HERAUSGEGEBEN VON PAUL HINNEBERG DRITTER TEIL MATHEMATIK - NATURWISSENSCHAFTEN MEDIZIN VIERTE ABTEILUNG ORGANISCHEZNATURWISSENSCHAFTEN UNTER LEITUNG VON R.v.WETTSTEIN VIERTER BAND ABSTAMMUNGSLEHRE - SYSTEMATIK PALÄONTOLOGIE - BIOGEOGRAPHIE UNTER REDAKTION VON R.HERTWIG UND R.v.WETTSTEIN & DRUCK UND VERLAG VON B.G.TEUBNER : LEIPZIG : BERLIN. 1914 ABSTAMMUNGSLEHRE - SYSTEMATIK PALAONTOLOGIE: BIOGEOGRAPHIE UNTER REDAKTION VON R. HERTWIG UND R. v. WETTSTEIN BEARBEITET VON R. HERTWIG . L. PLATE . R.v.WETTSTEIN - A. BRAUER A. ENGLER - O. ABEL . W.]. JONGMANS . K. HEIDER J. E.V. BOAS MIT ıı2 ABBILDUNGEN IM TEXT & DRUCK UND VERLAG VON B.G.TEUBNER . LEIPZIG-BERLIN. 1914 COPYRIGHT ı913 BY B.G.TEUBNER IN LEIPZIG ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN VORWORT. Wie der erste der vier der Biologie gewidmeten Bände der Kultur der Gegenwart sich mit grundlegendenVorstellungen befaßt, welche beim Studium der Lebensvorgänge gewonnen wurden und nunmehr eine Voraussetzung für das Verständnis der letzteren bilden, so hat auch der vierte Band sich mit Fragen allgemeineren Inhalts zu beschäftigen. An die Spitze des Bandes wurde eine zusammenhängende Darstellung der Abstammungslehre gestellt, weil sie die bedeutsamste Theorie ist, welche jemals auf dem Gebiet der Biologie Geltung gewonnen hat. Dieselbe steht auch in besonders engen Beziehungen zu den Ergebnissen der vergleichen- den Anatomie und Entwicklungsgeschichte, die in den vorausgegangenen Bänden abgehandelt wurden. Andererseits hat sie den Disziplinen, welche den Hauptteil des vorliegenden Bandes ausmachen, der Systematik, Bio- geographie und Paläontologie, welche lange Zeit vorwiegend als Hilfswissen- schaften betrieben wurden, neue eigene und bedeutsame Ziele der Forschung gesetzt. Die Systematik hat eine doppelte Aufgabe. Sie bringt die verwandt- schaftlichen Beziehungen, welche zwischen den einzelnen Tier- und Pflanzen- formen bestehen und durch vergleichend anatomische, morphologische und entwicklungsgeschichtliche Forschungen festgestellt worden sind, zum kurzen Ausdruck. Hieran reiht sich die weitere Aufgabe, die Bestimmung der Arten zu ermöglichen und ihre Zugehörigkeit zu den großen Hauptgruppen des Tier- und Pflanzenreichs festzustellen, indem die unterscheidenden Merkmale in kurzen Diagnosen hervorgehoben werden. Bei der Darstellung dieses Forschungsgebietes kann ein zusammenfassendes Werk, wie es die Kultur der Gegenwart ist, selbstverständlich nicht auf Einzelheiten eingehen, son- dern muß sich darauf beschränken, die großen Grundzüge der Einteilung: zu geben und die Prinzipien des systematischen Verfahrens zu erläutern. Da letztere für Zoologie und Botanik die gleichen sind, ist es nicht zweckmäßig, in der Weise, wie es im zweiten Band für die Morphologie geschehen ist, eine völlig getrennte Besprechung von Zoologie und Botanik durchzuführen. Ähnliches gilt für die zwei folgenden Kapitel, welche sich mit der räumlichen und zeitlichen Verbreitung der Organismen beschäftigen und die Gebiete der Biogeographie und Paläontologie umfassen. Auch hier war es möglich, mit einer für beide Reiche geltenden, die allgemeinen Prinzipien darstellenden Einleitung zu beginnen und an dieselbe die getrennte Dar- stellung der wichtigsten Resultate, zu denen Zoologie und Botanik gelangt sind, anzuschließen. v1 Vorwort Den Abschluß des Bandes bildet die spezielle Abstammungsgeschichte des Tier- und Pflanzenreichs. In den beiden sie behandelnden Kapiteln soll der Versuch gemacht werden, den Leser über die wichtigsten Vor- stellungen zu orientieren, zu denen die Biologie auf Grund ihrer gesamten Forschungsergebnisse bezüglich der allmählichen Entwicklung der Orga- nismenwelt gelangt ist. Entsprechend den für das gesamte Werk aufgestellten Grundsätzen wurde auch bei der Redaktion des vorliegenden Bandes besonderer Wert darauf gelegt, für die Darstellung der einzelnen Gebiete Forscher zu ge- winnen, welche sich mit denselben eingehender befaßt haben. Jedem der Herren Bearbeiter mußte im Rahmen des von ihm übernommenen Kapitels volle Freiheit in der Vertretung seiner Auffassungen gewahrt bleiben. Da- bei ließen sich Ungleichheiten in der gesamten Art der Darstellung und Verschiedenheiten in der Beurteilung einzelner Fragen nicht vermeiden, um so weniger, alsin bezug auf manche in diesem Band zur Sprache kom- mende Probleme die Meinungen der Forscher nicht ganz übereinstimmen; vielleicht wird für sie sogar niemals eine allseitig befriedigende Lösung zu finden sein. Gerade dieser individuelle Charakter der verschiedenen Kapitel bfetet aber auch wieder den Vorteil, daß er den Leser mit der Vielgestaltig- keit der wissenschaftlichen Forschung bekannt macht. Die Notwendigkeit, nur das Wichtigste hervorzuheben und von der Be- handlung der Einzelnheiten, auf welche sich die Anschauungen stützen, abzusehen, machte gerade bei Bearbeitung dieses Bandes eine knappe Fassung nötig. Um trotzdem eine eingehende Orientierung zu erleichtern, wurde den Literatur-Zusammenstellungen ein größerer Raum zugewiesen. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Verlagsanstalt, die Herren Dr. C. Thesing und Dr. A. Günthart haben sich auch um das Zustande- kommen des vorliegenden Bandes die größten Verdienste erworben. Es sei ihnen hierfür an dieser Stelle der beste Dank abgestattet. München und Wien, im Oktober 1913. R. HERTWIG, R.v. WETTSTEIN. INIISEISVERZEICHN]S>S: DIE ABSTAMMUNGSLEHRE. Von RICHARD HERTWIG. Einleitung Tab)er Ares II. Die verschiedenen Formen ae artabiheit III. Über die Ursachen der Artbildung a) Lamarckismus . b) Darwins Sdekumsishe c) Migrationstheorie und Onhosenens i d) Einfluß der Bastardierung auf die KRHakR ker IV. Phylogenie des Tier- und Pflanzenreiches . Literatur PRINZIPIEN DER SYSTEMATIK MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DES SYSTEMS DER TIERE. VON L.-BEATE, I. Aufgaben und Bedeutung der Systematik . i II. Diagnostische Merkmale, Nomenklaturregeln und Kategorien es Syalams i III. Künstliches und natürliches, praktisches und wissenschaftliches System . IV. Stammbäume und phylogenetische Beurteilung der systematischen Kategorien V. Qualität der systematischen Kategorien; sind sie real oder abstrakt VI. Definitionen der Art VII. Gliederung des Artbegriffes . > VIII. Übersicht der Unterkategorien des Artbegriffes. IX. Ternäre und quaternäre Nomenklatur; Phylogenie und Nomenklatur ! X, Verschiedenheit der diagnostischen Merkmale der Arten und Untergattungen . XI. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Literatur DAS SYSTEM DER PFLANZEN. Von R. v. WETTSTEIN. Aufgaben des Systems Geschichte der Systematik Derzeitiger Stand Probleme der Zukunft . Literatur BIOGEOGRAPHIE. Von A. BRAUER. Aufgaben der Biogeographie e Die Verbreitungsmittel der Organismen Die Schranken für die Verbreitung Für die Erklärung der Verbreitung ichüge Faktoren Marine Biogeographie . Literatur VnDI Inhaltsverzeichnis PFLANZENGEOGRAPHIE. Von A. ENGLER. A. Geschichte der Pflanzengeographie i I. Wichtigkeit der Pflanzengeographie und erste Aufäre abe II. Die Entwicklung der floristischen Pflanzengeographie und deren Na III. Die Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie und deren Aufgaben IV. Die entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie und deren Aufgaben . B. Die wichtigsten Grundzüge der Pflanzengeographie I. Die Areale der Pflanzen . II. Pflanzengeographische Faktoren II. Pflanzengeographische Formationen . IV. Übersicht der Florenreiche und Fiorengebiete der de TIERGEOGRAPHIE. Von A. BRAUER. Aufgaben der en Die Landfauna . Notogaea 2. Neogaea . 3. Arctogaea Die Meeresfauna Literatur PALÄONTOLOGIE UND PALÄOZOOLOGIE. Von O.ABEL. I. Geschichte und Entwicklung der Paläontologie . Die fossilen Tiere im Volksglauben und in den Sagen . Die Periode der Phantasten . Die Bahnbrecher der modernen Pakientulegie E Die Entwicklung der einzelnen Zweige der a : . Der Ausbau der Paläontologie zu einer Stütze der Abstimaumesleher . Die Aufgaben und Ziele der Paläontologie II. Die Paläozoologie ı. Das Quellenmaterial ie: . Die Entdeckung der Fossilreste : . Die gewerbsmäßige Ausbeutung von een a . Wissenschaftliche Sammelexpeditionen . Die Anlage paläontologischer Samnflungen . Die wissenschaftliche Bearbeitung fossiler Tierreste Der Einfluß der Paläontologie auf die Systematik . . Die Popularisierung der Paläozoologie . . Literatur ons Yy ED TS) vooaon awn # N PALÄOBOTANIK. Von W. J. JONGMANS. I. Einleitung Il. Die Flora der era Seuloseieen Born III. Zusammenfassung IV. Literatur Seite 187 187 190 194 205 219 219 222 246 254 303 303 32 318 327 349 358 364 364 367 373 377 380 388 391 395 396 404 435 437 Inhaltsverzeichnis IX PHYLOGENIE DER PFLANZEN. Von R. v. WETTSTEIN. Seite Entwicklung der phylogenetischen Forschung . . » » : 2 0 2 2 2 0 0..2020..439 Phylasenierder Khallophyten N. am. eu, en nee nn 0 442 Piwlosenierder Kormophyten . ... . le neu nn ann anne nee ae AA near Re Re Re SEN sr 4717) PHYLOGENIE DER WIRBELLOSEN. Von K. HEIDER. I. Ableitung der Metazoen von einer Flagellatenkolonie . .» 2 2. 2 2.202...453 II. Über die Archigastrula re a IlI. Die Frage nach der genetischen Eisheitlichkeit Re engere 0103 IV. Die spezielle Phylogenie der Cölenteraten . . 464 V. Die Frage nach der Herleitung und der alien Eher a een stammesern 2: ee Be ER Ra REN a ne 10 © VI. Die Entstehung der Paare ynmıstzie Be ea Re ro ierenIrochophoratlieoriem Hi. la en ee ee Versen ra ANZO NVIIEIRheoriendess Mesodermsen a 182 Don Uesprunsader Metamerier. ur lee ee en ee ee Se Phylogenie.der Arthropoden. \... .. = li ker ms ca de nenbele, ale ere var SA9R Bis hvlosenier der, Mollusken: u. u „0 2. 020 20 ne, Also ea el eg XU. Phylogenie der Deuterostomia . . . en he. lakel ner at, PR ER ENIDT BRUNS Enylogenie der,Echinodermen .. ul. eu nt ee ee XIıV- Ehylogenie der Chordaten . .. . Se Ne Se rs eu 20 TITEL at UT a ee ee ae Be fen I 1, 9 er PHYLOGENIE DER WIRBELTIERE. Von ]J. E. V. BOAS. Einleitung . . 8 EP En SER N yo Te 30 I. Ableitung der ae von niederen Boren DE Ewa a La, IND hIouse ee an EEE RN STE TZA Da evelostpmenstes a ee ee a2 1, Salate "oe SEE EEE re NZ Ganoıdenasse, re ee ee ee ee ee NVeinochennscheus Mi MIeEungennscheg sn ne. Fe 545 VL „Aspire er ee IX. Reptilie a FR Re Er ER EEE er NE re Re LS; NEE ee ee PB A EEE SE: BABES äupetieren a er a ee au er, Ne et cn an er AZ Fee ee N a EN BR 6; NAMEN- UND SACHREGISTER. VONKESINNGHENN 2 2. 2 ken ana a Fi 2041006 K.d.G. II. IV, Bd. 4 Abstammungslehre etc. a* DIE ABSTAMMUNGSLEHRE. Von RICHARD HERTWICG. Im Lauf des verflossenen Jahrhunderts haben die biologischen Wissen- Einleitung. schaften, wie aus den vorausgegangenen Bänden dieses Werks zur Genüge zu ersehen ist, eine gewaltige Umgestaltung erfahren. Die lange Zeit über rein be- schreibenden Naturwissenschaften, welche diesen aus früheren Zeiten stammen- den Namen auch jetzt noch vielfach führen, entwickelten sich zu Wissenschaf- ten, welche auf dem Weg der Vergleichung die Gesetzmäßigkeiten in den Er- scheinungen der belebten Natur festzustellen und zu begreifen und im weiteren Verlauf sie mittels des Experiments und exakter Methodik ursächlich zu er- klären versuchten. Die Biologie hat somit einen gleichen fortschreitenden Ent- wicklungsgang genommen, wie die exakten Wissenschaften, nur daß der Fort- schritt jüngeren Datums und demgemäß auch die erreichte Stufe kausaler Erklärung eine niedrigere ist. Ein ganz bedeutender Anteil, wir können sogar sagen, der bedeutendste an dieser Förderung, kommt der Abstammungslehre zu, welche dank der Genialität Darwins nach den vorausgegangenen vergeb- lichen Bemühungen von Lamarck, Geoffroy St. Hilaire, Goethe u.a. sich das Gebiet der Biologie erobert und zugleich das Interesse für biologische Probleme in die weitesten Kreise hinausgetragen hat. Dabei trat die biolo- gische Forschung vermöge der Folgerungen, welche aus der Abstammungslehre gezogen wurden, mit anderen Wissensgebieten in engste Fühlung und gewann Einfluß auf die wichtigsten sozialen und ethischen Fragen, welche die mensch- liche Gesellschaft bewegen. So ist es denn begreiflich, wenn ein das Geistes- leben der Neuzeit behandelndes Werk sich nicht der Aufgabe entziehen kann, ein Bild von dem derzeitigen Stand der Abstammungslehre zu geben und zu- gleich darzulegen, welche gewaltige Bedeutung der Deszendenzgedanke nach wie vor für Systematik und Tiergeographie sowie für das morphologische Ver- ständnis der ausgestorbenen und lebenden Tier- und Pflanzenwelt besitzt. Der Lösung dieser Aufgabe ist der 4. Band des die Biologie behandelnden Abschnitts der Kultur der Gegenwart gewidmet. Derselbe steht naturgemäß im engsten Zusammenhang mit dem Inhalt der vorausgegangenen Bände, indem er auf dem in ihm enthaltenen Tatsachenmaterial fußt, so daß es öfters notwendig sein wird, auf dasselbe zu verweisen. Die Abstammungslehre der Organismen ist ein uraltes Problem, dessen Lösung, besonders soweit sie sich auf den Menschen bezieht, lange Zeit über nur in Zusammenhang mit den religiösen Vorstellungen der Völker versucht worden K.d.G.II.ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. I 2 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre ist. Erst allmählich trat an die Stelle des Mythus das Bedürfnis wissenschaft- licher Erkenntnis. Die ersten tastenden Versuche machte die Philosophie, wo- bei der Willkür des Autors ein weiter Spielraum gewahrt blieb. Ich brauche hier nur an die phantastischen Vorstellungen des Empedocles zu erinnern, wel- cher annahm, daß zunächst die einzelnen Organe geschaffen worden seien, daß die Lebewesen sich entwickelten, indem die Organe sich vereinigten. Was sich dabei als lebensfähig erwies, sei erhalten geblieben, alles Lebensunfähige sei dagegen zugrunde gegangen. Im IS. Jahrhundert wurde der naturwissenschaft- liche Charakter des Problems richtig erkannt. Das 18. Jahrhundert und der Anfang des 19. Jahrhunderts brachten uns die Theorien der großen französi- schen Forscher Lamarck und Geoffroy St. Hilaire und die Versuche der naturphilosophischen Schule in Deutschland, Bestrebungen, bei denen aller- dings die exakte naturwissenschaftliche Forschung noch ganz hinter dem Be- dürfnis spekulativer Erklärung zurücktrat und demgemäß die philosophische Betrachtungsweise die naturwissenschaftliche vielfach überwucherte. In eine neue Phase ist die Abstammungslehre durch Darwins Epoche machende Werke getreten. Was die Arbeiten des großen britischen Forschers vor den Arbeiten seiner Vorgänger auszeichnet, ist nicht nur ihr reicherer Wis- sensschatz, sondern vor allem die streng empirische Methodik der For- schung. Darwin begann mit dem Studium der Grundlagen der Abstammungs- lehre, wie sie durch das Artproblem, die Fragen der Erblichkeit und der Varia- bilität gegeben sind. Das sind Fragen, welche einer exakten Behandlung mit- tels Beobachtung und Experiment zugängig sind, weil es sich bei ihnen um Erscheinungen und Vorgänge handelt, welche der Gegenwart angehören und sich unter unseren Augen abspielen. Vonihnen ausgehend, erweiterte er das Problem und untersuchte die Entstehungsgeschichte der gesamten Organismenwelt. Es ist klar, daß hiermit ein Forschungsgebiet in Angriff genommen wurde, welches für weitere Kreise ein ungleich größeres Interesse hat als die zuerst berührten Fragen, weil esauch dasgroße Problem der Herkunft des Menschen umschließt. Dafür hat dieses erweiterte Problem, die Stammesgeschichte oder Phylogenie der gesamten Organismenwelt, den Nachteil, daß es nicht die gleiche Sicherheit der Forschungsergebnisse zuläßt. Denn die Vorgänge, welche zur Entwicklung der jetzt lebenden Tier- und Pflanzenwelt geführt haben, gehören der Vergangen- heit an. Ihr Verlauf kann nicht direkt beobachtet, geschweige denn experimen- tell analysiert werden; er kann nur auf Grund des uns umgebenden Beobach- tungsmaterials erschlossen werden. Dieser Teil der Deszendenztheorie ist so- mit im hohen Maße spekulativer Natur. In den ersten Dezennien, welche nach dem Erscheinen von Darwins Werk über den Ursprung der Art verflossen sind, war es derspekulative Teil der Deszen- denztheorie, welcher nicht nur die Laienkreise beschäftigte, sondern auch die wissenschaftlichen Vertreter der Biologie so gut wie völlig in Beschlag nahm. Vor allem galt es, auf dem Wege vergleichend anatomischer und entwicklungs- geschichtlicher Forschung die genetischen Zusammenhänge der großen Gruppen des Pflanzen-, und Tierreichs und damit auch die Stellung des Menschen im Der Artbegriff, ältere Auffassungen 3 Naturganzen aufzuklären. In den letzten 20 Jahren hat sich ein Umschwung vollzogen. Das Interesse wandte sich wieder mehr den exakten Untersuchungs- methoden, vor allem der experimentellen Forschung, zu. Variabilität und Erblichkeit, die Unterscheidung von Art und Varietät, die Faktoren, welche die Umbildung der Arten veranlassen, diese Grundlagen der Deszendenztheorie, wurden Gegenstand einer Hochflut wissenschaftlicher Arbeiten, welche zu einer Bereicherung unseres Wissens weit über das Ergebnis der Darwinschen Unter- suchungen hinaus führten. Bei der zusammenfassenden Darstellung der Abstammungslehre, welche die Einleitung zu dem vorliegenden Bande der Kultur der Gegenwart bilden soll, wollen wir mit diesen die Grundlagen der Deszendenztheorie darstellenden Problemen beginnen. Ich kann mich hierbei kurz fassen, weil viele der einschlä- gigen Fragen, vor allem die Fragen der Variabilität und Erblichkeit, schon im ersten Band eine ausführliche Besprechung gefunden haben. Ich kann daherrück- sichtlich der Einzelheiten auf den ersten Band verweisen und mich auf die Mit- teilung des Wesentlichen beschränken, soweit es notwendig ist, um ein zusam- menhängendes Bild der Abstammungslehre zu geben. I. Der Artbegriff. Das Alpha und Omega der Abstammungslehre ist der Art- begriff. Derselbe ist das Fundament, auf welchem sich das gesamte System des Pflanzen- und Tierreichs aufbaut. Was rücksichtlich des wissenschaftlichen Werts des Artbegriffs festgestellt wird, gilt im wesentlichen auch für die übrigen Kategorien des Systems (Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Stamm). Das im Artbegriff enthaltene Problem ist folgendes. In der Natur finden Geschichte des wir nur Einzelindividuen von Tieren und Pflanzen. In ähnlicher Weise wie es es. der Mensch mit den übrigen Gegenständen seiner Umgebung machte, hat er auch die Tiere und Pflanzen nach ihrer Ähnlichkeit gruppiert und die so ge- schaffenen Gruppen mit besonderen Namen ausgezeichnet. Aus diesem Ver- fahren heraus hat sich allmählich die wissenschaftliche Systematik entwickelt, indem sich der Blick für das Unterscheidende und Gemeinsame schärfte und an Stelle des naiven, mehr oder minder unbewußten Urteilens die methodische, den Wert der gemeinsamen und unterscheidenden Merkmale kritisch abwägende wissenschaftliche Untersuchung trat. Mit der wissenschaftlichen Methodik des Systematisierens entwickelte sich das Bedürfnis, sich über den logischen Wert dieses Verfahrens klar zu werden. Es waren die Begründer der systematischen Zoologie und Botanik, der Engländer John Ray (1627— 1707) und der Schwede Ray. Linne. Carl v.Linne (1703—1774), welche über das Artproblem nachdachten. Linne erklärte die Arten für die ‚natürlichen und unveränderlichen Einheiten des Tier- und Pflanzenreichs‘‘; dieselben seien seit Beginn der Welt vorhanden, seitdem Gott sie erschaffen habe, von jeder getrennt geschlechtlichen Art ein Pärchen, von den hermaphroditen Formen nur ein einzelnes Exemplar. Seit der Schöpfung sollen sich die Arten unverändert erhalten haben, ‚Species sunt constantissimae‘. Innerhalb einer Art sollen durch den Einfluß der ne Cuvier, d’Orbigny. 4 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Kultur Verschiedenartigkeiten hervorgerufen werden und zur Bildung von Va- rietäten führen können; dieselben hätten für den Botaniker kein Interesse. „Kein vernünftiger Botaniker möge in das Lager der Blumenliebhaber ein- treten, welche sich mit der Züchtung verschiedenfarbiger Tulpen, Hyazinthen usw. beschäftigen.‘ Denn ‚varietates laevissimas non curat Botanicus‘“. Wie Linn&, so hielt auch Cuvier (1769— 1832) an der Lehre von der Kon- stanz der Arten fest, was um so verwunderlicher ist, als Cuvier, der Begrün- der der wissenschaftlichen Paläontologie, durch seine paläontologischen Stu- dien zu dem Resultat gekommen war, daß die Erde in den früheren Perioden ihrer Geschichte von Tieren bewohnt gewesen sei, welche von den jetzt lebenden Tieren verschieden waren. Die Ergebnisse der Paläontologie hätten die Annahme nahegelegt, die lebenden Tierarten seien aus Umbildung der ausgestorbenen For- men hervorgegangen. Cuvier bekämpfte diese Meinung und vertrat die An- sicht, daß die Tierwelten vergangener Erdperioden durch gewaltige Erdkatastro- phen vernichtet worden seien. Das Ende einer jeden Erdperiode sei durch eine derartige Katastrophe herbeigeführt worden. Indem Cuvier die Lehre von der Artkonstanz vertrat, wurde er durch seine Kataklysmenlehre in eine schwierige Situation versetzt, welche nur zwei Erklärungsmöglichkeiten zuließ. Die nächstliegende Erklärung für einen Anhänger der Artkonstanz, welcher, wie es für Cuvier gilt, die Arten als die Werke eines persönlichen Schöpfers ansah, war in der Annahme gegeben, daß nach jeder die Tierwelt vernichtenden Katastrophe eine neue Tier- und Pflanzenwelt vom Schöpfer aller Dinge neu geschaffen worden sei. Diese Auffassung wurde auch von einem Nachfolger Cuviers, d’Orbigny, vertreten, welcher zahlreiche ver- schiedene Erdperioden und demgemäß auch aufeinander folgende Neuschöp- fungen unterschied. Wahrscheinlich war es auch die Auffassung Cuviers, wie daraus zu entnehmen ist, daß er selbst den Menschen für das letzte und voll- kommenste Werk des Schöpfers erklärte und daß Zeitgenossen wie Byron ıhm die Hypothese der wiederholten Schöpfungen direkt zuschrieben. In seinem Werke über die Erdrevolutionen ist der Gedanke jedoch nicht ausgesprochen, wohl aber zieht Cuvier eine zweite Möglichkeit in Erwägung, daß von den gewaltigen das Ende einer Erdperiode bezeichnenden Katastrophen immer nur ein Teil der Erdoberfläche und ihrer Bevölkerung betroffen worden sei; ein andrer Teil sei dagegen verschont geblieben. Die vom Glücke begünstigten Tiere hätten die verödeten Länder neu besiedelt. Versucht man diese Annahme bis in ihre letzten Konsequenzen durchzudenken, so kommt man zu Vorstel- lungen, welche noch viel abenteuerlicher sind als die Hypothese von den häu- figer wiederholten Schöpfungen, ganz besonders im Lichte der seit Cuviers Zeit gemachten Entdeckungen, welche uns mit einer ganz ungeheuren Fülle aus- gestorbener Arten bekanntgemacht haben. Denn wenn man annimmt, daß die jetzt lebenden Tiere die von den Erdrevolutionen verschonten Überreste der uranfänglichen Schöpfung sind, so müßte man auch die zahlreichen ver- nichteten Lebewesen auf diese Urschöpfung zurückführen und käme dabei zum Resultat, daß in den ältesten Perioden der Erdgeschichte ein Formenreich- Der Artbegriff, ältere Auffassungen 5 tum geherrscht haben müsse, von welchem die jetzt lebende Tierwelt nur ein schwacher Abglanz ist. Noch viel abenteuerlicher ist eine zweite, als Notwen- digkeit sich ergebende Annahme, daß die vielen Hunderttausende von Arten der jetzigen Fauna immer das Glück gehabt hätten, den Katastrophen zu entgehen, ohne daß auch nur ein kleiner Teil ihres Artbestandes zum Opfer ge- fallen wäre. Denn man kann es als völlig ausgeschlossen betrachten, daß Reste von Arten, welche jetzt die Erdoberfläche bevölkern, in den älteren geologischen Schichten aufgefunden werden. Unter diesen Verhältnissen ist es begreiflich, daß schon zu Zeiten CuviersLamarck. hervorragende Biologen, wie Lamarck, Geoffroy St. Hilaire, in Deutsch- land Goetheund Oken die Lehre von der Umwandlung der Arten verteidigten. Lamarck widmet der Frage in seiner Philosophie zoologique ein ganzes Ka- pitel, in welchem er einen der Auffassung Linn&s diametral entgegengesetzten Standpunkt einnimmt. ‚Die beinahe allgemein geltende Annahme, daß die Organismen Arten bilden, welche beständig durch unveränderliche Charaktere unterschieden seien, und daß diese Arten so alt seien, wie die Natur selbst, sei zu einer Zeit aufgestellt worden, wo man noch nicht genügend beobachtet habe und die Naturwissenschaften beinahe noch nicht vorhanden gewesen wären.“ ‚Je weiter indessen unsere Kenntnisse über die verschiedenen Organismen, welche beinahe die ganze Erdoberfläche bevölkern, fortschreiten, um so mehr wachse unsere Verlegenheit, wenn wir das bestimmen wollen, was als Art be- zeichnet werden soll.‘‘ ‚Je mehr Naturerzeugnisse gesammelt werden,‘ ‚um so mehr werde es offenkundig, wie beinahe alle Lücken sich ausfüllen und unsere Scheidelinien sich verwischen‘“‘. ‚Wir müssen daher zu einer willkürlichen Be- stimmung Zuflucht nehmen, so daß wir genötigt sind, bald die geringfügigsten Unterschiede der Varietät zu benutzen, um daraus den Charakter der Art zu bilden, bald das, was andere für eine besondere Art halten, für bloße Varietät einer solchen Art zu erklären.“ Es ist merkwürdig, zu sehen, wie hervorragende Naturforscher wie Linne und Cuvier einerseits, Lamarck andererseits in bezug auf dieselbe Frage dia- metral entgegengesetzte Standpunkte vertreten haben. Mit derselben Sicher- heit, mit welcher Linn& die Arten für vollkommen konstant erklärt und damit einen prinzipiellen Unterschied zwischen Art und Varietät annimmt, behauptet Lamarck, daß bei genügender Kenntnis der Formen die Grenzlinien der Arten sich verwischen und daß es unmöglich sei, zwischen Arten und Varietäten Unter- schiede aufzustellen. Beide berufen sich auf ihre reiche Erfahrung, halten es aber nicht für nötig, ihre Auffassung näher zu begründen. Gleichwohl handelt es sich hier um Fragestellungen, welche sich auf die lebende Tierwelt beziehen und daher eine exakte Prüfung zulassen. In dem dogmatisch spekulativen Charakter seiner Auseinandersetzungen ist wohl der Hauptgrund gegeben, daß Lamarcks geniale Schriften so geringen Einfluß auf den Erfolg des Deszendenzgedankens gehabt haben. Waren doch Männer wie Lyell, welche sich später zur Abstammungslehre haben bekehren lassen und Lamarcks Schriften kannten, ja sogar Darwin selbst Gegner des Darwin. Morphologische Unterscheidung 6 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Lamarckismus. Darwin hebt selbst hervor, daß Lamarck auf seinen Ent- wicklungsgang auch nicht den geringsten Einfluß ausgeübt habe. Umgekehrt ist der ganz ungewöhnliche Erfolg, welchen Darwin beiseinen Zeitgenossen erntete, durch die streng empirische Form seiner Auseinandersetzungen bedingt, daß er angefangen hat, mit einem bewundernswerten Fleiß und der größten Gewissen- haftigkeit Materialien zu sammeln, welche eine streng wissenschaftliche Erörte- rung des Artproblems ermöglichten. Wir wollen zunächst die dem Artproblem zugrunde liegende Fragestellung von Art und noch genauer formulieren, als es bisher geschehen ist. Wenn der Systematiker, Varietät. ‘Grad der Unter- schiede. Zoologe oder Botaniker, ein umfangreiches Material von Organismen bearbeitet, welche vermöge vieler gemeinsamer Merkmale eine nähere Zusammengehörigkeit bekunden, und beigenauerer Prüfung nun weiter findet, daßbei aller Übereinstim- mung doch bestimmte Verschiedenheiten bestehen, welche eine Gruppierung des Materials zu zwei oder mehr in sich enger verbundenen Formenkreisen ermög- lichen, so trittan ihn die Frage heran, ob er das gesamte Material als eine Artund die innerhalb derselben sich ergebenden Formenkreise als Varietäten, oder ob er das Gesamte als eine Gattung, die Formenkreise als Arten betrachten soll. Die ge- wöhnliche Praxis des Systematikers ist, daß er Formenkreise, welche sich erheblich voneinander unterscheiden, für gute Arten erklärt, da- gegen vonVarietäten spricht, wenn dieUnterschiede geringfügiger Natur sind. Esgilt nun zu prüfen, inwieweit dieses allgemein akzeptierte Ver- fahren berechtigt ist. Bei der Erörterung dieser Frage wurde Darwin auf das Studium der Haustiere geführt. Dieselben zeichnen sich durch einen ganz außer- gewöhnlichen Grad von Variabilität aus. Man denke nur an die verschiedenen Formen der Hunde, Rinder, Pferde, Tauben und Hühner. Dieselben werden gleich- wohl von den Systematikern als Angehörige einer Art angesehen. Zur Spezies Equus caballus rechnet der Zoologe sowohl die schlanken Araberpferde, wie die schweren Percherons, die über 1,80 Meter hohen englischen Karrenpferde, wie die 80 Zentimeter bis I Meter hohen Shetland-Ponys. In der Spezies ‚Canis familiaris‘‘ vereint er die Neufundländer und die zierlichen Schoßhündchen, die Dachshunde und die Windhunde, die Spitze und die Möpse, usw. Durch ein- gehende Untersuchungen weist nun Darwin nach, daß die verschiedenen Ras- sen der Haustiere sich voneinander in höherem Grade unterscheiden, als soge- nannte gute Arten, ja manchmal sogar Arten, welche verschiedenen Gattungen angehören, daß die Unterschiede sich nicht nur auf Äußerlichkeiten, wie Farbe, verschiedene Proportion der Teile beschränken, sondern auch im in- neren Bau zum Ausdruck kommen. Die Unterschiede in den Rassen der Haus- tiere hat man nun vielfach darauf zurückgeführt, daß die Haustiere durch Kreu- zung verschiedener Arten gewonnen worden seien. Es handelt sich hier um eine vielumstrittene Frage, welche für die einzelnen Arten der Haustiere wahrschein- lich verschieden beantwortet werden muß. Es scheint, daß unsere Hunderassen in der Tat Abkömmlinge verschiedener Arten sind. Dagegen hat Darwin mit Glück den Beweis zu führen versucht, daß alle Taubenrassen von der jetzt noch im Naturzustand vorkommenden Felstaube abstammen, somit trotz aller Unterscheidung von Art und Varietät 7 Verschiedenheiten auch ihrer Abstammung nach derselben Art zugerechnet wer- den müssen. Um die strittigen Fragen zu entscheiden, hat Darwin sich nicht mit anatomischen Untersuchungen begnügt, sondern hat auch alles, was er über den Ursprung der verschiedenen Rassen der Haustiere sowohl durch Stu- dium der historischen Quellen als auch der Zuchtresultate der fachmäßigen Tierzüchter hat in Erfahrung bringen können, mit einem staunenswerten Eifer zusammengetragen und durch eigene Züchtungsresultate ergänzt. In der Geschichte der Artkritik hat nun weiter dieFrage nach der Exi- stenz und demFehlen von Übergängen einegroße Rolle gespielt. Es gibt Fälle, in welchen auch der Systematiker der alten Schule stark unterschiedene Formen für Angehörige einer und derselben Art erklärt und umgekehrt gering- fügige Unterschiede schon für geeignet hält, um zwei verschiedene Arten zu bil- Konstanz der den. Dieses überraschende scheinbar sich widersprechende Verfahren wird dann oe befolgt, wennin dem erstgenannten Falle die extremen Unterschiede durch Über- gänge vermittelt werden, in dem zweiten Falle die Unterschiede trotz ihrer Ge- ringfügigkeit konstant sind, d.h. bei allen Individuen der beiden Arten in gleicher Weise wiederkehren. Außer der Größe der Unterschiede kommt so- mit auch die stetige Wiederkehr derselben, ihre Konstanz, in Be- tracht. Indessen, auch hier fehlt es an einem durchgreifenden Gegensatze zwi- schen Arten und Varietäten. Es gibt Varietäten, welche sich rücksichtlich der Konstanz der Unterschiede genau wie gute Arten verhalten. Derartige kon- stante Varietäten nennt man Rassen. Als Beispiele brauche ich hier nur die verschiedenen Rassen unserer Haustiere, ferner die Menschenrassen zu nennen. Solange man Rassen in Reinkultur züchtet, ergeben sich keine Übergänge, eine Erfahrung, welche für Menschenrassen und die Rassen unserer Haustiere zur Genüge bekannt ist. Die gleichen Verhältnisse, wie sie für die Haustiere festgestellt worden sind, lassen sich auch bei unseren Kulturpflanzen beobachten; sie kehren auch in der freien Natur wieder, wenn auch zugegeben werden muß, daß die Varia- bilität nicht so hohe Grade erreicht, wie es bei den vom Menschen domestizier- ten Organismen erwiesen ist. Man hat die Ansicht schon lange aufgestellt und sie durch die Beobachtungen der Neuzeit bestätigt gefunden, daß die große Variabilität unserer Haustiere und Kulturpflanzen zum Teil auf die vielen Kreuzungen zurückzuführen ist, welche vom Züchter ausgeführt worden sind. Wir haben ja gesehen, daß wahrscheinlich viele unserer Haustiere, welche jetzt gar nicht mehr in der freien Natur vorgefunden werden, durch Kreuzung verschiedener Arten gewonnen worden sind. Auf Grund seines ganz überwältigenden Untersuchungsmaterials ist seiner- zeit Darwin zu dem Resultat gelangt, daß die lange Zeit angenommene scharfe Unterscheidung von Arten und Varietäten auf Grund morphologischer Merk- male nicht möglich ist, daß, mag man über die Abstammung unserer Haustier- rassen von einer oder mehreren Arten denken wie man will, an der einen Tat- sache nicht gezweifelt werden kann, daß durch die Zucht des Menschen Rassen- unterschiede gezüchtet werden können, welche bedeutender sind als die Unter- 8 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre schiede guter Arten. In dieser Auffassung haben auch die Untersuchungen der seit Darwin verflossenen Zeit keinen Wandel herbeigeführt. In der Systematik sind im Laufe des vorigen Jahrhunderts viele Ausdrücke eingeführt worden für Ver- wandtschaftsgrade, welche zwischen Varietät und Art die Mitte halten. Man spricht von Aberrationen, Modifikationen, Lokalformen, kleinen Arten. Das Ge- nauere hierüber findet der Leser in dem die Systematik behandelnden Abschnitt dieses Buches. In dieser Häufung der Bezeichnungen drückt sich aus, daß scharfe Unterschiede zwischen Art und Varietät nicht existieren, daß man ein Recht hat, eine Varietät als eine in Bildung begriffene Art oder, um es umgekehrt auszu- drücken, eine Art als eine konstant gewordene Varietät aufzufassen. Bu aelsehe, Darwin hat in seinem Werk über den Ursprung der Art ferner auch die Art und Varietät. Möglichkeit erörtert, mit Hilfe physiologischer Merkmale Art und Varietät aus- einanderzuhalten. Lange Zeit über galt die Lehre, daß Repräsentanten ver- schiedener guter Arten sich nur schwierig oder gar nicht miteinander kreuzen lassen, während Repräsentanten verschiedener Varietäten bei der Kreuzung vollkommene Fruchtbarkeit, manchmal sogar gesteigerte Fruchtbarkeit be- sitzen sollen. In den Fällen, in welchen’ Arten sich kreuzen lassen, sollen ihre Kreuzungsprodukte, die Bastarde, unfruchtbar sein, während die Kreuzungs- produkte von Varietäten, die Blendlinge, ihre normale Fortpflanzungsfähigkeit ee bewahren. Auf zoologischem Gebiet war das interessanteste Beispiel für die Bastarde. uns beschäftigende Lehre die Kreuzung von Pferd und Esel. Wenn man Stute und Eselhengst kreuzt, so erhält man das Maultier; kreuzt man in umgekehrter Richtung Eselin und Hengst, so resultiert der Maulesel. Maultier und Maulesel sind in der Regel völlig unfruchtbar. Ähnliche Resultate hat man in der Neu- zeit auch mit anderen Equiden erzielt. Auch die ‚„Zebroiden‘‘, die Kreuzungen von Zebra mit Esel oder Pferd, sind unfruchtbar, desgleichen die Bastarde vieler Finken- und Entenarten. Für das Pflanzenreich haben die Untersuchun- ' gen Köhlreuters, Gärtners und Herbarts ein noch viel umfangreicheres Tatsachenmaterial geliefert, welches ebenfalls in der Mehrzahl der Fälle für die Unfruchtbarkeit der Artbastarde Beweise lieferte. Bei seinen Auseinanderset- zungen benutzte Darwin besonders das pflanzliche Material; er kommt zum Resultate, daß im allgemeinen eine gewisse Proportionalität zwischen Kreu- zungsmöglichkeit der Formen und dem Grad ihrer systematischen Verwandt- schaft besteht, daß aber diese Proportionalität nichts weniger als vollkommen ist. Dies geht schon daraus hervor, daß in manchen Fällen die Kreuzung ver- schiedener Arten in der einen Richtung mit der größten Leichtigkeit gelingt, in der anderen Richtung vollkommen versagt. Darwin beruft sich hierbei auf ein durch Köhlreuter festgestelltes botanisches Beispiel, daß Mirabilis jalapa zwar leicht mit dem Blütenstaub von M. longiflora befruchtet wer- den könne, nicht aber M. longiflora durch den von M.jalapa. Aus dem Tier- reich sind inzwischen weitere derartige Beispiele bekannt geworden. Die Eier des Seeigels Echinus microtuberculatus können mit Samen von Strongylocentrotus lividus, die Eier des Lachses mit Forellensamen befruchtet werden, als ob es sich um eine normale Befruchtung handele, während in umgekehrter Richtung Unterscheidung von Art und Varietät 9 das Experiment fast vollkommen resultatlos verläuft. Die Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter liefern noch viele weitere Beweise für die Lehre, daß der Erfolg der Kreuzbefruchtung nicht eine Funktion der systematischen Ver- wandtschaft ist. Es gibt zwei Extreme im Verhalten der Arten bei Kreuzbe- fruchtung, das eine Extrem wird durch Arten gebildet, bei denen die Befruch- tung auch nicht den geringsten Erfolg hat und vollkommene Unfruchtbarkeit herrscht; das ist die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Fälle. Das andere Extrem liefern die Arten, bei denen nicht nur die Befruchtung gelingt und Ba- starde erzielt werden, sondern auch die Bastarde sich als vollkommen fruchtbar erweisen. Eine derartige Fruchtbarkeit der Arten ist im allgemeinen nicht häu- fig beobachtet worden, bei Tieren noch seltener als bei Pflanzen, vorausgesetzt, daß wir den Artbegriff im weiteren Sinne fassen, wie es in der Zoologie allge- mein üblich ist, nicht im Sinne der ‚kleinen Arten‘, welche jetzt besonders von Botanikern vielfach als die elementaren Einheiten des Systems aufgefaßt werden. Gehen wir, um diese Übergangsreihe zu erläutern, von völlig unfruchtbaren Unfruchtbare Formen aus, bei denen das Ei überhaupt nicht befruchtet wird, oder wenn es auch befruchtet wird, seine Entwicklung bald einstellt, so schließen sich zu- nächst die Fälle an, bei denen eine beschränkte Fruchtbarkeit herrscht, inso- fern immer nur ein Teil der Eier sich entwickelt, bald ein geringerer, bald ein größerer Prozentsatz. Aus eigener Erfahrung kenne ich diesen Zustand von Schmetterlingen der Gattung Pygaera. Kreuzt man P.curtula und P. ana- choreta, so erhält man von den Eiern zahlreicher Pärchen keine einzige Raupe, von anderen nur wenige Raupen, bei dritten einen großen Prozentsatz. Dies erklärt sich daraus, daß von den befruchteten Eiern immer nur ein Teil aus- schlüpft. Beim Ausschlüpfen kann die Lebensfähigkeit der Raupen so gering sein, daß die Tiere die Eischalen gar nicht zu verlassen vermögen, oder beim Versuch des Auskriechens sterben, oder nach dem Auskriechen verhungern, weil sie unfähig sind, zu fressen. Welche Rolle individuelle Eigentümlichkeiten spielen, läßt sich daraus entnehmen, daß Standfuß es für leicht erklärt, Ana- choreta @ mit Curtula Q' zu paaren, die Paarung Curtula @ mit Anachoreta Q' da- gegen für sehr schwierig hält, während ich zu entgegengesetzten Resultaten kam; ich konnte trotz zahlreich variierter Versuche und eines sehr umfang- reichen Materials die erste Form der Kreuzung in keinem einzigen Falle erzie- len, während die zweite gar keine Schwierigkeiten bereitete. In den Fällen, in denen Bastardierung leicht gelingt, würde man nun am ehesten auf Fruchtbarkeit der Bastarde rechnen können. Im allgemeinen trifft das auch zu; doch gibt es, wie schon Darwin hervorgehoben hat, Aus- nahmen, indem es vorkommt, daß leicht zu erzielende Bastarde unfruchtbar, schwierig zu erzielende Bastarde fruchtbar sind. In der Unfruchtbarkeit der Bastarde gibt es abermals die verschiedensten Abstufungen. Es ist eine schon lange bekannte Tatsache, daß die Unfruchtbarkeit der Bastarde vielfach auf Störungen in der Entwicklung der Geschlechtsdrüsen beruht. Besonders gut sind wir hierbei über das Verhalten im männlichen Geschlecht orientiert. Durch mikroskopische Untersuchung der Samenflüssigkeit hat es sich herausgestellt, Bastarde. Beschaffenheit der Geschlechts- organe. a) Männchen. b) Weibchen. Io RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre daß die Unfruchtbarkeit der Bastarde in vielen Fällen durch den gänzlichen Mangel der Spermatozoen in der Samenflüssigkeit bedingt ist. In dieser Hin- sicht sind zu nennen Maultier und Maulesel, sowie die Zebroiden, die Kreuzun- gen von Birk- und Auerhühnern (Rackelwild), von Entenarten, wenn sie ver- schiedenen Gattungen angehören usw. Diese Untauglichkeit der Geschlechts- produkte beruht auf einer verschieden hochgradigen Entwicklungshemmung. Bei manchen Arten bleibt die Entwicklung auf dem Stadium der Spermato- gonien stehen, bei anderen kommt es noch zur Bildung der ersten oder gar der zweiten Richtungsspindel. Allein auch der Umstand, daß reife Spermatozoen gebildet werden, gibt noch keine Garantie für die Fruchtbarkeit der Bastarde. Denn die Pygaera-Bastarde sind untereinander unfruchtbar und lassen sich auch nur selten mit einer der Stammformen zurückkreuzen; gleichwohl be- sitzen sie gut entwickelte, lebenskräftige Spermatozoen. In ähnlicher Weise wie die Hoden können auch die Ovarien bei Bastardie- rung in ihrer Entwicklung leiden. Poll hat über die Ovarien unfruchtbarer Entenbastarde ausgedehnte Versuche angestellt und gefunden, daß der Grad der Störung je nach den zur Kreuzung verwandten Arten ein ganz ver- schiedener ist. Bei manchen ‚Gattungsbastarden‘‘ werden noch kleine ent- wicklungsunfähige Eier gelegt; bei anderen kommt es zwar nicht zur Eiablage, aber es bilden sich Eianlagen im Ovar, welche sich auch. einige Zeit noch ver- größern. Im weiteren Verlauf degenerieren die betreffenden Eier und auch die Eianlagen verkümmern, so daß im zweiten Jahr nichts mehr von ihnen zu finden ist. Eine dritte Kategorie wird von solchen Formen gebildet, bei denen die Ei- anlagen schon im Laufe des ersten Jahres verkümmern. Bei einer vierten Kate- gorie findet man schon bei frisch ausgekrochenen Tieren keine Eianlagen mehr. Graduelle Unterschiede in der Unfruchtbarkeit der Bastarde kommen auch bei Pflanzen vor, bei denen gleichfalls am genauesten die männlichen Organe untersucht worden sind. Je nach den einzelnen Bastarden macht sich die Hemmung in der Entwicklung des Pollens auf früheren oder späteren Stadien geltend. Es ist nun keineswegs nötig, daß zwischen der Unfruchtbarkeit der bei- den Geschlechter vollkommene Proportionalität herrscht. In Kreisen der Züchter herrscht sogar die Auffassung, daß die Zeugungsfähigkeit der Männ- chen durch Bastardierung stärker beeinträchtigt wird, als die der Weibchen. Für diese allerdings keineswegs genügend gesicherte Auffassung sprechen viele sehr interessante Beispiele. Kreuzt man unsere Rinder (Bos taurus) mit dem im System ziemlich weit entfernt stehenden Wisent (Bison priscus) oder dem amerikanischen Büffel (Bison americanus), so erzielt man eine sehr kräftige Nachkommenschaft, welche aber im männlichen Geschlecht völlig unfruchtbar ist. Die Weibchen dagegen können mit den Männchen der beiden Stammarten zurückgekreuzt werden und liefern durch ‚Anpaarung‘‘ % Blut-Bastarde. Damit ergibt sich vielleicht die Möglichkeit, durch geeignete Kreuzung schließ- lich frudhtbare 15 Blut-Bastarde zu erzielen. Analoge Fälle, in denen die Bastarde unter sich unfruchtbar sind, aber durch ‚„Anpaarung abgeleitete Bastarde“ Unterscheidung von Art und Varietät ı1 liefern können, sind durch die Untersuchungen von Standfuß und vieler anderer Lepidopterologen für nicht wenige Schmetterlinge bekannt geworden. Wir kommen nun zu dem anderen Extrem der Reihe, Fruchtbarkeit der in Inzucht gezüchteten Bastarde. Auch hier ergeben sich graduelle Abstufun- gen. Die Fortpflanzungsfähigkeit kann, wie bei vielen Schmetterlingsbastar- den, eine sehr unvollkommene sein, so daß nur ausnahmsweise wenige schwäch- liche Nachkommen erzeugt werden, welche unfähig sind, eine dritte Generation hervorzubringen; sie kann aber auch die Grade vollkommener Fruchtbarkeit erreichen. Letzteres scheint, soweit das noch immer spärliche Beobachtungs- material ein Urteil erlaubt, im allgemeinen nicht häufig vorzukommen. Immer- hin hat schon Darwin für die Pflanzen nicht wenige derartige Beispiele aus den Werken Köhlreuters und Gärtners ausgezogen und ihre Zahl durch eigene Untersuchungen vermehrt; über die aus dem Tierreich vorliegenden Er- fahrungen dagegen äußerte er sich mit großer Vorsicht. Als wahrscheinliche Beispiele von Fruchtbarkeit von Bastarden nannte er außer einigen ihm zwei- felhaft erscheinenden Fällen die Kreuzungen unserer einheimischen Gans (Anser domesticus) und der Schwanengans (A. cygnoides), von unserem einheimischen Rind (Bos taurus) und dem Zebu (B. indicus), wobei jedoch zu bedenken ist, daß Zebu und Rind von vielen Zoologen nur als Rassen derselben Art angesehen werden. Indessen können wir die Existenz fruchtbarer Artbastarde auch für das Tierreich als sicher erwiesen betrachten. Ein schönes Beispiel ist der sogenannte Elsässer Saibling, eine Kreuzung zwischen unserem einheimischen Seesaibling (Salmo salvelinus) und dem amerikanischen Bachsaibling (S. fontinalis); der- selbe wurde in vielen Generationen gezogen. Sehr groß ist die Zahl der Bastarde aus der Familie der Cyprinoiden; sie wurden nicht nur künstlich erzeugt, son- dern auch nicht selten in der Natur beobachtet und als besondere Arten mit eigenen Namen benannt. So erhielt der Bastard zwischen Karpfen (Cyprinus carpio) und Karausche (Carassius vulgaris) den Namen Cyprinus collari. Der- selbe soll auch in Inzucht fruchtbar sein, während für andere Beispiele, wie z.B. den Bastard von Kaulbarsch (Acerina cernua) und Barsch (Perca fluviatilis) widersprechende Angaben vorliegen. Bei Vögeln scheinen Bastarde von Arten, welche derselben Gattung ange- hören, nicht selten fruchtbar zu sein. Bei Bastarden von Arten, welche den Gat- tungen Anas oder Phasianus im engeren Sinne angehören, scheint sogar voll- kommene Fruchtbarkeit die Regel zu sein; sie ist sicher bewiesen für die Ba- starde von Anas boschas, A. poecilorhyncha, A. superciliosa. Seltener scheinen fruchtbare Gattungsbastarde vorzukommen; immerhin sind auch solche beob- achtet, wie z. B. Bastarde zwischen Königsfasan (Syrmaticus Reevesi) und Jagd- fasan (Phasianus colchicus) gelegentlich fruchtbar sind. Unter den Säugetieren halte ich für ein gut verbürgtes Beispiel fruchtbarer Bastarde die Kreuzung von Hase (Lepus timidus) und Kaninchen (L. cuniculus); das Kreuzungs- produkt, von Haeckel L. Darwini benannt, wurde mehrere Generationen in Inzucht fortgepflanzt. Wiederholt wurden Hund (Canis familiaris) und Fruchtbare Bastarde. Erblichkeit bei Bastarden. Alternative Vererbung bei Varietäten. 12 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Wolf (C. lupus), ferner Hund und Schakal (C. aureus) mit gutem Erfolg ge- kreuzt und die Fruchtbarkeit ihrer Bastarde erwiesen, ein Ergebnis, welches bei der nahen Verwandtschaft der betreffenden Arten nicht überraschen kann; werden doch von vielen Seiten Schakal und Wolf als die Wildarten angesehen, von denen der Haushund durch Domestikation gewonnen wurde. Überblicken wir zum Schlusse das gesamte durch Bastardierung gewon- nene Tatsachenmaterial, so kommen wir zu dem nämlichen Resultate, zu wel- chem uns schon die morphologische Betrachtungsweise geführt hat, daß in der Fortpflanzung zwischen Arten und Varietäten Unterschiede bestehen, daß aber diese Unterschiede nicht durchgreifender Natur sind und daher keine prinzipielle Bedeutung besitzen. Zwischen der vollkommenen Fruchtbarkeit, wie sie bei Kreu- zung von Varietäten besteht, und der vollkommenen Unfrucht- barkeit, wie sie für die Kreuzung verschiedener Familien, meist auch verschiedener Gattungen besteht, finden wir eine fortlau- fende Reihe von Übergängen, aus der man die wichtigsten Stufen folgen- dermaßen bezeichnen kann: Völlige Unfruchtbarkeit der ersten Kreuzung, be- dingte Fruchtbarkeit, völlige Fruchtbarkeit derselben; ist es möglich Bastarde zu erzielen, so kann man weiter unterscheiden völlige Unfruchtbarkeit der Bastarde, die im einzelnen verschieden abgestuft sein kann, bedingte und vollkommene Fruchtbarkeit der Bastarde. In der Neuzeit haben sich weitere physiologische Unterschiede zwischen Arten und Varietäten im Laufe der Vererbung ergeben. Wie im I. Band des genaueren auseinandergesetzt worden ist, folgen Varietäten bei der Kreuzung der durch den Abt Mendel zuerst festgestellten Gesetzmäßig- keit. Werden z. B. weiß und rot blühende Pflanzen gekreuzt, so ergeben sich zwei Möglichkeiten. Im einen Falle (Mirabilis jalapa, die Wunderblume) ent- stehen Pflanzen mit rosa Blüten (F'-Generation), woraus man schließen kann, daß die Erbanlagen für weiße und rote Blütenfarbe sich nicht nur im befruch- teten Ei kombiniert haben, sondern beide gemeinsam das Bildungsprodukt, das Aussehen der blühenden Pflanze, bestimmen. Im zweiten Falle zeigen die Blüten der Bastardpflanzen eine der beiden Ausgangsformen in vollkommener Reinheit. So bleiben z. B. die Bastarde weißer und roter Erbsen rein rot und arten somit nach einem der beiden Eltern, und zwar gleichgültig, ob in der Elterngeneration (P) die rotblühende Pflanze die weiblichen oder die männlichen Geschlechtsprodukte lieferte. Man gewinnt den Eindruck, als ob allein die Erb- anlage für rote Blüte noch vorhanden wäre; und doch fehlt auch hier, wie beim Beispiel der Mirabilis-Bastarde die Anlage für weiße Blütenfarbe keineswegs, wie die weiteren Kulturversuche mit aller Sicherheit beweisen; sie kommt nur nicht zur Geltung, sie ist ‚„‚rezessiv‘‘ im Vergleich zu der Eigenschaft für Rotblühen, welche ‚dominant‘ ist. Wenn man nämlich die F!-Generation in Inzucht vermehrt, so zeigt die daraus resultierende F?-Generation in den beiden von uns ins Auge gefaßten Fällen das Phänomen des ‚Spaltens‘‘; d.h. ein Teil der Nachkommenschaft, Unterscheidung von Art und Varietät 13 und zwar !/, derselben, blüht rot und gleicht somit dem einen Elter, ein an- derer Teil, abermals /,, gleicht dem anderen Elter und blüht weiß. Beide Viertel züchten von nun an ‚‚rein“, sie liefern in Inzucht fortgepflanzt je nach dem Elternpaar nur weiß oder nur rot blühende Pflanzen; ihre Geschlechtszellen müssen somit in bezug auf Blütenfarbe nur einerlei Erbeinheiten enthalten haben, in dem einen Falle nur weiße, im anderen Falle nur rote; die zweite Erb- anlage müssen sie verloren haben. Solche aus gleichgearteten Geschlechtszellen entstandene Organismen, bei welchen, um bei unserem Beispiel zu bleiben, Eier und Samenfäden nur die weiße oder nur die»rote Erbanlage enthalten, nennt man homozygot. Den homozygoten rot ('/,) und homozygoten weiß ('/,) blü- henden Pflanzen stehen die übrigen die zweite Hälfte bildenden Pflanzen als heterozygot gegenüber, so genannt, weil sie die Anlagen für Weiß- und Rot- blühen gleichzeitig enthalten. Beim Mirabilis-Typus ist das beim Anblick der Pflanzen sofort offenkundig, indem die betreffenden ?/, rosa, also inter- mediär, blühen; beim Erbsen-Typus sind die ”/; dagegen rotblühend, wie die homozygoten !/, roten; sie unterscheiden sich von ihnen bei fortgesetzter In- zucht, indem sie weiter in /; homozygote rote und '/; homozygote weiße, sowie ?/ı heterozygote rote Pflanzen spalten. In der geschilderten Weise verläuft die Zucht weiter, indem die heterozygoten Formen immer wieder in der Proportion U Yn /, weiterspalten, so daß die Zahl der homozygoten Pflanzen beständig auf Kosten der heterozygoten zunimmt. Wie sich die geschilderten Verhältnisse aus den Reifungsvorgängen der Ge- schlechtszellen erklären, kann hier nicht erläutert werden; ich begnüge mich hervorzuheben, daß das Mendelsche Prinzip der Vererbung sich bei Kreuzung von Varietäten sowohl im Pflanzen- wie Tierreiche bewährt hat, nur daß in den meisten Fällen die Erscheinungen viel komplizierter sind, weil nicht die Erb- lichkeit von einem Paar Charakteren, sondern von vielen Charakteren in Frage steht. Die Klarheit der Züchtungsresultate wird dann sehr getrübt und es bedarf des ausgedehntesten Studiums, um die in den Bastarden enthaltenen Erbeinheiten zu analysieren und die bunte Vielgestaltigkeit in den Tochter-, Enkel- und Urenkelgenerationen aufzuklären und auf das Mendel-Schema zurückzuführen. Es genügt aber hier hervorzuheben, daß die Analyse in sehr vielen äußerst verwickelten Fällen gelungen ist. Wenden wir uns nun zu denArtbastarden, so galt eslange Zeit für sicher, Intermediäre daß dieselben in der Fl-Generation stets intermediären Charakter "nme = besitzen, ähnlich den Bastarden der Wunderblume, daß sie aber auch inden späteren Generationen nichtspalten, sondern den einmal festgelegten intermediären Charakter dauernd beibehalten und weiterhin rein züchten. Freilich ist das letztere Kriterium gewöhnlich nicht festzustellen, weil in der Mehrzahl der Fälle, wie wir gesehen haben, Artbastarde nicht fortpflanzungs- fähig sind oder nur Rückkreuzung mit einer Stammart gestatten. Wo letztere möglich ist, bietet sie einen Prüfstein, ob Mendel-Vererbung vorliegt oder nicht. Bei typischer Mendel-Vererbung gibt nämlich die Kreuzung des heterozygoten Bastards mit einem homozygoten Elterntiere ein bestimmtes rechnerisch sich Ausnahmen von der Regel. 14 RICHARD HERTWIG: Die Abstamniungslehre als notwendig erweisendes Verhältnis, nämlich von 50% Heterozygoten: 50% Homozygoten, z. B. 50% rosa Wunderblumen: 50% je nach der Art der Rückkreuzung weißer oder roter Blumen. Bei Artbastarden soll dagegen auch dann wieder der intermediäre Charakter auftreten und eine Mittelform zwischen Bastard und Ausgangsart entstehen, so daß der nunmehr sich bildende ab- geleitete Bastard ein sogenanntes %4 Blut ist. Also auch hier würden sich Arten anders verhalten als Varietäten. Der intermediäre Charakter der Artbastarde ist in vielen Fällen nicht wie bei den intermediären Mendelbastarden beschaffen, so daß die F1-Gene- ration im wesentlichen die Mitte zwischen den beiden Elternarten hielte. Viel- mehr weichen von einem mittleren Maximum die Formen bald mehr nach der väterlichen, bald mehr nach der mütterlichen Seite ab (patrokline und metro- kline Bastarde). So konnte man sich der Hoffnung schmeicheln, daß in der Form der Erb- lichkeit ein Unterschied zwischen guten Arten und Varietäten gegeben sei. In- dessen hält auch diese Auffassung bei näherer Prüfung nicht stand. Zunächst gibt es Rassen- und Varietätenbastarde, welche sich genau wie echte Art- bastarde verhalten. Hier sind vor allem die Bastarde der Menschenrassen zu nennen, die Mulatten (Kreuzungen von Weißen und Negern), die Mestizen (Kreu- zungen von Weißen und Indianern). Da Mulatten und Mestizen fruchtbar sind, kann man F?-, F?-Generationen erzielen, welche ohne zu spalten die Beschaffen- heit der Fl-Generation zu bewahren scheinen. Nun könnte man freilich die ein- zelnen Menschenrassen als Arten bezeichnen, nicht als Rassen der großen Spezies Homo sapiens. Dieser Einwand würde jedoch nicht für einen zwei- ten bekanntgewordenen Fall gelten, die Kreuzung langohriger und kurzohriger Kaninchen, also unzweifelhaft von Formen, welche nur als Rassen derselben Gattung angesehen werden können. Auch hier entstehen intermediäre Bastar- de, Kaninchen von mittlerer Ohrenlänge, welche nach zwei Richtungen vom Mittel abweichen, nach der metroklinen und patroklinen Seite, und ebenfalls rein züchten. Dieses Abweichen typischer Varietätenbastarde von der Mendelschen Regel ist Ursache gewesen, daß man sich genauer mit der Frage beschäftigte. Erwägungen und Experimente haben dann zu dem Resultate ge- führt, daß intermediäre Bastarde, selbst wenn sie fluktuieren und Übergänge zu Vater und Mutter zeigen, sich ganz gut dem Mendelschen Vererbungsschema fügen, wenn man zwei Annahmen macht, I. daß bei der Kreuzung mehrere oder sogar sehr viele unterscheidende Merkmale in Betracht kommen, was ja aus dem Wesen der Artdifferenzen sich mit Notwendigkeit ergibt; 2. daß ein und derselbe Charakter wie z. B. die Länge der Ohren des Kaninchens, die schwarze Farbe der Negerhaut, von verschiedenen Faktoren bestimmt wird, welche bei der Kreuzung in den Fl- und F?-Generationen die mannigfachsten Kombinationen gestatten. Die Verhältnisse sind leider so kompliziert, daß ich auf ihre Darstellung verzichten muß. Es genügt hier, auf die Untersuchungen hinzuweisen, welche uns die Perspektive eröffnen, auch die scheinbar sich gar nicht in das Mendel-Schema einfügenden Erscheinungen bei der Kreuzung man- Unterscheidung von Art und Varietät 15 cher Varietäten und vieler Arten auf dieselbe Gesetzmäßigkeit zurückzuführen, welche die Kreuzung der Varietäten beherrscht. Es würde auch hier der Unter- schied von Art, Rasse und Varietät kein prinzipieller sein, sondern ein gra- dueller, ein Unterschied des,,Mehr‘ und ‚‚Minder‘‘, ein Unterschied, der mit der Zunahme der Zahl der unterscheidenden Merkmale wächst. Diese wohl von den meisten Mendel-Forschern vertretene Anschauung findet darin ihre Bestä- tigung, daß es Artunterschiede gibt, welche bei der Kreuzung das für den Men- delismus so bedeutsame Auftreten von Dominanz zeigen, während für die meisten Merkmale die intermediäre Vererbung gilt. So fand Lang, daß bei der Kreuzung von Helix nemoralis und Helix arbustorum die Größe der Schale und des Liebespfeils intermediären Charakter zeigt, während Farbe und Zeich- nung bei der einen Art recessiv, bei der anderen dominant ist. Zum Schluß noch einige Worte über einen Unterschied zwischen Arten- und Erblichkeit bei Varietätenkreuzung, der allgemein bekannt ist, auf dessen Bedeutung aber ganz en besonders Goldschmidt neuerdings hingewiesen hat. Bei Kreuzungen von Varietäten hat es sich als gleichgültig herausgestellt, in welcher Weise die Merk- male auf die Geschlechter verteilt sind, ob man von der Varietät a das Männchen oder das Weibchen nimmt, um es mit dem Weibchen resp. Männchen von 5 zu kreuzen. Mit anderen Worten, wechselseitige ‚‚reziproke‘‘ Kreuzungen geben dieselben Resultate; a J' x b © gibt dasselbe Resultat wie a @ x bO'. Bei Artkreuzungen ist diese Reziprozität merkwürdigerweise öfters nicht vorhanden. Um nur ein sehr bekanntes Beispiel anzuführen, so sieht der Bastard von Eselstute und Pferdehengst, der Maulesel, ganz anders aus, als der Bastard von Pferdestute und Eselhengst, das Maultier. Um dieses verschiedene Verhalten von Arten und Varietäten zu erklären, Bedeutung der müssen wir auf die Befruchtungsvorgänge und ihre Deutung, wie sie in einem Be früheren Bande dargestellt worden sind, zurückgreifen. Dort wurde ausein- Frblichkeit. andergesetzt, daß das befruchtete Ei besteht: I. aus dem Protoplasma der Ei- zelle, 2. aus dem Eikern, 3. aus dem bei der Befruchtung eingeführten Samen- kern, 4. aus dem ebenfalls bei der Befruchtung eingeführten Zentrosoma. Das Zentrosoma wird allgemein als das Teilungsorgan gedeutet, welches bei der Vererbung nicht in Betracht kommt. Als Träger der Vererbung faßt man die beiden Geschlechtskerne auf. Daß sie gleich viel Substanz enthalten, vor allem gleich viele und gleich große Chromosomen — von den das Geschlecht bestimmenden Chromosomen sehen wir hier ab —, wird als Beweis benutzt, daß Samen- und Eikern gleiche vererbende Kraft besitzen und somit einander gleichwertig sind. Das Protoplasma würde dann das Substrat sein, an welchem sich die Vererbungsvorgänge abspielen, ohne daß es den Charakter derselben beeinflusse. Die Beobachtungen über die bei Varietätenkreuzung herrschende Rezipro- zität stimmen sehr gut zu der gegebenen Deutung, wie folgende Erwägungen lehren. Bezeichnen wir das befruchtete Ei mit E, das Protoplasma desselben mit p, den Samenkern mit m, den Eikern mit w, die beiden bei der Kreuzung verwandten Varietäten mit I und 2 und drücken wir endlich die Zugehörigkeit 16 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre von Protoplasma, Ei und Samenkern zu einer der Varietäten dadurch aus, daß wir den Buchstaben p, w und m jedesmal die Indizes Iı und 2 hinzufügen, so würden die Formeln für die reziproken Kreuzungen lauten: E!=pl+w!-+ m? E=p?+w?+ ml. Da beide Kreuzungen gleiche Produkte liefern, so kämen wir zur Formel: p!+w!+m’=p"+w?+m!. Die Gleichheit der Formel wird nach unseren Anschauungen über Vererbung dadurch bedingt, daß Samen und Eikern gleichwertig sind, daß somit w! mit m! und w* mit m? identisch ist; sie setzt weiter voraus, daß p! = p? ist, d.h. daß das Eiplasma der beiden Varietäten dieselbe Beschaffenheit besitzt und bei der Vererbungsfrage daher ganz unberücksichtigt bleiben kann. ee Vergleichen wir mit dem gewonnenen Resultate die bei Artkreuzungen “ herrschenden Verhältnisse, indem wir die beiden Arten mit den Zahlen / und // ausdrücken, so ist abermals gemäß unseren Erfahrungen über die Gleichwertig- keit der Geschlechtszellen, w' + m! = w" + m!. Die Verschiedenartigkeit der reziproken Bastarde kann somit nur durch Verschiedenartigkeit des Protoplasma bedingt sein, dadurch daß p' nicht wie bei Varietäten gleich p" ist. Die angestellten Erwägungen nötigen zu einer vielfach schon ausgesproche- nen, besonders klar aber von Frau Scheiner begründeten und auch von Gold- schmidt vertretenen Auffassung, nach welcher die Erwägungen, daß die Ge- schlechtszellen gleiche vererbende Kraft haben und demgemäß die Geschlechts- kerne die Träger der Vererbung sind, nur für Kreuzung von Angehörigen der- selben Art gelten, von denen sie ja auch allein abstrahiert worden sind. Sie gelten auch hier nur für die individuellen Differenzen, sagen dagegen nichts darüber aus, wie es mit den übrigen Merkmalen steht, welche beiden zur Kreu- zung verwandten Individuen gemeinsam sind. Letztere könnten ganz oder zum Teil durch die Beschaffenheit des Protoplasma bedingt sein. Das Verhal- ten der Artbastarde bei reziproker Kreuzung scheint nun in der Tat nur die Deutung zuzulassen, daß das Protoplasma bei der Vererbung eine sehr gewich- tige Rolle spielt. Offenbar beruht die Vererbung auf einem Wech- selverhältnis von Kern und Protoplasma, bei dessen Beurtei- lung letzteres außer acht gelassen werden kann, solange die Unterschiede im elterlichen Protoplasma fehlen oder so geringfügiger Natur sind, daß sie von uns nicht nachgewiesen werden können. Sind die hier angestellten Erwägungen richtig, so würde nach wie vor dem Kerne eine führende Rolle bei der Vererbung zukommen, wenn auch in einem anderen Sinne, als man vielfach annahm. Wir würden zur Vorstellung gelangen, daß alle Variationen zunächst durch Veränderungen des Kerns herbeigeführt werden, und daß von ihm aus sekundär das Protoplasma in Mitleidenschaft ge- zogen wird. Die Umänderungen des Protoplasma werden voraussichtlich ganz allmählich vor sich gehen und eine sukzessive Steigerung erfahren, so daß esnicht Darwins Anschauungen über Variabilität 17 notwendig ist, in dem verschiedenen Verhalten von Arten und Varietäten bei rezi- proker Kreuzung prinzipielle Unterschiede anzunehmen. Vielmehr kann man es jetzt schon als wahrscheinlich betrachten, daß auch hiernur graduelle Unterschiede vorliegen. Methodisch durchgeführte reziproke Kreuzungen stark und schwach unterschiedener Arten und stark differierender Varietäten werden hierüber Klarheit verschaffen. II. Die verschiedenen Formen der Variabilität. Wie wir im vorausgehenden Abschnitt sahen, haben die von Darwin be- gonnenen und seit dem Erscheinen seines grundlegenden Werks nach den ver- schiedensten Richtungen erweiterten Untersuchungen über die Bedeutung des Artbegriffs zu dem Resultate geführt, daß die scharfe Unterscheidung, welche die Systematiker der alten Schule zwischen Art, Rasse und Varietät machten, sich nicht aufrecht erhalten läßt; sie sprechen damit zugunsten der Auffassung, daß eine Umbildung und Fortbildung der tierischen Formen sich in der Natur vollzieht und die Möglichkeit bietet, daß aus vorhandenen Arten neue Arten ent- stehen. Damit ist über das ‚, Wie?‘ dieses Vorgangs nichts Genaueres ausgesagt. Um hierüber Klarheit zu erlangen, bedarf es eines genaueren Studiums des Wesens der Variabilität, ihrer Ursachen und der Art, in wel- cher siesich in bezug auf Erblichkeit verhält. Wir sind mit diesen Fragen vor ein umfassendes Forschungsgebiet gestellt, welches ganz besonders in der Neuzeit zu vielen sehr wichtigen Ergebnissen geführt hat und auch heute noch im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht; es wurde daher schon im ersten Bande dieses Werks besprochen, so daßrücksichtlich der genaue- ren Darstellung auf denselben verwiesen werden kann. Bei der Erörterung dieses Forschungsgebiets sind wir genötigt, Variabili- tät und Erblichkeit gemeinsam abzuhandeln. Denn wie schon Darwin her- vorgehoben hat und es sich von selbst versteht, kommen für die Abstammungs- lehre nur solche Abänderungen in Betracht, welche durch Erblichkeit von Gene- ration zu Generation befestigt werden können und dadurch zu einer dauern- den Umgestaltung der Formen führen. Vom Standpunkt der Vererbungslehre unterschied Darwin „bestimmte Variationen“ und „unbestimmte oder individuelle Variationen“. Bestimmte Variationen sind Veränderungen, welche durch den Einfluß äußerer Existenzbedingungen mit Notwendigkeit hervorgerufen werden und daher bei allen Individuen einer Art, welche diesen Existenzbedingungen unterworfen werden, auftreten, dagegen ebenso konstant ausbleiben, wenn dies nicht der Fall ist. Die schönsten Beispiele für ‚bestimmte Variation‘ sind die Ernäh- rungsmodifikationen Naegelis, die Modifikationen, welche z. B. alle Alpen- pflanzen erfahren, wenn man sie aus den kümmerlichen Ernährungsbedingun- gen und der trockenen Luft des Hochgebirges in das Tiefland und fetteren Boden verpflanzt. Solche Ernährungsmodifikationen sind nicht erblich; sie schwinden sofort, wenn man die Nachkommen der umgeänderten Organismen in ihre gewohnten Existenzbedingungen zurückversetzt. Es ist noch nicht ein- K.d.G.L.ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 2 Bestimmte und unbestimmte Variabilität. Individuelle Variabilität. „Single Variations“. Natürliche und künstliche Zucht- wahl. 18 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre mal nötig, bei dem Experimente die nächste Generation abzuwarten; es genügt, den Wurzelstock einer im Tieflande abgeänderten Alpenpflanze in das Hoch- gebirge zurückzuversetzen, um sich zu überzeugen, daß die neu ausschlagende Pflanze sofort wieder den alpinen Charakter annimmt. Die Konstitution des Organismus, das was man jetzt seine „genotypische‘ Beschaffenheit nennt, war hier nicht verändert, nur seine Erscheinungsform, sein Phaenotypus, ähnlich wie eine Landschaft, je nachdem sie natürlich beleuchtet oder durch verschiedenfarbige Gläser angesehen wird, ganz anders aussieht, ohne daß die Bestandteile der Landschaft auch nur irgendwie verändert worden wären. Für die Umbildung der Arten sind nach der Ansicht Darwins nur die individuellen Variationen von Bedeutung, unter denen er als eine be- sondere Gruppe die „single Variations‘“ aufführt. Als individuelle Varia- tionen faßt Darwin die Verschiedenheiten auf, welche zwischen Individuen einer und derselben Art, z.B. bei Kindern eines und desselben Elternpaares auftreten, selbst dann, wenn sie unter gleichartigen Existenzbedingungen leben. Gewöhnlich sind diese Verschiedenheiten geringfügiger Natur oder, wenn er- heblichere Unterschiede vorkommen, sind die extremen Unterschiede durch Übergänge untereinander verbunden. Im letzteren Fall spricht man in der Neu- zeit von „‚fluktuierender oder auch oszillierender Variabihtat Von diesen fluktuierenden Variationen unterscheiden sich die „single Varia- tions“ darin, daß unter den Nachkommen eines Elternpaares Formen auftreten, welche von den Eltern, sowie von ihren übrigen Artgenossen ganz erheblich abweichen, ohne daß vermittelnde Übergänge vorhanden wären. Es gibt eine Reihe interessanter Beispiele für derartige „single Variations‘‘. Ich nenne hier die hornlosen Rinder, welche wiederholt in Rinderzuchten plötzlich aufgetreten sind, und die krummbeinigen Ankonschafe, welche in der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts in Massachussets gezüchtet wurden. Darwinhatin seinen Werken die verschiedenen Formen der Variabilität und die Frage ihrer Erblichkeit nirgends methodisch und im Zusammenhang erörtert. Aber die Art, in welcher er an vielen Stellen seiner Werke auf die Frage wieder zurückkommt und sie von den verschiedensten Gesichtspunkten aus beleuchtet, läßt erkennen, wie sehr sie ihn beschäftigt hat. In der individuellen Variabilität erblickt Darwin das wichtigste Material für die Entstehung neuer Formen. Der Tier- und Pflanzenzüchter soll diese Art des Variierens zur Züchtung neuer Rassen benutzen, indem er aus seinem Zuchtmaterial immer nur solche Variationen be- nutzt, welche ihm für seine Kulturzwecke geeignet scheinen. Anfänglich seien zwar die Unterschiede geringfügiger Natur; durch fortgesetzte Auslese aber solle es möglich sein, dieselben zu steigern, so daß schließlich ganz erhebliche Rassen- unterschiede zustande kämen, besonders wenn die gleiche züchtende Tätigkeit nicht von einem Züchter, sondern von vielen durch lange Zeiträume hindurch ausgeübt werde (künstliche Zuchtwahl). In ähnlicher Weise soll nun auch die Natur wirken und neue Arten hervorrufen, indem von den vielen zufällig auftre- tenden Varietäten immer nur diejenigen erhalten blieben, welche den Lebensbe- dingungen am besten entsprächen. Aus dem Absterben der ungeeigneten Formen Variabilitätslehre nach Darwin und Galton 19 und dem Überleben der geeigneten Exemplare erkläre sich die so wunderbar erscheinende Anpassung der Organismen an ihre Umgebung. Das Gesagte gilt wie von den gewöhnlichen individuellen Variationen, so auch von den ‚single Variations‘‘; wie denn in der Tat die genannten hornlosen Rinder und krumm- beinigen Schafe der Ausgangspunkt neuer Rassen geworden sind. Gleichwohl mißt Darwin den ‚single Variations‘‘ keine große Bedeutung für die Artbil- dung bei, einmal weil sie zu selten seien, und zweitens weil die plötzlichen er- heblichen Abweichungen vom Artcharakter in der Regel die Beschaffenheit von Monstrositäten besäßen, welche zwar vom Menschen durch künstliche Zucht- wahl erhalten werden könnten, in der Natur dagegen in der überwiegenden Mehr- zahl der Fälle als existenzunfähig durch natürliche Zuchtwahl vernichtet würden. Ich habe hier die Grundanschauungen Darwins über den Ursprung der Arten mittels natürlicher Zuchtwahl nur in kurzen Zügen geschildert, weil sie so- viel popularisiert und in weiteste Kreise getragen worden sind. Es war nötig, um einen festen Ausgangspunkt zu gewinnen zum Verständnis des Entwicklungs- gangs, welchen die Deszendenzlehre in den letzten Jahrzehnten genommen hat. Die ersten Fortschritte in der Erkenntnis des Wesens der Variabilität und Galton-Quetelets ihrer Erblichkeit wurden durch einen Verwandten Darwins, den Mathematiker Galton herbeigeführt. Derselbe übertrug die schon vor ihm von Quetelet u. A. benutzte statistische Methode auf das Studium des Artproblems und ent- wickelte dabei für bestimmte Fälle der individuellen Variabilität eine exakte Form der Charakteristik. Die Fälle, um die es sich hier handelt und die man nach meiner Ansicht mit Unrecht ohne weiteres mit Darwins individueller Variabili- tät identifiziert, bezeichnet man in der Neuzeit mit dem präziseren Ausdruck „fluktuierende oder kontinuierliche Variabilität‘. Es ist die Variabilität der Übergänge, bei welcher extreme Unterschiede durch eine kontinuierliche Reihe von Zwischenformen verbunden werden, so daß man von einem Ende der Reihe zum anderen fortschreitend kaum die Verschiedenheiten gewahr wird. Am klarsten liegen die Verhältnisse, wenn es sich um meßbare und daher zahlen- mäßig ausdrückbare Verschiedenheiten handelt, bei Menschen z. B. um Größen- unterschiede, Brustweite usw., bei Pflanzen um Größe der Früchte (Bohnen), Blattgröße usw. Diese fluktuierende Variabilität läßt sich durch eine Kurve charakte- risieren, welche man die Quetelet-Galtonsche Kurve nennt, welche man auch die Zufallskurve nennen könnte, weil sie die allen zufälligen Ereignissen zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck bringt. Wählen wir zur Erläuterung die Größenunterschiede ausgewachsener Menschen eines größeren oder kleineren Distrikts, so ergibt die Statistik, daß es in dem betreffenden Di- strikt eine bestimmte Größe — die mittlere Größe — gibt, welche bei weitem am häufigsten vorkommt. Von diesem mittleren Maße aus beurteilt, gibt es größere und kleinere Individuen, sogenannte Plus- und Minus-Varianten, deren Zahl um so geringer wird, je bedeutender die Abweichung vom Mittelmaß ist. Die gefunde- nen Zahlen kann man nun zur Konstruktion einer Kurve benutzen, in welcher die verschiedenen Größenmaße die Abszissen bilden, während die Häufigkeitszahlen 2* Variationskurve. 20 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre die zugehörigen Ordinaten liefern. Den Höhepunkt dieser konstruierten Kurve bildet die Frequenzzahl der mittleren Größe, von der aus die den Plus- und Mi- nus-Varianten entsprechenden Schenkel der Kurve nach beiden Seiten abfallen. Variabilität in Nachdem in dieser Weise Galton eine präzise Charakteristik für die Populationen. Größenverhältnisse der Bevölkerung einer bestimmten Gegend oder, wie man sich jetzt ausdrückt, einer ‚Population‘ gefunden hatte, versuchte er nun zu ermitteln, ob die Erblichkeit der Größe durch Auslese beeinflußt werden kann. Er wählte aus seinem statistischen Materiale besonders große und besonders kleine Elternpaare aus und konstruierte nun abermals die Varia- tionskurve für die Kinder dieser Elternpaare und zwar für jede Elterngröße ge- trennt. Er fand dabei, wie es nicht anders zu erwarten war, daß größere Eltern im Durchschnitt größere Kinder haben als kleinere Eltern, aber mit der Beson- derheit, daß die Unterschiede zwischen den Kindern geringer sind als zwischen den entsprechenden Eltern; die mittlere Körpergröße der Kinder großer Eltern war geringer als die Körpergröße ihrer Eltern und um- gekehrt die mittlere Körpergröße der Kinder kleiner Eltern war größer als die Körpergröße der Eltern. Es war „Regression“ eingetreten, die Nachkom- men der Plus- und Minus-Varianten hatten die Besonderheit ihrer Eltern nicht behauptet, sondern hatten sich dem Mittelmaß der Population genähert. Prinzip der Das Prinzip der Regression, welches Galton auf dem Wege der Statistik Regression im vorliegenden Fall gefunden und in zahlreichen anderen Fällen bestätigt er- halten hatte, hat er dann weiter auf experimentellem Wege geprüft, indem er selbst spanische Wicken züchtete und die Größen ihrer Samen zu seinen Er- hebungen benutzte; er kam hier zu gleichen Resultaten. Hatte er für die Samen- größe einer Wickenaussaat die Queteletsche Kurve und damit die mittlere Größe festgestellt und untersuchte er nun weiter, wie sich die Nachkommenschaft großer und kleiner Wickensamen verhielt, so ergab sich die gleiche Regression, ja sogar der gleiche Wert derselben (?/,); die mittlere Größe der aus kleinen Wickensamen erhaltenen Samen war größer als die der Muttersamen, und um- gekehrt die Nachkommen großer Samen kleiner. Immerhin war der Rück- schlag auch hier kein vollkommener, so daß Galton und die im Anschluß an ihn sich entwickelnde biometrische Schule den Beweisfür erbracht hielt, daß es möglich sei, durch Auslese geeigneter Plus- oder Minus-Varianten einer fluk- tuierenden Variation bleibende Abänderungen zu erzielen. Damit schien eine exakte Bestätigung der Auffassungen gegeben zu sein, welche Darwin über das Zusammenwirken von Auslese und fluktuierender Variabilität entwickelt hatte. Johannsens Kul- Inzwischen haben unsere Anschauungen über die Erblichkeit bei fluktuie- wur in reinen vonder Variabilität durch die von Johannsen auf sie angewandte „Kultur in reinen Linien‘ eine völlige Umgestaltung erfahren. Unter reinen Linien versteht Johannsen ein Material, welches in streng- ster Inzucht von einer Ausgangsform gezüchtet ist. Derartigem Material gegen- über erwies sich die Auslese als vollkommen machtlos. Auch wenn man ex- treme Varianten zur Aufzucht benutzte, so trat bei der Nachkommen- schaft derselben gleich in der ersten Generation vollkommener Neuere Anschauungen über Variabilität 21 Rückschlag ein. Ich erläutere das Verfahren an einem bestimmten Beispiel. Johannsen sammelte sämtliche von einer Mutterbohne stammenden Tochter- bohnen und stellte für dieGesamtheit derselben die Queteletsche Variationskurve fest. Zur Nachzucht wandte er dann die größten und die kleinsten Formen aus (extreme Plus- und Minus-Varianten) und wiederholte dieses Verfahren mehrere Jahre hintereinander. Dabei stellte sich, wenn er von den vielerlei den Verlauf der Kultur beeinflussenden Zufälligkeiten absah, heraus, daß es gänzlich gleich- gültig war, ob man Plus- oder Minus-Varianten zur Aufzucht verwandte. Die von beiden gewonnenen Variationskurven stimmten sowohl untereinander, als auch mit der Variationskurve des Ausgangsmaterials überein. Man kann das auch so ausdrücken, daß die mittlere Größe in der reinen Linie unverändert bei- behalten wird, gleichgültig, ob man große oder kleine Bohnen zur Aufzucht ver- wendet. Die Johannsenschen Untersuchungen sind vielfach nachgeprüft und bestätigt worden, und so entwickelte sich die allgemeine Auffassung, daß die Abänderungen, welche durch fluktuierende Variabilität erzielt werden, nicht vererbt werden; erblich ist immer nur der mittlere Charakter. Man kann die fluktuierende Variabilität einem Pendel vergleichen, dessen Stellung im Raum die gleiche bleibt, mag man das Gewicht noch so sehr aus der Gleichgewichts- lage verrücken. In gleichem Maße als die Bedeutung der fluktuierenden Variabilität für Mutationstheorie die Abstammungslehre schwand, wuchs das Interesse für die Abänderungen, welche Darwin „single Variations‘‘ oder auch „sports“, Kölliker und Korschinsky Heterogenesen nannten, für welche in Deutschland lange Zeit über die Bezeichnung sprungweise oder diskontinuierliche Variation angewandt wurde, bis man sich in der Neuzeit mehr und mehr auf den schon vor Jahrzehnten üblichen, neuerdings wieder von de Vries zur Geltung ge- brachten Ausdruck ‚Mutation‘ einigte. Unter Mutationen versteht man Abänderungen, welche, wie die horn- losen Rinder und die Ankonschafe, plötzlich und unvermittelt auf- treten und von Anbeginn vollkommen erblich sind. Das klassı- sche Beispiel für Erläuterung ihres Wesens bilden die Abänderungen, welche de Vries bei der Massenkultur von Oenothera lamarckiana erzielte und welche ihn veranlaßten, seine „Mutationstheorie‘ aufzustellen. Zweck derselben war eine völlige Reform der Deszendenztheorie, ganz besonders der Darwinschen Selektionslehre. Die Tatsachen, um welche es sich handelt, sind folgende. Wenn man Oenothera lamarckiana in großen Mengen züchtet, treten in der Nachkommenschaft mehrere Formengruppen auf, welche sich von der Mutter- pflanze ganz erheblich unterscheiden, so daß man sie, wenn man nicht ihre Her- kunft wüßte, für selbständige Arten halten würde. De Vries schrieb daher die- sen „Mutanten“ auch den Wert sogenannter kleiner oder Elementararten zu und benannte sie O. gigas, O.lata, O. rubrinervis, O.nanella usw., Namen, welche den Hauptcharakter der jedesmaligen Formengruppe zum Ausdruck bringen. Charak- teristisch für die ‚Mutanten‘ waren folgende drei Merkmale: ı. Mangel aller Übergänge sowohl zu anderen Mutanten, als auch zur Stammart, 2. gleich- von de Vries. 22 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre förmiger Charakter aller einer Mutation angehöriger Individuen, 3. der schon hervorgehobene Umstand, daß die meisten Mutanten, sofern man Kreuzbe- fruchtung ausschloß, rein züchteten. De Vries wies im Anschluß an seine Un- tersuchungen daraufhin, daß Mutationen auch das Material seien, dessen sich die Züchter bedienten, wenn sie neue Blumen, neue Früchte, neue Gemüse auf den Markt zu bringen gedächten; daß ferner auch aus der Natur Mutationen be- kannt seien und daß die Entstehung der sogenannten kleinen oder elementaren Arten der Botaniker auf Mutation zurückgeführt werden müsse. Bei diesen Auseinandersetzungen konnte er sich vielfach auf das reiche Material stützen, welches kurze Zeit vorher Bateson und Korschinsky gesammelt hatten, um zu beweisen, daß bei der Entstehung neuer Arten nicht eine allmähliche, sondern eine sprungweise Umbildung der Formen vor sich gehe. Besonders beweiskräftig waren für die Anhänger der Mutationslehre die Erfahrungen, welche beim Bau der Feldfrüchte (Korn, Weizen, Hafer, Rüben usw.) gewonnen worden sind. Bei den Versuchen, eine Verbesserung des Getreides herbeizuführen, hatten die Land- wirte, besonders die deutschen, lange Zeit das auch von Darwin vertretene Prinzip der fortgesetzten Auslese angewandt. Dasselbe besteht darin, daß all- jährlich aus den gereiften Früchten die besten ausgewählt werden, namentlich solche, welche den Lebensbedingungen besonders angepaßt sind. Sollten die auf diese Weise gewonnenen Vorteile zu einer dauernden Verbesserung führen, so mußte der Prozeß alljährlich wiederholt werden; es mußte eine andauernde Selektion ausgeübt werden, wie sie auch Darwin für die Artbildung für not- wendig erklärt hatte. Im Gegensatz zu diesemälteren Verfahren geht diesnene Züchtunsslehrei von keanzianderens Brinzipiennaus Nachdem schon vor längerer Zeit englische Landwirte das Verfahren der ein- maligen Selektion benutzt hatten, hat neuerdings Hjalmar Nilsson, der Vor- stand der Svalöfer Kulturstation, dieselbe Methode in Anwendung gebracht und vervollkommnet und dabei so glänzende Resultate erzielt, daß sein Verfahren wohl allgemein als das allein berechtigte anerkannt wird. Bei dieser Methode bildet die Lehre von den Mutationen die wissenschaftliche Grundlage. Selektion und Um reichtragende und den besonderen Bedingungen des schwedischen a2 Klimas angepaßte Arten von Hafer, Weizen und anderen Feldfrüchten zu er- zielen, wurden von einer geeignet erscheinenden Sorte Massenkulturen angelegt und aus denselben — wir wollen das Verfahren für den Hafer erläutern — einige wenige geeignet scheinende Ähren ausgesucht. Das Erträgnis je einer Ähre wurde auf einer Feldparzelle für sich ausgepflanzt und nun die daraus erwach- senden Pflanzen einer sehr genauen Prüfung auf ihre Brauchbarkeit unter- worfen. Dieses Verfahren wurde so lange wiederholt, bis die gewünschte Form gefunden wurde. War dieser Fund einmal geglückt, dann wurde die Auslese beendigt und das betreffende Material zur Gewinnung von Saatgut verviel- fältigt. Die reichen und wiederholten Aussaaten wurden also nicht benutzt, um durch mehrfache Auslese einen günstigen Charakter zu steigern und auf die gewünschte Höhe zu bringen, sondern um unter den vielen „elementaren Arten‘ oder „Mutationen“, wie sie unter jeder Weizen- und Haferart vorhanden Neuere Anschauungen über Variabilität 23 sind, die geeignete ausfindig zu machen. Derartig ausfindig gemachte Formen erwiesen sich dann als konstant und rein züchtend, so daß es nicht mehr nötig war, durch fortgesetzte Selektion die Reinheit des Materials aufrechtzuerhalten. Immerhin scheint es, als ob innerhalb der brauchbar gefundenen Sorte gelegentlich durch erneute Mutation Formen auftreten, welche eine weitere Steigerung der günstigen Charaktere gestatten. Anderseits kommt es auch zu ungünstigen Abweichun- gen, so daß ein dauernder Verzicht auf Auslese nicht statthaft ist. Bei dem genauen Studium bestimmter Pflanzenarten, wie es in der Sva- löfer Station durchgeführt wurde, hat es sich nun herausgestellt, daß innerhalb einer jeden bisher gezüchteten Weizen- und Hafersorte zahlreiche rein züch- tende Sonderformen isoliert werden können, welche den Charakter von Mu- tationen besitzen, die voneinander sich so wenig unterscheiden, daß es des Auges eines geübten Züchters bedarf, um sie herauszu- erkennen. Hierin unterscheiden sich die Varietäten, welche man jetzt Mu- tationen nennt, in sehr bedeutsamer Weise von den ‚‚single Variations‘‘ Dar- wins, den Heteromorphosen Köllikers und Korschinskys, für welche als charakteristisch hingestellt wurde, daß sie fast wie Monstrositäten aus dem Rah- men der Artcharaktere heraustreten; sie entfallen in dieser Hinsicht unter den Begriff der ‚individuellen Variation“. Die von Darwin aufgestellte Unter- scheidung von ‚individual variations‘‘ und ‚‚single variations‘‘ deckt sich somit nicht mit der modernen Unterscheidung von fluktuierender Variation und Mu- tation. Diese Unterscheidung setzt ein umfangreiches statistisches und experi- mentelles Material voraus, welches erstin den letzten 30 Jahren gewonnen wurde und daher Darwin nicht zur Verfügung stand. Übrigens sind wir auch jetzt noch nicht in der Lage, ein endgültiges Ur- teil zu fällen, ob die Unterscheidung zwischen fluktuierender Variation und Mutation sich in der Schärfe, wie sie namentlich von de Vries, Johannsen und anderen hervorragenden Biologen aufgestellt worden ist, auch in Zukunft wird aufrecht erhalten lassen. Mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der Frage und die Kürze der Zeit, in welcher dieselbe eine exakte Bearbeitung erfahren hat, müssen wir mit der Möglichkeit anderweitiger Auffassungen rechnen, und zwar verdienen zwei Möglichkeiten Berücksichtigung, I. daß es auch erb- liche fluktuierende ‘Variationen gibt und 2. daß nicht erbliche fluktuierende Variationen unter bestimmten Verhältnissen erb- lich und konstant werden und sich somit zu Mutationen umfor- men können. Manche Untersuchungen Towers sprechen zugunsten einer derartigen Auffassung. Tower fand beim Koloradokäfer ähnlich beschaffene fluktuierende Veränderungen bei Variationen und Mutationen; er stellte fest, daß die Mutationen in der Richtung der fluktuierenden Variabilität liegen und viel- leicht nurextremeGrade derselbensind, welche vermögeihrerstarken Abweichung vom mittleren Artcharakter konstant geworden sind. Anderseits haben aber besonders die Svalöfer Untersuchungen ergeben, daß der Grad der Abweichung vom mittleren Artcharakter nicht darüber entscheiden kann, ob eine Abände- Mutation und „single variations‘. Mutation und fluktuierende Variation. Unterscheidung genotypischer und phänotypi- scher Variatio- nen. Keimzellen und Somazellen. 24 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre rung den Charakter einer Variation oder Mutation besitzt. Denn wie schon hervorgehoben wurde, können ganz geringfügige Abweichungen vom mittleren Artcharakter schon das Wesen erblicher Mutationen besitzen. Es gibt freilich Biologen, wie z. B. Johannsen, welche Erwägungen, wie ich sie soeben vorgetragen habe, von vornherein jedwede Berechtigung ab- sprechen, weil sie fluktuierende Variation und Mutation für prin- zipiell verschiedene Dinge erklären. Die erstere sei durch die unmittel- bare Abänderung des Körpers bedingt, sei somit somatischer oder, wie es jetzt vielfach auch ausgedrückt wird, „phänotypischer Natur; die zweite dagegen beruhe auf einer Veränderung der Keimzellen, welche erst sekundär an den aus den Keimzellen sich entwickelnden Körpern zum Ausdruck gelange, sei somit „genotypischerNatur“. Diesescharfe Unterscheidung somatischer Variabili- tät und genotypischer Umgestaltung geht auf Weismann zurück, wenn auch die Bezeichnungen ‚‚genotypisch‘‘ und ‚phänotypisch‘ von ihm noch nicht benutzt wurden; sie verlangt genauere Erläuterung schon mit Rücksicht darauf, daß ohne Kenntnis derselben auch die Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigen- schaften, auf die wir im nächsten Abschnitte werden eingehen müssen, nicht verstanden werden kann. Bei seinen kritischen Erörterungen über das Wesen der Erblichkeit wurde Weismann dahin geführt, einenscharfenGegensatz zwischenden soma- tischen Zellen und den Keimzellen einesOrganismusanzunehmen. Erstere sind Träger der zum Leben des Individuums nötigen Funktionen und bilden das ‚Soma‘, welches eine begrenzte Lebensdauer hat und früher oder später mit Notwendigkeit dem Tode verfällt; letztere sind im Soma eingeschlossen und dienen der Erhaltung der Art; sie enthalten das Keimplasma oder die Ver- erbungssubstanz, welche die Übertragung der Eigenschaften von den Eltern auf die Kinder vermittelt. Aus einem in der Mehrzahl der Fälle befruchteten Ei durch Teilung hervorgegangen, vermehren sich die Geschlechtszellen durch Teilung und liefern so die männlichen und weiblichen Keimzellen, die Sperma- tozoen und Eier, aus deren Vereinigung (Befruchtung) wieder Individuen der folgenden Generationen sich entwickeln (Kontinuität des Keimplasma). Wenn zwei Geschwister sich gleichen, so hat dasseinen Grund darin, daß die Eier, aus denen sie sich entwickelt haben, durch Teilung von einem gemeinsamen Urei hervorgegangen sind. Wenn sie ferner Ähnlichkeit mit ihren Eltern besitzen, so hängt das damit zusammen, daß die bei der Zeugung funktionierenden Eier und Spermatozoen unmittelbare Abkömmlinge sind von den Eizellen, welche auch die Körper von Vater und Mutter geliefert haben. Es ist ohne weiteres klar, daß Veränderungen, welche die Geschlechts- zellen in ihrer Vererbungssubstanz erfahren, auch an den aus ihnen hervor- gehenden Individuen zum Ausdruck gelangen und deren Ähnlichkeit mit den Eltern modifizieren müssen. Solche Veränderungen der Keimzellen nennt Weis- mann Keimesvariationen, Johannsen genotypische Veränderun- gen; sie müssen notwendigerweise erblich sein, weil sie durch fortgesetzte Zell- teilung nicht nur auf das Soma übertragen werden, sondern auch auf die im Variabilität und Erblichkeit 25 Soma eingeschlossenen Geschlechtszellen, welche den Ausgangspunkt für alle folgenden Generationen bilden und somit deren Beschaffenheit bedingen. Auf Grund der Erfahrungen, welche man vor allem bei der Mendel-Ver- Lehre von den erbung gemacht hat, schreibt man der Vererbungssubstanz oder dem „Keim- ""eiten plasma“ eine bestimmte Struktur zu: dasselbe sei aus ebensoviel Erbeinheiten (‚„ Units‘ oder,, Gene‘‘) zusammengesetzt, als jeder Organismus elementare Eigen- schaften besitze. Veränderungen der Vererbungssubstanz entstehen durch Ver- änderungen einer größeren oder geringeren Zahl ihrer Erbeinheiten. Veränderun- gen am Keimplasma können somit in verschiedener Weise zustande kommen: I. durch Rückbildung von Erbeinheiten, was zu einem Ausfall der korrespon- dierenden Eigenschaften führt, 2. durch Neubildung von Erbeinheiten, was das Auftreten neuer Eigenschaften veranlaßt, 3. durch neue Kombination vorhan- dener Erbeinheiten. Letzteres findet bei der Befruchtung statt, da bei ihr das Keimplasma des Vaters und das Keimplasma der Mutter zu etwas Neuem, dem Keimplasma des Kindes, vereinigt werden. Da nun die einzelnen Erbeinheiten wie Teilchen eines Mosaikbildes dis- kontinuierlich sind, so müssen auch alle durch Keimesvariation ent- standenen genotypischen Veränderungen diskontinuierlich sein; mit anderen Worten: sie müssen den Charakter von plötzlich auftretenden Ab- änderungen oder Mutationen tragen. Mit diesem ihrem genotypischen Charak- ter hängt notgedrungen die Erblichkeit der Mutationen zusammen. Aus den gleichen Erwägungen würde nun zu folgern sein, daß alle fluk- tuierenden Variationen nicht genotypischer Natur sein können; sie müssen ihre Ursache in unmittelbaren Veränderungen des Somas besitzen, weil nur diese die Möglichkeit gradueller Abstufung bieten. Individuen sollen sich trotz genotypischer Gleichheit verschieden entwickeln können, wenn sie unter verschiedenen Entwicklungsbedingungen aufwachsen. Die genotypische Gleichheit werde dann durch die somatischen Veränderungen, die Verschieden- artigkeit der äußeren Erscheinungsweise, für welche der oben schon benutzte Ausdruck „Phänotypus‘ geprägt wurde, verdeckt. Aus diesem somatischen oder phänotypischen Charakter der fluktuierenden Variabilität wird nun weiter gefolgert, daß sie unter keinen Umständen erblich sein können. So sehr nun auch die geschilderten Gedankengänge von exakten Erfah- rungen ausgehen, so beruhen sie gleichwohl auf einer Interpretation dieser Erfahrungen und besitzen somit einen durchaus hypothetischen Charakter; sie können somit einen prinzipiellen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen oszillierender Variabilität und Mutabilität nicht beweisen. Klarheit kann hier nur durch fortgesetzte exakte Untersuchungen gewonnen werden, wie siein den letzten 10 bis 20 Jahren so erfolgreich begonnen worden ist. Übrigens würde ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen fluktuierender Variabilität und Mutation auch dann nicht sicher erwiesen sein, wenn es sich be- wahrheiten sollte, daß erstere ausschließlich durch unmittelbare Veränderung des Körpers, letztere ausschließlich durch erst sekundär auf den Körper über- tragene Veränderung des Keimplasma bedingt wird. Denn dann wäre immer Zweckmäßige Anpassung der Organismen. 26 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre noch die Frage zu entscheiden, ob somatische Veränderungen nicht auf das Keimplasma übertragen werden können, eine Frage, mit welcher wir uns im folgenden Abschnitte zu beschäftigen haben. III. Über die Ursachen der Artbildung; kausale Begründung der Abstammungslehre Variabilität und Erblichkeit, mit denen wir uns im vorausgehenden Ka- pitel beschäftigt haben, sind die mächtigen Faktoren, mit denen jede Des- zendenztheorie, welche Form sie auch besitzen mag, zu rechnen hat; ihr Stu- dium ist aber für sich allein nicht ausreichend, um die Umbildung der Arten zu erklären. Vielmehr ist es notwendig, die Ursachen zu erkennen, welche einer- seits die Variabilität hervorrufen, anderseits sie in bestimmte zur Artbildung führende Bahnen leiten. Das Studium dieser Ursachen führt zur kausalen Be- gründung der Deszendenztheorie. Auf diesem Forschungsgebiet herrscht seit Jahrzehnten ein lebhafter Widerstreit der Meinungen. Vor allem stehen sich die Schulen der Neo-La- marckisten und Neo-Darwinisten gegenüber, mit denen wir uns daher in erster Linie zu beschäftigen haben. Im Anschluß an sie haben wir dann noch die Migrationstheorie und die Theorie der Orthogenesis zu besprechen. Zunächst müssen wir noch einiges zur näheren Charakteristik der Art- umbildung vorausschicken. Wir finden den Bau der Organismenwelt in Harmonie gesetzt mit ihrer Umgebung. Bei den wasserbewohnenden Wirbeltieren, wie Fischen, Waltieren, den ausgestorbenen Meeressauriern, sind die Extremitäten zum Schwimmen geeignete Flossen, bei Vögeln, Fledermäusen und Flugsauriern sind sie zu Flug- organen umgebildet, bei baumbewohnenden Säugetieren zu Greifwerkzeugen, bei den meisten Landbewohnern zu lokomotorischen Trageapparaten. Die Extremitäten besitzen somit überall die Beschaffenheit, welche die jeweilige Lebensweise erfordert. Das gleiche gilt in ganz hervorragender Weise von dem Gebiß der Säugetiere. Je nach der Ernährung ist dasselbe ein ganz verschiede- nes, so daß man eine jede Ordnung der Säugetiere nach dem Bau der Zähne bestimmen kann. Wir sehen ferner, daß der Bau der Tiere und Pflanzen sich mit dem Wechsel der Existenzbedingungen verändert. Die im Wasser lebende von faulenden, meist vegetabilischen Stoffen sich ernährende Kaulquappe hat einen langen wie eine Uhrfeder in Spiralwindungen gelegten Darm. Bei der Metamorphose ändert sich derselbe in wenigen Tagen rapid und verkürzt sich auf 1/, seiner ursprünglichen Länge zu einem wenig gewundenen in Magen und Dünndarm differenzierten Rohre, eine Umwandlung, welche in Übereinstim- mung steht mit der nach der Metamorphose beginnenden animalischen Insek- tenkost. Es ist ferner bekannt, daß in den Gegenden mit Wechsel der Jahres- zeiten, in denen Winterkälte und Sommerwärme miteinander alternieren, die Behaarung der Säugetiere und die Befiederung der Vögel wechselt, indem Sommer- und Winterkleid ausgetauscht werden. Die wenigen Beispiele er- läutern die so wunderbare, in tausendfältigen Formen uns ent- Über die Ursachen der Artbildung 27 gegentretende zweckmäßige „Anpassung“ der Organismen anihre Umgebung Das Wunderbare dieser Anpassung tritt uns am überraschendsten in den Fällen entgegen, in denen der Organismus durch künstliche Eingriffe ver- ändert wird, so daß die Harmonie, welche zwischen Bau und Umgebung besteht, eine Störung erfährt. In der Mehrzahl der Fälle hat dann der Organismus die Fähigkeit, die verlorengegangene Anpassung wiederherzustellen. Ich will dies an zwei Beispielen erläutern. Es hat sich herausgestellt, daß unsere Knochen eine ungemein zweckmäßige Struktur indem Sinne besitzen, daß die festen Teile, die harte Knochenrinde und die im Inneren befindlichen Knochenbälkchen, auf die Gegenden beschränkt sind, wo die stützenden, schützenden und tragenden Funk- tionen des Skeletts ihre Anwesenheit erfordern. Die Anordnung ist eine so gesetz- mäßige, als wäre sie von einem Ingenieur berechnet. Wenn nun die statischenVer- hältnisse des Knochens verändert werden, sei es durch Bruch und schlechte Hei- lung der Bruchstelle, sei es durch Veränderung angrenzender Gelenke oder andere Momente, so wird die Architektonik des Knochens den neuen Bedingungen ent- sprechend ebenfalls umgeändert. Man findet dann nach einiger Zeit die Knochen- bälkchen so angeordnet, wie die neuen durch die Verlagerung herbeigeführten Zug- und Druckverhältnisse des Knochens es erfordern. Wie das besprochene Beispiel die Regulation im Bau vorhandener Organe, so möge ein zweites Beispiel die Fähigkeit des Organismus, Verlorengegangenes zu regenerieren, erläutern. Von einer Regeneration in geringerem Maßstabe kann man schon bei jeder Wundheilung reden, indem durch Neubildung von Geweben der Zusammenhalt der Teile wiederhergestellt wird. Am überraschendsten wird aber die Zweckmäßigkeit der Vorgänge erläutert, wenn Teile von verwickelter und ausgeprägter Struktur erneuert werden müssen. Ein derartig besonders berühmt gewordenes Beispiel ist der Ersatz der Tritonlinse. Wenn man einem Wassermolch die Linse entfernt, so wird dieselbe wiederhergestellt, in- dem Zellen der Iris in Wucherung geraten, ihr Pigment verlieren und eine Linse, bestehend aus Linsenfasern und Linsenepithel, erzeugen. Um die Integrität des Auges wiederherzustellen, vermögen somit Zellen — im vorliegenden FallZel- len der Iris — ihren ursprünglichen Charakter umzuändern und ein Wachstum einzuschlagen, welchesihnen von Haus aus vollkommen fremd ist. Denn während der normalen Entwicklung wird die Linse nicht von der Iris aus, sondern vom Epithel der Haut erzeugt. Es genügt somit nicht, die Umbildungen der Organismen zu erklären; es muß vielmehr weiter im Auge behalten werden, daß diese Um- bildungen zu einer zweckmäßigen Anpassung des Organismus an seine Umgebung führen; es muß zugleich diese zweckmäßige Anpassung erklärt werden. Wir müssen diesem Satze aber sofort wieder eine Einschränkung anfügen. Die zweckmäßige Anpassung ist keine absolute. So überraschend sie uns in vielen Fällen, man kann sogar sagen in der Mehrzahl der Fälle, entgegentritt, so sehr versagt sie in anderen Fällen. Wir kennen viele Einrichtungen, welche für den Organismus gleichgültig, andere, welche sogar schädlich sind. Experimente haben gelehrt, daß unsere Ohrmuschel für das Hören Anpassung an veränderte Lebensbedin- gungen. Zweckmäßige Regeneration Ausnahmen von der zweckmäßi- gen Anpassung. Lamarckistische Erklärung der Zweckmäßigkeit. Einfluß der äuße- ren Umgebung. 28 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre keinerlei Vorteile bietet, daß die auf ihr angebrachten kleinen Muskeln von keinem Menschen bewegt werden können, was ja für die an die Ohrmuschel herantretenden Muskeln bei manchen Menschen noch möglich ist, daß sie somit vollkommen zwecklos sind. Der Blinddarm mit seinem Wurmfortsatz ist eben- falls zum Leben überflüssig; letzterer kann operativ entfernt werden, ohne daß in den vielen Tausenden von Fällen auch nur irgendeinmal eine Schädigung des Menschen beobachtet worden wäre. Wohl aber bietet dieser Darmteil viele Gefährdungen des menschlichen Lebens. Wir können die Sachlage somit in dem Sinne zusammenfassen, daß bei der Umbildung der Organismen der zweckmäßige Charakter dieser Umbildung erklärt werden muß, aber in einer Weise, welche zahlreiche Ausnahmen von der allgemeinen Regel gestattet. Die beiden wichtigsten Versuche, für die Umbildung der Arten unter gleich- zeitiger Berücksichtigung ihrer zweckmäßigen Anpassung eine kausale FEr- klärung zu geben, sind der Lamarckismus und der Darwinismus. a) Lamarckismus. Die Lamarcksche Lehre hat, nachdem sie lange Zeit in den Hintergrund gedrängt war, in der Neuzeit eifrige Vorkämpfer in den Paläon- tologen Cope, Osborn, Koken u.a. und in den Biologen Wolff, O.Hertwig, Pauly u.a. gefunden. Am methodischsten durchdacht wurde sie von Pauly, welcher der Lamarckschen Lehre ausschließliche Berechtigung einräumt, derDar- winschen Selektionslehre jegliche Bedeutung abspricht. Wir können siedieLehre von der somatischen Umbildung nennen, indem ihr zufolge alle Umge- staltungen, welche zur Erzeugung von neuen Formen führen, vom funktionie- renden Körper des Organismus ausgehen und erst sekundär die Geschlechts- zellen modifizieren, auf diese Weise erblich werdend. Der Lamarckismus liefert eine unmittelbare Erklärung der zweckmäßigen Anpassung, indem er sieals die Folge der zwischen dem Organismus und seiner Umgebung bestehenden Wech- selwirkung auffaßt. Die Erfahrung lehrt, daß die Körper der Pflanzen und der Tiere durch den Wechsel der äußeren Lebensbedingungen verändert werden. Dieser Wechsel kann in zweierlei Weise seinen Einfluß ausüben, direkt, indem er unmittelbar die Organe verändert, indirekt, indem er den Organen neue Lebensbedingungen setzt und sie daher zwingt, in anderer Weise als bisher zu funktionieren und somit aktiv sich zu verändern. Der direkten Bewirkung durch die äußeren Existenzbedingungen haben Geoffroy St. Hilaire und Goethe eine große Bedeutung beigemessen. Lamarck räumte ihr nur, soweit es sich um Pflanzen handelt, größeren Ein- fluß ein. Sie ist in der Neuzeit Gegenstand zahlreicher wichtiger auf das Tier- reichsich beziehender Untersuchungengeworden. Temperaturund Feuchtigkeits- grad der Luft haben sich bei Insekten und Amphibien als sehr wirksame Faktoren erwiesen. Wenn man die Puppen von Schmetterlingen — benutzt wurden die Puppen von Arctia caja (Bär), Vanessa Urticae (Fuchs), V. antiopa (Trauer- mantel), V.io (Pfauenauge) u.a. — starker Kältewirkung aussetzt (biszu — 8°C.), so weicht die Färbung des aus der Puppe schlüpfenden Schmetterlings ganz er- Lamarckismus. Theorie der unmittelbaren Anpassung 29 heblich von dem normalen Kleid ab; es ergeben sich sogenannte ‚„Kälte- aberrationen‘“. Derartige Kälteaberrationen kommen gelegentlich auch in der Natur vor; sie bilden eine regelmäßige Erscheinung bei solchen Schmetter- lingen, welche im Jahre zwei Generationen besitzen (digoneuonte Schm.), von denen die eine ihren gesamten Entwicklungsgang im Sommer durchmacht (Sommerform), während die andere auf dem Puppenstadium überwintert (Winterform). Die Winterform kann vermöge der Kälteeinwirkung auf die Puppe so sehr von der Sommerform abweichen, daß sie lange Zeit für eine be- sondere Art galt. So gehören Araschnia levana als Winterform und A. prorsa als Sommerform in denselben Zeugungskreis. Dieselbe Zweigestaltigkeit (Dimorphis- mus), welche sich in unserem Klima unter dem Einflusse der Winterkälte ent- wickelt, wird in den Tropen durch die Regenzeit herbeigeführt. Auch Steigerung der Temperatur über die Norm kann Aberrationen herbeiführen. Wenn die Puppe von Vanessa urticae bei hoher Temperatur gezüchtet wird, entsteht ein Schmetterling, welcher der südlichen Form V. inachus sehr ähnlich ist. Kälte- und Wärmeaberra- tionen bei Schmetterlingen. Ähnliche Verhältnisse, wie wir sie soeben für Schmetterlinge kennen ge- Aberrationen lernt haben, sind durch langjährige Untersuchungen Towers für den Kolorado- käfer festgestellt worden. Bei demselben werden Farbenaberrationen sowohl durch Temperaturunterschiede, als auch durch Unterschiede in der Feuchtig- keit herbeigeführt, und zwar soll Steigerung der Feuchtigkeit und der Tempe- ratur ebenso wirken wie Abnahme derselben. Unterschiede geringeren Grades bewirken Verdunklung, melanistische Färbung, starke Unterschiede dagegen Aufhellung, albinistische Färbung. Auch bei den Amphibien wurde der Einfluß der Feuchtigkeit und der Tem- peratur genauer untersucht. Der vorwiegend im Hochgebirge lebende Alpen- salamander, Salamandra atra, hat eine gleichmäßig schwarze Färbung; er pro- duziert 70 in den Uterus gelangende Eier, von denen sich aber auf jeder Seite nur eines zu einem Embryo entwickelt, während die übrigen zugrunde gehen. Der begünstigte Embryo lebt von dem Material der degenerierenden Eier, wächst infolgedessen heran, macht seine Metamorphose im Uterus durch und wird als Vollsalamander, d. h. nach beendigter Metamorphose und Rück- bildung der Kiemen, geboren. Vom Alpensalamander unterscheidet sich der das Hügel- und Flachland bewohnende Feuersalamander S. maculosa sowohl in seiner Färbung wie in seiner Entwicklung; er ist ausgezeichnet durch die mehr oder minder ausgesprochene gelbe Fleckung seines sonst schwarz ge- färbten Körpers; er setzt bis zu 70 kleine Kiemen tragende Larven in das Was- ser ab; dieselben wachsen hier heran und verwandeln sich nach mehreren Wo- chen Wasseraufenthalt unter Rückbildung der Kiemen in Vollsalamander. Man kann nun durch äußere Einflüsse sowohl die Fortpflanzungsweise wie die Färbung des Alpensalamanders der des Feuersalamanders ähnlicher machen und ebenso auch umgekehrt (Kammerer). Wenn der Alpensalamander in feuch- ter Luft gezüchtet wird und Gelegenheit hat, seine Jungen ins Wasser abzu- setzen, so erzeugt er kiementragende im Wasser metamorphosierende Junge, deren Zahl 3, bei fortgesetzter Kultur sogar 9 betragen kann, welche durch bei Käfern. Aberrationen bei Amphibien. Erblichkeit er- worbener Eigen- schaften. Die Lehre Weismanns. 30 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre gelbliche Fleckung an Salamandra maculosa erinnern. Umgekehrt behält in trockener Luft und bei Mangel von Wasser S. maculosa seine Jungen bis zu be- endeter Metamorphose zurück. Dabei nımmt die Zahl der Jungen ab, so daß nur 7, manchmal sogar nur 2 Vollmolche geboren werden; diese zeichnen sich durch schwärzliche an S. atra erinnernde Färbung aus. Eine noch intensivere Ver- änderung der Zeichnung, als es in den besprochenen Beispielen der Fall war, kann man durch Kultur auf geeignetem Untergrund erzielen. Werden Sala- manderlarven von früh an auf gelbem Grund gezüchtet, so tritt das Schwarz immer mehr zurück und fängt das Gelb an vorzuherrschen. Umgekehrt ver- anlaßt Zucht auf schwarzem Untergrund Ausdehnung der schwarzen Grund- farbe auf Kosten des Gelb. In der besprochenen Weise könnte man Hunderte von Beispielen zusam- menstellen, welche zeigen, in welch intensiver Weise Veränderung der Lebens- bedingungen auch die Organismen verändert und zwar nicht nur ihre äußere Er- scheinung und ihre Fortpflanzung, sondern auch den inneren Bau und die In- stinkte der Tiere. Indessen der Nachweis der Veränderungen allein ist für die Des- zendenztheorie nicht ausreichend. Sollen die veränderten Existenzbedingungen einen dauernd umgestaltenden Einfluß auf die Organismen ausüben, somüssen die durch sie veranlaßten Abänderungen von einem Individuum zum anderen durch Vererbung übertragen und von Generation zu Generation gesteigert und befestigt werden, so daß sie schließ- lich, auch wenn die Veränderung der Lebensbedingungen aufhört, noch er- halten bleiben. Wir werden durch diese Überlegungen auf eines der interessan- testen und wichtigsten Probleme geführt, bei dessen Erörterung leider die Ansichten der Forscher noch immer im scharfen Gegensatz zueinander stehen; es ist das die Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigenschaften. Die Erblichkeit erworbener Eigenschaften wurde von Lamarck und Dar- win als eine sicher bewiesene Tatsache angesehen und auch in den ersten Dezennien der Herrschaft des Darwinismus allgemein zugegeben. Es ist das große Verdienst Weismanns, zuerst nachgewiesen zu haben, wie schlecht begründet diese Ansicht ist, und welche großen theoretischen Schwierigkeiten, nach WeismannsAnsicht sogarUnmöglichkeiten, ihr entgegenstehen. Wenn die Veränderung erblich sein soll, so ist das nur möglich unter der Voraussetzung, daß auch die Träger der Vererbung, die Geschlechtszellen, von ihr beeinflußt werden, daß somit von den veränderten Stellen des Körpers Einwirkungen auf die in den Geschlechtszellen enthaltenen Anlagen ausgeübt werden. Durch viel- fältige Beobachtung ist nun zwar festgestellt, daß eine Korrelation, ein Abhängig- keitsverhältnis zwischen den einzelnen Teilen eines Organismus besteht, so daß Veränderung eines Teils in mehr oder minder ausgesprochener Weise auch die anderen Teile beeinflußt. Daher kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch die Geschlechtsorgane dieser Beeinflussung unterworfen sind. Aber eshandeltsich hier gar nicht um eine Beeinflussung von gewöhnlicher Natur, sondern von ganz besonderemCharakter. Die Haut des Schmetterlingsoderdes Amphibiums, welche später einmal den veränderten Charakter erkennen lassen soll, existiert zur Zeit, Die Erblichkeit erworbener Eigenschaften 31 in welcher die erbliche Übertragung vor sich geht, überhaupt noch nicht; es existiert im befruchteten Ei nur ein Anlagematerial, vermöge dessen sich später einmal die Haut nebst andren Organen bilden wird. Das betreffende Anlagemate- rial muß ferner eine Veränderung erfahren, welche mit der Veränderung des Or- gansin vollster Harmonie steht. Wer diese Verhältnisse genau durchdenkt, dem wird es zum Bewußtsein kommen, wie ungeheuer schwer es ist, einen Übertra- gungsmodus, wie er hier verlangt wird, sich vorzustellen. In dieser Schwierigkeit ist der Grund gegeben, weshalb Weismann beim Leugnen der Erblichkeit er- worbener Eigenschaften so viel Zustimmung gefunden hat. Die Weismannsche Auffassungsweise hat durch die moderne Erblichkeits- forschung neuen Boden gewonnen. Die Unterscheidung der erblichen Muta- tionen von den nicht erblichen fluktuierenden Variationen führte, wie wir gesehen haben, zu der Auffassung, daß jene in der Beschaffenheit der Erb- masse, d. h. genotypisch bedingt seien, daß diese dagegen einen ausschließlich phänotypischen, d. h. durch die Beschaffenheit des Soma bestimmten Charak- ter hätten. Die Lehre, daß fluktuierende Variationen nicht erblich seien, wurde daher Veranlassung, die Erblichkeit somatischer Charaktere überhaupt zu leug- nen. Von diesem Standpunkte aus prägte Johannsen die Formel: ‚Die Ontogenese ist Funktion der genotypischen BeschaffenheitderZygote, also dersich vereinigen- den Gameten — aber diegenotypische Beschaffenheit der Gameten ist nicht Funk- tion der realisierten persönlichen Beschaffenheit desbetreffenden Organismus (des Phänotypus)‘. „Die persönliche Beschaffenheit eines Organismus ist für die Erb- lichkeit ganz irrelevant.‘ Auch die meisten Anhänger der Mendelschen Ver- erbungslehre haben aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, gegen die LehrevonderErblichkeiterworbener EigenschaftenStellunggenommen. Bei aller Anerkennung des exakten Charakters der modernen Erblichkeits- forschung halte ich es doch für unberechtigt, auf Grund derselben die La- marckistische Auffassung der Erblichkeit als völlig unhaltbar zu verwerfen. Man muß sich bewußt bleiben, daß das absprechende Urteil sich nicht auf die exakten Resultate selbst gründet, sondern auf die aus diesen Resultaten abge- leiteten Folgerungen; letztere aber bedürfen noch der weiteren Begründung. Über die Frage, ob erworbene Eigenschaften erblich sind oder nieht, kann daher nur das) Experimentventscheiden. Derartige Experimente sind nun in der Neuzeit in großer Zahl gemacht worden. Man hat die zahlreichen durch äußere Einflüsse hervorgerufenen Abänderungen im Bau, in der Entwicklungsweise, der Färbung, der Beschaffen- heit der Instinkte usw. auf ihre Erblichkeit geprüft und hatte dabei viele positive Erfolge zu verzeichnen. Es stellte sich heraus, daß bei Fortdauer der abändernden Existenzbedingungen eine Steigerung der Abänderung in der nächsten Generation erzielt wurde, daß ferner trotz Rückkehr zu den alten Verhältnissen die nächste Generation einen Teil der Veränderungen bewahrte. Auf dem Trockenen gezüchtete Feuersalamander, deren Nachkommenschaft in der ersten Generation noch aus einer größeren Zahl Larven bestand, erzeugten in der zweiten Generation nur noch Vollmolche in Zweizahl genau wie der Al- Johannsens Kritik. Experimente über die Erblich- keit erworbener Eigenschaften. Unterscheidung von somatischer und Parallel- induktion. Experimentelle Prüfung. 32 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre pensalamander. Wurde die zweite Generation im Feuchten und bei Anwesen- heit von Wasser, also unter normalen Bedingungen, gezüchtet, so setzte sie zwar die junge Brut ins Wasser ab, aber anstatt 50 bis 70 kleiner Tiere nur 5 von bedeutender Größe, welche sich anstatt nach Wochen schon nach wenigen Tagen verwandelten (Kammerer). Die von Kälteaberrationen abstammenden Schmetterlinge zeigten zum Teil Kälteaberration, auch wenn ihre Puppen nicht der Kältewirkung unterworfen worden waren (Standfuß, Fischer). Diese der Lamarckistischen Erblichkeitsauffassung günstigen Resultate sind viel besprochen worden. Die nächstliegende Deutung derselben wäre ja, daß die äußeren Einflüsse, z.B. die Kälteeinwirkung, den Körper verändert, und die- ser die Veränderung auf die Keimzellen weiter übertragen habe. Man nennt diesen hypothetischen Vorgang, der, wenn er sicher gestellt wäre, ein Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften sein würde, „somatische In- duktion‘. Der ‚„somatischen Induktion“ stellt man die „Parallelinduk- tion‘ gegenüber. Diese Bezeichnung will besagen: die äußeren Einflüsse, in unserem Falle die Kälte, verändern einesteils den Körper; sie dringen aber gleich- zeitig durch den Körper durch bis zu den Geschlechtszellen und verän- dern auch diese, parallel und unmittelbar. Mit anderen Worten, die Ge- schlechtszellen verändern sich nicht, weil sie von den veränder- ten 'Somazellen beeinflußt werden, sondern weil sie won ’sder Kälte ebenfalls betroffen werden und auf sie in gleicher Weise antworten wie die Somazellen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten müßte der Entscheid getroffen werden; man müßte versuchen, ob es möglich ist, beim Experiment die Veränderung des Körpers und die Veränderung der im Körper eingeschlossenen Geschlechtszellen zu trennen, entweder durch die Art der Bewirkung, indem man Reize wählt, von denen es aus- geschlossen ist, daß sie unmittelbar bis zu den Geschlechtszellen vordringen, oder indem man bei Verwendung eines sowohl den Körper wie die Geschlechts- zellen beeinflussenden Reizes, wie es bei Kältewirkung auf wechselwarme Tiere zutrifft, die Wirkung dieses Reizes zeitlich auseinanderlegt, so daß die Beeinflussung des Körpers in eine andere Zeit fällt als die Beeinflussung des Geschlechtsapparats. Für beide Versuchsanordnungen liegen Beispiele vor. Es gibt Schmetterlinge (Gracillaria stigmatella), deren Raupen die Blatt- spitzen einer ihnen als Futter dienenden Weide zu einer Düte zusammen- rollen. Schneidet man die Spitzen weg, so behelfen sich die Raupen in an- derer Weise, um sich Schutzorgane zu bilden. Wenn diese veränderte Lebens- weise zwei Generationen lang den Tieren aufgenötigt wurde, blieb sie in der dritten Generation bestehen, auch wenn das Abschneiden der Blattspitzen unterblieb (Schröder). Daß bei dieser erzwungenen Instinktänderung eine Parallelinduktion der Geschlechtszellen erfolgt sei, ist ausgeschlossen; hier könnte nur eine somatische Induktion vorliegen. Der zweite Weg, die umstrittene Frage zu entscheiden, wurde von Tower eingeschlagen. Er fand, daß Farbenveränderungen beim Koloradokäfer ähn- lich wie bei den Schmetterlingen erzielt werden, wenn man ihre Puppen der Veränderung der Organe durch ihre Funktion a3 Wirkung abnormer Temperatur- und Feuchtigkeitsgrade unterwirft. Diese Ab- errationen sind nicht erblich. Werden dagegen in gleicher Weise die frisch ausge- schlüpften Käfer behandelt, so bleiben sie selbst unverändert, aber ihre Nach- kommenschaft zeigt die Temperaturaberration. Es müssen somitdie Geschlechts- zellen verändert worden sein. Diesließ sich auch dadurch beweisen, daß die durch Beeinflussung derGeschlechtszellen bedingteVeränderung auch weiterhin erblich blieb. Towererklärt dasüberraschende Resultat daraus, daß dieGeschlechts- zellen nur auf einem bestimmten Stadium, welches er ihre „sen- siblePeriode‘‘ nennt, beeinflußbar sind, nämlich zur Zeit, wo sie ihre Reifung erfahren, welche für den ersten Satz Eier im frisch ausgeschlüpften Käfer vor sich geht. Beim Koloradokäfer werden nun mehrere Sätze Eier in längeren Zwischenräumen abgelegt. Damit ist die Möglichkeit gegeben, je nach dem Zeitpunkte, in dem man das Experiment einsetzen läßt, den ersten, zweiten oder dritten Satz Käfer aberrativ zu beeinflussen, während der Rest normale Fär- bung annimmt. Einwandfrei ist auch dieses Experiment nicht. Denn wie Semon einwirft, ist sehr gut die Möglichkeit gegeben, daß die die Färbung be- dingenden Körperzellen durch Kälte stets eine Veränderung ihrer Beschaffen- heit erfahren, welche nicht zum Ausdruck kommen kann, wenn die Färbung des Käfers schon festgelegt ist, welche aber geeignet ist, diesomatische Induktion der Keimzellen herbeizuführen. Nach Semon ist an dem Towerschen Experiment das Bedeutsamste der Nachweis der sensiblen Periode, weil dadurch es verständ- lich werde, daß die ErblichkeitsomatischerVeränderungen in den einzelnenFällen so ganz verschieden ausfällt. Es sei eben nötig, daß der durch die somatische Ver- änderungbedingte ReizdieGeschlechtszellenin ihrersensiblen Periodetreffe,wenn er erblich werden solle. Da das bei vielen Veränderungen wie z. B. Wunden und Verstümmelungen nur selten zutreffe, seien dieselben in der Regel nicht erblich. Schließlich sei noch hervorgehoben, daß die Lehre von der Parallelinduktion dieselbe Schwierigkeit enthält, welche Veranlassung gewesen ist, die Erblichkeit erworbener Eigenschaften in Zweifel zu ziehen. Die Schwierigkeit besteht darin, daß die Anlage eines Organs durch einen Reiz in harmonischer Weise, wie das ausgebildete Organ, umgeändert wird, d.h. in einer Weise, welche es ermöglicht, daß das aus dem Keime entstehende Organ dieselbe Beschaffenheit aufweist, welche es angenommen haben würde, wenn es selbst während seiner Ausbildung vom Reiz betroffen worden wäre. Wir können daher sagen, daß die theoretischen Schwierigkeiten die gleichen sind, ob wir die Frblichkeit erworbener Eigenschaf- ten in Abrede stellen oder nicht. Eine sichere Entscheidung kann daher nur von ausgedehnten weiteren Experimenten erwartet werden, bei welchen, wie in dem oben schon angeführten Falle erblich gewordener Instinktveränderungen, die Annahme einer Parallelinduktion ausgeschlossen ist. Letzteres würde nun zutreffen in allen den Fällen, in welchen die Or- gane durch die veränderten Existenzbedingungen nicht unmittel- bar betroffen werden, sondern mittelbar, indem die Organismen durch die Veränderungen im Bereiche der Außenwelt gezwungen werden, ihre Organe in anderer Weise zu benutzen als es zuvor K.d.G. III. ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 3 Schwierigkeiten bei Annahme der Parallel- induktion. Indirekte oder aktive An- passung. 34 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre der Fall war. Diese Fälle vermittelter oder indirekter Anpassung bilden das Material, auf welches, wie wir gesehen haben, Lamarck speziell bei den Tieren ganz besonderen Wert legte. Wir können die in Rede stehende An- passung auch die ‚aktive Anpassung‘ nennen, weil bei ihr der Organismus durch seine Tätigkeit die Veränderungen schafft, welche seine Erscheinungs- weise beeinflussen. Funktionelles Die Lehre von der aktiven Anpassung geht von der Erfahrung aus, daß ee Organe bei methodischer Übung an Masse zunehmen, bei Untätigkeit dagegen schwächer werden und unter Umständen sogar gänzlich schwinden (atrophie- ren). Soweit hierbei die Muskulatur in Frage kommt, handelt es sich um die allerverbreitetsten Erfahrungen des täglichen Lebens. Ein jeder Mensch weiß, daß ein vernünftiges Maß körperlicher Anstrengung die Muskulatur kräftigt. Aber auch für andere Organe des tierischen Körpers ist die funktionelle Ver- größerung mit Sicherheit bewiesen. Um nur einige Beispiele aus einem über- reichen Material anzuführen, so ist es bekannt, daß bei Zerstörung oder ope- rativer Entfernung einer Niere die zweite Niere, welche nunmehr die doppelte Arbeit zu leisten hat, eine gewaltige Vergrößerung erfährt. Wenn gewisse Teile der Leber ganz entfernt oder funktionell unbrauchbar werden, so unterliegen die übrigen Teile in gleicher Weise der ‚funktionellen Hypertrophie‘‘. Stellen des Knochens, welche starkem Muskelzug ausgesetzt werden, verstärken sich und können Auswüchse erzeugen. Auch die schon früher erwähnte, statischen und dynamischen Gesetzen folgende, so ungemein gesetzmäßige Architektonik des Knochens läßt sich auf das gleiche Prinzip zurückführen, daß die durch Kampf der Teile Zug und Druck in Funktion erhaltenen Teile sich kräftig entwickeln, die da- ‚m Organismus. Zyischen gelagerten von der Funktion ausgeschlossenen Teile dagegen zu- grunde gehen. Wie zuerst Roux durchgeführt hat, stehen funktionierende und funktionslose Teile eines Organismus im Wettbewerb um die Ernährung (Kampf der Teile im Organismus), ein Wettbewerb, welcher erfahrungs- gemäß zuungunsten der nicht tätigen Teile entschieden wird. Mechanistische Es ist zurzeit nicht möglich, für die besprochenen, für den Organismus ee ungemein zweckmäßigen Erscheinungen eine mechanistische Erklärung zu ee geben. Man könnte die Anbahnung einer solchen in dem Nachweis erblicken, daß funktionierende Organe reicher von Blut durchströmt werden. Doch ist diese Erklärung bei näherer Prüfung unzulänglich, da das funktionelle Wachs- tum der Gewebe nicht in allen Fällen reichen Blutzuflusses zustande kommt, anderseits auch bei Tieren beobachtet wird, welchen ein Blutgefäßsystem noch fehlt. Die Unmöglichkeit für die besprochenen Erscheinungen eine me- chanistische Erklärung zu finden, ist Ausgangspunkt einer teleologischen Auf- fassung geworden, welche der organischen Natur ein zweckmäßig wirkendes, unbewußtes Prinzip zuschreibt. Ähnlich wie die bewußte Intelligenz des Menschen aus einem unbefriedigten Bedürfnis heraus zunächst die Notwendigkeit neuer Einrichtungen erkennt und weiterhin vermöge ihrer Urteilsfähigkeit die Mittel auszusinnen weiß, welche zur Befriedigung des Be- dürfnisses dienen, so soll auch in der Natur ein unbewußt wirkendes teleologi- Kausale Erklärung der funktionellen Anpassung 35 sches Prinzip zunächst das durch den Verbrauch der funktionierenden Substanz hervorgerufene Bedürfnis empfinden und danach die Mittel anwenden, um dem Bedürfnis Abhilfe zu schaffen. Mittels dieser teleologischen Auffassung der lebenden Substanz oder, wie es Pflügerausdrückt, „teleologischenMechanik‘, würdeesnunauchmöglich sein, das erste Auftreten von Organen zu verstehen, welches ja aus der Lehre vom funktionellen Wachstum heraus nicht möglich ist, da dieselbe ja die Anwesenheit mindestens der ersten Anfänge eines Organs voraussetzt. Denn wenn die ‚‚Ur- sache des Bedürfnisses zugleich auch die Ursache der Befriedigung des Bedürf- nisses ist‘‘, so muß dem Organismus auch die Fähigkeit zuerkannt werden, ein Organ neu zu bilden, wenn die Notwendigkeit vorliegt, es zu besitzen. So suchen Lamarck und seine Nachfolger, am konsequentesten in der Neuzeit Pauly es zu erklären, daß Organe da auftreten, wo die Natur sie erfordert, daß ferner Organe, auch wenn der Natur der Sache nach von Übung nicht die Rede sein kann, eine Vervollkommnung erfahren, daß z.B. die Fische Flossen, die Schwimmvögel Schwimmhäute an den Zehen, die Giraffen die enorme Verlän- gerung ihrer Halswirbelsäule erzielt haben. Es handelt sich hier unzweifelhaft um geistvoll durchgeführte und auch auf empirischem Wege abgeleitete Vor- stellungen, welche jedoch exakter naturwissenschaftlicher Behandlung zunächst nicht zugängig sind, vielleicht auch niemals zugängig sein werden. Es ist klar, daß der Lamarckismus vollkommen der Aufgabe gewachsen ist, zu erklären, wie das einzelne Individuum sich seinen Lebensbedingungen anpaßt. Wir wollen es die Personalanpassungnennen. Was aber für die Deszendenz- theorie nötig ist, ist die Artanpassung. Die Personalanpassung wird sich, wie ja ebenfalls die tägliche Erfahrung lehrt, immer nur in engen Grenzen be- wegen. Ein noch so eifriger Schwimmer bekommt keine Schwimmhäute; ein dauernd im Dunkeln gehaltenes Tier bildet deshalb seine Augen noch nicht zurück. Derartige intensive Umgestaltungen und Neugestaltungen können nur zustande kommen, wenn die Arbeit vieler Generationen gehäuft wird, wenn das Minimum an Erfolg, welches das einzelne Individuum erzielt, sich vererbt und aus dem Besitz des Individuums somit in den Besitz der Art übergeht. Wir werden hier abermals auf die große Bedeutung, welche der Beantwortung der Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigenschaften zukommt, hingeführt. Zu- gleich muß aber hervorgehoben werden, daß wir über die Erblichkeit aktiv er- worbener Veränderungen noch viel weniger unterrichtet sind als über die Erb- lichkeit der durch direkte Bewirkung der Außenwelt verursachten Umformun- gen. Es ist das sehr bedauerlich, da kein Material geeigneter sein würde, die Vererbung erworbener Eigenschaften sicherzustellen, als wenn es möglich wäre, diesen Beweis für funktionelle Abänderungen zu führen. Zum Schlusse seinoch auf eine dritte Möglichkeit hingewiesen, die Frage nach derErblichkeitsomatischerVeränderungen zurEntscheidung zubringen. Dasselbe bestehtinderTransplantation derGeschlechtsdrüsen. Wenn man einIn- dividuuma kastriert und ihm die Geschlechtsdrüse eines zweiten, durch deutlich erkennbare Merkmale unterschiedenen Individuums 5b einpflanzt, so müßte es 2 Personal- anpassung und Artanpassung. Transplantation der Geschlechts- drüsen. Künstliche und natürliche Züchtung. 36 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre sich ja herausstellen, ob die transplantierten Geschlechtszellen die unterschei- denden Merkmale von b unverändert vererben oder ob sie vom Körper des Tie- res aaus eine Modifikation erfahren. Derartige Versuche sind wiederholt an- gestellt worden, indem man die Ovarien weiß gefärbter Hühner in kastrierte schwarze Hühner und umgekehrt überpflanzte, indem man ferner analoge Ver- suche mit schwarzen und weißen Meerschweinchen wiederholte. Leider führten die Experimente zu diametral entgegengesetzten Resultaten, was bei den Schwie- rigkeiten des Experiments verständlich wird. Während Gulick fand, daß die von einem transplantierten Eierstock abstammenden jungen Hühner inmanchen Merkmalen derZiehmutterglichen, kam Castle zu dem genau entgegengesetzten Resultate, daß die Beschaffenheit des jungen Tieres ausschließlich von der ur- sprünglichen Beschaffenheit des Eierstocks abhing. b) Darwins Selektionslehre. Wir haben nunmehr den zweiten Versuch, die Umbildung der Organismen und zugleich ihre zweckmäßige Anpassung an ihre Umgebung kausal zu erklären, wie er in der Darwinschen Selektionslehre gegeben ist, zu erörtern. Der Umstand, daß Darwin bei der Erörterung des Artproblems frühzeitig auf einen Vergleich der Erscheinungen der Natur mit den Verhältnissen der Tierzüchtung des Menschen geführt wurde, war fürihnVeranlassung, auch bei der Frage nach den Ursachen der Umbildung zu prüfen, obsich nicht in der Natur Analogien zu dem aufUmgestaltung derHaus- tiere und Kulturpflanzen hinzielenden Verfahren der Tierzüchter ergeben. Bei einer Analyse der Vorgänge bei der Züchtung war er zu dem Resultate gelangt, daß beiihr drei Faktoren wirksam sind, I. die Variabilität derOÖrganismen, welche die Möglichkeit zur Entwicklung neuer Formen schafft, 2. die Verer- bung, welche die neu auftretenden Merkmale der Nachkommenschaft über- mittelt und dadurch eine Kumulierung derselben ermöglicht, 3. dieZuchtwahl des Züchters, welche die Vererbung in bestimmte Bahnen lenkt, indem sie immer nur die geeigneten Formen zur Aufzucht verwendet. Letzteres setzt vor- aus, daß die Variabilität nicht ein einmaliger Vorgang ist, sondern sich von Ge- neration zu Generation und zwar in gleichem Sinne wiederholt, so daß erblich überkommene und neu auftretende Variationen sich addieren und somit im Laufe der Zeiten einen erheblichen Ausschlag geben können. An Darwin trat nunmehr die Aufgabe heran, die gleichen oder ähnlichen Faktoren auch in der Natur nachzuweisen. Da Variabilität und Erblichkeit Eigenschaften aller lebenden Organismen sind, so konnte es sich nur darum handeln, einen der künstlichen Zuchtwahl analogen Faktor aufzufinden. Dar- win glaubte nun, diesen Faktor in der natürlichen Zuchtwahl mittels des Kampfes ums Dasein gefunden zu haben. Es ist so ungeheuer viel über das Darwinsche Selektionsprinzip geschrieben worden, daß ich die Hauptpunkte desselben als bekannt voraussetzen und daher auf eine genauere Darstellung verzichten kann. Ich habe nur nötig, in wenigen knappen Sätzen das Wichtigste der Lehre hier wiederzugeben, so viel als not- wendig ist, um klar zu machen, inwieweit die Lehre exakter Prüfung hat stand- halten können. Darwins Selektionstheorie 37 Ausgangspunkt der Lehre ist die Tatsache, daß unter natürlichen Bedin- Lehre vom gungen jeder Organismus außerordentlich viel mehr Nachkommenschaft er- en zeugt, als die Erde zu ernähren vermag. Am klarsten wird diese Tatsache, wenn wir berücksichtigen, daß es Tiere gibt, welche viele Jahre oder Jahrzehnte alt werden und jedes Jahr viele Millionen von Eiern produzieren. Ein Bandwurm produziert jährlich etwa 60 Millionen, ein Spulwurm ca. 40 Millionen Eier. Auch unter freilebenden Tieren gibt es Formen, wie z. B. Fische, welche eine ganz enorme Fruchtbarkeit entfalten. Ein 4!/, Zentner schwerer Stör legt in einem Jahre 5—6 Millionen Eier ab. Wenn man bedenkt, daß Fische sehr früh ge- schlechtsreif werden, daß Störe jedenfalls mehrere Jahrzehnte wachsen müssen, ehe sie die oben angegebene Schwere erreichen, so bekommt man eine ungefähre Vorstellung, welche Unsummen von Eiern ein Stör im Lauf seines Lebens liefert. Da nun zur Aufrechterhaltung des Artbestandes es nur notwendig ist, daß bei getrenntgeschlechtlichen Organismen ein Elternpaar ı Paar fortpflan- zungsfähige, ihr normales Lebensende erreichende Nachkommen erzeugt, so müssen bei vielen Arten viele hundert Millionen, bei anderen viele Tausende oder Hunderte von Keimen zugrunde gehen, vielfach auf frühen, vielfach auch auf späten Stadien der Entwicklung, wenn nicht die Individuenzahl eine über- mäßige Vermehrung erfahren soll. Bei diesem Vernichtungsprozeß werden die- jenigen Individuen überleben, welche in sich die günstigstenExistenzbedingungen vereinigen. Das werden in vielen Fällen die kräftigen Individuen sein, welche im Kampfe um die Beute ihre Konkurrenten besiegen, weiterhin aber auch die geschickteren, welche sich die zum Leben günstigen Bedingungen zu verschaffen wissen; noch häufiger werden es die Widerstandsfähigen sein, welche Schädlich- keiten, wie der Ungunst des Klimas, den Angriffen der Krankheitskeime, nicht so leicht erliegen. Von einem wirklichen bewußten Kampfe wird somit nurin den seltensten Fällen die Rede sein. Für die überwiegende Zahl der Fälle ist der Aus- druck nur bildlich gemeint; für viele derselben, in denen es sich nicht einmal um eine unbewußte Konkurrenz der Individuen handelt, ist der Vergleich nicht einmal glücklich gewählt. Am besten wird der Gedankengang der Selektions- theorie durch die Spencersche Formulierung zum Ausdrucke gebracht: Über- leben des Passendsten. Es ist klar, daß das Selektionsprinzip im ausgesprochenen Gegensatze Zum Selektionstheorie Lamarckismus steht. Während dieser die zweckmäßige Anpassung der Or- """ "ologie. ganismen aus der zweckmäßigen Reaktionsweise derselben auf die Außenwelt erklärt, sucht die Selektionslehre eine Erklärung zu geben, welche jede Teleologie, jede zwecktätige Ursache ausschaltet. Der große Er- folg, welchen der Darwinismuserrungen hat, ist zum Teil darauf zurückzufüh- ren, daßer die Aussicht eröffnete, zweckmäßige Erscheinungen ohne Zuhilfenahme des Zweckbegriffes mechanistisch zu erklären, und daß er hiermit der die neuere Naturforschung beherrschenden mechanistischen Richtung entgegenkam. Daß der Kampf ums Dasein in der hier umschriebenen weitesten Auffas- Beweise für die sung des Wortes einen ganz gewaltigen Faktor im Naturhaushalte und im Leben "en des Menschen darstellt, steht außer aller Frage. Damit ist aber noch nicht ge- Charakter der Inselfaunen. Sympathische Färbung. 38 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre sagt, daß er imstande ist, die Umbildung der Arten herbeizuführen, oder daß er an derselben auch nur beteiligt ist. Mehr denn je stehen sich die Gegensätze der Auffassungen auf diesem Gebiete unversöhnt gegenüber, ohne daß es geglückt wäre, einen Weg zu finden, welcher es ermöglichte, eine exakte Entscheidung anzubahnen. Nach wie vor spielen bei dem Streite der Meinungen theoretische Erwägungen eine große Rolle. Für die Darwinsche Lehre spricht außer der Analogie mit den Erfahrungen der künstlichen Züchtung noch eine große Zahl der Tatsachen, welche durch die Selektionstheorie ihre Erklärung finden. Eine der auffälligsten hier in Betracht kommenden Erscheinungen ist der Reichtum der Inselfaunenan flügellosen Insekten. Derselbe ist schon seit langem für dieKanarischen Inseln bekannt. Den höchsten Grad erreicht er bei den Kerguelen. Von denselben kennt man 35 Insektenarten, von denen 20 zu Ordnungen gehören, bei denen sonst ein gutes Flugvermögen vorhanden ist; essind 9 Käfer, 9 Zweiflügler, 2 Schmetterlinge. Abgesehen von 3 Fliegen, von denen eine Art (Holomyia canicularis) jedenfalls erst neuerdings einge- schleppt ist, haben sämtliche Formen das Flugvermögen verloren, sei es, daß die Flügel rudimentär oder gänzlich rückgebildet sind. Bei den Käfern sind zwar die zum Schutze dienenden Deckflügel vorhanden, die unter ihnen nor- malerweise vorhandenen zweiten Flügel, die Alae, werden dagegen vermißt. Diese absonderliche Beschaffenheit der Insektenfauna der Kerguelen wird sofort ver- ständlich, wenn man die geographische Lage und die klimatischen Verhältnisse der Inselgruppe berücksichtigt. Die Kerguelen sind mehr als 4000 Kilometer von dem nächsten Kontinent entfernt, so daß es ausgeschlossen ist, daß Insekten, wenn sie von der Insel wegfliegen, den betreffenden Kontinent erreichen. Das Meer ist ganz außergewöhnlich stürmisch, so daß kleinere fliegende Tiere, wie es die Insekten sind, widerstandslos vom Winde erfaßt und ins freie Meer hin- ausgetragen werden müssen. Unter diesen Umständen muß Anwesenheit von Flügeln, welche den Insekten sonst Nutzen bringt, für sie von der allergrößten Gefahr sein. Alle auf Rückbildung der Flügel hinarbeitenden Variationen müs- sen daher von der Zuchtwahl erhalten, die gut und gern fliegenden Formen da- gegen vernichtet werden. — Ferner ist an die Erscheinungen der sympathi- schen Färbung zu erinnern, daß Tiere, welche in einer gleichförmig gefärbten Umgebung leben, das Kolorit derselben besitzen, weil sie in dieser Weise vor der Entdeckung am besten gesichert sind. Die an der Oberfläche des Meeres schwimmenden Schneckenarten (Pteropoden und Heteropoden), Würmer, Quallen usw., ahmen in der Beschaffenheit ihrer Körpergewebe die glasartige Durchsich- tigkeit des Wassers nach. Die polaren Tiere und viele Bewohner der Hochalpen sind entweder dauernd oder wenigstens während des Winters schneeweiß ge- färbt; viele Wüstenbewohner haben die fahle gelbe Farbe des Wüstensands; sie sind nur auf der Bauchseite lichter oder weißlich gefärbt, weil der Reflex des Wüstenkolorits hier in genügender Weise für das Zustandekommen einer sym- pathischen Färbung sorgt. Das Experiment hat gelehrt, daß durch Ausdehnung der gelblichen Färbung auf die Bauchseite die sympathische Färbung nur beein- trächtigt werden würde; es würde damit des Guten zu viel geschehen. Denn Beurteilung der Selektionstheorie 39 wenn sich zur gelben Farbe des Bauches noch der gelbe Reflex des Sandes und der Schatten hinzugesellen würde, würde die Farbe zu dunkel ausfallen und das Tier vermöge seiner Bauchfläche aus der Umgebung hervorleuchten. Hier schließen weiter die zahllosen Fälle von Mimikryan, daß Schmetter- linge und Heuschrecken durch ihre Gestalt, Farbe und Zeichnung den Blättern und Stengeln von Pflanzen außerordentlich ähnlich sind und daher beim Sitzen im Buschwerk auch von einem geübten Auge nicht entdeckt werden, daß andere Insekten, welche auf Baumrinde oder Flechtenüberzügen leben oder sich da- selbst häufig niederlassen, von der Unterlage kaum oder im Ruhezustande gar nicht zu unterscheiden sind, daß manche Schmetterlinge in Gestalt, Zeichnung und sogar in der Art des Flugs andere Schmetterlinge kopieren, welche wegen ihres üblen Geschmacks von insektenfressenden Tieren nicht gefressen werden, sich unter die Scharen derselben mischen und daher des durch den schlechten Geschmack bedingten Schutzes teilhaftig werden. Letztere Erscheinung zeigt nicht selten die Besonderheit, daß schlecht schmeckende und giftige Tiere, welche durch diese Eigentümlichkeit sich schon eines gewissen Schutzes er- freuen, andere durch Geschmack und Giftigkeit ebenfalls geschützte Formen nachahmen. Hierin ist eine Art Versicherung auf Gegenseitigkeit gegeben. In- sektenfressende Tiere,welche an einer Artschonüble Erfahrungengemachthaben, werden keine Lust haben, die Erfahrung aan einer zweiten ähnlichen Art zu wieder- holen. Die Erwägung, daß es für Tiere, welche durch ihrenGeschmack geschützt sind, von Vorteil sein muß, leicht wiedererkannt zu werden, macht es auch ver- ständlich, daß viele durch schlechten Geschmack oder giftige Eigenschaften ge- schützte Tiere durch grelle Farben (Schreckfarben) ausgezeichnet sind. DieEinwände, welche gegen die Selektionstheorie, seiesgegen das gesamte Prinzip derselben, sei es gegen die Beweiskraft der für sie in das Feld geführten Erscheinungen, erhoben worden sind, sind so zahlreich, daß es eines besonderen Aufsatzes bedürfte, sie auch nur mit einiger Vollständigkeit wiederzugeben. Gegen das gesamte Prinzip wenden sich alle diejenigen, welche in Überein- stimmung mit Lamarck an einer teleologischen Naturauffassung festhalten, welche das Zustandekommen zweckmäßiger Erscheinungen ohne Einwirkung zwecktätiger Ursachen für ausgeschlossen halten. Wenn man die Variabilität der Art auch noch so hoch einschätze, sei esundenkbar, daß unter den auftreten- den Abänderungen sich auch stets die zweckmäßigen Einrichtungen fänden, welche die vorhandene Lebenslage erfordere. Um im Kampfe ums Dasein den Organismen Vorteil vor anderen zu verschaffen, und wie man sich ausdrückt, „selektionswert zugewinnen‘', müsse das neu auftretende Merkmal schon einen nicht unbeträchtlichen Grad der Ausbildung erreicht haben, was aber mit der Darwinschen Annahme kleinsterkaum wahrnehmbarer Variationen imWider- spruche stehe. Zumeistwürde auch eine einzelne Abänderung gar keinen Nutzen bringen, wenn sie sich nicht mit Abänderungen anderer Teile verbinde. Was würde dem Tiere die Abänderung eines Muskels nützen, wenn sie sich nicht mit einer Abänderung der Innervationszentren und der zu bewegenden Skeletteile kombinieren würde. Fast jeder vorteilhafte neue Charakter setze somit eine har- Mimikry. Einwände gegen die Selektions- theorie. Experimentelle Prüfung der Selektions- theorie. 40 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre monische Veränderung vieler Teile „eine Koadaptation der Teile“ voraus, welche gleich von Anfang erzielt sein müsse, wenn der neue Charakter zur Er- haltung der variierenden Tierform beitragen solle. Auch seien gerade die Art- merkmale in vielen Fällen, wenn nicht gar in den meisten, von keiner funktionellen Bedeutung und könnten somit nicht ein Objekt der Zuchtwahl bilden. Vollkom- men unzureichend sei die Selektionslehre um dierudimentären Organe, für welche der Lamarckismus volles Verständnis eröffne, zuerklären. Denn was könne es dem Organismus ausmachen, ob ein nicht tätiges Organ etwas besser oder schlech- ter entwickelt sei, ob z.B. beieinemriesigen Tiere wie der Walfisch der vorhandene Rest des Skeletts der unteren Flosse einige Gramm mehr oder weniger wiege. Ohne den Wert derartiger allgemeiner Erwägungen zu unterschätzen, möchte ich doch hervorheben, daß auch auf dem Gebiete der Selektionslehre das entscheidende Wort nur durch exakte experimentelle Unter- suchungen gesprochen werden kann. Inder Neuzeit ist daher auch man- ches in dieser Richtung geschehen, wenn auch lange nicht genügend, um ein sicheres Urteil jetzt schon zu ermöglichen. Am meisten sind die Mimikryfälle Gegenstand experimenteller Untersu- chung geworden. Es galt zunächst zu erweisen, daß die nachgeäfften Formen wie die mit einem Giftstachel versehenen Bienen und Wespen und die übel- schmeckenden Raupen und Falter von Schmetterlingen in der Tat von Insekten fressenden Tieren nicht gefressen werden. Die Ergebnisse sind in vielen Fällen sehr widersprechend ausgefallen, indem manche Insektenfresser durch die un- günstigen Eigenschaften sich vom Fressen nicht abschrecken ließen, andere zwar einen Versuch machten, dann aber nicht zu bestimmen waren, ihn zu wiederholen, dritte gleich von Anfang an die Nahrungsaufnahme verweigerten. Klarheit kann hier nur durch Experimente auf breiter Basis gewonnen werden, indem man durch statistische Untersuchungen in großem Maße feststellt, ob giftige und schlecht schmeckende Tiere vor nahe verwandten Formen einen Vor- teil haben, wenn man sie den Angriffen verschiedener in Betracht zu ziehender Insektenfresser aussetzt. Bei den Mimikry-Experimenten wurde ferner unter- sucht, ob Insektenfresser, welche an schlecht schmeckenden Insekten üble Er- fahrungen gemacht haben, nun auch die mimikrierenden Formen verschonten. Im großen und ganzen scheint dies in der Tat der Fall zu sein. Die Untersuchungen, welche auf statistischem Wege die Nützlichkeit an- derweitiger variierender Merkmale und ihre Bedeutung für die Selektionslehre prüften, haben zu keinen eindeutigen Resultaten geführt, so Weldons Unter- suchungen über den Selektionswert der Thoraxbreite gewisser Krabben. Manche Untersuchungen werden sogar gegen die Selektionstheorie ins Feld ge- führt, wie z.B. Bumpus fand, daß die bei einem Sturm in Neuyork in großer Menge zugrunde gegangenen Sperlinge gerade diejenigen Formen waren, welche vom mittleren Artcharakter am meisten abwichen. In ähnlicher Weise stellte Crampton fest, daß von 1090 Puppen eines Nachtschmetterlings (Philosomia cynthia) viele bei der Zucht zugrunde gingen, und daß die zugrunde gegangenen in ihren Proportionen vom Mittelmaße mehr abwichen als die, welche zur Ent- Beurteilung der Selektionstheorie 41 wicklung gelangten. In den beiden Fällen wirkte somit die Selektion der Ab- änderung der Art entgegen. Wenn es nun auch nicht erlaubt ist, aus einzelnen Experimenten folgenschwere Schlüsse zu ziehen, so ist doch durch sie der Weg angezeigt, auf welchem es möglich sein wird, sicherere Unterlagen für einerichtige Bewertung der Zuchtwahllehre zu gewinnen. Für die richtige Beurteilung der Frage, welche Bedeutung der Zucht- wahllehre für die Abstammungslehre zukommt, wird es von der allergrößten Bedeutung sein, zu welchen Ergebnissen die fortgesetzten Untersuchungen über das Variabilitätsproblem führen werden. Unter den Einwürfen, welche dem Darwinismus gemacht werden und zum Teil von mir schon besprochen worden sind, kehrt am häufigsten der Satz wieder, daß die Theorie die zweckmäßige Variation als gegeben voraussetze und somit ihre Entstehung gar nicht erkläre, sondern nur erkläre, warum sie nicht wieder verschwinde. Dieser Vorwurf ist vollkommen zutreffend, wenn wir uns auf den Boden der Mutationstheorie stellen und annehmen, daß die Neubildung einer Artauf einerplötzlichen Umgestaltung beruht, welche, einmal entstanden, auf längere Zeit hinaus sich nicht wiederholt und daher keine weitere Steigerung zuläßt. In diesem Falle ist die natürliche Auslese, wie es De Vries sehr gut ausgedrückt hat, einem Sieb zu vergleichen, welches Brauchbares und Un- brauchbares sondert, aber nicht das Brauchbare erzeugt. Ist dagegen die einzelne Mutation nur der erste geringfügige Schritt zur Artbildung, welchem viele andere gleichgerichtete Schritte folgen müssen, dann kommt der Selektion beim Aufbau des Artbildes eine sehr große Bedeutung zu. Denn dann fügt sie die vielen kleinen Veränderungen, welche sich an den Individuen einer Art abspielen, im Laufe eines längeren Zeitraums zu einer neuen Einheit zusammen, dem Charakter der neu entstandenen Art. Wenn dann die Art ihrer Umgebung zweckmäßig angepaßt erscheint, so ist dies zum Teile allerdings dem Zufalle zuzuschreiben, welcher geeignete Abände- rungen geschaffen hat, zum großen Teile aber auch der Auslese, welche die klei- nen Veränderungen zu einer zweckmäßigen Anpassung kombinierte. In noch höherem Maße würde diese Betrachtungsweise zu Recht bestehen, wenn es auch fluktuierende Varietäten gäbe, welche erblich und dadurch Ausgangspunkt neuer Artbildung werden können. Selektionstheorie und Variabilitäts- lehre. Aus den hier angestellten Betrachtungen ist ersichtlich, welche große Be- ssiektionstheorie deutung für den Fortschritt unseres wissenschaftlichen Lebens der Klärung des Artbegriffs zukommt. Durch die Mutationstheorie hat die auf den Botaniker Jordan zurückzuführende Richtung, den Artbegriff sehr eng zu fassen und jede kleine durch geringfügige Besonderheiten charakterisierte Formengruppe, so- fern sie nur rein züchtet, als eine elementare Art aufzufassen, großen Vorschub erfahren. Man würde bei Annahme dieser Auffassung schließlich genötigt sein, jede Mutation, z. B. jede durch die Svalöfer Schule festgestellte Abänderung unserer Kulturpflanzen für besondere Arten zu erklären. Es gäbe dann auch bei unseren Haustieren und beim Menschen eine ganz außerordentlich große Zahl elementarer Arten. In der Natur würden alle rein züchtenden Lokalrassen und Artbegriff. 42 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre als die eigentlichen Arten zu gelten haben; was man jetzt als Art bezeichnet, würde eine künstliche Zusammenfassung vieler, durch fortgesetzte Kreuzung sich noch weiter vermehrender Elementararten sein. Eine so radikale Um- gestaltung unserer Grundanschauungen scheint mir beim jetzigen Stande unseres Wissens nicht gerechtfertigt zu sein. Zunächst ist es vorzuziehen, den Artbegriff, wie es namentlich in der Zoologie üblich ist, weiterzufassen. Zum Schlusse noch einige Bemerkungen über die Bedeutung, welche die besprochenen Fragen für die Lehre von der zweckmäßigen Anpassung der Organismen haben. Wir haben gesehen, daß die Selektionslehre uns nur dann eine Erklärung für die Anpassungserscheinungen liefert, wenn eine im Laufe von Generationen in gleicher Richtung wirkende Auslese zwischen den Individuen einer und derselben Art stattfindet. Wenn sie nur darüber entscheidet, welche Arten erhalten bleiben, welche zugrunde gehen, wird dagegen ihre Bedeutung eine sehr geringe sein. Daher ist es vollkommen konsequent, wenn manche Anhänger der modernen Auffassungen, wie sie durch den Mendelismus und die Mutations- theorie gegeben sind, esals eine Notwendigkeit empfinden, auf den Lamarckis- mus zurückzugreifen, und die Vererbung erworbener Eigenschaften verteidi- gen; sie stehen hierbei im Widerspruche mit der Majorität der Mendelforscher und der Anhänger der Mutationstheorie. Gleichwohl ist ihr Standpunkt ein durchaus konsequenter. Denn wenn man darauf verzichtet, die zweckmäßige Anpassung durch Selektion zu erklären, bleibtnur der Weg übrig, das Problem auf lamarckistischem Wege zu lösen oder esin negativem Sinn zu beantworten. Migrations- c) Migrationstheorie und Orthogenesis. Bei der Erörterung der Be Ursachen, welche nach den herrschenden Ansichten die Umbildung der Arten be- dingen, haben wir die beiden Hauptströmungen, welche die Biologie der Neuzeit beherrschen, die darwinistische Theorie der Selektion und die lamarckistische Theorie der zweckmäßigen Anpassung an die Umgebung an erster Stelle be- sprochen, nicht nur wegen ihrer großen historischen und aktuellen Bedeutung, sondern auch weil sie dieeinzigen kausalen Erklärungen sind, welche das große Problem der Harmonieder Organismenweltmit ihrer Um- gebung, eine jede freilich in ganz verschiedenem Sinne, zu lösen versuchen. Da eine Lösung des Artproblems, welche nicht zugleich eine Lösung des Zweckmäßigkeitsproblems gibt, völlig unzureichend ist, werden Darwinis- musund Lamarckismus auch in Zukunft dauernd im Vordergrund der wissen- schaftlichen Diskussion stehen, wobei nicht gesagt sein soll, daß sie notgedrungen einander ausschließen müssen, wie es von so vielen Seiten behauptet wird. Sehen wir doch auch im menschlichen Leben, also im Bereiche zwecktätigen und zweck- bewußten Handelns, Zweckmäßiges auf verschiedene Art sich entwickeln, bald als Produkt bewußter Überlegung, bald als Resultat glücklicher Konstellationen. Warum sollten wir verhindert sein, im Bereiche des unbewußten Geschehens der Natur ebenfalls beide Möglichkeiten zuzugeben ? Die Vielgestaltigkeit des Artproblems macht es übrigens wahrscheinlich, daß in der Natur außer den genannten noch weitere Faktoren an der Artbildung Bedeutung der geographischen Isolierung 43 tätig sein werden. Auf das, was in dieser Hinsicht bekannt geworden ist, müs- sen wir noch näher eingehen und die sie behandelnden Theorien, die Migra- tionstheorieund das Prinzip der Progression (Orthogenesis) besprechen. Die Migrationstheorie, welche wir im Laufe der Besprechung zur Iso- lationstheorie werden erweitern müssen, besagt, daß neue Arten durch geo- graphische Isolierung entstehen. Der Gedanke war Darwin nicht fremd. Wa- ren doch Fälle von Artentstehung durch geographische Isolierung, wie sie in der Verbreitung der Nagetiere in Südamerika diesseits und jenseits der Anden und in dem merkwürdigen Charakter der Galapagosfauna gegeben sind, Ur- sache gewesen, daß er auf seiner Weltumsegelung anfing, an der Konstanz der Arten zu zweifeln. Immerhin war Darwin nicht geneigt, der geographischen Isolation eine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen; vielmehr nahm sein Interesse für dieselbe ab, je mehr er sich in das Studium der Einwirkung der Auslese vertiefte. Dem Reisenden und Naturforscher Moritz Wagner war es dann vorbehalten, auf Grund seiner reichen Erfahrungen die Lehre weiter aus- zubilden und in seiner Migrationstheorie in einseitiger Weise als die einzig be- rechtigte hinzustellen, eine Einseitigkeit, welche es vielleicht mit verschuldet hat, daß lange Zeit über die Lehre mehr als billig vernachlässigt wurde. Erst in der Neuzeit greift man wieder auf sie in ausgiebiger Weise zurück, zum Teil auch wohl deswegen, weil das Aufblühen der systematischen Forschung und die vielen wissenschaftlichen Expeditionen das Problem aufs neue mehr in den Vordergrund gestellt haben. Die Migrationstheorie besagt, daß neue Arten entstehen, wenn der Indi- viduenbestand einer Art durch irgendwelche Vorkommnisse in zwei oder mehr Gruppen zerteilt wird, so daß eine Vermischung derselben unmöglich gemacht wird. Die Gründe der Zerteilung können sehr verschiedener Natur sein. In sei- nem Werke über den Ursprung der Art berichtet Darwin, daß im Jahre 1519 Kaninchenauf derMadeira benachbarten InselPortosanto ausgesetzt worden seien und hier eine ungeheure Vermehrung gefunden hätten. Dabei hätten siesich von den in Europa lebenden Formen, von denen sie abstammen, nicht nur in Größe, Färbung, sondern auch in ihrem Wesen so sehr entfernt, daß sie den Eindruck einer anderen Art machen. Es sollen sogar die Versuche, sie mit unserem ein- heimischen Kaninchen zu kreuzen, erfolglos gewesen sein, ein Versuch, der frei- lich dringend erneuter Kontrolle bedarf. Im vorliegenden Falle wäre Verschleppung Ursache der geographischen Iso- lierung geworden, unzweifelhaft eine in der Natur sehr häufige Ursache. Schon DarwinhatausgedehnteVersuche über die Keimfähigkeit von Pflanzensamen ge- macht, welche in das Meer- oder Süßwasser geraten, um zu entscheiden, inwieweit man Verschleppung durch Strömungen annehmen darf. Es ist ferner bekannt, daß kleine Tiere weithin durch Treibholz verschleppt werden können. Selenka fand wenige Jahre nach dem alles Leben vernichtenden Ausbruche des Krakatau diegleichnamige Insel außer Insekten von Eidechsen besiedelt, welche unzweifel- haft in dieser Weise transportiert worden waren. AktiveWanderungen von Tieren, wiesiegar nichtselten vorkommen, können ebenfalls zu Isolationen führen. Noch Darwin und Wagner. Wirkungsweise und Arten der geographischen Isolierung. Entstehung vikariierender Arten. Beweise für die Migrations- theorie. 44 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre häufiger ist wahrscheinlich eine dritte Form der Artentrennung gewesen, bei wel- cher durch geologische Ereignisse das anfangs einheitliche Verbreitungsgebiet einer Art in zwei getrennte Gebiete zerlegt wird. Die trennenden Schranken können sehr verschiedener Natur sein. Landtiere, welche gar nicht oder nur auf geringe Entfernungen zu fliegen vermögen, werden voneinander gesondert, wenn die niederen Distrikte eines Wohngebiets eine Senkung erfahren und von dem eindringenden Meere überflutet werden. Für Tiere, welchen eine geringe Fähigkeit zur Ortsveränderung zu Gebote steht, genügt die Entwicklung oder Lageveränderung eines breiten Flußlaufs. Auch Bodenerhebungen können für Landbewohner eine trennende Schranke bilden, wenn sie Gebirgszüge hervor- rufen, welche durch unwirtliches Klima oder gar durch Vergletscherung der Verbreitung vieler Tiere ein Ziel setzen. Noch wichtiger werden jedoch Boden- erhebungen für Wasserbewohner werden, indem sie unter Umständen zwei bis dahin zusammenhängende Meere oder Süßwassergebiete voneinander trennen. Schließlich können auch Klimaschwankungen unter Umständen zu einer geo- graphischen Isolierung führen, wie es durch die Geschichte der Eiszeit bewiesen wird. Die während der Eiszeit eingetretene ausgedehnte Vergletscherung wurde Ursache, daß ein glaciales Klima den nördlichen Teil Europas beherrschte und Ursache zum Eindringen einer polaren Tier- und Pflanzenwelt wurde. Als dann unter dem Einflusse höherer Temperaturen die Vergletscherung wieder rückgängig gemacht wurde, wurde die Kälte-Tierwelt in zwei Partien zerlegt, in einen nach dem Norden abwandernden Teil und einen Teil, welcher seine Zu- flucht im Gletschergebiet des Hochgebirges fand. In welcher Weise nun auch die geographische Isolierung vor sich gegangen sein mag, die Wirkungsweise auf die Tierwelt muß in allen Fällen die gleiche sein. Angehörige derselben Art, welche bis dahin in beständigem Formenaus- tausche sich befanden und durch dabei stattfindende Kreuzung den einheitlichen Charakter der Art bewahrten, werden durch die geographische Isolierung in zwei Bestände getrennt. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß der mittlere Art- charakter, die mittlere „genotypische‘“ Beschaffenheit, bei dieser Aufteilung in beiden Gruppen derselbe sein wird; vielmehr wird nun eine jede dieser beiden Gruppen in sich die Bedingungen zu einer eigenartigen abweichenden Weiter- entwicklung tragen, selbst wenn die Lebensbedingungen in beiden Gebieten die gleichen sein sollten. So wird es zur Bildung zweier einander sehr nahe stehen- der, sogenannter vikariierender Arten kommen. In der Regel wird jedoch zu der durch innere Ursachen bedingten eigenartigen Entwicklung der beiden Grup- pen.noch als ein weiterer differenzierender Faktor eine mehr oder minder ausge- sprochene Verschiedenheit der Existenzbedingungen hinzukommen. Dieselbe wird am größten sein, wenn die Tiere wie in dem Falle des Portosanto-Kaninchens in ein weit abgelegenes ganz eigenartiges Wohngebiet verpflanzt werden. Für alle die oben erwähnten Möglichkeiten kennen wir zahlreiche Beispiele. Den trennenden Einfluß weiter Wasserstrecken erläutert am schönsten der eigentümliche faunistische Charakter der Inseln, besonders der sogenannten kontinentalen Inseln, für welche die Geologie den Nachweis führt, daß sie in Bedeutung der geographischen Isolierung 45 einer früheren oder späteren Periode der Erdgeschichte von einem benachbarten Kontinent abgelöst wurden. Ist die Trennung relativ jungen Datums, wie es z. B. für England gilt, so ist der faunistische Charakter der Insel nur wenig von dem des Festlands verschieden und beschränkt sich auf die Bildung von Varie- täten. Bei langfristiger Trennung ergeben sich Art- und Gattungsunterschiede. Dafür können uns die schon von Darwin, später von vielen anderen Bio- logen studierten Galapagos-Inseln als Beispiel dienen, bei denen freilich die geologische Entstehung viel umstritten ist, ob sie in der Tat kontinentale In- seln sind und sich somit vom amerikanischen Kontinente losgelöst und durch weitere Senkung des Meeresbodens in die jetzt vorhandenen kleinen Inseln auf- geteilt haben, oder ob sie nicht den ozeanischen Inseln angehören, welche aus dem Grunde des Meeres vermöge vulkanischer Erhebungen oder durch Korallen- aufbau emporwachsen. Für unsere Frage wäre die Unterscheidung nicht von ausschlaggebender Bedeutung, ob die Galapagosfauna durch Abspaltung oder durch Verschleppung ihren eigentümlichen Charakter erhalten hat. Jedenfalls hat die Fauna südamerikanischen Charakter, nur daß fast alle Arten endemisch sind und sich von den Arten des benachbarten Kontinents in mehr oder minder erheblicher Weise unterscheiden. Auch finden sich nicht wenige Arten, welche auf dem Kontinent durch keine Parallelformen vertreten sind, vielleicht daß letztere ausgestorben sind, unter ihnen vor allem die riesigen, auch auf dem Galapagosarchipel im Aussterben begriffenen Elefantenschildkröten. Das Interessanteste am Galapagosarchipel ist nun, daß fast jede der 6 größeren und 9 kleineren Inseln innerhalb des Allgemeincharakters wieder ihren Spezial- charakter hat, indem von den sie bewohnenden Vögeln, Eidechsen, Schildkrö- ten den einzelnen Inseln entsprechende Lokalformen vorkommen, welche viel- fach als unzweifelhafte gute Arten angesehen werden. So unterscheidet man mehrere auf verschiedene Inseln verteilte Arten von Elefantenschildkröten. Für die Eidechsengattung Tropidurus behauptet Baur, daß jede Insel ihre eigene, auf anderen Inseln nicht vorkommende Art oder mindestens Varietät besitze. Zu ähnlichen Resultaten kam van Denburgh bezüglich der einzigen auf den Inseln vorkommenden Schlangengattung Dromicus, nur daß das Verbreitungs- gebiet derselben Art sich hier öfters über mehrere benachbarte Inseln erstreckt. Von den beiden auf die Galapagos beschränkten Vogelgattungen erinnert die eine, die Spottdrossel Nesonimus, in ihrer Verbreitung an Tropidurus, indem von den II bekannten Arten Io auf eine bestimmte Insel beschränkt sind und nur eine Art mehreren Inseln gemeinsam ist; von der zweiten, der Finkengat- tung Geospiza, sind 16 Arten über mehrere, manche sogar über die meisten In- seln verbreitet, während 17 auf je I Insel lokalisiert sind. Die Verhältnisse sprechen für die Annahme, daß die einzelnen Arten durch geographische Iso- lation entstanden sind. Die Verbreitung über mehrere Inseln kann entweder so gedeutet werden, daß die Art zu einer Zeit entstand, in welcher die betref- fenden Inseln noch zusammenhingen — dies ist für die Schlangen wahrschein- lich —, oder daß die Art die Möglichkeit gefunden hat, vom Orte ihrer Ent- stehung sich über mehrere Inseln zu verbreiten, was bei der Flugfähigkeit der Galapagos- Inseln. 46 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Vögel sehr begreiflich wäre. Von großem Interesse ist es, daß in manchen Fällen sich Proportionalität zwischen der räumlichen Sonderung der einzelnen Inseln und der Verschiedenartigkeit der sie bewohnenden Arten herausgestellt hat. Anderweitige Daß selbst kleinere Wasserscheiden Artdifferenzierung durch geographische Beispiele. Isolierung herbeiführen können, hat vor allem der Begründer der Migrations- theorie Moritz Wagner am Beispiele der Melanosomen Nordafrikas durchge- führt. Die Melanosomen, zu denen von einheimischen bekannteren Formen der Totenkäfer, Blaps mortisaga, gehört, sind Käfer, welche meist eine geringe Fähigkeit zur Ortsveränderung besitzen, weil sehr häufig ihre Flügeldecken ver- wachsen und infolgedessen die unter ihnen gelegenen Flügel rückgebildet sind. Ihre Verbreitung in Nordafrika zeigt das Merkwürdige, daß ganz nahe ver- wandte Arten voneinander durch die kleinen in südnördlicher Richtung strö- menden Flüsse getrennt werden, so vor allem durch den ansehnlichsten, den Scherif, während gut fliegende Käferarten diese Beeinflussung in ihrer Verbrei- tung nicht erkennen lassen, weil sie die Flußgrenzen überschreiten können. Die Entwicklung von Lokalarten in Tälern, welche einerseits durch un- wirtliche Gebirgskämme, anderseits durch einen vom Meer bedingten Abschluß getrennt werden, ist das älteste Beispiel der Artbildung durch geographische Isolierung. Noch vor Darwin war Leopold v. Buch beim Studium der Flora der Kanarischen Inseln darauf aufmerksam geworden und hatte aus der merk- würdigen Verbreitung derselben den Schluß gezogen, daß durch Sonderung neue Arten entstanden sein möchten. Zu gleichen Resultaten ist dann in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts Gulick bezüglich der Verbrei- tung der Schnecken auf den Sandwichinseln gekommen. Geographische Schließlich noch ein Beispiel aus der Verbreitungsweise der Meertiere! Es en gibt wenig Fälle, in welchen zwei gewaltige Meeresgebiete durch einen so schma- len Landstreifen voneinander getrennt werden, wie es mit dem Isthmus von Panama der Fall ist. Der nordsüdliche Verlauf der Landenge bringt es mit sich, daß die Existenzbedingungen in beiden Meeren, der Karaibischen See und dem Stillen Ozean, einander sehr ähnliche, vielleicht kann man sogar sagen, dieselben sind. Dazu kommt, daß die Trennung beider Meere im Vergleiche zu den rie- sigen Zeiträumen der Erdgeschichte noch nicht sehr lange besteht; die Geologie lehrt, daß sie erst am Ende der Miozänperiode zustande gekommen ist. Beim Studium der Meeresbewohner hat sich nun folgendes herausgestellt. Zunächst hielt man die beiderseits vorkommenden Arten für gleich, bis ein genaueres Stu- dium ergab, daß jede scheinbar einheitliche Art durch zwei ganz scharf unter- scheidbare Parallelarten ‚„geminate Spezies‘ gebildet wird, von denen die eine diesseits, die andere jenseits des Isthmus vorkommt. So entspricht unter den Seeigeln die atlantische Dorocidaris papillata der pazifischen D. panamen- sis, unter den Fischen die atlantische Harengula humeralis der pazifischen A. Ihrissina. Beim Studium der Fische allein hat Jordan über 100 derartige Parallelarten aufstellen können. Isolierung durch FürdieisolierendeWirkungklimatischerVerhältnissehatteich obenals ee Beispiel die Eiszeit angegeben. Bei derselben handelt es sich um ein über weite flüsse, Bedeutung der biologischen Isolierung 47 Territorien ausgedehntes mächtigesPhänomen. Gleiches wiederholtsich aberauch im engeren Rahmen, vielleicht häufiger, als wir zurzeit wissen, da der Erschei- nung noch nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Sehr lehrreich sind in dieser Hinsicht die Kolibris, eine ungemein artenreiche, also offenbar sehr anpassungsfähige und spezialisierte Familie, welche auf Südamerika beschränkt ist und nur mit wenigen Arten auf Nordamerika bis in die Gegend von Boston übergreift. Viele Arten haben einen engbegrenzten Verbreitungsbezirk. Unter ihnen sind manche auf einen bestimmten Vulkan und da wieder auf eine be- stimmte Höhe beschränkt und erläutern die nahe Verwandtschaft von Parallel- arten. So lebt auf dem Chimborazo der Oreotrochilus chimborazo und auf dem nicht weit davon entfernten Cotopaxi die Parallelart O. chimborazo jamesont. Es ist nun keineswegs nötig, daß die zur Bildung neuer Arten führende Sonderung eine topographische sein muß. Das gleiche Resultat kann innerhalb eines und desselben Territoriums durch einen Prozeß herbeigeführt werden, welchen man die biologische Isolierung nennt. Die wichtigste Form der biologischen Isolierung ist die im Bereich der Geschlechtssphäre sich vollzie- hende, weil sie die ausgleichende Wirkung der Kreuzung verhindert. Eine sexu- elle Trennung kann herbeigeführt werden, wenn die Geschlechtsreife in verschie- dene Zeiten fällt. Der Wasserfrosch Rana esculenta lebt in der Mark Branden- burg in zwei ganz erheblich unterschiedenen Varietäten, deren Geschlechts- reife um einen Monat auseinanderliegt. In den verschiedensten Gebirgsseen kommt es vor, daß Salmoniden der gleichen Art, z. B. der Saibling, in zwei ver- schiedenen, von den Fischern meist für verschiedene Arten erklärten Varietäten vorkommen, deren Geschlechtsreife um viele Monate differiert, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß die eine Varietät in der Tiefe, die andere mehr in ober- flächlichen Wasserschichten lebt. Ähnliches gilt für die Corregonus-Arten, deren systematische Umgrenzung viel umstritten ist. Von vielen Biologen ist auch die Frage aufgeworfen worden, ob zwischen Varietäten auch eine psychische Abneigung oder eine die Begattung unmög- lich machende Inkongruenz der Begattungsorgane eine Kreuzung ver- hindern kann, was natürlich eine zunehmende Divergenz der betreffenden Va- rietäten und die Ausbildung getrennter Arten begünstigen würde. Hier ist ein reiches Feld zu biologischen und experimentellen Untersuchungen gegeben. Was wir hierüber wissen, ist leider nur allzu spärlich, als daß man ein gesichertes Urteil aussprechen könnte. Für den Koloradokäfer wurde durch Tower bewiesen, daß zwar Größenunterschiede der Varietäten Begattung unmöglich machen können, daß dagegen Variabilität der Färbung, wie durch genaue statistische Untersuchungen festgestellt wurde, keinen Einfluß auf die Paarung ausübt. Auch bei Schmetterlingen hat sich Ähnliches herausgestellt; hier haben sogar künstliche Färbungen, Bemalungen der Flügel, weder beim Männchen noch beim Weibchen eine Behinderung der Paarung verursacht. Indessen, hier stehen wir, wie immer wieder betont werden muß, erst am Anfang exakter wissenschaftlicher Untersuchung, was auch für die Wirkungs- weise der geographischen Isolierung gilt. Bisher ist die Bedeutung der geogra- Biologische Isolierung. Zielstrebigkeit der Organismen, Prinzip der Pro- gression, Theorie derOrthogenesis. 48 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre phischen Isolierung für die Artbildung vorwiegend in deskriptiver Weise auf Grund von systematisch-tiergeographischen Beobachtungen erörtert worden. Soweitich die Literatur kenne, fehlt es selbst hier noch an einer erschöpfenden Be- handlung, welche bis ins einzelne zu erörtern hätte, inwieweit in jedem Falle die systematische Divergenz der Arten und Varietäten proportional ist der historischen Trennung, welche zwischen den von den Arten bewohnten Terri- torien besteht, die sich ja mittels der Tatsachen der Geographie und Geologie leicht feststellen läßt. Vor allem aber wird in der Folgezeit die experimentelle Untersuchung lebenden Materials unter Anwendung der exakten Methoden der Variabilitätslehre in den Vordergrund zu stellen sein. Bei der Erörterung der Wirkungsweise der geographischen Isolierung habe ich hervorgehoben, daß dieselbe einen verändernden Einfluß auch dann noch ausüben wird, wenn beide voneinander getrennten Tiergruppen unter gleichen Existenzbedingungen verharren, wie dies am schönsten durch den Vergleich der Meeresfaunen westlich und östlich vom Isthmus von Panama festgestellt werden konnte. Das Auftreten einer derartigen durch keinerlei äußere Faktoren bedingten divergenten Entwicklungsetzt voraus, daß Verschiedenartig- keit,der Formen auch durch innere‘in der Konstitution der Or- ganismen gegebene Ursachen hervorgerufen werden kann. Die Be-. deutung dieser inneren Faktoren der Artumbildung in das richtige Licht ge- stellt zu haben, ist das Verdienst einer Lehre, welche man mit verschiedenen Namen bezeichnet: Zielstrebigkeit des Organismus (C.E.v.Baer),Prin- zip der Progression (Naegeli), Orthogenesis (Eimer), eine Verschieden- heit der Namengebung, welche zum Teile allerdings auch mit Verschiedenheiten der Auffassung zusammenhängt, die sich bei aller Gleichartigkeit in der Einzeldurchführung ergeben. i C. E. v. Baer sprach von Zielstrebigkeit, weil er in Übereinstimmung mit der seine Zeit beherrschenden teleologischen Auffassung der Natur den Organis- men eine Tendenz zur Vervollkommnung, einen auf die Erreichung eines be- stimmten Ziels gerichteten inneren Trieb zuschrieb. Ihm steht Naegeli in- sofern nahe, als auch er dem Organismus die Fähigkeit zuschrieb, sich vom Ein- facheren zum Komplizierteren aus eigener Ursächlichkeit zu entwickeln und sich somit zu vervollkommnen; nur verwahrte er sich gegen den Vorwurf der Mystik und der Teleologie, welcher ihm gemacht wurde. Um diesem Vorwurfe zu begegnen, ersetzte er den anfänglich von ihm angewandten Ausdruck ‚Vervoll- kommnungsprinzip‘ durch den Ausdruck ‚‚Prinzip der Progression‘‘. Das Prinzip „seimechanischer Natur und stelle das Beharrungsgesetz in der organischen Natur dar“. „Sowie die Entwicklungsbewegung einmal im Gange ist‘, sagt er, ‚so kann sie nicht stille stehen, und sie muß in ihrer Richtung beharren.‘‘ Die Not- wendigkeit der selbständigen Entwicklungsbewegung suchte er aus dem kompli- zierten molekularen Aufbau der organischen Substanz abzuleiten. Naegeli ist es bei aller Betonung der inneren Faktoren der Entwicklung nicht eingefallen, den bestimmenden Einfluß der Außenwelt in Abrede zu stellen; doch suchte Prinzip der Progression, Orthogenesislehre 49 er die Einwirkungsweise beider Agentien auseinanderzuhalten, indem er die erreichte Organisationsstufe auf die Rechnung des inneren Gestaltungstriebs setzte, dagegen die auf gleicher Organisationsstufe sich ergebenden mannigfachen Möglichkeiten auf den Einfluß der Außenwelt zurückführte, eine Trennung, die wohl nicht als eine glückliche bezeichnet werden kann. Wir werden später in der parasitischen Lebensweise einen äußeren Faktor kennen lernen, welcher in hohem Maße die Organisationsstufe der Lebewesen beeinflußt, freilich nicht in einem förderlichen Sinne, sondern im Sinne der Rückbildung. Es ist aber klar, daß, was im negativen Sinne gilt, auch für die positive Wirkung angenommen werden muß. In seiner Orthogenesislehre betrachtet Eimer mit Recht den Organismus als das Produkt kombinierter äußerer Bewirkungen und innerer Entwicklung. Die Einflüsse der Außenwelt sollen die Veränderlichkeit der Lebewesen be- dingen, die innere Konstitution soll dagegen Ursache sein, daß die Verände- rungen nicht nach den verschiedensten Richtungen erfolgen, sondern in einer ganz bestimmt vorgezeichneten Weise sich vollziehen. Es gibt viele Erscheinungen, welche erkennen lassen, daß in der Tat ein Teil der Veränderungen der Organismen sich aus innerer Notwendigkeit, wenn auch unter dem Reize der Außenwelt vollzieht. Eimer suchte eine derartige ortho- genetische Entwicklung für die Zeichnung vieler Schmetterlinge, Säugetiere und Reptilien nachzuweisen, indem er durchführte, wie in den verschiedensten Tiergruppen ein gesetzmäßiger Fortschritt von einer niederen Form der Zeich- nung zu einer höheren sich vollzieht. Ich möchte das gleiche für zwei Merkmale der Muscheln durchführen, die Beschaffenheit des ‚Ligaments‘‘ und der Kiemen dieser Tiere. 1. Das Ligament ist eine elastische Masse, welche von einer Schale zur anderen herübertritt, beide untereinander verbindend; es ist der unverkalkt gebliebene dorsale Teil der Schale und liegt bei den meisten Muscheln daher in einer Flucht mit dem übri- gen Abschnitte der Schale, es ist ein ,‚äußeres Ligament‘‘; beivielen Muscheln wird es jedoch durch Einfaltung nach innen verlagert. Daß diese Umbildung des äuße- ren Ligaments in ein inneres sich bei den verschiedensten systematisch nicht zusammengehörigen Familien vollzogen hat, ist ein Zeichen, daß hier ein ortho- genetischer Prozeß vorliegt. 2. Die Kiemen sind bei vielen Muscheln lange pa- rallel angeordnete Fäden (Fadenkieme); bei anderen sind die Fäden unterein- ander zu einer gefensterten Membran verwachsen (Blattkieme); bei dritten ist die Membran zur Vergrößerung der respiratorischen Oberfläche vielfach gefaltet (Riffkieme). Die Vervollkommnung der Fadenkieme zur Blattkieme, der Blatt- kieme zur Riffkieme ist ebenfalls ein orthogenetischer, sich mit Notwendigkeit aus der Beschaffenheit der Kieme ergebender Vervollkommnungsprozeß, wie das wiederum sich auch daraus ergibt, daß er mehrmals sich in der Klasse der Muscheln vollzogen hat. Was hier für größere Gruppen des Tierreichs durchgeführt wurde, wieder- holt sich auch im Rahmen der kleinsten systematischen Einheiten und ist hier einer viel exakteren Prüfung zugängig. So ist Tower sowohl beim Studium K.d.G.IH.ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 4 Beispiele für Orthogenesis. 50 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre der Variabilität, als auch beim Studium der Art, in welcher sich die einzelnen Spezies der Gattung Leptinotarsa zu mehreren genetischen Reihen verbinden lassen, zum Resultate gekommen, daß alle Veränderungen der Färbung und der Zeichnung, sowohl die, welche gelegentlich in der freien Natur auftreten, als auch die, welche durch das Experiment erzeugt werden können, in wenigen Rich- tungen erfolgen. Beschränkte Vom theoretischen Standpunkt wird es nun keineswegs als eine Notwen- u ekelise digkeit angesehen werden können, daß die Entwicklung immer nur an eine oder wenige bestimmte Richtungen gebunden sein muß. Es wird daneben auch all- seitige Variabilität vorkommen, wie es Darwin und De Vries gelehrt haben. Bei der Umänderung der Organismen handelt es sich um sehr verwickelte Er- scheinungen, um ein Zusammenwirken äußerer und innerer Faktoren. Je nach den Bedingungen des einzelnen Falls werden bald mehr die inneren, bald mehr die äußeren Faktoren bestimmend wirken. Immerhin ist es bei der be- stehenden Neigung, den Einfluß der äußeren Bewirkungen sehr hoch zu be- werten, notwendig gewesen, die große, ja, man kann sagen, die überwiegende Bedeutung des inneren Baues in den Vordergrund zu stellen, wie es durch Baer, Naegeli und Eimer geschehen ist. o)AkıntlußrderlBastardierunglaufrdie/Artbildung wlnzden Fällen, von denen bisher die Rede war, zeichnete sich die Variabilität durch das Auftreten neuer Merkmale aus, gleichgültig, ob dieselben durch das Progressionsprinzip des Organismus oder den Einfluß der Außenwelt oder was wohl am häufigsten zutreffen wird, durch eine kombinierte Wirkung beider hervorgerufen werden. Es gibt nun aber Veränderungen der Organismen, welche zwar auf den ersten Blick ebenfalls den Eindruck von etwas Neuem machen, in der Tat sich aber bei genauer Analyse nur als eine neue Gruppierung von Merk- malen erweisen, welcheschon vorher vorhanden waren. Derartige fälschliche Neu- heiten werden durch Bastardierung hervorgerufen; sie können so komplizierter Natur sein, daß es nicht immer leicht ist, ihren wahren Charakter zu erkennen. Um nur ein Beispiel für diese Schwierigkeiten zu geben, so seihervorgehoben, daß die als typische Beispiele von Mutationen beschriebenen Abänderungen von Oenothera lamarckiana von vielen Seiten als Folgeerscheinungen vorausgegange- ner Bastardierung angesehen werden. Bildung neuer Die Erfahrungen der Mendelvererbung haben gezeigt, daß intermediäre a Formen häufig in der ersten Generation, der F!-Generation, auftreten, daß in Bastardierung. Jen nächsten Generationen jedoch immer mehr Individuen auf die Elternformen zurückschlagen, so daß schließlich von Bastarden nichts mehr übrigbleibt. Es wird immer wahrscheinlicher, daß diese Spaltungsregel für die meisten Fälle gilt, nicht nur für alle Varietäten, sondern auch für viele Arten, so daß man geradezu voneinem Spaltungsgesetze redenkann. Danach würdeesden Anscheingewinnen, als ob die Bastardierung für die Schaffung neuer Arten gänzlich belanglos wäre. Diese Schlußfolgerung würde jedoch den Erfahrungen der Tier- und Pflanzen- züchter widersprechen, von denen namentlich die letzteren die Bastardierung be- nutzen, um neue Formen zu erzeugen; sie findet auch in den Mendelresultaten Bastardierung und Artbildung 5I nur insoweit Bestätigung, soweit essich um Bastardierung von Formen handelt, welchesich nur in einem einzigen Merkmale unterscheiden (Monohybriden), was wohl nur in den allerseltensten Fällen zutreffen wird. In der Regel unterscheiden sich Varietäten in mehreren Arten, sogar in sehr vielen Merkmalen voneinander, so daß bei der Kreuzungsogenannte Polyhybriden entstehen, Formen, welche in vielen Merkmalen hybriden Charakter tragen. Weiterhin ist es die Regel, von welcher es jedoch mancherlei Ausnahmen gibt, daß die einzelnen unter- scheidenden Merkmale sich unabhängig voneinander vererben und demgemäß bei der Aufspaltung unabhängig voneinander auf die Geschlechtszellen verteilt werden. Damit ist die Möglichkeit einer Neugruppierung der einzelnen Charak- tere gegeben. Besaßen die Geschlechtszellen der einen Ausgangsform, wenn wir von dem Gemeinsamen absehen, die Merkmale A-b.C, die der zweiten die Merk- male a’ B-c, so können in den Enkelgenerationen durch die Neukombination der Erbeinheiten die Formeln A-B-C und a-b-c, A-B.c und a-b:C, A-b.c und a-B-C, sowie durch Rückschlag auf die Eltern die Formeln A-b.C und a:B-C entstehen; sie müssen sogar nach den Gesetzen des Zufalls bei einem genügend großen Material gebildet werden,und zwar in einem ganz bestimmten, mathematisch zu berechnenden Prozentsatz, was auch durch das Experiment bewiesen wurde. Je größer die Zahl der ‚„mendelnden‘‘ Merkmale ist, um so größer muß die Zahl derartiger rein züchtender Neukombinationen sein. Es ist klar, daß hierbei zunächst nichts wirklich Neues geschaffen wird, da es ja immer nur die alten Merkmale sind, welche in neuer Gruppierung erscheinen und das Eigentümliche der uns neu erscheinenden Formen bedingen. Eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit spricht jedoch dafür, daß die Neukombination der Erbeinheitenschließlich auch eine Abänderung derselben her- beiführt und damit auch in der Tat neue Anlagen schafft. Daraus würde es sich erklären, daß fortgesetzte Kreuzung die Variabilität und An- passungsfähigkeit der Organismen steigert. IV. Phylogenie des Tier- und Pflanzenreichs. In den vorausgehenden Kapiteln haben wir ein reiches Tatsachenmaterial kennen gelernt, welches über die Umbildung der Arten und ihre Ursachen vor- liegt; wir haben dabei gesehen, daß die Forschung bemüht gewesen ist, das Pro- blem immer schärfer zu formulieren und seine Beantwortung exakteren Unter- suchungsmethoden, vor allem der Untersuchung mittels des Experiments, zu- gängig zu machen. Wenn das Gebiet nach wie vor an Widersprüchen über- reich ist und die Ansichten einander vielfach schroff gegenüberstehen, so darf uns das nicht irremachen. Der Verbesserung der Methodik wird es schließlich doch noch gelingen, die Schwierigkeiten zu überwinden und die vorwärtsdrän- gende unermüdliche Forschung zu übereinstimmenden Resultaten zu führen. Es ist das nur eine Frage der Zeit. Ein ganz anderes Aussehen gewinnt das Lehrgebäude der Deszendenz- theorie, wenn wir die von der Umbildung der Arten gewonnenen Anschauungen auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich auszudehnen und zu einer Stammes- 4* Phylogenie der Organismen. 52 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre geschichte, einer Phylogenie der lebenden Organismenwelt, zu erweitern suchen. Hier bewegen wir uns notgedrungen auf einer schwanken Basis. Denn die Erscheinungen und Vorgänge, mit denen wir hierbei uns zu befassen haben werden, gehören vergangenen Zeiten an und können nur aus den Resten, welche sie hinterlassen haben, und aus ihren Nachwirkungen erschlossen werden. Auf eine exakte naturwissenschaftliche Beweisführung müssen wir daher von vornherein verzichten. Phylogenetische Das Beweismaterial, welches uns zur Verfügung steht, ist sehr verschiede- Beweise. ner Natur. Zunächst kommen die Dokumente in Betracht, welche die Tier- und Pflanzenwelt früherer Zeiten hinterlassen haben und die durch die in der Erde vergrabenen Versteinerungen gegeben sind (Paläontologie), weiterhin die Er- scheinungen der uns umgebenden Lebewelt. Denn aus der Art, in welcher die Tiere und Pflanzen über die Erde verbreitet sind (Biogeographie), aus ihren verwandtschaftlichen Beziehungen, wie sie durch ihren Bau und ihre Ent- wicklung erläutert werden (Morphologie) und im System der Tiere und Pflan- zen zum Ausdruck kommen (Systematik), kann man Rückschlüsse machen, in welcher Weise die jetzt vorhandenen Zustände sich herausgebildet haben mögen. In den vorausgegangenen Bänden dieses Werkes haben die wichtigsten Ergebnisse der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte der Tiere und Pflanzen ihre Darstellung gefunden. Über ihre geographische und geolo- gische Verbreitung werden die letzten Kapitel dieses Buches handeln. Hierin ist das Material gegeben auf welches sich die Abstammungslehre stützt. Meine Aufgabe wird es nun sein, zu erläutern, in welcher Weise das betreffende Ma- terial uns zum Beweise dienen kann und welche Beweiskraft ihm zugeschrieben werden muß. Da es für unsere Auseinandersetzungen gleichgültig sein wird, auf welches Material wir uns stützen, ob es aus dem Tier- oder Pflanzenreich stammt, werde ich vorwiegend die mir näher liegenden Verhältnisse des Tier- reichs berücksichtigen. Paläontologie. a) kaläontolosische Beweise.der Deszendenziheorie 2. größten Erwartungen würde der unbefangene Beurteiler dem paläontolo- gischen Material, dem Studium der ausgestorbenen Tiere und Pflanzen ent- gegenbringen, weil dasselbe uns unmittelbare Kunde bringt von den Organismen, welche in früheren Perioden die Erdoberfläche bevölkerten und somit die Vorläufer der jetzigen Lebewelt gewesen sind. Diese Erwartungen werden jedoch stark enttäuscht, wenn man mit den Resultaten der Paläontologie be- ee kannt wird und sich von der außerordentlichen Lückenhaftigkeit der paläon- gischenUrkunde, tologischen Urkunde überzeugen muß. Genauere Überlegungen lehren denn auch, daß der Natur der Sache nach die Paläontologie uns nur einen sehr un- vollständigen Aufschluß über die Vergangenheit liefern kann. Versteinerungs- fähig sind im allgemeinen, wenn wir uns hier auf das Tierreich beschränken, nur das Skelett und die Schalen der Tiere. Nur selten gewinnen wir durch die Ver- steinerungen Kunde vom Weichkörper der Tiere. Es gibt einige wenige Fälle, in denen sich wunderbarerweise die Muskulatur von Cephalopoden und Fischen Phylogenetische Beweise: Paläontologie 53 erhalten hat und zwar so gut, daß man ihre Struktur noch erkennen kann. Von dem weichen Gallertkörper mancher Medusen haben sich in dem feinkörnigen plastischen Materiale der Solenhofener Schiefer Abgüsse gebildet, so daß man sich eine ganz gute Vorstellung von ihrer Körpergestalt und der Anordnung mancher Organe bilden kann. Von Haifischen ist es bekannt, daß die Darm- füllung, wenn sie reichliches Skelettmaterial gefressener Tiere enthält, zur Bil- dung von Petrefakten geführt hat und daß man von der Gestalt dieser „Ko- prolithen“ einen Rückschluß auf den Bau des Darmes (auf die Anwesenheit der charakteristischen Spiralklappe) machen kann. Aber in allen diesen Fällen handelt es sich um seltene Ausnahmen, welche an dem Satze, daß die Weichteile der ausgestorbenen Tiere nicht fossil erhalten sind, nichts ändern. Die erörterten Verhältnisse sind für uns von der allergrößten Bedeutung, SkelettloseTiere weil viele umfangreiche Tierabteilungen entweder gar kein Skelett besitzen oder ein Skelett von so geringer Festigkeit, daß es ähnlich den Weichteilen zugrunde geht ohne zu fossilisieren. Skelettlos sind etwa ?/, der Protozoen, viele Coelen- teraten, außerdem fast sämtliche Würmer, letztere eine ungemein wichtige Ab- teilung des Tierreichs, weil unter ihnen die Formen gesucht werden müssen, aus denen sich die höheren Tierstämme entwickelt haben. Von vornherein besteht somit wenig Aussicht, daß wir über die ersten Anfänge der jetzt in Blüte befind- lichen großen Tierstämme der Arthropoden, Mollusken und Wirbeltiere durch paläontologische Untersuchungen irgendwelche Kunde erfahren werden. Ist doch schon bei den primitivsten Wirbeltieren, dem Amphioxus und den Cyclostomen, das Skelett (Chorda dorsalis) von so weicher Beschaffenheit, daß es nach dem Tod rasch zugrunde geht. Wenn wir nun unser Augenmerk den durch Anwesenheit eines Skeletts ausgezeichneten Tierabteilungen zuwenden, so bekommen wir auch von ihnen durch die paläontologischen Funde eine sehr unvollkommene Vorstellung. Wür- den wir z. B. die systematische Verwandtschaft der rezenten Tiere ausschließ- lich nach der Beschaffenheit ihres Skeletts beurteilen und die für das Leben so- viel wichtigeren Organsysteme wie Nervensystem, Sinnesorgane, Muskulatur, Verdauungs-, Atmungs-, Zirkulations-, Exkretions- und Geschlechtsorgane außer acht lassen, so würden wir zu ganz falschen Vorstellungen gelangen. Würden wir nur das Skelett kennen, so würden wir z. B. schwerlich Amphibien und Reptilien so scharf voneinander trennen, wie wir es jetzt auf Grund ihrer Ent- wicklungsgeschichte, ihrer Embryonalanhänge, ihrer Exkretions- und At- mungsorgane tun. Nun ermöglicht uns zwar das Prinzip der Korrelation der Korrelation der Teile, daß man aus der Beschaffenheit eines Organsystems Rückschlüsse machen kann auf die Beschaffenheit anderer. Speziell gilt das Gesagte vom Skelett der Wirbeltiere; kann man doch aus der Beschaffenheit des Schädels, seiner Größe und seiner inneren Oberfläche manches über den Bau des eingeschlosse- nen Gehirns entnehmen, aus dem Entwicklungsgrade des Visceralskeletts erschließen, ob Kiemen vorhanden waren oder nicht. Die Struktur des Skeletts der vorderen und hinteren Extremität orientiert uns mit großer Sicherheit, ob die in Frage stehenden Tiere Land- oder Wasserbewohner gewesen sind. Aber 54 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre das sind als Ersatz für unmittelbare Beobachtung nur Notbehelfe, welche auch nicht möglich wären, wenn nicht die Untersuchung lebender Tiere die zur Be- urteilung nötigen Korrelationen festgestellt hätte. In anderen Tierstämmen wie z. B. den Mollusken ist übrigens das Wechselverhältnis zwischen Skelett und Weichkörper keineswegs so innig und vielgestaltig, wie bei den Wirbeltieren. Daher würde wohl niemand, ohne genaue Kenntnis des Weichkörpers, darauf kommen, daß die Brachiopoden, welche wegen ihrer zweiklappigen Schale früher für Muscheln gehalten wurden, überhaupt nicht in den Stamm der Weich- tiere gehören. Bedingungen Wenn somit auch bei skelettführenden Tieren die paläontologischen Reste ee wegen des Mangels der Weichteile ein für phylogenetische Erkenntnis sehr un- zureichendes Material darstellen, so wird sein Wert weiter noch dadurch sehr herabgesetzt, daß auch von den Skeletten ausgestorbener Tiere nur ein ganz minimaler Teil der Forschung zugängig ist. Denn auch von den Skeletten geht der größte Teil zugrunde, ehe er durch Versteinerung in einen erhaltungs- fähigen Zustand übergeführt wird. Durch Verwitterung wird die organische Masse vernichtet, welche allen Skeletten zugrunde liegt, so daß nur die anorga- nischen Bestandteile übrigbleiben. Diese anorganischen Bestandteile sind zu- meist kohlensaurer Kalk (wirbellose Tiere) und phosphorsaurer Kalk (Wirbel- tiere), beides Materialien, welche durch kohlensäurehaltiges Wasser bei langer Einwirkung zerstört werden. So erklärt es sich, daß alle kalkhaltigen Skelette an der Luft verwittern und ebenso auch im Meerwasser gelöst werden. Was letzteren Faktor anlangt, so haben die Tiefsee-Untersuchungen ergeben, daß die Schalen von Mollusken und Foraminiferen und die Skelette von Fischen nur bis zur Tiefe von 4 bis 6000 Metern in gut erhaltenem Zustande aufgefunden werden; bei noch größerer Tiefe findet man das Material in Zersetzung; in den Tiefen von 6000 Metern und darunter existieren überhaupt keine verkalkten Skelette mehr außer den Haifischzähnen und den durch ungewöhnliche, elfen- beinartige Härte ausgezeichneten Gehörkapseln der Wale, Knochen, welche die Trommelhöhle umhüllen. Der Grund für diese Erscheinung ist darin gegeben, daß die Kohlensäure des Meerwassers die Fähigkeit hat, dielangsam absinkenden Skeletteaufzulösen, undsiedaherauch vollkommen zerstört, wenn beigroßer Was- sertiefe genügende Einwirkungszeit für diese zerstörenden Einflüsse gegeben ist. Man bedenke nun weiter, daß von dem durch Verwitterung arg dezimier- ten Skelettmaterial nur ein ganz kleiner Teil der Forschung zugängig gemacht werden kann, auch dieser in einem nur selten allen Anforderungen genügenden Zustande. Denn was erhalten geblieben ist, liegt im Schoße der Erde begraben, ist durch den gewaltigen Druck überlagernder Schichten häufig stark verändert oder zerstört. Es ist ein glücklicher Zufall, wenn günstige Fundstätten zu- gängig gemacht werden. Die reichen Ergebnisse, zu denen die planmäßige Aus- nutzung solcher günstiger Fundstätten geführt hat, lassen nur aufs neue er- kennen, wie dürftig unser paläontologisches Wissen ist im Vergleich zu dem riesigen Formenreichtum, welcher in früheren Zeiten nicht minder als in der Neuzeit geherrscht haben muß. Phylogenetische Beweise: Paläontologie 55 Unter den gegebenen Bedingungen würde es ein aussichtsloses Beginnen Patäontologische sein, auf Grund des paläontologischen Materials eine Stammesgeschichte der Sauna Organismenwelt zu schreiben. Was möglich ist, ist nur die Schilderung einiger Episoden derselben. Aber auch dann müssen wir uns immer bewußt sein, daß bei der Konstruktion der Stammbäume ein hypothetisches Element mit unter- läuft. Wir finden z. B. zahlreiche, einander verwandte Formen derselben Gat- tungen oder Familien in aufeinanderfolgenden Schichten der Erdrinde. Wenn wir dieselben zu einer fortschreitenden Entwicklungsreihe anordnen und uns vorstellen, daß die einen Formen sich aus den anderen durch Umbildung ent- wickelt haben, so ist hierin eine Hypothese enthalten, welche unter Umständen einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen kann, immerhin aber sich in nicht wenigen Fällen als irrtümlich oder wenigstens als ungenügend begründet herausgestellt hat. Es braucht hier nur zur Erläuterung an den Stammbaum des Pferdes erinnert zu werden. Wenn zwar im allgemeinen daran festgehalten wird, daß die einzehigen Arten von vierzehigen Urformen abgeleitet werden müssen, so haben doch die Ansichten vielfach gewechselt, inwieweit die drei- und vier- zehigen Formen, welche man in den Tertiärschichten nachweisen kann, in die unmittelbare Ahnenreihe gehören oder Seitenzweige derselben darstellen. Mag man nun auch über die Unvollständigkeit des paläontologischen Ma- terials denken wie man will, so darf doch nie außer acht gelassen werden, daß durch dasselbe bestimmte Richtlinien geschaffen werden, welche nicht ver- nachlässigt werden dürfen. Alle aus der Untersuchung der lebenden Organis- menwelt abgeleiteten Spekulationen über Stammesgeschichte dürfen mit den positiven Ergebnissen der Paläontologie nicht in Widerspruch stehen. Auch die negativen Resultate, sofern sie nur auf der Ermittlung eines umfangreichen Materials aufbauen, verlangen Beachtung. Wenn gewisse Tierarten in Schich- ten fehlen, in denen man sie vermuten sollte, wenn z. B. die Anwesenheit des Menschen für das obere Pliocän nicht festgestellt ist, so handelt es sich um eine Erfahrungstatsache, deren Tragweite durch einen einzigen glücklichen, positiven Fund aufgehoben werden kann. Wenn wir dagegen feststellen, daß von den jetzt lebenden Säugetieren keine einzige Art sich bis in das tertiäre Pliocän hinein, keine lebende Wirbeltierart über das Tertiär hinaus verfolgen läßt, so kann man mit Sicherheit entnehmen, daß die jetzt lebenden Arten der Wirbeltiere nicht von Uranfang an vorhanden gewesen sind, sondern einmal entstanden sein müssen, was nur durch Umwandlung früher vorhandener Arten denkbar ist, wenn wir nicht unsere Zuflucht zu Schöpfungshypothesen neh- men wollen. b) Bedeutung der lebenden Tierwelt für die Stammes- geschichte. Bei der Unzulänglichkeit der paläontologischen Urkunde ist es begreiflich, daß die Forschung in erster Linie bemüht gewesen ist, aus den Erschei- nungen derlebenden Tierwelt Klarheit über die Art ihrer Entstehung zu gewinnen. Diese Betrachtungsweise geht geschichtlich weit zurück und ist älter als die paläontologische Forschung. Besonders waren es die Ergebnisse der ver- gleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte, welche die Zoologen ver- Physiologische Erklärung der Organisation. Das Unzureichende der physiologi- schen Betrach- tungsweise. Funktionslose Organe, 56 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre anlaßten, sehr frühzeitig an eine Abstammung der Tiere von gemeinsamen Urformen zu glauben, indem sie die Formverwandtschaft als Blutsver- wandtschaft deuteten. Hat doch schon Kant diese Möglichkeit in Erwägung gezogen, jedoch die Biologie vor diesem ‚„Wagnis der Vernunft‘‘ gewarnt. Später als die Morphologie der Tiere (vergleichende Anatomie und Entwick- lungsgeschichte nebst Systematik) wurden auch die Tatsachen der Tiergeogra- phie herangezogen. Die spekulative Abstammungslehre, von welcher im folgenden die Rede sein soll, ist aus dem Kausalitätsbedürfnis des menschlichen Geistes hervorgegangen, aus dem Bedürfnisse, die Erscheinungen der umgeben- den Natur ursächlich zu erklären. Wer in dieser Weise sich mit dem Bau der Tiere und Pflanzen beschäftigt, dem liegt es am nächsten, die Form und Struktur der Organe aus ihrer Wir- kungsweise, ihrer Funktion zu verstehen. Diese physiologische Betrach- tungsweise gleicht am meisten der Betrachtungsweise eines Maschineninge- nieurs. Derselbe gewinnt für den Bau einer Dampfmaschine volles Verständ- nis, wenn er für jeden einzelnen Teil feststellt, wie seine Beschaffenheit durch die ihm übertragene Arbeitsleistung bedingt ist und wie diese Arbeitsleistung in das Getriebe des Ganzen eingreift. In entsprechender Weise sucht auch der Biologe den Bau der einzelnen Organe zunächst zu begreifen, indem er den innigen Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion und die Bedeutung des Organs für das Leben des Ganzen darlegt. Der Ingenieur hat mit der Analyse der Maschine und ihrer Teile sein er- klärendes Studium abgeschlossen; er weiß, daß die Maschine von einem plan- mäßig denkenden Menschen konstruiert und nach dessen Plänen ausgeführt worden ist. Der Biologe ist nicht in dieser glücklichen Lage; wenn er sich fragt, wie ist der zweckmäßige Bau der tierischen Organe zustande gekommen, so steht er einem Problem gegenüber, welches erst durch weitere Studien gelöst werden kann. Beim Verfolgen des hier gezogenen Vergleichs ergeben sich aber noch wei- tere Unterschiede zwischen einer Maschine und den Einrichtungen eines Or- ganismus. Eine Maschine kann, sofern sie keine Konstruktions- fehler enthält, restlos aus den von ihr zu leistenden Aufgaben erklärt werden. Bei einem Organismus trifft das nur in den seltensten Fällen zu; meist ergeben sich vielerlei Besonderheiten, welche durch die rein physiologische Betrachtung in keiner Weise verständlich ge- macht werden können. Ich will diese merkwürdige Erscheinung an einigen Beispielen erläutern. Der Gehörgang des Menschen endigt nach außen mit der Ohrmuschel, einem ziemlich komplizierten Organ, von dem man lange Zeit annahm, daß es bestimmt sei, die Schallwellen aufzufangen und somit beim Hörvorgang eine wichtige Rolle zu spielen. Man kann indessen die Ohrmuschel abschneiden oder ihren Hohlraum ausfüllen, ohne daß das Hörvermögen eine Einbuße er- leidet. Die Ohrmuschel ist somit ein funktionsloses Organ. In noch höherem Phylogenetische Beweise: Physiologische Erklärungsweise 57 Maß gilt dasselbe von den die Muschel versorgenden kleinen Muskeln, unter denen man zwei Gruppen unterscheidet. Die einen treten von der Umgebung von der ‚„Galea aponeurotica‘' oder Kopfschwarte an die Öhrmuschel heran und können von manchen Menschen noch zur Bewegung der Ohren, einem wenig ausgiebigen Wackeln derselben, benutzt werden; die anderen liegen auf der Ohrmuschel selbst und würden, wenn die Ohrknorpel nachgiebiger und sie selbst zu Kontraktionen befähigt wären, eine Gestaltveränderung des Organs herbeiführen können. Beides ist aber nicht der Fall. Kein Mensch besitzt die Herrschaft über diese Ohrmuskeln im engeren Sinne; dieselben haben somit auch nicht den geringsten Zweck. Bei dieser Sachlage ist die menschliche Ohr- muschel samt ihrem komplizierten Muskelapparat funktionell völlig unver- ständlich. Sehen wir uns nun die übrigen Säugetiere auf die gleichen Verhält- nisse an, so kommen wir zu dem Resultate, daß die beim Menschen funktions- losen Einrichtungen hier ihren guten Sinn haben. Die auf der Muschel liegenden Muskeln dienen hier zu Gestaltveränderungen derselben; die an sie herantre- tenden Muskeln haben die Aufgabe, den als Schalltrichter dienenden Apparat nach verschiedenen Richtungen einzustellen, offenbar um die Herkunft der Schallwellenwfestzustellen., Der Bau ’und’die’ Existenz des mensch- lichen Ohrs sind somit nicht aus den beim Menschen gegebenen Funktionsbedingungen heraus verständlich, sondern aus den Funktionsbedingungen, wie sie beianderen Säugetieren vorliegen. Ein anderes analoges Beispiel! Im inneren Augenwinkel des Menschen findet sich eine unter dem Namen ‚‚plica semilunaris‘‘ bekannte kleine völlig funktionslose Falte, welche ab und zu, bei niederen Menschenrassen sogar sehr häufig, von einem kleinen Knorpelchen gestützt ist. Bei vielen Säugetieren und zahlreichen anderen Wirbeltieren ist die betreffende Falte stark entwickelt und kann als ein drittes Augenlid, die Nickhaut, zum Schutze über den Aug- apfel herübergezogen werden, wobei dann der den Rand stützende Knorpel seine gute Funktion zu erfüllen hat. Also auch hier begegnen wir wieder der Merkwürdigkeit, daß Einrichtungen des Menschen nur dann funktionell ver- ständlich werden, wenn man ihre Funktion bei niederen Wirbeltieren untersucht. Ähnliche Verhältnisse, wie wir sie hier vom Bau des Menschen kennen gelernt haben, finden wir in seinen sozialen, staatlichen, kirchlichen Einrich- tungen auf Schritt und Tritt; sie sind hier nachweisbar Reste historischer Entwicklung, die früher ihren guten Sinn gehabt haben, im Wechsel der Zei- ten denselben aber allmählich verloren haben. Manchmal sind sie gleichgültig und bedeutungslos; nicht selten können sie sogar dem Fortschritte schädlich sein und werden trotzdem längere Zeit fortgeführt als Erbstücke vergangener Zeiten. Und so werden wir auch in den von uns zur Erläuterung benutzten Fällen darauf hingewiesen, eine historische Erklärung zu suchen, wo uns die phy- siologische in Stich läßt. Diese kann nur in dem Sinne ausfallen, daß die Menschen von Vorfahren abstammen, welche früher einmal die nunmehr nutzlos gewordenen Einrichtungen, die Ohrmuschel mit ihrem komplizierten Muskel- apparate und die Nickhaut, notwendig gehabt und daher auch ausgenützt haben. Historische Er- klärung zweck- loser Einrich- tungen, Verschiedener Bau gleichartig funktionierender Organe. 58 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Seit de Lamettrie’s berühmter Schrift: L’'homme machine, ist der Ver- gleich des Organismus mit einer Maschine mit Vorliebe zur Verteidigung einer mechanistischen Auffassung der belebten Natur benutzt worden. Der Vergleich ist kein glücklicher und, wenn irgend etwas, ungeeignet, einer mechanistischen Auffassung Vorschub zu leisten. Eine Maschine setzt einen zweckmäßig den- kenden Erbauer voraus; ihre gesamte Konstruktion ist nur teleologisch zu verstehen; die einzelne Maschine selbst hat keine irgendwie nennenswerte Geschichte; nur die schaffende Intelligenz, welcher sie ihre Entstehung ver- dankt, hat sich historisch ausgebildet. Der Umstand, daß in diesem Kardinal- punkte, wie in so vielen anderen, der Organismus sich ganz anders verhält, ist ein Beweis, daß nur Äußerlichkeiten den Vergleich veranlaßt haben. Würde eine mechanistische Erklärung der Lebensvorgänge möglich sein, so müßte sie auf einem ganz anderen Wege gesucht werden. Ich möchte noch an einem dritten, ganz anders gearteten Beispiele das Ungenügende der physiologischen Erklärungsweise anatomischer Befunde er- läutern. Es ist bekannt, daß die große Leistungsfähigkeit des Wirbeltierauges auf der äußerst verwickelten Zusammensetzung desselben beruht. Das Auge besteht aus einer festen schützenden Hülle, der Sclera, welche sich nach vorn in die durchsichtige, für die Refraktion des Auges bedeutsame Cornea um- wandelt, nach einwärts davon folgt die blutgefäßreiche und stark pigmen- tierte Aderhaut oder Chorioidea, welche im vordersten Abschnitte des Auges ebenfalls modifiziert ist und hier die Iris erzeugt. Zu innerst liegt die Sehhaut oder Retina, eine Membran von äußerst kompliziertem Bau, in welcher nicht nur die das Sehen ermöglichenden Sinneszellen, sondern auch viele Nervenfasern und Ganglienzellen, welche in ihrer Gesamtheit das Ganglion opticum darstellen, enthalten sind. Im Innern liegt ferner die Linse, vor ihr der Humor aqueus, dahinter der Glaskörper oder Humor vitreus. Fast alle diese Teile kehren auch im Auge der Tintenfische (Cephalopoden) wieder, welche den Höhepunkt des Molluskenstammes darstellen: wir finden Linse, Glaskörper, Retina, Chorioidea und Iris, eine Cornea und stützendes, die Sclera vertretendes Knorpelgewebe. Auch ein Ganglion opticum ist vor- handen. Sieht man aber genauer zu, so hat jeder dieser Teile im Vergleich zu den gleichnamigen Teilen des Wirbeltierauges seine Besonderheit. Retina und Ganglion opticum sind getrennt; die Sehzellen haben ein ganz anderes Anord- nungsprinzip; die Linse besteht nicht aus Zellen (Linsenfasern), sondern ist eine kutikulare Abscheidung, welche von einer Membran quer durchsetzt und dadurch in zwei Teile zerlegt wird; die Cornea ist nicht nach außen abgeschlos- sen, so daß Meerwasser in die vordere Augenkammer eintreten kann. Vor allem aber ist die Entwicklungsweise eine ganz andere, als die des Vertebraten- auges. Wir haben somit in den beiden Augenformen physiologisch gleich- artige (analoge) Teile, welche aber eine ganz andere morphologische Bedeutung haben, wie es der vergleichende Anatom ausdrückt, einander nicht morphologisch gleichwertig oder homolog sind. Diese bedeutsame von der Funktion unabhängige morphologische Verschiedenartigkeit ist nur Phylogenetische Beweise: Historische Erklärungsweise 59 zu verstehen, wenn wir annehmen, daß das Wirbeltierauge einen ganz anderen historischen Entwicklungsgang genommen hat, als das Cephalopodenauge, was bei der zwischen Wirbeltieren und Mollusken herrschenden Verschiedenartig- keit sich von selbst versteht. Der in diesen Auseinandersetzungen zum Ausdruck gebrach- te historische Charakter des Organismus ist der Angelpunkt aller Deduktionen, welche es uns ermöglichen, aus der uns um- gebenden Erscheinungswelt Beweismaterial für die Deszendenz- lehre zu gewinnen. Der Gedankengang dieser Beweisführung muß notge- drungen immer derselbe sein; nur die Durchführung im einzelnen ist eine ver- schiedene. Der Gedankengang läßt sich in folgende Formel kleiden. Die Lebens- bedingungen und die mit denselben zusammenhängenden funktionellen Be- dürfnisse genügen nicht, um die lebende Tierwelt nach allen Richtungen hin, nach ihrem Bau und ihrer Entwicklung, in ihrer Verbreitung über die Erd- oberfläche und in ihren Beziehungen zu anderen Organismen zu verstehen; dagegen werden alle Erscheinungen verständlich, wenn wir sie als Produkt von Gegenwart und Vergangenheit betrachten. Diesen Gedankengang wollen wir nun durch genaue Analyse einiger Beispiele erläutern, welche den einzelnen Gebieten zoologischer Forschung, I. der Morphologie und Physiologie, 2. der Systematik, 3. der Tiergeographie entnommen sind. I) Morphologische Beweise. Wir wollen auch hier wieder von einem Beispiel ausgehen, welches dem allgemeinen Verständnis leicht zugänglich ist und bei dem alle morphologischen und physiologischen Erscheinungen vollkommen sicher gestellt sind und der Zusammenhang derselben so klar vor Augen liegt, daß über das Tatsächliche auch nicht der geringste Zweifel bestehen kann. Ein solches ist in den Atmungs- und Zirkulationsorganen der Wirbel- tiere gegeben. Es ist bekannt, daß bei den Wirbeltieren zwei Arten der Atmung existieren, die Kiemenatmung und die Lungenatmung. Erstere findet sich bei den Fischen und einigen früher zu den Fischen gerechneten, von ihnen aber sehr ab- weichenden kleinen Abteilungen, dem Amphioxus und den Cyclostomen, außer- dem bei den Amphibien, bei letzteren jedoch nur selten während der ganzen Lebensdauer, meist nur bei den im Wasser lebenden Larven. Die Lungenatmung ist ein Charakteristikum der landbewohnenden Wirbeltiere, der Säugetiere, Vögel, Reptilien und der meisten Amphibien nach beendeter Metamorphose. Bei allen diesen Formen wird die Lungenatmung beibehalten, wenn sie das Wasser aufsuchen, eine Erscheinung, die ja selbstverständlich ist, wenn es sich nur um einen vorübergehenden Wasseraufenthalt handelt, dagegen schon mehr Beachtung verdient, -wenn die betreffenden Arten, wie z. B. die Waltiere unter den Säugetieren, die Seeschildkröten und Wasserschlangen unter den Reptilien dauernd im Wasser leben und dem Wasseraufenthalt sogar dermaßen ange- paßt sind, daß sie, wie es für die Wale zutrifft, auf dem Land überhaupt nicht leben können. Die Lungenatmung wird durch die beiden mittelst der Luftröhre und des Historische Er- klärung der Tier welt. Atmungsorgane der Wirbeltiere. 60 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Kehlkopfs in den Rachen mündenden Lungen vermittelt. Die Kiemenatmung dagegen wird durch kompliziertere Organe ermöglicht. Grundlage derselben bilden die Kiemenspalten, eine linke und rechte Reihe von Kanälen, welche von der Haut aus beginnen und in den Rachen münden (Fig. I). Die Wandungen dieser Spalten werden von Skeletteilen gestützt, den Kiemenbögen. Auf den Wandungen der Spalten entwickeln sich blutgefäßreiche Schleimhautfalten, die Kiemenblättchen, welche sich in manchen Fällen zu baumartig verästelten Büscheln über die Körperoberfläche erheben. Das sind die eigentlichen Kiemen, in denen der Austausch der Kohlensäure des venösen Bluts gegen den Sauer- stoff des Wassers erfolgt, so daß arterielles Blut aus den Kiemen abtließt. Die erste auffällige Erscheinung ist nun, daß sich Kiemenspalten bei allen‘ 'Wirbeltieren‘ bis zum” Menschen aufwärtsın seleicher Fig. ı. Kopf eines Knochenfischembryos mit der Anlage des Gefäßsystems (Schema nach GEGENBAUR). de Ductus Cuvieri (aus Vereinigung von vorderen Jugular- und hin- teren Cardinalvenen entstanden), sv Venensinus, @ Vorhof, © Kammer des Herzens, adr aufsteigende Kiemenarterie mit davon abgehenden Arterienbögen, ad absteigende Aorta, e’ Carotis (Kopfarterie), s Kiemenspalten, z Nasen- grube, A Auge. Weise, wenn auch in geringerer Zahl anlegen,wie bei den Fischen und ihren Nächstverwandten (Fig. 2). Bei letzteren kann die Zahl der Kiemenspalten eine sehr bedeutende sein, beim Amphioxus etwa 100, bei Rundmäulern 7—13, bei echten Fischen 5—7, bei Amphibien 4—5, bei allen übrigen Wirbeltieren nur noch 4. Was nun die Kiemenblättchen anlangt, die eigentlichen Träger der Atmung, so finden sie sich nur noch bei den Amphibien, werden hier bei der Metamorphose rückgebildet, ebenso wie es auch von den Kiemenspalten gilt. Bei den Reptilien, Vögeln und Säugetieren kommt es gar nicht mehr zur Entwicklung von Kiemenblättchen; die im Embryo vorhande- nen Kiemenspalten werden völlig rückgebildet, bis auf gewucherte Inseln von Epithelgewebe, welche bei allen Wirbeltieren von den Kiemenspalten aus ent- stehen und die Anlagen der Schilddrüse (Thyreoidea) und des ‚‚Bries‘“ (Thymus) liefern. Die Kiemenbögen werden ebenfalls bei allen Wirbeltieren angelegt und zwar bei abnehmender Kiemenatmung in schwindender Zahl, 6—8 bei Fischen, wobei der meist Zungenbeinbogen genannte Bogen, weil er ebenfalls Kiemen tragen kann, mit gerechnet ist, 5—6 bei Amphibien, 2 bei den landbewohnenden Wirbeltieren, bei denen sie später das Zungenbein liefern. Bei den Amphibien können die Kiemenbogen, nachdem sie im Larvenleben funktioniert haben, bis auf den Zungenbeinrest schwinden; sie können aber aueh zum Teil noch er- halten bleiben. Wir sehen somit einen ganz komplizierten, aus Skelett und Weichteilen bestehenden Apparat, welcher auf Kiemenatmung berechnet ist, bei den Wir- beltieren allmählich schwinden, weil der Wasseraufenthalt mit dem Landaufent- halt vertauscht und so neue Atmungsbedingungen geschaffen werden. Aber der Phylogenetische Beweise: Morphologie 61 Apparat wird auch bei den lungenatmenden Wirbeltieren angelegt, obwohl er hier zu keiner Lebenszeit in Funktion tritt und bis auf kleine Reste (Zungenbein- bogen, Thyreoidea, Thymus) vollkommen wieder rückgebildet wird. Diese Erscheinung ist abermals funktionell völlig unverständlich, wird aber sofort erklärt, wenn wir annehmen, daß alle Wirbeltiere einmal durch Kiemen geatmet haben und erst allmählich zu Lungen- atmern geworden sind. Die besprochenen Verhältnisse werden nun noch viel interessanter, wenn wir unsere Betrach- tung auf das Gefäßsytem ausdehnen. Dieses ist im ganzen Tierreich in seiner Ausbildung in hohem Grade von den Atmungswerkzeugen abhängig und ist daher auch ganz anders bei kiemenatmenden und lungenatmenden Wirbeltieren beschaffen. Bei den Fischen (Fig. 3) ist ein einfaches Herz vor- handen, welches nur aus einer Vorkammer und einer Herzkammer besteht, jene bestimmt, das kohlensäurehaltige Blut vom Körperkreislauf in Empfang zu nehmen, diese bestimmt, das von der Vorkammer ihr zugeführte Blut an die Kiemen zur Erneuerung des Sauerstoffs abzugeben. Vom Herzen entspringt daher nur eine Arterie, welche so viele Gefäße, die Kiemenarterien, an die Kiemen entsendet, als Kiemen vorhanden sind. Von den Kiemen strömt dann das in ihnen wieder sauer- stoffreich gewordene Blut an die Gewebe des Kör- pers ab. Das andere Extrem der Ausbildung des Gefäß- systems ist bei den Menschen (Fig. 4), den Säuge- tieren und wenn auch im einzelnen etwas abwei- chend bei den Vögeln gegeben. Das Herz ist der ganzen Länge nach in eine linke von arteriellem Blut gefüllte und eine rechte wie das Fischherz Fig. 2. Menschlicher Embryo von 4,2 mm Länge. Herzbeutel und seitliche Leibes- wand geöffnet, Dottersack und Allantois abgeschnitten, Verlauf der Blutgefäße eingezeichnet. » Riechgrübchen, 0 Ober-, a Unterkiefer, r—5z die fünf Arterien- bogen, zwischen ihnen die vier Kiemen- spalten, % Hörbläschen, zs Ursegmente, a aufsteigende Herzarterie, Y Vorkam- mer, X Kammer des Herzens, C obere Hohlvene, vereinigt sich mit Dottervene und Nabelvene, Z Darm, &o Dottersack, s Schwanzanlage, a/ Allantois mit Um- bilicalarterie und Vene. (Nach Hiıs.) venöse Hälfte geteilt. Beide Abschnitte bestehen aus einer Kammer und Vorkammer. Die linke Vorkammer erhält ihr arte- rielles Blut von der Lunge, die rechte das venöse Blut vom Körperkreislauf. Wie den doppelten Vorhöfen zweierlei Venen, Lungen- und Körpervenen, ent- sprechen, so entspringen von den Kammern getrennte Arterien. Aus derlinken Herzkammer leitet die große Körperarterie, die Aorta, das arterielle Blut in den Körperkreislauf über, aus der rechten Kammer führt die große Lungenarterie, die Pulmonalis, das venöse Blut zur Lunge. Dieses vom Kreislauf der Fische vollkommen abweichend gebaute Ge- fäßsystem der Lungen atmenden Wirbeltiere entwickelt sich aus einer An- lage, welche mit der der Fische vollkommen übereinstimmt (Fig. 2). Das Herz Gefäßsystem der Säugetiere, Entwicklung des Gefäßsystems. 62 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre ist ein zunächst einfacher Herzschlauch, der erst allmählich durch eine Scheide- wand in eine linke und rechte Hälfte abgeteilt wird. Von dem einfachen Herzen entspringt auch zunächst noch ein einfaches Blutgefäß, welches genau wie bei den Fischen links und rechts an die Kiemenspalten Arterien abgibt, als ob noch ap\ N wi), nf (SER Im RT EL u IE D) = = = = = = = FB I 2) Mm )) 6) U DD) POL TITTEN {DD X Fig.3. Schema für den Blutkreislauf der Fische. a! aufsteigender Arterienstamm mit den Kie- menarterien (Za), @® die aus den Kiemenvenen (%v) sich sammelnde absteigende Aorta, ce Kopf- arterien, #c Kiemencapillaren, A Herzvorkam- mer, #Herzkammer, v7 Venajugularis, vc Vena cardinalis, v% Lebervene, da Darmarterien, dv Darmvenen, dc Darmcapillaren, se Körper- capillaren, /c Lebercapillaren. Fig. 4. Schema des Blutkreislaufs eines Säugetiers. Herz: ra, la rechte und linke Vorkammer, >v, Zv rechte und linke Kammer; Z Capillarsystem der Lunge, X Capillarsystem des Kopfes, Z1, EZ? der vorderen und hinteren Extremität, D des Darms, ? der Leber (Pfortaderkreislauf). Arterien: aß Lungenarterie (durch besonders dunkle Schraffierung bezeichnet), « Aorta ascendens, ad Aorta descendens, C' Kopf- arterien, ‚S Armarterien, cz Eingeweidearterien (Coeliaca, Mesenterica), z» Nierenarterien, zlIliacae, s Sacralis (Aorta caudalis). Venen: v5 Lungenvenen, cs, cz obere (bei den meisten Wirbeltieren in Zweizahl vorhanden) und untere Hohlvene, 7 Jugularis, 5 Subclavia, v2 Lebervene, v5 Pfort- ader, z Nierenvenen, z Iliaca, s Sacralis. Kiemenatmung vorläge; die Arterien der linken und rechten Seite vereinigen sich in der Art wie es für junge Fischchen charakteristisch ist, zur absteigenden großen Körperarterie (Aorta descendens). Wie das in Fig. 5 dargestellte Schema lehrt, werden bei allen Wirbeltieren 6 Arterienbögen angelegt, vor den bei Fischen die Keimen versorgenden Bogen noch zwei weitere, was damit in Har- monie steht, daß vor den 4 kiementragenden Kiemenbogen bei niederen Wirbel- tieren noch zwei Kiemenreihen existieren; die zwei vordersten Arterien- Phylogenetische Beweise: Morphologie 63 bogen gehen, sofern keine Kiemen von ihnen versorgt werden müssen, überall zugrunde, ohne Spuren zu hinterlassen. Es ist klar, daß es gewaltiger Umänderungen bedarf, um den für Kiemen- atmung berechneten Kreislauf zu einem für Lungenatmung geeigneten Apparate zu verwandeln. Die das Herz in eine linke und rechte Hälfte aufteilende Scheidewand habe ich schon erwähnt; sie schließt an eine Scheidewand an, welche auch den Arterienstiel in zwei Gefäße, die Körperarterie, Aorta, und Lungenarterie, Pulmonalis, aufteilt. Nun bedarf es noch der Verteilung der Kiemenarterien. Dieselbe geht in der Weise vor sich, daß der dritte Stamm auf beiden Seiten rückgebildet wird, der letzte wird der Lungenarterie zuerteilt @ 20) a S N = om Br f eu ZI % (it I w 5 ) Erz M) & S Fig. 5. Schematische Darstellung der Umbildung der Anlagen der Arterienbögen in den wichtigsten Wirbeltierklassen. Hell: die Anlagen, welche zugrunde gehen. Schwarz: die Arterien mit venösem (kohlensäurehaltigem) Blut. Schraffiert: die Gefäße mit arteriellem (sauerstoffreichem) Blut. 4 Dipneusten, 3 Urodelen mit Lungenatmung, C Reptilien, D Vögel. (Bei Säugetieren würde nicht der rechte, sondern der linke Aortenbogen erhalten bleiben.) as? Arterien- stiel, a0! venöse Aorta der Reptilien, ao” arterielle Aorta; a, 5 die fast allgemein schwindenden Bögen. r—4 die übrigen Bögen; z Caroditenbogen, 2 Aortenbogen, 4 Pulmonalisbogen. d5 dessen Verbindung zur Aorta descendens, Ductus Botalli, # Kiemencapillaren, a2 Aorta descendens. und liefert die Verbindung zur Lunge, den linken und rechten Ast der Lungen- arterie. Was übrig bleibt, behält die Verbindung mit der großen Körper- arterie bei und liefert die zum Körperkreislauf verlaufenden Gefäße (Aorta descendens, die Kopfschlagadern, Carotiden, und die zu den Armen gehenden Subclavien). Warum nun die merkwürdige Verteilung der Kiemengefäße gerade in der geschilderten Weise vor sich geht, wird uns klar werden, wenn wir unsere Be- trachtung auf die Amphibien ausdehnen, diejenige Wirbeltierabteilung, bei welcher beiderlei Atmung vorkommt, bei welcher notgedrungen zunächst ein für die Kiemenatmung berechneter Kreislauf vorhanden ist (Fig. 6), welcher sich später in den Kreislauf eines Landbewohners umwandelt (Fig. 7). Den hierbei eintretenden Umgestaltungen haften mancherlei Mängel an, weil es sich um Einrichtungen handelt, welche erst im Werden begriffen sind. So ist das Herz wie auch bei den meisten Reptilien noch unvollkommen abgeteilt, indem die Vorkammern zwar gesondert, die Herzkammer aber einheitlich oder unvollkommen getrennt ist. Die Kiemengefäße sind zunächst wie bei den Fischen entwickelt, werden aber zu Körperarterien, wenn die Kiemen rückge- bildet werden. Daß dabei das vierte Kiemengefäß zur Lungenarterie wird, hängt damit zusammen, daß die entsprechende Kiemenreihe bei den Amphibien nicht mehr angelegt wird und daß die betreffenden Gefäße schon bei manchen Umbildung des Gefäßsystems bei Amphibien. Phylogene- tische Deutung. Biogenetisches Grundgesetz. 64 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Fischen die Arterien abgeben, welche die der Lunge entsprechende Schwimm- blase versorgen (Fig. 5 A). Anklänge an die Fische und dementsprechend Un- vollkommenheiten des Gefäßsystems erhalten sich bei den Amphibien in mehr- facher Hinsicht: die große vom Herzen abgehende Arterie ist äußerlich noch einheitlich, innerlich nur unvollkommen, in Lungenarterie und Körperarterie abgeteilt. Die beiden Lungenäste, welche, solange sie noch Kiemenarterien waren, in die absteigende Aorta übergingen, behalten diese bei Lungenatmung überflüssig gewordenen Verbindungen des Lungen- und Körperkreislaufes (Ductus Bothalli) vielfach dauernd bei (Fig. 5 B, dB). Die im vorstehen- den gegebene Darstel- lung vom Bau und der Entwicklung der At- mungsorgane und des Gefäßsystems der Wir- beltiere liefert gerade- zu ein Schulbeispiel für phylogenetische Be- trachtungsweise. Wir sehen, wie die rein phy- siologische Betrach- tungsweise auch hier Fig. 6. Herz und Arterienbögen einer Salamanderlarve. a! rechte, a? linke Vor- kammer, v Kammer, aa Arterienstiel, ad Aorta descendens, aslinker Aortenbogen, ı—4 Arterienbögen, d direkte Schließung derselben, / Kiemenschließung, 1'— 3’ Kiemenkreislauf,# Lungenarterie, c Kopf- arterie, 2 Kiemen. (Nach Boss.) Fig. 7. Herz und Arterienbögen des Fro- sches (etwas schematisiert). a, rechte, a,, linke Vorkammer, v Kammer, aa Arte- rienstiel, @d, as rechter und linker Bogen der Aorta descendens, c Kopfarterie, Z Zungenarterie, ve Vertebralis, ss Arm- arterie, cz Hautarterie, 5 Lungenarterie, 7, 2, 4 die drei erhaltenen Arterienbögen. wieder nur ungenügen- de Erklärungen gibt; sie erklärt uns, soweit wir hier uns auf die Verhältnisse eingelas- sen haben, die Endstadien der Reihe, die gut angepaßten Zustände eines Fisches einerseits, eines Vogels und Säugetiers andererseits, aber nicht die inter- mediären Zustände, wie sie bei Amphibien und Reptilien und den Entwick- lungszuständen der ausschließlich Luft atmenden Wirbeltiere vorkommen. Die Verhältnisse werden dagegen sofort verständlich, wenn wir annehmen, daß die Land bewohnenden mit Lungen atmenden Wirbeltiere von Wasser bewoh- nenden durch Kiemen atmenden Formen abstammen, daß ihre Atmungsorgane und ihr Gefäßsystem ursprünglich in Anpassung an das Wasserleben entstanden sind und beim Übergang zum Landleben unter dem Einfluß der veränderten Lebensweise sich in gleicher Weise umgestaltet haben, wie wir es jetzt noch bei Amphibien beobachten können. Was bei Amphibien funktionell er- worben wird und offenbar auch bei den Urahnen der Säugetiere einmal funktionell erworben wurde, kehrt in der Entwicklungsgeschichte der Säugetiere in vereinfachter Form und völlig unabhängig von der Funktion, als eine historische Reminiszenz wieder. Die Erscheinung, daß in der Entwicklungsgeschichte der Tiere vorüber- gehend Zustände auftreten, welche nur dadurch verständlich sind, daß sie Biogenetisches Grundgesetz 65 dauernden Funktionszuständen niederer Arten gleichen, begegnet uns auf Schritt und Tritt. Wer sich die Mühe gibt, die Kapitel durchzulesen, welche im zweiten Band dieses Werkes die vergleichende Anatomie und Entwicklungs- geschichte behandeln, wird einem überreichen Stoffe begegnen. Ich verweise vor allem auf das Skelett und das Urogenitalsystem der Wirbeltiere. Im Auf- bau der Viszeralbögen des Kopfskeletts und der Wirbelsäule ergeben sich in der vergleichenden Anatomie dieselben aufsteigenden Reihen, wie sie die Ent- wicklungsgeschichte der entsprechenden Organe besonders der höher ent- wickelten Formen erkennen läßt. Die Art, wie bei niederen Wirbeltieren die Ge- schlechtsdrüsen mit dem Nierensystem in Verbindung treten, erklärt uns die merkwürdige Entwicklungsweise des Urogenitalsystems der Säugetiere. Der gleiche Parallelismus zwischen den Tatsachen der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte begegnet uns selbstverständlich auch bei den Stämmen der Wirbellosen. Die große Bedeutung dieser Erscheinungen für die Abstam- mungslehre wurde schon von Lamarck und seinen Zeitgenossen erkannt; sie wurde ausführlicher zuerst von Fritz Müller, später von Haeckel erörtert. Letzterer prägte in seinem „biogenetischen Grundgesetz‘ für sie eine allgemeine Formel, welche besagt: „Die Ontogenese — die Entwicklung des In- dividuums — ist die kurze Rekapitulation seiner Phylogenese — der Stammesgeschichte seiner Vorfahren.“ Ehe wir die Tragweite dieser Formel beurteilen, möchte ich ihre Gültigkeit noch durch eine Reihe weiterer Beispiele erläutern, welche zugleich die Viel- gestaltigkeit der durch das biogenetische Grundgesetz zusammengefaßten Erscheinungen erläutern und dazu dienen sollen, uns mit einigen für die Des- zendenztheorie wichtigen Verallgemeinerungen bekannt zu machen. Ich wähle zu dem Zweck ein Beispiel aus dem Stamm der Arthropoden. Für die Arthropoden sind in hohem Maße die gegliederten Extremitäten charakteristisch, welche sogar den Namen des Tierstammes (Arthropodes = Gliederfüßler) verursacht haben. Diese Extremitäten finden sich an fast allen Körpersegmenten oder wenigstens an allen vorderen Körpersegmenten, welche die Kopf- und Brustregion zusammensetzen, und zwar an jedem Seg- ment zu einem Paar; sie.dienen vor allem zur Fortbewegung, bei den Krebs- tieren z.B. zum Schwimmen. Wenn sie Schwimmorgane sind, gabelt sich ihre einfache Basis in einen inneren und äußeren Ast, um eine breitere Ruder- fläche zu erzielen (Fig. 8 I). Die Extremitäten werden bei den Arthropoden noch zuanderen Zwecken ver- wandt; die vordersten, welchevor der Mundöffnungliegen, zumTasten—sieheißen Antennen —, die nächstfolgenden, im Umkreis der Mundöffnung gelagerten zum Kauen — es sind die Kiefer. Mankann nun vergleichend anatomisch wie entwicklungsgeschichtlich nachweisen, daß die ursprüngliche Aufgabe der Extremitäten dielokomotorische gewesen ist, daß die Antennen (B) und Kiefer (C und D) durch Umbildung aus lokomotorischen Extremitäten entstanden sind. Entwicklungsgeschichtlich kann man diesen Nachweis führen, indem bei der Larvenform der Krebse, demNauplius (Fig.IoBu.C), nur die drei vordersten K.d.G.IH.ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 5 Extremitäten der Arthropoden. Prinzip des Funktions- wechsels. 66 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Extremitäten vorhanden sind und hier den Bau und die Funktion von Schwimm- füßen besitzen; im Laufe der Entwicklung verwandeln sie sich zu den zwei Paar Antennen und dem ersten Kieferpaar. Vergleichend anatomisch sind die Antennen und Kiefer noch als umgewandelte Schwimmfüße zu erkennen, weil sie je nach den einzelnen Arten in mehr oder minder deutlicher Weise die zum Schwimmen dienenden Einrichtungen erkennen lassen. Zum Kauorgane wird eine Extremität, indem ihre Basis sich verstärkt und auf ihrer nach innen gewandten Fläche mit starken Zähnen bewaffnet. Auf dieser ‚Kaulade‘‘ kann dann der für die Fortbewegung bestimmte Teil der Extremität noch als ‚‚Pal- pus‘ erhalten sein (Fig. 8C), während er in anderen Fällen unansehnlich wird (D) undschließlichnur nochals ein Büschel D von Borsten fortexistiert. Dieser Nach- weis der Umbildungsfähigkeit der Ex- 1 — tremitäten macht es verständlich, daß bei primitiveren Formen gewisse Ex- tremitäten noch zur Fortbewegung dienen, während sie bei anderen bei a der Nahrungsaufnahme mitwirken. C Extremitäten, welche bei den Schizo- poden und manchen Garneelen noch beim Schwimmen helfen, sind bei Fluß- Fig. 8. Extremitäten eines Krebstiers (Copepode). A4-c Krebs, Hummer und Languste zu Bei- a en Anke un zocken | kefern (Hilfsapparaten beim Kauen) Kieferformen (Mandibeln), r und > die beiden Stücke der geworden. Umgekehrt kann es auch Basis, a Außenast, z Innenast. £ vorkommen, daß Antennen wieder zu mächtigen Ruderorganen werden (Ruderantennen der Daphniden) und somit von neuem lokomotorische Bedeutung erhalten. Was wir hier kennen gelernt haben, macht uns mit einem für die Deszendenz- lehre ungemein wichtigen Prinzip, dem Prinzip des Funktionswechsels, bekannt, daß ein und dasselbe Organ von einer Tiergruppe zur anderen ver- glichen, seine Funktionen und damit seinen physiologischen Charakter wechseln kann, während es seinen anatomischen Charakter, wie er in Bau- und Lage- beziehungen zu anderen Teilen zum Ausdruck kommt, beibehält. Die Erschei- nung ist schon lange, bevor die Abstammungslehre zur Geltung gelangte, von den vergleichenden Anatomen in ihrer Tragweite richtig gewürdigt worden. Man nannte Organe von gleicher anatomischer Beschaffenheit homologe Organe, Organe von gleicher Funktion analoge Or- gane. Man kam zum Resultate, daß bei nahe verwandten Tieren homologe Organe dieselbe Funktion haben und somit einander auch analog sind, daß aber keine notwendige Verkettung von Homologie und Analogie gegeben ist, daß speziell bei Formen, welche im System weiter auseinander stehen, homologe Organe sich meist in ihrer Funktion erheblich unterscheiden. Um nur einige der auffallenderen Beispiele zu nennen, so fand man, daß die Schwimmblase der Fische homolog der Lunge der Säugetiere ist, daß die als Trageapparate der Prinzip des Funktionswechsels 67 Kiemen angelegten Viszeralbögen der Wirbeltiere bei Rückbildung der Kiemen zu ganz verschiedenen Zwecken herangezogen werden können, daß die vorde- ren zum Kauen dienen und zu Kiefern werden, daß andere Teile das Zungenbein liefern, ja daß sogar Teile des Kieferapparats bei den Säugetieren unter aber- maligem Funktionswechsel die Bedeutung von Gehörknöchelchen gewinnen. Die vergleichende Anatomie stand bei Ermittlung dieser wunderbaren Gesetz- mäßigkeiten der Erklärung der Erscheinungen ratlos gegenüber und begnügte sich, die Erscheinungen als die Konsequenzen eines einen jeden Tierstamm be- herrschenden Bauplans hinzustellen. Erst durch die Abstammungslehre wurde die Möglichkeit einer Erklärung gewonnen, indem man die Homologien als die Konsequenzen gemeinsamer Abstammung auffaßte. Man hat diese veränderte Auffassung versucht durch eine veränderte Bezeichnungs- weise zum Ausdruck zu bringen und den Ausdruck Homologie durch den Aus- druck „Homophylie“, d.h. „gleicher Abstammung“ ersetzt. Dieser Ver- änderung der Bezeichnung stehen nicht unerhebliche Bedenken entgegen. Sie könnte die Vorstellung erwecken, als wäre hiermit eine Bereicherung unserer sachlichen Erkenntnis gewonnen, während es sich nur um eine andere Aus- drucksform handelt. Der Versuch der alten vergleichend anatomischen Schule, Gleichartigkeit im Bau und in der Entwicklung als Folgeerscheinungen eines für jede Haupt- abteilung des Tierreichs geltenden Bauplans zu betrachten, erweist sich üb- rigens — ganz abgesehen davon, daß er nur eine Umschreibung, keine Er- klärung gibt — in vielen Fällen als völlig unzureichend, nämlich in allen den Fällen, in denen es sich um Erscheinungen handelt, welche in mehreren Haupt- stämmen des Tierreichs in gleicher Weise wiederkehren und somit nicht als Konsequenzen eines bestimmten Bauplans angesehen werden können. Ein derartiges Beispiel ist in der Entwicklungsweise der Zentral- organe des Nervensystems gegeben, auf welche ich daher noch im fol- genden eingehe. Das Nervensystem ist, wenn wir von den Schwämmen absehen, bei allen viel- zelligen Tieren nachgewiesen worden und ist somit ein gemeinsames Besitztum der meisten Tierstämme. Bei denWirbeltieren liegt bekanntlich Hirn und Rücken- mark tief im Inneren des Körpers geborgen und durch feste Skeletteile, durch Schädel und Rückgrat gegen Verletzung geschützt. Ebenso besitzt das Nerven- system der Gliederfüßler (Insekten, Krebse, Spinnen), der Weichtiere (Schnek- ken, Muscheln und Tintenfische) und vieler Würmer eine geschützte Lage nach innen von dem Hautmuskelschlauch, nicht selten von besonderen Schutzorganen umschlossen (Knorpelkapsel der Tintenfische, chitinöses Bauchgrat vieler Krebse und Insekten). Um so überraschender war die Erfahrung, daß in allen diesen Fällen das Nervensystem in der Haut, dem Ektoderm, entsteht oder, wie man sich ausdrückt, ektodermaler Herkunft ist und erst ganz allmählich während der Embryonalentwicklung von seiner Ursprungsstätte in die Tiefe verlagert wird. Bei den Wirbeltieren (Fig. 9) — um die Verhältnisse an einem bestimmten Beispiele zu erläutern — ist das Bildungsmaterial des Zentralnervensystems in Se Entwicklung des Zentral- nervensystems,. Phylogenetische Deutung. 68 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre der ,‚Medullarplatte‘‘ enthalten, einem dorsal gelegenen, durch die ganze Länge des Embryos sich erstreckenden Hautstreifen, der seine Besonderheit früh- zeitig dadurch zum Ausdruck bringt, daß er sich rinnenförmig einbuchtet und dadurch gegen die angrenzende Embryonalhaut absetzt (A). Indem die ,„Medul- larrinne‘‘ sich zusammenbiegt und durch Verschluß ihrer Ränder sich zum Me- ee | > a 5] ee ne ES Dei Be TER 3 EEE Be ET Mm ee ——— Ih SENT: mE: Tr TR B SS, Be rech See—/ --- mk! RR MN 9----- mr? mon U N ER En Dr: > = BO2on, Fig. 9. Entwicklung des Rückenmarks einer Am- phibie, auf 3 verschiedenen Stadien dargestellt. Vom Schnitt eines jeden Embryos kam nur ein Teil der Rückenpartie zur Darstellung. A Die Anlage des Rückenmarks (22), die Medullarplatte, setzt sich gegen die angrenzende Haut (eZ) durch die Medullarfalten (»/) ab; 3 die Medullarplatte beginnt sich durch Zusammen- neigen der Ränder zu einem Rohr zu schließen. C Die Medullarplatte hat sich zum Rückenmark (Neuralrohr) geschlossen. 72/ Medullarfalten, »-# Medullarplatte, ” das aus ihnen hervorgegangene Nervenrohr, e£ Haut, ch Chorda (Anlage der Wirbelsäule), 72% mittleres Keimblatt, »2%! dessen an der Körperwand, mk: an der Darmwand beteiligter Teil, 2 Leibeshöhle, 7% Kör- perwand, zw Urwirbel (Anlage der Muskulatur), ©% inneres Keimblatt (Anlage des Darms), höhle, dz Dotterzellen. dh Darm- dullarrohr schließt (BundC), wird letz- teres zunächst von der Haut losgelöst und kommt unter dieselbe zu liegen. (In beistehender Figur sind die wichtigsten Stadien dieses Entwicklungsganges auf Querschnitten, senkrecht zur Längsachse des Tieres fürden Wassersalamander dar- gestellt; es ist jedesmal nur der für uns allein wichtige dorsale Teil des Embryos dargestellt.) Später schieben sich ander- weitige Organe und Gewebe zwischen Haut und Nervenrohr ein und vervoll- ständigen die Tiefenverlagerung des letz- teren. Auch bei den übrigen obenge- nannten Tierstämmen ist die Tiefenver- lagerung des Nervensystems genau ver- folgt worden; sie vollzieht sich hier, ent- sprechend der geringen Verwandtschaft mit den Wirbeltieren, in nicht unerheblich anderer Weise. Auf diese an und für sich rätselhaften Vorgänge fällt Licht durch die Erkennt- nis, daß es viele niedere Tiere gibt, bei denen das Nervensystem dauernd in der Haut lagert. So finden wir es bei vielen niederen Würmern, vor allem aber bei Stachelhäutern und Pflanzentieren, von denen letztere dadurch von Interessesind, daß wir bei ihnen die ersten Anfänge eines Nervensystems in der Tierreihe antreffen. Bei den Pflanzentieren gewinnen wir auch das physiologische Verständnis für die in- nige Verwandtschaft des Nervensystems mit dem Ektoderm. Das Nervensystem entsteht bei ihnen im Anschluß an die Sinnesorgane. Daß diese aus der Haut sich entwickeln und zwar nicht nur bei den Coelenteraten, sondern auch bei den höchst organisierten Tieren, den Wirbeltieren und den Menschen, ist leicht verständlich. Denn die Haut ist das Organ, mittels dessen wir mit unserer Um- gebung in Beziehung treten. Die den Organismus treffenden und den Gegen- stand seiner sinnlichen Erfahrung bildenden Reize stoßen zunächst auf die Haut Beispiele für das biogenetische Grundgesetz 69 und geben den Anstoß zur Bildung von Sinnesapparaten. Diese wiederum treten in Beziehung zueinander und rufen somit ein besonderes Organsystem, das Zentralnervensystem, hervor, welches diesinnlichen Eindrücke empfängt, untereinander verknüpft, sie bewahrt und verwendet, um Handlungen aus- zulösen. Durch das Gesagte findet die in früheren Zeiten völlig unverständliche Tat- sache, daß das Zentralnervensystem und, wie ich weiter hinzufügen kann, die unmittelbar an der Sinneswahrnehmung beteiligten Bestandteile fast sämt- licher Sinnesorgane, des Auges, des Gehörs, des Geruchs, des Geschmacks, des Tastens usw. aus der Haut ihre Entstehung nehmen, ihre physiologische Erklärung. Diese Erklärung setzt aber die Annahme voraus, daß die Wirbel- tiere, Gliederfüßler und Weichtiere von Tieren abstammen, bei denen die Sinnes- und Nervenorgane sich noch auf einem primitiven Zustande befanden und demgemäß im Ektoderm (der Haut) lagerten. Denn daß im Embryo die physiologischen Bedingungen, von denen oben die Rede war, und die die ekto- dermale Entstehung begründen, noch jetzt existieren sollten, ist vollkommen ausgeschlossen. Die Verlagerung der Materialien für Sinnesorgane und Nerven- system aus dem Ektoderm in die tieferen Körperschichten erfolgt auf einem sehr frühen Stadium, auf welchem eine Funktion der betreffenden Teile völlig aus- geschlossen ist, einmal, weil zwar das Bildungsmaterial für die Organe vorhan- den, aber noch nicht zu funktionsfähigen Geweben differenziert ist, zweitens weil bei der Gleichförmigkeit der Umgebung auch die Reize noch fehlen, welche nötig wären, um die so komplizierten Entwicklungs- und Vervollkommnungs- prozesse verständlich zu machen, welche wir bei der ersten Entstehung von Sinnesorganen und Nervensystem annehmen müssen. Auch hier gilt der schon früher aus den Entwicklungstatsachen abgeleitete Satz, daß dieim Embryo ablaufenden Vorgänge der Organbildung trotz des Anscheins, als ob sie von der Funktion bestimmt würden, sich von der- selben vollkommen unabhängig abspielen. Ich möchte nun noch an einem letzten Beispiele das Wesen des biogeneti- schen Grundgesetzes erläutern, um zu zeigen, daß dasselbe nicht nur für ein- zelne Organe gilt, sondern auch für die Gesamtheit des tierischen Organismus. Ich wähle hierzu ein Beispiel aus der Klasse der Krebstiere (Crustaceen), welches uns später dazu dienen soll, um an ihm noch einige andere Fragen der Abstam- mungslehre zu erörtern. Die Krebstiere, zu denen unter anderem auch unser Flußkrebs gehört, bilden eine scharf gekennzeichnete Gruppe unter den Gliederfüßlern: sie haben einen gegliederten Körper, gegliederte zum Schwimmen, Laufen, Tasten und Fressen dienende Extremitäten, ein gut entwickeltes Nervensystem mit Sinnesorganen, unter denen das Auge, wenn auch oft in sehr primitiver Be- schaffenheit, nicht fehlt. Im Inneren findet sich ein Darmrohr mit Mund und After und der Geschlechtsapparat. Während ihrer Entwicklungsgeschichte tritt die oben schon gelegentlich erwähnte unter dem Namen Nauplius (Fig. I0B und C) bekannte Larvenform auf, ein Tier mit einem schr charakte- Entwicklung und Abstammnng parasitischer Krebse, 70 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre ristischen Rückenschild und drei Beinpaaren; wo diese Larve zu fehlen scheint, wie bei unserem Flußkrebs, ist das betreffende Stadium vorhanden, wird aber innerhalb der Eihüllen durchlaufen. Fig. ı1. Achtheres Percarum. A Nauplius-, € Cyclopsstadium, 3 Erwachsenes Weib- chen. (Nach CraAus.) Fig. 10. Weibchen (4) von Cyclops coronatus mit Eier- säckchen nebst Nauplius in seitlicher (3) und ventraler (C) Ansicht. /—V die 5 Thoracal- und weiterhin die ; Ab- dominalsegmente, # Furca, z erste, 2 zweite Antenne, 3 Mandibel, 4 Maxille, 5 Kieferfüße, 6—9 die ersten 4 Spalt- Fig. ı2. Philichthys Xiphiae. 4 Weib- füße, während der rudimentäre fünfte Spaltfuß verdeckt ist. chen (nach Craus), 3 Männchen (nach au Auge, o Oberlippe, Z Darm, x Muskeln. BERGSOE). a) Copepoden. Unter den Crustaceen gibt es nun Formen, welche so abweichend und aben- teuerlich aussehen, daß kein Laie in ihnen Krebstiere vermuten würde. Als solche nenne ich die parasitischen Copepoden und die Rhizocephalen, letztere ebenfalls parasitisch lebende Tiere. Die parasitischen Copepoden (Fig. IT und 12) bewohnen die Haut und die Kiemen der Fische, wo sie mit ihren zu Stechwerk- zeugen umgewandelten Mundgliedmaßen Blut saugen; sie sind unförmliche, Beispiele für das biogenetische Grundgesetz 71 ungegliederte, in lappige Fortsätze ausgezogene Schläuche, an denen man höchstens noch Rudimente von Beinen findet. Ihre systematische Stellung wurde lange Zeit über auch von den Fachzoologen verkannt, bis man ihre Ent- wicklungsgeschichte untersuchte und feststellte, daß aus den Eiern die charak- teristische Larvenform des Nauplius ausschlüpfte (Fig. 1IA). Meist geht dann die Entwicklung noch weiter bis zum „Cyclopsstadium‘“ (C), einem Stadium, welches seinen Namen dem Umstande zu danken hat, daß es den kleinen Krebstieren der Gat- tung Cyclops (Fig. 10) ähnlich ist, welche in großen Mengen unsere Süßwassertümpel be- völkern. Auf dem Cyclopssta- dium setzen sich die Weibchen fest und erfahren die über ihre systematische Stellung täu- schende Umwandlung ihres Baues. Die Männchen können auf dem Cyclopsstadium (Fig. 12B) nach vollzogener Begat- tung absterben oder sie wan- deln sich in kleine dem Weib- chenvölligunähnliche Formen um, welche ihrerseits wieder auf dem Weibchen schma- rotzen. Aus dieser ontogene- tischen Entwicklung kann man die stammesgeschicht- Fig. 13. Sacculina carcini, befestigt an einer Krabbe, Carcinus maenas, S 2 = deren Schwanz zurückgeschlagen ist. zo Schalenöffnung, s/ Stiel, liche Entwicklung ablesen und w Wurzelgeflecht, welches die Eingeweide des Wirts umspinnt, die aus letzterer Verständnis für Kiemenregion freilassend. «', a" erste und zweite Antenne, o Auge, K R an After der Krabbe. (Nach DELAGeE.) die erstere gewinnen. Eine noch größere ‚‚parasitische Rückbildung‘‘ erleiden die Rhizocephalen, ») Rhizo- welche auf der Bauchseite von Krabben und Garneelen schmarotzen. Ihr Kör- "= per ist ein querovaler Schlauch, an dem nicht einmal die geringsten Spuren von Gliederung und Extremitäten zu finden sind. Ein Darm ist nicht vorhan- den, weil der Parasit sich ohne ihn ernährt, indem er in den „Wirt“ einen Stiel hineinsendet, welcher sich verästelt und mit einem ungeheuer entwickel- ten Wurzelsysteme alle Organe umspinnt und aussaugt (Fig. 13). Auch hier lehrt uns die Entwicklungsgeschichte die systematische Stellung der Tiere in der Klasse der Crustaceen richtig erkennen. Mit ihrer Hilfe hat sich sogar nach- weisen lassen, daß sie zu der besonderen Gruppe der Rankenfüßler oder Cirri- pedien (Fig. 14) gehören. Das sind Crustaceen, welche festsitzen, meistens mit Hilfe eines vom Kopf entspringenden Stiels, desselben Organs, welches bei den Rhizocephalen zu dem eigentümlichen Ernährungsorgan geworden ist. Der Körper der Cirripedien selbst ist in einer an eine Muschelschale erinnernden 72 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre zweiklappigen Kalkschale eingeschlossen und trägt lange reich behaarte Beine, sogenannte Rankenfüße, welche nicht mehr zur Ortsbewegung dienen, sondern um die Nahrung zum Mund der Tiere herbeizustrudeln. Aus dem Ei der Cirripe- dien und Rhizocephalen schlüpft der uns von den Copepoden her schon be- kannte Nauplius (Fig. 15A) aus und verwandelt sich weiter zu einer Larve mit zweiklappiger Schale und einer größeren Zahl von Rankenfüßen. Diese „Cyprislarve‘“ (Fig. 15B) setzt sich fest, bei den meisten Cirripedien auf be- liebigen Unterlagen, bei den Rhizocephalen auf dem jedesmaligen Wohntiere. Die im letzteren Falle notwendig werdende gewaltige Umgestaltung des Baues wird dadurch eingeleitet, daß der die Beine tragende Teil des Körpers abge- worfen wird. Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß auch im vorliegenden Falle die Deszen- denztheorie den ontogenetischen Befund im phylo- genetischen Sinne umdeutet, daß die Cirripedien Krebse sind, welche infolge der sitzenden Lebens- weise ein befremdendes Aussehen angenommen haben, daß die Rhizocephalen ihrerseits Cirripedien sind, bei denen die sitzende Lebensweise zum Parasi- tismus führte, indem ihr Stiel in den Körper des Wohntiers eindrang und Nahrung aus ihm saugte. Die parasitische Lebensweise veranlaßte dann die hoch- gradige Rückbildung der Organisation, so daß alle charakteristischen Merkmale der Crustaceen-Organi- Fig. ı}. Bau einer Cirripedie (Enten- f Ä E e: muschel), rechte Schalenklappe ent- sation schwanden. Nur die Entwicklung läßt noch fernt, s, ce, / Stücke der linken Kalk- 5 : schale, »m Muskel zum Schließen der den Weg erkennen, auf welchem die absonderlichen Schale, » Rankenfüße, 2 Penis, Z Leber, > Me o Eierstock, o’ Eileiter, 7 Hoden nebst Lebewesen entstanden sein mogen. Parasitische Samenleiter, d Drüse, deren Sekret Ganz ähnliche Erscheinungen, wie ich sie soeben en Bo, für Crustaceen geschildert habe, kennen wir übrigens auch aus dem Stamme der Mollusken (Fig. 16). Sowohl unter den Muscheln, alsauch unter den Schnecken gibt es parasitische Formen, welche vom Bau und der Erscheinungsweise der nächstverwandten Arten vollkommen abweichen. Namentlich fehlt ihnen die Schale. Man kann eine Reihe konstruieren, in welcher man die wichtigsten Organe Fuß, Nervensystem, Sinnesorgane, schließlich auch Darm und Leber schwinden sieht, bis nur ein mit männlichen und weiblichen Ge- schlechtszellen gefüllter Schlauch übrigbleibt. Die Entwicklungsgeschichte hilft auch in solchen Fällen einen sicheren Nachweis zu führen. Wie bei den Crus- taceen der Nauplius, so findet sich bei den Mollusken die Veligerlarve als ein orientierendes Stadium der Entwicklung. Die Veligerlarve entwickelt sich auch aus den Eiern der parasitischen Schnecken und läßt keinen Zweifel über ihre systematische Stellung zu. Beurteilung des Das biogenetische Grundgesetz hat viele begeisterte Anhänger, aber biogenetischen Grundgesetzes, auch viele Gegner gefunden. Letztere betonen die vielen Ausnahmen, welchen Beurteilung des biogenetischen Grundgesetzes 73 das Gesetz unterliegt, von denenich nur einige wenige nenne. Die Erfahrungen Cänogenese und der Paläontologie haben zu dem auch vergleichend anatomisch sich ergebenden "= Resultate geführt, daß die einzehigen Pferde von fünfzehigen Huftieren ab- stammen. Aber in der Entwicklungsgeschichte scheint diese Abstammung nicht mehr zum Ausdruck zu kommen. Zwar legen sich die Mittelfuß- und Mittelhandknochen der Zehen zwei und vier an; dieselben sind aber auch im ausgebildeten Skelett als sogenannte Griffelbeine vorhanden. Ferner be- obachtet man während der Entwick- lungsgeschichte Andeutungen der zu den Griffelbeinen gehörigen Phalangen, wie denn dieselben gelegentlich noch als Abnormitäten beim Pferd auftreten. Da- gegen hat man Reste der ersten und fünften Zehe nicht auffinden können. Sollte sich dieses Resultat auch bei der Untersuchung sehr früher Stadien er- geben, sowürde dieOÖntogenese in diesem Falle nur unvollkommen der Phyloge- nese entsprechen; sie wäre abgeändert, „cänogenetisch“ modifiziert. Auchinden Beispielen, aus denen wir das biogene- tischeGrundgesetzabgeleitethaben, ent- sprechen ihrer ganzen Beschaffenheit nach die embryonalen Entwicklungs- stadien keinenfalls genau denkorrespon- dierenden phylogenetischen Zuständen. Die Kiemenspalten der Embryonenland- 2 i 3 f Fig.ı5. Au. 2 Nauplius- Fig. ı6. Eine in Seewalzen bewohnender Wirbeltiere sindnicht WEg- und Cyprisstadium von schmarotzende Schnecke (En- Sacculina carcini rerste tocolax Ludwigi), / Darm- sam, sondern geschlossen; Kiemenblätt- Antenne, 2 zweite Anten- wand der Seewalze, ZZ Stiel chen sind inihnen nicht vorhanden. und "% 3 Mandibel, oc Nau- der Schnecke, /// Öffnung der 2 pliusauge, ov Ovarialan- Bruthöhle #, g Geschlechts- mit dem Fehlen der Kiemenblättchen lage, » Muskeln, / Ran- organe, 4 Darm, welcher bei reach dieibejkischen und Amphi- kenfüße. (Nach DerAce.) derGattung Enteroxenusfehlt. bienlarven vorhandenen Gefäßverästelungen des Kiemenkreislaufs. Auch hier ist somit nur ein Teil der vorhandenen Organisation auf altertümliche Zustände beziehbar oder, wie man es kurz ausdrückt, „palingenetisch‘“; manches N andere ist modifiziert oder „cänogenetischer‘ Natur. — Ich möchte jedoch diesen Einwänden keine größere Bedeutung beimessen. Eine vollkommene Rekapitulation der stammesgeschichtlichen Entwicklung bis in alle Einzelheiten hinein ist von vornherein nicht zu erwarten. Dazu sind die Bedingungen, unter Ursachen der denen sich die phylogenetische Entwicklung vollzogen hat, und die Bedin- “se. gungen, unter denen sich die ontogenetische Entwicklung in jedem einzelnen Fall abspielt, zu verschiedenartiger Natur. Die Veränderungen, welche eine Tierart im Laufe der Stammesgeschichte erfahren hat, müssen eine enorme 74 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Zeitdauer in Anspruch genommen haben. Wir müssen ferner annehmen, daß sie sich an Milliarden von Individuen abspielten, welche sich über einen weiten Raum verbreiteten. Die Erscheinungen der individuellen Entwicklungsge- schichte dagegen sind auf den engen Raum eines einzigen Individuums und eine relativ kurze, über wenige Stunden, Tage oder Wochen sich erstreckende Spanne Zeit zusammengedrängt; sie verlaufen somit unter ganz anderen zeit- lichen und räumlichen Bedingungen, was notgedrungen zu vielerlei Verände- rungen, vor allem zu Vereinfachungen des Entwicklungsgangs führen muß. Wei- tere Veränderungen der Stadien der ontogenetischen Reihe werden dadurch nötig, daß Embryonen und Larven unter ganz andere Ernährungs- und Funk- tionsbedingungen gebracht sind, als sie für die entsprechenden Stadien der phyletischen Reihe gegeben waren. Dies ist am klarsten in den Fällen, in denen die betreffenden Stadien im Mutterleib oder in schützenden Eihüllen ablaufen (Embryonalentwicklung im engeren Sinne). Wie die ausgebildeten Organismen sich ihrer Umgebunganpassen, so muß ein Gleiches auch für ihre Entwicklungs- zustände gelten. Daher hat denn Haeckel immer nur von einer abgekürzten Rekapitulation gesprochen und mit Recht scharf unterschieden, was in der Ontogenese „cänogenetisch‘‘ und was ‚„palingenetisch‘ ist. Mit dem Gesagten sind die Unterschiede zwischen den ontogenetischen und phylogenetischen Reihen noch nicht erschöpft. Außer den auf den ersten Blick erkennbaren, in der äußeren Erscheinung der Embryonen und Larven sich offenbarenden Unterschieden müssen wir noch Unterschiede annehmen, welche in der inneren Konstitution latent enthalten sind und erst im Laufe ihrer ontogenetischen Entwicklung zutage treten. Weitere Unter- Wir wissen, daß das befruchtete Ei eines Tieres unabhängig vom Wechsel nenn der Bedingungen, unter denen es sich entwickelt (sofern dieselben eine normale Ontogenese. Entwicklung nicht unmöglich machen) immer nur ein Individuum der gleichen Art, zu welcher auch die Eltern gehören, liefert. Ein Entenei entwickelt sich immer nur zu einer Ente, ein Seeigelei zu einem Seeigel usw. Jedes Ei ist so- mit, wenn wir von seinem individuellen Charakter absehen, eine „Artzelle‘“ (0. Hertwig), eine Zelle, welche in ihrem Anlagekomplex von den Eizellen ande- rer Tiere nicht weniger unterschieden ist, als die aus den Eiern hervorgehenden Individuen sich voneinander unterscheiden. Wollte man das biogenetischeGrund- gesetz bis in seine letzten Konsequenzen durchführen, so würden wir zur An- nahme genötigt werden, daß die einzelligen Tiere, aus denen sich der Abstam- mungslehre zufolge die jetzt lebenden Tiere entwickelt haben und diein der phy- letischen Reihe dem ontogenetischen Stadium des Eies entsprechen, ebenfalls schon ‚‚Artzellen‘‘ gewesen sind. Es müßten somit zwischen den einzelligen Ur- formen schon dieselben Unterschiede bestanden haben, wie wir sie zwischen den Eiern der lebenden Tiere nachweisen können. Wir würden damit die zurzeit vor- handenen Artunterschiede in dieVergangenheit zurückverlegen und zur Annahme gelangen, daß alle Artunterschiede vom Beginn des organischen Lebens in der Form schlummernder Anlagen in den einzelligen Urformen enthalten gewesen seien und nur der allmählichen Entfaltung bedurft hätten. Man könnte diese Unterschiede der ontogenetischen und phylogenetischen Reihe 75 Auffassung als die Lehre von der „phyletischen Präformation‘“ bezeich- nen. Ihr zufolge würde jede Art sich aus niederen zu höheren Formen aus eigenen inneren Ursachen entwickelt haben, wie wir es jetzt noch bei der Ent- wicklung jeder befruchteten oder parthenogenetischen Eizelle beobachten können. Jede Art würde von Anfang an ein ihr innewohnendes ‚‚Bildungs- gesetz‘‘, ein „ihr eigentümliches Prinzip der Progression‘‘ besessen haben. Die Übereinstimmung ursprünglich gebauter Tiere mit den Entwicklungsformen höherer Arten würde darauf zurückzuführen sein, daß die Entwicklung der ersteren auf einem früheren Stadium der Phylogenese zum Stillstand ge- kommen wäre. Eine bis zu ihren äußersten Konsequenzen durchgeführte phylogenetische Präformationstheorie, wie ich sie hier entwickelt habe, hat wohl schwerlich unter den Anhängern der Abstammungslehre auch nur irgendeinen Vertreter gefunden; sie würde die wichtigsten Erscheinungen des organischen Lebens, die Anpassung der Organismen an ihre Umgebung, all die eigentümlichen Erschei- nungen der systematischen Gruppierung und geographischen Verbreitung, von denen in diesem Bande noch die Rede sein wird, vollkommen unerklärt lassen. Die herrschende, nicht nur von Lamarck und Darwin, sondern auch von ÄAn- hängern der Orthogenesis, wie z. B.von Naegeli, vertretene Auffassung geht vielmehr dahin, daß die Urorganismen, aus denen sich das Tier- und Pflanzen- reich entwickelt haben, einen noch relativ einfachen und indifferenten Bau be- sessen haben müssen, und zwar nicht nur insoweit ihre tatsächliche Organisation in Frage kam, sondern auch rücksichtlich der Anlagen zu ihrer weiteren Ent- wicklung. Ob diese Organismen untereinander so gleichartig gewesen sind, daß ein Systematiker sie im Rahmen einer einzigen Art würde zusammengefaßt haben (monophyletische Deszendenz), oder ob schon von Anfang an eine gewisseVerschiedenartigkeitgeherrschthat (polyphyletische Deszendenz), ist eine Frage, zu deren Beantwortung uns alle Anhaltspunkte fehlen. Ebenso fehlt es an der Möglichkeit, zu entscheiden, in welcher Weise die ersten Organis- men entstanden sind. Wir nehmen an, daß es auf dem Wege der Urzeugung geschehen ist, daß mit anderen Worten aus unbelebtem Material durch eine geeignete Mischung chemischer Verbindungen lebende Substanz entstanden ist. Von allen Erklärungsversuchen, welche aufgestellt worden sind, um das erste Auftreten von Lebewesen auf unserem Erdballe verständlich zu machen, ist die Lehre von der Urzeugung diejenige, welche am besten den naturwissen- schaftlichen Auffassungen entspricht. Wenn nun von den wenigen Urarten der Vergangenheit sich die unend- liche Formenmannigfaltigkeit der Jetztzeit entwickelt haben soll, so müssen Faktoren vorhanden gewesen sein, welche differenzierend wirkten, welche aus gleichartigem oder nur wenig verschiedenem Material Verschiedenartiges her- vorbildeten. Die Annahme innerer Ursachen reicht hierzu nicht aus; vielmehr müssen von außen kommende differenzierende Einflüsse hinzugetreten sein; es muß sich so eine Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Bedingtheit, zwischen den Reaktionen des Organismus und der Einwirkung der Außenwelt Beschaffenheit und Entstehung der ersten Organismen. Lehre von der Urzeugung. Einfluß äußerer und innerer Bedingungen auf die Um- bildung der Formen. 76 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre ausgebildet haben. Von vornherein muß man annehmen, daß der Anteil, welcher den äußeren und inneren Faktoren für die Umbildung der Organismen zukommt, im Laufe der Zeiten nicht immer der gleiche gewesen ist. Je mehr die Differen- zierung der Organismen Fortschritte machte und dadurch die Zahl der Ent- wicklungsmöglichkeiten einschränkte, um so mehr nahm die Selbstbestimmung der Organismen zu, wie ja auch eine Maschine in der Art ihrer Funktion um so unabhängiger von der Außenwelt wird, je bestimmter ausgearbeitet ihre Kon- struktion ist. Und so entwickelte sich aus kleinen Anfängen heraus das Prinzip der Progression zu der bedeutsamen Macht, von welcher schon bei der kausalen Deszendenztheorie die Rede war. Die Form der Deszendenzlehre, welche ich hier charakterisiert habe und die man die epigenetische nennen könnte, weil sich ihr zufolge die systematische Verschiedenartigkeit der Tierwelt erst allmählich entwickelt haben würde, führt zu einer ganz anderen Auffassung des Parallelismus zwischen Ontogenese und Phylogenese, als die Lehre von der phyletischen Präformation. Denn dem ein- zelligen, in seiner Weiterentwicklung genau vorausbestimmten, in seinem An- lagematerial hochgradig differenzierten Ei in der Ontogenese würde in der Phy- logenese ein einzelliger indifferenter Organismus mit nahezu unbegrenzter und daher zu vielen Arten führender Entwicklungsmöglichkeit gegenüberstehen. Analoge Unterschiede würden auch rücksichtlich der späteren Entwicklungszu- stände zwischen der ontogenetischen und phylogenetischen Reihe bestehen. Dier Barallelismushbleider. Reihen würde somit nurleim dermaler sein; die einander entsprechenden Stadien würden’zwar nach ihrer Form, nicht aber nach dem Inhalte ihrer Anlagen einander ähnlich sein. Umformung der Mit dieser Erkenntnis sind wir vor ein neues Problem gestellt: wie ist es nn” zu erklären, daß die ontogenetischen Stadien, welche in ihrer Form so große Ähnlichkeit mit phylogenetischen Zuständen haben, inihrer inneren Kon- stitution so ganz verschieden geworden sind, indem sie die Anlagen zu einer ganz bestimmten, von der Außenwelt unabhängigen, fortschreitenden Entwick- lung in sich tragen? Es ergeben sich zwei Möglichkeiten; der ersten zufolge würde das Primäre in der Veränderung der Keimzellen gegeben sein, welche alle folgenden Entwicklungszustände bis zum ausgebildeten Tiere beeinflußt hätte. Alle Artumwandlung würde somit auf „Keimesvariation‘ beruhen und, wie man sich ausdrückt, „blastogenen Ursprungs‘ sein. Ich will das Gesagte an einem Beispiele erläutern. Wenn eine Tierart, ein Schmetterling oder Käfer, eine bestimmte Zeichnung besitzt, so wissen wir, daß dieselbe durch Anlagen bestimmt wurde, welche schon im Ei, aus dem sich der Schmetterling oder der Käfer entwickelt hat, vorhanden waren. Nun sollen bei einem Teile der Individuen neue Zeichnungselemente auftreten, sich vererben und dadurch neue Arten oder Varietäten hervorrufen. Nach der Lehre von der Keimesvaria- Blastogene tion wäre diese Umbildung der Zeichnung so zu erklären, daß sich durch irgend- Umformungen weiche Ursachen zunächst die im Ei enthaltenen Anlagen der Zeichnung verän- dert haben, und daß infolge dieser Veränderung auch die Flügelzeichnung in Entstehung der ontogenetischen Präformation = entsprechender Weise verändert worden sei. Die Ursachen der Keimesverände- rung können sehr verschiedener Natur gewesen sein, wie wir das schon früher er- örtert haben. Vielfach wirken äußere Faktoren, wie Kälte, Wärme, verschiedene Ernährung und Luftfeuchtigkeit auf den Geschlechtsapparat ein. Oder die Be- einflussung geht von den übrigen Organen des Körpers aus. Oder es handelt sich um eine genuine Veränderung der Geschlechstzellen, wie sie z. B. durch Bastardierung hervorgerufen wird. Die zweite Möglichkeit ist darin gegeben, daß sich zunächst der aus- gebildete Organismus — in dem von mir benutzten Beispiele die Flügel- zeichnung des Schmetterlings — verändert hat und dann erst die vom Organismus erzeugten Geschlechtszellen und die aus ihnen sich entwickelnden Nachkommen. Solche Veränderungen nennt man ‚soma- togen‘‘, weil sie zunächst am Körper des Tieres oder der Pflanze, dem Soma, auftreten. Wie wir früher schon gesehen haben, können die somatogenen Ver- änderungen von zweierlei Natur sein. Entweder werden sie durch die unmittel- bare Bewirkung der Außenwelt herbeigeführt, oder sie sind dadurch veranlaßt, daß die veränderten Lebensbedingungen Veränderungen in den Funktionen der Organe hervorrufen, welche weiterhin auch den Bau der Organe beeinflussen. In beiden Fällen wäre, um die Veränderungen der Geschlechtszellen zu er- klären, die Annahme notwendig, daß die somatischen Veränderungen auf die Geschlechtszellen übertragen werden. Das wäre die Erblichkeit erworbener Eigenschaften. Die genauere Analyse des biogenetischen Grundgesetzes führt uns somit abermals auf das wichtige Problem, welches im Streite der Neo-Darwinianer und Neo-Lamarckisten im Vordergrunde steht, auf die Frage, ob neu erworbene Eigenschaften erblich sind oder nicht. Viele der Erscheinungen, welche zum biogenetischen Grundgesetze geführt haben, scheinen mir zugunsten der lamarckistischen Lehre zu sprechen. Am klarsten liegen die Verhältnisse bei den beiden von mir zuletzt erörterten Beispielen, der Phylogenie und Onto- genie des Nervensystems und der Phylogenie und Ontogenie der Parasiten. Was zunächst das erste Beispiel anlangt, so ist es viel leichter, sich vorzu- stellen, daß die Vervollkommnung des Nervensystems der Wirbeltiere, welche durch die Umbildung der Medullarplatte zum Medullarrohre und ihre Verlage- rung in das Mesoderm bedingt wird, vom funktionierenden Organismusphylo- genetisch erworben wurde, als daß sie als Konsequenz zufälliger Keimesvaria- tionen ontogenetisch entstanden wäre. Die phylogenetische Erklärung, welche der Lamarckismus gibt, kann sich auf die Gesetzmäßigkeiten berufen, welche allen funktionierenden Organen eigentümlich sind. Die erste dieser Gesetz- mäßigkeiten wurde von uns schon besprochen und besteht darin, daß funktio- nierende Organe an Masse zunehmen und daher wachsen. Die zweite ist eine Be- sonderheit flächenhaft angeordneter Organe, wieein solches dieMedullarplatte ist. Wenn Membranen sich stärker als ihre Umgebung vergrößern, so legen sie sich in Falten, sei es, daß dieselben über die Oberfläche hervortreten, wie es für die vielfachen Faltungen der Darmschleimhaut gilt, sei es, daßsiein die Tiefewuchern, Somatogene Umformungen. Erblichkeit erworbener Eigenschaften. Konvergente Züchtung. 78 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre wie wir esoben für das Nervensystem der Wirbeltiere kennen gelernt haben. Faltungen, welche ein stark lokalisiertes Wachstum ermöglichen und meist im weiterenVerlaufe zu Abschnürungen führen, spielen in der Entwicklung der Tiere eine fundamentale Rolle. Wie sie der Bildung des Neuralrohrs zugrunde liegen, so veranlassen sie in anderen Fällen, wie das in der vergleichenden Entwicklungs- geschichte nachgelesen werden kann, die Entstehung des mittleren Keimblatts, das Wachstum der Muskellamellen der Pflanzentiere und vieler Würmer, ja, auch der Wirbeltiere, die Entstehung von Drüsen, blasenförmigen Sinnesorga- nen usw. Die weite Verbreitung dieser Erscheinung verbietet es, sie als ein Pro- dukt des Zufalls zu betrachten, während sie uns ohne weiteres verständlich wird, wenn wir sie als die notwendige Folgeerscheinung eines am ausgebildeten Organismus erfolgenden funktionellen Wachstums auffassen. So gelangen wir zu der Vorstellung, daß die durch Faltungspro- zesse bedingte Vervollkommnung vom funktionierenden Or- ganismus erkämpft und durch Vererbung auf den Keim über- tragen wurde, wo sie nunmehr, wie wir dies schon so vielfach kennen ge- lernt haben, sich unabhängig von der Funktion in der Form embryonalen Ge- schehens vollzieht. Ein Gegenstück zu den Entwicklungserscheinungen des Nervensystems bilden die parasitischen Umbildungen, welche wir bei Copepoden, Rhizocepha- len und Schnecken kennen gelernt haben. War dort das Wachstum infolge er- höhter Funktion der wirksame Faktor, so ist es hier vornehmlich die Rückbil- dung vermöge einer zu Untätigkeit vieler Organe führenden Lebensweise. Pa- rasitische Krebse, besonders Rhizocephalen, und parasitische Schnecken haben etwas überraschend Gleichartiges, trotzdem Schnecken und Krebse doch sonst nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen. Die Ähnlichkeit würde noch mehr her- vortreten, wenn mich die einer zusammenfassenden Darstellung auferlegte Be- schränkung nicht nötigte, auf eine ins einzelne gehende Beschreibung zu ver- zichten; sie würde in gleicher Weise zum Ausdruck gelangen, wenn ich die Be- trachtung auf parasitische Würmer und Spinnen ausdehnen wollte. In allen Fällen äußert sich die Erscheinung, welche man „konvergente Züchtung“ nennt, darin, daß Tiere, welche ihrer systematischen Stellung nach ein ganz verschiedenes Aussehen besitzen sollten, unter dem Einflusse gleichartiger Existenzbedingungen einander in auffallender Weise ähnlich werden. Hoch- gradiger Parasitismus, wie ich ihn hier besprochen habe, ist das extremste Bei- spiel konvergenter Züchtung, welches wir kennen. Der Grund hierzu ist indem Umstande gegeben, daß durch die parasitische Lebensweise, vermöge deren den Tieren vom Parasitenträger, dem sogenannten Wirte, ein großer Teil der Sorgen für die Existenz abgenommen wird, eine Menge Organe außer Funktion ge- setzt und daher rückgebildet werden. Daher der bei typischen Parasiten bis zum äußersten gesteigerte Mangel der Körpergliederung, der Sinnesorgane, des Zentralnervensystems, der Fortbewegungsorgane, oft sogar der Verdau- ungsorgane. Dassind aber die Organe, deren Ausbildungsweise das Charakte- ristische der Tierstämme, Klassen und Ordnungen ausmacht. Parasiten werden Phylogenetische Beweise: Systematik 79 mehr und mehr ihrer systematischen Merkmale entkleidet. Nur die Geschlechts- organe erfahren eine ganz unmäßige Entfaltung, weil die Existenz der Art durch die parasitische Lebensweise gefährdet ist und nur durch gesteigerte Fruchtbarkeit genügend geschützt werden kann; aber auch hier sind es oft nur die Geschlechtsdrüsen, dagegen nicht die Ausfuhrgänge. Es ist gar nicht vor- zustellen, wie Keimesvariation, selbst wenn wir der Auslese noch so hohe Be- deutung beimessen wollten, dies merkwürdige Zusammentreffen einer so außer- gewöhnlichen Lebensweise und einer so außergewöhnlichen Organisation er- klären könnte. Alle diese Schwierigkeiten schwinden, wenn wir annehmen, daß Parasitismus und parasitische Umbildung sich im Zusammenhange beim funk- tionierenden Organismus entwickelt haben, und daß die Veränderungen der Instinkte und des Baues durch Übertragung auf den Keim, durch somatische Induktion, erblich geworden sind. d) Systematik und Abstammungslehre. Lange Zeit waren Systematische es die Vertreter der systematischen Richtung in der Zoologie, welche sich F*”* gegen die Abstammungslehre ablehnend verhielten. Es ist das um so auf- fallender, als die Begründer der Abstammungslehre, Lamarck und Darwin, durch systematische Betrachtungen, durch ihre Versuche, sich mit dem Artbegriffe auseinanderzusetzen, zu ihren Theorien geführt worden waren. Die ablehnende Stellung der Systematiker früherer Zeiten erklärt sich auch weniger aus der Natur ihrer Aufgaben, als aus der einseitigen schablonen- haften Behandlung, welche sie ihren Aufgaben zuteil werden ließen. Den mei- sten unter ihnen fehlte der Blick für die allgemeinen Fragen der Zoologie; sie verloren sich in einem unfruchtbaren Spezialistentum. In der Neuzeit, zum großen Teile wohl unter dem Einflusse der Deszendenztheorie, ist hier ein Um- schwung eingetreten, infolgedessen die systematische Zoologie enge Fühlung mit dem Abstammungsproblem gewonnen und ihr manche Stütze geliefert hat. Die Aufgabe des Systematikers ist eine doppelte. In erster Linie besteht sie darin, in dem Chaos der uns umgebenden Lebewesen Ordnung zu schaffen und in einer gut durchgebildeten systematischen Anordnung das Mittel zu gewinnen, um sich in der Formenmannigfaltigkeit zurechtzufinden. Diese auf Linne zurückzuführende ordnende Tätigkeit ist weniger wissenschaftliche Arbeit selbst, als ein Mittel, um wissenschaftliche Arbeit zu ermöglichen; sie muß im Interesse der Klarheit darauf gerichtet sein, Definitionen aufzustellen, welche eine scharfe Abgrenzung der Arten und Gattungen ermöglichen, eine Tendenz, welche mit der Deszendenztheorie im Widerspruche stehen muß, da diese umgekehrt bemüht ist, den Zusammenhang der Formen darzutun. In zweiter Linie hat aber auch die systematische Zoologie die weitere und höhere Aufgabe, den wissenschaftlichen Wert des systematischen Verfahrens zu prüfen und festzustellen, mit welchem Rechte wir die Unterscheidungen in Arten, Gattungen, Ordnungen usw. aufstellen und welche Konsequenzen sich hieraus für die Beurteilung der Organismenwelt ergeben. Die mit diesen Fragen sich beschäftigende wissenschaftliche Forschung steht im Gegen- satze zu der alten Linneschen Richtung; sie ist Ursache geworden, daß Schwierigkeiten in der Durch- führung systematischer Begriffe. 80 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre die Mehrzahl der neueren Systematiker sich der Deszendenzlehre ange- schlossen hat. Der wichtigste systematische Beweis für die Abstammungslehre ist in den Schwierigkeiten gegeben, auf welche eine genaue Durchführung der systemati- schen Begriffe stößt. Dieselben sind auf die Inkongruenzen zurückzuführen, welche sich so häufig zwischen den systematischen Begriffen und dem, was sie ausdrücken sollen, ergeben. Solchen Schwierigkeiten sind wir schon bei der Er- örterung des Speziesbegriffs begegnet; diegenaue Analyse derselben hatja zur Ab- stammungslehre geführt. Ganz Ähnliches gilt aber auch für alle übrigen Kate- gorien des Systems. Bei der Besprechung des biogenetischen Grundgesetzes sind wir mit einigen in dieser Hinsicht interessanten Beispielen bekannt geworden. Wir haben dain den parasitischen Copepoden und Cirripedien Formen kennen ge- lernt, welche die meisten Merkmale verleugnen, welche für die betreffenden Ord- nungen charakteristisch sind, bei denen sogar die systematischen Merkmale der Klasse und des gesamten Stammes nicht mehr zu erkennen sind. Bei der syste- matischen Charakteristik der Arthropoden stellen wir in den Vordergrund: I. die Gliederung des Körpers, 2. die Anwesenheit gegliederter Extremitäten, 3. die Anwesenheit eines gegliederten, aus Ganglienknötchen bestehenden Nerven- systems, 4. eines wohl entwickelten Darmkanals. Bei den parasitischen Cope- poden lassen sich zwar noch manche der systematisch wichtigen Merkmale, wenn auch in undeutlicher Weise erkennen, bei den ausgebildeten Rhizocephalen dagegen ist das nicht mehr der Fall. Besonders bei einigen erst neuerdings ent- deckten Formen ist keine Spur mehr von ihnen zu entdecken. Die Tiere sind ovale Geschlechtssäcke ohne Darm, ohne Extremitäten, ohne ein Zentralnerven- system, ohne irgendwelche Gliederung. In ähnlicher Weise ergeben die parasitischen Schnecken eine kontinuier- liche Stufenleiter von Formen, welche noch deutlich den Schneckenbau erken- nen lassen, bis zu Formen, welche ebenfalls nur noch Geschlechtsschläuche sind. In der Gattung Enteroxenos ist sogar der Darm, von welchem bei anderen Arten noch Reste vorhanden zu sein scheinen, vollkommen rückgebildet worden. Die parasitische Lebensweise ist einer der mächtigsten, Bau und Entwick- lungsweise der Tiere umgestaltenden Faktoren. Darum liefern uns Parasiten, besonders solche, welche im Innern anderer Tiere schmarotzen, besonders schöne Beispiele, um zu zeigen, daß die Merkmale, welche für die Charakteristik einer systematischen Gruppe ausschlaggebend sind, nicht bei allen Mitgliedern der betreffenden Gruppe vorhanden zu sein brauchen. Im übrigen handelt es sich aber um Erscheinungen, denen wir in der systematischen Zoologie auf Schritt und Tritt begegnen, auch bei Formen, welche in ihren Lebensverhältnissen nicht einmal etwas Besonderes erkennen lassen. Zur Erläuterung wähle ich ein Bei- spiel, welches einer anderen Ordnung der Crustaceen, den Branchiopoden, ent- nommen ist. Die Branchiopoden sind Tiere, welche im Süßwasser weit verbreitet sind. Für siesind 3 Merkmale von systematischer Bedeutung: I. Die vom Kopfe aus über den Rücken hinüber wachsenden, Schutzorgane liefernden Hautfalten, welche entweder in Form eines unpaaren Rückenschildes, oder von muschel- Phylogenetische Beweise: Systematik 8ı schalenartigen paarigen Klappen entwickelt sind; 2. die zu Ruder- und Kiemen- platten umgeformten Beine, 3. die großen Ruderantennen. Keines dieser Merk- male ist aber bei allen Repräsentanten vorhanden. Die Schalenduplikaturen fehlen bei Branchipus, sind bei Apus und Limnadia und einem Teile der Clado- ceren gut ausgebildet und werden bei einem kleinen Teile der letzteren wieder rudimentär. Die blattartigen Extremitäten sind meist vorhanden, fehlen aber manchen Cladoceren. In gleichem Maße als dieses Merkmal abklingt, entwickeln sich die am Anfange der Reihe noch kleinen und unansehnlichen zweiten An- tennen (Branchipus, Apus, Limnadia) zu Ruderantennen von gewaltiger Größe (Cladoceren). So kommt es, daß die Endglieder der Reihe keines der systema- tischen Merkmale gemeinsam haben. Branchipus hat Kiemenfüße, aber noch keine Schalenduplikaturen und keine Ruderantennen; die Polyphemiden da- gegen, die am höchsten entwickelte Familie der Cladoceren, haben mächtige Ruderantennen; aber ihre Extremitäten sind nicht mehr blattartig wie bei den übrigen Branchiopoden. Zwischen beiden Extremen, welche sehr wenig mit- einander gemein haben, vermitteln so viele Übergänge, daß die Zusammen- gehörigkeit aller Formen, obwohl sie durch keine systematische Formel aus- gedrückt werden kann, außer Zweifel steht. Durch Verhältnisse, wie ich sie hier geschildert habe, und wie sie uns auf Schritt und Tritt begegnen, kommt der Systematiker in eine schwierige Lage. Er ist bemüht, sichere, überall wiederkehrende Merkmale bei der Charakteristik seiner Gruppen aufzustellen; dabei ist er gezwungen, seinen Definitionen immer neue Einschränkungen hinzuzufügen und Ausnahmen gelten zu lassen. Dieser in der Natur der Sache gegebene Widerspruch ist nur so zu erklären, daß unser Begriffsvermögen uns nötigt, starre Formen zu schaffen, daß die Erscheinungen in der Natur dagegen im Flusse, in mehr oder minder ausgesprochener Umbil- dung begriffen sind. Zu den gleichen Resultaten gelangen wir durch den Nachweis von „‚Über- Bedeutung der gangsformen‘“. Die Betrachtung der höheren Tierstämme lehrt, daß ein jeder "rersans“ derselben mit Arten von primitivem Baue beginnt. Dieselben haben gewisse Grundzüge des betreffenden Stammes schon entwickelt; es fehlen ihnen aber noch viele der charakteristischen Merkmale; dafür werden Einrichtungen fort- geführt, wie sie bei anderen Tierstämmen vorkommen. Dadurch gewinnt der höhere Tierstamm Fühlung mit diesen niederen Formen. Was hier für die Stämme des Tierreichs gesagt ist, gilt mutatis mutandis für alle übrigen syste- matischen Kategorien, für Klassen, Ordnungen usw. Ich erläutere das Gesagte an einigen Beispielen. Dem Amphioxus fehlen noch das Herz, die Wirbelsäule und der Schädel der Wirbeltiere; die Haut und die Niere zeigen überraschende Ähnlichkeiten mit den entsprechenden Organen wirbelloser Tiere. Andererseits gibt es wirbellose Tiere, die Tunicaten, welche in vieler Hinsicht, vor allem in der vorübergehenden Entwicklung der Chorda dorsalis, in der Umbildung des Vorderdarms zu einer Kieme und in der ventralen Lagerung des Herzens Über- einstimmung mit den Wirbeltieren bekunden. An der stammesgeschichtlichen Bedeutung dieser morphologischen Befunde wird nichts dadurch geändert, daß K.d.G.II.ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 6 Verteilung der Arten und Varietäten auf die Gattungen. 82 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre man die Tunikaten mit den Wirbeltieren zum Stamme der Chordatiere vereinigt. Denn nach wie vor bleibt die Tatsache bestehen, daß es Tiere gibt, bei welchen das Charakteristische der Wirbeltierorganisation trotz ausgesprochener Ver- wandtschaft mit den typischen Wirbeltieren sich fast zur Unkenntlichkeit verwischt, während viele nur bei den Stämmen der Wirbellosen vorhandene Merkmale sich einstellen. Wie zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen Amphioxus und die Tunikaten vermitteln, so zwischen Würmern und Arthropoden die Protracheaten, zwischen Würmern und Echinodermen die Enteropneusten, wie das aus dem Abschnitte über Phylogenese der wirbellosen Tiere zu ersehen ist. Als ein Beispiel eines Übergangs von Klasse zu Klasse sei hier die Archaeopteryx genannt, ein primi- tiver Vogel, welcher in der Bezahnung, in dem eidechsenartigen Schwanze, in der guten Entwicklung der Finger an den Flügeln und in der Bewaffnung der- selben mit Krallen mehr als irgendeine andere jetzt lebende Vogelart an Rep- tilien erinnert. Zahlreiche Bindeglieder kennen wir ferner zwischen Insekten und Tausendfüßen, zwischen Turbellarien, Trematoden und Bandwürmern, so daß es schwierig oder sogar unmöglich ist, die betreffenden Abteilungen gegen- einander abzugrenzen und die Abgrenzungen, welche man durchführt, etwas Willkürliches haben. Schließlich sei noch als ein wichtiges Beweismittel für die Abstammungs- lehre die äußerst charakteristische Anordnung der Verwandtschaftskreise, welche uns im Tier- und Pflanzenreiche entgegentritt, hervorgehoben. Schon Darwin hat in seinen Werken darauf aufmerksam gemacht, daß die Verteilung der Arten und Varietäten auf die Gattungen eine sehr verschiedene ist. Es gibt Gattungen, in denen man eine sehr große Zahl von Arten unterscheidet, andere wieder, in denen die Zahl eine geringe ist. Die Arten der ersteren Kategorie zeichnen sich dann immer durch reiche Varietätenbildung aus. Darwin gab schon die richtige Erklärung für diese Verhältnisse, daß es sich hier um progres- sive Arten handelt, bei denen der Artbildungsprozeß in lebhaftem Fortschreiten begriffen ist. Prüft man nun ferner, in welchem Verwandtschaftsverhältnisse die einzel- nen Arten einer und derselben Gattung zueinander stehen, so kommen wir aber- mals zu einer merkwürdigen Erscheinung. Es stellt sich heraus, daß einige Ar- ten einander näher stehen als andere und im Rahmen der Gattung einen engeren „ Verwandtschaftskreis zusammensetzen. Man hat sich so veranlaßt gesehen, Verwandtschaft der Tierstämme. den Begriff der Untergattung einzuführen, und weiterhin innerhalb der Art Unterarten zu bilden. Will man die Verwandtschaftsverhältnisse der Arten innerhalb einer Gattung zum Ausdrucke bringen, so eignet sich hierzu am besten die graphische Darstellung, welche man bei der Genealogie der Menschen an- wendet, der Stammbaum. Der Stammbaum ist auch die einzige adäquate Ausdrucksform, um die anatomische Verwandtschaft der einzelnen Tierstämme zu erläutern. Alle Tier- stämme stimmen in dem einen, wichtigsten Merkmale überein, daß sie aus Zellen bestehen. Bei weiterer anatomischer Analyse trennen sich die Wege einerseits Phylogenetische Beweise: Systematik 83 in die einzelligen Formen — die Protozoen —, andererseits in die vielzelligen — Metazoen. Sämtliche vielzellige Tiere haben ein gemeinsames Organisations- prinzip im Aufbaue des Körpers aus Keimblättern. Stets sind 2 Keimblätter vorhanden (Diblasterien). Ein Teil der Metazoen beharrt auf dem Zustande der Zweiblättrigkeit; essind die Coelenteraten. Bei allen übrigen kommt ein mitt- leres Keimblatt zur Entwicklung, und so entstehen die Triblasterien. Wie sich nun allerdings innerhalb der Triblasterien die Verwandtschaftsverhältnisse ge- stalten, ist noch sehr strittig. Von vielen Seiten wird die Ansicht vertreten, daß Wirbeltiere, Echinodermen und einige weitere Gruppen der Wirbellosen ei- nen Hauptzweig bilden, während Mollusken, Arthropoden und die umfangreiche Gruppe der Würmer sich zu einem zweiten Hauptstamme vereinigen lassen. Jedenfalls ist es richtig, daß die parenchymatösen Würmer den Mollusken, die mit einer Leibeshöhle ausgerüsteten Formen durch Vermittlung der Anneliden mit den Arthropoden näher verknüpft sind. Ferner steht es fest, daß auch hier die stammbaumförmige Anordnung die Verwandtschaftsverhältnisse am besten wiedergeben würde, wenn auch im einzelnen noch manche Unsicherheit herrscht. Würden wir annehmen, die einzelnen Arten seien unabhängig voneinander ent- standen, sei es als Produkte einer Schöpfung, sei es infolge einer uns unbekannten gesetzmäßig wirkenden gestaltenden Kraft, so würde diese merkwürdige Ab- stufung der Verwandtschaft gänzlich unverständlich sein; sie ergibt sich da- gegen als eine Notwendigkeit, wenn die Abstufung der systematischen Ähn- lichkeit durch Abstufung in der genetischen Verwandtschaft bedingt ist. III. Biogeographie. Die große Bedeutung, welche die geographische Ver- breitung der Tiere und Pflanzen als Beweismaterial für die Abstammungslehre gewonnen hat, hatuns schon einmal beschäftigt, als wir die Ursachen besprachen, welche auf eine Umbildung der Arten hinwirken. Damals hatte ich am Beispiel des Portosanto-Kaninchens erläutert, in welcher Weise geographische Isolierung die Bildung neuer Formen begünstigt. Im Anschlusse hieran hatten wir zahlreiche Beispiele kennen gelernt, von denen wir zwar nicht ihre historische Entwicklung kennen, deren genaueresStudium aber ebenfalls nurdieDeutung zuläßt, daß durch geographische Isolierung eine früher vorhandene einheitliche Art in zwei oder mehr vikariierende Arten gespalten wurde. Esgibt nunaber außer den genann- ten noch viele andere Erscheinungen in der Biogeographie, welche zugunsten der Deszendenztheorie sprechen, weil sie nur mit Hilfe derselben verstanden werden können. Reiches Material zur Erläuterung des Gesagten wird der die Biogeo- graphie behandelnde Abschnitt dieses Bandes bringen. Ich kann mich daher auf wenige Auseinandersetzungen beschränken, welche die Aufgabe haben, das zu- sammenhängende Bild abzurunden, welches ich hier von der Abstammungs- lehre zu geben habe. Wir wollen hierbei nur die großen Grundzüge der Bio- geographie berücksichtigen. Nehmen wir zunächst einmal an, die jetzt lebenden Arten hätten sich nicht aus anderweitigen Formen durch Umbildung entwickelt, sondern seien vom An- fang ihrer Existenz so beschaffen gewesen, wie wir sie jetzt vor uns sehen, und fragen wir nun, welche Verbreitung hätten wir dann zu erwarten. Es ist klar, 6* Biogeo- graphische Beweise. Einfluß des Klimas auf Ver- breitung der Tiere und Pflanzen, Verschiedener faunistischer Charakter der nördlichen und südlichen Hemisphären, 84 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre daß dann das einzige die Verbreitung regulierende Moment das Wechselver- hältnis zwischen den Existenzbedingungen und der Organisation der Tiere ge- wesen sein könnte. Am verständlichsten würde die Vorstellung werden, wenn wir uns auf den Standpunkt der Schöpfungshypothese stellen. Derselben zu- folge würde der Schöpfer Tiere und Pflanzen in Harmonie mit ihrer Umgebung ge- schaffen haben; wir würden demnach zu erwarten haben, daß unter gleichartigen Existenzbedingungen, wie sie besonders vom Klima bestimmt werden, auch eine gleichartige Organismenwelt lebt, daß dagegen der faunistische und floristische Charakter sich proportional dem Wechsel der Existenzbedingungen verändert. Das entspricht indessen nur unvollkommen den Verhältnissen, welche wir in der Natur finden. Es gibt zwar gewisse Arten, Gattungen, manchmal sogar Familien und Ordnungen, welche in ihrer Verbreitung in hohem Grade vom Klima beeinflußt werden. Es ist bekannt, daß die Affen nur in einem tropischen oder subtropischen Klima gedeihen. In der alten Welt dringen sie nur bis Süd- spanien vor; im Bereiche von Amerika fehlen sie ebenfalls im Norden, obwohl ihrer Verbreitung keine geographischen Hindernisse entgegenstehen. Eisbär, Renntier, Moschusochse u. a. dagegen sind spezifische Bewohner des kalten Klimas. Zur Eiszeit fanden sie in Mitteleuropa günstige Existenzbedingungen. Als das Klima nach der Diluvialzeit wärmer wurde, wurden sie gezwungen, sich nach nördlichen Regionen zurückzuziehen, wo sie noch heute fortexistieren. Aber in den meisten Fällen läßt uns die klimatische Erklärung der geogra- phischen Verbreitung der Tiere vollkommen im Stiche. Am schönsten läßt sich dies beweisen, wenn wir einerseits die Länder der nördlichen, andererseits die der südlichen Hemisphäre untereinander auf ihren faunistischen Charakter ver- gleichen. Derselbe ist im Bereiche der nördlichen Hemisphäre ein sehr ähnlicher. Trotz der enormen geographischen Entfernung besteht zwischen der Tierwelt Europas und derjenigen von Nordamerika eine so weitgehende Übereinstim- mung, daß von Tiergeographen sogar befürwortet wird, Europa, Nordamerika und den Norden Asiens zu einer einzigen großen Tierprovinz, der Arctogaea, zu vereinigen. Die Gleichartigkeit dieser Tierprovinz erstreckt sich dabei durch viele Klimazonen mit äußerst verschiedenartigen Lebensbedingungen. Ganz anders verhält sich die südliche Hemisphäre. Hier zeigen Afrika und Südamerika große Ähnlichkeit in den klimatischen Verhältnissen, besonders, wenn man Regionen, welche unter gleichen Breitengraden gelegen sind, unter- einander vergleicht. Aber die Tierwelt ist eine völlig andere. In Südamerika finden wir die plattnasigen Affen, in Afrika ähnlich wie in den tropischen und subtropischen Teilen Asiens die dem Menschen viel näher stehenden schmal- nasigen Formen. Südamerika wird von der ungeheuer artenreichen Familie der Kolibris bevölkert, welche mit einigen Arten sich sogar nach Nordamerika aus- breitet. Die Kolibris fehlen in allen übrigen Weltteilen und so auch in Afrika vollkommen; sie werden in ihrer Lebensweise durch die ebenfalls Blumen um- schwärmenden Honigsauger ersetzt. Den altweltlichen Kamelen und Dromedaren entsprechen in der neuen Welt die Guanachos und Lamas, dem zweizehigen Strauße (Struthio camelus) der dreizehige Nandu, die Rhea americana. Phylogenetische Beweise: Biogeographie 85 Noch gewaltiger werden die Unterschiede, wenn wir den dritten der Süd- Australien. hemisphäre angehörigen Kontinent Australien in den Kreis unserer Betrach- tungen ziehen. Versetzen wir uns in die Zeiten zurück, in denen Australien von den Europäern neu entdeckt wurde und viele seitdem eingeführte Tiere noch fehlten, so standen damals die Einwanderer einer ihnen völlig fremden Tierwelt gegenüber. Ganz besonders unterschieden sich die austra- lischen Säugetiere von denen der übrigen Kontinente. Man teilt die Säuge- tiere in drei Hauptabteilungen ein: I. die sehr. primitiven, Eier legenden Kloakentiere (Monotremen), 2. die durch den Mangel einer Plazenta aus- gezeichneten, dagegen mit. dem merkwürdigen Brutbeutel ausgerüsteten Beuteltiere (Marsupialia), und endlich 3. die höheren plazentalen Säugetiere (Placentalia). Die Fauna Australiens bestand nun aus Kloakentieren, welche, wenn wir von fossilen Funden absehen, in keinem anderen Lande der Erde angetroffen werden, außerdem aus Beuteltieren, welche ebenfalls in der lebenden Tierwelt der sogenannten alten Kontinente Asien, Europa und Afrika völlig fehlen und auch in Amerika nur durch die Familie der Beutel- ratten und die Gattung Caenolestes vertreten sind. Dagegen vermißten die Entdecker die ihnen aus Amerika, Asien, Afrika und Europa bekannten pla- zentalen Säugetiere so gut wie ganz. Eine Ausnahme machten nur der Mensch, der Dingo, ein wahrscheinlich verwilderter Haushund, kleine Nage- tiere, wie sie leicht durch Treibholz von Insel zu Insel verschleppt werden, Fledermäuse, welche vermöge ihres Flugvermögens sich weit verbreiten, und Seesäugetiere, welche in ihrer Verbreitung durch Wasser nicht beein- flußt werden. Ehe wir die besprochenen Verhältnisse vom Standpunkte der Deszendenz- Gegensatz von theorie zu erklären suchen, möge uns ein weiteres Beispiel erläutern, wie völlig Bu Se "2 unzureichend die klimatologische Erklärung der jetzigen geographischen Ver- breitung der Tiere ist. Am Nord- und Südpol herrschen ähnliche Lebensbedin- gungen. Trotzdem sind die daselbst vorhandenen Tierwelten vollkommen ver- schiedener Natur. Am Nordpol findet sich eine nicht geringe Zahl von Land- säugetieren, welche sich den daselbst vorhandenen Lebensbedingungen vor- trefflich angepaßt haben. Vom Südpol ist kein einziges Landsäugetier be- kannt. Da die zahlreichen neueren Südpolexpeditionen darauf besonders ge- achtet haben, ist es, man kann sagen, ausgeschlossen, daß je noch einmal ein Land bewohnendes Säugetier entdeckt werden wird. Ganz merkwürdig ist auch der Gegensatz in der Vogelwelt. Im Norden wie im Süden gibt es Wasser- vögel mit rückgebildetem Flugvermögen, welche ihre rudimentären Flügel als Ruder benutzen, und wenn sie auf das Land gehen, sich auf ihren zu Schwimmfüßen umgewandelten hinteren Extremitäten aufrichten. Derselbe Typus findet sich bei den Pinguinen des Südens (Aptenodytes) und den Alken des Nordens (die ausgestorbene Alca impennis). Früher glaubte man daher, daß die Tiere einander sehr nahestehen. Genauere anatomische Untersuchung hat dagegen ergeben, daß beide Familien im System der Vögel weit ge- trennt werden müssen. Erklärung der geographischen Verbreitung mittels der Abstammungs- lehre. 86 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre Alle die besprochenen Verhältnisse werden sofort verständlich, wenn wir unsauf den Standpunkt der Abstammungslehre stellen und die jetzige Verbrei- tung der Tiere als das Produkt einer historischen Umbildung auffassen, und zwar einer doppelten. Erstens hat sich, wie uns die Geologie lehrt, die Oberfläche der Erde verändert. Länderstrecken, welche untereinander zusammenhingen, wurden im Laufe der Zeit durch eindringendes Meer oder mächtige Gebirgserhebungen voneinander getrennt; umgekehrt wurden Gebiete, welche sich lange Zeit ge- trennt voneinander entwickelt hatten, untereinander verbunden und dadurch ein Austausch ihrer Faunen und Floren ermöglicht. Zweitens hat sich auch die die Erdoberfläche bewohnende Tierwelt verändert. Beide Veränderungen haben sich Hand in Hand vollzogen. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit, daß zwei Länder in ihrer Fauna einander um so ähnlicher sein müssen, je länger sie in engstem, einen Formenaustausch ermöglichendem Zusammenhange gestanden haben; dagegen müssen die faunistischen Unterschiede sehr groß sein, wenn die Länder durch lange Zeiträume der Erdgeschichte voneinander getrennt waren und ein jedes Zeit gefunden hat, einen eigenartigen faunistischen und floristi- schen Charakter zu entwickeln. Die Unterschiede der Tier- und Pflanzenwelt können uns in Zusammenhang mit geologischen Untersuchungen so einen Maß- stab liefern für das Alter der Trennung. Hierbei kommt weniger die geographische Trennung in Frage, als die erdgeschichtliche. Beide werden ja häufig zusammen- treffen, wie das z. B. von Australien gilt. Dasselbe liegt nicht nur geographisch weit abseits, was ja schon darin zum Ausdrucke kommt, daß es von allen Kon- tinenten am spätesten entdeckt wurde. Es hat sich auch herausgestellt, daß es verhältnismäßig frühzeitig aus dem Zusammenhange mit den übrigen Län- dern losgelöst wurde. Früher waren Beuteltiere und Monotremen über die ganze Erdoberfläche verbreitet; sie wurden zuerst von Cuvier in tertiären Schichten von Paris entdeckt. Sie wurden aber in Europa und wahrscheinlich auch in Asien und Afrika von den sich höher entwickelnden plazentalen Säugetieren verdrängt und fanden nur in Australien und zu einem kleinen Teile in Südame- rika eine Zuflucht, weil beide Ländergebiete auf einer frühen geologischen Pe- riode sich losgelöst haben. Besonders gilt das Gesagte von Australien. In letz- teres konnten die plazentalen Säugetiere nicht vordringen, weil zu der Zeit, in welcher dieses Vordringen sich vollzog, Australien schon vom Rest der Län- dermasse losgelöst war. Es gibt aber nicht wenige Fälle, in denen die geographische Sonderung der geologischen in keiner Weise proportional ist. Nord- und Südamerika hängen jetzt durch die Landenge von Panama eng zusammen und sind auch sonst geo- graphisch einander so genähert, daß man eine große Ähnlichkeit der Tierwelt erwarten sollte. Gleichwohl ist, wie ich schon früher hervorgehoben habe, Nordamerika im Charakter seiner Tierwelt Asien, Europa und selbst dem Nor- den Afrikas ähnlicher als dem so eng verbundenen Südamerika. Der Grund ist darin gegeben, daß die durch die Landenge von Panama gegebene Verbindung relativ jungen Datums ist, daß beide Teile des Kontinents sich lange Zeit un- abhängig voneinander entwickelt haben. Die Unterschiede zwischen der nord- Phylogenetische Beweise: Biogeographie 87 amerikanischen und südamerikanischen Tierwelt würden noch größer sein, wenn nicht vorübergehend gebildete Landbrücken wiederholt einen wenn auch beschränkten Formenaustausch ermöglicht hätten. In mancher Hinsicht ist noch instruktiver die Insel Madagaskar. Die Nachbarschaft Afrikas würde verleiten, es als einen abgelösten Teil desselben zu betrachten und es der äthiopischen Tierprovinz zuzurechnen, welcher auch Südafrika angehört. Genauere Prüfung hat jedoch ergeben, daß die Verwandt- schaft der Faunen keineswegs der geographischen Nachbarschaft entspricht. Es bestehen vielmehr gewaltige Unterschiede, welche darauf hinweisen, daß Madagaskar und Südafrika schon seit langer Zeit voneinander getrennt sein müs- sen. Umnur die am meisten in die Augen springenden Unterschiede hervorzu- heben, so sei hier erwähnt, daß die echten Affen, welche in Afrika eine so weite und reiche Entwicklung erfahren haben, in Madagaskar vollkommen fehlen und auch im fossilen Zustande bisher noch nicht aufgefunden worden sind, während die Ordnung der Prosimier oder Halbaffen einen Reichtum von For- men in der Neuzeit wie in früheren Erdperioden aufweist, wie in keiner anderen Gegend der Welt. Eine weitere tiergeographische Tatsache von größtem Inter- esse ist darin gegeben, daß die in Afrika so weit verbreiteten großen Raubtiere in Madagaskar völlig vermißt werden. Das wenige, was ich hier mitgeteilt habe, wird schon genügen, um die große Bedeutung, welche die geographische Verbreitung der Tiere für die Deszendenz- theorie gewonnen hat, in das rechte Licht zu setzen. Diese Bedeutung wird voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten noch zunehmen, je mehr vor allem die geologische und paläontologische Erforschung der Erde Fortschritte macht. Jetzt sind wir bei der Beurteilung des tiergeographischen Charakters eines Landes vorwiegend auf die Tatsachen angewiesen, welche uns das Studium der lebenden Formen erkennen läßt. Die Schlüsse, zu denen wir auf diesem Wege gelangen, sind der kritischen Prüfung zugängig, wenn wir den Charakter, welchen die Fauna des Landes in früheren Erdperioden besessen hat, an der Hand paläontologischen Materials prüfen können, und die geologische Untersuchung uns lehrt, welche Zeit etwa verflossen sein mag, seitdem die in Vergleich ge- zogenen Faunen voneinander getrennt wurden. Auf den vorausgehenden Seiten habe ich versucht, ein zusammenhängendes Bild vom derzeitigen Stand der Abstammungslehre zu geben. Ich war dabei genötigt, auf viele Fragen einzugehen, welche zum Teil in früheren Bänden der Kultur der Gegenwart ausführlich erörtert worden sind, zum Teil noch in diesem Band ihre Darstellung finden werden. Denn die Abstammung der uns umgebenden Lebewelt ist ein Problem, welches im Brennpunkt der modernen Biologie steht, auf welches Licht von den verschiedensten Gebieten zoologischer und botanischer Forschung geworfen wird. Wir haben dabei gesehen, daß fast auf jedem dieser für die Abstammungs- lehre wichtigen Gebiete die Ansichten der Biologen auseinandergehen. Daher ist es denn auch begreiflich, daß die Urteile, welche über die Berechtigung Schluß- bemerkungen. s8 RICHARD HERTWIG: Die Abstammungslehre dergesamten Abstammungslehre gefällt werden, sehr verschieden ausfallen. Nach wie vor hält eine nicht unbedeutende Zahl von Biologen an der optimistischen Auffassung fest, welche die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die Zeit der Herrschaft des Darwinismus, kennzeichnete. Sie vertreten den Stand- punkt, daß die Abstammungslehre durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte sicher bewiesen sei und daß der stolze Bau der Darwinschen Theorie zu keiner Zeit auf so sichere Grundlagen gestellt gewesen sei wie zur Jetzt- zeit. Diesem einen Extrem steht die Ansicht gegenüber, daß die Abstammungs- lehre die größte Verirrung bedeute, in welche die Biologie jemals verfallen sei. Man werde in der Zukunft einmal mit Bedauern auf die Periode zurückblicken, in welcher der Darwinismus die Biologie beherrscht und von wichtigeren Pro- blemen abgelenkt habe. Da die Gegner der Abstammungslehre ihren Stand- punkt in der Neuzeit besonders häufig und eindringlich der Öffentlichkeit gegenüber vertreten haben, hat sich unter Laien vielfach die Ansicht entwickelt, daß die gesamte Abstammungslehre ein durch die neueren Forschungen über- wundener Standpunkt sei. Viel hat zur Verbreitung dieser Ansicht der Um- stand beigetragen, daß häufig nicht genügend zwischen Abstammungslehre im weiteren Sinn und der durch den Darwinismus gegebenen besonderen Form derselben unterschieden wird, und daß daher alle Angriffe, welche sich gegen die Darwinsche Variabilitäts- und Zuchtwahllehre richten, mit Unrecht als An- griffe gegen die gesamte Abstammungslehre aufgefaßt werden. Beide extreme Anschauungen lassen sich nicht aufrecht erhalten. Die Forscher, welche die Abstammungslehre für sicher bewiesen erklären, beachten nicht genügend, daß es sich bei der Phylogenese des Tier- und Pflanzenreichs um Vorgänge handelt, welche der Vergangenheit angehören und daher über- haupt nicht exakter Beobachtung zugängig sind, sondern nur erschlossen werden können. Derartige Schlüsse können ein hohes Maß von Sicherheit besitzen, wie viele Beispiele aus der Geologie und Astronomie uns lehren. In der Biologie ist das aber nur selten der Fall. Hierstehen wir Erscheinungen gegenüber, deren kausaler Zusammenhang ungemein komplizierter Natur ist, von denen auch nur ein kleiner Teil uns bekannt ist. Diese Unvollständigkeit des Materials, auf welches wir unsere phylogenetischen Schlüsse aufbauen, bildet den schwersten Einwurf, welchen man der Abstammungslehre machen kann. Von der Unvollständigkeit der ‚„paläontologischen Urkunde‘ war schon früher die Rede. Aus ihr ergibt sich mit Notwendigkeit, daß auch das Beweismaterial der Biogeographie ein unbefriedigendes sein muß. Denndie derzeitige Verbreitung der Organismen läßt sich vollkommen nur verstehen, wenn wirsie als das Resultat der Verbreitung in früheren Perioden der Erdgeschichte auffassen. Dem steht aber die Lückenhaftigkeit der paläontologischen Urkunde entgegen. Und nicht nur diese, sondern auch die Lückenhaftigkeit unserer geologischen Kenntnisse. Wollen wir wissen, wie sich die Tiere stammesgeschichtlich entwickelt und über die Erde verbreitet haben, so müßten wirgenau über dieZusammenhänge der Län- der in früheren Zeiten unterrichtet sein. Esist aber ausgeschlossen, daß wir je das hierzu notwendige und wünschenswerte Maß der Kenntnisse erreichen werden. Schlußbemerkungen. 89 Was nun weiter die Tatsachen der vergleichenden Anatomie und Ent- wicklungsgeschichte anlangt, so ist der Reichtum derselben und ihre Beweis- kraft bewundernswert. Das darf uns aber nicht darüber täuschen, daß auch hier gewaltige Lücken gegeben sind, welche nur durch mehr oder minder ge- wagte Hypothesen überbrückt werden können. Um nur wenige Beispiele an- zuführen, so klafit eine weite Lücke zwischen Amphioxus und den nächst höheren Wirbeltieren, den Cyclostomen, welche auch durch die Entwicklungs- geschichte der letzteren nicht ausgefüllt wird. Die im Stamm der Würmer vereinigten Klassen bilden ein Formenlabyrinth, für das der Ariadnefaden der genetischen Zusammenhänge nicht gefunden ist, vielleicht auch niemals gefun- den werden wird. Aus dieser Unvollständigkeit unserer Kenntnisse erklären sich die vielen Widersprüche, welche selbst zwischen überzeugten Anhängern der Abstammungslehre bestehen und die ablehnende Stellung verständlich machen, welche nicht wenige Biologen auch in der Neuzeit der Deszendenztheorie gegenüber einnehmen. Wenn somit der allzugroße Optimismus vieler Deszendenztheoretiker nicht gerechtfertigt ist, so kann noch weniger der rücksichtslos verurteilende Stand- punkt fanatischer Gegner der Abstammungslehre gebilligt werden. Nach wie vor hält eine überwältigende Mehrheit der Biologen an dem Entwicklungs- prinzip fest, mag auch die Form eine verschiedene sein, in welche der einzelne den gemeinsamen Grundgedanken einkleidet. Beim derzeitigen Stand unserer Kenntnisse ist die Abstammungslehre die einzige Theorie, welche uns eine einheitliche Erklärung der Erscheinungen der Organismenwelt ermöglicht; sie ist zugleich eine Lehre, welche nicht nur gewaltig fördernd in die Entwicklung der Biologie eingegriffen hat, sondern nach wie vor dieser Wissenschaft die wichtigsten Impulse verleiht. Ich brauche nur daran zu erinnern, welche Fülle exakter wissenschaftlicher Forschungen sich im Anschluß an die Schriften Darwins auf dem Gebiet der Variabilitäts-, Anpassungs- und Vererbungslehre entwickelt hat. Schienen auch vorübergehend diese Forschungen nicht nur über Darwin hinaus, sondern auch von ihm hinweg zu führen, so ist eine Rückkehr zu den Auffassungen des großen britischen Forschers gerade in den letzten Jahren wieder unverkennbar. Literatur. Kurze Zusammenstellung einiger historisch wichtiger oder über die Probleme orientierender Schriften. ı. Allgemeine Abstammungslehre. LAMARCK, J. B. DE MONET, Philosophie zoologique Paris 1809. Deutsche Übersetzung von A.Lang. Jena 1876. Neugedruckt 1904. DARWIN, CHARLES, On the origin of the species by means of natural selection. London 1859. Populäre Ausgabe London ı9o1. Übersetzt von V.Carus. 8. Aufl. 1898. — Das Variieren der Pflanzen und Tiere im Zustand der Domestikation. Übersetzt von V.Carus. 2 Bde. Stuttgart 1899. — Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem Eng- lischen von Paul Seeliger. 2 Bde. Leipzig 1902. — Two Essays written in 1842 and 1844. Herausgegeben von FRANCIS DARWIN: Foun- dations of the origin of species. 1909. Ins Deutsche übersetzt 1910. SEWARD, A, CH. Darwin and modern science Essays in Commemoration ot the birth of Charles Darwin. Cambridge 1909. WALLACE, A.R., Beiträge zur natürlichen Zuchtwahl. Deutsch von A.B.Meyer. Erlangen 1870. — Der Darwinismus, übersetzt von Brauns. Braunschweig 1891. Neue Aufl. London 1902. WAGNER, MoRIZ, Die Darwinsche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen. Leipzig 1868. Auch gesammelte Abhandlungen nach seinem Tode herausgegeben von M. Wagner. Basel 1889. NÄGELI, C., Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. München und Leipzig 1884. WEISMANN, A., Studien zur Deszendenztheorie. ı. Saisondimorphismus der Schmetterlinge. 2. Über die letzten Ursachen der Transmutation. Leipzig 1875 und 1876. — = Vorträge über Deszendenztheorie. 3. Aufl. Jena 1913. HAECKEL, E., Generelle Morphologie der Organismen. 2 Bde. Berlin 1866. In abgekürzter Form neu gedruckt 1905. — Natürliche Schöpfungsgeschichte. 2 Teile. ıı. Aufl. Berlin 1910. — Anthropogenie. 2 Bde. 6. Aufl. Leipzig 1910. PLATE, L., Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung. 4. Aufl. Leipzig 1913. PAULY,A., Darwinismus und Lamarckismus. München 1905. HERTWIG, O., Allgemeine Biologie. 4. Aufl. Jena 1912. EIMER, TH., Orthogenesis der Schmetterlinge. Entstehung der Arten. Bd.Ill. 1897. Lotsv, J. P., Vorlesungen über Deszendenztheorien mit besonderer Berücksichtigung der botanischen Seite der Frage. 2 Bde. Jena 1906 und 1908, KELLOGG, VERNON E., Darwinismus to day. New York 1907. CUENOT, L., La genese des especes animales. Paris 1911. PRZIBRAM, H., Experimentelle Zoologie. Bd. Ill. Phylogenese. Leipzig und Wien 1910. DEPERET, CH., Die Umbildung der Tierwelt. Eine Einführung in die Entwicklungsgeschichte auf paläontologischer Grundlage. Aus dem Französischen von R. M. Wegener, Stutt- gart 1909. Roux, W., Der Kampf der Teile im Organismus. Leipzig 1891. Literatur gI 2.Erblichkeits- und Variıabilitätslehre, BATESON, W., Materials for the study of Variation. London 1894. DE VRIES, H., Die Mutationstheorie. 2 Bde. Leipzig 1901 u. 1903. — Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation. Ins Deutsche übertragen von H. Klebahn. Berlin 1906. — Pflanzenzüchtung. Unter Mitwirkung des Verfassers nach der zweiten verbesserten Ori- ginalauflage übersetzt von A. Steffen. Berlin 1908. PEARSON, KARL, The grammar of science. 2. Aufl. London 1900. GALTON, F., Natural inheritance, London 138g. JOHANNSEN, W., Elemente der exakten Erblichkeitslehre. Jena 1909. — Erblichkeitsforschung in ABDERHALDEN. Fortschritte der naturwissenschaftlichen For- schung. Bd.Ill. ıgı1. TOWER, W. L, An investigation of evolution in Chrysomelid Beetles of the genus Leptino- tarsa. Washington 1906. MENDEL, G., Versuche über Pflanzenhybriden. Verhandl. des naturf. Vereins Brünn. Bd. 4. 1865. BATESON, W., Mendels Principles of heredity. Cambridge 1909. LANG, A., Über die Bastarde von Helix hortensis Müller und H.nemoralis L. Festschrift d. Universität Jena 1908. Ferner Aufsätze in Zeitschr. f. induktive Abstammungs- und Ver- erbungslehre. Bd. 3 und 4. NILSSON EHLE, H., Kreuzungsuntersuchungen an Hafer und Weizen. Acta Univers. Lund. 1909 u. ıgIı GOLDSCHMIDT, R., Einführung in die Vererbungswissenschaft. Leipzig ıgıı. (2. Aufl. in Vorbereitung.) HAECKER, V., Allgemeine Vererbungslehre. 2. Aufl. Braunschweig Ig12. BAUR, E., Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. Berlin Igrı. PLATE, L., Vererbungslehre. Leipzig 1913. GRUBER, M.v. und RüÜpın, E., Fortpflanzung, Vererbung, Rassenhygiene. 2. Aufl. Mün- chen ıgı1. WEISMANN, A., Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena 1892. KAMMERER, P., Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaften. Berlin Igıo. SEMON, R., Die Mneme als erhaltendes Prinzip. 2. Aufl. Leipzig 1908. — DerStand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. ABDERHALDEN, Fort- schritte der naturw. Forschung. Bd.II, 1911. — Das Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften. Leipzig 1912. PRINZIPIEN DER SYSTEMATIR NHTBESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DES SYSTEMS DER TIERE. Von EARTATE: I. Aufgaben und Bedeutung der Systematik. Die Systematik sucht Ordnung und Übersicht in die Fülle der Lebewesen zu bringen, indem sie dieselben nach ihrer Ähnlichkeit in eine Anzahl Kate- gorien von verschieden weitem Umfange einordnet. Jede Art wird gleichsam in ein besonderes Schubfach eines bestimmten Schrankes gestellt, um hier jeder- zeit rasch gefunden und nach ihren Besonderheiten dem menschlichen Geiste vorgeführt werden zu können. Die Systematik verfolgt also in erster Linie prak- tische Ziele. Bei der Aufstellung eines zoologischen Systems ergeben sich aber zahlreiche Fragen und Probleme von größter theoretischer Bedeutung. Es zeigt sich z. B., daß eine Art sich überhaupt nicht scharf definieren läßt, d. h. es läßt sich keine Formel finden, welche auf alle untereinander vermehrungs- fähigen Individuen paßt, woraus gefolgert werden muß, daß die Abstammungs- lehre mit Recht die Arten als temporäre, fließende Erscheinungen auffaßt. Es fragt sich weiter, ob sich ein zoologisches System aufstellen läßt, welches zugleich ein Abbild der stammesgeschichtlichen Entwicklung ist, oder ob dies nicht möglich ist; ob der Artbegriff und die übrigen systematischen Kate- gorien nur in den Köpfen der Gelehrten existieren oder ob ihnen daneben reale Existenzen zugrunde liegen; ob sich aus den verschiedenen Formen, welche innerhalb einer Art unterschieden werden (Varietät, Mutation, Somation, Sub- species usw.), Folgerungen bezüglich des Ursprungs der Arten ziehen lassen; ferner welche Artdefinitionen früher aufgestellt wurden und welche als die zur- zeit beste angesehen werden muß; ob zur Unterscheidung der Arten und Unter- arten neben den morphologischen Merkmalen auch physiologische und ökolo- gische verwendet werden können. So knüpfen sich zahlreiche interessante Fragen an die Systematik an, und die Arbeit des zoologischen Systematikers ist, wenn sie richtig aufgefaßt wird, keineswegs langweilig und nur von praktischem Werte, sondern greift in sehr viele Kapitel der theoretischen Biologie ein. Die Notwendigkeit und die praktische Bedeutung des Systems erhellt so- fort aus der großen Zahl der zurzeit bekannten lebenden Tiere, welche nach einer verdienstvollen Zusammenstellung von Möbius (1898) sich auf ungefähr Bedeutung der Systematik 93 415 600 beläuft!), wozu noch die fossilen Tierarten kommen würden, von denen nach Neumayr (1889, S. 14) 1889 70—80 000 bekannt waren. Da seit jenen Jahren viele neue Formen beschrieben worden sind, so darf man die Zahl der bekannten Tiere einschließlich der Fossilien auf reichlich eine halbe Million ein- schätzen. Ich lasse die Übersicht von Möbius hier folgen, weil sie den Zu- wachs unserer Kenntnisse seit Linn& deutlich vor Augen führt und zum Nach- denken anregt, warum gerade einzelne Klassen besonders artenreich geworden sind. ‚ Linne Linne | | Ban ungefähr Tosaf, ungefähr Syste- bekannt Syste- bekannt Tierklassen ma 1898 Tierklassen ma 1898 | naturae) rezente naturae Tezente 1758 Arten 1758 Arten | SAUBERE az, 183 3500 Übertrag | 3236 334550 | Vögel Re ge> 444 13000 | Tausendfüßler 16 3000 Reptilien, Amphibien . 181 5000 | Krebse. . 89 8000 Fische . 414 12000 | Pyknogoniden - 150 Schmetterlinge . 542 50000 | Würmer qI 8000 Käfer 595 1200007}: Manteltierer 2.7 „0%: 3 400 Hymenoptera 229 38000 | Moostiere . here 35 1000 Dipteren 190 28000 | Mollusca u. Brachiopoda | 674 50000 Neuropteren . 35 2050 | Echinodermen IR 29 | 3000 Orthopteren . 150 13000 | Schwämme (Hohltiere?) ıı 1500 Hemipteren 195 300001] Protozaae I... 328 6000 Spinnen/iN. 1. Er 78 20000 4162 415 600 Die Übersicht lehrt folgendes. Die Zahl der bekannten rezenten Wirbel- tiere beträgt nur 33 500, also nur den 12,4. Teil der Gesamtzahl, was wohl so zu verstehen ist, daß die Vertebraten als der jüngste Hauptast des Stamm- baums noch nicht genügend Zeit gehabt haben, um sich zu solcher Formenfülle zu entwickeln wie die älteren Klassen und Ordnungen. Unter den Wirbeltieren sind die Vögel am artenreichsten und machen mehr als ein Drittel aus, offen- bar, weil sie infolge ihres Flugvermögens ganz besonders befähigt sind, Gefahren zu entgehen und ihnen zusagende Lebensverhältnisse aufzusuchen. Ihnen nahe kommt die Klasse der Fische, welche ja wie die Vögel das Medium, in dem sie leben, nach allen Richtungen durchmessen können. Der Artenreichtum hängt also direkt ab von der Fähigkeit der Ausbreitung, und diese wird, wenngleich nicht ausschließlich, so doch in hohem Maße bedingt von dem Lokomotions- vermögen. Daher sind unter allen Tieren die Insekten mit ihren meist gut aus- gebildeten Flügeln und ihrem schützenden Chitinpanzer zur weitaus formen- ı) Daß solche Schätzungen nur annähernd richtig sein können, liegt auf der Hand und kommt darin zum Ausdruck, daß 2 Jahre früher Schäfer (1896, S. 295) die Zahl der rezenten Tierarten auf 366000 bewertet, und 4 Jahre später (1902) die Zahl der beschriebenen Vögel nach Reichenow von 13000 auf 14000 gestiegen war. Einige Coleopterologen schätzen die Zahl der beschriebenen Käfer gar auf 250000. Solche Angaben haben aber wenig Wert, wenn nicht zuvor die Zahl der Synonyma festgestellt ist. Ursachen des Artenreichtums. 94 L. PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere reichsten Klasse geworden, welche mit 281 000 Arten rund fünf Achtel aller Tiere ausmachen. Daß unter ihnen die Käfer ein solches Übergewicht erlangt haben, mag verschiedene Ursachen haben: die festen Elytren (Vorderflügel) ge- währen ihnen einen besonderen Schutz, welcher den übrigen Insekten abgeht; ihre Larven besitzen einen hohen Grad von Anpassungsbreite und gedeihen unter den verschiedenartigsten Verhältnissen; auch kommt in Betracht, daß die ausge- wachsenen Käfer meist leicht zusammeln und aufzubewahren sind und daß sie da- her besonders genau studiert wurden. Diefeste Schale und die leichte passive Ver- schleppbarkeit der marinen Larven und der Landformen kann als Ursache der relativ hohen Artenzahl der Mollusken trotz ihrer geringen Beweglichkeit im er- wachsenen Zustande angesehen werden. Derartige Erwägungen berechtigen uns zu dem Satze, daß die Artenzahl einer Tierklasse im höchsten Maße abhängt von dem phyletischen Alter und den Besonderheiten der Organisation. Eine zufällige Erwerbung (Chitin der Arthropoden), welche im Kampfe ums Dasein von hohem Werte ist, kann maßgebend für die ganze folgende Differenzierung werden. II. Diagnostische Merkmale, Nomenklaturregeln und Kategorien des Systems. Um dem Bedürfnis nach Übersicht und Ordnung der zahllosen Lebewesen zu genügen, stehen der Systematik drei Wege zur Verfügung: I. Weststellung der, Erkennungsmerkmale einer Jeden Artın Form von „Diagnosen“ zum Zwecke einer raschen Bestimm- barkeit. 2. Einheitliche Nomenklatur der Arten und höheren Gruppen. a3. Zusammenfassung mehrerernnsederer Gruppen zumleıner höheren systematischen Kategorie. a) Diagnostische Merkmale. Da jeder Organismus während seines Lebens sich in beständiger langsamer Veränderung befindet, so kann eine Art- diagnose unmöglich die charakteristischen Merkmale aller Stadien vom Ei bis zum altersschwachen Geschöpf umfassen. Sie wird meist nur für das Haupt- stadium der geschlechtsreifen Form, günstigenfalls noch für mehrere, beson- ders auffällige Nebenstadien (Ei, Larve, Raupe, Puppe usw.) aufgestellt, woraus folgt, daß solche Nebenstadien (namentlich Jugendformen) selbst von seit langer Zeit bekannten Arten häufig nicht bestimmt werden können.!) Schon aus diesem Grunde bleibt jede Systematik unvollkommen. Das Ziel der Syste- matik ist in erster Linie ein praktisches: rasche Bestimmbarkeit einer Art. Da- her sind Bestimmungsschlüssel und -Tabellen, welche aus den Dia- ı) Döderlein (1902, S. 412) sagt in dieser Beziehung mit Recht: „Ist die Diagnose einer einmal aufgestellten Art auch in jeder Hinsicht genügend, so kann doch nicht er- wartet werden, daß nunmehr bei sämtlichen in Frage kommenden Formen und Exemplaren mit Sicherheit entschieden werden kann, ob sie der betr. Art angehören oder nicht. Es gibt wohl innerhalb jeder Art Formen, seien es besondere Entwicklungszustände im Leben des Individuums oder Formen innerhalb eines Generationszyklus (Stände), an denen kein scharfer Unterschied gegenüber entsprechenden Formen anderer verwandter Arten nach” gewiesen werden kann. Derartige Formen und Exemplare sind zur Beurteilung ungeeignet und werden stets als ungeeignet zur Feststellung der Art anzusehen sein.“ Diagnosen, Nomenklaturregeln 95 gnosen verwandter Formen die Hauptmomente hervorheben undleicht erkenn- bar einander gegenüberstellen, von der größten Wichtigkeit. In jeder Diagnose sollen die Merkmale möglichst exakt, d. h. so geschil- dert werden, daß kein Zweifel über den Sinn der Worte aufkommen kann. Da- her sind nach Möglichkeit alle Angaben quantitativ nach Maß und Zahl zu machen. Besondere Schwierigkeiten bereiten die Farben, deren genaue Be- zeichnung nur möglich ist unter Anlehnung an eine bestimmte Farbenskala, die um so brauchbarer sein wird, je mehr Farbentöne sie aufweist. Die beste mir bekannte Tabellet), auf die ich schon wiederholt hingewiesen habe, ist die von R. Jordan, welche 700 verschiedene Farbentöne enthält. Aber selbst mit Hilfe dieser Tabelle ist eine ganz genaue Bezeichnung einer natürlichen Farbe sehr oft nicht möglich, weil an den Organismen meist Mischfarben beobachtet werden. Doch bedeutet diese Skala immerhin eine große Erleichterung, da durch kleine Zusätze (‚etwas mehr bläulich, mit starkem Glanz, etwas schmut- ziger‘‘ u. dgl.) auf die noch vorhandenen Unterschiede hingewiesen werden kann. Selbstverständlich müssen die zur Diagnose verwerteten Merkmale mög- lichst bei allen Individuen konstant vorkommen, möglichst leicht nachweisbar und möglichst auffällig sein. Daher sind äußere Charaktere eher zu berücksich- tigen als innere, makroskopische eher als mikroskopische oder nur durch che- mische Reaktionen erkennbare, und dauerhafte Merkmale an Schalen, Ske- letten, Zähnen usw. verdienen den Vorzug vor solchen an vergänglichen Orga- nen oder Entwicklungsstadien und vor Eigentümlichkeiten (z. B. geographische Verbreitung, physiologisches Verhalten gegen irgendwelche Reize, z. B. gegen Gifte, Nestbau, Zahl der Jungen, Virulenz, psychische Besonderheiten u. dgl.), die nur am lebenden Tier festgestellt werden können. Jedoch ist der Inhalt der Artdiagnose keinerlei Beschränkungen unterworfen: jedes konstante Merkmal kann zur Trennung von Unterarten und Arten verwandt werden. b) Nomenklaturregeln. Eine einheitliche, von der Mehrzahl der Na- turforscher anerkannte Namengebung und Schreibweise ist für den Fortschritt der biologischen Wissenschaften von der größten Bedeutung. Daher ist es freudig zu begrüßen, daß die internationalen Kongresse der Botaniker in Wien (1905) und Brüssel (1910) und der Zoologen in Berlin (I901) und in Bern (1904) nach dieser Richtung eine Verständigung bewirkt haben. Die hier gefaßten Beschlüsse sind gleichzeitig in französischer, englischer und deutscher Sprache veröffentlicht worden in: Verhandlg. d. internat. botanischen Kongresses in Wien 1905. Jena, G. Fischer, 1906, S. 165 —261 und Rigles intern. de la Nomenclat. bot. Jena, G. Fischer, 1912. (Enthält eine Liste der Gattungs- namen, welche durch das Prioritätsgesetz nicht beseitigt werden sollen.) Ver- ı) Die Jordansche Tabelle ist zu bekommen bei Jüstel und Göttel, Leipzig, für 4 M. Von andern Farbenskalen seien genannt: Saccardo, P.A., Chromotaxia s. nomenclator co- lorum. Ed.z2. Patavii, 1894; Ridgeway,Nomenclatureofcolor. Repertoire des Couleurs der fran- zösischen Chrysanthemum-Gesellschaft. Leon L. Homme, Code des Couleurs, Paris, P. Klinck- sieck, 720 Farben. Rotierende Farbenscheiben, an denen man die prozentuale Menge der Far- benbestandteile genau ablesen kann. Davenport brauchte diejenige der Milton Bradley Co., Springfield, Mass. 96 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere handlungen des V. internationalen Zoologenkongresses zu Berlin I90I. Jena, G. Fischer, 1902, S. 933— 972. Eine auf dem Berliner Kongreß gewählte Nomenklaturkommission hat diese Regeln noch einmal verbessert und sie neu herausgegeben (dreisprachig) unter dem Titel: Regles internat. de la Nomen- claturezoolog. Paris, Rudeval, 1905, 60 S. Ich führe hier die wichtigsten dieser Regeln an, wobei ich der von den Zoologen ausgearbeiteten Zusammenstellung (1905) folge, und unter Hinzufügung derjenigen botanischen Beschlüsse, welche hiervon abweichen. Ich habe diese Regeln möglichst kurz zusammengefaßt und nur einige besonders wichtige wörtlich zitiert. I. Die zoologische und die botanische Nomenklatur sind voneinander un- abhängig. 2. Die Benennung der Untergattungen und aller höheren Gruppen ist uni- nominal, der Art binominal, der Unterart trinominal. 3. Alle diese Benennungen sind lateinische oder latinisierte Worte. 4. Folgende Gruppen werden von Zoologen und Botanikern verschieden benannt durch Anhängung verschiedener Endsilben an einen Gattungsnamen: Gruppe Zoologen Botaniker Familie — ıdae (Mustelidae von Mustela) —-aceae (Rosaceae von Rosa) Subfamilie — inae (Mustelinae von Mustela) — oideae (Asphodeloideae von Asphodelus) Tribus —- eae (Asclepiadeae von Asclepias) Subtribus — ina (Madiina von Madia) 5. Der Name der Untergattung wird in runden Klammern zwischen Gat- tungsnamen und Artnamen gestellt: Vanessa (Pyrameis) cardui, nicht Py- rameis cardui. 6. Artnamen werden im allgemeinen klein geschrieben; sind sie von Per- sonen abgeleitet, so können sie nach den zoologischen Regeln groß oder klein geschrieben werden; nach den botanischen Regeln müssen sie einen großen Anfangsbuchstaben erhalten. 7. Für die Latinisierung von Personennamen lauten die Vorschriften ver- schieden: Zoologen schreiben die Endungen vor: auf -i bei männlichen Namen, auch solchen von lateinischer Form (Möbiusi statt Möbii, Bosi statt Bovis), auf -orum bei mehreren Männern desselben Namens (z. B. Sarasinorum), auf -ae bei weiblichen Namen. Botaniker: auf -i, wenn der Name auf einen Vokal aus- geht (z. B. Glazioui von Glaziou), jedoch auf -ae bei auslautendem a (z. B. Balansae von Balansa), auf -ii bei Endigung des Namens mit einem Kon- sonanten (z. B. Magnusii von Magnus), jedoch auf -i bei auslautendem r (z.B. Kerneri von Kerner); auf -ae oder eine andere weibliche Endung bei Frauennamen. 8. Der Name einer Unterart folgt ohne Zwischenzeichen direkt auf den Artnamen, z. B. Rana esculenta marmorata Hallowell, nicht Rana esculenta (marmorata) oder Rana marmorata Hallowell. 9. Bastarde können verschieden bezeichnet werden: Ovis musimon g' 5 4 - : j : Ovis musimon . x Dvis aries Q@ oder Ovis musimon X Ovis aries oder — ——-— (lim Ovis aries Zähler, © im Nenner). Nomenklaturregeln 97 Sind die Eltern unbekannt, so kann der Bastard einen neuen Namen er- halten und durch ein vorgesetztes X als Bastard gekennzeichnet werden, z. B. x Coregonus dolosus Fatio. Die Botaniker brauchen dieselbe Schreibweise auch bei bekannten Eltern: x Salix capreola = Salıx aurita X caprea. 10. Der Autorname. „Als Autor eines wissenschaftlichen Namens gilt diejenige Person, die zuerst diesen Namen in Begeitung einer Kennzeichnung veröffentlicht hat; geht jedoch aus der Veröffentlichung deutlich hervor, daß nicht der Veröffentlichende, sondern ein Anderer Urheber des Namens und der Kennzeichnung ist, so gilt der letztere als Autor des Namens.“ ° II. Wird eine Art in eine andere Gattung gestellt oder eine Varietät zu einer Art erhoben, so ist der Name des Autors der Art resp. der Varietät bei- zubehalten, jedoch in runde Klammern zu setzen: Taenia lata L. = Dibothrio- cephalus latus (L). Der Name des Autors der Umstellung kann hinzugefügt werden: Limnalis nilotica (Savigny, 1820) Moquin-Tandon, 1826. 12. Das Prioritätsgesetz. ‚Gültiger Name einer Gattung oder Art kann nur derjenige Name sein, mit dem sie zuerst bezeichnet worden ist, unter der Bedingung: a) daß dieser Name in Begleitung einer Kennzeichnung veröffentlicht wor- den ist, und b) daß der Autor den Grundsätzen der binären Nomenklatur folgte.‘ 13. Als Ausgangspunkt dieses Gesetzes nehmen die Zoologen und die Bo- taniker verschiedene Jahre an, nämlich erstere das Jahr 1758, weil die zehnte Ausgabe des Systema naturae von Linne& in diesem Jahre erschien und die binäre zoologische Nomenklatur begründete. Die Botaniker führen die Namen aller Gruppen der Gefäßpflanzen zurück auf die erste Ausgabe von Linn&s Species plantarum vom Jahre 1753 und beziehen die hier vorkommenden Gattungsnamen auf die dazu gehörigen Beschreibungen in der 5. Ausgabe von Linne&s Genera plantarum vom Jahre 1754. 14. Die Botaniker haben dem Prioritätsgesetze jedoch zuerst eine sehr vernünftige Einschränkung hinzugefügt, um eine Beseitigung alteingebür- gerter Gattungsnamen zu verhindern, durch Aufstellung einer Liste von Gat- tungsnamen, die unter allen Umständen beizubehalten sind. Diese Namen sind „solche, die während eines Zeitraums von 50 Jahren nach ihrer Veröffent- lichung im allgemeinen Gebrauch gewesen sind oder die in Monographien und größeren floristischen Werken bis zum Jahre 1890 Aufnahme gefunden haben.“ Die deutschen Zoologen sind diesem Beispiele 1912 (Verh. d. deutsch. zool. Ges.) gefolgt und haben eine Liste von Gattungs- und Artnamen herausgegeben, welche niemals abgeändert oder auf andere Gattungen und Arten übertragen werden dürfen. Es gehören hierhin z. B. Anthropopithecus troglodytes Schim- panse, Simia satyrus Orang, Auchenia, Echidna, Lepus timidus (nicht euro- paeus), Lepus variabilis (nicht timidus), Salamandra maculosa, Triton (nicht Molge), Amphioxus, Periplaneta, Phylloxera vastatrix, Astacus fluviatilis. Diese Liste soll von besonderen Kommissionen fortlaufend ergänzt werden. K.d.G.IIl.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 7 Zahl der systematischen Kategorien. 98 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere 15. Das Prioritätsgesetz findet Anwendung, wenn nur ein Teil eines Tieres oder einer Pflanze, oder eins der Geschlechter oder bei Polymorphismus und Generationswechsel eine der Formen in zulässiger Weise benannt worden ist. Haben Larve und geschlechtsreifes Tier hingegen verschiedene Namen erhalten, so gilt derjenige des letzteren, auch wenn er der jüngere ist, z. B. Conger vulgaris (nicht Leptocephalus conger). 16. Werden zwei Gruppennamen vereinigt, so bleibt der älteste bestehen. Wird eine Gattung geteilt, so bleibt der Name bei demjenigen Teile, zu welchem der Typus der Gattung gehört, falls ein solcher ursprünglich bestimmt worden ist; andernfalls wird er einem beliebigen Teile zugewiesen. 17. Die Botaniker verwerfen solche Speziesnamen, welche eine Wieder- holung des Gattungsnamens sind (z. B. Linaria linaria), während die Zoologen sie zulassen. 18. Um eine Gleichmäßigkeit in der Abkürzung der Namen zoologischer Autoren herbeizuführen, empfiehlt sich die Benutzung von: Liste der Autoren zoologischer Art- und Gattungsnamen, zusammengestellt von den Zoologen des Museums für Naturkunde in Berlin. Berlin 1896. 2. Auflage. c) Die systematischen Kategorien. Die eigentliche Aufgabe der Systematik, Ordnung und Übersicht in die Fülle der Formen zu bringen, wird erst erreicht durch die Einreihung derselben nach ihrer Ähnlich- keit in neben- und übergeordnete Kategorien, welche zusammen das „System‘ bilden. Jedes Geschöpf besitzt eine Anzahl von Merkmalen, welche nur ihm zukommen und daher das einzelne Individuum charakteri- sieren; weiter ist eine sehr große Zahl von Eigentümlichkeiten allen Indivi- duen einer Art gemeinsam, etwas kleiner ist die Zahl der Gattungsmerkmale, abermals kleiner diejenige der Familiencharaktere usf. Jede höhere Gruppe umfaßt daher einen weiteren Kreis verschiedenartiger Formen als die vorher- gehende niedere, weil die Zahl der Ähnlichkeiten abgenommen hat, oder mit anderen Worten: je höher die systematische Kategorie, desto größer die Diver- genz der hierin vereinigten Arten. In der Regel umfaßt selbstverständlich die höhere Gruppe auch eine größere Zahl von Formen als die niedere; zu einer Familie gehören demnach mehr Arten als zu einer Gattung und zu einer Gat- tung mehr Formen als zu einer Spezies. Es kommen jedoch Ausnahmen vor, indem einander nahe stehende Formen (z. B. Schnabeltier und Ameisenigel) so verschieden sein können, daß sie nicht nur zu verschiedenen Gattungen, sondern sogar zu differenten Familien gerechnet werden müssen. Die Zahl der angenommenen Kategorien hängt in erster Linie ab von dem Stande der Kenntnisse, in zweiter von praktischen Bedürfnissen. Sie ist auf alle Fälle willkürlich, denn wie weiter unten (Kap. 5) noch näher ausgeführt werden wird, sind abgesehen von der Art alle systematischen Kategorien Ab- straktionen des menschlichen Geistes. Sie existieren nicht real in der Natur und können deshalb nicht in eindeutiger Weise aus dieser abgelesen werden, sondern der ordnende Verstand trägt sie in die Natur hinein, und daher können dieselben Geschöpfe, z. B. alle Tintenfische, je nach der subjektiven Auffassung Systematische Kategorien 99 bald in viele, bald in wenige neben- und übergeordnete Gruppen eingeteilt wer- den, das System eines größeren Kreises ähnlicher Formen kann wenig- oder viel- gliederig ausfallen. Zwei entgegengesetzte Tendenzen machen sich hier gel- tend. Je besser eine Gruppe durchgearbeitet wird, desto mehr Unterschiede werden erkannt und desto mehr Untergruppen werden aufgestellt als äußeres Zeichen der vertieften Erkenntnisse. Auf der andern Seite leidet die Übersicht- lichkeit, wenn die Zahl der Unterfamilien, Gattungen, Arten und Unterarten immer mehr anwächst, und kein Gedächtnis ist imstande, die so sich ergebende, komplizierte Nomenklatur einer sehr artenreichen Abteilung zu beherrschen, so daß aus praktischen Gründen die Klassifizierung nicht zu weit getrieben werden darf. Linne& kannte 1758 von der Gattung Dentalium nur drei Arten (Dentalium elephantinum, dentale und entalis)*), jetzt (1908) ist die Zahl der rezenten Spezies auf 290 gestiegen, wozu noch zahlreiche (ca. 350) fossile Formen kommen, so daß eine Gliederung der gesamten Scaphopoden in zwei Familien (Dentaliiden und Siphonodentaliiden), vier Gattungen (Dentalium, Entalina, Siphonoden- talium, Cadulus) mit ca. 20 Untergattungen sich als notwendig erwiesen hat. Die allmähliche Zunahme der systematischen Kategorien läßt sich leicht historisch belegen. Linne& gab folgendes Schema von nur fünf Hauptgruppen: Classis Ordo Genus Species Varietas (Genus summum) (Genus intermedium) (Genus proximum) (Species) (Individuum) Provinciae Territoria Paroecia Pagi Domicilium Legiones Cohortes Manipuli Contubernia Miles K. E. v. Bär und Cuvier schufen den Begriff des „Typus‘' (embranchements) für die vier Hauptabteilungen des Tierreichs (Radiata, Articulata, Mollusca, Vertebrata), und letzterer schob im Anschluß an J. Th. Klein (Quadrupedum dispositio 1751) zwischen Ordnung und Gattung die ,Familia‘‘ ein mit den Unter- gruppen Sectio, Divisio, Tribus und spaltete manche Gattungen in Subgenera. Diese Kategorien wurden anfangs noch mit einer gewissen Willkür benutzt, so daß z. B. Cuvier in seinem ‚‚Tableau elömentaire de l’histoire naturelle des ani- maux‘ (Paris 1798) die Affen in Familien einteilt, und ebenso die Klasse der Vögel, ohnesie zuvor in Ordnungen zerlegt zuhaben. Erst P. A. Latreille (Hi- stoire nat. des Crustaces et des Insectes. Suiteä Buffon. An XII[1804].— Genera Crustaceorum et Insectorum Paris 1806-1809) hat den Begriffen Klasse, Ordnung, Familie, Gattung eine bestimmte Rangfolge beigelegt, was sich dann bald allge- mein einbürgerte. Nur fürmanche Unterbegriffe ist eine übereinstimmende Be- wertung bis jetzt noch nicht eingetreten, so namentlich für Sectio, Tribus, Cohors. Das Anschwellen der Zahl solcher Gruppenbegriffe kommt gut zum Aus- druck in der Liste von 24 Kategorien, welche ungefähr ein halbes Jahrhundert später Häckel (1866, Kap. XXIV) aufstellen konnte: ı Phylum (Typus) 3 Cladus 5 Classis 7 Legio 9 Ordo 11 Sectio 2 Subphylum 4ASubcladus 6 Subclassis 8Sublegio ı10Subordo ı2 Subsectio ı3 Familıia 15 Tribus ı7 Genus ı9 Cohors 21 Species 23 Varietas 14 Subfamilia 16 Subtribus 18Subgenus 20Subcohors 22 Subspecies 24 Subvarietas. ı) Eine vierte Art von Linne, Dentalium minutum, ist nicht wieder zu erkennen. „* / Künstliche und natürliche Systeme. 100 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Der eben erwähnte Übelstand, daß dieselben Ausdrücke zuweilen in ganz ver- schiedenem Sinne, bald als höhere, bald als niedere Gruppe verwandt werden, ergibt sich aus einem Vergleich dieser Übersicht (siehe Sectio!)) mit der folgen- den in den „Botanischen Nomenklaturregeln‘‘ des Wiener Kongresses (1905) empfohlenen Liste: Divisio Classis Ordo Familia Genus Species Subdivisio Subclassis Subordo Subfamilia Subgenus Subspecies Tribus Sectio Varietas Subtribus Subsectio Subvarietas Forma. Ebenso auch aus einem Vergleich mit der Einteilung des Botanikers v. Wett- stein (19018. 12): Stamm Abteilung Klasse Ordnung Familie Gattung Art Phylum Divisio Classis Cohors Ordo Genus Species Subdivisio Subclassis Subcohors Subordo Subgenus Tribus Sectio Subtribus Subsectio bei der freilich die deutschen Bezeichnungen ‚Ordnung‘ (für Cohors) und ‚‚Fa- milie‘‘ (für Ordo) sehr leicht Mißverständnisse bewirken können. In neuester Zeit hat die Vertiefung der Kenntnisse namentlich zu einer weiteren Zerlegung der ursprünglichen systematischen Einheit, der Art, ge- führt. Es sind zahlreiche Begriffe (Varietät, Subspecies, Conspecies, Mutation, Form, Rasse, Linie, Formenkette u. a.) im Gebrauch, welche für die Abstam- mungslehre von größter Bedeutung sind und deren Unterschiede uns später (Kap. 7) noch ausführlich beschäftigen werden. III. Künstliches und natürliches, praktisches und wissenschaftliches System. Ein System von Tieren oder Pflanzen wird aufgestellt auf dem Wege der Analyse. Die in der Natur gefundenen Formen werden miteinander verglichen und je nach ihrer größeren oder geringeren Ähnlichkeit zu niederen oder zu höheren Gruppen vereinigt. Seit Linn& werden zwei Arten von Systemen unterschieden, die künstlichen und die natürlichen; ihre Gegensätze sind aber nicht so scharf, wie gewöhnlich angenommen wird, und man darf behaupten, daß alle Systeme, welche sich auf eine größere Abteilung beziehen, z. B. auf eine Klasse oder auf einen Typus, eine Mischung von beiden darstellen. In der Regel wird als Gegensatz hervorgehoben, daß das künstliche System die Einteilung auf Grund irgendeines willkürlich herausgegriffenen Merkmals oder Prinzips vollzieht und dadurch zu unnatürlichen Gruppen gelangt, wäh- rend bei dem natürlichen System möglichst alle wichtigen Organisationszüge Berücksichtigung finden und auf Grund dieser genaueren Analyse nur solche ı) Der Begriff von „Sectio‘“ ist selbst bei Spezialisten desselben Fachs zuweilen ver- schieden. So braucht Reichenow (Die Vögel der Zoolog. Gärten, 1882) das Wort zur Bezeichnung der Untergruppen einer Subfamilie, während Sharpe (A review of recent attempts to classify birds. II. Internat. Ornithol. Kongreß, Budapest, 1891) es als gleich- sinnig mit Unterordnung verwendet. Verschiedenartigkeit der Systeme 101 Arten zu einer systematischen Kategorie vereinigt werden, welche miteinander blutsverwandt sind, sich also von derselben Stammform ableiten. Das natür- liche System hat daher einen phyletischen Charakter.!) Bekannte Beispiele einer künstlichen Systematik?) sind die Pliniussche Einteilung aller Tiere nach ihrer Lebensweise in Aquatilia, V olatilia und Terrestria und Linne&s Ein- teilung der Phanerogamen in 24 Klassen (Monandria, Diandria, Triandria usw.) nach der Zahl und der Verwachsungsweise der Sexualorgane. Aber gerade dies letztere System war durchaus nicht rein künstlich, sondern enthielt zahlreiche natürliche Gruppen, welche noch jetzt anerkannt werden (Palmen, Orchideen, Papilionaceen, Rosaceen, Lilien, Koniferen, Umbellaten usw.), und es würde sich trotz seiner praktischen Brauchbarkeit nicht den ganzen Erdball erobert haben, wenn es überwiegend zu ganz unnatürlichen Gruppen geführt hätte. Linne war selbst davon überzeugt, daß sein System nach der Richtung der natürlichen Gruppenbildung zu vervollkommnen sei. So schreibt er (Phil. bot. $ 77 S. 27) ausdrücklich: „Methodi naturalis fragmenta studiose inquirenda sunt. Primum et ultimum hoc in Botanicis desideratum est. Natura non facit saltus.‘‘ Ein willkürlich gewähltes Merkmal kann sehr wohl zu natürlichen Gegensätzen führen, wie folgende bekannte Abteilungen des Systems sofort er- kennen lassen: Protozoa (einzellig) — Metazoa (vielzellig), Aplacentalia (ohne Mutterkuchen, Monotremen und Beuteltiere) — Placentalia (mit Mutterkuchen, alle übrigen Säuger), Crustacea (Gliederfüßler mit Kiemen) — Tracheata (mit Tracheen). In derselben Weise lassen sich nach der Methode des künstlichen Systems, d. h. durch einfache Gegenüberstellung wichtiger Unterscheidungs- merkmale, alle natürlichen Hauptabteilungen des Tierreichs übersichtlich dar- stellen, etwa so: Einzellig: Protozoa. Vielzellig: Metazoa. Ohne Muskeln und Nerven, Körperwand porös: Spongiae, mit Br NE 2 “ solid ohne Leibeshöhle: Coelentera, radial symmetrisch y mit Echinodermala, » r) Lamarck (Zool. Philosophie p. 20) schrieb: ein natürliches System „ist nur die von Menschen ausgeführte Skizze des Ganges, dem die Natur bei der Schöpfung ihrer Erzeug- nisse folgte‘, 2) Als ein höchst merkwürdiges Beispiel einer künstlichen Systematik sei hier das ornithologische „Quinarysystem“ von Kaup (1849) erwähnt, welches davon ausgeht, daß alle Gegensätze und Gruppen der Wirbeltiere nach der Fünfzahl auftreten. Der Tierkörper besitzt 5 anatomische Systeme, 5 Sinnesorgane, 5 Regionen. Die 5 Klassen zerfallen in 5 Ordnungen mit je 5 Familien, 5 Subfamilien und 5 Gattungen. Wo der Verfasser in Schwierigkeiten gerät, da verläßt er sich auf sein systematisches „Gefühl“. ‚Man muß fühlen, was sich zusammenreimt. Ohne dieses hilft kein Recept, mag es von Paris oder Berlin kommen“ (S. 247). Ähnliche quinäre Systeme sind übrigens auch von anderen Zoologen (Oken, Mac Lay, Vigors), ein quaternäres von Reichenbach vertreten worden. Ein „Symmetriegefühl‘“ lebt noch jetzt in manchen Biologen weiter und läßt sie sich dagegen sträuben, die Passeres mit über 6000 Arten den Ratiten mit 20 Arten gleichwertig zu setzen oder gar diese letztere Gruppe noch weiter zu zerlegen. Praktische, wissenschaft- liche, kombi- nierte Systeme. 102 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere bilateral symmetrisch: ohne Gliedmaßen lem, meist mit Kalkschale: Mollusca. mit Gliedmaßen: mit Chitinpanzer, ohne Achsenskelett: Arthropoda, ohne ie mit ri Vertebrata. Alle solche auf einfacher Gegenüberstellung von Merkmalen beruhenden Sy- steme haben aber einen großen Nachteil: sie können höchstens praktischen Zwecken dienen, indem sie zur raschen Einordnung und zum Bestimmen ge- eignet sind, weil sie nur auf wenige Eigenschaften Bezug nehmen. Sie entwer- fen aber kein vollständiges Bild von den Gegensätzen der verschiedenen Grup- pen. Dieses kann nur unter Berücksichtigung der ganzen Organisation, Em- bryologie und Biologie zustande kommen, wobei aber durch die umfassenden Auseinandersetzungen die Übersicht und damit die praktische Verwendbarkeit sehr leiden oder häufig sogar völlig verloren gehen. Anstatt also die biologischen Systeme in künstliche und natürliche zu sondern, ist es richtiger, sie in praktische (analytische) und in wissenschaft- liche (synthetische) einzuteilen. Die ersteren sind enger oder weiter gefaßte Bestimmungstabellen, welche die Formen nach wenigen, besonders auffälligen Merkmalen gruppieren, die letzteren suchen den vollen Gegensatz der Gruppen durch Aufzählung aller wichtigsten Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen. Als dritte Gruppe wären die kombinierten Systeme anzusehen, welche die praktische und die wissenschaftliche Form zu vereinigen suchen. Ein solches würde z. B. vorliegen, wenn in der obigen Übersicht die Phylen (Spongiae, Coeleniera usw.) mit ausführlichen Erläuterungen versehen würden. Derartige kombinierte Systeme sind besonders wertvoll, da sie den praktischen wie den theoretischen Bedürfnissen Rechnung tragen, und finden daher in allen größe- ren Monographien Verwendung. Ob nun solche Systeme „natürlich“ sind, d. h. die näheren oder weiteren phyletischen Verwandtschaftsverhältnisse richtig erkennen lassen oder nicht, ist eine ganz andere Frage, die nicht von der Zahl der Merkmale, sondern von dem allgemeinen Stande der Kenntnisse und damit von der Bewertung der Charaktere abhängt. Eine Klassifizierung einer größeren Abteilung nach einem veränderlichen Organ, also ein „künstliches‘‘ System nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise, kann sehr wohl in der Hauptsache zu natürlichen Gruppen führen: man denke z. B. an die Einteilung der Pisces nach den Schuppen in Cyclostomen (ohne Schuppen), Selachier, Ganoiden und Teleostier. Pilsbry hat in Tryons Manual of Conchology (Bd. XIV) ein mustergültiges System der Chitonen aufgestellt, wobei er sich in erster Linie an die Charaktere der Schale, daneben auch an einige Merkmale des Fußes und der Kiemen hielt. Als ich dieses nach allgemeiner Auffassung wohl künstliche System durch sehr umfassende anatomische Studien (Plate, Anatomieu. Phylogenie der Chitonen, Zoolog. Jahrbücher, Suppl. IV, V, 1898—1901) nachprüfte, fand ich, daß die Pilsbryschen Familien und Unterfamilien dieser Ordnung der Weichtiere Verschiedenartigkeit der Systeme 103 durchaus natürlich waren. Zu derselben Erfahrung sind die Malakozoologen immer und immer wieder gelangt: Ordnungen und Familien, die zuerst nur te I r / / N Mm Ga phar Ä gal Fig. ı. Macrobiotus Hufelandi $ nach PrAre (Zool. Jahrb. [Anat.] 3, 1888). »» Mund, Ga und ga Ganglion, ce Ge- hirn, $hAar Pharynx, s/o Magen, ax After, g/. mal2. Malpighisches Gefäß, /e Hoden, dr Drüse. 12 7 DH ANNIE PN newer Due Fig. 2. Peripatus capensis. Nach MoserLy aus HErTwIG, Zoologie 1912. auf Grund der Schale aufgestellt wurden (Den- talien, Patellen, Fissurellen, Trochiden, Coniden usw.), haben sich beim Studium der Weichteile als völlig natürliche Gruppen herausgestellt. Umge- kehrt ist die wahre systematische Zugehörigkeit einer Abteilung selbst aus einer genauen Er- kenntnis der Anatomie nicht immer mit Sicher- heit zu erschließen. Die Tardigraden oder Bär- tierchen (Fig. I) werden wegen ihres einheitlichen Körpers, ihrer vier Paar Beine und ihrer stechen- den Mundwerkzeuge gewöhnlich zu den Milben gerechnet, während ich es für richtiger halte, sie ganz an die Wurzel des Arthropodenstammes zu stellen, da die nicht scharf abgesetzten Beinchen den Charakter von Parapodien haben und die Stechborsten und der muskulöse Pharynx an manche Würmer erinnern. Über die Stellung jener merkwürdigen Geschöpfe, die in Westindien, am Kap, in Chile und anderen wärmeren Gegenden im Mulm alter Bäume leben und in der Gattung Peripatus (Fig. 2, 3) vereinigt werden, sind die Anatomie eines weiblichen Peri- patus aus HERTWIG, Zoologie 1912. af An- Fig. 3. tenne, og Hirn, 72 Bauchmark, 2 Pha- rynx, d Darm, sö Speicheldrüse, sd Schleimdrüse, o ovar, x Uterus, go Ge- schlechtsöffnung, «@ After, Zr Tracheen- büschel, so Segmentalorgan. wissenschaftlichen Akten noch keineswegs abgeschlossen: ihre Stummelfüßchen mit Krallen, die Kiefer und die zahlreichen luftführenden Büschel von Röhren, welche zur Atmung dienen und den Tracheen sehr ähnlich sind, veranlassen die 104 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere meisten Forscher, sie als Protracheaten an die Wurzel der landbewohnenden Gliederfüßler zu stellen, während Boas sie wegen der Segmentalorgane, der glatten Hautmuskulatur, des plathelminthenartigen, aus Gehirn und zwei ven- tralen Hauptnerven zusammengesetzten Nervensystems und des sehr primi- tiven Baus der Augen zu den Anneliden rechnet. Manche Parasiten, z. B. unter den Krebsen die Lernaeen (Fig. 4) und die Sacculinen, sind im geschlechtsreifen Zustande so umgewandelt, daß aus der Anatomie allein die systematische Stellung nicht erschlossen werden kann. Erst die Larven und Jugendstadien beweisen, daß diese sackförmi- gen, ungeglie- derten Schma- rotzer als umge- wandelte Cope- poden resp. Cir- ripedien anzu- sehen sind. Da das wissen- schaftliche Sy- stem einerGrup- pemöglichstalle Verhältnisse zu berücksichtigen sucht, die äuße- ren wie dieinne- Fig. 4. Verschiedene schmarotzende Copepoden aus BoAs, Zoologie ren, dieembryo- ıgıı. A Caligus rapax 9. 3 Nogagus borealis 5. € mehr umge- logischen wie die bildet. D, Z Brachiella thynni 9, 5. a Antennen, / Furca, %% Hin- x ö terkiefer, Af Kieferfuß, 53 Beine, o Eiersack. biologischen, so ist die Wahr- scheinlichkeit viel größer, die wahren Verwandtschaftsverhältnisse aufzu- decken, also zu einer ‚natürlichen‘ Gruppierung zu gelangen, als bei dem praktischen Verfahren, welches nur auf einigen wenigen Organen sich auf- baut. Aber man gebe sich in dieser Hinsicht keiner übertriebenen Bewertung hin. Kein System ist für die Ewigkeit aufgestellt; jedes ist zur Zeit seines Erscheinens in den Augen seines Autors ein natürliches und bringt nur wirk- lich Zusammengehöriges in dieselbe Gruppe, während im Laufe der Jahre der Fortschritt der Forschung bald hier, bald dort nachweist, daß zufällige Ähnlichkeiten der Lebensweise zu einer äußerlichen Ähnlichkeit der Merk- male und damit zu einer irrtümlichen Vereinigung zweier Formen geführt haben. Der Wolf im Schafspelz wird seiner wahren Natur nach erkannt und das System bedarf dann einer Verbesserung. Auch das beste natürliche System ist daher stets nur der Ausdruck der momentanen Erkenntnis, und die Ergrün- dung des wahren Systems bleibt ein unerreichbares Ideal. Die Wahrheit dieses Satzes spricht sich namentlich darin aus, daß die phyletische Gruppie- Natürliche Systeme 105 rung um so schwieriger wird, je niedriger die Kategorien werden. In einer Klasse mag man über das Verhältnis der Ordnungen zueinander einigermaßen im klaren sein und auch die Stellung der Familien noch sicher beurteilen können. Sowie man dann zu den Gattungen vorschreitet, werden die Unterschiede ge- ringfügiger und ihre Beurteilung damit schwieriger, und sieht der Phylogene- tiker sich endlich zahlreichen Arten mit ihren meist nur unbedeutenden Ver- schiedenheiten der Färbung, Skulptur und Größe gegenüber, so hört jede Mög- lichkeit auf, den Stammbaum auch nur mit einiger Sicherheit zu konstruieren. Die Formen werden dann willkürlich so zueinander angeordnet, wie es der ana- lytischen Bestimmungstabelle entspricht. Dadurch erhält, man kann wohl sagen, jedes System einer größeren Gruppe in seinen Endästen einen ‚„künst- lichen‘‘ Anstrich, während die höheren Abteilungen sehr wohl Anspruch auf „natürliche‘‘ Anordnung machen können; es stellt ein Gemisch dar von Wahr- heit und Dichtung. Diese Auffassung wird auch von manchen andern For- schern vertreten. So setzt v. Wettstein (1898 S. 2) auseinander, daß die phy- logenetischen Beziehungen der Pflanzen zueinander so mannigfach sind und sich so vielfach durchkreuzen, daß die Übersichtlichkeit des Systems und sein logischer Aufbau dadurch leiden. Man muß daher einen Kompromiß schließen zwischen den beiden Zielen: phyletische Erkenntnis und Übersichtlichkeit. „Ein vollständiger Aufbau des Systems auf phylogenetischer Grundlage wird daher kaum zu erwarten sein, wir müssen somit zufrieden sein, wenn das Sy- stem soweit als möglich ein Spiegelbild unserer phylogenetischen Kenntnisse abgibt und müssen mit der eventuellen Notwendigkeit rechnen, phylogenetische Erfahrungen in Form des Systems selbst nicht zum Ausdruck zu bringen.‘ Zusammenfassend können wir sagen: Die übliche Unterscheidung zwischen künstlichen und natürlichen Systemen der Biologie ist nicht einwandfrei, denn jedes System gilt bei seiner Aufstellung als natürlich, erweist sich aber mit der fortschreitenden Erkenntnis als mehr oder weniger künstlich. Daher ist es rich- tiger zu unterscheiden: a) praktische (analytische) Systeme, welche nur die Hauptmerkmale hervorheben und daher zur raschen Übersicht und Bestimmung geeig- net sind; b) wissenschaftliche (synthetische) Systeme, welche die Gegen- sätze der aufgestellten Gruppen möglichst vollständig zum Ausdruck bringen. In vielen Fällen lassen sich beide Ziele zu einem kombinierten System vereinigen. Je wissenschaftlicher ein System ist, d. h. je mehr es alle Bezie- hungen (Habitus, Anatomie, Embryologie, Biologie) kritisch verwertet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß nur diejenigen Formen zu einer Gruppe vereinigt werden, welche nach ihrer wahren Verwandtschaft zusammengehören, und daß es damit dem Ideal des natürlichen Systems nahe kommt. Notwendigkeit der Stamm- bäume. 106 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere IV. Stammbäume und phylogenetische Beurteilung der systematischen Kategorien. Fragt man nun, warum jedes Geschöpf sich mit vielen andern auf Grund einer größeren oder geringeren Ähnlichkeit zu Gruppen vereinigen läßt, die als Art, Gattung, Familie usw. bezeichnet werden, so vermag nur die Abstam- mungslehre hierauf eine Antwort zu geben: der Grad der Ähnlichkeit ist ein Maßstab der Blutsverwandtschaft; je größer sie ist, desto enger ist das genea- logische Band, und je mehr die Unähnlichkeit wächst, desto weiter zurück liegt der gemeinsame Urahn. Diese Erklärung fußt auf der alltäglichen Beobach- tung, daß die Kinder ıhren Eltern und nächsten Verwandten ähnlicher sind als irgendwelchen andern Organismen, daß mit den Worten des Sprichworts der Apfel nicht weit vom Stamme fällt. Gehen wir im Geiste von einer Stammform aus, die einer früheren Erdperiode, etwa dem Cambrium oder dem Silur an- gehört, und verfolgen wir sie im Strome der Zeit, so werden die aufeinander folgenden Generationen durch den Wechsel der äußeren Faktoren allmählich immer mehr verändert: so entstehen zuerst verschiedene Arten derselben Gat- tung, darauf Vertreter verschiedener Gattungen, sodann solche verschiedener Familien, und endlich in der Gegenwart wird die Divergenz so groß, daß sie zur Aufstellung von verschiedenen Ordnungen und Klassen nötigt. So wird die wissenschaftliche Systematik einer größeren Abteilung zum Abbild ihrer natür- lichen Stammesgeschichte (Phylogenie) und erhält damit selbstverständlich einen hypothetischen Anstrich. Trotzdem ist diese Betrachtungsweise als ein ganz außerordentlicher Fortschritt anzusehen, denn in die Systematik wird da- mit ein kausales Moment eingeführt. Die Ähnlichkeit der Formen erhält ihre Erklärung durch gemeinsamen Ursprung, und die Verschiedenartigkeiten im Rahmen einer Gruppe dürfen nicht länger als einfache Tatsachen registriert werden, sondern müssen zurückgeführt werden auf Änderungen der Lebens- weise, des Klimas, der Verbreitung oder anderer physiologischer Umstände. Dadurch erfährt die Systematik eine sehr wesentliche Vertiefung, sie bringt nicht bloß Übersicht und Ordnung in die Fülle der Formen, sondern fördert das tiefere Verständnis der wichtigsten biologischen Probleme, indem sie anregt zu Forschungen und Betrachtungen über die Ursachen der Artumwandlung. Der bekannte Wiener Entomologe Brauer (1885, S. 272) schließt einen inter- essanten Aufsatz über ‚System und Stammbaum‘‘ mit den treffenden Worten: „Die Systematik ist keine veraltete Wissenschaft und etwa durch die Deszen- denzlehre verdrängt, sondern im Gegenteil durch diese verjüngt und neu belebt worden. Die Feststellung der natürlichen Verwandtschaftsgruppen ist das Ziel aller Richtungen der Zoologie.‘‘ Der erste Naturforscher, welcher die historische Bedeutung des Systems klar erkannte, war Lamarck (1809), von dem der fol- gende Satz hier zitiert sein möge (Deutsche Übersetzung der Philosophie zoolo- gique S. 20): Ein natürliches System ‚‚ist nur die vom Menschen ausgeführte Skizze des Ganges, dem die Natur bei der Schöpfung ihrer Erzeugnisse folgte‘. Lamarck ist auch der erste gewesen, welcher einen Stammbaum des Tierreichs Wert der Stammbäume 107 konstruiert hat (vgl. Hadzi, ıgıı). Im Texte der „Philosophie zoologique‘ ordnet er freilich die 14 Klassen des Tierreichs geradlinig an, zu einer ‚serie unique et gradude‘‘. Im Anhang zum 8. Kapitel aber entwirft er den ersten Lamarck. verzweigten Stammbaum, in den nur die niedrigsten Wirbellosen noch nicht eingereiht werden. Ich lasse ihn hier wegen seines historischen Interesses folgen: Vermes Infusoires Ne Polypes Annelides Insectes Radiaires. Cirrhipedes Arachnides Mollusques Crustaces. Poissons Reptils Oiseaux s __M. Amphibiens Monotremes SM. Cetaces IM. Ongules M. Ognicules. Die Systematik in diesem modernen Sinne hat daher eine doppelte Auf- gabe: erstens übersichtliche Gruppierung der bekannten Formen und zweitens graphische Darstellung der Verwandtschaftsbeziehungen nach dem derzeitigen Stande der Kenntnisse. Dem letzteren Zwecke dienen die Stammbäume, welche besser und rascher als viele Worte das phyletische Verhältnis der Gruppen er- kennen lassen. Niemand hat diese Bedeutung der Stammbäume richtiger er- kannt und sie konsequenter verwandt als E. Haeckel, welcher schon 1866!) Haeckel. (Generelle Morphologie, Kap. 24) folgendes von ihnen schrieb: „Kein anderes Bild vermag uns die wahre Bedeutung, welche die verschie- denen Kategorien innerhalb eines jeden Stammes besitzen, so treffend, klar und anschaulich zu versinnlichen, als das Bild eines weitverzweigten Baumes, dessen Äste und Zweige, nach verschiedenen Richtungen divergierend, sich zu ver- schiedenen Formen entwickelt haben. Es ist dies in der Tat der genealogische Stammbaum jedes Stammes oder Typus. Die einfache Wurzel des Haupt- stammes ist die gemeinsame Urform, aus welcher der gesamte Formenreichtum der Äste, Zweige usw. sich entwickelt hat. Die großen Hauptäste, in welche zunächst der Stamm sich spaltet, sind die Klassen des Stammes, die Äste, die aus deren Teilung hervorgehen, die Ordnungen; jede Ordnung verästelt sich wieder in mehrere Zweige, welche wir Familien nennen, und die Verästelungen dieser Zweige sind die Gattungen; die feineren Ästchen dieser Ramifikationen sind die Spezies, und endlich die feinsten Zweiglein dieser die Varietäten; die ı) A. R. Wallace bezeichnete schon in seiner ersten deszendenztheoretischen Arbeit „über das Gesetz, welches das Auftreten neuer Arten geregelt hat“ (1855), „die Analogie des verzweigten Baumes als das beste Mittel zur Verdeutlichung der Entstehung der Arten“; er hat aber dieses Mittel nie praktisch verwertet. Gegner der 'Stammbäume. Wertder Stamm- bäume. 108 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Blätter endlich, welche büschelweise an den letzten Zweigspitzen sitzen, sind die Zeugungskreise oder die physiologischen Individuen, welche diese repräsen- tieren. Die Zweige und Äste mit frisch grünenden Blättern sind die lebenden, die älteren mit den abgestorbenen welken Blättern die ausgestorbenen Formen und Formengruppen des Stammes.‘ Lamarcks Gedanke, daß das System auch zugleich der Ausdruck unserer phyletischen Auffassungen sein soll, ist nun keineswegs allgemein gebilligt wor- den. Selbst manche Anhänger der Abstammungslehre wollen nichts von einer Verquickung der Systematik und Stammesgeschichte wissen, da sie beide Dis- ziplinen für heterogen halten. Sie verlangen von der ersteren nur, daß sie alle Arten deutlich kennzeichnet und übersichtlich zusammenstellt, und sie be- trachten alle der Spezies übergeordnete Kategorien nur als Hilfsmittel zu diesem rein praktischen Zweck, wie ja auch in einer großen Bibliothek die Bücher nach Inhalt, Größe und andern Merkmalen in verschiedene Kategorien und damit in ein System gebracht werden. Sie behaupten, daß die Systematik eine exakte Wissenschaft sei, wenn sie nur zur Klassifikation diene, daß sie dann aber auch auf alle hypothetischen Erörterungen über den historischen Zusammenhang der Formen verzichten und das Konstruieren von Stammbäumen der Deszendenz- lehre überlassen müsse; und sie verweisen mit Vorliebe auf die Kristallsysteme, welche aufgestellt werden, obwohl keine genealogischen Beziehungen vorhanden sind. Gegenüber solchen Anschauungen der ‚reinen‘ Systematiker kann nicht genug betont werden, daß die Systematik ganz außerordentlich gewinnt an Erweiterung ihrer Perspektiven und an Verständnis der Tatsachen, wenn sie sich mit der Phylogenie verbündet, ja daß sie dadurch erst über das Niveau einer einfach registrierenden Disziplin zu einer Wissenschaft erhoben wird, denn das Wesen jeder Wissenschaft besteht darin, daß sie den ursächlichen Zu- sammenhang der Tatsachen aufzudecken sucht. In dieser Beziehung ist na- mentlich auf die folgenden Punkte hinzuweisen, welche klar beweisen, daß die moderne Systematik die Deszendenzlehre nicht entbehren kann, da sie nur so verständlich sind. I. Bei Varietäten, beim Generationswechsel und Polymorphismus ist der genealogische Zusammenhang verschiedener Formen häufig durch direkte Be- obachtung festzustellen und darf in solchen Fällen von dem Systematiker nicht vernachlässigt werden; dann läßt sich vernünftigerweise nichts dagegen ein- wenden, dieses selbe genealogische Prinzip in umfangreicherem Maße mit Hilfe theoretischer Schlüsse anzuwenden und alle Formen versuchsweise nach ihrer Verwandtschaft anzuordnen. 2. Nur auf diesem Wege erhalten die systematischen Kategorien (Gattung, Familie usw.) einen tieferen Sinn und werden ihrer Entstehung nach erklärt. Auf eine solche Erklärung ihrer Grundbegriffe kann die Systematik unmöglich verzichten. 3. Für die Systematik ist die Unterscheidung von Homologien und Ana- logien von größter Wichtigkeit, d. h. von Ähnlichkeiten, die in der ganzen Or- ganisation zum Ausdruck kommen und daher nur als Zeichen einer Blutsver- Systematik und Phylogenie 109 wandtschaft angesehen werden können, und solchen Ähnlichkeiten, die an ein- zelnen Organen infolge gleicher Gebrauchsweise oder gleicher äußerer Reize sich zeigen. Wer eine echte Cactee und eine cacteenartige Euphorbiacee, einen Vogel und eine Fledermaus zusammenwerfen würde, beginge einen schweren Fehler. Nur Homologien dürfen in derselben systematischen Gruppe vereinigt werden, und was als solche anzusehen ist und was nicht, darüber entscheidet die Deszendenzlehre. 4. Die Merkmale der systematischen Kategorien sind nicht selten von gar keiner oder nur von geringer biologischer Bedeutung, d. h. der systematische Wert deckt sich sehr oft nicht mit dem physiologischen. Man denke z. B. an die Kastanien der Pferde, an die Fettflosse der Salmoniden, an die eckigen Flügelumrisse der Vanessen, an, die Siebenzahl der Halswirbel der Säuger, an so manche durchgehende Eigentümlichkeiten der Färbung ganzer Familien bei Vögeln und Insekten, obwohl die betreffenden Arten unter den verschiedensten Klimaten leben. Solche durchgehende Merkmale sind nur zu verstehen als Erb- stücke desselben Urahnen.t) 5. Der ungleiche Formenreichtum der gleichen systematischen Kategorien, also die Tatsache, daß die eine rezente Gattung oder Familie Hunderte von Spezies, die andere nur einige wenige umschließt, ist nur zu verstehen unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung. 6. Dasselbe gilt für die Zwischenformen, seien es Arten, Gattungen oder Familien, welche der systematischen Einreihung Schwierigkeit bereiten, weil sie einzelne Merkmale von zwei oder mehreren Gruppen in sich vereinigen. Sie entsprechen den Stellen am Stammbaum, von denen aus mehrere divergente Äste ihren Ursprung genommen haben und sind daher besonders häufig unter Fossilien, da wir diese gewöhnlich in die rezenten Kategorien einzuordnen suchen. Wir lernten oben in den Tardigraden (Fig. ı) und in Peripatus (Fig. 2, 3) derartige Zwischenformen kennen. 7. Vom Standpunkt der Phylogenie aus ist es selbstverständlich, daß viele fossile Arten nicht in das System der rezenten Formen hineinpassen, weil sie entweder zu einer völlig ausgestorbenen Gruppe (Trilobiten) gehören oder zu einer solchen, die sich inzwischen weiter differenziert hat (Archaeopteryx). Wie man durch einen Stammbaum viele horizontale Ebenen legen kann, so besitzt auch streng genommen jede große Erdperiode ihr eigenes System, und zwar müssen gegen die Wurzeln des Stammbaums zu die Kategorien einfacher wer- den. Reptilien und Vögel, welche jetzt getrennt sind, hingen früher zusammen. Brauer (1885, S. 255) sagt in diesem Sinne mit Recht: ‚Die Zeit schafft die systematischen Kategorien, nicht die Willkür des Menschen.“ Diese Gesichtspunkte beweisen meines Erachtens klar, daß die Systema- tik außerordentlich viel verliert, wenn sie verzichtet auf die Erforschung und Darstellung des historischen Zusammenhangs der beschriebenen Arten. Von jeder größeren systematischen Abhandlung sollte man erwarten, daß sie mit ı) Näheres über den Gegensatz zwischen „Organisations‘“- und Anpassungsmerkmalen siehe in L. Plate, Selectionsprinzip usw., 4. Aufl. 1913, S. 84ff. ı1o L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere phyletischen Betrachtungen abschließt und alle zurzeit vorliegenden Beobach- tungen aus dem eigenen Untersuchungsgebiet und aus verwandten Disziplinen (Anatomie, Embryolögie) zusammenträgt und nach dieser Richtung hin prüft. Sehr mit Recht betont Döderlein (1902, a, S.4I) in einer sehr lesenswerten Abhandlung über die Korallengattung Fungia: ‚Das Endziel systematischer Forschung ist es, den lückenlosen Stammbaum der einzelnen Tiergruppen kennen zu lernen, ein Ideal, dem wir uns nähern können, das wir aber kaum für vereinzelte Tiergruppen (Verfasser denkt an Korallen) jemals wirklich er- reichen werden.“ Darstellung der Die Darstellung der Stammbäume kann in drei verschiedenen For- Stammbäume. Fig. 5. Stammbaum, Schema. l Rn. Fig.6. Stammbaum, Schema. men erfolgen: stereometrisch, durch horizontale oder durch vertikale Projek- tion. Der stereome- trische Stamm- baum ist plastischund nach Art eines wirk- lichen Baumes mit Ästen versehen, die in verschiedener Höhe entspringen und nach allen Seiten des Rau- mes sich ausbreiten. Er ist zweifellos der beste; da er abernicht gedruckt und auch nur schwer vervielfältigt werden kann, so ist er meines Wissens bis jetzt nur einmal von Sharpe konstruiert worden im Anschluß an den Fürbringerschen Stammbaum der Vögel und auf dem Budapester internationalen Ornithologen-Kongreß demonstriert worden. Eine etwas modi- fizierte Nachbildung desselben soll sich im Bremer Museum befinden. Denkt man sich einen solchen Stammbaum von oben auf die Bodenfläche projiziert, so entsteht die Horizontalprojektion (Fig. 5, 6): der zentrale Stamm sendet seine Zweige nach allen Seiten und gewährt die Möglichkeit, übersicht- lich zu zeigen, welche Gruppen rezenter Arten als zusammengehörig gedacht werden. Je näher die Formen dem zentralen Stamme stehen, um so ursprüng- licher sind sie. Beispiele dieser nicht oft gebrauchten Darstellungsform findet der Leser bei A. Reichenow, Systemat. Übersicht der Schreitvögel (Gressores). ). £: Ornith! 25,71877, Datel M.Jund'bei R. B. Sharpe, Areyiew of reeent ar- temptsto classify birds. Internat. Ornith.-Kongreß Budapest, 1891, Taf. XI, XII. Denkt man sich hingegen einen plastischen Stammbaum auf eine senkrechte Wand projiziert, so entsteht die Vertikalprojektion, welche ganz überwie- gend verwandt wird, weil an ihr besonders deutlich der Differenzierungsgrad der verschiedenen Arten durch ihren Abstand von der an der Wurzel befind- lichen Ausgangsform hervortritt. Je nachdem die Formen in Beziehung zu den verschiedenen Erdperioden dargestellt werden sollen oder es sich nur um rezente Arten handelt, sind zwei verschiedene graphische Methoden beliebt. Verschiedenartigkeit der Stammbäume Tr3 Der geologisch-paläontologische Stammbaum (Fig. 7) läßt deutlich erkennen, welche Arten das Niveau der Jetztzeit erreicht haben und welche früher aus- gestorben sind; ebenso ob eine Gruppe in einer Periode reich gegliedert war oder nur wenige Arten aufwies. Diese Konstruktion berücksichtigt gleichzeitig den genealogischen Zusammenhang und die erdgeschichtliche Verteilung der Organismen. Handelt es sich nur um rezente Arten oder um rezente und fossile ohne Berücksichtigung des geologischen Alters, so braucht man die in Fig. 8 wiedergegebene Darstellungsweise: je näher die Formen der Wurzel stehen, desto primitiver sind sie, und je mehr sie den Endästen der Krone - —_ . ..—_o — m—— _ . . oo... -zo0.... = =. ==. = -2. - mo = —n oo. Fig. 7. Stammbaum, Schema. Fig.8. Stammbaum, Schema. entsprechen, desto mehr haben sie sich von der Stammform entfernt. Ein besonders hypothetischer Zusammenhang wird durch eine Punktlinie an- gedeutet. Diese am häufigsten angewandte Konstruktion stellt nur den genea- logischen Zusammenhang der Formen dar und hat daher den Nachteil, daß sie nicht erkennen läßt, welche Arten oder Gruppen ausgestorben sind und welche noch leben. Es wäre aber verkehrt, aus diesem Grunde auf diese übersichtliche Darstellung zu verzichten, zumal viele systematische Abteilungen rezente und fossile Vertreter aufweisen. Von etwas abweichenden Darstellungsformen seien hier noch zwei genannt. Fig. 9!) zeigt nach deVries das explosionsartige Auftreten zahlreicher neuer Formen (Mutationen), welche aber neben der Stammart sich nicht zu halten ı) DiesesSchema kann auch zur Darstellung der natürlichen „Stufenleiter‘‘ dienen, welche Lamarck (1809) vertrat. Nach ihm sollen in der Natur nacheinander ı4 Klassen mit zu- nehmender ÖOrganisationshöhe aufgetreten sein, nämlich: Infusorien, Polypen, Radiaten, Würmer, Insekten, Arachniden, Crustaceen, Anneliden, Cirripedien, Mollusken, Fische, Reptilien, Vögel, Säuger. Innerhalb jeder Klasse wurden die verschiedenen Arten durch die Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse hervorgerufen, ohne daß es möglich sei, deren Stufenleiter festzustellen. Lamarck vertrat also noch nicht die Idee des Stammbaumes, sondern nur die geradlinige Stufenleiter der Klassen. Später scheint er übrigens an dieser Auffassung selbst etwas irre geworden zu sein, denn auf der vorletzten Seite seines berühmten Werkes finden wir in einem „Zusatze‘‘ eine „Tabelle der Abstammung der Tiere“ (vgl. S. 107), welche etwas an einen Stammbaum erinnert und jedenfalls nicht geradlinig verläuft ıı2 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere vermögen. Fig. IO deutet nach Döderlein (1902a, S.53) den Stammbaum der Gattung Fungia (Pilzkoralle) an, welche einen außerordentlichen Formen- reichtum aufweist. Fast alle Arten sind in eine Anzahl Varietäten gespalten, aber zwischen diesen lassen sich alle Übergänge erkennen, und daher sind solche Arten (z. B. F. fungites) selbst gig. alb. obl. rubr. nan. lata seint. M baumförmig dargestellt. Die Über- VG gänge fehlen hingegen zwischen YT den echten Arten (scabra, plana, [ en concinna usw.). Diese Lücken sind aber durch Punktreihen wiederge- X, N geben, da anzunehmen ist, daß N N BR auch hier ursprünglich Zwischen- Biennis 7 formen vorhanden waren. Döder- lein willso veranschaulichen, daß die neuen Arten ursprünglich als Varietäten, d. h. in kontinuier- Kneiffia Eu- \V lichem Zusammenhange mit der mE Y Stammform auftraten und erst durch das Auftreten scharfer Lük- ken, d.h. durch das Aussterben der Zwischenformen, zu echten Arten NY Oenothera Bau = : Reale und hypo- Die Stammbäume zerfallen in een reale und in hypothetische. Die ersteren lassen sich nur dann auf- stellen, wenn der genetische Zu- sammenhang der Formen durch direkte Beobachtung völlig sicher gestellt ist, wie dies z.B. auf an- u, ee thropologischem Gebiete für die Genealogien von Fürsten-, Adels- geschlechtern und auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik für erstklassige Zuchttiere und Kulturpflanzen häufig der Fall ist. Solche Stammbäume um- fassen immer nur wenige Generationen, und so wichtig sie für das Studium der Vererbungsgesetze sind, so gering ist ihre Bedeutung für große Probleme der Abstammungslehre. Die hypothetischen Stammbäume sind nicht zu entbehrende Hilfsmittel, um den vermuteten phyletischen Zusammenhang übersichtlich darzustellen. Wir untersuchen die Systematik, die Anatomie, die Embryologie, die geogra- phische Verbreitung oder sonstige Eigenschaften einer Gruppe und werden auf Grund dieser Daten zu der Auffassung gedrängt, daß die Arten in bestimmter Weise auseinander hervorgegangen sein müssen, z. B. daß A der Urform am nächsten steht wegen bestimmter einfacher Merkmale, während F einen hoch- entwickelten Seitenast darstellt und M ebenfalls hochdifferenziert, aber sekun- Notwendigkeit der Stammbäume 113 där durch Parasitismus vereinfacht ist. Diese Ergebnisse werden im Stamm- baum plastisch vor Augen geführt, der daher weiter nichts ist und weiter nichts sein soll als eine praktische Zusammenfassung der aus den Einzelbeobachtungen gezogenen theoretischen Schlüsse. So wenig die letzteren zu vermeiden sind, ebensowenig sind die Stammbäume zu entbehren. Es zeigt daher wenig Ver- ständnis, wenn viele Forscher gegen das Konstruieren von Stammbäumen zu Felde ziehen und es als unwissenschaftlich und überflüssig brandmarken. So schreibt z. B. Naegeli (1884, S. 339): „In ebenso unfruchtbarer Weise ist es e x 1) 2 1 [22 1) \ a } proechinata > 2 H » x = paumotensis = >on, oahensis "”* : ranulosa "N J subrepanda Mi 1 / m / H Dans a u: / rar Ä 5 en ee pe ’ .- = N ea 5, 5 SS costulata f & "ze. = e Alida ; SS [% A \ 4 N i acutidens N — corona h 1 eyclolites elegans u . —_ —[ \ horrida ctiniformis Klunzingeri Distorta \ % patella ben un Fig. 10. Stammbaum der Gattung Fungia. Nach DÖDERLEIN 1902. in neuerer Zeit Sitte geworden, einer systematischen botanischen Monographie einen Stammbaum beizufügen, wobei gleichfalls bloß die gewonnene systema- tische Einsicht ins Stammbaumliche, das Räumliche ins Zeitliche, also ein Be- griff in einen andern, mit dem er nichts zu tun, übersetzt wird.‘‘ Das ist genau so verkehrt, als wenn man einem Geographen verbieten wollte, die auf freiem Felde gemachten Beobachtungen in eine Karte einzutragen, denn diese bleibt ja trotz aller Genauigkeit ein unvollkommenes Schema der Landschaft. Zu verlangen ist natürlich, wie bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung, daß der Stammbaum auf sorgfältigen Studien beruht und daß sein theoretischer Charakter!) zugegeben wird. Man sollte daher alles vermeiden, was solche ı) Haeckel hat diesen hypothetischen Charakter seiner Stammbäume an den ver- schiedensten Stellen seiner Schriften betont. So schreibt er z. B. von ihnen im Vorworte seiner „Systematischen Phylogenie‘“: „Natürlich bleiben diese Schemata immer nur Versuche, K.d.G.IILıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 8 Schwierigkeiten der Stammbaum- konstruktion. 114 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Konstruktionen als unumstößliche Wahrheit erscheinen lassen könnte und stets betonen, daß sie nur der kurze Ausdruck der derzeitigen Kenntnisse sind. Hypothetische Zwischenformen, die häufig angenommen werden müssen, dürfen deshalb nicht mit einem lateinischen Genus- und Speziesnamen bezeichnet wer- den, weil sonst der Anschein erweckt wird, als läge ihnen eine fossile Form zu- grunde. Es ist nicht richtig, wenn Haeckel (1908) von einem ‚Prothylo- bates atavus‘‘ und einem ‚‚Pithecanthropus alalus‘‘ spricht, denn der Laie muß glauben, daß Knochenreste dieser fingierten Geschöpfe tatsächlich gefunden seien; man kann durch Worte wie ‚„Uraffe‘, ‚Archiannelid‘“, ‚Prochiton‘ klar den hypothetischen Charakter der Zwischenform hervortreten lassen. Die Schwierigkeiten in der Konstruktion von Stammbäumen fallen zusammen mit denjenigen der phylogenetischen Arbeitsmethode überhaupt. Es ist hier nicht der Ort, sie ausführlich zu schildern. Doch kann ich mir nicht versagen, hier dieWorte zu zitieren, welche Fürbringer (1888, S. 1124) in seinem mit staunenswerter Gründlichkeit geschriebenen Werke über die Verwandtschaftsverhältnisse der Vögel hierüber schreibt. Diese gol- denen Ratschläge lauten: „I. Die wichtigste Regel ist: Nichts vernachlässigen! Nur die Kombi- nation aller verschiedenen Merkmale verspricht Erfolg: die äußeren und die inneren Organe müssen herangezogen werden. 2. Viele Exemplare untersuchen, um das wirklich Konstante von den Variationen unterscheiden zu können. Jede vorschnelle Generalisierung rächt sich! Die erste Vorbedingung ist also reichliches Material! 3. Dann läßt sich der taxonomische Wert jedes Merkmals erkennen, ob es charakteristisch für die Klasse, Ordnung, Familie, Gattung oder nur für die Art ist. 4. Kein Merkmal kann alles leisten. Ein Merkmal, das für große Abtei- lungen gilt, etwa für Klassen und Ordnungen, versagt meist bei Gattungen und Arten, z. B. die Zähne. 5. Das Fehlen eines Organs ist als Zeichen der Verwandtschaft immer nur mit Vorsicht zu gebrauchen, da bei ganz verschiedenen Formen dieselben Rückbildungen eintreten können, z. B. der Crista sterni bei der heterogenen Gruppe der Ratiten. 6. Viel wichtiger sind qualitative Unterschiede, so bei Vögeln die Gestalt der Furcula, die besonderen Qualitäten der Caeca, der Syrinxmuskeln, der Penisgebilde. Diese Unterschiede sind konstanter und wichtiger als die wech- selnde Größe und Existenz der Organe. 7. Sehr wichtig ist die Beurteilung der primitiven ursprünglichen und der se- kundären Charaktere, welche pseudoprimitiv durch Rückbildung geworden sind. tiefer in die Geheimnisse der Stammesgeschichte einzudringen; sie sollen nur den Weg andeuten, auf welchem nach dem jetzigen beschränkten Zustand unserer empirischen Kennt- nisse die weitere phylogenetische Forschung wahrscheinlich am besten vorzudringen hat. Ich brauche daher hier wohl kaum die Versicherung zu wiederholen, daß ich meinen Ent- würfen von Stammbäumen und systematischen Tabellen keinen dogmatischen Wert beimesse.“ Schwierigkeiten der Stammbaumkonstruktion 115 8. Dabei kann in einzelnen Fällen die Ontogenie und die Paläontologie für die Beurteilung von Wert sein, obgleich die Antworten der Ontogenie ‚‚gar oft Rätsel“ sind. 9. Lokalisierte Merkmale haben im allgemeinen geringere phyletische Be- deutung als solche, die sich über einen großen Teil des Körpers erstrecken und von größerer funktioneller Bedeutung sind; z. B. der Schnabel der Vögel weniger als die Federfluren. Daher haben auch bei Vögeln die Stirnhöcker, Schwimmhäute, Zehenheftungen, Processus uncinati nur eine untergeordnete Bedeutung.“ V. Qualität der systematischen Kategorien: sind sie real oder abstrakt? Die Zoologen haben viel darüber nachgedacht, wie die systematischen Kategorien zu bewerten sind, ob sie nur Abstraktionen unseres Geistes darstel- len oder wirklich in der Natur existieren, und sind dabei zu sehr verschiedenen Auffassungen gelangt, die sich in der folgenden Weise zusammenfassen lassen. I. Nach Naegeli und Heincke sind diese Kategorien real. So schreibt Naegeli (1865, S. 33): „Der Schwerpunkt der naturgeschichtlichen Betrachtung liegt nicht mehr in der Spezies, sondern darin, daß jede systema- tische Kategorie als eine natürliche Einheit gefaßt wird, welche den Durch- gangspunkt einer großen entwicklungsgeschichtlichen Bewegung darstellt. Die Gattungen und höheren Begriffe sind keine Abstraktionen, sondern konkrete Dinge, Komplexe von zusammengehörigen Formen, die einen gemeinsamen Ursprung haben.‘‘ An einer anderen Stelle sagt er im gleichen Sinne: ‚Das Reale der systematischen Kategorien gründet sich auf die Deszendenz der Or- ganismen.‘‘ Von Heincke (1898, S.XC) zitiere ich folgende Sätze: ‚Nun lehrt aber die Beobachtung — und auch meine Untersuchungen bestätigen es aufs neue —, daß das organische Leben der Erde sich uns offenbart in zahlreichen, räumlich getrennten und in der Form verschiedenen Individuen, daß ferner diese Individuen ungleich verschieden sind und sich nach dem Grund und der Art dieser Verschiedenheit zu zahlreichen Gruppen steigender Ordnung ver- einigen lassen, die in der Form ebenso scharf voneinander getrennt sind, wie die Individuen selbst. Wie die Individuen real sind, so ist auch der Stamm oder die Familie, die Spezies, die Gattung usf., auch alle anderen übergeordneten systematischen Gruppen. Diese Gruppen, richtig erkannt und begrifflich so geschieden und geordnet, wie sie in der Natur bestehen, ergeben das natürliche System.‘ 2. Nach der zweiten Auffassung, welche meines Wissens nur von Haeckel vertreten wird, ist die höchste Kategorie: das Phylum (der Typus, Stamm) allein real, alle übrigen sind abstrakt. Wir finden bei ihm (1866, S. 329) die sarkastischen Worte: ‚Viele Zoologen scheinen wirklich zu glauben, daß sie in ihren Museen Urteile in Weingeist und ausgestopfte Begriffe besitzen, und ebenso scheinen viele Botaniker in dem glücklichen Wahn zu leben, daß ihre Herbarien nicht konkrete Pflanzenindividuen, sondern unter der Pflanzenpresse getrocknete Begriffe und Urteile enthalten.‘‘ Weiter S. 379: g* 116 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere „Nach unserem Dafürhalten muß jede einigermaßen in die Tiefe des Spezial- begriffs eindringende Untersuchung alsbald zu der klaren Überzeugung führen, daß die Spezies nicht minder ein bloßer Begriff, eine ideale Abstraktion waren als die höheren übergeordneten Begriffe des Genus, Familia, Ordo usw.‘‘ Da- gegen heißt es S. 393: ‚Als die einzige reale Kategorie des zoologischen und bo- tanischen Systems können wir nur die großen Hauptabteilungen des Tier- und Pflanzenreichs anerkennen, welche wir Stämme oder Phylen genannt und als genealogische Individuen dritter Ordnung erörtert haben. Jeder dieser Stämme ist nach unserer Ansicht in der Tat eine reale Einheit von vielen zusammenge- hörigen Formen, da es das materielle Band der Blutsverwandtschaft ist, welches sämtliche Glieder eines jeden Stammes vereint umschlingt. Alle verschiedenen Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen, welche zu einem solchen Stamm gehören, sind kontinuierlich zusammenhängende Glieder dieser größe- ren umfassenden Einheit und haben sich aus einer einzigen gemeinsamen Ur- form allmählich entwickelt.‘ 3. Viele Biologen aus älterer und neuerer?) Zeit — ich nenne die Botaniker Delpino (1867), Kerner v. Marilaun, Belli (1901), die Zoologen Bur- meister, Dana (1857, S. 315) und Brauer — vertreten die Ansicht, welche auch ich für die richtige halte, daß nämlich nur die Spezies als Inbegriff aller unter sich vermehrungsfähiger Individuen Realität besitzt, daß hingegen alle übrigen systematischen Kategorien abstrakt sind. So betont Burmeister (1856, Bd. I, S. 8) von der Art: „Sie allein kann gesehen, begriffen, gesammelt, in Sammlungen aufgestellt werden; alle übrigen höheren Gruppen sind bloße Begriffe, die man nach diesen oder jenen überein- stimmenden Merkmalen feststellt, deren reale Existenz aber geleugnet werden muß.‘‘ Der bekannte Wiener Entomologe Brauer (1885, S. 242 Anm.) schreibt: „Wäre die Art nicht objektiv, so könnte man nicht begreifen, warum so viele ähnliche Arten nur ausnahmsweise, und sehr entfernt stehende Arten sich nie- mals vermischen.‘“ In einer andern Arbeit (1886, S. 599) sagt er: ‚Arten sind durch Deduktion erkannte reale Gruppen zunächst blutsverwandter Indivi- duen.“ 4. Endlich sei hier auch die Meinung von L. Agassiz (1857), Claus, Bessey (I908), Jost (1908) und von Möbius (I890) verzeichnet, daß nur die’Individuen real, alle "systematischen Kategorien.aber rein abstrakt seien. Claus (Lehrbuch d. Zool., 2. Aufl. 1883, S. 1IQ) drückt dies mit den Worten aus: ‚Alle systematischen Begriffe von der Art bis zum Tier- kreis beruhen auf Zusammenfassung von übereinstimmenden und ähnlichen Eigenschaften und sind nur Abstraktionen des menschlichen Geistes‘‘?), und I) Powers (1909) hält die Art für real, geht aber auf die übrigen Kategorien nicht ein. 2) Es scheint, daß schon Lamarck ebenso gedacht hat, denn wir lesen bei ihm (1809, S.5): „Man kann ebenso versichern, daß die Natur in Wirklichkeit in ihren Erzeug- nissen weder konstante Klassen, Ordnungen, Familien und Gattungen noch auch konstante Arten gebildet hat, sondern nur Einzelwesen, die aufeinander folgen und die denen gleichen, die sie hervorgebracht haben.“ Der Satz ist aber für diese Frage nicht streng beweisend, Qualität der systematischen Kategorien 117 Jost erklärt in seinen Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, daß ‚es in der Natur keine Arten, sondern nur Individuen gäbe‘. Um aus diesem Wirrwarr der Meinungen zu einer sicheren Auffassung zu kommen, sei vorausgeschickt, daß man als ‚‚real‘‘ oder als ‚„konkret‘‘ alles das bezeichnet, was außerhalb des menschlichen Geistes existiert, eine objektive Existenz führt oder geführt hat, was also auch bleiben würde, wenn zufällig alle Menschen vernichtet würden. Ein Schiff, ein Haus, jedes einzelne tieri- sche oder pflanzliche Individuum sind real. Umgekehrt nennt man ‚abstrakt‘“ alles das, was als Begriff oder Vorstellung nur in der subjektiven, psychischen Welt vorhanden ist. Die Begriffe entstehen, indem von mehreren gleichen Ob- jekten (resp. Handlungen, Vorgängen) oder von einem einzelnen die charakte- ristischen Merkmale ‚‚abstrahiert‘‘, d. h. geistig abgeleitet und zum Bewußt- sein gebracht werden: so die Begriffe: Sonne, Haus, Wald, Straße, Individuum, Schönheit, Tugend, Lebensversicherung, deren Inhalt der Leser sich selbst klar machen kann. Der Zwiespalt der Meinungen kommt nun unter den Bio- logen dadurch zustande, daß die Worte: Art, Gattung, Familie usf. einen dop- pelten Sinn haben. Wir verstehen darunter einmal Begriffe, und diese sind selbstverständlich nur abstrakt; wenn ich von der Spezies Melolontha vulgaris in Gegensatz zu einer andern Käferart höre, so verstehe ich darunter zunächst die Summe der Merkmale, in denen alle (oder fast alle) Maikäfer-Individuen übereinstimmen und die eben den Begriff dieser Art ausmachen. Dasselbe trifft für alle höheren systematischen Kategorien: Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Phylum, Reich zu, insofern sie durch Abstraktion der Ähnlichkeiten gewonnene Begriffe sind. Das sub 4 aufgeführte Urteil einiger bekannter Zoologen ist also in diesem Sinne völlig richtig. Die Gruppenbezeichnungen Art, Gattung usw. besitzen aber noch eine andere Bedeutung, indem man an die jetzt oder früher lebenden Objekte denkt, von denen jene Begriffe abgeleitet wurden. Unter der Spezies Melolontha vulgaris verstehe ich in diesem Sinne nicht eine Summe von bestimmten Merkmalen, sondern die Träger dieser Merk- male, also die reale Grundlage des Begriffs Maikäfer, und unter der Familie der Lamellicornier werden die lebendigen oder toten Besitzer von bestimmt ge- formten Fühlern verstanden. Unsere Frage lautet dann: Werden die Gruppen von Individuen, welche als Art, Gattung, Familie usf. zusammengefaßt wer- den, noch von einem realen Bande umschlungen, welches ganz unabhängig ist von der menschlichen Betrachtung, welches auch wirken würde, wenn keine Biologen mehr existierten ? DieAntwort kannnurlauten: Einsolchesgemeinsames Band ist vorhanden zwischen den Gliedern einer Art, insofern sie sich als Zu- sammengehörige erkennen und miteinander fortpflanzen. Diese systematische denn man kann die Konstanz der Arten leugnen und doch überzeugt sein, daß es viele Arten gibt, d. h. Gruppen von Geschöpfen, die sich allein untereinander vermehren, Noch beweisender ist folgendes Zitat aus dem „Discours d’ouverture de 1806“, in dem er von der Natur sagt: „qu’elle ne connoit ni classes, ni ordres, ni genres, ni especes, malgr& le fondement que paroissent leur donner les portions de la serie naturelle que nous offrent nos collections.“ ıı8 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Kategorie ist also ganz unabhängig von der Existenz des Menschen und war in Tausenden von Vertretern vorhanden, ehe der Mensch sich aus affenähnlichen Vorfahren entwickelt hatte. Und ebenso würden die meisten jetzt lebenden Arten ruhig weiter in Deutschland leben, auch wenn dieses Land plötzlich von allen Menschen verlassen würde. Ein solches reales Band der Vermehrungs- fähigkeit oder irgendwelcher anderer vom Menschen unabhängiger Beziehung umschließt aber nicht die übrigen systematischen Gruppen, sondern gilt nur für die Art. Die Individuen einer Gattung, einer Familie oder eines Phylums besitzen nichts, woran sie sich selbst als zusammengehörig erkennen könnten. Wenn Haeckel und andere auf die gemeinsame Abstammung als auf ein reales Band hingewiesen haben, so ist zu sagen, daß dieses zur Gruppenbildung ganz ungeeignet ist, da ja alle Tiere und Pflanzen in letzter Linie von einem hypo- thetischen Urorganismus sich ableiten. Die Blutsverwandtschaft umspannt alle Lebewesen, und ob sie eine engere oder weitere ist, vermag nur der Mensch in günstigen Fällen zu beurteilen. Haeckels Behauptung, daß nur die Phylen reale Kategorien seien, weil alle Glieder eines Stammes von derselben Urform herstammten, ist daher unrichtig und hebt nicht den Hauptpunkt hervor, daß die Realität einer Gruppe begründet sein muß in ihrer Unabhängigkeit von der menschlichen Analyse. Zusammenfassend können wir sagen: Die Worte Art, Gattung, Familie usf. haben einen doppelten Sinn; sie bezeichnen einmal Begriffe von Gruppen und sind als solche wie alle Begriffe abstrakt; sie bezeichnen aber auch die realen Objekte, welche diesen Begriffen zugrunde liegen, also Individuenkomplexe, und solche Komplexe sind natürlich ebenso real, wie die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen. Diese Individuenkomplexe sind voneinander inso- fern verschieden, als derjenige Individuenkomplex einer Art völlig unabhängig ist von der menschlichen Analyse und daher objektiv in der Natur existiert, weil die Artgenossen sich als solche erkennen und sich untereinander vermehren, während die übergeordneten Individuengruppen (Gattung, Familie usf.) nicht durch sich selbst, sondern nur durch den vergleichenden und überlegenden Ver- stand des Menschen gebildet werden. In diesem Sinne ist die Art etwas Reales, während die Gattung, die Familie, überhaupt die höheren Gruppen abstrakter Natur sind. Derselbe Doppelsinn hat auch zu manchen andern Mißverständnissen und Kontroversen geführt, so wenn Haeckel (1866, II S. 402) den höheren syste- matischen Kategorien ein höheres geologisches Alter zuschreibt, während Möbius (1890, S. 850) dies bestreitet. Beide haben von ihrem Standpunkt aus recht, denn ersterer denkt an die realen Träger der Gruppenmerkmale (der Archaeopteryx mit den Merkmalen der Klasse trat früher auf als die erste Möwe mit den Merkmalen der Familie der Lariden), letzterer an die systema- tischen Begriffe, die natürlich kein verschiedenes Alter besitzen. Metaphysische Artdefinitionen IIg VI. Definitionen der Art. Es sollen an dieser Stelle nicht alle mir bekannten Definitionen!) aufge- zählt und gegeneinander abgewogen werden, sondern ich erwähne nur einige der wichtigsten, welche zu einer vertieften Betrachtung geeignet sind. Eine völlig einwandfreie, aber auch selbstverständliche Erklärung lautet: Die Art ist die Einheit des Systems. Dabei bleibt es offen, ob diese Einheit noch in weitere Untereinheiten zerfällt, wie etwa die Einheit des Zahlensystems in beliebig viele Brüche geteilt werden kann. Diese Definition befriedigt aber nicht, weil sie eine rein formale ist und über Wesen, Inhalt und Umfang der Art nichts aussagt. Die Definitionen, welche in dieser Hinsicht vollständiger sind, zerfallen in zwei Gruppen, indem die einen sich nicht freihalten von meta- physischen Elementen, während die anderen streng naturwissenschaftlich ab- gefaßt sind. Da wir im vorigen Abschnitt sahen, daß man unter ‚Art‘ bald einen abstrakten Begriff, bald eine reale Gruppe von gleichen Geschöpfen, also einen Individuenkomplex versteht, so schicke ich voraus, daß die folgenden Definitionen das Wesen der Art im letzteren Sinne zu bestimmen suchen. Da- durch gewinnen solche Urteile eine große praktische Bedeutung, indem sie bei richtiger Fassung eine Richtschnur darbieten müssen, um in zweifelhaften Fällen zu entscheiden, was zu einer Art gerechnet werden darf und was nicht. I. Artdefinitionen mit metaphysischer Grundlage. Derartige Definitionen stammen sämtlich von Gegnern der Abstammungslehre, und da sie alle ohne praktischen Wert sind, so folgt hieraus zugleich, daß eine brauchbare Auffassung auf dem Boden der Konstanzlehre nicht zu gewinnen ist. Als berühmtestes Beispiel ist die Definition von Linne& hier an erster Stelle zu nennen. Er schreibt in der Philosophia botanica $ 157: „Species tot numeramus, quot diversae formaein principiosuntcreatae“under- läutert diesen Satz dann mit den Worten: ‚Species tot sunt, quot diversas formas ab initio produxit Infinitum Ens; quae formae secundum generationis inditas leges produxere plures at sibi semper similes. Ergo species tot sunt, quot diver- sae formae s. structurae hodienum occurrunt.‘‘?) In dieser Definition werden vier Punkte hervorgehoben, von denen nur einer metaphysischer Natur ist: die Unterscheidbarkeit der Formen, die Vermehrungsfähigkeit der Artgenossen, die Konstanz ihrer Merkmale und ihr göttlicher Ursprung. Dabei gab Linn& aber die Existenz von Varietäten, die durch eine lokale Ursache bedingt seien, zu (cf. S. 125 bei varietas), ja an ver- einzelten Stellen seiner Werke werden sogar mehrere Arten von einer Urform ı) Eine Zusammenstellung der bis 1864 erschienenen Artdefinitionen findet sich in A. F. Besnard, Altes und Neues zur Lehre üher die organische Art. (Regensburg 1864 mit Literaturverzeichnis). 2) „Wir zählen so viele Arten als verschiedene Formen im Anfange erschaffen sind. Es gibt so viele Arten als im Uranfang das unendliche Wesen verschiedene Formen erzeugt hat; und diese Formen haben nach bestimmten Gesetzen der Zeugung Nachkommen produziert, welche sich immer ähnlich sind, Also gibt es so viele Arten, wie viele ver- schiedene Formen oder Strukturen heute noch vorkommen.“ ı20 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere abgeleitet. So sagt er (Species Plantarum, ed. 2, 1762/63, S. 1051) von den vier Arten der Gattung Scorpiurus: „Species hasce omnes olim ex una specie ortas esse dubium non est, nec sufficit locus harum generationi, qui tum mutatus eas redderet.‘‘t) Jenes metaphysische Element ist seit Linne von allen An- hängern der Konstanztheorie mit der Artdefinition mehr oder weniger ver- quickt worden. So nannte Dana (1857, S. 307) die Art „a specific amount or condition of concentered force defined in the act or law of creation‘, und ungefähr gleichzeitig sah L. Agassiz in der Art einen ‚‚ver- körperten Schöpfungsgedanken Gottes‘‘ und behauptete, ‚der Urzweck des Schöpfers bei Schöpfung der Tier- und Pflanzenarten war die beharrliche Er- haltung seiner eigenen Gedanken‘. Derartige Vorstellungen sind jetzt so gut wie ausgestorben. Alseineriihrerletzten Vertreter seihier noch derbis in dieacht- ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schriftstellerisch tätige Lyoner Botaniker Alexis Jordan genannt, weil dieser sich mit dem Speziesbegriff eingehend beschäftigt hat an der Hand der zahllosen erblich konstanten Unterarten von Erophila (Draba) verna. Der Schöpfer kleidet nach ihm die Materie in so viele Formen als Ideen, d.h. Möglichkeiten des Seins, vorhanden sind, und jede Art ist das Spiegelbild einer göttlichen Idee (cf. Rosen 1889). Solche an Plato anklin- gende Phantasien passen in unsere realistisch denkende Zeit nicht mehr hinein. 2. Naturwissenschaftliche Artdefinitionen. Um unnötige Wieder- holungen zu vermeiden, schicke ich diejenige Definition voran, welche ich für die zeitgemäßeste und beste halte, obwohl Darwins Worte ‚no one definition has satisfied all naturalists‘‘ gewiß auch auf sie Anwendung finden werden. Ich habe sie in meiner (Plate 1907, S. 589) Arbeit über die Cerion-Land- schnecken der Bahamas im Anschluß an Döderlein (1902, S. 411) aufgestellt und gebe sie hier mit einigen unbedeutenden Veränderungen wieder: Zu einer Art gehören sämtliche Exemplare, welche die in der Diagnose festgestellten Merkmale besitzen — wobei vorausgesetzt wird, daß die äußeren Verhältnisse sich nicht ändern —?), ferner samtliche davon abweichende! Exemplare, die-mit ihnen dureh häufig auftretende Zwischenformen innig verbunden sind, ferner alle, die mit den vorgenannten nachweislich in direktem gene- tischen Zusammenhang stehen oder sich durch Generationen fruchtbar mit-ihnen/ paaren. In dieser Definition kommen fünf verschiedene Gesichtspunkte zum Aus- druck, von denen die ersten drei morphologischer, die beiden letzten physio- logischer Natur sind: a) sichere Unterscheidbarkeit der Arten auf Grund ihrer diagnostischen Merkmale; tr) „Es ist nicht zweifelhaft, daß alle diese Arten einst aus einer Spezies entsprungen sind, und es genügt nicht für ihre Erzeugung, daß der Standort durch seine Veränderung dieselben erschaffen hätte.“ 2) Der Satz in Parenthese fehlte noch in jener Arbeit und ist hier zuerst eingeschoben worden. Ebenso hieß es dort „die in der Diagnose festgestellte Form‘. Naturwissenschaftliche Artdefinitionen 121 b) Konstanz und Gleichheit der Merkmale bei gleichbleibenden äußeren Verhältnissen; c) Einrechnung derjenigen Abweichungen, welche durch häufigere Zwi- schenformen mit den typischen Formen verbunden sind, oder d) solcher Formen, welche bei Arten mit Polymorphismus oder Genera- tionswechsel von den Hauptformen abweichen, aber mit ihnen in regel- mäßigem genetischen Zusammenhang stehen; e) fruchtbare Nachkommenschaft durch viele Generationen. Es genügt in der Regel schon eins dieser Momente, um die Zugehörigkeit von zwei etwas verschiedenen Geschöpfen zu derselben Art zu erweisen, und daher haben frühere Definitionen manchmal nur eins derselben betont. Besonders häufig sind die Gleichheit der Merkmale und die Erzeugung fruchtbarer Nach- kommen hervorgehoben worden, weil diese beiden Eigenschaften offenbar am wichtigsten sind. So die Linnesche Definition, welche oben erwähnt wurde. Auch John Ray, welcher zuerst (1693) den Artbegriff formulierte, betonte nur das morphologische Moment in dem Satze: „Welche Formen der Spezies nach verschieden sind, behalten diese ihre spezifische Natur beständig, und es entsteht die eine nicht aus dem Samen einer andern und umgekehrt.‘ Dabei war aber Ray überzeugt, daß man die Art trotzdem nicht als etwas absolut Unveränderliches auffassen dürfe, denn er schreibt weiter: ‚Daß einige Samen degenerieren und, wenn auch selten, Pflanzen erzeugen, welche von der Spezies der mütterlichen Form verschieden sind, daß es also bei Pflanzen eine Umwandlung der Spezies gibt, beweisen die Versuche“ (zitiert nach R. Burckhardt, Geschichte der Zoologie 1907, S. 69). In dem Abschnitt ‚Abstammungslehre‘‘ dieses Bandes ist gezeigt worden, daß eine sichere Artumgrenzung weder auf Grund der Konstanz der morphologi- schen Merkmale noch durch das physiologische Kriterium der Fortpflanzung möglich ist. Hier seien nur noch einige Definitionen genannt, welche zeigen, daß frühere Forscher den Schwerpunkt bald nach dieser, bald nach jener Seite gelegt haben. Daß die regelmäßige Wiederkehr derselben Merkmale bei den aufeinander folgenden Generationen die Konstanz der Lebensbedingungen voraussetzt, bringen die Definitionen von Lamarck, Haeckel und Klebs zum Ausdruck. Der geniale französische Begründer der Deszendenzlehre schreibt im Discours desl’anı XE (5.45): „Lespece est une collection d’individus semblables, que la generation perpetue dans le m&me £&tat tant que les circonstan- ges desrlewrsitwationıne chansentwpasvassez pour faire, yarier leurs habitudes, leur caractere et leur forme.‘“ Haeckel (1866, S. 359) definiert: „Die Spezies oder organische Art ist die Gesamt- heit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedin- gungen gleiche Formen besitzen und sich höchstens durch den Polymorphismus adelphischer Bionten unterscheiden‘ (adelphische Bionten = Geschwister). Da bei Kreuzung verschiedener Rassen und Varie- ı22 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere täten derselben die Gleichheit der Merkmale erheblich gestört sein kann, so schreibt der Botaniker Klebs (1905, S. 290): ,,Zu einer Spezies gehören alle Individuen, ‘die, vegetativ' oder durch Selbstbefruchtung vermehrt, unter gleichen äußeren Bedingungen viele Genera- tionen hindurch übereinstimmende Merkmale zeigen.“ Die meisten Artdefinitionen nehmen keine ausgesprochene Stellung zu der schwierigen Frage ein, wann eine etwas abweichende Form noch als Varie- tät zu der nächstverwandten Spezies gerechnet werden soll und wann sie als eigene Art aufzuführen ist. Und doch ist es unbedingt nötig, daß eine brauch- bare Definition diesen täglich wiederkehrenden Fall in klarer Weise entscheidet. Es ist das Verdienst von Döderlein (I9o2, S.4II), auf dieses Problem einge- gangen zu sein in einer Definition, von der ich selber ausgegangen bin. Er schrieb: „Zuseiner Art gehören)sämtliche Exemplare, ‚welcherderum der Diagnose festgestellten Form entsprechen, ferner sämtliche davon abweichende Exemplare, welche damit durch Zwischen- formen so innig verbunden sind, daß sie sich ohne Willkür nicht scharf davon abtrennen lassen, endlich auch alle Formen, die mit den vorgenannten nachweislich in genetischem Zusammen- hang stehen.‘ Diese Fassung bedarf meines Erachtens in zwei wichtigen Punkten der Korrektur: nächstverwandte Formen dürfen nur dann zu einer Art gerechnet werden, wenn sie durch häufig auftretende Zwischenformen verbunden sind. Es genügt nicht, wenn ab und zu ein vereinzelter Übergang, und mag er noch so innig sein, gefunden wird. Die ausführliche Erörterung dieses Punktes soll erst später (S. 128) bei Abgrenzung des Begriffs ‚Varie- tät‘“ erfolgen. Hier seien nur die zwei wichtigsten Momente angegeben, welche zu dieser Einschränkung aus praktischen Gründen zwingen. Zwei sich nahe stehende Arten besitzen nicht selten eine transgressive Variabilität,d.h. die Extreme der Variationen der einen Art greifen über auf das normale Varia- tionsgebiet der anderen, so z. B., wenn ein Sprott dieselbe Zahl der Wirbel hat wie ein Hering oder umgekehrt. Solche ‚Übergriffe‘ sind selten, kommen aber an den verschiedensten Organen vor, und wollte man wegen solcher Vorkomm- nisse den Hering und den Sprott zu einer Art zusammenziehen, so würde man das natürliche Verhältnis beider Formen nicht völlig wiedergeben, denn trotz gemeinsamen Aufenthalts findet eine wirkliche Bastardierung nie statt. Zwei- tens muß die Häufigkeit der Zwischenformen betont werden, weil bekanntlich zwischen zwei typischen Arten gelegentliche Bastarde (z. B. Nebelkrähe X Rabenkrähe, Corvus cornix x corone, Auerhahn X Birkhuhn, Tetrao uro- gallus X tetrix) vorkommen, die einen ganz innigen Übergang äußerlich vor- täuschen können. Sie sind aber immer selten und beweisen dadurch, daß die Formen sich sexuell entfremdet sind und daher als verschiedene Arten gelten müssen. Sie sind bekanntlich auch nicht dauernd untereinander fruchtbar, weshalb ich in meine Definition im Gegensatz zu Döderlein die fruchtbare Paarung aufgenommen habe, denn der Ausdruck „genetischer Zusammenhang“ Schwierigkeiten der Artdefinition 123 ist zu allgemein und wird auch angewandt, wenn eine Form auf ungeschlecht- lichem Wege (Knospung, Teilung) aus einer andern entsteht. Anderseits darf wegen der Tatsachen des ‚Generationswechsels‘‘ dieser Hinweis auf den direkten genetischen Zusammenhang nicht fehlen, denn wenn z. B. wie bei der Reblaus drei verschiedene Formen (Wurzellaus, geflügelte Sexupara, Geschlechtstiere) oder bei den Polypomedusen zwei Formen in regel- mäßigem Turnus auseinander hervorgehen, so müssen sie unbedingt zu der- selben Art gerechnet werden. Daher findet sich jener Hinweis schon in manchen älteren Definitionen. So bezeichnete Cuvier die Spezies als ‚la r&union des individus descendant l’un de l’autre et des parents communs, et de ceux, qui leur ressemblent autant, qu’ils se ressemblent entre eux“, und Claus (Grundzüge der Zoologie 1871, S. 45) nennt im An- schluß hieran die Art den „Inbegriff aller Lebensformen, welche die wesentlichen Eigenschaften gemeinsam haben, voneinander ab- stammen und sich zur Erzeugung fruchtbarer Nachkommen kreu- zen lassen‘. Asa Gray (Structural Botany, ed. 6, 1879) definiert: „The two elements of species are: I. community of origin; and 2. simi- larity of the component individuals.“ Endlich sei noch Woodward zitiert, welcher schrieb: „all the specimens or individuals, which are so much alike that we may reasonably believe them to have des- cended from a common stock, constitute a species.‘ In diesen vier Definitionen war die Betonung der gemeinsamen Abstammung überflüssig, denn sie ist selbstverständlich, wenn gleichzeitig die morphologische Gleich- heit der Artgenossen hervorgehoben wird. Das genetische Moment braucht nur hervorgehoben zu werden, wenn die Individuen einer Art sehr verschieden sind, also bei Variabilität, Polymorphismus und Generationswechsel. In allen diesen Fällen ist der genetische Zusammenhang direkt, d. h. die Verschiedenartigkeit offenbart sich in einer oder in einigen wenigen Generationen. Ein genetischer Zusammenhang kann auch zwischen verschiedenen Arten bestehen, wenn sie sich nach und nach auseinander entwickelt haben; er ist aber dann immer in- direkt, d. h. erstreckt sich über eine lange Kette von Generationen. Ein Rückblick auf das Gesagte läßt deutlich erkennen, daß eine brauchbare Artdefinition auf soverschiedenemorphologische und physiologischeVerhältnisse Bezug nehmen muß, daß sie unmöglich mit ein paar Worten aufzustellen ist. Man kann heutzutage nicht mehr mit Oken kurz und bündig sagen: ‚Was sich scharet und paaret, soll zu einer Art gerechnet werden‘ oder die Spezies mit Farlow (1898, S. 679) als ,‚a perennial succession of like in- dividuals‘‘ bezeichnen. Zweifellos ist die Art in erster Linie ein physiologi- scher Begriff, indem sie alle diejenigen Individuen umschließt, welche bei nor- malen Verhältnissen sich andauernd untereinander geschlechtlich vermehren. Der Hinweis auf die sexuelle Fortpflanzung allein genügt aber nicht, denn erstens versagt dies Moment in der Praxis bei toten Exemplaren und zweitens kann bei Protisten und niederen Metazoen die Vermehrung überwiegend un- Variation. 124 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere geschlechtlich sein. In zweiter Linie beruht die Art auf der Gleichheit der Merk- male aller Artgenossen; aber dieser Punkt bedarf ebenfalls einer Erweiterung durch den Hinweis auf Variabilität, Di-, Tri- und Polymorphismus. Schwillt eine brauchbare Artdefinition auf diese Weise notgedrungen zu einem längeren Urteil an, so wird damit der Vorteil erreicht, daß der subjektive Charakter jeder Bestimmung des Umfanges einer Art deutlich hervortritt. Wann ‚‚entspricht“ ein Exemplar noch einer Diagnose und wann nicht mehr? Wann gilt eine Zwischenform als häufig und wann als selten? Darf der „genetische Zusam- menhang‘‘ beliebig nach rückwärts auf frühere Erdepochen ausgedehnt wer- den? Die Artdefinition muß mit andern Worten durch ihre Fassung klar er- kennen lassen, daß sie die Schwierigkeiten und Zweifel nicht völlig beseitigt, denn die im Strome der Zeit sich langsam verändernde Lebewelt läßt sich nicht in starre Formeln bannen. VI. Gliederung des Artbegriffs, Der Umstand, daß die untereinander vermehrungsfähigen oder im Verhält- nis nächster Blutsverwandtschaft stehenden Geschöpfe erhebliche Unterschiede in der Gestalt, Größe, Farbe, Leistungsfähigkeit und Verbreitung zeigen können, hat zu einer komplizierten Gliederung des Artbegriffs geführt. Die Art als Ein- heit des Systems zerfällt hierdurch in über 20 Untereinheiten und wir werden zu untersuchen haben, in welchem Verhältnisse diese zueinander stehen, welche verschiedene Bedeutungen ihnen in der Literatur beigelegt werden und ob einige von ihnen aufzugeben sind, damit diese Nomenklatur wirklich nutzbringend wirkt und nicht vielmehr einen sinnverwirrenden Ballast darstellt. Folgende Ausdrücke, die ich sofort in gewisse Gruppen sondere, kommen hier in Betracht: 1. Variation 8. Somation, Modifikation 10. Rasse 2. Varietas 9. Blastovariation Schlag 3. Subspezies Mutation Stamm 4: Konspezies Fluktuation Herde 5. Formenkreis Halbrasse, Schwachrasse Familie 6. Aberratio Biotyp, Genotyp Linie 7. Forma Elementare Art, Groß-Art ı1. Formenkette I. Der Begriff Variation bezeichnet jede beliebige organische Ab- weichung von der Norm. Es ist der allgemeinste Ausdruck der deutschen Gelehrtensprache für irgendeine Abänderung, magsie groß oder klein, morpholo- gisch oder physiologisch, natürlich oder künstlich, erblich oder nichterblich, pathologisch, geographisch oder sonst irgendwie sein. Es ist sehr zu wünschen, daß das Wort nur in diesem allgemeinen Sinne angewandt wird, da ein solch weiter Begriff nicht zu entbehren ist. Daher sollten wir in den deutschen Sprachgebrauch nicht aufnehmen a) die in der englischen Sprache übliche Identifizierung: variation — variability (Variabilität). Beispiel: Darwins Buch ‚Variation of animals and plants under domestication‘‘; b) die Beschränkung des Ausdrucks auf einen speziellen Fall, wie etwa bei A. P.de Candolle (Physiologie vegetale, 1832) variation = nicht erbliche, Variation, Varietas 125 durch äußere Einflüsse bedingte Veränderung, worin ihm auch einzelne mo- derne Botaniker (Klebs, Lotsy) folgen. 2. Der Begriff Varietas (Varietät, Spielart) bezeichnet nach alther- gebrachter Ausdrucksweise eine in der freien Natur häufiger auftre- tende, gut charakterisierte und nichtpathologische Variation, z. B. die bekannte dunkle Abänderung des Kaisermantels: Argynnis paphia var. valesina. Der Terminus sollte daher nicht in anderem Sinne, z. B. bei experimentell erzeugten Abänderungen gebraucht werden, es sei denn, daß sie mit natürlichen Variationen genau übereinstimmen; auch nicht bei ganz vereinzelt auftretenden Abänderungen (Singularvariationen). Der Ausdruck varietas sagt nichts dar- über aus, ob die Variation erblich ist oder nicht, aber aus dem vielfach häufi- geren Auftreten der Varietäten wird meist — natürlich ohne zwingenden Grund — geschlossen, daß es sich um erbliche Keimplasmaänderungen handelt. Varia- tionen, die in der freien Natur sehr selten auftreten und besonders stark ab- weichen vom Typus oder gar einen pathologischen Anstrich haben, werden im Gegensatz zur Varietät als Aberration (aberratio) bezeichnet. Dieser Gegen- satz ist selbstverständlich nicht immer scharf abzugrenzen. In dem Begriff Varietät liegt auch nicht eine Beziehung zur geographischen Verbreitung, da- her kann sie dasselbe oder ein anderes Gebiet bewohnen als die Stammform. Es ist im Interesse einer präzisen Sprache zu verwerfen, wenn manche Forscher diesen Begriff in einer besonderen Weise verwenden und willkürlich einengen. Solche irrige Auffassungen sind z. B. folgende: a) varietas = erbliche Abänderung. So bei Briquet (1899, S. XVII, XXXII) im Sinne von Subspezies oder race spontan&e; fernerbei Nägeli (1884), welcher jede Varietät auf eine Veränderung des Idioplasmas zurückführt. b) varietas = nicht erbliche oder wenig erbliche Variation. Diese Auffassung finden wir bei vielen Botanikern, so bei Alexis Jordan und seinen Schülern, bei Kerner von Marilaun (1898, ILS. 435), bei Wettstein (1901, S. 13), aber auch bei einzelnen Zoologen (Ganglbauer, 1901). Die ersteren können sich hierbei auf die Autorität von Linn& (Phil. bot. $ 158) berufen, welcher definierte: ‚varietas est planta mutata a causaaccidentali climate, solo, calore, ventis etc. reducitur itaque in solo mutato. Species varietatum sunt magnitudo, plenitudo, crispatio, color, sapor, odor‘‘.!) Danach scheint es, als ob der Ausdruck Varietät ursprünglich — wie auch noch jetzt nicht selten — für die Kulturformen der Gartenpflanzen gebraucht wurde, und erst später die Bedeutung ‚natürliche Variation‘‘ angenommen hat, welche jetzt überwiegt. c) varietas = Lokal- oder Zeitform, welche nicht zusammen mit der Stammform vorkommt. Diese ganz willkürliche Auffassung vertritt Schröder (1901). ı) „Eine Varietät ist eine durch eine zufällige Ursache (Klima, Boden, Temperatur, Winde u. dgl.) veränderte Pflanze und wird daher wieder reduziert, wenn der Boden sich ändert. Zu solchen Varietäten gehören die Größe, die Füllung, Kräuselung, die Farbe, der Geschmack, der Geruch.“ Varietas. 126 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere d) varietas = degressive oder retrogressive Mutation, d. h. als erbliche Keimplasmavariation, die entweder durch den Ausfall (Degression) von Anlagen oder durch Aktivierung (Retrogression) latenter Anlagen hervor- gerufen wird. So bei de Vries und seinen Anhängern. De Vries (1906, S. 86) schreibt: ‚Die elementaren Arten entstehen durch Erwerbung vollständig neuer Eigenschaften, die Varietäten durch den Verlust vorhandener Eigenschaften oder durch die Annahme solcher Eigentümlichkeiten, die bei nahverwandten Arten bereits vorhanden sind.‘‘ Es liegt auf der Hand, daß eine solche auf dem Verhalten der hypothetischen und nur durch Kreuzungen kontrollierbaren Erbeinheiten basierte Unterscheidung praktisch sich nicht durchführen läßt. Der Begriff Varietät würde wertlos werden, wollte man ihn in dieser Weise ab- hängig machen von den zurzeit noch fast völlig unklaren Vorgängen, die sich im Keimplasma abspielen. Zur weiteren Kritik vgl. Plate 1908, S. 320. Morphologische Unterscheidungen von Art und Varietät. Wird in ganz allgemeinem Sinne jede in der freien Natur häufiger vor- kommende Variation als Varietät bezeichnet, so sind derartige Abweichungen von der Norm ungemein verbreitet und es ergibt sich daraus die für die prak- tische Systematik äußerst wichtige Frage: Wann sind solche Formen noch als Varietäten einer Art unterzuordnen und wann müssen sie als besondere Arten angesehen werden? Worin besteht das morphologische Kriterium, wenn die Probe auf die Kreuzungsfähigkeit!) bei Fossilien oder bei toten Sammlungs- exemplaren von vornherein wegfällt? Über diese Frage sind Ströme von Druckerschwärze vergossen worden, ohne daß eine Einigung unter den Syste- matikern erzielt worden wäre. Viele derselben scheinen über das Problem über- haupt nicht nachgedacht zu haben, sondern sie lassen sich unbewußt von einem systematischen ‚,Gefühl‘‘ oder von dem instinktiven Wunsche leiten, möglichst viele neue ‚Arten‘ als greifbares Ergebnis ihrer Bemühungen zu erzielen, ohne sich zu überlegen, ob die Wissenschaft hierbei gewinnt oder nicht. Soweit die Systematiker auf Grund kritischer Überlegungen vorgehen, spalten sie sich in zwei Heerlager: die einen sehen als Kriterium das Vorhandensein resp. das Fehlen von Übergängen an (= Konvergenzprinzip), die andern betonen die Größe des Unterschiedes, den morphologischen Ab- stand (= Divergenzprinzip). Nach meiner Meinung führen diese beiden Richtungen, wenn sie einseitig durchgeführt werden, in der Praxis zu unhalt- baren Konsequenzen, und da die Systematik zunächst einmal das praktische Ziel verfolgt, Ordnung und Übersicht in die Fülle der Lebewesen zu bringen, so werde ich im folgenden beide Richtungen zu einem Kompromißprinzip verschmelzen. Endlich hat es auch nicht an Versuchen gefehlt, diese Frage zu beantworten nach der Art und Weise, wie die Merkmale beider Formen sich bei Kreuzungen verhalten. ı) Läßt sich diese Probe anstellen, so ist die Unterscheidung leicht: die Bastarde von Varietäten derselben Art oder von Varietät und Stammform sind als Regel andauernd fruchtbar; Bastarde von Arten sind fast immer unfruchtbar. Unterscheidung von Art und Varietät 727 a) Das Konvergenzprinzip läßt sich auch als Prinzip der morpholo- gischen Kontinuität oder der Übergänge bezeichnen. Es besagt: die Varie- täten sind durch Übergänge (Zwischenformen) mit der zugehörigen Art ver- bunden, während Arten durch eine größere oder kleinere, aber stets deutliche Lücke voneinander getrennt sind. Dieser Standpunkt nimmt auf den ersten Blick für sich ein, da ihm, wie es scheint, ein wirklich in allen Fällen nach- weisbarer Unterschied zugrunde liegt. Daher hat die große Mehrzahl der Syste- matiker sich für ihn ausgesprochen. Ich erwähne hier z.B. Döderlein (1902, S. 402), welcher kurz und bündig sagt: „Arten unterscheiden sich von Varietäten mur dadureh,.'daß sie sich),schaärf abgrenzen lassen‘; ferner Möbius (I886, S. 257), welcher die kleine, kurze, dünnschalige Form von Nassa reticulata L. in der westlichen Ostsee und die große, dickschalige Form des Mittelmeers zu derselben Art rechnet, weil sie in der Nordsee und an der Westküste von Europa durch zahlreiche Zwischenformen verbunden sind; desgleichen rechnet Hilgendorf in seiner berühmten Abhandlung über die Umwandlung des Steinheimer obermiocänen Planorbis multiformis alle 19 For- men wegen der Übergänge zu einer Art. Die amerikanischen Ornithologen identifizieren mit Unrecht (siehe später) die Varietät mit der Subspezies und haben daher in ihrem Code of Nomenclature (1886) den Satz aufgestellt: „Forms known to intergrade, no matter how different, must be treated as subspecies and bear trinomial names; forms not known to intergrade, no matter how closely related, must be treated as full species and bear binomial names.“ Ich gebe von vornherein zu, daß obiges Prinzip, die morphologische Kon- tinuität als Kriterium der Varietäten, die Diskontinuität als Zeichen der Arten anzusehen, logisch unanfechtbar ist. Trotzdem darf man sich nicht einbilden, damit einen nie versagenden Wegweiser durch alle praktischen Schwierigkeiten gefunden zu haben; ja, eine nähere Überlegung zeigt sogar, daß diese Methode bei rigoroser Handhabung zu offenbaren Absurditäten führen kann. Folgende Verhältnisse kommen hier in Betracht. «) Der Begriff des Übergangs ist ein vager, weil wirkliche Kon- tinuität auf dem Gebiete der Morphologie nie vorliegt. Wohl lassen sich in sehr vielen Fällen Reihen aufstellen, deren Glieder von dem einen Extrem zu dem andern hinüberleiten, mag es sich nun um Größe, Gestalt, Färbung, Skulptur oder sonst etwas handeln. Aber stets wird jedes Glied einer solchen Kette um einen deutlich wahrnehmbaren Unterschied, also durch eine Lücke, von seinen Nachbarn getrennt sein, und es bleibt der subjektiven Willkür über- lassen, hierin eine Kette von Varietäten, die zusammen eine Art bilden, oder eine Kette nahverwandter Arten zu sehen. Matschie (I902) unterscheidet 34 Ginsterkatzen (Genetta), wobei ganz unbedeutende Differenzen (Grund- färbung schwärzlichgrau oder aschgrau oder weißgrau oder weiß, 7 oder 9 oder IO Schwanzringe) zu Artmerkmalen erhoben werden, während die meisten Zoologen hierin nur Übergänge sehen und dementsprechend zahlreiche Varie- täten aufstellen würden. Wie in diesem Beispiel, so in allen andern. ß) Diskontinuierliche Variationen kommen innerhalb der- ı28 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere selben Paarungsgemeinschaft gar nicht selten vor und folgen sehr oft den Mendelschen Vererbungsregeln, d. h. sie bleiben auch bei wiederholter Kreuzung unverändert und verschmelzen nicht zu einer Mittelform. Es wäre ein Unding, die schwarze Varietät des gewöhnlichen Eichhörnchens als be- sondere Art anzusehen, bloß weil sie an vielen Lokalitäten keine Übergänge mit der roten Hauptform bildet; oder die domestizierte Form der Hausmaus in eine weiße, gelbe, braune, graue und schwarze Art zu spalten, bloß weil diese Farbenvarietäten mendeln. Diskontinuierliche Variationen sind sehr häufig, kreuzen sich auch in der Natur oft genug mit Leichtigkeit mit der Hauptform und können daher nur als Varietäten derselben betrachtet werden. y) Vereinzelte Übergänge können auf transgressiver Variabili- tät gut getrennter Arten beruhen und berechtigen noch nicht, solche Formen zu einer Art zusammenzuziehen. Daher habe ich in der oben (s. S. 122) auf- gestellten Artdefinition ausgedrückt, daß die Übergänge häufig sein müssen, denn nur dann sind sie ein Beweis, daß die betreffenden Formen sich oft und leicht miteinander paaren und daher zu einer Art zu rechnen sind. Es wäre noch exakter zu sagen: damit B als eine Varietät von A und nicht als eine besondere Art anzusehen ist, müssen erstens die Über- gänge zwischen A und B häufig sein und zweitens müssen sie sich an verschiedenen Körperteilen zeigen. Die transgressive Varia- bilität äußert sich nämlich bei nahverwandten Arten nie gleichzeitig an mehre- ren Organen desselben Individuums, sondern nur an einem oder höchstens zweien, dreien. Zeigt daher nicht selten ein B-Individuum an mehreren Or- ganen ganz oder fast ganz genau die Merkmale von A, so muß die Rasse B sich häufig mit A paaren, und es kann nicht ein Fall von übergreifender Variabili- tät vorliegen. Zur Erläuterung verweise ich auf die schönen Untersuchungen von Heincke (1898) über das Verhältnis von Hering und Sprott zueinander, von denen viele Tausende studiert wurden, ohne daß man je echte Bastarde gefun- den hätte. Obwohl beide Formen häufig in demselben Schwarm vorkommen, sind sie zwei Arten, welche keine Spur von Paarungsgemeinschaft besitzen. Ihre Unterschiede sind aus folgender Liste ersichtlich: Zahl der Kiel- L | Kiel- Strahlen en Knö- Hinter- | | Zahl der |schuppen der „UPPT® | Pylorus- |cherne | Bauch- |ende des | hinter der 7. | = | | Wirbel vor der Bauch- Bauch anhänge \ Gehör- flosse Ober- Bauch- flosse blasen kiefers | Est ar> IF GRen ERREGT 07 23012 Dem EEE — | ı Hering | 50—60 28 9 11—17 22 2 hinter 5 „ reichtbis Fig. ı2| (56) al) unten") | S @| Pupille | | le, ı Sprott | 46—50 22 7 9—13 8 I vor | reicht Fig. 13| (48) 83 nicht so | en weit Unterscheidung von Art und Varietät 129 Dazu kommt der sehr wichtige biologische Unterschied, daß der Hering seine Fier am Boden anklebt, während die des Sprotts an der Oberfläche des Wassers schwimmen. Beide Arten zeigen nun natürlich mancherlei Variationen, Fig. ı1. Extreme der Variabilität bei geschlechtsreifen Heringen. Nach Heıncke. === Maximum, „.... Minimum, Fig. ı2. Junger Hering (von ı50o mm) von TeEr- SCHELLING mit Einzeich- nung einer bei Hering und Sprott gemeinsam vorkommenden Flossen- kombination. Nach Heincke. Fig. 13. Sprott von der Unterelbe mit Ein- zeichnung einer ganz ähnlichen Flossenkom- bination. Nach HeıIncke. Z | % US wie dieses z. B. für die Flossenstellung des Herings aus der Betrachtung der Fig. ıı deutlich erhellt. Die transgressive Variabilität äußert sich nun darin, daß ein Hering ein- mal in der Zahl der Wirbel oder der Kielschuppen oder in der Stellung der Rückenflosse (Fig. 12, 13) oder in sonst irgendeinem Merkmal sprottartig ge- baut sein kann und ein Sprott heringsartig. Liegt doch für die Kielschuppen hinter der Bauchflosse ein gemeinsames Variationsgebiet zwischen II—13 und für die Zahl der Wirbel bei 50. Der Sprott des Skagerraks hat ebensooft I, 2, 4 oder noch mehr Zähne wie gar keine und nähert sich damit dem Hering des Weißen Meeres mit 2—9 Zähnen. Beim Sprott der östlichen Ostsee rückt die Bauchflosse genau unter den Anfang der Rückenflosse und bei einzelnen Indi- viduen sogar noch weiter nach hinten, während umgekehrt beim Hering des Zuidersees die Bauchflosse nach vorn bis vor jene Vertikallinie sich verschieben kann. Solche Abweichungen vom Durchschnitt sind so häufig, daß die im all- gemeinen sehr guten Diagnosen der beiden Arten von Günther (im Catalogue K.d.G. III. ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 9 130 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere of Fishes) ‚auf kaum IO Prozent der Individuen genau paßten‘“, so daß die „Konstanz‘‘ der spezifischen Merkmale sich als eine Illusion erweist. Man kann nur sagen, jede Art wird durch eine Kombination gewisser Merkmale charakterisiert, wobei aber das eine oder das andere Zeichen fehlen kann. Heincke konnte nach dieser „Methode der kombinierten Merkmale“ nicht nur Hering und Sprott immer sicher unterscheiden, sondern sogar die ca. 12 Heringsrassen, denn ‚diese Kombination wird bestimmt durch die Regel, daß, wenn zwei Individuen verschiedener Spezies sich in einer oder mehreren Eigenschaften sehr nahe kommen, ja einander völlig gleichen, sie in andern Eigenschaften um so verschiedener sind‘. Mit andern Worten: die transgres- sive Variabilität schafft nie wirkliche Mittelformen an vielen Organen, sondern nähert nur ein vereinzeltes Merkmal an eine andere Art an. 0) Wenn Übergänge und Zwischenformen sehr vereinzelt vorkommen zwischen zwei Formen A und B, so können diese letzteren noch aus einem andern Grunde den Wert echter Arten haben, weil erfahrungsgemäß in der freien Natur Bastarde von Arten zuweilen beobachtet werden. So zwischen Corvus corone X cornix, Tetrao urogallus X tetrix, verschiedenen Leueiscusarten, Pleuronectes platessa x flesus. Solche Artbastarde pflegen fast immer inter- mediär auszufallen und bilden daher echte Übergänge. Trotzdem handelt es sich immer um ganz seltene, unter sich nicht fortpflanzungsfähige Ausnahmen, die nichts an der Tatsache ändern, daß die betreffenden Formen getrennte Paarungsgemeinschaften, also echte Arten bilden. Diese vier Punkte beweisen, daß das Prinzip, jeden Übergang als Varie- tät anzusehen, nicht einwandfrei ist und daß es in jedem Falle mit Vorsicht und Kritik angewendet werden muß, soll es nicht zu Unnatürlichkeiten führen. Hierzu gesellen sich noch weitere Schwierigkeiten. &) Übergänge sind oft wahrscheinlich, aber infolge unzureichen- den Materials zurzeit nicht nachweisbar. Würde der betreffende Untersucher dann sofort neue Arten aufstellen, so würde er die Wissenschaft unnötig be- lasten mit Namen, die später wieder zu kassieren resp. in Varietätsnamen um- zuändern sind. In allen solchen Fällen möge man trotz fehlender Übergänge lieber nur Varietäten schaffen, die als weniger wichtige Bezeichnungen dann solange im Gebrauch bleiben, bis auf Grund eines großen Materials die Frage entschieden werden kann. &) Bei Fossilien sind zuweilen Serien von Formen vorhanden, die kontinuierlich durch Übergänge zusammenhängen, deren Extreme aber so weit auseinanderstehen, daß sie schwerlich untereinander fortpflanzungsfähig gewesen wären, selbst wenn sie nicht durch Zeit oder Raum getrennt waren. Rechnet man also alle Formen zu einer Art, die morphologisch durch Über- gänge verbunden sind, so gerät man in Widerspruch mit dem physiologischen Gesichtspunkt, wonach nur solche Individuen zu einer Art gehören, die unter- einander fortpflanzungsfähig sind. Nach jener Auffassung zerfällt die kontinu- ierliche Kette der Lebewesen nur dadurch in verschiedene Arten, daß einzelne Glieder aussterben, und so Lücken entstehen, welche die Arten abgrenzen. Die Unterscheidung von Art und Varietät 131 Bildung der Arten würde dann von einem rein äußerlichen Moment, dem zu- fälligen Untergange gewisser Formen im Kampfe ums Dasein, verursacht werden, eine wenig befriedigende Anschauung, da sie das entscheidende Kriterium der sexuellen Affinität unberücksichtigt läßt. Aus dem Gesagten folgt: Das Kon- vergenzprinzip, welches alle durch Übergänge verbundenen For- men zu einer Art rechnen will, ist nicht einwandfrei, denn es führt vielfach zu Widersprüchen mit der physiologischen Art- begrenzung und außerdem bleibt es in vielen Fällen dem sub- jektiven Ermessen überlassen, ob eine Differenz zwischen zwei Formen als Übergang oder als Lücke zu bewerten ist. b) Das Divergenzprinzip. Wegen dieser Schwierigkeiten befürworten manche Systematiker einen andern Weg, um die Varietäten von den Arten zu unterscheiden. Sie betonen die Größe des Unterschieds, den morphologischen Abstand und sagen: Varietäten sind durch geringe, Arten durch be- trächtliche Unterschiede voneinander getrennt. So hebt Merriam (1897), eine bekannte Autorität auf dem Gebiete der amerikanischen Säuger, hervor, daß ein Untersucher meist nicht sicher weiß, ob Übergänge vorkommen oder nicht. Werden solche später gefunden, so müssen die zwei Arten zu einer zusammengezogen werden nach dem Konver- genzprinzip, und die Wissenschaft gelangt auf diesem Wege nicht rasch zu einer festen Nomenklatur. Ob ein Unterschied als klein oder als groß zu taxieren sei, darüber seien die Fachleute meist derselben Meinung ‚In my judgment forms which differ only slightly should rank as a subspecies, even if known not to intergrade, while forms which differ in definite, constant and easily recogni- ted characters should rank as species even if known to intergrade.‘‘ Ganz ähn- lich hat sich der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, Theodore Roose- velt (1897), auf Grund seiner Erfahrungen als Tierfreund und Jäger ausge- sprochen: ‚es scheint mir, daß die Bezeichnung ‚Art‘ eher die Tatsache einer weiten und wichtigen Abweichung als das zufällige Vorhandensein eines Zwi- schengliedes ausdrücken sollte‘‘, denn es ist Zufall, ob eine Zwischenform am Leben bleibt oder ausstirbt. Auch dürfe aus praktischen Gründen die Wissen- schaft nicht mit einer zu großen Zahl nahverwandter Arten belastet werden, indem man z. B. aus jeder Pumarasse eine besondere Art mache. Heinckes oben charakterisierte Methode der kombinierten Merkmale (S. 130) ge- hört ebenfalls hierher, denn zwei Arten sind hiernach durch je einen besonderen Komplex von Eigenschaften getrennt und es ist gleichgültig, ob die eine oder die andere einmal einen Übergang bildet. Es liegt auf der Hand, daß auch dieses Prinzip keine unfehlbare Richt- schnur zu liefern vermag, denn erstens dürften die Fachleute oft genug darüber verschiedener Meinung sein, ob eine morphologische Differenz als gering oder als groß anzusehen ist. Der Spezialist ist sehr geneigt, eine an sich nicht große, aber in seiner Gruppe selten vorkommende Abweichung zu überschätzen. Und zweitens läßt sich Heinckes Methode sehr oft nicht durchführen, weil die Merkmale der Formen nicht auf ihre Variationsbreite hin untersucht worden * 9 132 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere sind. Trotzdem geht das Divergenzprinzip von einem sehr richtigen Gedanken aus und es harmoniert vortrefflich mit der physiologischen Abgrenzung auf Grund der sexuellen Affinität, denn wenn zwei Formen erhebliche und an mehreren Organen auftretende Unterschiede darbieten, so sind sie in der Regel nicht mehr untereinander fortpflanzungsfähig und gehören daher zu verschie- denen Arten. Berücksichtigt man nun den richtigen Kern, welcher in diesen beiden Prinzipien vorhanden ist, so ergibt sich c) das Kompromißprinzip. Es läßt sich für den praktischen Systematiker, welcher keine Kreuzungsexperimente anstellen kann, keine Regel aufstellen, die von Fall zu Fall eine sichere, objektive Unter- scheidung zwischen Art und Varietät gestattet. Sie bleibt in jedem speziellen Falle Sache des ‚systematischen Gefühls“, d. h. der auf einer großen Formenkenntnis beruhenden Erfahrung. Um aber die subjektive Willkür mög- lichst aufzuheben und auch dem Anfänger einen Anhalt zu gewähren, kann man folgende praktische Regel aufstellen: Sind Übergänge zwischen der Hauptform A und der verwandten Form B nicht nachgewie- sen, so gilt B als Varietät, wenn die Unterschiede unbedeutend sind, als Art, wenn sie als erheblich angesehen werden. Kommen Übergänge vor, so fragt es sich, ob sie häufig und an mehreren Werkmalen.(- Varietät)soder nurvereinzelt (< Art) auftreten Im Schema: Übergänge nicht nachgewiesen, Übergänge vorhanden Unterschiede: und zwar: / \ / \ klein groß häufig vereinzelt | | | | Varietät Spezies Varietät Spezies Die Tatsache, daß Varietäten und zugehörige Arten sich morphologisch nicht scharf voneinander abgrenzen lassen, gestattet nur eine Schlußfolgerung im Sinne der Abstammungslehre: die Varietäten sind ‚beginnende Arten‘ (Darwin). d) Vererbungsregeln als Mittel zur Unterscheidung von Art und Varietät. De Vries hat die Ansicht vertreten, daß sich aus der Art der Vererbung der Merkmale feststellen lasse, ob zwei gekreuzte Formen zu der- selben oder zu verschiedenen Arten zu rechnen seien. Varietätsmerkmale sollen mendeln (vgl. Bd. I, Vererbung), d. h. in der ersten Generation einförmig sein und das Merkmal des dominanten Elters besitzen, während die zweite sich spaltet in 75 Prozent Individuen mit dem dominanten Charakter und 25 Pro- zent mit dem rezessiven. Artmerkmale hingegen sollen nicht mendeln, sondern eine Zwischenform bilden, die bald mehr nach der mütterlichen, bald mehr nach der väterlichen Seite neigt, sich aber konstant vererbt, wenn der Bastard überhaupt fruchtbar ist. Neuere Untersuchungen haben die Unhaltbarkeit dieser Ansicht gezeigt. Correns und Baur fanden bei pflanzlichen Art- Unterscheidung von Art und Varietät. Subspezies v3 bastarden, daß die Merkmale mendeln. Lang (1906, S. 27) kreuzte die Hain- und Gartenschnecke (Tachea nemoralis X hortensis), welche gewiß echte Arten sind, da sie auf derselben Lokalität vorkommen und nur äußerst selten in der Natur sich paaren, und fand, daß die Bastarde sämtlich die schwarzbraune Lippe der nemoralis erhalten, also hinsichtlich dieses Artmerkmals mendeln. Davenport (1906, S. 82/83) hat sich auf Grund seiner Experimente an Hüh- nerrassen gegen de Vries ausgesprochen. Weitere Einzelheiten über Ver- erbungslehre und Artbegriff bei Plate (1913, $ 31 und 64). 3. Der Begriff Subspezies (Unterart) wird in der biologischen Lite- ratur im folgenden Sinne gebraucht: a) bei vielen Autoren zur Bezeichnung jeder in der freien Natur vor- kommenden Variation, also gleichbedeutend mit varietas. Diese Gebrauchsweise ist zu verwerfen, weil damit nur eine Synonymie mit dem älte- ren Worte erzeugt wird. Dabei legen einige Forscher (Wettstein, 1901, S. 13) Nachdruck auf den Nachweis von Übergängen (die Nomenklaturregel der ame- rikanischen Ornithologen sagt: „forms known to intergrade, no matter how diffe- rent, must be treated as subspecies‘‘), während andere die Geringfügigkeit der Unterschiede betonen. b) AlseineUnterart,dievonderHauptartsichwenigunterscheidet, aber keine Übergänge mit ihr bildet. In diesem Sinne schreibt Döderlein (1902, S. 411): Solche Formen sind als Subspezies anzusehen, ‚‚die sich zwar sicher voneinander abgrenzen und unterscheiden lassen, die also durchaus Art- wert haben, deren Unterschiede aber so geringfügiger Natur sind, daß man sie ungern als getrennte Arten behandelt. Einer Synonymie mit dem Worte Varie- tät geht Döderlein, wie wir schon oben sahen (S. 127), dadurch aus dem Wege, daß Varietäten durch Übergänge mit der Hauptform verbunden sein sollen. Diese Begriffsbestimmung: Subspezies = Unterart ohne Übergänge, Varietas = Unterart mit Übergängen, ist logisch einwandfrei, aber unprak- tisch, weil der Begriff Varietät in dem weiten Sinne zur Bezeichnung jeder natürlichen Variation gang und gäbe ist und eine Einengung nur zu Mißver- ständnissen führen muß. c) Als lokale oder im weiteren Sinne als geographische Unterart, um eine von der Art räumlich getrennte, wenngleich meist nur wenig von ihr verschiedene Form zu bezeichnen. Man spricht dann auch wohl von einer /orma vicaria, weil sie die Art in dem betreffenden Gebiet ersetzt. In diesem Sinne ist der Begriff der Subspezies sehr wertvoll und bei der Häufigkeit der- artiger Fälle geradezu unentbehrlich. Daher ist zu empfehlen, nur dann eine Form als Subspezies anzusehen, wenn sie nicht zusammen mit der zugehörigen Art vorkommt. — Die Subspezies in diesem Sinne ist schon seit Jahrzehnten in der zoologischen Literatur im Gebrauch. So schreibt z. B. Bates in seinen berühmten ‚Contributions to an Insectfauna of the Amazonvalley‘‘ (Transact. Entomol. Soc. London (2) V, 1861, S. 353/54): „Differences in one or a few individuals in a locality where the typical form prevails, I have treated as simple varieties, others of more importance either through the increased amount Subspezies. Konspezies. Formenkreis. Aberratio, 134 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere of difference and the tendency to occur only in certain localities or through prevailing amongst all the individuals in a locality to the exclusion of the type, I have considered as local varieties or subspecies.... Local varieties again are sometimes of a slight nature, whilst at others assume forms so well defined that it is difficult to excelude them from the category of full species“. Da die Vögel im allgemeinen hinsichtlich der Systematik gut durchgearbeitet und viele geographische Formen bekannt sind, so ist die Zahl der Subspezies hier eine sehr große (vgl. Hartert, J. für Ornith. 52, 1904, S. 556). Die deutsche ornitho- logische Gesellschaft hat festgesetzt: „Lokalformen, die in so geringem Grade durch Färbung, Form und Größenverhältnisse voneinander abweichen, daß sie nach einer Diagnose ohne Zuhilfenahme von Vergleichsmaterial oder ohne Kenntnis des Fundorts nicht festgestellt werden können, sollen nicht als Spezies mit zwei Namen bezeichnet werden, sondern als Subspezies durch Anhängung eines dritten Namens an die Art, von welcher die Subspezies abgezweigt ist‘'. Darin kommt das gewiß nicht richtige Streben zum Ausdruck, nur Lokalformen mit ganz unbedeutenden Abweichungen als Subspezies anzusehen und bei etwas größerem Abstande sie sofort zu Arten zu machen, was zu einer enormen Zersplitterung und Unübersichtlichkeit führen muß. 4. Der Begriff Konspezies ist von Reichenow (I90o4) aufgestellt worden für jede ternär bezeichnete Unterart im Gegensatz zu der binären Hauptart. Zu der Hauptart Nucifraga caryocatactes gehören die Konspezies N. c. macrorhyncha, N. c. relicta, N. c. japonica. Die Konspezies ist also ein rein nomenklatorischer Begriff, der mir entbehrlich zu sein scheint. Jedenfalls ist es nicht richtig, wenn Reichenow zu seiner Empfehlung sagt, die geogra- phische Auffassung der Subspezies zwinge dazu, auch die Hauptart ternär zu be- zeichnen, also in unserem Beispiele zu schreiben: N. c. caryocatactes. Esist durch- aus nicht nötig, die Art in lauter Subspezies aufzulösen, sondern es ist prakti- scher, die am weitesten verbreitete oder auch die zuerst beschriebene Form als Hauptart anzusehen und binär zu schreiben, während nur die Subspezies einen ternären Namen erhält. Willjemand auch die Hauptart ternär schreiben, so ist dies natürlich kein Fehler, sondern nur eine häßlich klingende Überflüssigkeit. 5. Der Begriff Formenkreis, der neuerdings von ÖOrnithologen öfters gebraucht wird (s. Kleinschmidt, Der Formenkreis Falco hierofalco, in: Aquila 8, 1901, S 1—49. v. Erlanger, Kurze Betrachtungen über die Gruppe der Edelfalken, J. für Ornith. 5I, 1903, S. 289), ist streng genommen ebenfalls überflüssig, denn er bezeichnet nur die Summe aller bekannten geographischen Formen einer Art. Da aber nicht jede Art geographische Subspezies aufweist, und der Begriff der Art daher nicht identisch ist mit dem des Formenkreises, so ist gegen die Verwendung dieses letzteren Wortes nichts einzuwenden, zu- mal es ansprechend gebildet ist. 6. Als Aberratio, Abart wird nach allgemeiner Auffassung jede seltene und stark abweichende Variation bezeichnet, welche einen abnormen, in vielen Fällen sogar pathologischen Eindruck macht. So betrachtet Standfuß in seinen Schriften die Aberrationen immer als Formen, die ‚sich nicht auf den Unterkategorien der Art 135 Bahnen der normalen erdgeschichtlichen Entwicklung der Art‘ bewegen. Eine Aberration kann natürlich sein und ist dann von der Varietas nicht scharf ab- zugrenzen (z. B. Helix pomatia aberr. sinistrorsa, die linksgedrehte Weinberg- schnecke) oder ihre Entstehung künstlichen Einflüssen (Gefangenschaft, Do- mestikation, Experiment) zu verdanken. Tritt das Pathologische sehr deutlich hervor, so spricht man wohl von einer Deformatio (Mißbildung) (z. B. bei Schneckengehäusen def. scalaris, monstrosa). Über die Erblichkeit der Ab- weichung sagt der Ausdruck aberratio nichts aus. Eine abweichende und keines- falls zu billigende Auffassung des Begriffs der Aberration finde ich nur bei Schröder (1901), welcher jede mit der Stamm- oder Hauptform zusammen vorkommende Variation (z. B. alle die zahlreichen ‚Varietäten‘ des Marien- käferchens Adalia bipunktata) so bezeichnet. Er identifiziert also aberratio mit varietas, was überflüssig und unpraktisch ist. An diesem Urteil vermag auch Schröders Zusatz nichts zu ändern, nur solche Variationen als ‚aberr.‘‘ zu bezeichnen, die häufiger (bis etwa 3 Prozent) auftreten und die in phyletischer Hinsicht bedeutsam sind. Schon in dem Namen (,‚Abirrung‘‘) liegt enthalten, daß es sich um vereinzelt auftretende Veränderungen handelt. 7. Die Bezeichnung „Forma“ ist ganz allgemeiner Art und wird in der Forma. biologischen Literatur in sehr verschiedenem Sinne angewendet. Bei Pflanzen ist sie häufig synonym mit der nichterblichen ‚Modifikation‘ und wird ge- braucht, wenn eine charakteristische Gestalt durch bestimmte äußere Fak- toren regelmäßig hervorgerufen wird. In seiner Beschränkung auf Habitus- merkmale liegt der einzige Unterschied im Vergleich mit dem Begriffe ‚Modi- fikation‘‘. So sprechen die Botaniker von einer f. alpestris, f. aquatica, f. fluvia- tilis. In der Zoologie ist forma sehr oft identisch mit varietas; so wird in der Konchyliologie innerhalb der Art Limnaea stagnalis eine f. producta, ampliata, turgida und bei Helix arbustorum eine f. depressa, trochoidalis unterschieden, wobei keine Stellung zur Erblichkeitsfrage genommen wird. Ferner ist es üb- lich, bei Generationswechsel, Polymorphismus und Metamorphose die regel- mäßig innerhalb einer Art auftretenden verschiedenen Geschöpfe und Stadien als ‚formae‘‘ (abgekürzt =f.) zu bezeichnen: der Hydroid- polyp Syncoryne tubulosa erzeugt die f. Sarsia tubulosa als Meduse, der Schmet- terling Araschnia levana tritt als f. levana, f. prorsa, f. prorima in der freien Natur auf. Der Schmetterling Papilio memnon hat eine Sorte Männchen, da- gegen von Weibchen die formae achates, agenor, laomedon. Zu Taenia gehört die f. Cysticercus als charakteristische Jugendform, und der Lepus variabilis tritt in der braunen f. aestivalis und der weißen f. hibernalis auf. In dieser Gebrauchsweise entspricht der Ausdruck einem wirklichen Bedürfnis und sollte daher auch nur so verwandt werden, während man in den obigen Beispielen richtiger var. alpestris, producta schreibt. Die besprochenen Unterkategorien des Artbegriffs (Variation, Varietas, Subspezies, Konspezies, Formenkreis, Aberratio, Forma) nehmen keine Stellung zu der Frage, ob die betreffende Abänderung erblich ist oder nicht. So ergibt sich die Notwendigkeit weiterer Termini, und zwar sind in Gebrauch für ı36 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere nichterbliche Variationen: Somation, Modifikation, erbliche Rn Blastovariation, Mutation, Halbrasse, Mittel- (Schwach)rasse, Fluktuation, Rasse, Biotyp, Geno- typ, elementare Art. 8. Die Begriffe Somation, Modifikation sind im allgemeinen identisch und bezeichnen jede nichterbliche Abweichung vom Typus, die daher auch nicht im Keimplasma durch eine Anlage irgendwelcher Art vertreten ist. Solche nichterbliche Bildungen werden meist durch äußere Faktoren hervorgerufen und verschwinden wieder mit dem Aufhören derselben, wie z. B. starker Wuchs der Pflanzen bei reichlicher Düngung. Sie können aber auch von Zufälligkeiten der Ontogenie oder der anatomischen Struktur abhängen, die in keiner nach- weislichen Beziehung zu äußeren Einflüssen stehen, z. B. wenn die Furchungs- zellen einer für gewöhnlich rechts gedrehten Schnecke sich zufällig zu einer linksgedrehten Spirale anordnen und dadurch eine inverse Gestalt hervorrufen. Es ist selbstverständlich, daß auch nichterbliche Abweichungen von Genera- tion zu Generation regelmäßig auftreten können, wenn die ursächlichen Fak- toren periodisch wiederkehren. Das konstante Auftreten einer Variation in einer Anzahl von Generationen ist daher an sich noch kein sicheres Kriterium der Erblichkeit. Den Ausdruck „Somation‘ habe ich (Plate 1905, S. 206) geschaffen, weil aus seiner Bildung hervorgeht, daß damit eine nichterbliche Eigenschaft bezeichnet werden soll, denn das Soma (= Summe der Körper- zellen) steht im Gegensatz zu den Keimzellen, welche die Träger der Erbsub- stanz (Keimplasma) sind. Dieser Terminus nimmt keine Stellung zum Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften, also zu der Frage, ob eine anfangs nichterbliche Eigenschaft im Laufe der Zeit zu einer erblichen werden kann. Ein solcher Ausdruck scheint mir ein Bedürfnis zu sein, weil das Wort ‚Modi- fikation‘‘ nicht immer ausschließlich in dem genannten Sinne gebraucht wird und weil der mit ihm verbundene Sinn nicht sofort ersichtlich ist. Bei dem Ausdruck ‚„Somation‘‘ kann niemand im Zweifel sein, daß er nichterbliche Eigenschaften bezeichnet. Der Ausdruck ‚Modifikation‘ zur Bezeichnung eines somatischen mor- phologischen oder physiologischen Merkmals findet sich besonders häufig in der botanischen Literatur (vgl. Nägeli 1884, S. 1o2ff., Rümker 1889, S. 83, Fruwirth 1905, S. 148), namentlich in der Zusammensetzung „Standorts- modifikation‘“, „Ernährungsmodifikation‘“‘. Namentlich Nägeli hat scharf hervorgehoben, daß derartige Veränderungen nur so lange dauern, wie die Ursache anhält. ‚Die äußeren klimatischen und Nahrungseinflüsse be- wirken als unmittelbare Folge nur vorübergehende Veränderungen.‘‘ Von zwei ganz gleichen Samen wächst der eine auf gedüngtem Humusboden ganz anders wie der andere auf Sandboden; die von ihnen erzeugten Samen aber sind nach Nägeli gleichwertig; „sie haben von der Ungleichheit ihrer Eltern gar nichts „geerbt“, was übrigens keineswegs für alle Fälle zutrifft, da oft genug die besser ernährte Pflanze auch größere und lebenskräftigere Samen bildet. In der eng- lischen Literatur wird ‚modification‘ in demselben Sinne von vielen Autoren Erblichkeit und Artbegriff 1.37 gebraucht, so z. B. von Lloyd Morgan, Balwin, Tayler (1899). Da das Wort demnach in der Biologie schon eine ganz bestimmte Bedeutung hat, so ist es nicht zu billigen, wenn Wettstein (1901, S. 13) ihm eine andere beilegt und damit auffallende Formen bezeichnet, über deren Erblichkeit man mangels von Beobachtungen und Experimenten nichts aussagen kann. Für diese Fälle sind schon die Ausdrücke Variation und Varietät gang und gäbe. 9. Die erblichen Unterkategorien der Art: Blastovariation, Muta- tion, Halbrasse, Schwachrasse, Fluktuation, Biotyp, Genotyp, Elementare Art haben miteinander gemeinsam, daß sie in einer bestimm- ten Zusammensetzung des Keimplasmas begründet sind, wobei es zunächst gleichgültig ist, ob man sie sich morphologisch in der Form von Anlagen (Determinanten) oder chemisch-physikalisch als besondere Molekularstruktur denkt. a) Als allgemeinste Bezeichnung für eine erbliche Abänderung erscheint mir der Ausdruck Blastovariation (Plate 1908, S. 315) am zweckmäßigsten, weil aus der Bildung des Wortes seine Bedeutung klar hervorgeht und daher Mißverständnisse ausgeschlossen sind, vorausgesetzt, daß der Leser die Weis- mannschen Begriffe ‚„somatogene‘‘ und ‚„blastogene Eigenschaft‘ kennt. Er hat sich aber nicht recht eingebürgert, sondern unter dem Einfluß von de Vries ist der Terminus Mutation für jede erbliche Eigenschaft üblich geworden. b) Der Terminus Mutation ist in der Biologie schon seit vielen Jahrzehn- ten in Gebrauch und ist daher in sehr verschiedenem Sinne verwandt worden. Man kann hier unterscheiden: a) Mutation =leichte Abänderung. So bezeichnen Konchyliologen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die verschiedenen Farbenvarie- täten der Helixarten mit diesem Worte. ß) Mutation = phyletische Stadien einer Art, welche in geo- logischen Epochen aufeinander folgen. So bei den Paläontologen Waagen (1869), Neumayr (1889), Scott (1894). | y) Mutation =erbliche Variation, welche beruht auf einer plötzlichen, ‚‚stoßartigen‘ Veränderung des Keimplasmas. In diesem Sinne ist der Begriff von de Vries gebraucht worden und ist rasch zu einem Schlagworte geworden, das die Welt im Fluge erobert hat, wohl weil die meisten Biologen in der stillen Hoffnung lebten, daß uns mit dem scheinbar neuen Worte auch eine neue Erkenntnis geworden sei. Dies ist aber nicht der Fall. Die Idee einer aus ‚Anlagen‘ zusammengesetzten Erbsubstanz finden wir schon bei Darwin, Nägeli, Weismann u. a., und es ist eine einfache Konsequenz dieses Gedankens, daß die erblichen Variationen auf einer Verände- rung dieser Frbeinheiten beruhen. Ob sich diese blastogenen Veränderungen langsam vorbereiten, gleichsam entwickeln, oder plötzlich eintreten, entzieht sich der Beobachtung. Es ist aber selbstverständlich, daß jede Variation dis- kontinuierlich ist, denn sie beruht auf deutlich erkennbaren Unterschieden, die klein oder groß sein können. Die Mutation im Sinne von erblicher Varia- tion ist also kein neuer Begriff, sondern nur ein neues Wort für eine alte Sache; Mutation. Fluktuation. 138 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere da er sich aber einmal eingebürgert hat, so mag er ruhig bestehen bleiben in dieser allgemeinen Bedeutung. Richtiger wäre es freilich gewesen, diesen Be- griff zu beschränken auf die plötzlichen Habitusveränderungen nach Art der „Mutanten“ der Oenothera lamarckiana, denn auf diese ist er zuerst angewandt worden. Sie äußern sich in geringfügigen erblichen Veränderungen mehrerer bis vieler Merkmale, die immer zusammen auftreten, also korrelativ verbunden sind. Gegenwärtig aber wird das Wort Mutation von de Vries und seinen An- hängern in so verschiedenem Sinne gebraucht, daß es fast wertlos geworden ist. Betreffs einer weiteren Kritik der Mutationstheorie vgl. Plate (Selektionsprinzip, 1913, S. 384 ff.), wo auch die Ansicht zurückgewiesen ist, daß die Oenothera- Mutanten ‚elementare Arten‘ seien. Innerhalb der Mutationen sind zwei Haupt- gruppen zu unterscheiden (Plate, Vererbungslehre 1913): a) Die Idiomutationen, wenn an den Erbfaktoren des Keimplasmas selbst eine Veränderung sich vollzieht auf Grund irgendwelcher Reize. db) Die Amphimutationen (Hybrid- oder Kombinationsmutationen), wenn durch Kreuzung die elterlichen Faktoren neu kombiniert werden. Die Mendelsche Erblichkeitsforschung hat die Gesetze aufgedeckt, nach denen solche Umgruppierungen der Einheiten des Keimplasmas sich vollziehen. c) Als „Fluktuationen‘“ oder „individuelle Variationen‘ bezeich- nete Darwin solche erbliche Abänderungen, welche zufällig, ‚spontan‘, bei einigen Artgenossen auftreten und dabei das betreffende Merkmal entweder in stärkerer oder in geringerer Ausbildung zeigen. Im Gegensatz zu ihnen stehen die „‚bestimmten‘‘ Variationen, bei denen alle Individuen bei veränderter Außen- welt in der gleichen Weise abändern. Darwin unterschied unter den Fluk- tuationen wieder zwei Kategorien, nämlich erstens unbedeutende Abände- rungen, welche sehr häufig und immer vorhanden sind und das Hauptmaterial für die natürliche Zuchtwahl bilden, und zweitens bedeutende auffällige (sog. sports oder single variations), welche sehr selten sind und daher für die Artbil- dung nur eine geringe Bedeutung haben. Obwohl es sowohl aus den Beispielen wie aus den allgemeinen Gedanken Darwins klar hervorgeht, daß er nur solche Abänderungen zur ‚fluctuating variability‘‘ rechnet, welche nachgewiesener- oder angenommenermaßen erblich sind, hat doch de Vries diesem Worte eine andere, ihm diametral entgegengesetzte Bedeutung beigelegt und dadurch eine heillose Verwirrung hervorgerufen. Er versteht unter ‚„Fluktuationen‘‘ die kleinen nichterblichen Abänderungen, welche am Soma durch Gunst oder Un- gunst der Ernährung hervorgerufen werden, und die selbstverständlich auch durch Selektion nicht befestigt werden können. Die Angriffe von de Vries auf die Darwinsche Selektionstheorie beruhen daher nur auf Mißverständnissen und wären leicht zu vermeiden gewesen, wenn der holländische Botaniker die Werke des großen Naturforschers sorgfältiger studiert hätte (näheres hierüber bei Plate 1913, S. Iolif). Gegen Darwin läßt sich mit Recht einwenden, daß Fluktuationen dem Worte nach zunächst nur Schwankungen um einen Mittel- wert bedeuten, gleichgültig ob sie nichterblich oder erblich sind, und daß Dar- win und de Vries den Terminus daher nicht auf die eine Kategorie beschrän- Erbliche Unterkategorien der Art 139 ken durften. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, sollte immer betont werden, ob somatogene oder blastogene Fluktuationen gemeint sind. d) Die Ausdrücke „Halbrasse‘ und „Mittelrasse‘ sind von de Vries eingeführt worden, um geringe Grade von erblicher Konstanz zu bezeichnen. Da ‚halb‘ und ‚mittel‘ ungefähr dasselbe bezeichnen, nennt man erstere besser „Schwachrassen‘ und bezeichnet damit solche Formen, bei denen regelmäßig einige wenige Prozent der Nachkommen den Eltern gleichen, wäh- rend es bei den Mittelrassen etwa 50 Prozent sind. De Vries hat durch inter- essante Versuche gezeigt, daß dieselbe Eigenschaft (z. B. Tricotylie und Syn- cotylie bei Keimpflanzen) als Schwachrasse und als Mittelrasse bei derselben Art vorkommen kann und daß es durch Selektion nicht gelingt, die eine Stufe in die andere überzuführen. e) Die Termini Biotyp und Genotyp sind von Johannsen (1909) im Anschluß an die neueren Erblichkeitsforschungen aufgestellt worden, welche klar gezeigt haben, daß zur Erklärung der Mendelschen Regel in der Erbmasse kleinste Teilchen (Erbeinheiten, Faktoren, Determinanten, Gene) angenommen werden müssen, welche meist völlig unabhängig voneinander sind und daher in den verschiedensten Kombinationen in den Keimzellen auftreten können. Jeder Faktor löst irgendeine bestimmte erbliche Eigenschaft aus. Man be- zeichnet diese Erbeinheiten mit großen Buchstaben, ihr Fehlen (= rezessiver Zustand) mit den zugehörigen kleinen Buchstaben; ruft z. B. der Faktor C Pigmentbildung hervor, so sind die Albinos = c. Bei der Befruchtung können sich zwei gleiche Faktoren (CC, cc) vereinigen zu einem „homozygoten‘‘ Or- ganismus, oder zwei ungleiche (Cc) zu einem heterozygoten, welcher in der nächsten Generation spaltet in Individuen mit C und in solche mit c. Jede Art zerfällt (theoretisch) in so viele Biotypen als Kombinationen der ver- schiedenen Faktoren möglich sind. Sind nur zwei Faktorenpaare (Aa, Bb) vorhanden, so sind die 16 Biotypen möglich AABB, AaBB, aaBB, AABb, AaBb, aaBb usw. Da sie bezüglich der Gene differieren, so sagt man auch, sie zeigen genotypische Unterschiede und rechnet alle, welche hinsicht- lich desselben Gens gleich gebaut sind (z. B. alle mit AA, oder alle mit Aa) zu demselben Genotyp AA bzw. Aa. Die Biotypen sind natürlich entweder homozygot und züchten dann rein oder heterozygot und spalten dann in ver- schiedene Biotypen. f) Elementare Art. Die wilden Pflanzen und Tiere zerfallen vielfach in eine Anzahl homozygoter Biotypen, welche unter sich gekreuzt oder bei Selbstbefruchtung völlig konstant bleiben und insofern den gewöhnlichen Arten gleichen. So kennt man z. B. vom Hungerblümchen, Draba verna, mehrere hundert konstante Formen, welche in kleinen Unterschieden voneinander differieren. De Vries nennt solche konstante Biotypen die ‚Elementararten“ der Linneschen ‚Großart‘. Damit ist weiter nichts gesagt, als daß die be- treffende Art in erblich konstante Rassen (Sippen) gesondert ist. Er und seine Anhänger sind aber sehr im Irrtum, wenn sie behaupten, daß die Systematik von den Elementararten als den gegebenen natürlichen Einheiten auszugehen Halb-, Mittel- Tasse, Biotyp. Genotyp. Elementare Art. Rasse. 140 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere habe. Die natürliche Einheit ist die Großart, denn alle Elementararten kreuzen sich untereinander, abgesehen von den wenigen autogamen Formen. Schon aus praktischen Gründen muß die Systematik von den Großarten ausgehen, denn wohin soll es führen, wenn das Hungerblümchen und die Hausmaus in mehrere hundert ‚Einheiten‘ aufgelöst werden. De Vriesvergißt, daß die Art in erster Linie ein physiologischer Begriff ist, welcher die untereinander zeu- gungsfähigen Individuen umfaßt. 10. Das Wort „Rasse“ wird nicht immer in demselben Sinne gebraucht, sondern es lassen sich zwei Bedeutungen unterscheiden. a) Im ganz allgemeinen Sinne bezeichnet es jede Pluralvariation, d.h. jede in einer größeren Zahl von Individuen auftretende Variation, gleichgültig, ob sie ein natürliches Produkt ist oder künstlich vom Menschen hervorgerufen wurde. Die Rasse ist dann ein noch allgemeinerer Begriff als die Varietät, weil diese nur auf in freier Natur vorkommende Abänderungen angewandt wird. Ihr einzigster Gegensatz ist die Singularvariation, welche nur in einigen wenigen Individuen bekannt ist. Rasse im weitesten Sinne ist also die Summe aller in derselben Weise abgeänderten Individuen einer Art, wobei in der Regel angenommen wird, daß die Abänderung erblich ist. Ihre charakteristischen Merkmale können morphologischer oder physiologischer Natur sein (morpho- logische, physiologische Rasse). Darwin nannte sein berühmtes Werk: On the origin of species by means of natural selection or'the preservation of favou- red races in the struggle for life, um damit zu sagen, daß die erblich begün- stigten Individuen die Eltern der nächsten Generation werden. Die älteste unter den jetzt existierenden deutschen deszendenztheoretischen Zeitschriften, das von Plötz, Nordenholz und mir gegründete Archiv für Rassenbiologie, verwendet das Wort ebenfalls in diesem Sinne, und in dem einleitenden Aufsatze (1904, S. 7) hebt der zuerst Genannte hervor: ‚Eine biologische Rasse ist mit andern Worten ein Kreis von ähnlichen Lebewesen, die ähnlicher Abstammung sind und ähnliche Nachkommen liefern, die wegen ihrer Ähnlichkeit gegen die- selben äußeren Einflüsse in ähnlicher Weise reagieren, sich deshalb gegenüber zerstörenden Gewalten gegenseitig ersetzen können, und die durch alles das dahin zusammenwirken, den gesonderten Lebensstrom, den sie miteinander bilden, dauernd zu erhalten. Man kann somit kurz die biologische Rasse als die Erhaltungseinheit des Lebens bezeichnen. Das paßt für die höchsten Wesen so gut wie für die niedrigsten, für die vielzelligen Tiere wie für die einzelligen Protisten mit Konjugation und auch noch für das Bakterium ohne bisher nachgewiesene geschlechtliche Vermehrung.“ b) Im speziellen Sinne bezeichnet eine Rasse ein Erzeugnis der Kultur und wird dann auch wohl Kulturrasse (Sorte) genannt. Die Erblichkeit der Rassenmerkmale wird auch in diesem Falle stets angenommen, obwohl die Er- fahrung lehrt, daß sie nicht immer vorhanden ist. Danach zerfallen die Kultur- rassen in ‚reine‘ oder ‚konstante‘ und in ‚„unreine‘ oder ‚inkonstante‘. Es ist ein altes, fast möchte man sagen, unausrottbares Vorurteil solcher Biologen, welche sich nie mit der Praxis der Kulturorganismen beschäftigt haben, daß es Rasse, Formenkette I4I keine konstanten Kulturrassen geben soll, obwohl es zahllose Sorten von Gartenpflanzen und Haustieren gibt, die unter sich gekreuzt genau so sicher und rein ihre Eigenschaften vererben wie irgendeine wilde Art. Über die Ursachen der Inkonstanz siehe den Abschnitt über Vererbung. Die Tierzüchter unterscheiden innerhalb der Rasse wieder folgende, pro- gressiv engere Begriffe: Schlag, Stamm, Zucht (Herde), Familie, Individuum, von denen die ersten drei aber nicht immer in gleicher Weise aufgefaßt werden. Dieselben Ausdrücke (mit Ausnahme des ersten) kehren in der Pflanzenzüch- tung wieder, bei welcher in jüngster Zeit sich noch ein neuer Begriff, die „Linie“ (Johannsen 1903) eingebürgert hat, um alle von einem homozygoten Indivi- duum durch Selbstbefruchtung hervorgegangenen Exemplare zu bezeichnen. Für die Vererbungsstudien der Botaniker ist er von großer Bedeutung, während er in der Zoologie höchstens in etwas modifiziertem Sinne auf parthenogene- tische und auf ungeschlechtlich sich vermehrende Arten übertragen werden kann. 1ıI. Der Ausdruck „Formenkette“ soll bezeichnen, daß die zu einer Art gerechneten Variationen sich kontinuierlich aneinanderreihen lassen, weil die Lücken zwischen zwei benachbarten Formen sehr klein sind. Der Begriff braucht natürlich nicht ausschließlich auf den Formenumfang einer Art an- gewendet zu werden, sondern es können auch die Individuen von zwei oder mehreren Arten wenigstens in gewissen Merkmalen allmählich ineinander über- gehen; er interessiert uns hier aber nur für den häufigeren Fall innerhalb einer Art. Derartige Formenketten zerfallen in zwei Hauptgruppen und in vier ver- schiedene Kategorien. a) Künstliche Formenketten, welche dadurch zustande kommen, daß der Mensch die in der Natur zerstreut vorkommenden Individuen zu einer Reihe gruppiert. Sie sind rein-morphologisch, weil keine nachweisbare natürliche Ursache die Kontinuität der Glieder bedingt. Wenn ich 100 Exem- plare einer Art von den verschiedensten Fundorten nach ihrer Größe oder nach der Intensität ihrer Färbung oder nach irgendeinem andern Merkmal zu einer Linie. Formenkette. Reihe anordne, so erbringe ich damit nur ein Beispiel für kontinuierliche Varia- bilität, und es bleibt zunächst unentschieden, ob diese Reihe durch eine kontinu- ierlich wirkende Ursachenkette hervorgerufen wurde. b) Natürliche Formenketten, welche in der Natur schon vorgezeich- net sind, sei es durch die zeitliche, sei es durch die örtliche Aufeinanderfolge der Glieder oder gar zugleich durch beide Momente. In solchen Fällen müssen auch die natürlichen Ursachen der Kette eine kontinuierliche Reihe bilden, und dadurch erlangen derartige Beispiele ein besonders Interesse, denn es lassen sich in der freien Natur die Wirkungen nur sehr selten über viele Gene- rationen verfolgen. Solche natürliche Formenketten sind zwingende Beweise für die Entwicklungslehre, denn die allmähliche Veränderung der ganzen Ge- stalt oder einzelner Organe im Strome der Zeit ist hier über jeden Zweifel er- haben. Die hierher gehörigen Beispiele sind nicht allzu zahlreich. Hier sei nur hervorgehoben, daß sie weiter in folgende Kategorien zerfallen. &) Die vertikale paläontologische Formenkette, wenn eine Art 142 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere sich an derselben Lokalität durch verschiedene geologische Schichten in ihren phyletischen Wandlungen verfolgen läßt. Hierher gehören die Varietäten des Pla- norbis multiformis von Steinheim, die Serien von Paludinen und Melanopsiden derInsel Kos und vonWestslavonien. In solchen paläontologischen Ketten kommt die Kontinuität sowohl örtlich in der vertikalen Schichtenfolge zum Ausdruck, wie auch zeitlich, da die Schichten verschiedenen Erdperioden entsprechen. ß) Die horizontalen Formenketten zeigen dasselbe Bild in horizon- taler Richtung, indem in einzelnen Fällen die von Ost nach West oder von Nord nach Süd aufeinander folgenden Varietäten einer Art eine kontinuierliche Reihe bilden. In kleinem Maßstabe liegen derartige Beobachtungen für Re- präsentanten der verschiedensten Klassen vor, in größerem besonders von Landschnecken. Vgl. Plate (1907) über die Cerionschnecken der Bahamas. y) Die temporalen oder saisonpolymorphen Formenketten der Ceratien, Daphnien, Rotatorien und anderer Wasserbewohner, bei denen die im Laufe des Jahres auftretenden Generationen bestimmte Veränderungen in- folge der verschiedenen Wassertemperaturen erleiden. VII. Übersicht der besprochenen Unterkategorien des Artbegriffs. Sie läßt sofort erkennen, welcher Sinn mit dem betreffenden Terminus zu verbinden ist und welche Bedeutung ihm irrtümlicherweise zuweilen bei- gelegt wird. Eine allgemein verständliche Sprache ist nur möglich, wenn jedes Wort nur eine Bedeutung besitzt. Daher sollten sich alle Biologen bemühen, die folgenden Ausdrücke nur im Sinne der linken Kolonne anzuwenden. | . en . | Ta richtige Bedeutung irrtüml. oder nicht empfehlens- werte Bedeutung ı Variation (variatio) jede Abweichung vom Typus ı. Variabilität 2. nichterbliche Abänderung | Varietät (varietas) | jede in der freien Natur häufiger | ı. erbl. Variation, 2. nichterbl. auftretende und nicht patholog. | Variation, 3. degressive oder | Variation retrogressive Mutation, 4. bei pathol. Veränderungen, 5. bei ganz vereinzelten Variationen Subspezies. .... geograph. oder lokale Form Varietät Formenkreis. ... .., Gesamtheit der Subspezies einer Art MANberratloN. Fan... eine seltene, stark abweichende Varietät Variation, häufig mit patholog. Anstrich Semation....... jede nichterbliche Veränderung | Modifikation. . ... | jedenichterbl., aufStandort oderEr- | nährung zurückführbare Variation EEE Die regelmäßig innerhalb einer Modifikation Art bei Metamorphose, bei Gene- | rationswechsel und Polymorphis- | mus auftretenden charakteristischen Formen ohne Rücksicht auf Erb- lichkeit HA [©] - =) %) Übersicht der Artkategorien 143 IR irrtüml. ich hlens- | Terminus | richtige Bedeutung irrtiiml as ee en Blastovariation . . jede erbliche Variation Mutation .2...49 2. ı.jede erbliche Variation darf nicht beschränkt werden, 2. plötzliche Habitusänderungen wie | ı.nuraufSprungvariationenoder bei Oenothera 2.nur auf Schrittvariationen oder 3.nur auf geolog. Variationen. Fluktuation kontinuierliche Variationen, deren | erbliche Variationen der häufig- (indiv. Variation) | Mittelwert am häufigsten ist, wäh- sten Form bei Darwin, rend sie gegen die Extreme zu | nichterbliche Abänderungen in- immer seltener werden, gleich- folge Schwankungen der Er- gültig, ob erblich oder nichterblich. nährung bei de Vries. Schwach- (Halb-) Rassen era. erblich nur für wenige Prozent der Nachkommen NMittelrasser. 0. erblich bei zirka 50 Prozent Rasse ae. ı. jede Pluralvariation 2. Kulturprodukt von größerer oder geringerer Erblichkeit Bietyp.L. ANEN jede best. Kombination der Erb- faktoren einer Art Pine sun 2 N! alle durch Selbstbefruchtung, Par- thenogenese oder ungeschl. Ver- mehrung von einem homozygoten Individuum abstammenden Exem- plare Formenkette. .....! kontinuierliche Reihe von Varia- tionen einer Art, welche räumlich oder zeitlich getrennt sind IX. Ternäre und quaternäre Nomenklatur, Phylogenie und Nomenklatur. Da innerhalb der Art zahlreiche Unterformen unterschieden werden kön- nen, so ergibt sich hieraus die Notwendigkeit einer ternären und in einzelnen Fällen sogar einer quaternären Nomenklatur. Die ternäre Bezeichnung!) er- freut sich seit etwa fünf Jahrzehnten einer beständig wachsenden Verwendung und ist ein höchst brauchbares Mittel, um nächste Verwandtschaft bei gleich- zeitiger deutlicher Verschiedenartigkeit auszudrücken. Sie allein verhindert, daß alle erblichen Variationen als gleichwertige ‚elementare Arten‘ zu Spezies erhoben werden und damit ein Chaos von Formen geschaffen wird, welches selbst der Spezialist nicht in sein Gedächtnis aufzunehmen vermag. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat der Lyoner Botaniker Alexis Jordan dadurch Aufsehen erregt, daß er innerhalb des Hungerblümchens ı) Ab und zu (Britton 1908) taucht die Idee auf, die Untergruppen einer Art mit Nummern zu bezeichnen und etwa zu schreiben (ich zitiere nach Britton): „Oenothera biennis, Rasse 12, Bursa pastoris, Rasse 17.“ Diese Methode ist so unpraktisch, daß sie sich sicherlich nie einbürgern wird, denn Zahlen haften sehr schwer im Gedächtnis. 144 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Erophila verna 200 erblich-konstante Formen als echte Arten unterschied. De Bary und Rosen (1889) konnten die Konstanz vieler derselben durch eigene Züchtungen bestätigen und noch elf weitere ‚Arten‘ hinzufügen. Wegen dieser „pulverisation de l’espece“ hat Jordan mit Recht manches scharfe Wort zu hören bekommen (vgl. Planchon 1874). Trotzdem ist de Vries wieder in denselben Fehler verfallen, indem er jede erblich-konstante Form als ‚‚elemen- tare Art‘‘ ansieht und seine Oenothera-Mutanten binär anstatt ternär bezeich- net. Da viele Arten eine fast unübersehbar große Zahl von konstanten Varie- täten bilden können, namentlich wenn sie vom Menschen in Kultur genommen und den verschiedensten Bedingungen ausgesetzt werden, so ist die ternäre Nomenklatur das einzige Mittel, um die Übersichtlichkeit zu erleichtern und die Zusammengehörigkeit bestimmter Formen hervortreten zu lassen. Wenn ich Ibis melanocephala, Ibis aethiopica und Ibis Bernieri schreibe, so muß der Leser annehmen, daß alle drei Vögel in gleichem Maße voneinander verschieden sind; schreibe ich aber Ibis aethiopica Bernieri, so ist damit angedeutet, daß es sich um eine der aethiopica sehr nahe stehende Form handelt. In vielen Fällen ist es wünschenswert zu wissen, ob eine Unterart mit der Hauptart durch Übergänge verbunden ist oder nicht. Daher verdient der Vor- schlag von Schiebel (1906, S. 13) Beachtung, im ersteren Falle den dritten Namen in{ }zu setzen. Er schreibt z. B. Lanius excubitor Imajor) Pallas 1831. Die Übersichtlichkeit kann ferner sehr leiden, wenn bekannte Gattungen in mehrere Untergattungen zerlegt werden und nun die Namen der letzteren allein mit dem Speziesnamen geschrieben werden, wodurch also die Untergattung äußerlich zur Gattung erhoben wird. Daher verbieten die Nomenklaturregeln dieses Verfahren mit Recht. Man muß schreiben Dentalium (Fissidentalium) chuni, nicht Fissidentalium chuni. In sehr formenreichen Abteilungen, nament- lich bei Insekten, kann sogar die Unterart in weitere konstante Formen zer- legt werden, woraus sich die Notwendigkeit einer quaternären Nomenklatur ergibt. Forel (1904) erwähnt folgendes Beispiel einer äußerst formenreichen Ameisenart: Camponotus maculatus Fabr., Rasse Oertzeni For., var. Escherichi Emery. Ganglbauer (1901) unterscheidet in den Ostalpen bei Carabus alpestris die Subspecies Hoppei und Bertolinii, wobei weitere lokale Unterrassen mit einem vierten Namen belegt werden, z. B. Carabus alpestris Hoppei tyrolensis. Derselbe Entomologe gibt folgende interessante Übersicht über den Carabus concolor F., der sehr wahrscheinlich während der Tertiärzeit die Alpen be- wohnte, dann durch die Eiszeit in die gletscherfreien Täler und in die Po-Ebene gedrängt wurde und nach dieser Periode sich wieder über alle Gebirge von “Mitteleuropa ausgebreitet hat, wobei zahlreiche Unterarten und Lokalrassen entstanden, weil jede größere Berggruppe ein Isolationsgebiet darstellte So ist folgende reiche Artgliederung entstanden: Carabus concolor F. Gebirge des zentralen Mitteleuropa, der Karpathen, Alpen. A. silvestris Panz. Vogesen, Jura, Schwarzwald, Thüringer Wald, Erzgebirge, Su- deten, Böhmerwald, Allgäuer Alpen, nördl. Ostalpen. Ternäre Artbezeichnung 145 a, Haberfelneri Ganglb. Ybbstaler Alpen, Gesäuse- Alpen. a, nivosus Heer. Nord-, Zentral-, Ostschweiz, Ortler-Alpen. transsilvanicus Dej. Zentral- und Nordost-Karpathen, transsilvanische Alpen. Redtenbacheri Geh. Koralpe, Saualpe, Zirbitzkogel. . castanopterus Villa. Südl. Tessiner Alpen, Bergamasker Alpen. alpinus Dej. Östl. penninische Alpen, nördl. Tessiner Alpen. Su-BeN- e, bernhardinus Kr. Montblanc-Gruppe und westl. penninische Alpen bis zum Matterjoch. e, bernensis Born. Berner Alpen. e, mimethes Kr. Monte Rosa. „ amplicollis Kr. Val d’Andorno. oO F. cenisius Kr. Grajische Alpen, Mont Cenis. f, heteromorphus K. Daniel. Cogner Alpen. f, sturensis Born. Stura-Gebiet. f, ceresiacus Born. Alpen bei Ceres. f, fenestrellanus Beuth. Alpen bei Fenestrelle. Fairmairei Thoms, Cottische Alpen, Monte Viso. Putzeysianus Ge&h. Meer-Alpen. nn h, omensis Born. Cima dell’Omo in den cottischen Alpen. h, Zendanus Born. Col di Tenda „ „ x : h, Dedemontanus Ganglb. Ligurische Alpen. Keller (1905, 1907) hat den Versuch gemacht, unsere Haustiere ternär zu bezeichnen, um auf diese Weise die mutmaßliche Stammform anzudeuten. Er nennt den Torfhund Canis aureus palustris, weil er ihn vom Schakal, C. aureus, ableitet; den Windhund C. simensis europaeus, weil er ihn auf den abessinischen Wolf, C. simensis, zurückführt; das Steppenrind heißt Bos primi- genius podolicus, das Braunvieh Bos sondaicus brachyceros, um auf die Ab- stammung vom Ur resp. vom Banteng hinzuweisen. Der verdiente Forscher geht von dem Gedanken aus, daß die Subspezies sich immer von der Haupt- spezies ableitet, und daß diese phyletische Beziehung für die Bezeichnung der Haustiere nutzbar gemacht werden kann. Diese Abstammung der Unterart von der Hauptart trifft aber keineswegs für alle Fälle zu. Die Stammform der vielen oben aufgezählten Subspezies von Carabus concolor kann ausgestorben und gar nicht bekannt sein oder sie kann in einer jener Unterarten fortleben. Ist die Stammform bekannt, so pflegt man sie als ‚„‚typicus‘‘ ebenfalls ternär zu bezeichnen. Die dreifache Nomenklatur hat also nur systematische Bedeu- tung, sie gliedert die Art in Unterarten, ohne über deren phyletisches Verhält- nis an sich etwas auszusagen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß in manchen Fällen von der Hauptart die Unterart abstammt, aber es braucht nicht der Fall zu sein und darf aus der ternären Bezeichnung an sich nicht gefolgert werden. Der phyletische Gesichtspunkt ist gewiß äußerst wichtig, aber es hat nichts zu tun mit der wissenschaftlichen Namengebung; andernfalls würde dieser eine höchst lästige Fessel angelegt werden, denn man müßte konsequenterweise jede Form, die sich von einer Subspezies ableitet, quaternär benennen, also den Stammbaum in den Namen legen, was höchst unpraktische Folgen hätte. — Ein zweiter Einwand gegen Keller ergibt sich aus der großen Unsicherheit K.d.G.IIl.ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. Io 146 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere über die Herkunft vieler Haustierrassen, über die man sich nicht einfach hin- wegsetzen kann, solange die Spezialforscher (z. B. für Hunde Keller und Studer) entgegengesetzte Meinungen vertreten und solange bei primitiven Völkern immer noch neue Rassen gefunden werden, deren Zurückführung auf eine Wildform dunkel bleibt. Es ist also gegenwärtig wohl noch verfrüht, die wissenschaftlichen Namen der Haustiere mit theoretischen Vorstellungen zu verquicken, die vielleicht binnen kurzem sich erheblich ändern. — So komme ich zu dem Schlusse, daß man vor der Hand von einer definitiven lateinischen Benennung der Haustiere überhaupt noch absehen soll, da tatsächlich kein Be- dürfnis hierfür vorliegt. Ob ich sage ‚„‚podolisches Rind‘‘ oder Bos primigenius podolicus, Rouenente oder Anas boschas rouensis ist gleichgültig. Will man latei- nische Bezeichnungen verwenden, so empfehlen sich immer noch die alten Linneschen Adjektive famtliaris, domesticus, denn sie lassen wenigstens klar erkennen, daß es sich um eine Kulturform handelt, während bei Bos sondaicus africanus (Sangarind) niemand zunächst weiß, ob es sich um eine wilde geogra- phische Rasse (Subspezies) oder um ein Haustier handelt. Hilzheimer (1908) möchte jede Haustierrasse (im Sinne der Züchter) binär (z. B. Schweißhund Canis sanguinis, Braunvieh Bos bruneus) und die Unterrassen ternär bezeichnen, was zu einer riesigen, nur dem Spezialisten verständlichen Nomenklatur führen würde. Neuerdings hat auch der Botaniker F. E. Clements (1908) den Vorschlag gemacht, den phyletischen Gesichtspunkt bei der ternären Bezeichnung zu be- rücksichtigen. Die Unterart soll, wenn sie eine Standortsanpassung ist, mit der Endung as bezeichnet werden (scias Schattenform, helias Sonnenform, xeras Trockenform, hydias Feuchtigkeitsform); bei Mutanten soll die charak- teristische Eigenschaft die Vorsilbe ‚‚per‘‘ erhalten: Aquilegia coerulea peralba. Demgegenüber ist zu betonen: es ist Sache des Textes, die experimentell er- kannte oder hypothetisch erschlossene Abstammung zu schildern und in diesem Falle zu beweisen, daß peralba aus coerulea hervorgegangen sein muß und nicht coerulea aus peralba. Aus dem Namen an sich darf dieser Schluß nicht ge- zogen werden. Gerade die de Vriesschen Versuche haben gezeigt, wie vor- sichtig man in dieser Hinsicht sein muß. Er erhielt aus Oenothera lamarckiana die Mutanten gigas, albida, oblonga, rubrinervis, nanella, lata, scintillans, aber aus jeder dieser Mutanten konnten auch alle übrigen und die angebliche Stammform lamarckiana gezüchtet werden, ein Beweis, daß die phyletischen Beziehungen nicht sicher festzustellen sind und daher auch im Namen nicht festgelegt werden dürfen. X. Verschiedenheit der diagnostischen Merkmale der Arten und Unterarten. Wir haben schon oben (S. 95) betont, daß jedes Merkmal, welches bei einer Art oder Unterart konstant auftritt und nur ihr zukommt, geeignet ist, in die ‚Diagnose‘ aufgenommen zu werden, denn diese besteht aus einer Zu- sammenstellung der wichtigsten Erkennungszeichen. Es liegt auf der Hand, daß die diagnostischen Merkmale möglichst auffällig und einer genauen Be- Verschiedenheit der Diagnosen 147 schreibung zugänglich sein müssen. Daher sind makroskopische Charaktere den mikroskopischen vorzuziehen, äußerlich sichtbare solchen der inneren Ana- tomie, dauerhafte und auch nach dem Tode erkennbare Eigentümlichkeiten (z. B. des Skeletts, des Balges, des Chitinpanzers) solchen, die nur am lebenden Geschöpf nachzuweisen sind, und ganz allgemein alle genau meßbaren und wägbaren Merkmale solchen, die wie Farben, Gerüche oder physiologische Re- aktionen nur schwer exakt beschrieben werden können. Dieser reiche Inhalt der Diagnosen wird den verschiedensten Forschungs- gebieten entlehnt und zwar der Morphologie, der Physiologie und der Ökologie, wobei ich unter der letzteren Bezeichnung alle Beziehungen eines Lebewesens zu seiner Außenwelt verstehe, die von dem ganzen Organismus als einer ein- heitlichen Individualität ausgehen. Während die Physiologie das Verhalten der einzelnen Organe zur Außenwelt und ihr Zusammenwirken zur Erhaltung des Lebens untersucht und gleichsam das einzelne Geschöpf losgelöst von seiner Umgebung betrachtet, stellt die Ökologie gerade umgekehrt die tausendfachen Fäden fest, welche jede Art mit den Besonderheiten ihres Wohnorts und Ver- breitungsgebiets verbinden. Hierhin gehören also die Beziehungen zum Klima, zu den andern Arten der Tier- und Pflanzenwelt (Symbiose, Parasitismus), die Schutzmittel im Kampf ums Dasein, Wanderungen, Brutpflege, vereinzelte oder gesellige Lebensweise, besondere Lebensgewohnheiten und vieles andere. Die Physiologie sucht die Maschinerie, das Spiel der chemischen und physi- kalischen Kräfte, in dem einzelnen Individuum zu verstehen, die Ökologie!) die Stellung jeder Art im Haushalte der Natur. Diese Unterscheidung ist nicht in jedem Falle streng durchzuführen — der Winterschlaf läßt sich z. B. rein physiologisch oder auch ökologisch in seiner Abhängigkeit vom Klima und Wohnort beurteilen, und ich kann das Gift einer Giftdrüse studieren vom che- mischen Standpunkte oder als Waffe im Kampfe gegen andere Organismen —, aber sie ist trotzdem durch die Fülle der Tatsachen geboten. So ergibt sich die Frage nach dem Wertverhältnis der morphologischen, physiologischen und öko- logischen Merkmale für die Unterscheidung der Arten und Unterarten. ı) Statt Ökologie und ökologisch sagen viele Forscher „Biologie“ und „biologisch‘“, was natürlich leicht zu Mißverständnissen führen kann. Haeckel (1866) nennt „die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt“ die „Ökologie“, trennt aber hiervon die Lehre von der räumlichen Verbreitung als „Chorologie“ ab. Der Ausdruck „Ökologie“ hat sich noch nicht recht eingebürgert, wohl wegen seiner etymologischen Ableitung (ofxos, Haus). In der englischen Literatur begegnen wir häufig der Bezeichnung „Bionomie‘“. Ein recht guter Ausdruck ist ferner „Ethologie“ (Dahl; von Eos, Gewohnheit, Sitte, Brauch), denn er gibt die Vielseitigkeit der Beziehungen am besten wieder; leider hat er bis jetzt sehr wenig Anwendung gefunden. Die Ökologie läuft natürlich in der Hauptsache auf eine Schilderung von Anpassungen hinaus, umschließt aber auch viele gleichgültige oder gar schädliche Lebensgewohnheiten. — Es scheint zweck- mäßig, diese Begriffe in der folgenden Weise gegeneinander abzugrenzen: Ökologie oder Ethologie = Lehre von den Beziehungen eines Organismus zu seiner natürlichen Umgebung. Chorologie=Biostratigraphie + Biogeographie (vertikale und horizontale Verbreitung). Bionomie = Ökologie (Ethologie) + Chorologie. Vergl. hierzu L. Dollo 1909, S. 422; G. Schlesinger 1910, S. 614; O. Abel ıgı2, S. 15. Io 148 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere a) Die morphologischen Erkennungszeichen nehmen zweifellos innerhalb der praktischen Systematik die erste Rangstufe ein, weil sie allein auch nach dem Tode am konservierten Geschöpf nachweisbar sind. Daher hat die Paläontologie es ausschließlich mit morphologischen Diagnosen zu tun, es sei denn, daß man das stratigraphische oder das geographische Vorkommen zu den spezifischen Eigenschaften rechnet. Die morphologischen Merkmale können der Haut (Bälge, Felle, Chitinhülle, Schalen) oder auch seltener den inneren Organen, namentlich dem Skelett, eventuell bei niederen Tieren sogar der Histologie entnommen sein. Sie beziehen sich entweder nur auf fertige Lebewesen oder daneben auch auf frühere Stadien (Eier, Embryonen, Larven). Ganz allgemein läßt sich behaupten, daß die äußerlich sichtbaren Organe der Tiere schon aus dem Grunde zur Diagnose besonders geeignet sind, weil sie viel veränderlicher sind als die inneren. Nah verwandte Arten sind häufig nur an solchen Differenzen der Hautskulptur, der Färbung, der Hautanhänge, der Schalen, der Sinnesorgane zu unterscheiden, während sie in deninneren Organen gleich oder fast gleich gebaut sind. Für die Chitonen (Plate 1901, S. 536) konnte ich zeigen, daß dieser Satz auch innerhalb einer Art gilt und daß die individuellen Variationen sich besonders an den äußeren Organen zeigen, was vermutlich darin begründet ist, daß diese von dem beständigen Wechsel der äußeren Faktoren in erster Linie getroffen werden. Für die Nematoden behaup- tet E. Martini (Subcuticula und Seitenfelder einiger Nematoden, Z. f.wiss. Zool. 1908, 5.230), daß bei den erwachsenen Tieren Organsysteme vorkommen, ‚‚die innerhalb derselben Gattung Zelle für Zelle übereinstimmen‘. Selbst Arten aus verschiedenen Gattungen sind gar nicht selten an inneren Organen nicht zu erkennen. Soist es z.B. nicht möglich, einen Löwen- und einen Tigerschädel zu unterscheiden, und manche Gattungen von Dentalien haben dieselbe Radula. Trotzdem sich das morphologische Bild einer Art immer mehr vertiefen läßt, je mehr Individuen genau untersucht werden, gelingt es doch nie, eine Diagnose aufzustellen, welche für alle geschlechtsreifen Individuen gilt, son- dern dies ist nur möglich für den Durchschnitt. b) Physiologische Merkmale spielen gegenwärtig bei der Unterschei- dung der Arten und Unterarten eine sehr untergeordnete Rolle, obwohl es zweifellos ist, daß sie in derselben Fülle und Verschiedenartigkeit vorhanden sind, wie die morphologischen Charaktere, da ja einerseits Unterschiede in der Struktur und im anatomischen Aufbau fast immer verknüpft sind mit Unter- schieden in der Funktion und anderseits selbst zurückzuführen sind auf bio- chemische Besonderheiten der Gewebe. Nur bei Bakterien kommt es meines Wissens vor, daß manche Arten und Unterarten ausschließlich nach ihrem phy- siologischen Verhalten (Giftigkeit, Beziehung zu Nährböden u. dgl.) unterschie- den werden. Der Grund des Zurücktretens der physiologischen Erkennungs- zeichen ist offenbar ein doppelter; erstens sind sie meist nicht so auffällig wie die morphologischen Merkmale und ihr Nachweis setzt feinere Untersuchungs- methoden und lebende Geschöpfe voraus; zweitens gehören sie einem bis jetzt weniger studierten Forschungsgebietean, da die Physiologie mehr die den großen Morphologische und physiologische Artmerkmale 149 Gruppen (Klassen, Familien) eigentümlichen Verhältnisse als die kleinen Unter- schiede der Gattungen, Arten und Individuen beachtet hat. Neuerdings aber machen sich sehr erfreuliche Ansätze bemerkbar, die physiologische Chemie nach dieser Richtung auszubauen; die morphologische Methode wird hierdurch sicher- lich eine wertvolle Ergänzung erfahren, die namentlich dann heranzuziehen sein wird, wenn die Sprache der Anatomie und Embryologie nicht ganz eindeutig ist. Zu den physiologischen Eigenschaften jeder Art gehört in erster Linie die Fähigkeit der Geschlechter, sich fruchtbar untereinander zu vermehren. Sie stellt, wie wir schon mehrfach betonten, das einzige in der Natur selbst vor- handene Band dar, welches die Individuen einer Art zu einer realen Einheit verknüpft. Diese Eigenschaft kann selbstverständlich nicht in eine Spezies- diagnose aufgenommen werden, da sie allen Arten, abgesehen von ganz ver- einzelten Ausnahmen, zukommt. Um so größer ist ihre Bedeutung als Mittel, die Selbständigkeit der Arten in der freien Natur zu wahren und eine unbe- grenzte Vermischung derselben zu verhindern. Physiologische Eigenschaften, welche in engster Beziehung zum ökono- mischen Werte stehen, wie etwa Schnellwüchsigkeit, Mastfähigkeit, Milchreich- tum, Widerstandskraft gegen Erkrankungen, Immunität gegen Parasiten und Gifte, werden sehr häufig als Rassezeichen bei Kulturpflanzen und Haustieren benutzt, der beste Beweis, daß die physiologische Diagnostik nicht nur für Arten, sondern auch für Varietäten gilt. Körpersäfte, Sekrete (Galle, Speichel, Milch) und Exkrete (Harn) können dem gleichen Zwecke dienen, falls die che- mischen Untersuchungsmethoden genügend ausgearbeitet sind. Als ein Bei- spiel erwähne ich hier die Untersuchungen von Abderhalden (1906, S. 433), welcher zeigte, daß die Milch um so reicher an Eiweiß und Asche ist, je schneller das Junge wächst, denn die Bestandteile jener beiden Körpergruppen bauen die Gewebe in erster Linie auf. Wir verdanken ihm folgende Übersicht: Zahl der Tage bis zur Ver- Spezies doppelung des 100 Gewichtsteile Milch enthalten Körpergewichts nach der Geburt! Eiweiß Asche Kalk Phosphorsäure Menschen. 180 I,6 0,2 0,03 0,05 Pferdss.r1. 60 2 0,4 0,12 0,13 Rindy 2:0.% 47 3,5 0,7 0,16 0,20 IeBeRn 22 3,7 0,78 0,20 0,28 Schals: 15 49 0,84 0,25 0,29 Schwein . . 14 5.2 0,80 0,25 0,31 Katzen g9Y, 7 1,02 — _ IEiindeesane: 9 7,4 1,33 0,45 0,51 Kaninchen . 6 14,4 2,50 0,89 0,99 Nach den verschiedenen Muskelsubstanzen haben v. Fürth und Przi- bram (1910, S. 8) die Hauptabteilungen des Tierreichs unterscheiden können, wie aus folgender Übersicht erhellt: 150 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere N. Kein-Myogen! RTL BREI zes Mirbellese: B. Myogen' vorhanden! v3... % . Wirbeltiere, a) keine Fällung mit a Vol. 10 ek saltzylesurenn Natron! ENT, . Cyclostomata, b) Fällung mit 1% Vol. Io Prozent & sallzylaurem Ne transp . Gmnathostomata, «) lösliches Mrdbenibrin.® wenige Stunden hach dm Tode vorhanden. 22%. a EIN IRANEMNTA, Myoproteid in steigender Merrge RR IE ANPISEES, Myoproteid bloß in Spuren . . . Amphibia, ß) lösliches Myogenfibrin erst nach 1—2 Fasın nach! weisbar.' Myoproteid fehlend 27.02 „a... Amniota. Zu den physiologischen Artkriterien können auch Transplankabionen welche rasch verheilen, gerechnet werden, indem die Erfahrung lehrt, daß solche nur bei Individuen derselben Art („homoplastische Transplantation‘) eintritt. Heteroplastische Transplantationen, d. h. Vereinigungen von Geweben oder Organen an Individuen verschiedener Arten oder Gattungen gelingen nur ver- einzelt (so bei Regenwürmern, Schmetterlingspuppen, Frosch mit Unke). Auch rein pathologische Erscheinungen können zur Speziesunterscheidung verwandt werden, da manche Krankheiten nur bei bestimmten Arten auftreten, so die Syphilis beim Menschen, welche sich nur sehr schwer auf anthropoide Affen, Kaninchen und Schweine übertragen läßt. Nach Orth (1909) können Krebs- geschwülste immer nur auf Individuen derselben Art (Maus auf Maus, Ratte auf Ratte) übergeimpft werden. Die Überzeugung, daß es im Laufe der Zeit immer mehr gelingen wird, den Artbegriff biochemisch zu fassen, stützt sich auf die Erwägung, daß jede Zellart eine chemische Einheit darstellt und daher auch einen spezifischen Stoffwechsel besitzen muß. So erklärt essich, daß Diphtheriebakterien ein ganz bestimmtes Toxin bilden, welches im Pferdeblut die Erzeugung eines ebenso spezifischen Antitoxins veranlaßt. Die Molekülgruppen, welche den Ei- und Samenzellen einer Art ihr besonderes Gepräge geben, vereinigen sich bei der Befruchtung und gehen später auf alle Körperzellen über, so daß allen Ent- wicklungsstadien vom Ei bis zum geschlechtsreifen Tier und ebenso den ver- schiedenen Organen derselben Art trotz weitestgehender morphologischer Ver- schiedenheiten derselbe biochemische Charakter zukommt. Den Beweis hierfür hat die moderne Serumforschung erbracht. Friedenthal (I904, 1905) er kannte, daß während der ganzen Embryonalentwicklung die Organsäfte des Menschen, der Maus und des Hundes stets die gleiche Präzipitinreaktion zeigen. Zahlreiche Versuche anderer Forscher ergaben das Resultat, daß die spezifi- schen Serumreaktionen eintreten nach Vorbehandlung eines Kaninchens mit den verschiedensten Körpersäften und Sekreten derselben Tierart: es ist gleich- gültig, ob ich dem Kaninchen Blut oder Sperma oder Harn oder Milch einer andern Art x subkutan injiziere; in jedem Falle erhalte ich ein auf x reagieren- des Serum. Das Serum von Kaninchen, welche mit Schafspermatozoen vor- Biochemische Artmerkmale I5I behandelt worden sind, beeinflußt nicht nur die Spermatozoen des Schafes, sondern löst auch die roten Blutkörperchen dieses Tieres auf. Werden Kanin- chen mit Kuhmilch vorbehandelt, so läßt sich ein Serum gewinnen, welches auf die verschiedensten Gewebe des Rindes einwirkt, welches die Milch präzipitiert, die Erythrozyten löst und die Flimmerbewegung der Trachealepithelien hemmt. Diese Gleichheit der Reaktion läßt vermuten, daß allen Zellen und Körper- flüssigkeiten einer Tierart derselbe spezifische Atomkomplex zukommt. Dieser Satz scheint auch für die Pflanzen zu gelten, denn Magnus und Friedenthal (1907 a) fanden, daß die verschiedensten Organe des Roggens ebenfalls dieselbe Präzipitinreaktion geben. Diese Spezifität gilt schon für die niedrigsten Lebe- wesen, die Bakterien, denn alle Antikörper (Antitoxine, Agglutinine, Präzipi- tine) wirken immer nur auf diejenigen Bakterien, durch deren Reiz sie ent- standen sind. Mit Diphtherieserum läßt sich nur Diphtherie heilen, aber nicht Tetanus oder Cholera. Ebenso hat man durch Injektion von Leber-, Nieren-, Ganglienzellen Sera erzeugt, die immer nur auf die Leber-, Nieren- und Gang- lienzellen der betreffenden Tierart giftig wirken, aber nicht auf dieselben Ge- webe verwandter Tiere, ein Beweis, daß die homologen Gewebe verwandter Arten biochemische Unterschiede aufweisen. Wenn auch das eigentliche Wesen dieser Unterschiede zurzeit noch nicht bekannt ist, so ist doch von den Fort- schritten der Biochemie nach dieser Richtung noch viel Aufklärung zu erwar- ten, und wie wir jetzt schon wissen, daß Vertreter verschiedener Säugetierord- nungen in der chemischen Zusammensetzung der Milch, des Harns oder der Galle differieren, so wird die Zeit kommen, wo nahverwandte Arten und selbst Rassen einer Art an biochemischen Reaktionen diagnostiziert werden können. Wegen weiterer Einzelheiten vgl. der Leser: Abderhalden (1904), Hambur- ger (1903). Biochemische Verwandtschaftsreaktion. Die Möglichkeit, das Blut oder andere Organsäfte einer bestimmten Tierart durch die Serumreak- tionen, oder, wie man kurz zu sagen pflegt, durch die biologische Methode zu erkennen, erfährt dadurch eine Einschränkung, daß diese Reaktionen sehr oft nicht streng spezifisch sind, sondern für nahverwandte Arten in gleicher Weise gelten. Dadurch werden sie zu einem Hilfsmittel der systematischen und phyle- tischen Forschung, welches die Ergebnisse der morphologischen Untersuchung ergänzt oder in zweifelhaften Fällen die Entscheidung erbringen kann. Diese Blutreaktionen bewahrheiten damit den alten Satz, daß ‚‚Blut ein ganz beson- derer Saft ist‘‘ und daß die Nachkommen einer Stammform tatsächlich selbst dann noch „blutsverwandt‘ sind, d. h. chemisch gleiches oder sehr ähnliches Blut haben, wenn sie morphologisch schon in mehrere Arten zerfallen sind. Drei verschiedene Wege (Bluttransfusion, Lösung artfremder Erythrozyten und die Präzipitinmethode) führen zu demselben Hauptresultat: „Gleiche Fa- milie des zoologischen Systems, gleiches Blut“ (Landois, Frie- denthal). Landois zeigte schon 1875, daß Bluttransfusionen zwischen Pferd und Esel, Wolf und Hund, Hase und Kaninchen in großer Quantität möglich sind, 152 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere ohne daß die artfremden Erythrozyten aufgelöst werden. Sind die betreffenden Geschöpfe jedoch nicht nahverwandt, so werden die übergeleiteten Blutkör- perchen gelöst und das artfremde Hämoglobin wird unter Fiebererscheinungen und andern Störungen mit dem Harn wieder entfernt. Daher mußten die in früheren Zeiten zu Heilzwecken zuweilen ausgeführten Transfusionen von Lammblut in die Armvene eines Menschen traurige Folgen nach sich ziehen. Der Mensch gehört, wie Friedenthal (1900) in einer interessanten Arbeit fest- stellte, nach seiner Blutqualität in die Familie der Anthropoiden (Menschen- affen), denn er konnte einem zehnjährigen kräftigen Schimpansen 25 ccm defi- briniertes Menschenblut in die Armvene transfundieren, ohne daß der Harn irgendwelche Spuren von Hämoglobin zeigte oder sonstige Krankheitssym- ptome auftraten. Zu demselben Ergebnis führt die zweite Methode, welche sich in Reagenzgläsern ausführen läßt: das Serum einer Art a löst die Erythrozyten der Art b auf, wenn a und b zu verschiedenen Familien gehören, während bei nahen Verwandten diese Auflösung nicht eintritt. Menschliches Blutserum löst nach dem erwähnten Autor die roten Blutkörperchen der folgenden Arten auf: Aal, Frosch, Ringelnatter, Kreuzotter, Taube, Huhn, Nachtreiher, Pferd, Schwein, Rind, Kaninchen, Meerschweinchen, Katze, Igel, Lemur varıus, der platyrrhinen Affen Pitheciurus sciureus und Ateles ater, der katarrhinen C'yno- cephalus babuin, Rhesus nemestrinus und Makakusarten; dagegen zerstört menschliches Serum nicht die Erythrozyten der Menschenaffen (Orang, Schim- panse, Gibbon). Am gebräuchlichsten ist das dritte Verfahren, die Bordetsche Präzipitin- reaktion: wird ein Tier a durch eine Anzahl subkutaner Injektionen mit dem Blute oder mit irgendwelchen Organsäften der Art b vorbehandelt, so erzeugt das Serum von a sofort einen Niederschlag, wenn ihm eine Spur Blut von b zugesetzt wird. Diese Reaktion ist in vielen Fällen außerordentlich scharf, so daß Uhlenhuth (1904) Vogeleiweiß selbst in einer Verdünnung von I g auf 1001 Wasser damit nachweisen konnte, während die gebräuchlichen chemischen Eiweißreagentien bei einer Verdünnung von I g auf I l zu versagen pflegen. Die Reaktion ist auch, abgesehen von nahen Verwandten, spezifisch und hat daher die größte Bedeutung, um Spuren menschlichen Blutes, selbst wenn es faulig geworden oder eingetrocknet ist, nachzuweisen. Mehrere Forscher haben dies Verfahren in den Dienst der Verwandtschaftsforschung gestellt, vor allem Nuttall (1904), der an Tieren 900 verschiedene Blutsorten an 16000 Reaktionen studierte. Er fand z. B., daß das Serum eines mit Hundeblut vor- behandelten Kaninchens eine Fällung mit acht verschiedenen Kaniden zeigt, aber nicht mit Vertretern anderer Familien. Es lag nahe, das Verhältnis des Menschen zu den Affen auf diese Weise zu prüfen. Friedenthal (1902) gab einem Kaninchen 47 ccm Pavianserum, worauf das Kaninchenserum eine starke Trübung erfuhr bei Zusatz des Bluts der Affen Cynocephalus hamadryas und C.dschelada, Macacus cynomolgus und Colobus guereza, aber klar blieb bei Zusatz von Menschen- und Schimpansenblut. Grünbaum (The Lancet, January 18, 1902) injizierte Kaninchen das Blut von Gorilla, Orang und Schimpanse, wor- Biochemische Verwandtschaftsreaktion 153 auf die mit dem Blute dieser Affen erzeugte Fällung nicht zu unterscheiden war von der durch Menschenblut bewirkten. Uhlenhuth (1904) behandelte Kaninchen mit Menschenblut und fand, daß ihr Serum mit dem Blute der Menschenaffen einen fast ebenso starken Niederschlag gab wie mit Menschen- blut; bei andern Affen trat die Fällung nicht sofort, sondern erst nach längerer Zeit ein. Es kann also nicht zweifelhaft sein, daß die Menschenaffen dem Men- schen nach dem chemischen Charakter des Blutes äußerst nahe stehen. Um zu zeigen, daß die biologische Reaktion bei strittigen phyletischen Fragen herangezogen zu werden verdient, sei hervorgehoben, daß Fürbringer (1888) auf Grund umfassendster Studien die Ratiten als eine polyphyletische Gruppe ansieht. Hiergegen spricht jedoch, daß die Präzipitinreaktion beim Strauß, Kasuar und Apteryx gleich stark ausfällt, während eine solche mit Karinaten erst nach weit längerer Vorbehandlung eintritt (Friedenthal- 1904). Ganz einzig ist der Fall, daß ein mit dem Fleischsaft aus dem Kadaver eines im sibirischen Eise eingefrorenen Mammuts vorbehandeltes Kaninchen mit dem Blute des indischen Elefanten sofort eine Trübung und nach kurzer Zeit einen Niederschlag als Beweis der Verwandtschaft beider Geschöpfe ergab (Friedenthal 1905). Neresheimer (I908) hat dieselbe Methode benutzt, um die Verwandtschaftsverhältnisse der Bachforelle zu untersuchen, und ge- langte zu Resultaten, die mit der üblichen systematischen Auffassung über- einstimmen. Wird ein Kaninchen mit Bachforellenserum behandelt, so erhält man I. eine sehr starke Präzipitinreaktion als Zeichen sehr naher Verwandt- schaft mit dem Blute der Seeforelle (Trutta lacustris) und des Lachses (Trutta salar); 2. eine ziemlich starke Reaktion mit dem Bachsaibling (Salmo fontina- lis) und dem Seesaibling (Salmo salvelinus); 3. eine schwächere mit dem Huchen (Salmo hucho); 4. eine noch schwächere mit der Regenbogenforelle (Trutta iridea), was sehr auffallend ist und für eine isolierte Stellung dieser Art inner- halb der Gattung Trutta spricht. Damit stimmt überein, daß die Kreuzungen von Bachforelle x Regenbogenforelle auffallend unfruchtbar sind; 5. eine recht schwache Reaktion mit der Äsche (Thymallus thymallus) und der Peipussee- maräne (Coregonus maraena). Endlich haben Magnus und Friedenthal (1906) die Serummethode auch zum experimentellen Nachweis einer natürlichen Verwandtschaft bei Pflanzen benutzt, indem sie Kaninchen mit Preßsaft von Hefe, Trüffel und Champignon subkutan versetzten. Nach 14 Tagen wurde das Serum der Versuchstiere unter- sucht, indem zu je I ccm Serum 0,02 ccm Hefe-, Trüffel- resp. Champignonsaft gesetzt wurden. Das mit Hefe vorbehandelte Tier zeigte eine rasch eintretende und starke Trübung sowohl mit Hefesaft wie mit Trüffelsaft, ein Beweis, daß diese beiden morphologisch so sehr verschiedenen Pilze einander in ihrem Chemismus nahestehen und mit Recht beide als Askomyzeten angesehen wer- den; hingegen zeigte das Hefetier keine Trübung mit Champignonsaft. Die Trüffel- und die Champignontiere verhielten sich entsprechend. Weitere Untersuchungen (1907) mit Getreidearten, ergaben, daß pflanzliche Eiweiß- körper ebenso sicher spezifische Präzipitinreaktionen geben wie tierische. 154 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Die Untersuchung der Körpersäfte durch Serumreaktionen ist noch ein sehr junges Forschungsgebiet, das aber von größter Bedeutung für die Ab- stammungslehre zu werden verspricht, weil es feststeht, daß I. diese Reaktionen für Vertreter verschiedener Familien spezifisch sind; 2. bei nahverwandten Arten die gleiche oder eine sehr ähnliche Reaktion beobachtet wird, so daß diese Methode als Prüfstein der natürlichen Verwandtschaft herangezogen wer- den kann in allen den Fällen, wo der morphologische Befund keine einwand- freie Sprache redet. Wahrscheinlich werden die Untersuchungsmethoden sich noch sehr vervollkommnen lassen, so daß es mit der Zeit gelingen wird, nah- verwandte Arten, Rassen und Varietäten einer Art, ja vielleicht in günstigen Fällen selbst Individuen durch die Sera zu diagnostizieren. Einige Ausblicke liegen nach dieser Richtung schon vor (vgl. C. Bruck, Die biol. Differenzierung von Affenarten und menschlichen Rassen durch spezif. Blutreaktionen. Berlin, Klin. Wochschr. 44, Nr. 26). Bringt doch auch ein Hund es fertig, eine ihm bekannte Person durch chemische Reaktion seiner Nasenschleimhaut unter einer großen Volksmenge herauszufinden. c) Ökologische Merkmale werden seit Linn& außerordentlich häufig zur Unterscheidung von Arten und Unterarten benutzt. Eine Speziesbeschrei- bung gilt nicht als vollständig, wenn nicht das Vaterland, das Medium des Aufenthalts (Land, Süßwasser, Meer), eine annähernde Charakteristik des Wohngebiets (Tiefsee, Flachsee, Wüste, Heide, Wald, Hochgebirge, unter- irdische Höhlen u. dgl.) und Einzelheiten der Lebensführung und der Bezie- hungen zu andern Arten (Häufigkeit, Seltenheit, einzelnes oder geselliges Vor- kommen, karnivore oder herbivore Ernährung, Parasitismus, Art der Eiablage, Nestbau, Brutpflege, Gefährlichkeit für andere Spezies. u. dgl.), soweit sie be- sonders auffällig sind, in sie aufgenommen wurden. Besonders interessant sind solche Unterarten, welche sich morphologisch gar nicht oder nur mit größter Mühe unterscheiden lassen, während sie durch die Lebensweise leicht getrennt werden können. Ein gutes Beispiel hierfür liefern die heterözischen Rostpilze. ‚Die Blasenroste der Nadeln der gemeinen Kiefer (Peridermium pini f. acicola der älteren Autoren) könnte man ohne die Kenntnis ihrer Lebensweise nur für eine Einheit ansehen. Infolge der Fest- stellung ihrer Heterözie werden aber zahlreiche (ca. 14) verschiedene Sorten unter ihnen nachgewiesen, von denen die erste ihre Teleutosporen nur auf Senecio, die zweite nur auf Euphrasia und Alectorolophus, eine dritte nur auf Pulsatilla, eine vierte nur auf Campanula bildet usf.; dabei zeigtsich, daß diese Sorten konstant und streng voneinander geschieden sind, obgleich sie mor- phologisch völlig übereinstimmen oder nur so wenig verschieden sind, daß es ganz unmöglich zu sein scheint, sie nach diesen Merkmalen zu bestimmen“ (Klebahn 1904, S. 130). Auch die auf Ranunculus-Arten vorkommenden Ae- cidien sind morphologisch kaum abzugrenzen und wurden daher zunächst alle als Aecidium ranunculacearum DC bezeichnet, bis man später ihre Zugehörigkeit zu sehr verschiedenen Teleutosporenformen (Uromyces dactylidis, U. poae, Puccinia magnusiana, P. perplexans) erkannte. Oekologische Merkmale 255 Klebahn und Rostrup nennen solche hauptsächlich durch ökologische Merkmale charakterisierte Arten „biologische Spezies‘, während Schrö- ter von „Species sorores“‘, Hitchcock und Carleton von „physiological species‘ sprechen. P. Magnus bezeichnet sie als ‚‚Gewohnheitsrassen‘, weil sehr wahrscheinlich in vielen Fällen die Stammform ursprünglich ‚‚plurivor‘ war, d. h. auf verschiedenen Wirtspflanzen lebte, sich aber später nur an eine gewöhnte, weil sie durch diese in bestimmter Weise verändert wurde und da- durch die Fähigkeit verlor, auch auf andern Arten fortzukommen. So konnte z. B. Klebahn (ebd. S. 159) Puccinia smilacearum-digraphidis durch eine zehnjährige Kultur so sehr an Polygo- natum multiflorum als Aecidienwirt ge- wöhnen, daß sie der Fähigkeit verlustig ging, auch auf Paris quadrifolia Aecidien zu bilden, während sie für zwei andere Nährpflanzen abgeschwächt wurde. Von zoologischen Beispielen solcher 4 „biologischer Spezies‘‘ sei hier zuerst zweier gefährlicher Getreideverwüster aus der Familie der Gallmücken ge- dacht, über die wir dem französischen m. Entomologen Marchal (1897) genaue ces. desmuctor, C von avenao. Nach Manchar 1897 Untersuchungen verdanken. Beide kom- men in Europa, von Frankreich bis Rußland, vielfach nebeneinander vor. Ihre morphologischen Gegensätze sind äußerst gering (linke Hälfte der Tabelle): Erste Zerstö-, rungsperiode Zahl der jährl. Generationen Ceci- Größe Seite des Endglied domyia | (Imago) | Abdomens | des Palpus a destructor | 2,5; mm [ohne Streifen| zylindrisch, || an Weizen, | häufig bis 4, | erste Hälfte Sag. ohne ver- |Inie an Hafer |zuweilen bis6 April jüngte Spitze (Fig. 14B) avenae 3,2 mm | mit silber- mit ver- an Hafer, 23 zweite Hälfte March. (Fig. 14A)/grauem Haar-|jüngter Spitze nie April streifen (Fig. 14C) || an Weizen Hingegen ist der Unterschied in der Ernährungsweise und in der Zahl der jähr- lichen Generationen schr auffallend. Der morphologische Gegensatz ist bei den Larven größer als bei den Imagines und er deutet daraufhin, daß Cec. avenae die primitivere Form ist, denn unter dem Einfluß parasitischer Nematoden nimmt die Larve von destructor zuweilen die Charaktere von avenae an, was als ein Rückschlag angesehen werden kann. Zwei Kiefernborkenkäfer, welche zu den gefährlichen Feinden unserer Kie- fern gehören, zeigen ein ähnliches Bild: Hylesinus (Myelophilus) piniperda L. ist 4—4,5 mm lang, die Flügeldecken sind im Alter schwarz glänzend, in der Jugend braunrot; hingegen ist A. minor Hig. etwas kleiner (3,5—4 mm) und 156 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere die Flügeldecken sind nur selten schwarz, sondern bleiben meist braunrot. Einen wirklich sicheren Unterschied, der freilich ohne Lupe nicht zu erkennen ist, finden wir nur in der Skulptur der Flügeldecken, welche feine Punktstreifen mit dazwischen liegenden Borstenhöckerchen aufweist. Der zweite Streifen (von der Innenkante aus gezählt) ist bei piniperda (Fig. 15 A) auf der hinteren Absturzfläche des Körpers glatt, ohne Höckerchen, während sie bei minor (Fig. 15 B) bis zum Rande der Flügeldecke sich erstrecken. Gegenüber diesen minutiösen Differenzen sind die biologischen Gegensätze sehr auffallend und ) a = =. N >> N | TG; SS I Fig. 15. Hinterende von Borken- käfern: 4 Hylesinus piniperda, ZHy- lesinus minor. Nach JUDEICH - NITSCHE. I I, / 2 IL EG Z Fig. 16. Fraßgänge A von Hylesinus piniperda, 2 von Hylesinus minor. ‚4 zeigt die Kiefernrinde von innen mit aBohrloch, 5 Luftloch des Mut- terganges. Nach JuDEICH-NITSCHE. zeigen sich in den Fraßfiguren. FH. piniperda (Fig. 16A) bevorzugt die unteren Teile der Bäume mit dicker Rinde und bildet unter dieser einarmige Mutter- gänge, die von dem Bohrloch nach unten verlaufen und dicht besetzt sind mit zahlreichen langen Larvengängen. In der Mitte des Mutterganges liegt meist ein Luftloch (zuweilen mehrere). Die kleinere Art (H. minor) befällt mehr schwächere Äste mit dünner rötlicher Rinde und bohrt tiefer, mehr im Splint- holz. Der Muttergang steigt vom Bohrloch etwas nach oben und gabelt sich dann in zwei Arme, welche kurze und nicht dicht stehende Larvengänge tragen (Bier 10 B). Unter den heimischen Hummelarten stehen sich Bombus pratorum und B. soroensis außerordentlich nahe, so daß man sienur an den Größenverhältnissen des Kopfes (Wangen etwas kürzer als breit bei sor., so lang wie breit bei prat.) und der Färbung der letzten Segmente (weißbehaart bei sor., rotbehaart bei prat.) unterscheiden kann. Auch die Farbenvarietäten stimmen bei beiden offenbar sehr nahverwandten Spezies im hohen Maße überein. Hingegen ist ihre erste Erscheinungszeit sehr verschieden, indem B. pratorum Q schon im März, B. sor. erst Mitte Mai zu fliegen beginnt. Dadurch ist eine Kreuzung beider Arten ausgeschlossen. Als ökologische Arten können die Kopf- und die Kleiderlaus des Menschen (Pediculus capitis und Ped. vestimenti) gelten, welche morpholo- Oekologische Merkmale 157 gisch nur an den Eiern unterschieden werden können, was als Folge der ver- schiedenen Ablagerungsweise (an den Kopfhaaren bzw. an den Kleidern) gelten kann. Ageniaspis fuscicollis Thoms. ist ein Hymenopter aus der Familie der Chal- cididen, welches in Mücken schmarotzt; diese Spezies zerfällt in zwei Unter- arten, welche nur biologisch differieren, indem die f. typica ihre Eier in die Eier von Hyponomeuta-Arten, die /. praysincola sie in diejenigen von Prays oleellus absetzt (nach Silvestri in Boll. Laborat. di zool. agraria, Portici, Vol. III). Unsere Wasserratte, Hypudaeus (Arvicola) amphibius L. bietet ein ähn- liches Beispiel einer durch verschiedene Lebensweise bedingten Spaltung in verschiedene Formen, die noch durch viele morphologische Übergänge verbun- den sind. Schon Linne& trennte diese gefräßigen Nager in zwei Arten, von denen er die eine Mus amphibius und die andere Mus terresiris nannte, weil jene feuchte Gebiete, diese trockene Gelände bevorzugt. Einer der besten Kenner der heimischen Säugetiere, J. H. Blasius (Säugetiere Deutschlands, 1857), unterscheidet drei Formen, die er aber nur als Unterarten gelten lassen will, da eine scharfe Trennung unmöglich sei. Ihre charakteristischen Merkmale sind aus folgender Übersicht zu entnehmen. Oberseite Unterseite | Schwanz- Hinterfüße Verbreitung länge A.amphibius dunkel, hellrostgrau | = \, Körper, schwach | ganz Europa bis IB: braunschwarz oder länger Altai; hellere bis Exemplare auf graubraun trockenem, dunk- lere auf feuchtem Terrain Aldestructor heller, weißlichgrau |= '), Körper | schwach |Provence, Italien, Savi braungrau oder länger Dalmatien. Trockene Gebiete A. terrestris hellrostgrau |grauweißlich kleinerals der stärker Pyrenäen, Alpen, I: /, Körper Deutschland. Trockene Gebiete Sehen wir ab von einer vierten Form, welche de Selys-Longchamps von den hohen Pyrenäen als A. monticola beschrieben hat und welche offenbar der Zerrestris sehr nahe steht, und von einer fünften, ebenfalls hierher gehörigen, welche Fatio (Les Campagnols du Bassin du Leman, 1867) an trockenen Ab- hängen des Haslitals (Bern) entdeckte, so scheint es sicher zu sein, daß die Wasserratte sich oft weit vom Wasser entfernt und dabei heller wird und auch vielfach einen kürzeren Schwanz bekommt. Nach Fatio baut sie dann viel kompliziertere unterirdische Gänge und lebt hauptsächlich von Wurzeln, wäh- rend sie als Wasserform oft zur Fleischkost übergeht und Krebse, Fische, junge Enten, Libellen und anderes Getier angreift. Die Trennung in zwei biologische Rassen ist also deutlich erkennbar, während kompetente Untersucher (Bech- stein, Blasius, Fatio) nicht imstande waren, durchgreifende morpholo- gische Unterschiede festzustellen. 158 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere Als ein anderes Beispiel einer Spaltung in biologische Rassen ohne scharfe morphologische Abgrenzung seien die Daphniden erwähnt. Wie Weismann zuerst zeigte und von den verschiedensten Planktonforschern bestätigt worden ist, kann hier dieselbe Art je nach den äußeren Verhältnissen hinsichtlich des Auftretens der Männchen und der unter ihrem Einfluß (durch Befruchtung) entstehenden Wintereier große Unterschiede darbieten. Die in Tümpeln leben- den Spezies, welche der Gefahr des Eintrocknens oder Ausfrierens sehr ausge- setzt sind, bilden in der Regel viele sexuelle Generationen (Polyzyklie), während die Bewohner von Teichen und Seen monozyklisch sind und nur im Herbst Ephip- pialeier bilden. Endlich können dieselben Arten (z. B. Hyalodaphnia cucullata und Daphnia longispina und hyalina) in der pelagischen Region der großen schweizerischen und dänischen Seen ganz oder fast ganz azyklisch werden und sich nur parthenogenetisch vermehren. In derselben Gegend können zwei Plank- tonproben schon für das bloße Auge erheblich differieren: die eine aus einem Tümpel zeigt massenweise die schwarzen Punkte der Wintereier, die andere aus der freien Fläche des Sees ist ganz frei von ihnen. Biologische Rassen entstehen sehr oft, wenn gewisse Individuen einer Art durch Wanderung oder Verschleppung in eine neue Umgebung versetzt wer- den und dadurch in der Ernährungsweise, im Nestbau, in der Zahl der Eier oder sonstwie abändern, ohne daß morphologische Unterschiede zur Ausbil- dung kommen. So lebt Haltica rufipes bei uns an Bohnen, während sie in Ame- rika die Obstbäume heimsucht; Anthrenus scrofulariae greift in Europa die blühenden Obstbäume an, während er in Amerika in die menschlichen Woh- nungen eindringt und Teppiche und Möbel arg beschädigt. Die Lokalformen und geographischen Rassen liefern viele hierher gehörige Beispiele, da ihre öko- logischen und physiologischen Merkmale oft viel ausgesprochener sind als die Veränderungen in der Farbe oder Gestalt; aber infolgedessen finden sie wenig Eingang in unsere Museen und in die Lehrbücher. Wer aber viel in der freien Natur studiert, findet überall biologische Rassen. Wesenberg-Lund, ein sehr genauer Planktonforscher, schildert in seinem großen Werke (1908) die Rassen, welche die Cladoceren in den verschiedenen dänischen Seen bilden. Zu den nur im Sommer sich zeigenden, bald mehr, bald weniger scharfen mor- phologischen Unterschieden kommen oft sehr erhebliche biologische Gegen- sätze. So ist Daphina hyalina im Mai im Esromsee äußerst fruchtbar und hat 30—35 Eier im Brutraum, während sie im Viborgsee 6, im Haldsee 4 Eier pro- duziert. Die junge Brut dieser Art ist im November im Esromsee gemein, im Tjustrupsee sehr selten. Ephippien wurden nur in diesen beiden Seen gefunden, fehlten aber in drei anderen Seen. Bei Bosmina longirostris fehlen lokale und Saisonvariationen in jenen Seen so gut wie ganz Die Zahl der Eier im Brut- raum ist im Mai aber von See zu See sehr variabel und schwankt zwischen 2—4 (Skanderborgsee) und 8— 14 (Julsee). Die biologischen Rassen zeigen auf das klarste, daß die Spaltung in Unter- arten beginnen kann, ohne daß gleichzeitig morphologische Unterschiede zu konstatieren sind. Der Einfluß der äußeren Verhältnisse auf die Lebensgewohn- Oekologische Merkmale 159 heiten kommt hierin sehr deutlich zum Ausdruck und verleiht den ökologischen Formen ein besonderes Interesse. Trotzdem soll man ihre Bedeutung nicht überschätzen, denn es ist sicher, daß in vielen Fällen zuerst die morphologischen Unterschiede auftreten und diesen erst später die biologischen folgen. Aus praktischen Gründen wünsche ich auch dem folgenden Satze allgemeine An- erkennung: Arten, Gattungen und höhere systematische Gruppen dürfen nicht auf ausschließlich biologische Unterschiede auf- gestellt werden. So wichtig es ist, innerhalb einer Art physiologische und ökologische Rassen zu unterscheiden, so verfehlt ist es, bloß auf solche Merk- male hin neue Arten, Gattungen usw. in die Systematik einzuführen, denn diese ist in erster Linie eine morphologische Disziplin, und sie zerfällt in ein unkon- trollierbares Chaos, wenn sie sich nicht aufbaut auf morphologische, jederzeit nachprüfbare Verhältnisse. Solche Rassen sollen daher erst dann zu Arten er- hoben werden, wenn die verschiedene Lebensweise morphologische Unterschiede hervorgerufen hat. Werden systematische Kategorien bloß auf Grund gleicher Lebensweise gebildet, so ist die Gefahr sehr groß, daß konvergente Formen in ihnen vereinigt werden. So istz. B. die Abteilung der Schmarotzerbienen (Psithyrus, Nomada, Stelis, Coelioxys), welche gewöhnlich den geselligen (Apis, Bombus) und den solitären gegenübergestellt wird, ganz unnatürlich. Psithy- rus ist eine echte Hummel und von dieser äußerlich oft nur schwer zu unter- scheiden, während Stelis sich von Anthidium, Coelioxys von Megachile, Nomada wahrscheinlich von Andrena ableitet. Der Parasitismus der Bienen ist also viermal unabhängig voneinander entstanden, und die jenen Gattungen gemein- samen Züge deuten keine wahre Verwandtschaft an. XI. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. 1. Statt die Systeme der Tiere und Pflanzen in ‚„künstliche‘‘ und ‚‚natür- liche‘ einzuteilen, ist es richtiger zu unterscheiden: a) praktische (analyti- sche) Systeme, welche nur die Hauptmerkmale hervorheben und daher zur raschen Übersicht und Bestimmung geeignet sind; b) wissenschaftliche (synthetische) Systeme, welche die Gegensätze der aufgezählten Gruppen möglichst vollständig zum Ausdruck bringen. In vielen Fällen lassen sich beide Ziele in einem „kombinierten System‘ vereinigen. Je wissenschaftlicher ein System ist, d. h. je mehr es alle Beziehungen (Habitus, Anatomie, Embryo- logie, Biologie usw.) kritisch verwertet, desto größer ist die Wahrscheinlich- keit, daß nur diejenigen Formen zu einer Gruppe vereinigt werden, welche ihrer Verwandtschaft nach zusammengehören, und daß es damit dem Ideal eines „natürlichen Systems‘‘ möglichst nahe kommt. 2. Die Systematik kann ihrer Aufgabe, Übersicht und Ordnung in die Fülle der Formen zu bringen, genügen, ohne sich hierbei von deszendenztheoretischen Gesichtspunkten leiten zu lassen; trotzdem aber sollte sie nie auf diese ver- zichten, sondern sie nach Möglichkeit berücksichtigen, weil nur auf diesem Wege ein tieferes Verständnis für viele systematische Tatsachen (Polymorphis- 160 L.PLATE: Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere mus, Generationswechsel, Artenreichtum oder -mangel einer Gruppe, geogra- phische Beziehungen u. a.) zu gewinnen ist. 3. Die Konstruktion von Stammbäumen ist ein nicht zu entbehrendes Hilfs- mittel der Abstammungslehre, da sie die theoretischen Ergebnisse übersicht- lich vor Augen führen. Es ist aber nicht ratsam, die hypothetischen Zwischen- formen binär zu benennen, weil sonst der Schein erweckt wird, als ob sieschon unter den Fossilien gefunden wären. 4. Die Worte ‚Art, Gattung, Familie‘ usw. haben einen doppelten Sinn. Sie bezeichnen einmal Begriffe von Gruppen und sind als solche abstrakt, d.h. sie existieren nur im Geiste des Menschen. Sie bezeichnen zweitens die realen Individuenkomplexe, welche diesen Begriffen zugrunde liegen. Der Indivi- duenkomplex einer Art nimmt dadurch eine Sonderstellung ein, daß sich diese Individuen als zusammengehörig erkennen und untereinander fortpflanzen. Die Art ist in diesem Sinne etwas Reales und ganz unabhängig von dem menschlichen Verstande, während die höheren Komplexe (Gattung, Familie u. dgl.) nur von diesem abgegrenzt werden können und daher abstrakter Natur sind. 5. Die zurzeit beste Artdefinition lautet: Zu einer Art gehören sämtliche Individuen, welche die in der Diagnose festgestellten Merkmale besitzen, wo- bei vorausgesetzt wird, daß dieäußeren Verhältnisse (Klima, Nahrung usw.) sich nicht ändern; ferner alle davon abweichenden Individuen, die mit ihnen durch häufig auftretende Zwischenformen innig verbunden sind, ferner alle, die mit den vorgenannten nachweislich in genetischem Zusammenhange stehen oder sich durch Generationen fruchtbar mit ihnen paaren. 6. Es ist unmöglich, zwischen ‚‚Art‘‘ und ‚‚Varietät‘‘ nach morphologischen Merkmalen eine völlig sichere Grenzlinie zu ziehen, welche jede subjektive Sonderauffassung ausschließt. Eine vollständige Einigung wird sich daher auf diesem Gebiete nie erzielen lassen. Um jedoch eine möglichste Übereinstimmung zu erreichen, sollten alle Systematiker sich an folgende praktische Regel halten, welche sowohl das ‚Prinzip der Übergänge‘ wie auch dasjenige des ‚morpho- logischen Abstandes‘‘ berücksichtigt: Sind Übergänge zwischen der Haupt- form A und der verwandten Form B nicht nachgewiesen, so gilt B als ‚, Varie- tät‘‘, wenn die Unterschiede unbedeutend sind, hingegen als ‚Art‘, wenn sie erheblich sind. Sind Übergänge vorhanden, so fragt es sich, ob sie häufig und an mehreren Merkmalen sich zeigen (= Varietät) oder nur vereinzelt (= Art) auftreten. Im letzteren Fall können sie auf zufälliger Kreuzung oder auf trans- gressiver Variabilität zweier verwandter Arten beruhen. 7. Aus dieser Unmöglichkeit, Art und Varietät morphologisch scharf aus- einanderzuhalten, läßt sich nur der eine Schluß ziehen: die Varietäten sind be- ginnende Arten. 8. Die große Mannigfaltigkeit der Variationen hat dazu geführt, den Art- begriff in eine Reihe von Unterkategorien zu zerlegen, woraus folgt, daß die Bildung neuer Arten in der verschiedensten Weise vor sich gehen kann. 9. Aus der ternären Nomenklatur darf nicht von vornherein gefolgert wer- den, daß die Unterart von der Hauptart sich ableitet; was jetzt als Subspezies Zusammenfassung 161 erscheint, kann früher die Hauptart gewesen sein, welche allein existierte und von der die jetzige Hauptform abstammt. 10. Außer morphologischen und ökologischen Merkmalen sind in sehr vielen Fällen auch physiologische Charaktere zur Unterscheidung von Unterarten ge- eignet; es kann sogar vorkommen, daß gewisse Formen sich nicht morpholo- gisch, sondern nur physiologisch (manche Bakterien) oder nur ökologisch ab- grenzen lassen. Solche biologische Rassen sollten aber nicht zu Arten erhoben werden, sondern es ist streng daran festzuhalten, daß die Systematik als über- wiegend morphologische Disziplin sich in allen ihren Kategorien auf morpho- logischen Unterschieden aufbaut, weil nur diese jederzeit nachgeprüft werden können. K.d.G.IIl.ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 11 Literatur. ÄABDERHALDEN, E., 1904. Die Artbegriffe und die Artkonstanz auf biolog.-chemischer Grund. lage. Naturwiss. Rundschau 19, S. 557—560. — 1906. Lehrbuch der physiol. Chemie. Berlin. Urban u. Schwarzenberg. ABEL, O., Grundzüge der Palaeobiologie der Wirbeltiere. Stuttgart ıgız Acassız, L., 1857. Essay on classification. In: Contr. to the nat. hist. United States, Boston. Deutsch von Hempfing, 1866. — 1869. De l’espece et de la classification en Zoologie. Trad. par F. Vogeli, Paris. Edition revue et augmentede par l’auteur. 4005. — 1875. Der Schöpfungsplan. Vorlesungen über die nat. Grundlagen der Verwandtschaft unter den Tieren. 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Es beruht dies einerseits auf der Gleichheit des Ausgangspunktes der historischen Entwicklung: die älteren Na- turforscher, welche noch nicht die Überfülle des Stoffes und der Probleme zur weitgehenden Arbeitsteilung unserer Tage zwang, waren Zoologen und Bota- niker zugleich und wendeten infolgedessen naturgemäß auf beiden Gebieten dieselben Methoden und Arten der Darstellung an. Anderseits machten sich aber auch später auf beiden Gebieten der Erforschung der Organismen dieselben Bedürfnisse geltend: das Bedürfnis nach Übersicht und Ordnung und das Bedürfnis, jenen großen Prozeß im System darzustellen, der die ganze Orga- nismenwelt beherrscht, die phylogenetische Entwicklung. Nach der eingehenden Besprechung, welche die Prinzipien und Methoden der Systematik im allgemeinen in dem vorigen Abschnitte erfahren haben, kann es daher nur Aufgabe der folgenden Zeilen sein, das ergänzend hinzuzufügen, was speziell die botanische Systematik charakterisiert. Auch in der botanischen Systematik bildeten sich allmählich zwei For- derungen heraus, die eine nach Schaffung einer praktischen Übersicht und die andere nach wissenschaftlicher Darstellung des Einblickes in den entwick- lungsgeschichtlichen Zusammenhang der zu beobachtenden Formen. Die erste dieser Aufgaben war die selbstverständliche Folge der großen Zahl von verschiedenen Pflanzenformen, die sich der Beobachtung darboten, wenn auch in dieser Hinsicht das Pflanzenreich an Mannigfaltigkeit dem Tierreiche weitaus nachsteht. Die Zahl der heute bekannten rezenten Pflanzenarten dürfte sich auf etwa eine Viertelmillion belaufen, von der ungefähr die Hälfte auf die Blütenpflanzen entfällt.!) Die Aufgabe, über die große Zahl der beschriebenen Formen eine praktisch verwendbare Übersicht zu schaffen, war natürlich die primäre; erst allmählich trat die zweite oben erwähnte Aufgabe hinzu. Es läßt sich in dem Auftreten der beiden Aufgaben ebensowenig eine scharfe zeitliche Grenze ziehen, wie es heute möglich ist, immer mit Bestimmtheit zu sagen, ob eine systematische Arbeit nur einer der beiden Richtungen oder beiden zugleich dient. Dem Vor- ı) Dieser Zahl stehen allein etwa 280 000 bekannte Insektenarten gegenüber (vgl. S. 91). Zweifache Auf- gaben der Systematik. 166 R. v. WETTSTEIN: Das System der Pflanzen handensein der beiden Aufgaben sucht man häufig Rechnung zu tragen durch die Unterscheidung von ‚künstlichen‘ und ‚natürlichen‘ Systemen. Wie schon in dem vorigen Abschnitte dargelegt wurde, trifft diese Unterscheidung nicht immer das Wesentliche. Viele botanische Systeme sind künstlich und sollten nach dem Plane der Verfasser natürlich werden; manche Systeme werden als künstlich bezeichnet, lassen aber sehr gut das Streben erkennen, den natür- lichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Wirklich künstliche, und zwar be- absichtigt künstliche Systeme gibt es kaum. Selbst jenes System, welches immer als Schulbeispiel eines künstlichen dargestellt wird, das Linne&sche Sexual- system, solltenach LinneE nur eine dem praktischen Bedürfnisse entsprechende Zusammenstellung, etwa analog einem Bestimmungsschlüssel, sein. Linne selbst schuf daneben den Entwurf eines natürlichen Pflanzensystems, das 62 Gruppen umfaßte und den Beweis für seine Fähigkeit des Erfassens der wirklichen Zusammenhänge erbrachte. Viele der von Linne in diesem Systeme unterschiedenen Gruppen, wie die der Gramineen, Orchidazeen, Kukurbitazeen, Papilionazeen, Kruziferen, Umbelliferen, Kompositen u. a. werden von uns heute noch als natürliche angesehen. Das jetzt wertlose, nur historisch interessante Sexualsystem ist allgemein bekannt geworden; von dem ungleich wertvolleren und vor allem für die wissenschaftliche Auffassung Linn&s viel bezeichnen- deren natürlichen Systeme wissen selbst viele Fachleute nichts. Fast allen botanischen Systematikern schwebte als, wenn auch zunächst nicht klar erfaßtes, Ziel vor, bei ihren systematischen Einteilungen den natür- lichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, wenn es auch lange Zeit dauerte, bis man sich darüber klar wurde, was denn eigentlich diese ‚natürliche Verwandt- schaft‘ ist. Es klingt paradox und ist doch zutreffend, wenn man sagt, daß die Systematik zum Teil schon phylogenetisch arbeitete vor Begründung der Des- zendenzlehre und vor Beeinflussung der Systematik durch dieselbe. Eine Auf- klärung ergibt sich aus der bekannten Tatsache, daß die unbefangene Natur- beobachtung schon gewisse Organismengruppen unterscheidet, die entwicklungs- geschichtlich Zusammengehöriges umfassen. Schon das Volk hat die Begriffe Nadelhölzer, Gräser, Weiden, Farne, Schachtelhalme usw. geschaffen und damit einen unwillkürlichen Blick für ‚natürliche Verwandtschaft‘“ gezeigt, und es war nichts natürlicher, als daß die ältesten Bötaniker direkt an diese volkstümliche Systematik anknüpften. Im wesentlichen beruhte diese ältere natürliche Systematik auf dem morpho- logischen Vergleiche, während die Systematik, welche bewußt die Phylogenie zur Darstellung bringen will, alle diesbezüglich zum Ziele führenden Methoden anwenden muß. Man wird daher nach der Methode die sogenannten natür- lichen Systeme in morphologische und phylogenetische unterscheiden können, geradeso, wie Plate die Systeme überhaupt nach dem Ziele in prak- tische und wissenschaftliche unterschied. Die Umgestaltung der rein morphologischen botanischen Systematik in eine phylogenetische setzte natürlich die Eroberung der Biologie durch die Ab- stammungslehre voraus und erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts kön- Aufgaben der Systematik 167 nen wir auf botanischem Gebiete von einer zielbewußten phylogenetischen Systematik sprechen. Es wäre jedoch verfehlt, zu glauben, daß heute die Systematik ganz im Beziehungen der Dienste der entwicklungsgeschichtlichen Forschung steht; in der Praxis be- re deutet die Arbeit vieler Systematiker die direkte Fortsetzung der Arbeit der weinander. rein morphologischen Systematik, wenn sie sich auch äußerlich in einem anderen Gewande repräsentiert. Diese Erscheinung ist leicht zu begreifen. Wirklich phylogenetische Systematik verlangt auf dem Gebiete der größeren systemati- schen Gruppen eine umfassende Formkenntnis und eine ausreichende Beherr- schung aller einschlägigen botanischen Disziplinen, auf dem Gebiete engerer systematischer Einheiten monographische Untersuchungen. An dem Ausbaue des Systems nehmen aber zahlreiche Mitarbeiter teil, denen die Möglichkeit der Forschung unter den angegebenen Voraussetzungen fehlt, denen überhaupt ganz andere Aufgaben vorschweben, wie z. B.die Bearbeitung von Landestloren, die Verwertung von Reiseergebnissen u. dgl. m. Ihnen ist die Teilnahme an der systematischen Arbeit möglich, weil sich für dieselbe bestimmte, allgemein an- genommene Regeln der Benennung, Umgrenzung, Beschreibung, Unter- und Überordnung herausgebildet haben!), deren Anwendung unabhängig von der wissenschaftlichen Auffassung erfolgen kann. Die Einheitlichkeit der Formen, in welche systematische Ergebnisse ge- bracht werden, ist ein großer Gewinn, da sie die allgemeine Verwendbarkeit des Systems bedingt; sie ist auf der anderen Seite insofern auch von Nachteil, da die Gleichheit der Darstellung nicht sofort feststellen läßt, ob eine bestimmte systematische Anordnung eine phylogenetische Erkenntnis ausdrücken soll oder nicht. Schon dieser Umstand lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, ob denn die beiden mehrfach präzisierten Aufgaben der Systematik miteinander ganz vereinbar sind. Es ist nicht zu leugnen, daß dieser Vereinigung Schwierig- keiten ernster Art im Wege stehen. Das phylogenetische System muß — den fortschreitenden Erkenntnissen Rechnung tragend — in hohem Maße wechselnd sein, es wird seine größten Erfolge in der Überbrückung von Unterschieden zwischen systematischen Gruppen sehen; das praktische System verlangt mög- lichste Stabilität und scharfe Abgrenzung. Wir müssen uns dieser Gegen- sätze bewußt sein, wenn wir versuchen, dauernd die Systematik in den Dienst beider Aufgaben zu stellen. Die phylogenetische Forschung wird der praktischen Verwertbarkeit des Systems insofern Rechnung tragen müssen, als sie nur wohlbe- gründete Anschauungen systematisch verwertet; die praktische Systematik wird gegen den hohen Gewinn eines wissenschaftlichen Inhaltes manche Unbequem- lichkeiten, wie zeitweise Umgestaltungen und Verlust scharfer Unterscheidungs- merkmale mit in Kauf nehmen. Wohl aber gibt es heute schon Fälle, in welchen die beiden Aufgaben der Systematik miteinander unvereinbar sind, und in sol- ı) Vgl. Verhandl. d. intern. botan. Kongresses in Wien, 1905 (Jena, Verlag v. G. Fischer 1906) und Regles intern. de la Nomenclature bot. (Jena, Verlag v G. Fischer 1906; 2. Ausgabe 1912). Die rein deskriptive Richtung der botanischen Systematik bezeichnet man auch als Phytographie. 168 R. v. WETTSTEIN: Das System der Pflanzen chen Fällen wird es im Interesse beider liegen, auch keinen Versuch einer Ver- einigung zu machen. Dies gilt beispielsweise in Fällen, in welchen die phylo- genetische Forschung zu vorläufig noch ganz theoretischen Ergebnissen ge- langt oder .in Fällen, in denen eine bestimmte Anordnung ausschließlich prak- tischen Zwecken dient. Eine sicher zum Ziel führende, rein praktische Be- stimmungstabelle ist besser, als ein Bestimmungsbuch, das aus Gründen des wissenschaftlichen Anstandes ein bestimmtes System einzuhalten strebt. In der Entwicklung des Systemes drückt sich die Entwicklung der ganzen Botanik aus; es wäre eine zwar nicht leichte, aber dankbare Aufgabe, den Zu- sammenhängen nachzuspüren, in welchen Änderungen im Systeme mit Fort- schritten auf anderen Gebieten der Botanik stehen. Eine Darstellung der Ent- wicklung des Systems ist auch nicht leicht, da die großen, auffallenden Ände- rungen sich aus einer Unzahl von Änderungen im einzelnen zusammensetzen. Darum soll hier nur den Hauptzügen nach die Entwicklung der wissenschaft: lichen botanischen Systematik geschildert werden. Ausbau des prak- Anknüpfend an die schon von Linn& durch die Tat vorgenommene Unter- üschen Aystems scheidung zwischen dem „praktischen“ und dem ‚„wissenschaftlichen‘‘ System entwickelten sich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Richtungen der botanischen Systematik. Die eine strebte die Ausgestaltung des Linn&schen Sexualsystems an, ihre Hauptvertreter waren u.a. J. A. Murray (1740 —ı791), Christ. Persoon (1755— 1837), J. Roemer (1763— 1819), C.L. Willdenow (1765— 1812) und J. A. Schultes (1773— 1831). Wenn auch die Arbeit dieser Forscher im Hin- blicke auf die Gewinnung allgemeiner Erkenntnisse keine fruchtbare war, so ist doch ihre Leistung nicht zu unterschätzen. Sie bedeutete eine sorgfältige des- kriptive Verarbeitung des immer reicher zuströmenden Pflanzenmaterials und eine außerordentliche Erweiterung des Überblickes über die Mannigfaltigkeit des Pflanzenreiches. Im Laufe der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts starb diese Richtung der Systematik allmählich aus. Ausbau des Fruchtbarer gestaltete sich das Streben nach dem Ausbaudes ‚‚wissenschaft- Mn ı.... lichen Systems‘‘, das zunächst unbewußt, dann aber insbesondere seit der Mitte nach Linne. des 19. Jahrhunderts immer zielbewußter sich die Ausgestaltung des Systems zu einem phylogenetischen zur Aufgabe stellte. Immer mehr wurde dabei die Systematik durch das Emporblühen anderer Disziplinen der Botanik, der Phy- siologie und Anatomie, der vergleichenden Morphologie und Entwicklungsge- schichte angeregt und unterstützt. A L.deJussieu. Die erste bedeutsame Förderung erfuhr das wissenschaftliche System durch A. L. de Jussieu (1748— 1838), der sich zum Teil dabei auf Vorarbeiten M. Adansons(1727— 1806) und G. C. Oeders (1728— 1791) stützen konnte. Seiner Einteilung der Pflanzen in Acotyledones, Monocotyledones und Dicotyledones, der Dicotyledones in Apetalae, Monopetalae und Polypetalae lag der Gedanke an eine fortschreitende Entwicklung, welche mit dem Einfachen, wenig Geglie- derten beginnt und mit dem Mehrfachen, reicher Gegliederten endet, unver- kennbar zugrunde. Das Jahr 1789, in dem Jussieus Hauptwerk erschien, Geschichte des Pflanzensystemes 169 kennzeichnet den Moment, in dem ein konsequenter Ausbau des entwicklungs- geschichtlichen Systems einsetzt. 1819 veröffentlichte Aug. Pyr. De Candolle (1778—1841) sein System, das wegen seiner glücklichen Anordnung und Umgrenzung zahlreicher Familien heutenoch vielfach in Gebrauch steht, wozu allerdings auch der Umstand wesent- lich beitrug, daß es einigen großen, viel benützten Nachschlagewerken zur Grundlage diente. In einem Punkte bedeutet De Candolles System einen Rückschritt gegenüber Jussieu, nämlich in der absteigenden Reihenfolge der großen Gruppen vom höher Differenzierten zum Einfacheren, was dem Grund- gedanken der entwicklungsgeschichtlichen Anordnung widerspricht. Abgesehen von den schon erwähnten Vorzügen im einzelnen bedeutet aber die Umgrenzung der Thallophyten als Hauptgruppe des Pflanzenreiches (von De Candolle „Aphyllae‘‘ genannt) einen ganz wesentlichen Fortschritt. Einen weiteren be- deutsamen Schritt in der entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnis stellt das System Stefan Endlichers (1804—1849) dar, der überhaupt zu den genial- sten Systematikern aller Zeiten zählte. Er kehrte zu der vom Einfachen zum Differenzierteren vorschreitenden Gesamtanordnung Jussieus zurück. Seine Unterscheidung der Thallophyten und Kormophyten stellt die zwei großen ent- wicklungsgeschichtlichen Gruppen des Pflanzenreiches fest, welche wir im wesentlichen auch heute noch unterscheiden und noch nicht durch phylogene- tische Zwischenformen zu verbinden vermögen; er erkannte ferner die Zusam- mengehörigkeit jener Pflanzen, welche wir heute als Archegoniaten im engeren Sinne bezeichnen (Acrobrya Endlichers). Die Gegenüberstellung der auto- trophen Thallophyten (als Protophyta) und der heterotrophen Pilze (als 7y- sterophyta) verrät eine Auffassung, die erst vielspäter wieder zur Geltung kam, gleichwie auch die scharfe Umgrenzung der Gymnospermen, die Annäherung der Zamieae an die Farne u. v. a. dem phylogenetischen Gefühle Endlichers alle Ehre macht. Auf Brongniart (I801— 1847) ist die systematische Unterscheidung der Kryptogamen und Phanerogamen zurückzuführen. Wenn wir auch heute die ersteren nicht mehr als eine systematische Einheit ansehen, so entspricht doch die Zusammenfassung der morphologisch weniger hoch entwickelten Pflanzen einem auch gegenwärtig noch gefühlten praktischen Bedürfnis. Das System Brongniarts wurde 1843 veröffentlicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam nun die Verwertung der Ergebnisse der Nachbardis- ziplinen und die bewußte Betonung des phylogenetischen Momentes immer stär- kerzur Geltung. Es ist dabei von psychologischem Interesse, zu sehen, wie nur schrittweise sich die Konsequenzen aus den neuen Anschauungen für die Systematik ergaben, wie stark insbesondere sich die Wirkung der Tradition in der Beibehaltung früher auf ganz anderen Einteilungsprinzipien beruhender Gruppierungen bemerkbar machte. Alexander Braun räumte erst 1864 den Gymnospermen in richtiger Einschätzung ihrer entwicklungsgeschichtlichen Stellung den Platz zwischen den Archegoniaten und Angiospermen ein, den sie fortan behaupten; er führte die scharfe Trennung zwischen den Bryophyten A.P.deCandolle. St. Endlicher. Brongniart. A. Braun. Derzeitiger Stand der Syste- matik der Blütenpflanzen Moose und Farn- pflanzen. Thallophyten. 170 R. v. WETTSTEIN: Das System der Pflanzen (als Thallophyllodea) und den Pteridophyten (als Cormophyta) durch; dagegen ist es wohl mehr auf den Einfluß der Tradition als auf Erkenntnis zurückzu- führen, wenn er die unnatürliche Stellung der Monokotyledonen zwischen den Gymnospermen und den Dikotyledonen, die unmotivierte Stellung der Sym- petalen vor den Eleutheropetalen beibehält. Erst A. Eichler zog 1883 aus der entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnis für die Sympetalen, OÖ. Drude 1887 für die Monokotyledonen die systematischen Konsequenzen. Damit war das phylogenetische System der Blütenpflanzen, soweit die großen Gruppen in Betracht kommen, zu einem provisorischen Abschlusse ge- langt. Die systematische Aufeinanderfolge der Gruppen der Gymnospermae, der Choripetalae (mit den Untergruppen der Monochlamydeae und Dialypetaleae), Sympetalae und Monocotyledones soll im großen und ganzen der Aufeinander- folge wichtiger Epochen in der Entwicklung der Blütenpflanzen entsprechen, wobei natürlich nicht daran gedacht werden kann, daß die Anfangsglieder der einen Gruppe an die Endglieder der vorhergehenden anschließen, sondern im Gegenteil die Anfänge der in der Aufzählung später stehenden Gruppen meist schon ziemlich früh in der Formenreihe der vorhergehenden Gruppe zu suchen sind. Die Schwierigkeit, welche dadurch entsteht, daß die notgedrungene An- einanderreihung systematischer Gruppen kein ganz richtiges Bild von ihrem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhange gibt, tritt hier deutlich hervor. Die Arbeiten der letzten Jahrzehnte, welche die Systematik der Blüten- pflanzen behandelten, bezogen sich insbesondere auf den Ausbau innerhalb der großen Gruppen. Dieser Ausbau erfuhr durch große zusammenfassende Bear- beitungen des ganzen Pflanzenreiches eine wichtige und induktive Förderung; von solchenBearbeitungen sind insbesondere die ‚natürlichen Pflanzenfamilien“ (Leipzig, W. Engelmann 1887—1909) zu nennen, welche auf die kräftige Ini- tiative A. Englers zurückzuführen sind. Auf ganz anderen Grundlagen beruhende Einteilungen der Blütenpflanzen, wie sie 1891 A. v. Kerner, 1897 Ph. van Tieghem versuchten, vermochten keinen Beifall zu finden; die Versuche, welche in neuerer Zeit E. Hallier zur Neubegründung des Systemes der Blütenpflanzen unternimmt, beruhen auf bestimmten phylogenetischen Anschauungen, deren Darlegung einem späteren Abschnitte dieses Buches vorbehalten bleiben muß. Die von ihm angeregte Auflassung der Gruppe der Sympetalen als einer polyphyletischen Gruppe ver- dient ernste Beachtung. Auch die systematische Stellung der Moose und Farnpflanzen am Anfang des Systemes der Kormophyten hat seit der epochemachenden Aufdeckung des Generationswechsels derselben durch W. Hofmeister in neuerer Zeit keine wesentliche Änderung erfahren; sie werden übereinstimmend als Vorläufer der Blütenpflanzen betrachtet, mag dies systematisch zum Ausdruck kommen, in- dem man sie an den Beginn des Systemes der Kormophyten stellt (Wettstein) oder als eigene Hauptgruppe zwischen die Thallophyten und Blütenpflanzen einschaltet (Engler). Groß waren in den letzten Jahrzehnten die Änderungen auf dem Gebiete Derzeitiger Stand der Systematik 171 der Systematik der Thallophyten. Dies kann nicht überraschen, denn gerade auf diesem Gebiete haben fortgesetzte und vertiefte Beobachtungen, neue Me- thoden und die Ergebnisse anderer Disziplinen unsere Kenntnisse enorm ver- mehrt. Seit De Candolle waren die Thallophyten unter verschiedenen Namen (Aphyllae De Candolles, Thallophyta Endlichers, Amphigenes Bron- gniarts, Thallodea A. Brauns) als eigene, durch relativ einfache Organisation charakterisierte Hauptgruppe des Pflanzenreiches aufgefaßt worden. F. Cohn wies 1872 darauf hin, daß die bis dahin allgemein übliche Einteilung der Thal- lophyten in Algen und Pilze eine rein künstliche, nämlich auf die Ernährungs- weise begründete, sei und schlug eine neue Einteilung derselben auf Grund der graduell verschiedenen Ausbildungsweise der Sporen als eines entwicklungs- geschichtlichen Momentes hin; sein Versuch wurde durch J. Sachs, Fischer und G. Winter fortgeführt. Schon vorher war durch die Forschungen De Ba- rys und S. Schwendeners eine Aufklärung der Stellung der Flechten ange- bahnt worden, welche uns heute als Pilztypen erscheinen, die sich an die Sym- biose mit autotrophen ‚Algen‘ angepaßt haben. Die Reformbestrebungen Cohns und seiner Mitarbeiter führten aber zu keinem befriedigenden Resultate. Immer mehr erwies es sich als unmöglich, die Gesamtheit der Thallophyten als Glieder eines Verwandtschaftskreises auf- zufassen, und man gelangte allmählich zu der Anschauung, daß hier mehrere zu verschiedener Höhe der Organisation gelangte Entwicklungsreihen vor- liegen, von denen eventuell eine die Vorläufer der Kormophyten, somit der höher organisierten Pflanzen enthält. Während daher an der Auffassung der Kormophyten oder wenigstens der Blütenpflanzen als einer monophyletischen Gruppe im allgemeinen festgehalten wurde, gelangte in bezug auf die Thallo- phyten immer mehr die Anschauung zur Geltung, daß wir mit diesem Namen eine phylogenetisch inhomogene, polyphyletische Gruppe bezeichnen. Schon 1896 hatte J. Sachs, der nicht nur als Physiologe bahnbrechend wirkte, son- dern wie wenige das Pflanzenreich in seiner Gesamtheit erfaßte, auf die Wahr- scheinlichkeit hingewiesen, daß sich im Pflanzenreiche mehrere entwicklungs- geschichtlich selbständige Gruppen (Architypen) nachweisen lassen. Engler schied 1892 die Schleimpilze mit ihrer ganz eigenartigen Organisation als M yxo- thallophyta von denübrigen Thallophyten aus, Wettstein teilte 1901 die Thallo- phyten in sechs selbständige Formenkreise oder Pflanzenstämme (Myxophyta, Schizophyta, Zygophyta, Phaeophyta, Rhodophyta, Euthallophyta) von verschie- dener, wenn auch ähnlicher Herkunft. A. Engler ging 1907 noch weiter und unterschied zwölf Hauptabteilungen des Pflanzenreiches, von welchen zehn auf die Thallophyten entfallen. Auch F. Rosen, J.P. Lotsy und F. Oltmanns sind in jüngster Zeit für die polyphyletische Auffassung der Thallophyten ein- getreten. Daß diese kurze Darstellung der Geschichte des Pflanzensystems nur auf die großen Gruppen des Pflanzenreiches Rücksicht nehmen kann, entspricht der gestellten Aufgabe. Ebenso ist es hier nicht möglich, alle Umgestaltungen zu besprechen, welche im Laufe der Zeit das System erfahren hat; es handelt Zukünftige Aufgaben der Systematik. 172 R. v. WETTSTEIN: Das System der Pflanzen sich mehr darum, die wesentlichsten Momente in der Geschichte des heute all- gemeiner angenommenen phylogenetischen Systems hervorzuheben. Es er- scheint aber als eine Forderung der Billigkeit, hier einiger Männer zu gedenken, die in dem behandelten Zeitraume wesentlich an der Ausgestaltung des Systems mitarbeiteten und insbesondere dadurch für die Verbreitung einzelner systema- tischer Darstellungen wirkten, als sie dieselben großen zusammenfassenden Wer- ken zugrunde legten. Es seien in diesem Sinne insbesondere H. G. L. Reichen- bach (1793— 1879), J. Lindley (1799— 1856), G. Bentham (1800— 1884), ]J. D. Hooker (1817— 1913), H. Baillon (1827—1895), E. Warming (geb. 1841) u.a. genannt. Überblicken wir das, was bisher auf dem Gebiete der systematischen Bo- tanik geleistet wurde, so erhalten wir wohl den Eindruck, daß es gelungen ist, im Systeme im großen und ganzen, soweit es nach dem früher Gesagten über- haupt möglich ist, den Entwicklungsgang der Pflanzenwelt zum Ausdrucke zu bringen. Es würde aber eine ganz gewaltige Überschätzung des Geleisteten be- deuten, wenn wir annehmen wollten, daß wir der Erfüllung der Aufgabe über- haupt uns schon stark genähert haben; eine enorme Arbeit ist im einzelnen noch zu leisten, aber auch einzelne Fragen von prinzipieller Wichtigkeit sind noch zu beantworten. Es sei gestattet, auf einige dieser Aufgaben hier kurz hinzuweisen. Den einfachsten Typus pflanzlicher Organisation stellen die Flagellaten dar. Die ge- ringe Größe dieser Organismen, die geringen Anhaltspunkte, welche die äußere Morphologie für eine systematische Behandlung bietet, haben lange Zeit zu einer Vernachlässigung dieser reichen Organismengruppe geführt. Nicht nur an und für sich verspricht die moderne Flagellatenforschung bemerkenswerte systema- tische Ergebnisse; von allgemeinstem Interesse muß die Beantwortung der Frage sein, inwieferne sich hier Typen finden, welche als primitive Entwick- lungsstadien der großen Gruppen der Thallophyten aufgefaßt werden können. Die Systematik der übrigen Thallophyten wird auf lange Zeit hinaus ein dankbares Arbeitsgebiet bleiben. Fortgesetzte Untersuchungen werden erst er- geben, ob nicht die Zahl der hier zu unterscheidenden Pflanzenstämme größer ist. Die Systematik der Schizophyten, speziell der Spaltpilze, ist bisher eine ganz provisorische, von Natürlichkeit weit entfernt. Das System der geradezu unübersehbaren Gruppe der Pilze hängt wesentlich von der Klärung der Frage nach der Herkunft derselben ab. Darin stimmen heute alle Systematiker über- ein, daß sie als heterotrophe Formen von autotrophen ‚Algen‘ abzuleiten sind, doch herrscht keine Einigkeit darüber, welche der großen Algengruppen dabei in Betracht kommen. Die Pilzgruppe der Phykomyzeten zeigt recht klare Be- ziehungen zu den Chlorophyzeen, anderseits können Ähnlichkeiten der Schlauch- pilze (Ascomycetes) mit den Rotalgen (Rhodophyta) nicht in Abrede gestellt werden; eine polyphyletische Ableitung der Pilze mit ihren systematischen Kon- sequenzen kann heute nicht als ausgeschlossen bezeichnet werden. Für die allgemeine Systematik der Moose ist die Aufklärung der Herkunft derselben von größter Wichtigkeit; wir wissen heute darüber nichts Sicheres Zukünftige Aufgaben der Systematik 173 und sind auf Theorien angewiesen. Jenach dem Ergebnisse dieser theoretischen Anschauungen muß natürlich die systematische Anordnung der zu konstatie- renden Gruppen verschieden sein. Eine starke Beeinflussung hat in jüngster Zeit die Systematik der Pteridophyten durch die Ergebnisse der Paläontologie erfahren; in dieser Hinsicht ist noch so mancher Fortschritt zu erwarten. Für das System der Blütenpflanzen ist von entscheidender Bedeutung die Aufklä- rung des genetischen Zusammenhanges zwischen Angiospermen und Gymno- spermen, speziell die der Entstehung der Angiospermenblüte. Die heute allge- meinere Verbreitung aufweisenden Systeme gehen von der Anschauung aus, daß die eingeschlechtigen, ein einfaches Perianth aufweisenden Blüten der Mo- nochlamydeen relativ ursprünglich sind, und die systematische Anordnung der Dikotyledonen: Monochlamydeae — Dialypetaleae — Sympetalae entspricht dieser Anschauung. Sollte sich nachweisen lassen, was mehrfach versucht wird, aber derzeit nicht als aussichtsreich bezeichnet werden kann, daß der ein- fache Bau der Monochlamydeenblüte auf Reduktion beruht, dann müßte eine ganz wesentliche Umgestaltung des Systems die Folge sein. Die Frage, ob die Sympetalen, die lange Zeit als eine der natürlichsten großen Gruppen des Sy- stemes galten, polyphyletisch entstanden oder nicht, ist heute eine aktuelle. Es spricht manches dafür, daß sie bejaht werden muß; derzeit ist es noch nicht möglich und angemessen, daraus systematische Konsequenzen zu ziehen, denn wenn auch die Beziehungen der Plumbaginales, Tubiflores, Ligustrales und Ru- biales zu Gruppen der Dialypetaleen wahrscheinlich gemacht wurden, so läßt sich doch Ähnliches für einige andere Reihen der Sympetalen noch durchaus nicht sagen. Für eine Ausgestaltung des Systemes der Angiospermen überhaupt im phylogenetischen Sinne wird es zweckmäßig sein, besondere Aufmerksamkeit der Konstruktion der Familienreihen zuzuwenden resp. die diesbezüglichen Be- mühungen fortzusetzen. Jede solche sichergestellte Reihe stellt einen Ast des Stammbaumes dar, dessen Rekonstruktion um so richtiger ausfallen muß, je besser der Aufbau der einzelnen Äste bekannt ist. Dies sind einige der Fragen, welche für die Systematik der Pflanzen im all- gemeinen von besonderem Interesse sind. Die Beantwortung dieser Fragen wird um so einwandfreier ausfallen, je mehr von einer einseitigen Methodik abgesehen und die Systematik durch Verwertung aller Ergebnisse der wissenschaftlichen Botanik zu einer allgemeinen Zusammenfassung derselben wird. Anläßlich dieser Berührung der Methodik der Systematik mag eine Bemer- kung nicht unterdrückt werden. Gerade bei wissenschaftlich geschulten Systema- tikern findet man so häufig das Bestreben, das System nach bestimmten phylo- genetischen Prinzipien auszubauen. Mögen diese Prinzipien auch wissenschaft- lich begründeten Anschauungen entspringen, so werden sie zu einer Gefahr, wenn ihre Anwendung in schematischer Weise erfolgt. Die schematische Anwen- dung solcher, nach bester Überzeugung für richtig gehaltener Prinzipien führt immerzu einermehr oder minderkünstlichen Systematik. Die verschiedene Gestal- tung, welche in verschiedenen Entwicklungsreihen der organischen Welt her- vortritt, ist darauf zurückzuführen, daß in jeder derselben andere Momente die 174 R. v. WETTSTEIN: Das System der Pflanzen Entwicklung beherrschten; es muß Aufgabe der Systematik sein, für jede Ent- wicklungsreihe diese ausschlaggebenden Momente ausfindig zu machen. Bei der systematischen Behandlung engerer Formenkreise, der Gattungen und Arten wird immer die monographische Bearbeitung jene Vertiefung herbei- führen, welche zu wissenschaftlich wertvollen und dauernden Ergebnissen führt. Hier liefern auch Methoden einen phylogenetischen Einblick, die bei Behandlung großer Formenkreise versagen; es sei diesbezüglich nur auf die Ergebnisse der Biogeographie und auf die Resultate des Experimentes hingewiesen, das gerade in neuerer Zeit wieder mit Recht auf dem Gebiete der botanischen Systematik stärker in den Vordergrund tritt. Literatur. Über die Literatur vor 1860 vgl. insbesondere J. SACHS, Geschichte der Botanik München 1875. BAILLON, H., Histoire des plantes. Paris 1867 — 1894. BENTHAM, G, and HOOKER, J. D., Genera plantarum. London 1862— 1883. (Kurze Darstellung des Systemes in DURAND, TH., Index generum phanerog. Brüssel 1888.) BONNIER, G. et LECLERC DU SABLON, Cours de Botanique. Paris 1905. DRUDE, O., Die systematische und geographische Anordnung der Phanerogamen ın SCHENK, A,, Handb. d. Bot. III. Bd. Breslau 1887. EICHLER, A., Blütendiagramme. Leipzig 1875 u. 1878. —, Syllabus der Vorles. über spez. u. mediz.-pharm. Bot. 3. Aufl. Berlin 1883, 4. Aufl. 1386. ENGLER, A. (zum Teil mit K. PRANTL), Die natürlichen Pflanzenfamilien. Leipzig 1887—1909. — , Syllabus der Pflanzenfamilien. 7. Aufl,, gemeinsam mit E. GILG. Berlin 1912. HALLIER, H., Entw. d. nat. Systemes d. Blütenpfl. Bull. de I’'herb. Boiss. 2. Ill. 1903. — , Ein zweiter Entwurf d. nat. Syst. d. Blütenpfl. Ber. d. deutsch. bot. Ges. XXIU. 1905. —, L’origine et le syst. phylet. d. Angiosp. Arch. Neerland. 1912. LoTsv, J. P., Vorträge über botanische Stammesgeschichte. Jena 1907— 1911. ROSEN, F., Studien über das natürl. System d. Pflanzen in COHns Beitr. z. Biol. d. Pfl. VII. 1902. TIEGHEM, PH. v., in Bull. soc. bot. de France. 1897. WARMING, E., Handbuch d. system. Botanik. Deutsch v. M. MöBıus. 2. Aufl. Berlin 1902. —, Froplanterne (Spermatophyter). Kopenhagen 1912. WETTSTEIN, R. v., Handbuch der system. Botanik. Wien. ı. Aufl. 1901, 2. Aufl. ıg11. Anmerkung. Kurze Darstellungen des Systems finden sich in vielen allgemein botanischen Lehrbüchern, so z.B. in H. FITTING, L. JOST, H. SCHENCK und G. KARSTEN, Lehrb. d. Botanik. 12. Aufl. 1913; J. WIESNER u. C. FRITSCH, Organographie und Systematik. 3. Aufl. 1909; Pax, F., Prantls Lehrb. d. Bot. 13. Aufl. 1909; GIESENHAGEN, K., Lehrb. d. Bot. 5. Aufl. 19Iou.v.a. Aufgaben. BIOGEOGRAPHIE. Von A. BRAUER. Die Biogeographie hat die Beziehungen der Tiere und Pflanzen zur Erd- oberfläche zum Gegenstande. Sie behandelt ein Grenzgebiet zwischen Geogra- phie und Biologie. Einige rechnen sie zur Geographie, indem sie auf den Wohn- platz das Hauptgewicht legen, die meisten zur Biologie, indem sie die Organis- men in den Vordergrund stellen und die Erscheinungen vornehmlich vom bio- logischen Standpunkt betrachten und zu erklären versuchen. Da die wichtig- sten Aufgaben der Biogeographie nur von Biologen gelöst werden können und fast nur von Biologen behandelt sind, so erscheint die Auffassung der zweiten Gruppe als die am meisten begründete. Die Hauptaufgaben der Biogeographie sind folgende: I. das gegenwärtige Bild der Verbreitung der Tiere und Pflanzen über die Erde auf das Genaueste darzulegen, 2. die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und ihrer Um- gebung zu ergründen und 3. die Entstehung des jetzigen Verbreitungsbildes zu erklären. Für die Lösung dieser Hauptaufgaben ist die erste und wichtigste Vorbe- dingung eine gründliche Systematik. Solange dieseVorbedingung nicht erfüllt ist, kann die Biogeographie nur oberflächlich sein, ohne wissenschaftlichen Wert zu besitzen. Das beweist am besten das Zeitalter der großen Entdeckungsreisen. Ob- wohl durch sie eine Fülle von neuen unbekannten Formen ausallen Gebieten der Erde nach Europa gebracht wurde, war der Gewinn für die Biogeographie sehr gering, weil man nicht die Kenntnisse und Mittel hatte, die Formen scharf zu charakterisieren und durch sichere Benennung ihre Stellung im System dauernd festzulegen. Erst mit der Begründung des Systems durch den großen Gesetzgeber der Biologie, C. Linn&, war die Möglichkeit auch zur Begründung einer wissen- schaftlichen Biogeographie geschaffen. Aber auch heute noch, wo die biogeo- graphische Arbeit in die Tiefe geht, kann nicht genug betont werden, daß die systematische Stellung der Tiere und Pflanzen gesichert sein muß, bevor man an ihre biogeographische Bewertung geht. Nur zwei Beispiele mögen es erläu- tern. Die tiergeographische Bedeutung der echten Laubfrösche, Hylidae, ist eine ganz andere geworden, seitdem der Systematiker gezeigt hat, daß viele ihnen ähnliche und besonders wegen der Haftscheiben früher ihnen zugerech- nete Formen wie z. B. Rhacophorus nicht in diese Gruppe gehören. Denn daraus ergibt sich das tiergeographisch interessante Resultat, daß echte Laubfrösche im ganzen malaiischen Archipel, im tropischen Afrika und Madagaskar trotz Umgrenzung der Hauptaufgaben 77 günstigster Existenzbedingungen fehlen. Ebenso haben die sogenannten Strauße der südlichen Kontinente ihre Bedeutung für die Frage eines ehemali- gen Zusammenhanges derselben verloren, seitdem man weiß, daß die Gruppe der Ratitae, in der man diese Vögel vereinigt hatte, eine künstliche ist und in mindestens zwei verwandtschaftlichfernstehendeGruppen aufgelöst werden muß. Erst nach der Erfüllung dieser Vorbedingung, einer gründlichen Systematik, kann die erste Hauptaufgabe in Angriff genommen werden. Das heutige Verbrei- tungsbild der Tiere und Pflanzen zu entwerfen ist im wesentlichen eine statistische Arbeit. Ihr Resultat fällt verschieden aus, je nachdem man dabei mehr den geo- graphischen oder den biologischen Standpunkt einnimmt. Im ersteren Falle wird man die Fauna und Flora eines bestimmten Gebietes festzustellen, im letzteren das Verbreitungsareal für jede Art, Gattung, Familie usw. zu ermitteln und kar- tographisch festzulegen suchen. Jenes Verfahren hat für die Biogeographie gerin- gen Wert, weilin der Regel die Gebiete politisch umgrenzt werden, dadurch das heutige Verbreitungsbild künstlich zerrissen und sein Verständnis wenig geför- dert wird. Dagegen ist die Ermittlung der Verbreitungsareale für jede Art usw. unbedingt notwendig, weil nur sie gestattet, auch die dritte Hauptaufgabe, das heutige Verbreitungsbild zu erklären, in Angriff zu nehmen, nur sie auf beson- dere Verhältnisse in der Verbreitung, auf zonale, meridionale oder eng begrenzte Verbreitung, auf Kontinuität oder Diskontinuität der Areale, auf Armut oder Reichtum der Organismen in verschiedenen Zonen u. a. aufmerksam macht. Auch Lokalfaunen und -floren können größeren Wert als einfache Listen von Namen haben, wenn nur das Gebiet nicht politisch, sondern physikalisch um- grenzt und wenn auch auf die kleinsten systematischen Einheiten wie Rassen und Varietäten und ihre Beziehungen zum Boden, Klima, zu anderen Organis- men, mit denen sie eine Lebensgemeinschaft bilden, und auf andere im Wohn- ort oder in der Biologie begründete Verhältnisse Rücksicht genommen wird. Die Zusammenfassung der Areale der Arten, Gattungen, Familien zu größe- ren Bezirken, die man in der Tiergeographie gewöhnlich als ‚Regionen‘, in der Pflanzengeographie als ‚Reiche‘ bezeichnet, ist nur eine Fortführung derselben statistischen Arbeit. Von manchen Seiten wird heute diese Arbeit unterschätzt, aber man sollte bedenken, daß sie allein eine Übersicht der Verbreitung der Tiere und Pflanzen ermöglicht und deshalb schon aus praktischen Gründen not- wendig ist. Es ist allerdings ausgeschlossen, daß man Regionen oder Reiche be- gründen kann, welche für alle Tiere oder Pflanzen gültig sind. Denn die Verbrei- tung der verschiedenen Organismen wird von den verschiedenen Faktoren in sehr verschiedener Weise beeinflußt. Es ist auch ganz ausgeschlossen, daß man, wie esfrüher geschah, eine Region oder ein Reich inallen Fällen biogeographisch richtig, z. B. durch Anführung von einigen ‚Charaktertieren‘‘ oder ‚„Charakter- pflanzen‘ kennzeichnen kann, weil in der Regel hierfür nur die auffälligsten For- men gewählt werden, die unter Umständen ein biogeographisch ganz falsches Bild geben können. Dieses muß ohne weiteres zugegeben werden, aber trotz- dem muß an der Einteilung der Erde in biogeographische Regionen oder Reiche festgehalten werden, wenn man das Arbeiten erleichtern will. Nur sollte man K.d.G.Il.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. I2 178 A. BRAUER: Biogeographie streben, sie möglichst wissenschaftlich zu begründen. Man sollte erstens die Ver- suche, einefür alle Tiere oder Pflanzen gültige Einteilung zu geben, aufgeben, weil eine solche einfach unmöglich ist; man muß vielmehr für jede Klasse eine beson- dere Übersicht ihrer Verteilung geben oder, wo es aus praktischen Gründen wie z. B. beim Unterricht nicht durchführbar ist, eine bestimmte Gruppe der Eintei- lung zugrundelegen, und naturgemäß wird man dann die auffallendste und beson- ders zum Menschen in engster Beziehung stehende Gruppe wie die Säugetiere und Laub- oder Nadelhölzer u.ä. wählen. Zweitens sollte man den Begriff ‚Region‘ oder ‚Reich‘ gleich ‚‚Entwicklungszentrum‘ fassen, also genetisch zu begründen suchen. Freilich auch dann wird man Kompromisse machen müssen, weil dieVer- breitung in der Vorzeit von der jetzigen für die meisten Gruppen zu große Ver- schiedenheiten aufweist und ihre Kenntnis zum Teil noch sehr lückenhaft ist. Die zweite Aufgabe, die Bewohner als die Produkte der Wechselwirkungen zwischen ihnen und dem Boden, dem Klima, anderen Organismen, kurz der gan- zen anorganischen und organischen Umgebung nachzuweisen, ist schwierig, aber auch experimentell angreifbar; zum Teil ist sie nur mit Hilfe anderer Wissen- schaften, so der Bodenkunde, Klimatologie, Ozeanographie, Oekologie u. a. zu lösen. Diese physiologische Geographie ist am frühesten von den Botanikern gepflegt und viel weiter vonihnen ausgebaut als von den Zoologen. Dieser Unter- schied erklärt sich daraus, daß die Pflanze infolge ihres einfacheren Baus und der größeren Exponiertheit ihrer Organe von den äußeren Lebensbedingungen, besonders vom Klima (Wärme, Wasser, Licht) und vom Boden nicht nur viel leichter und intensiver beeinflußt wird, sondern diesen Einfluß auch im äußeren Habitus, im Wachstum, in der Gestaltung der Blätter, Behaarung, Dicke usw. und auch im feineren Bau deutlicher hervortreten läßt. Sehr oft zeigen die verschiedensten Pflanzen eines Gebietes den gleichen Lebensbedin- gungen entsprechende Umgestaltungen, bilden Pflanzengemeinschaften, For- mationen, und ihre Haupttypen, Gehölz, Grasflur und Wüste, kehren in allen Ländern bei gleichen Bedingungen wieder. Daher ist es begreiflich, daß das Auge des Forschers auf sie zuerst gelenkt wird, und ihn diese Aufgabe, die Fest- stellung der Einwirkung eines jeden Faktors und des Zusammenwirkens aller auf die Pflanzenwelt eines Gebietes, besonders reizt; ja manchmal wird sie sogar der erstgenannten Aufgabe vorangestellt. Auch der Geograph, der beson- ders zu wissen wünscht, inwieweit die Pflanzen die Physiognomie der Landschaft bestimmen, hat ein besonderes Interesse an der Lösung dieser Aufgabe. Das Tier steht zwar ebenfalls in Abhängigkeit von seiner Umgebung, läßt aber diesen Einfluß infolge des komplizierteren Baues, der Fähigkeit, sich der Einwirkung der äußeren Faktoren zu entziehen und der größeren Mannigfaltig- keit der Lebensbedingungen bei weitem nicht so klar erkennen als die Pflanze. Nur dort, wo eine gewisse Einförmigkeit in den Lebensbedingungen herrscht oder wo bestimmte Faktoren schärfer als andere ihren Einfluß geltend machen können, wie in den polaren Gebieten, in Wüsten, Höhlen, zum Teil auch in der Tiefsee, Hochsee, Brandungszone u. a. haben wir etwasähnliche Verhältnisse, wie sie die Pflanzenformationen bieten. Verbreitungsmittel 179 Diese ersten beiden Hauptaufgaben der Biogeographie konnten bereits be- arbeitet werden, als noch die Ansicht herrschte, daß jede Tier- und Pflanzenart dort erschaffen ist, wo sie heute lebt, und daß weder eine Veränderung des Organismus noch eine solche des Wohnorts stattgefunden hat. Dagegen konnte die Frage nach der Entstehung des heutigen Verbreitungsbildes, welche den In- halt der dritten Hauptaufgabe bildet, erst aufgeworfen werden, als die Kenntnis der geologischen und klimatischen Veränderungen der Vorzeit und die der fossilen Organismen gefördert und besonders die von Lyell und Dar- win aufgestellten Lehren von der kontinuierlichen Entwicklung der Erde und der Organismen und von ihren Veränderungen siegreich durchgedrungen waren. Da- mit wurde auch in der Biogeographie der genetische Gesichtspunkt eingeführt. Will man die Entwicklung der heutigen Verbreitung ergründen, so wird man zunächst prüfen, welchen Anteil daran die Tiere und Pflanzen selbst haben: wie groß ist ihre Verbreitungsfähigkeit, wie weit wird sie begrenzt und durch welche Faktoren, und weiter, genügt er zum vollen Verständnis aller Erschei- nungen, welche die Verbreitung bietet, oder kommen hierfür noch andere Fak- toren in Frage? Gewöhnlich unterscheidet man aktive und passive Verbreitung; ak- tiv nennt man sie, wenn sie durch eigene Fortbewegungsorgane der Organismen erfolgt, passiv, wenn sie durch Kräfte, die außerhalb der Organismen liegen, bewirkt wird. In manchen Fällen kann ein gleichzeitiges Zusammenwirken bei- der Kräfte die Verbreitung bedingen oder es können die passiven Verbreitungs- mittel durch besondere Einrichtungen der Organismen in ihrer Wirkung unter- stützt werden. Die aktive Verbreitung spielt naturgemäß bei der Verteilung der Tiere eine weit größere Rolle als bei der der Pflanzen. Sie ist in ihrer Größe abhängig vom Grade der Ausbildung der Bewegungsorgane und von der Wider- standsfähigkeit der Organismen. So wird ein Vogel, eine Fledermaus, ein ge- flügeltes Insekt oder ein gut schwimmendes Tier leichter über größere Entfer- nungen sich verbreiten können als ein am oder im Boden lebendes oder schwach oder gar nicht flugfähiges oder schlecht schwimmendes. So erklärt es sich, das Inseln, die weit vom Festlande entfernt liegen und niemals Teile einer größeren Landmasse gewesen sind, wohl Vertreter der genannten leicht beweglichen Tiere haben, dagegen keine Säugetiere, Schlangen, Amphibien u. a., es sei denn, daß sie vom Menschen eingeführt sind. Aber man darf hier nicht verall- gemeinern. Denn es ist oft der Fall, daß selbst gute Flieger keine universelle, ja selbst nicht eine weite Verbreitung haben. So ist z. B. die Flughundgattung Pteropus auf den Chagosinseln, den Malediven, Seychellen und Madagaskar zu finden, nicht aber in Afrika. In Archipelen, z. B. in dem der Seychellen, kann man sogar beobachten, daß eine Vogel- oder Fledermausart nur auf einer Insel lebt, obwohl die anderen in Sichtweite liegen und, soweit die Flugfähigkeit in Frage kommt, sicher erreichbar sind. Der Grad der Verbreitungsfähigkeit entscheidet mithin allein noch nicht die Verbreitungsmöglichkeit. Nicht minder kritisch muß man bei der Beurteilung der die passive Ver- breitung bewirkenden Mittel sein. Es kommen hier besonders Winde, Strö- 122 Verbreitungs- mittel, 180 A. BRAUER: Biogeographie mungen, andere Tiere und Pflanzen und seit seiner Entstehung der Mensch und seine Verkehrsmittel in Betracht. Sie können sowohl für ausgebildete Or- ganismen, besonders schwimmende, fliegende und kleine als auch für ihre Eier, Samen, Ruhezustände bedeutungsvoll werden. Zum Teil, besonders bei Pflan- zen und Hochseetieren, sind besondere Anpassungen für diese passive Verbrei- tung entwickelt. Man weiß, daß Winde geflügelte Tiere weit über das Meer re- gelmäßig verschlagen, daß sie im aufgewirbelten Staube Eier, Samen, enzy- stierte Tiere u.a. weithin tragen, daß Strömungen auf oder in Holzteilen Orga- nismen mit sich führen, daß Vögel an ihren Füßen kleine Wassertiere und Sa- men verschleppen usw., aber eine andere Frage ist, ob diese Verbreitung auch zu einer dauernden Besiedelung führt. Denn abgesehen davon, daß von den meisten Tieren mindestens ein Paar oder ein trächtiges Weibchen verschleppt werden muß, kommt es darauf an, ob sie lebensfähig beim Transport bleiben und ob die Bedingungen sowohl der anorganischen wie organischen Natur in dem neuen Gebiet eine Weiterentwicklung zulassen. So hat eine Untersuchung der mit dem Schiffsverkehr nach Hamburg eingeschleppten Tiere zwar ergeben, daß ihre Zahl sehr groß ist, aber auch, daß nur ein sehr geringer Teil zu einer dauernden Besiedelung Deutschlands gekommen ist. Es hat sich ferner gezeigt, daß man in vielen Fällen das Vorkommen der Organismen in einem Gebiet auf eine passive Verbreitung hat zurückführen wollen, nur aus dem Grunde, weil es im Widerspruch mit einer über die Geschichte des Gebietes aufgestellten Hy- pothese stand. Freilich darf man auch nicht umgekehrt aus Beobachtungen über eine geringe Wirkung dieser Verbreitungsmittel in der Jetztzeit ohne wei- teres auf die Vergangenheit schließen. Denn jetzt ist fast jeder Platz der Erde von Organismen besetzt, und die stark ausgedehnte Kultur verhindert ein Ein- dringen fremder Arten, anders dagegen war es in der Vorzeit, wo an vielen Stellen noch Neuland sich fand. Weiter muß man hierbei auch mit langen Zeit- räumen rechnen. Wenn im Laufe von hundert Jahren auch nur eine Besiedelung glückte, so konnte doch im Laufe der vielen Millionen Jahre, die die Erde alt ist, durch die passive Verbreitung eine wesentliche Veränderung als Resultat sich ergeben. Nicht groß genug kann für die Jetztzeit wie für die früheren Zeiten der Einfluß des Menschen, seiner Verkehrsmittel und seiner Kultur geschätzt werden. Absichtlich und unabsichtlich wurden Pflanzen und Tiere, sowohl Haustiere und Kulturpflanzen als auch andere Organismen durch ihn ver- schleppt und oft sogar solche von ihm eingeführt, deren Nutzen uns ganz unver- ständlich ist, z. B. die Schnecke Achatina als Nahrung für die Neger (!) auf den Seychellen. Aber nicht nur fördernd wirkt er, sondern auch vernichtend. Denn in vielen Fällen sind es diese direkt oder indirekt durch den Menschen einge- führten Organismen gewesen, welche die alte Flora und Fauna gründlich ver- ändert oder gar vernichtet haben. Und wie viele hat der Mensch nachweislich selbst bereits ausgerottet und wie viele vernichtet er noch jetzt! Kaum ein an- derer Faktor arbeitet in der Veränderung des Verbreitungsbildes so rasch und gründlich wie der Mensch. Schranken der Verbreitung 181 Den Verbreitungsmitteln stehen die Schranken gegenüber. Möglich ist Schranken. zwar organisches Leben überall, wo nur die Bedingungen dafür vorhanden sind, selbst an den Kältepolen, wie in heißen Quellen von 90°C, in Wüsten und in der Erde, wie auf den Gipfeln und in den größten Tiefen des Meeres, aber damit ist natürlich nicht gesagt, daß alle Tiere und Pflanzen eine unbegrenzte Verbrei- tungsfähigkeit haben. Im Gegenteil gibt es verhältnismäßig wenige Formen, welche überall existieren können und daher kosmopolitisch sind. Die meisten haben eine begrenzte Verbreitung, weilsiean ein für jede Art verschiedenes Op- timum der Lebensbedingungen gebunden sind, und dieses nicht überall vorhan- den ist. Eine wichtige, aber noch viel zu wenig erforschte und schwer erforsch- bare Schranke ist biologischer Natur, nämlich diejenige, die in den Beziehungen der Organismen zueinander, in ihrer Abhängigkeit voneinander begründet ist, oft klar zutage tretend, oft aber infolge eigenartiger Verkettungen sehr verdeckt (Abhängigkeit der Pflanzen von Insektenbefruchtung, der Parasiten von ihren Wirtstieren, Symbiose, Lebensgemeinschaften verschiedenster Arten u.a.). Nahrung, Boden, Klima, Gebirge, breite Ströme, Wüsten, in gleicher Richtung konstant wehende Winde u.a. bilden weitere Schranken, doch läßt sich für alle Tiere und Pflanzen Gültiges nicht angeben, weil sie sich zu verschieden verhalten. Im allgemeinen läßt sich nur sagen, daß je enger ein Organismus an bestimmte Lebensbedingungen gebunden ist, um so geringer seine Verbreitungsfähigkeit ist, und daß um so stärker die Schranken wirken. Früher hat man besonders dem Klima einen großen Einfluß auf die Ver- breitung der Organismen zugeschrieben, ja manche glaubten durch diesen Fak- tor allein schon das heutige Verbreitungsbild erklären zu können, und haben die Erde dementsprechend in zonare Gebiete eingeteilt. Eine derartige Ansicht war für die Pflanzen begreiflich, weil ihre Abhängigkeit vom Klima, wie schon oben erwähnt wurde, so groß und augenfällig ist, aber daß sie auch für die Landtiere so lange geherrscht hat, ist wohl nur daraus zu erklären, daß mit der Lehre von der Konstanz der Arten nicht nur die Ansicht verbunden war, daß jedes Tier an dem Orte erschaffen ist, an dem es heute lebt, sondern auch die, daß ihre Erschaffung im Einklang mit den ihnen zusagenden klimatischen Bedingungen geschehen ist, und weiter daraus, daß man für die zirkumpolare Verbreitung der Tiere die Gleichartigkeit des Klimas allein verantwortlich machte und aus ihr auch auf eine zonare Verbreitung in den anderen Gebieten der Erde schloß und hierbei durch scheinbare Übereinstimmungen (Edentaten, Strauße) getäuscht wurde. Denn ganz abgesehen davon, daß manche Tiergattungen sowohl in kal- tem wie in warmem Klima aushalten (z. B. Makak, Tiger, Gorilla u. a.), und daß die Tiere den klimatischen Widrigkeiten auszuweichen vermögen wie die Zugvögel, Renntiere oder durch Änderung der Stärke des Haar- oder Feder- kleids, durch Winter- oder Sommerschlaf, Vergraben u. a. auch ungewöhnlich kalte oder warme Temperaturen und Trockenheit zu überdauern vermögen, hätte schon eine flüchtige vergleichende Betrachtung der Faunen in klimatisch gleichen Gebieten die Unhaltbarkeit der Ansicht für die Landtiere erweisen müssen. Aber auch für die Pflanzenwelt ist es nicht anders. Trotz der großen Andere für die Erklärung des heutigenV erbrei- tungsbildes wich- tige Faktoren. 182 A. BRAUER: Biogeographie Ähnlichkeit der Formationen ist die sie zusammensetzende Flora in jedem Erd- teil verschieden. Sosind die Trocken- und Feuchtpflanzen (Xero- und Hygro- phyten), der Urwald, Regenwald, die Steppe u.a. der verschiedenen Kontinente in ihren Komponenten systematisch ganz verschieden. Die bisher besprochenen Faktoren können uns wohl manche Erscheinun- gen, die die heutige Verteilung der Organismen bietet, verständlich machen, aber nicht alle. In erster Linie hat hier die Erforschung der Inselfaunen und -floren besondere Verhältnisse aufgedeckt, die noch auf andere Faktoren hin- weisen. Wegen ihres beschränkten Areales und der meist nicht sehr großen Zahl ihrer Bewohner lassen sie nämlich viele Verhältnisse klarer überschauen und ihre Ursachen besser erkennen als die Tier- und Pflanzenwelt des Festlandes, auf dem die gleichen Erscheinungen zwar nicht fehlen, aber durch viele andere mehr oder minder verdeckt werden. Der Geograph unterscheidet ursprüngliche und kontinentale Inseln. Erstere sind vulkanischen oder korallinischen Ur- sprungs, sind niemals Teile einer größeren Landmasse gewesen, die kontinen- talen dagegen stets. Er unterscheidet weiter nach der Zeit ihrer Entstehung ältere und jüngere Inseln. Dieser verschiedene Ursprung und das verschiedene Alter kommt in mehreren Richtungen auch in der Flora und Fauna zum Aus- druck, einmal darin, daß auf isoliert gelegenen ursprünglichen Inseln nur solche Organismen vorhanden sind, die aktiv oder passiv weite Meeresstrecken zu überwinden vermögen, weshalb z. B. Landsäugetiere außer Fledermäusen, Am- phibien, Schlangen, echte Süßwasserfische, Süßwasserschnecken, viele Insek- tenfamilien u. a. fehlen, während kontinentale alle Organismen des Mutterlan- des besitzen können, ferner darin, daß die Organismen mit denen des nächst benachbarten Kontinentes mehr oder weniger nahe verwandt sind, und endlich darin — und dieses eröffnet ein weiteres Verständnis vieler Erscheinungen in der heutigen Verbreitung —, daß entsprechend dem Grade der Isoliertheit und dem Alter der Inseln auch die Fauna und Flora von denen des Ursprungslandes ver- schieden sind. Je älter die Inseln sind und je geringer die Möglichkeit einer Ver- bindung mit einem Festlande ist, um so verschiedener ist die Organismenwelt, und umgekehrt je jünger die Inseln und je leichter die Kommunikation ist, um so gleichartiger sind ihre Bewohner und die des benachbarten Festlandes. Ein genaueres Studium der Festlandsbewohner und ihrer Verbreitung führt zu einem ähnlichen Resultat. Hier entsprechen den Inseln die durch topogra- phische oder klimatische Schranken abgegrenzten Gebiete. Es ist ein großes Verdienst des Tiergeographen Moriz Wagner, besonders auf die immer wiederkehrende Erscheinung, daß in horizontaler wie in vertikaler Richtung die Arten wechseln, sobald auch Topographie, Klima und Vegetation wechseln, und daß die Verschiedenheit der Deutlichkeit und dem Alter der durch sie hervor- gerufenen Grenzen entspricht, die Aufmerksamkeit gelenkt und gezeigt zu haben, daß sie nur durch die von Darwin neu begründete Lehre der Entwicklung und Umwandlung der Organismen eine befriedigende Erklärung findet und daß die geographische Isolierung eine sehr wichtige Rolle bei diesem Prozeß gespielt hat. Der auf diese Lehre begründete Schluß, daß das heutige Bild, welches uns Bedeutung der Geologie und Paläontologie für die Biogeographie 183 die Organismenwelt bietet, nur die letzte Phase einer langen kontinuierlichen Entwicklung ist, in deren Verlaufe unter dem Einfluß der äußeren Lebensbe- dingungen die heutige Mannigfaltigkeit sich allmählich herausgebildet hat, gibt uns allein den Schlüssel für die zuletzt erwähnten Erscheinungen der Biogeo- graphie. Es gibt aber noch andere Erscheinungen, welche auf weitere Fak- toren hinweisen. Besonders sind hier die Fälle einer diskontinuierlichen Verbreitung zu nennen. Mag eine Art erschaffen sein oder allmählich sich entwickelt haben, und mag sie sich noch so stark vermehren und ihr Gebiet ausdehnen, immer wird das Areal zusammenhängend sein. Es gibt aber eine große Zahl von Fällen, in denen das Areal diskontinuierlich ist, eine Gattung oder Familie in zwei oder mehreren Gebieten der Erde vorkommt, die durch weite Land- oder Meeresstrecken voneinander getrennt sind. So z. B. lebt der Tapir im Malaiischen Archipel und in Süd- und Zentralamerika, die Beutel- tiere in Australien und Amerika, die Menschenaffen im Malaiischen Archipel und in Afrika, der veränderliche Hase und viele Pflanzen auf den mittel- europäischen Gebirgen und im Norden Europas und in den Polargebieten. Auf den Höhen der Berge des tropischen Afrika wie Kamerunberg, Kili- mandscharo, Kenia finden sich dieselben Pflanzen wie in Europa u. a. Da es ausgeschlossen erscheint, daß eine und dieselbe Tier- oder Pflanzen- form an voneinander weit entfernten Stellen der Erde entstanden ist, so ist der Schluß unabweislich, daß einst zwischen den Gebieten, so weit getrennt sie heute auch sein mögen, eine Verbindung vorhanden gewesen sein muß. Über das Wie? können uns nur Geologie und Paläontologie Auskunft geben. Sie lehren mit voller Bestimmtheit, daß die Organismenwelt sich nicht nur allmählich entwickelt, sondern auch eine ganz andere Verbreitung gehabt hat, daß die mannigfaltigsten Verschiebungen und Wanderungen eingetreten sind und weiter, daß die Ursachen hierfür in großen geologischen und kli- matischen Veränderungen zu suchen sind, denen die Erde bei ihrer Entwick- lung unterworfen war. Auch das heutige Oberflächenrelief hat sich erst all- mählich unter großem Wechsel von Land und Meer, von Hoch und Tief her- ausgebildet. So wichtiges und reiches Material uns aber auch die Paläontologie und Geologie liefern, so darf man sich hierbei nicht zu großen Hoffnungen hin- geben. Selbst für die höchsten Formen, die Säugetiere, können wir die Ge- schichte und ihre Verbreitung einigermaßen befriedigend nur wenig weiter als bis zum Anfang des Tertiärs zurückverfolgen. Von den Pflanzen sind es haupt- sächlich nur die baumartigen, die einen Einblick in ihre Verbreitung und Ge- schichte in der Vorzeit gestatten. Wohl haben wir reiche Reste auch von den anderen Wirbeltieren, Wirbellosen, und anderen Pflanzen, soweit sie versteine- - rungsfähig sind, und ein Vergleich der früheren Verbreitungsverhältnisse mit den heutigen läßt auf sehr starke Verschiebungen und Veränderungen schließen, aber wenn wir versuchen, ein genaueres Bild ihrer Verbreitung in vortertiären Zeiten zu entwerfen, so ist das Resultat sehr lückenhaft und unsicher oder wir kommen zur Annahme einer kosmopolitischen Verbreitung über die ganze Erde, müssen dann die Ozeane zu Land, die Länder zu Ozeanen werden lassen, wir Marine Biogeo- graphie. 184 A. BRAUER: Biogeographie können aber nicht sagen, ob diese kosmopolitische Verbreitung eine langdau- ernde und gleichzeitige gewesen ist, oder ob sie nicht in Wirklichkeit die Summe von aufeinander folgenden, ungleichzeitigen Verschiebungs- und Verbreitungs- phasen ist, die als Resultate der großen geologischen und klimatischen Verände- rungen eingetreten sind. Hier heißt es langsam, Gruppe für Gruppe erforschen und nicht verallgemeinern. Für die Pflanzen kommt noch die weitere Schwie- rigkeit hinzu, daß die Verwandtschaft und Stammesgeschichte der verschie- denen Pflanzenfamilien noch weit weniger geklärt ist als die der höheren und vieler niederen Tiere. Trotz dieser großen Lücken kann aber gar kein Zweifel sein, daß, wie zuerst der Begründer der modernen Tiergeographie, Wallace, nachgewiesen hat, neben der Veränderungs- und Verbreitungsfähigkeit der Organismen die geo- logischen und klimatischen Veränderungen der Vorzeit in erster Linie es sind, welche uns den Schlüssel zur Lösung der vielen Rätsel des heutigen Verbreitungs- bildes geben können. Die vorhergehenden Betrachtungen haben in erster Linie Gültigkeit für die Landfauna und Landflora, die man auch als das Geobios zusammenfaßt, wenigerfürdasHydrobios, dieim Wasser lebenden Organismen. Die Methoden und Aufgaben sind freilich auch hier prinzipiell dieselben, aber es bietet vor allem die marine Biogeographie so viele besondere Verhältnisse, daß eine kurze gesonderte Besprechung notwendig ist. Biologisch stellt zwar das Süßwasser- bios eine ziemlich gut abgeschlossene Einheit dar, aber seine Verbreitung recht- fertigt keine Abtrennung vom Geobios. Wenn auch besonders das Plankton der großen Seen viele gleiche charakteristische Züge wie das marine aufweist, so sind seine Tiere wie die Pflanzen doch auch hier noch zu sehr vom Ufer und Bo- den abhängig. Ein größerer Teil wie Insekten, Amphibien, Wasservögel u. a. und auch viele Pflanzen, steht sogar zum Lande direkt oder durch die Entwick- lung in engster Verbindung. Daher ist es natürlich, daß ihre geographische Ver- breitung, besonders die der Tiere, in erster Linie wie die der Landformen durch die topographischen Verhältnisse des Landes bestimmt wird. Die Flüsse isoliert gelegener Inseln haben ihre Tierwelt zum kleinen Teil durch Verschleppung, zum größeren durch Einwanderung solcher marinen Formen erhalten, welche ohne Schwierigkeit die Schranke, die das Süßwasser marinen Tieren sonst bie- tet, überwinden können. Ihre Verbreitung hängt deshalb mit der in den Meeren zusammen, nur Artverschiedenheiten sind vorhanden. Die Besonderheiten, welche die marine Biogeographie so verschieden ge- staltet, sind besonders in folgenden Verhältnissen begründet. Erstens zeigt die Organismenwelt eine ganz andere Zusammensetzung. Sehen wir ab von den Vögeln, Seekühen und Robben, die mindestens noch zur Fortpflanzungszeit auf das Land angewiesen sind, so finden wir, daß gerade die Formen, welche auf dem Lande die Hauptrolle spielen, wie Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphi- bien, Insekten und Gefäßpflanzen ganz oder fast ganz fehlen, dagegen viele andere Gruppen wie Echinodermen, Tunikaten, Brachiopoden, Schwämme, Ce- phalopoden, Heteropoden, Pteropoden, Radiolarien, Algen und viele Pro- Marine Biogeographie . 185 tisten tierischer und pflanzlicher Natur hier dominieren und besondere Anpas- sungen für das Leben und die Verbreitung im Meer besitzen. Zweitens sind die Existenzbedingungen und Verbreitungsmöglichkeiten anderer Art. Abgesehen von der chemischen Zusammensetzung des Meerwassersspielen auf dem Lande die topographischen Verhältnisse, das Oberflächenrelief, die Hauptrolle, hier da- gegen sehen wirsiesehrstark zurücktreten. In horizontaler Richtung geben nur die Küsten und die großen Strömungen mit ihrem verschieden temperierten Wasser und vereinzelt auch Erhebungen des Bodens, wenn sie bis zur Oberfläche soweit aufsteigen, daß sie kalte und warme Wasserschichten trennen können, Grenzen ab, sonst sind die weiten Flächen allerseits offen. In vertikaler Rich- tung setzt der Mangel des Sonnenlichtes den Pflanzen schon bei 400 m eine Grenze und nimmt damit den tiefer lebenden Tieren diese Nahrung. Licht und Temperatur sind wie auf dem Lande für die Pflanzen so hier für alle Organismen die am wirksamsten die Verbreitung bestimmenden Faktoren. Dadurch verein- facht sich die Scheidung des Meeresin Gebiete. Küste, Boden und Hochsee sind die drei großen Reiche, alleweiter vonNord nach Süd durch die Temperatur (Strö- mungen) in horizontaler und durch das Licht in vertikaler Richtung gesondert. Auch die Verbreitungsgeschichte ist bei weitem nicht die komplizierte der Land- bewohner. Denn selbst Zerreißen oder Versinken der Küsten, Aufsteigen von Ländern und Verbindungen von früher getrennten und ebenso große klimatische Veränderungen, die für die Landfauna und -flora mindestens starke Verschie- bungen zur Folge haben müssen, führen hier nur eine mehr oder weniger (wenig- stens in zonarer Richtung) allgemeinere Verbreitung herbei. Literatur. O. DRUDE, Handbuch der Pflanzengeographie. Stuttgart 1890. A. ENGLER, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt. 2. T. 1879, 1882. — Die Entwicklung der Pflanzengeographie in den letzten hundert Jahren und weitere Aufgaben derselben. In: Wissensch. Beiträge zum Gedächtnis der hundertj. Wiederkehr des Antritts von A. v. Humboldts Reise nach Amerika. Berlin 1899. A. GRIESEBACH, Die Vegetation der Erde, 1872. A. F.W. SCHIMPER, Pflanzengeographie. Jena 1898. M. WAGNER, Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung. Basel 1889. A.R. WALLACE, Die geographische Verbreitung der Tiere. Übersetzt von A. B. Meyer. Dresden 1876. — Island Life. 2. Aufl. London 1892. PFLANZENGEOGRAPHIE. Von A. ENGLER. A. Geschichte der Pflanzengeographie. I. Wichtigkeit der Pflanzengeographie und erste Anfänge derselben. Die Pflanzengeographie ist diejenige Disziplin der Botanik, in welcher sich verschiedene andere Disziplinen derselben, besonders spezielle Pflanzen- kunde und Systematik, auch die Paläobotanik, die Entwicklungslehre und die Physiologie der Pflanzen begegnen. Auch zur Land- und Forstwirtschaft sowie zur Kolonialbotanik steht sie in enger Beziehung. Sie hat sich jetzt zu einem umfangreichen Wissensgebiete entwickelt, das auf den Hochschulen nicht mehr, wie es leider meistens geschieht, nur nebenbei oder als Liebhabergegen- stand betrieben werden kann. Zum mindesten müssen sowohl der Physiologe wie der Vertreter der speziellen Botanik immer in ihren Vorlesungen auf die Pflanzengeographie Rücksicht nehmen, und es ist dringend zu wünschen, daß an jeder Universität ein Botaniker für Pflanzengeographie angestellt wird, der dann am besten auch die spezielle Botanik und Systematik vertritt. An dieser Stelle mußte der Pflanzengeographie ein so knapper Raum zugewiesen werden, daß von einer annähernd vollständigen Behandlung der Grundzüge dieser Wissen- schaft von vornherein Abstand genommen werden muß. Besonders kurz muß ich mich in der Geschichte dieser Wissenschaft fassen und verweise auf meine 1899 in der Humboldt-Centenarschrift erschienene Abhandlung: Die Entwick- lung der Pflanzengeographie in den letzten hundert Jahren. An Stelle einer Schilderung der pflanzengeographischen Gebiete der Erde kann ich hier nur am Schluß meiner Darstellung eine knappe Übersicht über dieselben und über ihre Gliederung geben. Die Pflanzengeographie gilt als eine verhältnismäßig junge Wissenschaft und ist auch eine solche. Gewöhnlich wird die im Jahre 1805 erschienene Abhandlung Alexander von Humboldts ‚Sur la Geographie des Plantes“ als dasjenige Werk angesehen, durch welches sie überhaupt erst begründet wurde. Es schmälert aber nicht das bedeutende Verdienst unseres großen Landsmannes, wenn wir darauf hinweisen, daß Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, Erkenntnis der Abhängigkeit ihrer Verbreitung von klimatischen und anderen Faktoren sich auch schon mehrfach in älteren botanischen Schriften Einleitung. Anfänge der Pflanzen- geographie. Willdenow. 188 A. ENGLER: Pflanzengeographie finden, so in Tourneforts „Relation d’un voyage du Levant‘“ (1717) Be- merkungen über die regionale Gliederung der Pflanzenwelt des Ararat, in mehreren Schriften Linne&s, namentlich in den Prolegomena zu seiner 1737 erschienenen ‚Flora lapponica‘‘ und in seiner 1745 veröffentlichten ‚Flora suecica‘‘ Angaben über Pflanzenformationen und Grenzen der Verbreitung einzelner Arten, desgleichen in der Praefatio zu Gmelins ‚Flora sibirica‘“ (1741), auch in Hallers „Historia stirpium indigenarum Helvetiae‘‘ (1768). H. B. Saussure gab schon 1799 (Voyage dans les Alpes) barometrisch festgestellte Höhengrenzen alpiner Pflanzen, L. Ramond veröffentlichte 1789—1804 Angaben über solche von Pflanzen der Pyrenäen und Giraud- Soulavie bearbeitete in der „Histoire naturelle de la France meridionale‘“ (1782) einen Abschnitt: Geographie physique des vegetaux de la France meri- dionale, in der er die Region der Orangen, des Ölbaums, des Weinstocks, der Kastanien und der Alpen unterschied. Auch H. Floerke gab 1800 in Hoppes Taschenbuch eine Skizze der Abstufungen der Vegetation in den Salzburger Alpen. Diese Anfänge von pflanzengeographischen Beobachtungen dürfen nicht mit dem Maßstab gemessen werden, den wir heute anzulegen gewohnt sind; sie machen meist den Eindruck des Fragmentarischen; aber immerhin werden wir den genannten Floristen zugestehen müssen, daß sie für die ihnen entgegen- tretenden Erscheinungen des Pflanzenlebens ein offeneres Auge hatten als viele ihrer Vorgänger und Zeitgenossen, welche dickleibige Bände über die Flora der interessantesten Tropengebiete schrieben, ohne auch nur auf den Gedanken einer Gliederung nach Regionen und Formationen zu kommen. Ganz besonders aber muß hervorgehoben werden, daß Willdenow in seinem sehr verbreiteten Handbuch der Kräuterkunde, und zwar schon in der ersten Auflage (1792, Seite 345—380) ein recht inhaltsreiches Kapitel ‚Geschichte der Pflanzen‘ ge- liefert hat, welches als ein allgemeiner Grundriß der Pflanzengeographie anzu- sehen ist. Er sagt ‚Unter Geschichte der Pflanzen verstehen wir den Einfluß des Klimas auf die Vegetation, die Veränderungen, welche die Gewächse wahr- scheinlich erlitten haben, wie die Natur für die Erhaltung derselben sorgt, die Wanderungen der Gewächse und endlich ihre Verbreitung über den Erdball‘. Dieses Kapitel ist in den folgenden Auflagen noch erheblich erweitert worden, und schon in der zweiten Auflage (1798) verdient der $ 351 ganz besonders beachtet zu werden, in welchem Willdenow vom Einfluß des Klimas auf Wachstum und Gestaltung der Pflanzen in den Polarländern und Gebirgen, in Afrika, im Mittelmeergebiet, in Arabien, auf den Kanarischen Inseln, in Austra- lien usw. spricht, in welchem er ferner an zahlreichen Beispielen diegroßeÄhnlich- keit zwischen den Bäumen und Sträuchern des nördlichen Asiens und Amerikas darlegt, in dem er die habituelle Ähnlichkeit von Kap-Pflanzen und australischen, ferner das Vorherrschen gewisser Gruppen im kalten Klima und anderer im warmen bespricht. Im $ 357 behandelt er ziemlich ausführlich die Verbreitungs- mittel und in $ 358 schildert er, wie niedere Pflanzen vielfach den Boden für die Leistung höherer Pflanzen vorbereiten; $ 360 erklärt die starke Verbreitung Wichtigkeit der Pflanzengeographie und erste Anfänge 189 der Wasserpflanzen; $ 362 hebt die weite Verbreitung vieler Gebirgspflanzen hervor; $ 363 behandelt die gesellig und die isoliert wachsenden Pflanzen. Im $ 365 versucht Willdenow in Europa fünf Floren zu unterscheiden, welche sich von einzelnen Zentren aus über die Nachbargebiete verbreitet haben; in $ 366 weist er auf die Vermischung der Floren, im $ 377 auf die große Gleich- artigkeit der Küstenflora und die großen Endemismen der Gebirgsflora hin. So hat Willdenow mehr als andere vor ihm die Erscheinungen der Pflanzenverbreitung beachtet und auch diese Erscheinungen dadurch zu er- klären versucht, daß er die Verbreitung der Pflanzen als das Produkt einer all- mählichen Entwicklung ansah. Das Verständnis und der offene Blick Will- denows verdienen um so mehr Anerkennung, als derselbe nur wenig gereist war und seine Angaben vorzugsweise auf Herbarstudien und sorgfältige Be- obachtung der heimischen Pflanzenwelt gründete. Es zeigt dies, wie viele An- regung ein offener Kopf aus umfangreichen systematischen Studien gewinnen kann, welche manchem Unkundigen nur als trockene oder gar geistlose Be- schäftigung erscheinen. Es bleibt aber Alexander von Humboldt, der in der Kenntnis der die Verbreitung der Pflanzen bedingenden physikalischen Verhältnisse ebenso wie in den auf weiten Reisen gewonnenen Anschauungen, namentlich aber auch in der lebendigen Form der Darstellung seinen Vorgängern überlegen war, das unvergängliche Verdienst, die wissenschaftliche und kultu- relle Bedeutung der Pflanzengeographie ins helle Licht gesetzt zu haben. Nicht zum geringsten Teil ist der Erfolg, den Humboldts ‚Ideen zu einer Geographie der Pflanzen‘ auch bei den der Botanik ferner stehenden Kreisen hatten, dem Umstand zuzuschreiben, daß ihr Verfasser den Versuch machte, die große Mannigfaltigkeit der Pflanzenformen auf 17 Grundgestalten zurückzuführen und dadurch dem Nichtbotaniker nach seinen vorzugsweise den Totaleffekt der Formationen betonenden Vegetationsschilderungen die Vorstellung von dem Vegetationscharakter einer Gegend zu erleichtern. Aber die mit der wissenschaftlichen Gruppierung der Pflanzen im Widerspruch stehende physiognomische Einteilung derselben hat nicht Anklang gefunden, nicht ein- mal bei denjenigen Biologen, welche vorzugsweise dasVerhalten derVegetations- organe unter verschiedenen Existenzbedingungen im Auge hatten. Wissenschaftlich viel bedeutender als die das Laientum packende Schrift „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen‘ und die ‚Ansichten der Natur‘ waren seine 1815 erschienenen Prolegomena ‚‚De distributione plantarum secundum coeli temperiem et altitudinem montium“‘, ferner dieim Jahre 1817 auch separat gedruckte Vorrede zu den ‚Nova genera et species plantarum aequinoctia- lium‘“. Die Kapitel, welche sich auf die der Alten und Neuen Welt gemein- samen Pflanzen, auf die Vergleichung der Temperatur in verschiedenen geo- graphischen Breiten beider Erdteile, auf den Einfluß der Höhenverschiedenheit, auf die Vegetation in verschiedenen Zonen beziehen, sind so reich an damals noch nicht bekannten Tatsachen, so musterhaft methodisch durchgeführt, daß sie allein genügen, um A. v. Humboldt als Schöpfer der physikalischen Pflan- zengeographie erscheinen zu lassen. Er fand mit seinen Prolegomena einen A.von Humboldt. Wahlenberg. R. Brown. Richtungen der Pflanzen- geographie. Richtungen der floristischen Pflanzen- geographie. 190 A. ENGLER: Pflanzengeographie wohl vorbereiteten Boden vor: das Streben nach Feststellung der Beziehungen der Pflanzen zu Klima und Boden war schon ziemlich verbreitet. Bezüglich der Flora der nördlich - gemäßigten und arktischen Zone konnte sich Humboldt wesentlich stützen auf Leopold von Buchs ‚Reise durch Norwegen und Lappland‘ (1810), vor allem auf die vortrefflichen Werke Wahlenbergs „Flora lapponica‘“ (1812), ‚„Tentamen de vegetatione et climate in Helvetia septentrionali‘“ (1813), „Flora Carpathorum principalium“ (1814). Schon Wahlenberg hatte gezeigt, daß nicht die Mitteltemperatur eines Gebietes, sondern die Verteilung der Wärme in den verschiedenen Jahreszeiten für die Vegetation maßgebend ist. Auch besprach er das Verhalten der einzelnen Familien (Linnes) in Lappland, namentlich ihr Verhalten in den verschie- denen Regionen. Dies führt uns hinüber zu einem anderen Moment, welches fortan für die Entwicklung der Pflanzengeographie förderlich war. Je mehr die natürlichen Verwandtschaftskreise erkannt wurden, desto mehr trat die Tatsache hervor, daß in verschiedenen Teilen der Erde trotz gleicher oder ähnlicher Existenz- bedingungen verschiedene Verwandtschaftskreise allein zur Entwicklung ge- kommen sind, während anderseits viele andere eine weite Verbreitung, sei es horizontal oder vertikal, erlangt haben. Derjenige Botaniker, der zuerst diese Seite der Pflanzengeographie in ganz hervorragender Weise gefördert hat und mit seinen ersten Forschungsresultaten auch bei Humboldt die gebührende Anerkennung fand, war R. Brown. Die Ergebnisse der nach jahrelangem Aufenthalt in Australien 1814 von dem genannten Forscher herausgegebenen „General remarks, geographical and systematical on the botany of Terra Au- stralis‘‘ mußten in jeder Beziehung anregend wirken, sowohl zur genaueren botanischen Erforschung der vielen damals nur ungenügend bekannten Länder als auch zur Vergleichung der verschiedenen Floren. Die durch Willdenow, Wahlenberg, A.v. Humboldt undR. Brown hervorgehobenen Gesichtspunkte pflanzengeographischer Forschung enthielten die Keime zu den Richtungen, welche sich nunmehr weiter ausbildeten. Im wesentlichen können wir drei Hauptrichtungen der Pflanzengeographie unter- scheiden, die floristische einschließlich der floristisch-physiognomischen, die physiologische (oderökologische) und dieentwicklungsgeschicht- liche oder genetische. II. Die Entwicklung der floristischen Pflanzengeographie und weitere Aufgaben derselben. Die floristische Pflanzengeographie im weitesten Sinne beschäftigt sich mit der Feststellung der Flora eines Landes und der Gliederung derselben in Bezirke, Regionen und Formationen. Drei Richtungen machen sich geltend: I. die floristisch-statistische oder floristisch-systema- tische; 2. die floristisch-physiognomische, welche die in einem Lande auftretenden Pflanzengemeinschaften nach ihrem äußeren Ansehen sowie nach Entwicklung der floristischen Pflanzengeographie 191 ihren Bestandteilen charakterisiert und feststellt, wie dieselben teils an die Ent- fernung vom Meer und an die Höhe über demselben, teils an die Wassertiefe, teils an die Gebirgsarten gebunden sind (dies wird auch als „Ökologie“ be- zeichnet, doch ist letztere im engeren ursprünglichen Sinne etwas anderes, wie weiter unten besprochen wird); 3. die floristisch-geographische, welche auf Grund der von Richtung I und 2 festgestellten Tatsachen es ver- sucht, entweder die ganze Erde oder Erdteile oder kleinere Gebiete derselben unter Berücksichtigung ihrer Pflanzengemeinschaften zu gliedern. Die floristisch-systematische Richtung hat, obgleich für sie nicht nur zahlreiche Botaniker und Sammler, sondern auch vielfach Laien mit Erfolg tätig gewesen sind, noch sehr viel zu leisten. Es zeugt von Unkenntnis, zu be- haupten, daß dieses Gebiet der Wissenschaft schon ziemlich erschöpft sei. Die älteren Florenwerke sind vielfach durch neuere Bearbeitungen zu ersetzen, in denen die Standortsverhältnisse eingehender als früher zu behandeln sind; für zahlreiche Florengebiete gibt es überhaupt noch keine Flora. Wenn auch Europa im allgemeinen leidlich durchforscht ist, so werden doch noch in jedem Jahre auf der Iberischen und auf der Balkan-Halbinsel, ja selbst in Mitteleuropa überraschende Entdeckungen gemacht. In Zentralasien, im inneren China, Annam und Siam ist noch sehr viel zu tun. Neu-Guinea und Papuasien über- haupt dürften noch für Jahrzehnte floristische Forschungsarbeit nötig haben, und die Floristik der Sundainseln ist, trotzdem über ihre Flora seit mehr als 150 Jahren Aufzeichnungen gemacht werden, noch recht unvollkommen. Über die Flora des südlichen Arabiens wissen wir noch sehr wenig und aus Afrika erhalten wir noch fortdauernd Novitäten, welche für allgemeine pflan- zengeographische Fragen von Bedeutung sind. Auch in Amerika sind große Gebiete noch nicht vollständig erforscht; dasselbe gilt auch von Australien. Für viele der genannten Gebiete fehlt noch ganz die Kenntnis der niederen Pflanzen und sehr oft sind Standortverhältnisse in den älteren Florenwerken gar nicht berücksichtigt. Die floristisch-physiognomische Pflanzengeographie hat auch noch viel Aufgaben zu erfüllen. Wohl haben, namentlich seit 1840, die Angaben über die Regionen und Formationen der Florengebiete sich erheblich erweitert und verbessert, aber doch vorzugsweise über die der nördlichen Gebiete, wo die Man- nigfaltigkeit der Formen eine geringere ist, und über diejenigen solcher tropischen Länder, welche, wie das innere Afrika und manche Teile Südamerikas, erst in neuerer Zeit den modernen Anforderungen entsprechend erforscht wurden. Die floristisch-geographische Richtung kann naturgemäß nur da Be- friedigendes leisten, wo nach den beiden anderen Richtungen hin genügend vorgearbeitet ist. Schouw war der erste, der (1823) den Versuch machte, auf Karten die pflanzengeographische Einteilung der Erdoberfläche darzustellen. Er hielt als Prinzip fest, daß, wenn ein Teil der Erde ein pflanzengeographisches Reich bilden soll, dann wenigstens die Hälfte der bekannten Arten diesem Erdteil eigentümlich angehören, mindestens ein Viertel der Gattungen dem Erdteil völlig eigentümlich sein oder doch wenigstens in demselben ein entschiedenes Floristisch- systematische Pflanzen- geographie. Floristisch- physiognomische Pflanzen- geographie. Floristisch- geographische Pflanzen- geographie. Schouw. P.de Candolle. v. Martius. A. de Candolle. Engler. Drude. Grisebach. Pickering. 192 A. ENGLER: Pflanzengeographie Maximum haben müssen, und daß einzelne Pflanzenfamilien in diesem Erdteil ausschließlich oder vorzugsweise vertreten sein müssen. Er kommt so zu 22 Reichen, die zwar auf der Karte mitunter recht falsch begrenzt sind, ihrem Kern nach aber doch je ein eigenartiges Entwicklungszentrum repräsentieren. Schon vor Schouw hatte P. de Candolle (im Dictionnaire des sciences natu- relles XVIII, S. 411, 1820) 20 Floren oder Regionen unterschieden, welche Schouw erst später bekannt wurden, aber vielfach mit den seinigen überein- stimmten. So wie diese beiden Forscher ließen sich A. de Candolle (Intro- duction & l’etude de la g&ographie botanique, 1837) und v. Martius (Historia naturalis Palmarum vol. I, tab. geogr. III, IV 1831—1850) bei ihrer pflanzen- geographischen Gliederung der Erde ausschließlich von floristisch-systema- tischen Gesichtspunkten, von der Berücksichtigung des Endemismus leiten. Ihre Reiche oder Regionen wurden ohne jedes verknüpfende Band einfach nebeneinander gestellt. A. de Candolle hat dann in seiner epochemachenden „Geographie botanique raisonn&e‘“ (1855) hervorgehoben, daß man zu einer be- friedigenden pflanzengeographischen Einteilung der Erde nur dann kommen werde, wenn man innerhalb größerer Länderbezirke von gemeinsamem pflan- zengeographischem Charakter kleinere nach geographischen und botanischen (floristischen) Prinzipien feststelle und innerhalb dieser auch wieder noch Di- strikte unterscheide — eine Forderung, welcher ich in meinem ‚‚Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt‘ (1879—1882) Folge gegeben habe und welche auch Drude in seinen pflanzengeographischen Werken zur Richt- schnur genommen hat. Mehr als die anderen ihm vorangegangenen Botaniker war Grisebach bestrebt, die Pflanzenphysiognomik zu berücksichtigen und stand den Bestrebungen A. de Candolles, Hookers und anderer, das ent- wicklungsgeschichtliche Prinzip auch in der Pflanzengeographie und Syste- matik mehr zur Geltung zu bringen, äußerst reserviert gegenüber. Als erstes allgemeines Resultat seiner pflanzengeographischen Studien veröffentlichte er in Petermanns Mitteilungen 1866 eine Einteilung der Erde in 24 Floren- gebiete, welche in seinem Werke ‚Vegetation der Erde nach ihrer klimatischen Anordnung“ (1872) ausführlicher geschildert werden. Er berücksichtigte neben der Physiognomik besonders den Endemismus, vernachlässigte dagegen stark die geologischen Verhältnisse; auch kann man ihm ebenso wie den meisten anderen vor ihm vorwerfen, daß bei der Feststellung der Endemismen und dem Vergleich der einzelnen Gebiete miteinander zu sehr die nackten Zahlenver- hältnisse, dagegen zu wenig die verwandtschaftlichen Beziehungen der Arten und Gattungen zueinander beachtet wurden. Grisebachs Einteilung wurde auch von Ascherson in seiner Bearbeitung der Pflanzengeographie in Franks Neubearbeitung von Leunis „Synopsis der Pflanzenkunde‘‘ I (1883) beibe- halten, in welcher er auch die mitteleuropäischen Vegetationsformationen gut charakterisiert und eine kartographische Darstellung der Verbreitung von A. de Candolles physiologischen Gruppen liefert. Pickerings Einteilung in „United States Exploring Expedition‘ Bd. XV, Teil II, Salem 1876 berück- sichtigt lediglich die physiognomischen Verhältnisse, aber ganz äußerlich. Seine Entwicklung der floristischen Pflanzengeographie 193 „Divisions‘ oder ‚Clusters of regions‘‘ umfassen eine große Anzahl Schwester- regionen, deren floristische Bestandteile zu heterogen sind, als daß man eine derartige Gruppierung billigen könnte. Sehr einfach ist die zonale Glie- derung Th. Dyers in seiner „Lecture on plant distribution as a field for geo- Th. Dyer. graphical research‘‘ (Proceed. of the R. Geogr. Soc., XXII, 1878 n. VI). Der Verfasser verfolgt bei seiner skizzenhaften Einteilung hauptsächlich den Zweck, die gegenwärtige Flora aus der früheren Verteilung der Pflanzen herzuleiten, wie Wallace in seiner ‚Geographical distribution of animals‘‘ die Verbreitung der Tiere aus den pflanzenpaläontologischen Tatsachen erklärt hatte. Um diese Zeit war die Paläobotanik so weit vorgeschritten, daß deren Verwertung für die Pflanzengeographie unabweislich war, und so kam es, daß 1879 der PAanzen- erste Band von Englers ‚Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Pflanzen- {7 Einteilung der welt‘‘ erschien, dem 1882 der zweite folgte, abschließend mit einer pflan- Erde mit Berück- zengeographischen Einteilung der Erde und einer Karte. Diese beruht zu- ie nächst auf den physiologischen Gruppen des Pflanzenreichs, welche nach ihrem a Wärme- und Feuchtigkeitsbedürfnis von A. de Candolle in einer kleinen Ab- “ematischer handlung unterschieden worden waren: „Constitution dans le regne vegetal de groupes physiologiques applicables A la geographie botanique ancienne et moderne‘ (Archive des sciences de la Bibliotheque universelle 1874); doch wur- den diese Gruppen noch weiter gegliedert, namentlich mit Rücksicht darauf, ob sie waldbildend auftreten oder nicht. Die weitere Einteilung der Erde in Gebiete basiert auf floristisch-systematischen Studien und so fallen natürlich einzelne Gebiete mit denen Grisebachs zusammen, während andere wesent- lich anders begrenzt sind. Der Unterschied gegenüber Grisebach liegt haupt- sächlich darin, daß bei der Berücksichtigung der floristisch-systematischen Tat- sachen zugleich das entwicklungsgeschichtliche Prinzip immer festgehalten wurde. Aus diesem Grunde ist dasselbe bei der Subordinierung der einzelnen Gebiete in Reiche besonders stark betont, auch selbst da, wo dieselbe für die geographische Behandlung unbequem ist. Zugunsten der letzteren wurden später sowohl in der ‚„Entwicklungsgeschichte der Pflanzengeographie seit hundert Jahren‘ wie auch im Anhang von Englers Syllabus (dritte bis siebente Auflage) hin und wieder, wo es praktisch schien, Konzessionen gemacht. Es werden z. B. größere Inseln und Halbinseln, auf denen in einzelnen Teilen das Florenelement einer benachbarten Provinz oder eines benachbarten Florengebietes herrscht, trotzdem im ganzen als selbständige Provinz hinge- stellt, so z. B. Neu-Seeland, obwohl der nördliche Teil desselben noch Monsun- flora beherbergt. Auf dem Kontinent sehen wir vielfach in Gebieten mit hohen Gebirgen ganz verschiedene Florenelemente vertreten. Setzt sich ein Floren- element aus seinem Hauptareal unmittelbar in das Areal eines benachbarten Gebietes fort, welches im wesentlichen durch ein anderes Florenelement charak- terisiert wird, so empfiehlt es sich, diese Höhenregion an das erstere anzuschlie- Ben, so z. B. im Himalaya die alpine Region an das zentralasiatische Gebiet, die temperierte Region an dastemperierte Yünnan, Sz-tschwan, Kansu und an das temperierte Ostasien, die subtropische Region an die des ostchinesischen K.d.G.IIl.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 13 194 A. ENGLER: Pflanzengeographie und südjapanischen Übergangsgebietes. Wenn aber die Gebirgssysteme eines Gebietes sich nicht unmittelbar an ein anderes Gebiet anschließen, von dessen Florenelement sie jedoch besetzt sind, so ist für die Stellung des betreffenden Landes innerhalb der Gebiete seine untere Region maßgebend. Drudes ‚Florenreiche der Erde‘ (Petermanns Mitteilungen, Ergänzungs- heft Nr.74, 1884) entsprechen meistens meinen ‚Gebieten‘ und seine ‚Gebiete‘ meinen ‚Provinzen‘ und naturgemäß auch wieder vielfach den Gebieten Grise- bachs. Was Drude in dieser Abhandlung angebahnt hatte, hat er in Berg- haus’ physikalischem Altas, Abteilung V. 1887, weiter durchgeführt. An dieser Stelle möge auch noch Köppens Abhandlung ‚Die Wärme der Erde, nach der Dauer der heißen, gemäßigten und kalten Zeit und nach der Wirkung der Wärme auf die organische Welt betrachtet‘‘ (Meteorolog. Zeitschrift 1884, Bd. II mit Karten), Erwähnung finden; sie ist für das Verständnis der Ver- Richtungen der physiologischen Pflanzen- geographie. breitung der physiognomischen Pflanzengruppen recht wichtig. Für eine scharfe Abgrenzung der Florengebiete und ihrer Unterabteilungen fehlen gegenwärtig noch vielfach die Unterlagen. Es wird noch viel Zeit vergehen, bis wir so ins Detail gehende Aufnahmen von den Pflanzenforma- tionen eines Landes besitzen, wie von den geologischen Formationen. In vielen Fällen kann aber die Darstellung der Pflanzenformationen sich auf die der geologischen stützen, wenn das Verhältnis zwischen Bodenunterlage und darauf sich entwickelnder Vegetationsdecke genau studiert worden ist. Hierzu gehört jedoch immer ein längerer Aufenthalt in einem Gebiet nach voran- gegangener Feststellung der Bodenformationen. Um aber die Lokalaufnahmen für die Einteilung größerer Gebiete zu verwerten, bedarf es wieder der Be- reisung der ganzen Gebiete und des Vergleiches der verschiedenen Lokal- aufnahmen untereinander, sowie richtiger Kombination derselben. III. Die Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie (Ökologie im weiteren Sinne) und deren weitere Aufgaben. Die physiologische Pflanzengeographie hat zu ermitteln, wes- halb die Pflanzen eines Gebietes unter den gegebenen Bedingungen gedeihen können, wie der ganze Bau der Pflanze eines Gebiets oder einer Formation mit den gegebenen Bedingungen im harmonischen Einklang steht, sodann aber auch, wie die Formationen allmählich entstehen oder sich umgestalten. Da- nach ergeben sich in der physiologischen Pflanzengeographie folgende in der Praxis nicht immer scharf getrennte Richtungen: I. die physikalisch-phy- siologische, welche zeigt, wie die Faktoren: Wärme, Feuchtigkeit, Licht, Bo- den die Verteilung der Pflanzen bedingen; 2. diebionto-physiologische, wel- che das Vorkommen der Pflanzen in ihrer Abhängigkeit von anderen Lebe- wesen, von Pflanzen und Tieren untersucht und schildert; 3. die ökologische, welche einerseits die Beziehungen der gesamten Organisation einer Pflanze zu ihren Existenzbedingungen aufdeckt, anderseits dartut, wie unter mehr oder weniger gleichem Einfluß der Faktoren in verschiedenen Ländern analoge, in ihrem allgemeinen Charakter übereinstimmende Pflanzentypen entstanden Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie (Ökologie) 195 sind, welche sich auch zu gleichartigen oder ähnlichen Pflanzengemeinschaften oder Vegetationsformationen vereinigen können; 4. die physiologische Formationslehre oder Formationsbiologie, welche die Entstehung der Formationen, die Bedingungen ihrer Erhaltung und ihre Veränderungen, sei es unter natürlichen Einflüssen, sei es unter den weitgehenden Eingriffen des Menschen, behandelt. 1. Die physikalisch-physiologische Pflanzengeographie ist so alt Physikalisch- wie die Pflanzengeographie selbst, waren es doch gerade die klimatischen Ver- en hältnisse, welche A. v. Humboldt und andere immer in erster Linie berück- seosraphie. sichtigten, wenn sie die Verschiedenheit der Vegetation unter ungleichen Breiten und in den aufeinanderfolgenden Höhenregionen erklären wollten. In den letzten Jahrzehnten ist aber ein neuer Gesichtspunkt mehr in den Vorder- grund getreten: das ist der der physiologischen Pflanzenanatomie, welche im wesentlichen durch Schwendener und Haberlandt begründet und von zahl- reichen Forschern, zum Teil auch gerade mit Rücksicht auf die Pflanzengeo- graphie weiter ausgebildet wurde; so entwickelte sich auch eine vergleichende Physiologie. Während vordem der Einfluß der klimatischen Faktoren auf das Pflanzenleben meist nur empirisch berücksichtigt wurde, sucht man neuerdings immer mehr den Einfluß derselben auf die einzelnen Entwicklungsphasen der Pflanzen, sowie auf die einzelnen Lebensverrichtungen auch unter Berück- sichtigung ihres anatomischen Baues festzustellen. Doch wäre es ungerecht, nicht anzuerkennen, daß auch schon vorher manche Forscher, namentlich Grise- bach in seiner „Vegetation der Erde‘‘, Bemerkungen gemacht haben, welche von großem Verständnis für die später von den Anatomen und Physiologen verfolgten Fragen zeugen. In der angedeuteten Richtung bewegen sich vor- zugsweise die Arbeiten von Tschirch (Einige Beziehungen des anatomi- schen Baues der Assimilationsorgane zu Klima und Standort, 1881), Are- schoug (Der Einfluß des Klimas auf die innere Organisation der Pflanzen, in Englers Jahrb. 1882 und De tropiska växternas blad byggnad, 1905), Vol- kens (Studien über die anatomisch-physiologischen Verhältnisse bei den Wü- stenpflanzen 1887), B. Jönson (Zur Kenntnis des anatomischen Baues der Wüstenpflanzen von Turkestan 1902), v. Guttenberg (Anatomisch-physio- logische Untersuchungen über das immergrüne Laubblatt der Mediterranflora, 1907), Knoblauch (Ökologische Anatomie der Holzpflanzen der südafrika- nischen immergrünen Buschregion, 1896). Von allgemeiner Wichtigkeit war, daß durch Schimper, Kihlman, Kjellman festgestellt wurde, daß man zwischen physikalischer und physiologischer Trockenheit, beziehungsweise Feuchtigkeit zu unterscheiden habe, daß ein sehr nasses Substrat für die Pflan- ze vollkommen trocken sein kann, wenn sie infolge ihrer geringen Verdunstung ihm kein Wasser zu entnehmen vermag. Auf andere Arbeiten, welche die phy- sikalisch-physiologische Richtung gefördert haben, soll bei Besprechung der Faktoren hingewiesen werden. 2. In der bionto-physiologischen Pflanzengeographie handelt es sich Biontophysio- um Aufdeckung der Abhängigkeit der Pflanzenverbreitung von anderen Lebe re 13% 196 A. ENGLER: Pflanzengeographie wesen. Von der umfangreichen Literatur über Pflanzenschädlinge und die in der Pflanzenorganisation begründeten Schutzmittel gegen dieselben gehört wenig in den Bereich der Pflanzengeographie, da in der Regel nicht gezeigt wird, wie die Pflanzen einer Formation gegen einen in derselben vorkommenden Schädling geschützt sind. Auch wird gewöhnlich nur der fertige Zustand der Organisation ins Auge gefaßt, welcher einen Schutz gegen tierische Angriffe gewährt, während bei einer wissenschaftlichen Behandlung derartiger Fragen auch auf das Verhalten sehr verwandter Formen, auf die Entwicklung der betreffenden spezifischen Organisation aus den von dem Pflanzentypus ererb- ten Entwicklungsrichtungen, auf die Abhängigkeit der spezifischen Organisa- tion von den klimatischen Verhältnissen eingegangen werden muß; die causae primariae, welche die Entstehung einer Einrichtung zu erklären haben, werden über den causae secundariae, welche die Erhaltung derselben verständlich machen, vernachlässigt. Einen großen Einfluß auf die Verbreitung der Pflanzen lassen die Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Insekten bezüglich der Bestäubung erkennen. Bekanntlich hat Konrad Sprengel 1793 für diese Forschungen eine breite Grundlage geschaffen, auf der namentlich Darwin, Hildebrand, Delpino weiter gebaut haben. Seit 1870 haben verschiedene Forscher durch den Nachweis enger und einseitiger Beziehungen zwischen ein- zelnen Bestäubungstieren und Pflanzen eines Gebietes die Abhängigkeit der Verbreitung dieser Pflanzen von den sie bestäubenden Tieren (Vögeln, Insekten) dargetan, so Fr. Müller (1870), Th. Belt (1874) für das tropische Amerika, Wallace für die Tropen überhaupt (1879) und für die Inselfloren (1876, 1892), Thomson für Neu-Seeland (1880), Exton und Moseley für die Kerguelen (1876), Johow für Juan Fernandez (1896), Scott Elliot für Südafrika und Madagaskar (1889— 1891), H. Müller für die Alpen (1881), Mc Leod für die Pyrenäen (1891), Kirchner für die Flora von Stuttgart (1888), Ludwig für die deutsche Süßwasser-Flora (1891), Verhoeff für Norderney (1893), Knuth für die nordfriesischen Inseln, Ekstam für Nowaja Semlja (1894), Warming für Grönland (1888). Die Beobachtungen, welche in Mittel- und Nord-Europa, sowie in Grönland gemacht wurden, hat Loew übersichtlich in seiner ‚Blüten- biologischen Floristik des mittleren und nördlichen Europa sowie Grönlands‘“ verarbeitet (1894). Auch findet man in Knuths Handbuch der Blüten- biologie II. Bd. (1898) die in Europa und im arktischen Gebiet gemachten blütenbiologischen Beobachtungen von ihm selbst, im III. Bd. (1904) die in außereuropäischen Gebieten gemachten von Knuth, Appel und Loew zusammengestellt; aber in systematischer Anordnung und nicht in pflanzen- geographischer. Die häufig zu beobachtende Zweckmäßigkeit des Frucht- und Samen- baues für den Transport durch Tiere wird zuerst von A. P. de Candolle in seiner „Physiologie vegetale‘“ betont, und in Nägelis Rede ‚Über die Ent- stehung und den Begriff der naturhistorischen Art‘ (1865) finden wir schon den Gedanken durchgeführt, daß die für die Verbreitung durch Tiere geeignete Beschaffenheit vieler Pericarpien und Samenschalen von den Tieren selbst Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie (Ökologie) 197 (selbstverständlich unbewußt) gezüchtet worden sei. Delpino (Pensieri sulla biologia vegetale, 1867) und Hildebrand (Über die Verbreitungsmittel der Pflanzen, 1873) und viele andere haben in dieser Richtung weiter gearbeitet. In Engler und Prantls ‚„Natürlichen Pflanzenfamilien‘‘ sind diese Ver- hältnisse bei jeder Familie behandelt, um den Wert derselben für die geographische Verbreitung, deren Darstellung sich anschließt, ins Licht zu setzen. Auch der Anteil der Ameisen an der Verbreitung von Samen innerhalb der Formationen wurde von Lundström, Adlerz, Kerner von Marilaun, zuletzt besonders ausführlich von Sernander (Entwurf einer Monographie der europäischen Myrmekochoren, 1906) verfolgt. Über das gegenseitige Ver- halten der Pflanzen zueinander, welches für die spezielle Formationslehre so wichtig ist und noch sehr viel Stoff zu Untersuchungen liefern wird, liegt noch wenig vor. Wir kommen später darauf zurück. 3. Die ökologisch-physiologische Pflanzengeographie, auch kurz- weg Ökologie genannt, ist aus der Pflanzenphysiognomik und aus dem Studium des Einflusses der äußeren Faktoren auf den Bau der Pflanzen hervorgegangen. Das Wort Ökologie wurde zuerst von Reiter (1885) in die Botanik eingeführt, nachdem Häckel 1866 in seiner „Generellen Morphologie‘ die Ökologie als die Wissenschaft von den Beziehungen der Organismen zur Außenwelt hin- gestellt hatte. ‚ Die physiologische Pflanzenanatomie und auch die Morphologie hatten im- mer mehr Einblick in die Zweckmäßigkeit der Pflanzen, in den Zusammen- hang derselben mit den Existenzbedingungen verschafft und Vesque hatte in seiner Abhandlung ‚l’espece vegetale‘‘ (Ann. de nat. 6. ser. XIII, 1882) für die in den Gestaltverhältnissen und in der Dauer der Ernährungs- organe zum Ausdruck kommende Übereinstimmung mit den Existenzbedin- gungen die sehr treffende Bezeichnung ‚Epharmonie‘ angewendet. Die Ephar- monie einer jeden Art, also ihre Anpassung an ihre Existenzbedingungen, ihre Lebensform, welches Wort auch anstatt Epharmonie gebraucht wird, zu ver- stehen ist gewissermaßen die Grundlage der ökologischen Pflanzengeographie; als ‚„„Epharmose‘“ bezeichnet Diels die allmähliche Anpassung pflanzlicher Formenkreise oder auch ihrer einzelnen Organe. Reiter (Die Konsolidation der Pflanzenphysiognomik als Versuch einer Ökologie der Gewächse, Graz 1885) stellte als notwendige Voraussetzung für die Aufstellung ökologischer Grund- formen hin, daß dieselben sich von allem, was systematischen Wert hat, d.h. von allen Vererbungsmerkmalen freihalten müßten und daß ihre Einteilungs- gründe nur aus biologischen Klassen herzuleiten seien, wobei dann die Anatomie die Ausrüstung der Pflanzenarten für die jeweilige Lebensweise auseinander- zusetzen habe. Doch hat Reiter ebensowenig wie Grisebach bei seinen physiognomischen Formen den Unterschied zwischen Vererbungs- und An- passungsmerkmalen innehalten können. Ohne ein System aufzustellen, hatte schon 1882 Areschoug vergleichend-ökologische Studien gemacht (vgl. S. 9). Ebenfalls im Jahre 1882 hatte Hildebrand eine sehr umfassende, ver- gleichend-ökologische Studie (Die Lebensdauer und Vegetationsweise der Pflan- Ökologisch- physiologische Pflanzen- geographie. Warming. Pflanzenvereine. 198 A. ENGLER: Pflanzengeographie zen, ihre Ursachen und ihre Entwicklung, Englers Bot. Jahrb., Bd. II) ver- öffentlicht, in welcher der ganze äußere Aufbau der Pflanzen berücksichtigt wurde. Es werden Lebensdauer und Vegetationsweise der Pflanzen in ihrer Verschiedenheit geschildert, ferner das Verhältnis der verschiedenen Lebens- dauer und Vegetationsweise zur systematischen Verwandtschaft, die Ursachen der verschiedenen Lebensdauer und Vegetationsweise besprochen. Hieran schließt sich eine zweite Abhandlung (Betrachtungen über den Witterungs- einfluß auf die Lebensdauer und Vegetationsweise der Pflanzen, Englers Bot. Jahrb. IV. 1883). 1890 machte Drude in seinem „Handbuch der Pflanzen- geographie‘‘ darauf aufmerksam, daß bei der Aufstellung von Vegetations- formen die Dauer der Vegetationsorgane und der Schutzmittel gegen Angriffe während der Ruheperiode in erster Linie zu berücksichtigen sei. Dasselbe auch dem allgemeinen Verständnis am meisten entgegenkommende Prinzip ver- folgte er 1896 in seinem Werke über „Deutschlands Pflanzengeographie‘‘. Warming hatte sich seit 1884 mit der Unterscheidung der Wuchsformen beschäftigt und dabei auch besonders die Wanderung der Sprosse in Betracht gezogen. 1895 trat er mit seinem „Plantesamfund, Grundtreck af der ökolo- giske plantegeografi‘‘ hervor, indem er als die letzte Aufgabe derselben hin- stellte, die in der Natur vorkommenden Pflanzenvereine, welche meist viele Arten mit sehr verschiedener Lebensform oder Epharmonie enthalten, zu unter- suchen. Er zieht aber auch in den Bereich seiner Darstellung das Zusammen- leben der Organismen und behandelt den Einfluß der Pflanzen aufeinander, der Tiere und Menschen auf die Pflanzen in den Pflanzenvereinen, mit denen das Buch sich überhaupt vorzugsweise beschäftigt. Der Begriff der Ökologie ist hier weiter gefaßt als das ursprünglich der Fall war, und ich muß die bloße Schilderung der Vegetationsformationen und die Gliederung derselben nach ihren Bestandteilen in engere Assoziationen lediglich als floristische Pflanzen- geographie ansehen; erst wenn man die Erscheinungen zu erklären beginnt, betritt man das Gebiet der physiologischen Pflanzenvereinslehre oder der For- mationsbiologie, bei der es sich vorzugsweise um das gegenseitige Verhalten der Pflanzen zueinander, um ihren Kampf ums Dasein handelt. Die ökologische Morphologie, Anatomie und Pflanzengeographie sind notwendig für die For- mationsbiologie; sie haben zu zeigen, wie eine Pflanze oder eine Gruppe gleich- artig organisierter Pflanzen unter den verschiedenen auf sie einwirkenden Faktoren ihre Lebensverrichtungen zu vollziehen vermag und wie die ganze Organisation einer Pflanze gewissermaßen den Stempel der sie beherrschenden Faktoren zur Schau trägt. Bei denjenigen Formationen, die wie die Mangroven- formation, die Sanddünenformation, die Salzstrandformation, die Sumpf- formation nur eine geringe Zahl von Bestandteilen enthalten und eine große Gleichförmigkeit der Existenzbedingungen aufweisen, kann die Ökologie mit der Formationsbiologie zusammenfallen; in den meisten geschlossenen For- mationen aber ist die Mannigfaltigkeit der Existenzbedingungen eine große und vor allem fällt da auch die Konkurrenz mit den Bestandteilen der Nach- barformation ins Gewicht; auch gehört zu den biologischen Studien derartiger Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie (Ökologie) 199 Pflanzenvereine eine viel umfassendere Pflanzenkenntnis als zu dem Studium der ökologischen Verhältnisse einer engeren Pflanzengemeinschaft. Da War- ming diese Pflanzenkenntnis besitzt und viele Pflanzenformationen in der Na- tur studiert hatte, so hat es ihm nahegelegen, den Begriff der Ökologie so weit auszudehnen. Da sein Werk zweimal (1896 von Knoblauch, 1902 von Gräb- ner mit Ergänzungen) ins Deutsche übersetzt wurde und I909 eine von ihm erweiterte englische Ausgabe (Oecology of plants, an introduction to the study of plant communities) erschien, so wird sich wahrscheinlich das Wort Ökologie in dieser von der ursprünglichen abweichenden Bedeutung einbürgern. Ich kann aber nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß in nicht wenigen rein floristischen Arbeiten, welche von den Verfassern als ökologische bezeichnet werden, von Ökologie im eigentlichen Sinne nichts zu finden ist. Auf dem internationalen Botanischen Kongreß in Brüssel sprach man sich für folgende Definition aus: Die ökologische Pflanzengeographie studiert die Pflanze und ihre Gemeinden (Assoziationen) in ihrer Beziehung zum Standort (= Lebens- lage = Milieu). 1907 wurde von Raunkiaer (Planterigets Livsformer og deres betydning for geographien, Kopenhagen, 1907) ein System der Lebensformen aufgestellt, in welchem besonders auf den Schutz der ruhenden Knospen und der Sproßspitzen Rücksicht genommen wird. Er unterscheidet: I, Phanero- phyten, mit aufrechten, mehr oder weniger hohen Sprossen, an denen die Erneuerungsknospen frei oder unter dem Schutze von Knospenschuppen die Ruheperiode überdauern; 2. Chamaephyten, mit wenig über die Erdober- fläche herausragenden Sprossen, welche in der Ruhezeit von Schnee oder Laub geschützt werden; 3. Hemikryptophyten, welche ihre Innovationsknospen dicht am Boden bilden; 4. Kryptophyten, deren Knospen in der Erde oder am Grunde eines Gewässers ruhen; 5. Therophyten ohne Erneuerungsknos- pen, am Schluß ihrer Vegetationsperiode absterbend und sich nur durch Samen erneuernd. Innerhalb dieser Haupttypen werden ferner noch zahlreiche Unter- typen unterschieden. Es mag nun noch kurz auf einige im eigentlichen Sinn ökologische Ar- beiten hingewiesen werden. Spezielle Beiträge zur Ökologie der tropischen Regenwaldpflanzen geben Jungner (Anpassungen der Pflanzen an das Klima in den regnerischen Gegenden der Kamerungebirge, 1891), Stahl (Regenfall und Blattgestalt, 1893) und Haberlandt (Anatomisch-physiologische Unter- suchungen über das tropische Laubblatt 1892—1894). Die Anpassungen der Pflanzen an Regen und Tau haben behandelt A. Lundström (1884) und Wille (1885). Mit Vorliebe wandte sich die ökologische Forschung den Pflanzen zu, welche in ihrer Lebensweise von der großen Masse abweichen. Schon die be- schreibenden Anatomen der älteren Schule (z. B. Chatin, Hegelmaier, Hildebrand, Sauvageau) schenkten denselben besonders gern ihre Be- achtung. Zusammenfassende Darstellungen mit Berücksichtigung der Ökolo- gie gaben namentlich Costantin (1883—1886), Schenck (Über Struktur- veränderung submarin vegetierender Landpflanzen, 1884, Vergleich. Anatomie der submersen Gewächse, 1886, Über das Aörenchym, 1889, Biologie der Was- Raunkiaer. Lebensformen. Ökologische Studien. 200 A. ENGLER: Pflanzengeographie sergewächse 1886), Göbel (Pflanzenbiologische Schilderungen, 189I) und na- mentlich Glück (Biologische und morphologische Untersuchungen über Was- ser- und Sumpfgewächse, I905—1I9II). Die höchst eigenartigen Verhältnisse der in tropischen Gebirgsbächen vorkommenden Podostemonaceen behandelte Warming in mehreren klassischen Abhandlungen (1881—1898). Ziemlich jungen Datums sind Studien über Ökologie der Algen. Ich nenne Kny (Metho- den zur Messung der Tiefe, bis zu welcher Lichtstrahlen in das Meerwasser ein- dringen, 1878), Fuchs (Untersuchungen über den Einfluß des Lichts auf die bathymetrische Verteilung der Meeresorganismen, 1882), Piccone (Prime linee per una geografia algologica marina, 1882/83), Berthold (Über die Verteilung der Algen im Golf von Neapel, 1883), Wille (Bidrag til Algernes physiolo- giske anatomi, 1885), Oltmanns (Über die Kultur- und Lebensbedingungen der Meeresalgen, 1892), Schütt (Das Pflanzenleben der Nordsee, 1893). Die besonders augenfälligen ökologischen Eigentümlichkeiten der Xero- phyten behandelten zahlreiche Autoren!), so Tschirch (S. 9), Volkens (S. 9), Lothelier (1893), Henslow (1894), Gintz (1886), Hackel (1890), Gilg(1891), Marloth (1887) und ganz besonders (1908) in seinem vortrefflichen Werke über ‚das Kapland, insonderheit das Reich der Kapflora, das Wald- gebiet und die Karroo“. Die eigenartigen anatomischen Verhältnisse der Kletterpflanzen machten zum Gegenstand ihrer Untersuchungen Westermeier und Ambronn, Treupb. Schenck. Die Lebenserscheinungen der Epiphyten in den Tropen sind so auffallend, daß frühzeitig Reisende denselben größere Beachtung schenkten, so schon v. Martius (1842). Vertieft aber wurde das Studium dieser Pflanzen durch Schimper (1884, 1888), Goebel (1886, 1888), Went (1893), Karsten (1897). Die Ökologie der tropischen Saprophyten behandelten Johow (1885, 18809), javanischer Bernard (1910). Die bei den Moosen und Flechten so sehr hervor- tretende Abhängigkeit in ihrer Verteilung von Klima und Standort fordert zu ökologischen Studien heraus. Anfänge hierzu finden wir z. B. in folgenden Arbeiten: A. Schade ‚Pflanzenökologische Studien an den Felswänden der Sächsischen Schweiz“ (Englers Jahrb. 1912); E. Irmscher „Über die Resistenz der Laubmoose gegen Austrocknung und Kälte“ (Pringheims Jahrbücher 1912). Bei den Parasiten wird man in ökologischer Beziehung streng zu scheiden haben zwischen den chlorophyliführenden Halbparasiten, welche noch in ho- hem Grade von den physikalischen Faktoren abhängig sind, und den chloro- phyllosen, bei denen das weniger der Fall ist, für welche aber die Ökologie der Wirtspflanze von großer Bedeutung ist. Für die Lebensverhältnisse der Parasiten überhaupt ist wichtig die Abhandlung von H. Graf zuSolms-Lau- bach „Über den Bau der parasitischen Phanerogamen“ (1867, 1868). Mit der ı) Bei dem eng zugemessenem Raume muß ich mich hier darauf beschränken, nur die Autoren zu erwähnen; wer sich für die Titel der Abhandlungen interessiert, findet dieselben in meiner Entwicklungsgeschichte der Pflanzengeographie, S. 176—178. Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie (Ökologie) 201 Ökologie der Halbparasiten (Loranthaceae und Santalaceae) beschäftigten sich Hartie, Engler, Hieronymus, Reiche, Tubeuf: Zur Ökologie der Alpenpflanzen lieferten namentlich Beiträge Kerner, Bonnie, MAs Wasnen Hkeist, IC. Scehroeter,. zu‘ der‘ der’ arktisehen Bonnier und Boergesen. 4. Die formationsbiologische oder vegetationsbiologische Pflanzengeographie. Schon seit langer Zeit hat die floristische Richtung Formationen unterschieden; den Begriff derselben hat aber erst Grisebach 1838 in seiner Abhandlung ‚‚Über den Einfluß des Klimas auf die Begrenzung der natürlichen Floren‘‘ begründet. Die floristische Pflanzengeographie gibt die erste keineswegs leicht herzustellende Grundlage, die Unterscheidung der Formationen eines Landes mit der Aufzählung ihrer Bestandteile, mit der Ermittlung der Subformationen oder Assoziationen und Angaben über Häufig- keit des Auftretens der einzelnen Bestandteile. Bei dem Fortschreiten der in den vorangehenden Abschnitten besprochenen Richtungen hat man aber doch das Bedürfnis empfunden, die Formationen auch noch von anderen Ge- sichtspunkten aus zu betrachten. Es handelt sich um folgende Fragen: a) Wie ist der Entwicklungsgang einer Formation? b) Weshalb sind gerade die in den Formationen auftretenden Arten ge- eignet, unter den gegebenen physikalischen Bedingungen zu gedeihen und sich zu erhalten? c) Wie ist das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis der in einer Forma- tion auftretenden Pflanzen und kleineren Pflanzengenossenschaften? d) Welche Veränderungen treten allmählich in einer natürlichen Forma- tion ein: a) ohne Eingriffe des Menschen? ß) bei Eingriffen des Menschen? So wie die floristische Pflanzengeographie hat auch die formationsbio- logische oder ökologische eine gewaltige Entwicklung erreicht und in allen Kulturländern der Erde, sowie in deren Kolonialgebieten wird eifrig nach bei- den Richtungen hin gearbeitet; es ist daher an dieser Stelle bei dem karg zu- gemessenen Raum ganz unmöglich, ein einigermaßen vollständiges Bild von den Fortschritten auf diesem Gebiet zu geben. Zu a). Der Entwicklungsgang einzelner Formationen ist am leichtesten zu verfolgen, wenn dieselben arm an Arten sind. Daher liegen uns auch vor- zugsweise Untersuchungen über die Entwicklung der Vegetation auf Lava, Gletscherbächen, Strandsand und Sanddünen vor. Die erste derartige Unter- suchung dürfte dievon Comes sein ‚Le lave, il terreno Vesuviano e la loro vege- tazione‘‘ (1887). Dann folgte die Arbeit von Treub über die Neubesiedelung von Krakatau: ‚Notice sur la nouvelle flore de Krakatau‘‘ (1888), an welche sich Arbeiten anderer Forscher (Penzig 1902, A. Ernst 1907) anschlossen. Besiedelung von Neuland in Nord-Europa studierte S. Birger in seiner Schrift „Die Vegetation einiger 1882—1886 entstandener schwedischer Inseln“ (Eng- lers Jahrb. XXXVIII, 1907). Die Entwicklung der Sandvegetation am Strande der Ost- und Nordsee hat unter gründlichstem Studium der ökologischen Merk- male der in derselben auftretenden Pflanzen Warming durch mehrere Abhand- Formations- biologische Pflanzen- geographie. Entwicklungs- gang von Pflanzen- formationen. Anpassungs- erscheinungen der Charakter- pflanzen einzelner Formationen. 202 A. ENGLER: Pflanzengeographie lungen verfolgt, von denen wir ‚„Halophytstudier‘ (1897) und ‚Dansk Plante- vaekst I. Strandvegetation, II. Klitterne‘“ (Dünen) (1T906—1907) hervorheben. 1891 behandelte Schimper in seiner indo-malayischen Strandflora die Ent- wicklung dieser Formation und ihre Gliederung in Subformationen, in dem- selben Jahr erschien G. Karstens Studie über die Mangroveformation. Ferner mögen als entwicklungsgeschichtliche Formationsstudien noch genannt sein: Flahault und Combres ‚Sur la flore de la Camargue et des alluvions du Rho- ne‘‘(1894); Gräbner ‚Studie über die norddeutsche Heide‘ (1895), ‚Die Heide Norddeutschlands‘“ (I90I). Sehr klar liegen die Anpassungserscheinungen bei den niederen, einfachen, meist einzelligen Formen, welche pelagisch leben. Ich greife hier auch nur einige Arbeiten heraus: C. Schröter ‚Die Schwebeflora unserer (d. h. der Schweizer) Seen‘ (1897), Schröter und Kirchner ‚Die Vegetation des Bodensees‘‘ (1896), in welchem Werk nicht nur das Phyto- plankton, sondern auch das Phytobenthos (Bodenflora) und das Pleuston (Schwimmflora) behandelt werden, Kolkwitz und Marsson „Ökologie der pflanzlichen Saprobien‘‘ (1908), Kolkwitz „Über die Planktonproduktion der Gewässer‘ u. a. Zu b). Größer ist die Zahl der Arbeiten, welche sich ausschließlich mit den Anpassungserscheinungen der Charakterpflanzen einzelner Formationen beschäftigen. Die schon von Grisebach (Vegetation der Erde) und Ascher- son (Über die botanischen Ergebnisse der Rohlfsschen Expedition zur Er- forschung der Libyschen Wüste, 1874) nach ihrem äußeren Bau geschilderten Wüstenpflanzen behandelte Volkens in seiner ‚Flora der ägyptisch-arabischen Wüste‘‘ (1887). Nach 1886 haben noch mehrere Botaniker es verstanden, mit ihren floristischen Studien auch formationsbiologische zu verbinden; der Wert solcher Arbeiten ist um so größer, je mehr die Verfasser es erstreben und vermögen, die gesamte Flora eines Landes ins Auge zu fassen und sich nicht nur auf einige besonders auffallende Formen zu beschränken; das letztere mag von Vor- teil sein, wenn es sich darum handelt, die Wirkung einiger Faktoren klarzu- stellen, ist aber noch keine Formationsbiologie. Als besonders wichtige Schrif- ten mögen folgende genannt sein. Unter den Werken über die arktische Flora nimmt in jeder Beziehung Middendorfs ‚Botanische Reise‘, Bd. IV. Teil 7 (1861 — 1864) einen Ehrenplatz ein, wenn auch Kjellmans ‚Ur polarväxtens lif‘‘ (1884) andere Anschauungen über das Verhalten der arktischen Pflanzen gegenüber der Kälte zur Geltung gebracht hat. Weitere Studien brachten Warmings Abhandlung ‚über Grönlands Vegetation‘ (1889) und Kihlmans „PflanzenbiologischeStudien ausRussisch-Lappland‘‘(1890), letztere eine Grund- lage für die Vegetationsbiologie der subarktischen Länder. Beide Arbeiten sind wichtig durch den Nachweis xerophytischer Struktur bei Pflanzen dieser Gebiete, entsprechend der zeitweisen Erhitzung und Trockenheit des Bodens und der Luft, die im Sommer nach dem Abschmelzen des Schneewassers einzutreten pflegen. Für die Alpenländer hat unszuerstKerner(1863) in seinem ‚„Pflanzen- leben der Donauländer‘ eine lichtvolle Skizze der Formationen der Alpenländer gegeben, G.Beck (1884) in seiner ‚Flora von Hernstein‘ (in Nieder-Österreich) Entwicklung der physiologischen Pflanzengeographie (Ökologie) 203 ein Bild von dem in den Formationen herrschenden, durch Licht- und Luft- verhältnisse sich mannigfach gestaltenden Pflanzenleben, dasselbe auch (1893) in seiner ‚Flora von Nieder-Österreich‘‘; aber mehr auf die lokalen Existenz- bedingungen gehen ein Stebler und Schröter in ihren Beiträgen zur Kennt- nis der Matten und Weiden der Schweiz (1889—1892) und das Resultat mehr- jähriger Studien über die Existenzbedingungen und Anpassungserscheinungen der Alpenpflanzen von C. Schröter und seinen Schülern finden wir nieder- gelegt in Schröters „Pflanzenleben der Alpen‘ (1908). Auch liegen ökolo- gische Formationsstudien vor von C. Weber über das natürliche Grasland in West-Holstein (1892), von Altenkirch über die sächsische Sonnenhügel- formation (1894), von Grevillius über die xerophile Phanerogamenvegetation der Insel Öland (1897). Als formationsbiologische Studien über tropische und subtropische Länder erwähne ich die Schilderung der Campos Süd-Brasi- liens durch Warming in seinem „Lagoa-Santa (1892), F.Borgeson und Ove Paulsen ‚Om vegetationen paa de dansk -Vestindiske Öer (1898), Weber- bauer ‚Die Pflanzenwelt der peruanischen Anden‘ (Igıı), Reiche „Grund- züge der Pflanzenverbreitung in Chile‘ (1907), L. Diels ‚Die Pflanzenwelt von Westaustralien‘‘ (1906), diese drei in Engler und Drudes ‚Vegetation der Erde“, Marloth ‚Das Kapland‘“ (1908), L. Diels ‚Die Vegetationsbio- logie von Neu -Seeland‘‘ (1896), der sich mehrere Arbeiten von Cockayne anschließen. Zu c und d). Die unter c und d gestellten Fragen lassen sich nicht immer leicht trennen. In vielen Fällen ist es augenscheinlich, daß in einer Formation die kräftigere Entwicklung einer Art die Verkümmerung anderer Gesellschafts- genossen zur Folge hat; aber außerordentlich oft treten auch äußere Um- stände, regnerische oder trockene Jahre, Angriffe von Insekten und Pilzen und sehr oft auch Einflüsse des Menschen hinzu, welche Änderungen in den Genossenschaften der Formationen zur Folge haben. Bis jetzt sind es vorzugsweise die Forstbotaniker und landwirtschaftlichen Botaniker, auch einzelne Floristen (z.B. Weber, Gräbner), welche andauernd Beobachtungen über den sich in der Natur von selbst vollziehenden Wechsel der Vegetationsformationen angestellt haben; aber hier liegt noch ein weites Arbeitsfeldfür den Fachbotaniker vor. Daß die Baumarten in den Wäldern Europas nicht bloß in längst vergangenen Zeiten, sondern auch in der jetzigen Periode gewechselt haben, ist vielfach beobachtet worden. So haben Steenstrup, Vaupell und P. E. Müller festgestellt, daß in Dänemark der in vorhistorischer Zeit dort häufigen, auf der Insel Laewe noch im 17. Jahrhundert vorhanden gewesenen Kiefer die Eiche gefolgt ist, diese dann vielfach durch die Buche verdrängt wurde. Vaupell (1863) findet die Erklärung hierfür darin, daß der Kieferwald lichter ist als der Eichenwald, dieser lichter als der Buchenwald; P.E. Müller aber zeigt, daß dichter Buchenwald ebenfalls von beschränkter Dauer sein müsse, da er allmählich austrocknend auf den Untergrund wirkt und die nach und nach entstehende Decke von dürrem Laub das Einwurzeln der jungen Buchenkeime verhindert. Korshinsky machte 1891 darauf aufmerksam, daß in Mittel- Veränderungen und Wechsel der Vegetations- formationen. 204 A. ENGLER: Pflanzengeographie Rußland die Eichenwälder auf Steppenboden zur Entwicklung gelangen, der vorher gar keinen Wald oder nur solche Bäume trug, welche noch weniger Schatten geben als die Eiche, daß sie inmitten der freien Wiesensteppen an- fangs in Gestalt strauchartigen Eichengehölzes hervorwachsen, letzteres mehr und mehr um sich greift und zu Eichenwäldern wird; Korshinsky nimmt dann ferner an, daß die Eiche in Mittel-Rußland einst durch weniger licht- bedürftige Bäume, wie die Fichte, verdrängt werden wird. Es dürfen aber diesen Behauptungen gegenüber nicht die Einwürfe verschwiegen werden, welche E.H.L. Krause beigebracht hat. Nach ihm ist zu berücksichtigen, daß in den genannten Gebieten Änderungen des Klimas nachweislich erfolgt sind und daß sehr wohl in zusammenhängenden größeren Waldungen, wie in denen des Böhmerwaldes, auch selbst in den Buchenwaldungen des östlichen Holstein fortdauernde Regeneration erfolgt. Es ist daher bei den Änderungen der Waldbestände immer auch E.von Bergs Ansicht (vgl. seine Schrift „Über das Verdrängen der Laubwälder im nördlichen Deutschland durch die Fichte und Kiefer‘ 1844), zu berücksichtigen, daß sich in Deutschland die Laub- waldungen so lange unverändert erhielten, als der Mensch nicht in das Ge- triebe der Natur eingriff, daß wohl in Eichen- und Buchenwäldern nach Wind- brüchen zunächst Waldbäume mit geflügelten Samen sich einnisteten und sich rasch in entstehenden Lücken weiter verbreiteten, daß aber nach und nach die herrschende Baumart wieder vorrückte und allmählich die Eindringlinge zu- rückdrängte. Ähnliche Prozesse sehen wir in Afrika da vor sich gehen, wo der Regenwald der Steppe benachbart ist, und die Steppengehölze, welche auch vielfach mit geflügelten Samen versehen sind, von den entstehenden Lücken Besitz ergreifen. Sodann ist auch sehr wohl zu berücksichtigen, daß abgesehen von den großen seit der Eiszeit eingetretenen klimatischen Än- derungen, abgesehen von den von Brückner angenommenen Klimaschwan- kungen ganz zweifellos die seit dem Fortschreiten der Kultur in den ursprüng- lichen Wäldern vom Menschen vorgenommenen Veränderungen einen um- gestaltenden Einfluß auf das Klima haben mußten. Das ist von vielen Forst- männern, Moreau de Jonnes, Ebermayer (1873), Croumbie Brown (1877), Nördlinger (1885) u.a. dargetan. Wieviel also bei Änderung von Formationen auf exogene Wirkungen zurückzuführen ist, wird oft schwer zu entscheiden sein. Eine ausführliche Besprechung der Änderungen der Waldfläche Deutschlands in historischer Zeit sowie der inneren Wandlungen des Waldes findet man in Hausraths vortrefillichem Werk ‚Pflanzengeo- graphische Wandlungen der deutschen Landschaft‘ (IgII) S. 102—153—189 Recht eingehend hat früher Gräbner in verschiedenen Arbeiten, namentlich in seinem Werke ‚Die Heide Norddeutschlands‘“ (1901) die natürliche Entwicklung der Heide auf nacktem Dünensand, am Wald und auf Mooren verfolgt und auch die entgegengesetzten Anschauungen von Borggreve und E. H.L. Krause, daß jede Heide aus Wald oder Moor entstanden, mehr oder weniger ein Produkt der menschlichen Kultur sei, bekämpft. Er hat auch in seiner „Pflanzenwelt Deutschlands‘‘ (1909) stark Entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie 205 betont, daß dicke Lagen faulenden, sich in schwarzen Humus umsetzenden Laubes luftabschließend auf den Boden wirken; diese Auflagerungen bilden einen fast filzigen mehr schmierigen Rohhumus, der das tiefere Eindringen der Wurzeln wegen Luftmangels verhindert, und die Folge ist die Entwicklung der zwergigen Heideformation. IV. Die entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie und deren weitere Aufgaben. Im Anfang meiner Darstellung habe ich darauf hingewiesen, daß schon Willdenow Gedanken ausgesprochen hat, welche erkennen lassen, daß er die gegenwärtige Pflanzenverbreitung als das Resultat einer Entwicklung ansah. Dieser Gedanke tritt merkwürdigerweise bei A. v. Humboldt und während einiger Jahrzehnte bei allen denen zurück, welche seinem Beispiel folgend, sich bemühten, die Abhängigkeit der Pflanzenverbreitung vom Klima darzutun, ebenso bei allen denen, welche in der mühsamen Arbeit, das grundlegende Florenmaterial zu vervollständigen, ihre Befriedigung fanden. A. v. Hum- boldt sagte zwar an einer Stelle: ‚Unsere Kenntnis von der Urzeit der physi- kalischen Weltgeschichte reicht nicht hoch genug hinauf, um das jetzige Da- sein als etwas Werdendes zu schildern‘; aber in seinen Ideen zu einer Geo- graphie der Pflanzen findet sich auch der Satz: ‚Die Geographie der Pflanzen untersucht, ob man unter den zahlreichen Gewächsen der Erde gewisse Ur- formen entdecken und ob man die spezifische Verschiedenheit als Wirkung der Ausartung und als Abweichung von einem Prototypus betrachten kann.“ Völlig ablehnend verhielt sich gegenüber den entwicklungsgeschichtlichen Fra- gen Grisebach noch im Jahre 1872, obgleich schon 1852 der geniale F. Unger eine „Geschichte der Pflanzenwelt‘ veröffentlicht hatte, mit der Tendenz, nach- zuweisen, daß die Florengebietenicht ausklimatischen Verhältnissen allein abzu- leiten sind, sondern daß sie das Resultat vorausgegangener Zustände sind, die in einer fortschreitenden Bildung ihren Grund haben. Vielen Anschauungen paläobotanischer Befunde stehen wir heute mit viel schärferer Kritik gegen- über, als seinerzeit Unger; aber sein Werk enthält viele vortreffliche Gedanken, welche ich in meiner „Entwicklung der Pflanzengeographie‘‘ 5. 198 hervorge- hoben habe. 1870 veröffentlichte Unger seine ‚Geologie der europäischen Wald- bäume“, in der er mehr auf die Pflanzenwelt der Tertiärperiode und auf die gegenwärtige Verbreitung der ın den jüngeren Erdperioden auftretenden Gattungen einging. Mit einer umfassenderen Kenntnis der gegenwärtigen Pflanzenwelt, als sie Unger besaß, brachte Alph. de Candolle die ent- wicklungsgeschichtliche Methode der Pfianzengeographie durch seine 1855 ver- öffentlichte ‚Geographie botanique raisonn&e‘“ zur Geltu g, ein Werk, welches Darwin als eine der reichsten Quellen für seine Anschauungen bezeichnet hatte. Der vollständige Titel „Geographie botanique raısonnee ou exposition des faits principaux et des lois concernant la distribution g&ographique des plantes de l’Epoque actuelle‘ kennzeichnet deutlich den Standpunkt und die Tendenz des Verfassers. Von ihm werden zum ersten Mal die Tatsachen der Geologie gebührend Entwicklungs- geschichtliche Pflanzengeo- graphie lange vernachlässigt. F. Unger. Grisebach. A. de Candolle Entwicklungs- geschichte der Florengebiete. Phylogenetische Systematik im Verhältnis zur Floren- geschichte. 206 A. ENGLER: Pflanzengeographie beachtet, welche uns manche bisher nicht aufgeklärten Erscheinungen der Pflanzenverbreitung leicht verstehen lassen. Indem A. de Candolle auf zahl- reiche Verbreitungserscheinungen aufmerksam machte, zu deren Erklärung physikalische Ursachen nicht ausreichen, weckte er das Interesse für die ent- wicklungsgeschichtliche Richtung der Pflanzengeographie, welche jetzt allmäh- lich Fortschritte zu machen beginnt. Alsnun nach A. de Candolle auch Dar- wins Schriften erschienen, wurde immer mehr anerkannt und ausgesprochen, daß in der Pflanzengeographie das entwicklungsgeschichtliche Prinzip mehr in den Vordergrund treten müsse, so z.B. recht gut von Wetterhan in sei- nem Vortrag: „Über die allgemeinen Gesichtspunkte der Pflanzengeographie“ (Frankfurt 1872). Die Gesichtspunkte hatte man wohl, aber zur Ausführung größerer Arbeiten mit Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte entschlossen sich nur wenige. In der entwicklungsgeschichtlichen Pflanzengeographie treten nun haupt- sächlich zwei Forschungsrichtungen hervor. Die eine geht aus von der Analyse der einzelnen Florengebiete, von der Feststellung der Verbreitung ihrer ein- zelnen Bestandteile in der Gegenwart und wenn möglich auch in der Vergangen- heit auf Grund fossiler Befunde; es ist dies also im wesentlichen eine Ent- wicklungsgeschichte der Florengebiete, für welche die Erdgeschichte, insbesondere die der jüngeren Epochen, die notwendigste Grundlage bietet. Für dieselbe ist es aber ferner von der größten Bedeutung, das Verhältnis der endemischen Formen zu den weiter verbreiteten festzustellen; es ist dann ferner bei dieser Methode darauf zu achten, ob die endemischen Formen enger mit anderen Arten desselben Gebietes verwandt sind oder aber, neben den übrigen Florenbestandteilen völlig isoliert, mit Arten anderer Gebiete oder ver- gangener Perioden verwandt sind. Für diese entwicklungsgeschichtliche Rich- tung gehören selbstverständlich auch die Verfolgung der Pflanzenwanderungen und die Formationsbiologie zu den ersten Aufgaben. Die andere Richtung ist die systematisch-entwicklungsgeschichtliche oder phylogenetische. Hier handelt es sich darum, jede Form oder Art nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit ihren Verwandten zu betrachten; hier kommt es vorzugs- weise darauf an, auf möglichst breiter Grundlage durch morphologische und ana- tomische Untersuchungen festzustellen, welche Formen eines Verwandtschafts- kreises sich am meisten dem ursprünglichen Typus nähern, welche Formen sich mehr von demselben entfernen und als die später entwickelten anzusehen sind, auch zu ermitteln, wie sich die einzelnen Areale der einzelnen Arten zu einander verhalten. Beide Richtungen haben ihre Vorteile und Nachteile. Bei der florengeschichtlichen hat man den Vorteil, dadurch, daß man die Verbreitung der einzelnen Arten so weit als möglich verfolgt, festzustellen, woher die einzelnen Artengruppen gekommen sind, und es ist besonders dann etwas gewonnen, wenn sich ermitteln läßt, daß die eine natürliche Formation ausmachende Artengruppe einen gemeinsamen Ursprungsort hat. Es ist aber für einen und denselben Autor schwer, bei denjenigen Florengebieten, welche nicht eine sehr einheitliche und in sich nahezu abgeschlossene Flora besitzen, Entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie. ı. Florengeschichtliches 207 wie etwa das südwestliche Kapland oder Australien, die Verbreitung aller Arten und ihrer Verwandtschaft zu denen anderer Gebiete zu ermitteln; man ist hier- bei auf die Urteile der Monographen angewiesen; die Entwicklungsgeschichte der Florengebiete bedarf also unerläßlich der phylogenetischen Systematik. Der Phylogenetiker hinwiederum, der die Arten einer über einen ganzen Erdteiloder über einige Erdteile verbreiteten Gattung nach ihrer Verwandtschaft und Entwicklung beurteilen soll, ist bei solchen großen Formenkreisen nicht in der Lage, alle Formen, welche er bespricht, unter ihren natürlichen Ver- hältnissen kennen zu lernen, während der Florist mit den Existenzbedingungen der in seinem Gebiet vorkommenden Arten leicht bekannt werden und auf Grund seiner Kenntnis der Existenzbedingungen auch wieder Schlüsse über die Entwicklung der Arten machen kann. Beide Richtungen finden ihre zuverlässigste Stütze in fossilen Befunden; Bedeutung die Entwicklungsgeschichte der Florengebiete würde am sichersten festgestellt fosster Reste. werden können, wenn die vorangegangenen Floren derselben Gebiete voll- ständig in fossilem Zustand der Gegenwart überliefert wären. Es ist bekannt, daß leider in nur wenigen Fällen derartige Hilfsmittel aus dem Bereiche der Paläobotanik sich darbieten und daß es vorzugsweise nur die Bäume der nörd- lich gemäßigten Zone sind, deren fossile Reste wertvolles Material für entwick- lungsgeschichtliche Forschungen abgeben. 1. Florengeschichtliche Pflanzengeographie. Derjenige Botaniker, welcher zuerst die Entwicklungsgeschichte einzelner riorengeschicht- Florengebiete darzustellen versuchte, und durch seine umfassenden syste- a matischen Kenntnisse auch dazu befähigt war, war Sir Joseph Hooker. Joseph Hooker. Schon 1846 konnte er sich an der Hand der reichen Sammlungen Darwins von den Galapagos-Inseln in das Studium der merkwürdigen Flora dieses Archipels vertiefen, einer Flora, welche wie wenig andere durch den reichen Endemismus der gesamten Inselgruppe und durch die zahlreichen vikariierenden Formen der einzelnen Inseln zum Nachdenken über die Ursache so eigenartiger, in kontinentalen Gebieten kaum auftretender Verhältnisse anregen mußte. Zwölf Jahre später (1859), nachdem kurz vorher Darwin und Wallace ihre Hypothesen über die Entwicklung der Arten ausgesprochen hatten, unter- nahm es Hooker, ausgerüstet mit den auf langen Reisen gesammelten Er- fahrungen, namentlich auf Grund seiner Forschungen in den antarktischen Ländern, sich eine Anschauung von der Entwicklung der antarktischen Floren- gebiete und der in ihnen enthaltenen Florenelemente zu bilden. Sein ‚Introduc- tory essay to the flora of Tasmania‘‘ mit dem vollständigen Titel ‚‚On the flora of Australia, its origin, affinities and distribution‘ ist zweifellos die gedanken- reichste Schrift dieses hervorragenden Botanikers. In derselben werden die Variationserscheinungen im Pflanzenreich, sowie die allgemeinen Erschei- nungen der Pflanzenverbreitung in Gegenwart und Vergangenheit besprochen. Hierbei kommt Hooker auch auf die inselfloren und die Analogien zu sprechen, welche zwischen ihnen und den Gebirgsfloren bestehen; ferner weist 208 A. ENGLER: Pflanzengeographie er darauf hin, wie die Inselfloren je nach ihrem geologischen Alter verschieden sind, daß die gegenwärtigen Existenzbedingungen die Erscheinungen der Pflanzenverbreitung nicht erklären, daß vielmehr die Eiszeit einen großen Einfluß auf dieselbe gehabt habe. Auch die Analyse der australischen Flora ergab manche interessante Beziehungen der Florengebiete untereinander. 1860 legte Hooker der Linnean Society seine ‚„Outlines of the distribution of arctic plants‘‘ vor, in der er jedoch den Fehler machte, alle im arktischen Zirkel vorkommenden Pflanzen als arktische anzusehen; er wurde dadurch zu dem nicht haltbaren und später namentlich von Christ bekämpften Ergebnis geführt, daß die arktische Flora ihre Heimat in Skandinavien habe, während sie doch größtenteils nach der Glazialperiode aus dem temperierten Asien ein- gewandert ist. 1866 machte Hooker die Eigentümlichkeiten der Inselfloren aufs neue zum Gegenstand seiner Untersuchungen und erklärt die endemische Inselflora durch eine Umwandlung kontinentaler Arten. Später haben Engler in seinem ‚Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt‘ (1879 bis 1882) und W. B. Hemsley im ‚Report on the present state of knowledge of various insular floras‘‘ (1885) den Fragen über die Entwicklung der Insel- floren noch eingehendere Beachtung geschenkt. Die von Hooker angeregten Fragen beschäftigten noch vielfach die Botaniker, doch war die Zahl derjenigen, welche in ähnlicher Weise die Pflanzenwelt anderer Florengebiete analysierten, gering; denn auch auf anderen Gebieten, namentlich dem der Entwicklungs- geschichte und Pflanzenanatomie, später auf dem der Vererbungslehre, hatten sich vielfach neue aussichtsvolle Perspektiven eröffnet, und bei den Floristen war meistens die lang geübte Beschränkung auf ein engeres Florengebiet, sowie der fehlende Überblick über die Gesamterscheinungen der Pflanzenverbreitung dem Eingehen auf derartige Fragen hinderlich; ich darf hier wohl erwähnen, daß ich selbst mir in meinem oben zitierten Werke auch bei den tropischen und subtropischen Gebieten die Verfolgung dieser Fragen zur Aufgabe ge- macht habe und seit dem Jahre 1892 in mehreren Publikationen über die Flora Afrikas dieselben immer ganz besonders im Auge behielt. Auch stand bei den Verhandlungen über die Abfassung der Beiträge für das von mir und Drude herausgegebene Sammelwerk ‚Die Vegetation der Erde‘ die Entwicklungs- geschichte des betreffenden Florengebietes immer auf dem Programm; man findet daher auch in den S. 17 zitierten Werken dieselbe behandelt. Die Fortschritte der physikalischen Geographie und der Paläobotanik der nördlich gemäßigten und arktischen Zone waren so bedeutend, daß man sich der Verwertung dieser Errungenschaften für die Entwicklungsgeschichte der Florengebiete nicht entziehen konnte. Noch bestanden vielfach unrichtige Auffassungen bezüglich des Verhältnisses der alpinen Flora zu der arktischen bei denjenigen, welche vorzugsweise die physiognomische Übereinstimmung alpiner und arktischer Pflanzen und das gleichzeitige Auftreten beider Pflanzengruppen sowie das gleichzeitige Vorkommen zahlreicher Arten in den europäischen und subarktischen Hochgebirgen sowie im hohen Norden vor Augen hatten, Auffassungen, vor denen diejenigen bewahrt blieben, welche Entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie. ı. Florengeschichtliches 209 sich in das spezielle systematische Studium formenreicher arktisch - alpiner Gattungen vertieften. Besonders wertvoll war Christs Abhandlung „Über die Verbreitung der Pflanzen der alpinen Region der europäischen Alpen- kette‘‘ (1866); er kommt zu dem richtigen Ergebnis, daß der größte Teil der Alpenpflanzen (60%) und zwar meist an trocknere Standorte gebundene nur der Alpenkette angehören, daß die Wanderung der arktisch-alpinen Pflanzen ebenso von N. nach S., wie von S. nach N. erfolgt ist und vorzugsweise auf Feuchtigkeit angewiesene Arten sich an diesen Wanderungen beteiligt haben. Christ war damals noch Anhänger der Drifttheorie und nahm das Wasser als Transportmittel an. Wertvoll war Christs Nachweis, daß die arktische Flora zum großen Teil in den nördlichen Gebirgen Asiens ihren Ursprung habe und damit die Widerlegung von Hookers Annahme, daß Skandinavien die Heimat der arktischen Pflanzen sei. Zu demselben Resultat kam auch Areschoug (1868) in seiner Abhandlung ‚Von den europaiske vegetationens ursprung‘“. Die an das Glazialphänomen in Europa sich knüpfenden Betrachtungen ver- loren an hypothetischem Charakter immer mehr, als 1870 Nathorst zuerst im südlichen Schonen in glazialen Süßwasserablagerungen der Moränenlandschaft fossile Glazialpflanzen nachwiesundalsin den folgenden Jahrzehnten größtenteils von ihm, aber auch von anderen solche an zahlreichen Fundstätten der Ostsee- länder, im östlichen Schottland und England, im nördlichen Vorgelände der Alpen und sogar in den Süd- Karpathen gemacht wurden. In den untersten Tonlagern zwischen den Moränenhügeln Schonens fand sich Salıx polaris, häufig mit Dryas octopetala gemischt, im oberen Horizont Salix reticulata und Betula nana, welche bisweilen in den Torf hinaufreicht, selten Diapensia lapponica, weiter oben bisweilen Salix phylicifolia, hierauf der Torf mit Populus tremula, Pinus silvestris, Ouercus sessiliflora und Alnus glutinosa. Diesen Forschungen schließen sich viele andere Untersuchungen skandinavischer Botaniker an, welche sich auf die allmähliche Besiedelung des durch die Glazialperiode vegeta- tionslos gewordenen Skandinavien beziehen. Wohlliegen inNord-Europa die Ver- hältnisse für die Erforschung der neueren Florengeschichte äußerst günstig; aber es kann auch nicht genug der große Eifer und die Sorgfalt gerühmt werden, welche die skandinavischen Forscher auf derartige Unternehmungen verwendeten. Christ. Areschoug. Nathorst. Fossile Glazial- pflanzen. Schon 1844 hatte Japetus Steenstrup in seiner Abhandlung ‚,Skormoseren Steenstrup. Vidnesdam og Litle-more‘‘ die Aufeinanderfolge von Populus tremula, Pinus silvestris, Quercus sessiliflora, Alnus glutinosa und Fagus besprochen. Für Schweden hat diese Verhältnisse am gründlichsten Gunnar Andersson be- handelt, der nach zahlreichen einzelnen Untersuchungen seit 1889 im Jahre 1897 „Die Geschichte der Vegetation Schwedens‘ veröffentlichte und 1905 ge- legentlich des internationalen Botanikerkongresses in Wien eine noch aus- führlichere zusammenfassende Darstellung unter dem Titel ‚Die Entwicklungs- geschichte der skandinavischen Flora‘‘ (erschienen 1906) folgen ließ. Zweifel- los steht nach ihm fest, daß in der Spätquartärzeit auf die Dryasflora oder die arktisch-alpine Flora die Birkenflora, dann die Kiefernflora, hierauf die Eichen- flora, zuletzt die Buchen- und Fichtenflora folgten, was so zu verstehen ist, K.d.G.III. ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 14 G. Andersson, Entwicklung der skandinavischen Flora. Blytt. 210 A. ENGLER: Pflanzengeographie daß mit jeder dieser Floren ein neues Florenelement in Skandinavien eindrang, welches von den ihm zusagenden Lokalitäten Besitz ergriff. Gleichzeitig mit der Birke wanderten die Zitterpappel, Salix caprea und S. glauca, Prunus padus, der Wacholder, die Preißelbeere und Vaccinium uliginosum ein. Dann drang von Süden die Kiefer vor. Zu dieser Zeit (Ancyluszeit) waren große Teile der Ostsee Land und eine breite Landbrücke vereinigte Schonen mit Jütland. Gegen das Ende der Kiefernzeit nimmt Andersson schon eine der heutigen gleiche Wärmesumme des Jahres an, für die darauf folgende Eichenzeit eine höhere, sodann auch ein wärmeres und trockeneres Klima im Osten, ein feuch- teres im Westen. Schon vor der Eiche wanderten ein: Acer platanoides (Spitz- ahorn), Alnus glutinosa (Sumpferle), Betula verrucosa (Weißbirke), Cornus sanguinea, Corylus avellana (Hasel), Mespilus monogyna, Rhamnus frangula, Sorbus scandica, Tilia grandifolia, Ulmus montana, Viburnum opulus (Schnee- ball). Zu Ende der Kiefernzeit befand sich schon der Mensch in Dänemark und dem südlichen Skandinavien im Übergang von der paläolithischen zur neolithischen Zeit. Als die Eiche vordrang, konnte sich die vorher herrschende Kiefer nur auf dem schlechten kieselsäurereichsten Boden behaupten. Mit der Eiche erschien Acer campestre (Feldahorn), Fraxinus excelsior (Esche), Hedera (Efeu), Rhamnus cathartica, Sambucus nigra, Taxus baccata (Eibe). Die fossi- len Funde von Haselnüssen in Schweden (G. Andersson, Hasseln i Sverige fordom och nu, 1902) haben zusammen mit den Relikten, welche auf eine ehe- malige höhere Baumgrenze hinweisen, ergeben, daß vor etwa8000—10000 Jahren in Skandinavien eine um 2,4—2,7° höhere Sommertemperatur herrschte. Über dieses wärmere KlimafaßteG. Andersson zuletzt alles zusammen in der Schrift „Ihe climate of Sweden in the late- quaternary period‘ (1909). Hier findet man die wichtigste Literatur zusammengestellt, auch die Schriften Ser- nanders, der mehr die in folgendem erwähnten Anschauungen Blytts ver- tritt. Neben der Pflanzenverbreitung von Westen nach Osten fand eine wich- tigere von Osten nach Westen statt, welche Axel Blytt (Essay on the immi- gration of the Norwegian Flora during alternating rainy and dry periods‘“, 1876 und ‚Zur Geschichte der nordeuropäischen, besonders der norwegischen Flora‘‘, 1893) Veranlassung zur Annahme von einigen wechselnd feuchten und trocknen Perioden gab. Schon 1879 habe ich im ‚Versuch einer Entwicklungs- geschichte‘ IS. 194 mich gegen die Annahme einer scharf gesonderten Ein- wanderung der von ihm unterschiedenen Florenelemente in verschiedenen Peri- oden ausgesprochen. Während der Zeit der Eichenwälder wurde das Binnen- becken des Ancylussees in offene Verbindung mit dem Weltmeer gesetzt und ein starker Arm des Golfstroms brachte salziges und warmes Wasser in die Ostsee (Litorinameer). Nun wanderte die Buche aus Südwesten, die Fichte aus Nordosten ein. Beide sind noch im Vorrücken begriffen, namentlich die Buche gegen Norden. Den umfangreichen und erfolgreichen Untersuchungen postglazialer Ab- lagerungen in Skandinavien stehen bei weitem weniger aus Deutschland und dem Alpengelände gegenüber, doch sind auch da fossile Funde gemacht, welche Entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie. ı. Florengeschichtliches 211 im Verein mit den gegenwärtigen Verbreitungserscheinungen der deutschen Flora dazu beitragen, eine Vorstellung von dem Zustandekommen der letzteren zu gewinnen. Ich weise hin auf Keilhacks ‚Untersuchungen der intergla- zialen Torflager an der Elbe bei Lauenburg‘ (1885), auf zahlreiche Schriften Webers über interglaziale Moore in Nordwestdeutschland und über das von Klinge in Brandenburg, auf Conwentz’s Schriften über das Vorkommen der Eibe in Skandinavien, Westpreußen und Hannover. Ehe ich auf das Gesamt- ergebnis dieser Forschungen eingehe, will ich erst noch die Studien besprechen, welche sich mit der Annahme einer Steppenperiode in Mittel-Europa beschäftig- ten. Nehring hat zuerst 1876 auf die ehemalige Existenz einer solchen hin- gewiesen und allmählich zeigen können, daß 12 charakteristische Steppentiere nach der Glazialperiode in Deutschland gelebt haben. Die 1879 von E. Loew veröffentlichte Abhandlung ‚‚Über Perioden und Wege ehemaliger Pflanzen- wanderungen im norddeutschen Tieflande‘ zeigte an den Tatsachen der gegen- wärtigen Pflanzenverbreitung, daß die östlichen Steppenpflanzen längs der Weichsel und längs der die Täler der Weichsel, Oder und Elbe einst verbinden- den Urströme gewandert sind. Als eine abschließende Darstellung Nehrings können wir sein Buch ‚‚Tundren und Steppen‘ (1890) ansehen, in welchem er eine erste Steppenperiode in die zweite Interglazialzeit, eine zweite in dieZeit nach der von ihm angenommenen dritten Eiszeit verlegt. Über die Zahl der Interglazial- zeiten gehen aber die Meinungen noch sehr auseinander und ich betrachte als wichtiger sein Zugeständnis, daß während der Steppenperiode in Mittel-Europa, wie in West-Sibirien die Steppenlandschaften von Waldkomplexen, Seen und Mooren durchsetzt waren. 1905 hat bei der Tagung des internationalen Bota- nischen Kongresses in Wien Weber seine Erfahrungen und Anschauungen über die „Geschichte der Pflanzenwelt des norddeutschen Tieflandes seit der Tertiärzeit‘‘ zusammengefaßt. Er tritt mit der größten Entschiedenheit für mindestens eine Interglazialzeit ein, welche auf eine Glazialzeit folgte, während welcher erst Tundren, dann subarktische Steppen südlich der großen Land- eismasse sich ausdehnten. Die fossilen Funde im interglazialen Moor von Honerdingen auf der westlichen Abdachung der Lüneburger Heide ergeben, daß auf Betulanana Pinus silvestris, auf diese die Fichte, Eiche, Buche, Hain- buche, Haselnuß, Sumpferle, Linde, eine Juglans und Taxus gefolgt sind, nachher die Edeltanne erschien, daß nach deren Verschwinden nur Kiefern und Birken auftreten, und dann wieder glaziale Ablagerungen als Decke. In anderen interglazialen Mooren konnten Samen der Nymphaeacee Brasenia peltata und der Cyperacee Dulichium spathaceum nachgewiesen werden, welche beide jetzt nicht mehr in Europa anzutreffen, aber in Nordamerika häufig sind, Wegen der großen Mächtigkeit einzelner Interglazialmoore schreibt Weber der Interglazialzeit ein Alter von mehreren Jahrtausenden zu. Nach der letzten Glazialperiode folgten in Norddeutschland auch Dryas-, Föhren-, Ei- chen-, Buchenzeit. Weber gibt zu, daß während des Höhepunktes der letzten Eiszeit Birke und Kiefer sich in Mitteldeutschland reichlich erhalten konnten und daß auch die Eiche früher erschien als in Skandinavien. Am Ende der 14* Nehrings Steppenperiode. Weber. Nord- deutsches Tief- land. 212 A. ENGLER: Pflanzengeographie langen feuchten Eichenperiode, innerhalb welcher auch die Fichte in die Lüne- burger Heide einwanderte, wurde das Klima trockener und die Hochmoore be- deckten sich mit Wollgras, Strauchheiden, Nadel- und Birkenwäldern. Erst nachher wanderte die Buche ein. Hinsichtlich der Steppenpflanzen in Deutsch- land nimmt Weber an, daß zwar eine Steppenperiode am Schluß der letzten Eiszeit existiert habe, daß aber deren Spuren durch die darauf folgenden feuch- ten Perioden verwischt seien, daß ferner die heute in Deutschland vorhandenen Steppenpflanzen nicht als Relikte aus jener Steppenperiode anzusehen seien, sondern vielmehr als Einwanderer nach Beseitigung eines großen Teiles der Wälder durch die Kultur. Wenn auch bei der Annahme von Relikten mancher Irrtum unterlaufen mag und ich selbst davon überzeugt bin, daß in derselben Periode in einem reich gegliederten Gebiet xerophile, subxerophile und hydrophile Pflanzen zugleich einwandern können, so ist Weber in seiner An- nahme doch wohl zu weit gegangen und hat daher von Drude, der in Wien „über die Entwicklung der Flora des mitteldeutschen Gebirgs- und Hügel- landes‘“ vortrug, sowie von Aug. Schulz, der auf Grund der heutigen Pflanzen- verbreitung in Mittel- und Nord-Europa im Aufbau von Hypothesen über schwer zu ermittelnde Einzelvorgänge der Pflanzengeschichte sehr weit geht, Widerspruch erfahren. Jedenfalls sind diese beiden Autoren, welche in anderer Beziehung nicht übereinstimmen, wie auch Gradmann, der die ‚„Entwick- lungsgeschichte der Flora der Schwäbischen Alb‘ (1903) behandelte, für An- nahme einer stark ausgeprägten Trockenzeit, und A.Schulz besteht darauf, daß nach der letzten Eiszeit zwei heiße Perioden geherrscht haben. Wie be- züglich der Steppenperiode Deutschlands die Ansichten der Florenhistoriker auseinandergehen, so ist auch bezüglich der Annahme einer xerothermischen Periode in den Alpen noch nicht allgemeine Übereinstimmung erreicht. Ker- ner hatte zuerst 1888 in seinen ‚Studien über die Flora der Diluvialzeit in den östlichen Alpen‘‘ angenommen, daßein ‚aquilonares‘‘ Florenelement von ‚‚xero- thermischen‘ Pflanzen an den Stellen seines Vorkommens nicht die Eiszeit über- dauern und unter den jetzt herrschenden klimatischen Verhältnissen auch nicht nach derselben hätte gelangen können, sondern in einer warmen Trocken- periode nach der Eiszeit eingewandert sein müßte. Für Annahme einer solchen Xerothermische xerothermischen Periode ist namentlich ein hervorragender Kenner der Alpen- SE flora, Briquet, in „Recherches sur la flore du district savoisin et du district jurassique franco-suisse‘‘ (Englers Jahrb. XIII, 1891) und ‚Le developpement des Flores dans les Alpes occidentales‘‘ (Wiener Kongreß 1905) eingetreten. Auch G. Beck von Managetta, einer der besten Kenner der Ostalpenflora, spricht sich sowohl in seiner „Flora von Nieder-Österreich‘‘ (1895), wie in seinem Vortrage „über die Bedeutung der Karstflora in der Entwicklung der Flora der Ostalpen‘‘ (Wiener Kongreß 1905) dahin aus, daß nach der Glazialzeit, als der pannonische Binnensee austrocknete und heiße trockene Sommer herrsch- ten, eine starke Einwanderung östlicher Pflanzen in die österreichischen Alpen- länder erfolgte. Aber er berichtigt zugleich Kerner dahin, daß ein großer Teil der von ihm als pontisch-pannonisch angesehenen Pflanzen einem anderen Entwicklungsgeschichtliche Pfianzengeographie. 1. Florengeschichtliches 273 Florenelement, seinem illyrischen, welches ich, soweit es der montanen Region angehört, als submediterranes bezeichnen möchte, entspreche. Die Einwande- rung dieses Elementes in die montane Region der Ostalpen verlegt er in die Interglazialperiode, wie er besonders ausführlich in seiner Abhandlung ‚‚Die Beck von Mana- Vegetation der letzten Interglazialperiode in den österreichischen Alpen‘ (Lo- ee er tos 1908) dargetan hat. Die erste Beobachtung über interglaziale Flora im Alpen- den Alpen. gelände wurde in den Schieferkohlen von Utznach und Dürnten in der Schweiz gemacht und von Oswald Heer in seiner ‚„Urwelt der Schweiz‘‘ (1865) klar- gelegt; es zeigt sich, daß damals in der niederen Schweiz eine mit der heutigen übereinstimmende Flora herrschte; 1894 fand Wehrli in interglazialen Kalk- tuffen von Flurlingen südwestlich von Schaffhausen eine ähnliche Flora, be- sonders reichlich Acer pseudoplatanus und Buxus. Recht wertvolle Er- gebnisse lieferte die vielumstrittene Höttinger Breccie oberhalb Innsbruck, die zuletzt von v. Wettstein 1888 und 1892 eingehend behandelt wurde. Der auffallendste Pflanzenrest ist neben dem jetzt in Südtirol vorkommenden Buxus das heute auf die untere Region der pontischen Gebirge, des Kaukasus und den südatlantischen Teil der iberischen Halbinsel beschränkte Rhodo- dendron ponticum. Auch bei Cadenabbia am Comer See, bei Paradiso am Luganer See, bei Lovere am Iseo-See wurden ‚‚interglaziale‘‘ Ablagerungen mit Resten desselben Rhododendron gefunden. Bei der Deutung der fossilen Pflanzen- reste als interglaziale muß in erster Linie entscheidend sein, daß die Stratigraphie der unter- und überlagernden Schichten keine andere Auffassung zuläßt. Es mag daher erwähnt sein, daß in neuerer Zeit über pflanzenführende diluviale Ablagerungen von Kaltbrunn bei Uznach zwischen Walensee und Züricher See sehr abweichende Auffassungen von H. Brockmann-Jerosch und C.*A. Weber ausgesprochen wurden. Während erst in den letzten vier Jahrzehnten die von der Natur er- Beziehungen der haltenen subfossilen Dokumente über das Verhalten der Pflanzenwelt seit der Be Glazialperiode bis in die Gegenwart ans Licht gezogen wurden, hat man !Manzenwelt schon vorher die Ergebnisse der Untersuchungen über die Tertiärflora zur Klärung der Vorstellungen über die Entwicklung der Pflanzenwelt verwendet. Die Blütezeit dieser Untersuchungen fällt in die Jahre 1850 bis 1870. Un- streitig gebührt auf diesem Gebiet die höchste Anerkennung Oswald Heer und Saporta,sodann Unger, von Ettingshausen, Massalongo, Goeppert, unter den jüngeren Engelhardt und Conwentz. Der Raum verbietet es, auf die wertvollen Schriften der genannten Gelehrten einzugehen; eben- sowenig kann ich hier die Arbeiten zahlreicher anderer Forscher über einzelne Gebiete besprechen und muß auf meinen ‚Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt seit der Tertiärperiode‘‘ verweisen, in dem ich die bis zum Jahre 1879 bekannt gewordenen paläobotanischen Tatsachen im Verein mit der gegenwärtigen Pflanzenverbreitung einheitlich zu verarbeiten suchte. Die „Grundzüge der Entwicklung der Flora Europas seit der Tertiärzeit‘‘ habe ich auf Grund weiterer Studien 1905 (Wiener Botan. Kongreß) zusammen- gefaßt. Hiervon möge einiges erwähnt sein. Aus der Kreide- und Tertiärperiode 214 A. ENGLER: Pflanzengeographie kennen wir gut erhaltene Reste nur von Waldpflanzen, und zwar vorzugsweise von Bäumen und Sträuchern, dagegen fast gar keine von Niederwuchs und aus den baum- und strauchlosen Formationen. Sicher hat es aber auch immer solche gegeben; denn die alten Gebirgsmassen, welche lange vor der allmäh- lichen Hebung der Faltengebirge von den Pyrenäen bis zum Himalaya existier- ten, waren viel höher als jetzt: Es müssen in ihnen auch schon die Bedingungen zur Entwicklung von Felsen- und Wiesenpflanzen vorhanden gewesen sein. Daß die alpine Hochgebirgsflora eine in der Glazialperiode entstandene Mischlings- flora ist, welche zum Teil von den asiatischen Gebirgen, zum Teil aus dem tertiären arktischen Gebiet stammt, zum Teil aus Elementen besteht, welche in den Alpen selbst sich entwickelt haben, ist ziemlich allgemein anerkannt; in manchen Fällen finden wir die korrespondierenden Arten der alpinen oder hochalpinen in den unteren Regionen des Alpengeländes, in anderen aber treffen wir erst in den unteren Regionen Ostasiens oder Nordamerikas Pflanzen an, welche als Stammtypen einzelner Hochgebirgsformen angesehen werden können, in noch andern Fällen jedoch gelingt es uns nicht, irgendwo solche als Stammtypen von Hochgebirgspflanzen anzusprechende Arten auf- zuspüren. Dann müssen wir eben daran denken, daß noch vor der Hebung der Alpen in jenen alten nord- und mitteleuropäischen Gebirgssystemen, sowie in den alten asiatischen Gebirgen Hochgebirgsformen entstehen und teilweise aus- getauscht werden, später aber auch auf die nahen Alpen übergehen konnten. So lehrt z.B. das spezielle Studium der Saxifragen, daß schon in der Tertiär- periode die meisten der in dieser Gattung hervortretenden Sektionstypen exi- stiert haben mußten. Auch sind zahlreiche Familien und Familiengruppen auf einzelne Teile der Erde beschränkt, so daß an dem Nebeneinanderentstehen verschiedener Familien und der Gattungen einer Familie nicht zu zweifeln ist. Fächer- und Fiederpalmen vom Typus der gegenwärtig im Mittelmeergebiet (Chamaerops, Phoenix), Nordamerika (Sabal) und Japan (Trachycarpus) ihre Nordgrenze findenden Gattungen waren im Eozän noch bis zum Samland, im späteren Tertiär bis zum Alpengelände verbreitet. Fast die ganze Schar der Laubholzgattungen, welche gegenwärtig in Mittel- und Süd-Europa vor- kommen, existierten zu Beginn der Tertiärperiode in Grönland, auf Spitz- bergen und in Mitteleuropa; Erlen, Birken, Hopfenbuchen (Ostrya), Hain- buchen (Carpinus), Haselnüsse, Buchen und Edeltannen, Walnußbäume, Pap- peln, Weiden, Ulmen, Platanen, Storaxbäume (Liguidambar), einzelne Ahorne, eine Parrotia und Diospyros waren weit nach Norden verbreitet. Fallen in dieser Liste schon einige jetzt nur in Süd-Europa und dem Mittelmeergebiet vorkommenden Gattungen auf, so wird in unserer Vorstellung von dem arkto- tertiären Waldcharakter noch besonderen Eindruck machen, daß außer den genannten von Grönland bis Mittel-Europa und weiter südwärts und ostwärts verbreitet waren die Gattung Zelkova, Tulpenbaum (Liriodendron), ein sehr naher Verwandter des Kampherbaumes (Cinnamomum polymorphum), der Sassafrasbaum und Götterbaum (Atdlanthus), also Vertreter von Gattungen, welche ebenso wie mehrere der vorher genannten Nadelhölzer jetzt auf Nord- Entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie. ı. Florengeschichtliches 215 amerika oder Ostasien beschränkt sind. In Mittel-Europa existierten ferner zahl- reiche Eichen und Ahorne, auch einige Walnußbäume, welche zum Teil mit den heutigen ostasiatischen und amerikanischen verwandt sind, auch eine Koel- reuteria (jetzt nur ostasiatisch), eine Fothergilla (jetzt nur nordamerikanisch), eine Clethra, deren Verwandte jetzt in Amerika, Ostasien und auf Madeira ge- deihen. So wie diein der Tertiärlandschaft Europas verbreiteten Eichen sich mehr den ostasiatischen und mediterranen Arten nähern, so sind auch von den zahlreichen im Tertiär vorkommenden Weiden die sicher bestimmbaren Arten mit den in Afrika und auf den benachbarten Inseln vorkommenden mehr ver- wandt, dagegen sieht man ebensowenig von unseren jetzigen mitteleuropä- ischen Eichen, ebensowenig von den jetzt so zahlreichen subarktischen Weiden, wie von der jetzt in Europa und Sibirien so weit verbreiteten Fichte. Auch die im jüngeren tertiären Europa weitverbreitete Populus mutabilis ist mit keiner jetzt in Europa lebenden Pappel verwandt, sondern mit der von Sibirien bis in das tropische Afrika unter 3° s. Br. reichenden Populus euphratica. Von den nur im tertiären Süd-Europa, im Alpengelände und dem Mittelmeergebiet nachgewiesenen Gattungen nenne ich Encephalartos, Dracaena, Ocotea, Laurus canariensis, Ilex canariensis. Die in der Gegenwart als Bestandteil der me- diterranen und tropisch -afrikanischen Gehölzflora auftretenden Gattungen Smilax, Zizyphus, Olea, Pistacia, Gleditschia, Celtis, Buxus waren ebenfalls im Tertiär Süd -Europas vertreten. An diese Gattungen schließen sich andere des südeuropäischen Tertiär an, welche südlich vom Mittelmeergebiet nicht vorkommen, wie Punica (in Afrika nur auf Socotra), Ceratonia, Nerium, Rhus vom Typus der Rh. coriaria, Cotinus, Vitis vom Typus der V. vinifera, Coriaria, Cercis, Fraxinus, Laurus nobilis. Die floristische Verbindung Europas mit Asien besteht allerdings nicht bloß durch diese früher und gegenwärtig im ganzen Me- diterrangebiet verbreiteten Gattungen, sondern auch durch den Nachweis von Ahornarten aus der Verwandtschaft der vorder- und ostasiatischen, von Gym- nocladus macrocarpa in mediterranen Ablagerungen, durch das Vorkommen von Magnolia, von Cinnamomum, von Pentaphylax, von Stuartia, von Deutzia und Cas- siope im Bernstein des Samlandes. Wie schon einzelne der früher genannten Gattungen auch Beziehungen zur gegenwärtig in Nordamerika auftretenden Flora ergeben, so wird eine solche auch durch gut erhaltene Reste von Robinia in tertiären Ablagerungen der Schweiz dokumentiert, und die im mittel- und süd- europäischen Tertiär vorkommenden Tilia, Cornus, Fraxinus erinnern teils an asiatische, teils an amerikanische Typen. Nach alledem kann kein Zweifel dar- über bestehen, daß die große Übereinstimmung, welche die nordamerikanische, insbesondere die ostamerikanische Baumflora in ihrem allgemeinen Cha- rakter mit der des extratropischen Asiens aufweist, sich im Tertiär auch auf die Flora Europas, sowie Grönlands erstreckt hat. Es ist nun nicht gewagt, wenn wir von der Geschichte der Baumgattungen auch auf die der Strauch- formen und Stauden schließen, welche in Waldformationen vorkommend gegen- wärtig eine ähnliche Verbreitung zeigen wie die Baumgattungen, wenn wir z. B. eine stärkere Entwicklung von Syringa, Forsythia, eine weitere Verbreitung von Allmähliche Ausbildung der Regionen. Geringere klima- tische Differen- zen in der Tertiärperiode. Günstige Ver- hältnisse für An- siedlung von Pflanzen in den Hochgebirgs- regionen. 216 A. ENGLER: Pflanzengeographie Rhododendron ponticum, Prunus laurocerasus, Philadelphus, Buxus, Ruscus hypoglossum, Ramondia, Dioscorea im tertiären Europa annehmen. Am Südfuß der Alpen, welcher sich direkt zu dem damals die heutige Po- Ebene ausfüllenden adriatischen Meer herabsenkte, ja noch oberhalb desselben gedieh zuerst, wie heute am Fuß des Himalaja, eine fast tropische Flora. Auch im Osten war das Meer nahe und die Flora eine subtropische. Wir können an- nehmen, daß auf diese eine immergrüne vom Charakter der heutigen Mediterran- flora, dann eine sogenannte temperierte Flora mit laubwerfenden Gehölzen und weiter oben eine Hochgebirgsflora folgte. Es ist zweifelhaft, ob sich in den Gebirgen von Anfang an so ausgedehnte Coniferen-Regionen und im Norden Coniferen-Gürtel wie gegenwärtig entwickelt haben; es ist wahrscheinlich, daß sich diese erst sehr allmählich mit dem Fortschreiten der Hebung der Gebirge und der Differenzierung des Klimas im Norden Eurasiens und Nordamerikas her- ausbildeten. Finden wir doch auch jetzt noch in den Laubwaldregionen der Gebirge die Coniferen hier und da eingestreut. In den Ritzen der Felsen der montanen Regionen und im Geröll haben sich zuerst die Arten entwickelt, welche wenig Humus und wenig Wasser beanspruchen; diese waren geeignet, an ähnlichen Lokalitäten in höheren Regionen aufzusteigen, zum Teil mit klei- nen Abänderungen. Schließlich waren bei fortschreitender Hebung die Kon- kurrenten, welche höhere Ansprüche an die Nahrungszufuhr aus dem Boden stellten, ausgeschlossen und mehrere der vorher zerstreut vorkommenden Felsen- und Geröllpflanzen konnten nun Formationen bilden. Entsprechend der größe- ren Ausdehnung der tertiären Meere und der stärkeren Zerteilung der Land- massen durch Buchten und Binnenseen waren die klimatischen Differenzen zwischen den von den Pyrenäen bis zum Himalaja reichenden Gebirgsländern keine so großen wie gegenwärtig, und es bestand, namentlich in Mittel-Europa, noch lange Zeit bis zum Eintreten der Glazialperiode eine größere Mannig- faltigkeit der Gehölze als jetzt, ähnlich derjenigen, welche wir heute in den Wäldern der Balkanhalbinsel, in denen der Krim, des Kaukasus, des tempe- rierten Himalaja und Östasiens finden. Die Macchien in noch ursprünglicher Form erstreckten sich nicht bloß längs des ganzen Südabhangs der Alpen, sondern auch, wie gegenwärtig in Griechenland, weiter in die Täler hinein. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß in jedem älteren vortertiären oder alttertiä- ren Hochgebirge in den oberen Regionen den klimatischen Bedingungen der- selben angepaßte Arten sich entwickelt haben, welche mit solchen der unteren Region verwandt sind; aber nur von einem sehr geringen Bruchteil der in den untern Regionen verbreiteten Typen sind Nachkommen imstande, in die höheren Regionen aufzusteigen und daselbst etwas modifiziert sich zu erhalten und weiter zu verbreiten. Demzufolge ist in den oberen Hochgebirgsregionen immer noch besiedelungsfähiges Gelände anzutreffen und früher jedenfalls noch mehr vorhanden gewesen. Es haben daher die Hochgebirgspflanzen, welche auf den zum Teil zerstörten Gebirgen Mitteleuropas, auf den zahllosen Ge- birgsketten Ost- und Zentralasiens, in den einzelnen Teilen des Himalaja, des Kaukasus, der Balkanländer, der Karpathen, Alpen und Pyrenäen entstanden Entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie. ı. Florengeschichtliches 217 sind, allmählich mehr Terrain gewinnen und unter Umständen auch auf be- nachbarte Gebirgssysteme übersiedeln können. Verhältnismäßig wenige Fa- milien und Gattungen haben Hochgebirgsarten geliefert; sie herrschen nicht nur auf den Gebirgen der nördlich gemäßigten Zone, sondern auch auf den ganzen Anden. Einzelne zur Verbreitung besonders befähigte Arten sind auch nach Hochgebirgen gelangt, in deren unteren Regionen ihre Verwandten nicht existieren. So haben sich auf den afrikanischen Hochgebirgen Arten der euro- päischen und asiatischen Gebirge angesiedelt. Auf isolierten vulkanischen Bergen von jungem Alter finden wir keine oder nur spärliche endemische Hoch- gebirgsformen. Am Ende der Tertiärperiode hatten die meisten Hochgebirge der nördlich gemäßigten Zone ihre eigene Hochgebirgsflora, nur einzelne be- sonders verbreitungsfähige Arten waren gewandert von Gebirge zu Gebirge. In jener Zeit entwickelten sich Formen, wie die Ramondia, Haberlea, Dioscorea caucasica und D. pyrenaica, sie haben sich erhalten, aber ihre asiatischen Stammeltern sind verschwunden. Jedenfalls besaßen am Ende der Tertiär- periode die einzelnen Teile der Alpen schon mehrere ihrer altendemischen Fel- senpflanzen, namentlich Saxifraga, Campanula, Primula, Androsaces, Veronica, die Paederota, ihre Rhododendra und andere, von denen wir heute näherstehen- de Verwandte im Alpenlande sowohl wie anderwärts in Europa nicht kennen. Nun traten die bekannten Glazialerscheinungen ein; aber ein Teil des Jura, der westliche Teil der kottischen Alpen und der größte Teil der Seealpen, sowie der ligurische Apennin und das illyrische Gebirgssystem, das Karstland, das südwestliche Alpenvorland und der Fuß des östlichen Abfalles der Alpen zeigen nicht die Spuren einer dauernden Bedeckung mit Schnee und Eis; na- mentlich am Südabhang der Kette ragten zwischen den vorgestreckten Glet- scherzungen noch hohe Teile der Alpen, welche jetzt durch starken alten Ende- mismus ausgezeichnet sind, frei empor und boten an ihren steilen der Sonne zugänglichen Abhängen ausreichenden Platz für Erhaltung eines großen Teiles der Alpenpflanzen. Ähnlich war es in den anderen Hochgebirgen, welche dem Glazialphänomen unterlagen. Durch das allseitige Zurückweichen der subtro- pischen Flora und später der übrigen Gehölzflora wurde für die Pflanzen der höheren Regionen Platz in den niederen geschaffen und schließlich konnten sich Höhenbewohner nicht nur in der montanen Region, sondern selbst noch in der Ebene ansiedeln, in welchen Bedingungen herrschten wie gegenwärtig im subarktischen Sibirien. Durch diese Vorgänge und noch mehr durch die mächtige Vergletscherung der arktischen und subarktischen Länder wurde sicher ein großer Teil der vorher existierenden Arten vernichtet, wie sich aus den Befunden der pliozänen Ablagerungen Europas ergibt, welche noch die Reste einer mannigfachen Baumflora einschließen; aber es wurde auch durch die in der Ebene geschaffenen Verhältnisse ein großes Areal frei zur Besiedelung durch die von den Gebirgsländern hinabgedrängten Arten; die Areale der ein- zelnen Gebirgsfloren dehnten sich nunmehr bedeutend nach allen Richtungen aus. So entwickelte sich eine glaziale Mischflora aus Pflanzen, welche in ver- schiedenen Gebirgssystemen entstanden waren. Für die Pflanzenverbreitung Hochgebirgs- floren am Ende der Tertärperiode. Einfluß der Glazialperiode auf Wanderung und Vernichtung von Pflanzen- arten. Glaziale Misch- flora. 218 A. ENGLER: Pflanzengeographie bleibt es ziemlich gleichgültig, ob es eine oder mehrere Interglazialzeiten gab. Dauernde Spuren hat nur die letzte zurückgelassen, in welcher das submedi- terrane Florenelement, welches im Osten in das illyrische übergeht, vordrang und sich zum Teil in der montanen Region der Alpen erhielt. Pflanzenwande- In der Interglazialzeit sind meiner Ansicht nach nicht nur Wald- und een Wiesenpflanzen, sondern auch die Arten der Steppenpflanzen nach Mittel- und Süddeutschland vorgedrungen; wie viel sich davon erhalten haben mag, ist eine andere Frage. Jedenfalls wiederholte sich die Einwanderung dieser Steppenelemente in der auf die letzte Glazialzeit folgenden trockenen Periode und dauerte so lange, als noch für die Aufnahme xerothermer Pflanzen ge- eignete Plätze vorhanden waren. Diese Grundzüge müssen hier genügen. Er- wähnen will ich nur noch, daß für die Karpathenländer Pax, der auch die fossile Flora derselben studierte, in seinem Buche „Grundzüge der Pflanzen- verbreitung in den Karpathen, Il’ (1908) zu folgendem Ergebnis kam. ı. Äl- tere (tertiäre) Zeit: Vorherrschen amerikanischer, zentral- und ostasiatischer Sippen, gemischt mit pontischen, dacischen, mediterranen und mitteleuro- päischen Elementen (ist so zu verstehen, daß sich diese Elemente heute in den angedeuteten Gebieten befinden). 2. Mittlere Zeit: Erlöschen der ameri- kanischen, zentral- und ostasiatischen Beziehungen. Sehr starkes Zurück- treten der mediterranen Sippen. Neueintritt von Arten der boreal-arktischen und boreal-subarktischen Elemente. 3. Neue Zeit: Schwaches Vordringen der boreal- arktischen Bestandteileim Osten. Eintritt neuer Typen des mitteleuropäischen Elements. Neue Besiedlung mit pontischen, europäischen undsibirischen Arten von Osten her. Einenähnlichen Entwicklungsgang, wenn auch mit entsprechend geringerer Wirkung der Glazialzeit nehmen auchG.Beck von Managetta in ‚ Vegetationsverhältnisse der illyrischen Länder‘ (1901) für diese und Ada- movic in „Vegetationsverhältnisse der Balkanländer‘ (1909) für letztere an. 2. Systematisch-entwicklungsgeschichtliche oder phylogenetische Pflanzengeographie, Phylogenetische Diese Forschungsrichtung strebt danach, von jeder in einem Gebiet vor- Bo... kommenden Art bis zu einem gewissen Grade den Ursprung zu ermitteln, den Ausgangspunkt der Sippe festzustellen. Je mehr Sippen 2 Gebiete miteinander gemein haben, desto näher sind sie miteinander verwandt. Dies ist nun selbst- verständlich bei den unter gleicher Breite liegenden, im Zusammenhang ste- henden und orographisch gleichartigen Gebieten sehr oft der Fall; es kommt Sippengemein- aber mehr oder weniger Sippengemeinschaft auch bei Gebieten vor, die weit chat enffermter „on einander entfernt sind, wie z.B. bei dem extratropischen Ostasien und dem atlantischen Nordamerika, bei dem antarktischen Amerika und Neu-Seeland, bei dem Mittelmeergebiet und Südafrika. In solchen Fällen ohne weiteres aus der Gemeinsamkeit einer größeren Zahl von Gattungen auf nahe Verwandt- schaft der Florengebiete zu schließen, ist nicht zulässig, sondern es ist durch- aus notwendig, den Grad der Verwandtschaft durch den Vergleich der Arten festzustellen. Noch viel größere Dienste vermag aber die phylogenetische oder Areale der Pflanzen 219 chorographische Systematik für die Einteilung größerer Florengebiete von gleichartigem Charakter zu leisten. Wenn auch schon ältere Systematiker nach der Verteilung der Gattungen und Arten einer Familie pflanzengeographische Gebiete unterschieden, so hat doch diese Methode erst recht an Bedeutung gewonnen, als man von dem genetischen Zusammenhang der zu einer natür- lichen Sippe gehörigen Formen überzeugt und darauf bedacht war, nach An- wendung aller Hilfsmittel der morphologischen und anatomischen Unter- suchung nur solche Formen im System näher nebeneinander zu stellen, welche demselben Zweigsystem eines Stammbaumes angehören. Es ist a priori klar, daß die systematische Gliederung der einzelnen großen Gattungen nicht immer zu den gleichen engeren Gebieten führen kann; aber wenn die Abteilungs- areale, Sektions- oder Subsektionsareale verschiedener Gattungen zusammen- fallen, dann wissen wir, daß die sich deckenden Areale ein natürliches Gebiet mit einer bis zu gewissem Grad selbständigen Entwicklung repräsentieren. Bei den phylogenetisch-pflanzengeographischen Untersuchungen handelt es sich auch darum, zu zeigen, daß weit verbreitete Formenkreise in einzelnen Gebieten in Parallelformen ausgehen, welche geringe, aber doch konstante Unterschiede zeigen und als Anfänge vikariierender Arten angesehen werden können; auch können sich daran Fragen über die Zeit der Entstehung knüpfen. Derartige monographische Studien sind in den letzten vier Jahrzehnten mehrfach aus- geführt worden, namentlich in Österreich (unter der Anregung von v. Wett- stein), Deutschland und der Schweiz und bieten noch ein weites Arbeitsfeld dar. Es kann hier spezieller nicht darauf eingegangen werden; nur das sei noch bemerkt: Wenn die systematische Durcharbeitung einer Familie oder Gattung auf möglichst vielseitiger Grundlage, namentlich auch unter der Berücksich- tigung der anatomischen Verhältnisse und immer mit Voranstellung der ein- facheren weniger differenzierten Typen vor den komplizierten mehr vorge- schrittenen Typen erfolgt ist, so gibt eine darauf gegründete Darstellung der Verbreitung immer ein Stück Erdgeschichte wieder, namentlich wird durch derartige Untersuchungen auf das entschiedenste dargetan, daß die Ent- wicklung sehr vieler Familien lange vor der gegenwärtigen Verteilung der Kon- tinente stattgefunden haben muß, daß die Weiterentwicklung der einzelnen Gruppen und Gattungen in verschiedenen Gebieten gleichzeitig erfolgte und daß schon in der Tertiärperiode das arktotertiäre, das paläotropische, das neotropische und austral-antarktische Florenelement geschieden waren. B. Die wichtigsten Grundzüge der Pflanzengeographie. ls Die Areale der; Bilanzen. Bei allen pflanzengeographischen Fragen handelt es sich zunächst um die Feststellung des Areals der einzelnen Arten, und eine solche ist um so schwieriger, je weiter eine Art verbreitet ist. Schon innerhalb einer Provinz, innerhalb eines Reiches, eines Erdteils ist das Areal einer Art nicht so leicht zu ermitteln, noch schwieriger innerhalb einer Zone oder auf der ganzen Erde. Bei isolierten Arten, welche keine Verwechslung zulassen, kann man sich im Einteilung größerer Floren- gebiete mit Hilfe der choro- graphischen Systematik. Entwicklung der Pflanzenfamilien vor der gegenwärtigen Verteilung der Kontinente. Areale der Pflanzen. Enge und weite Areale isolierter und kohärenter Arten. Bedeutung der Areale für die Pflanzen- geschichte. Wanderpflanzen, 220 A. ENGLER: Pflanzengeographie allgemeinen auf die Angaben der verschiedenen Landesfloren verlassen, aber bei Arten kohärenter Sippen, bei Arten, von denen mehr oder weniger nahe- stehende Verwandte existieren, ist nicht angebracht, sich nur auf literarische Angaben zu stützen; man ist genötigt, dasin Herbarien en‘haltene Material aus verschiedenen Gebieten zu vergleichen. Sowohl isolierte Arten, wie auch ko- härente können ein beschränktes Areal und auch ein weites einnehmen. Die monotypische Gnetacee Tumboa Bainesii Welw. (= Welwitschia mirabilis Hook.) ist auf die Küstenwüste Namib von Mossamedes bis zur Station Welwitsch un- weit Swakopmund beschränkt; die monotypische Saxifragacee Zahlbrucknera paradoxa ist nur im südwestlichen Ausläufer der norischen Alpen am Fuß der Voralpen zu finden; dagegen wird das monotypische Pieridium aquilinum (Adlerfarn) mit Ausnahme der Polarländer und der Wüstengebiete, sowie des temperierten Südamerika fast auf der ganzen Erde angetroffen. Dafür, daß kohärente Arten ein enges Gebiet bewohnen können, mögen als Beispiele dienen die Sempervivum, die Chrysanthemum, die Statice der Kana- rischen Inseln, während andererseits die kohärenten Erophila und Taraxacum, die tropischen Menispermaceen, welche sich an Cissampelos pareira anschlie- ßen, über ein sehr weites Areal verbreitet sind. Jeder Tag bringt neue Tat- sachen zur Kenntnis der Areale einzelner Sippen und oft merkwürdige Über- raschungen. So galt bis vor kurzem Wulfenia carinthiaca als stenotop isoliert auf den Kärnthner Alpen zwischen Hermagor und Pontebba, (T000—2000 m); nun ist sie auch in Montenegro auf der Seciriva planina nachgewiesen. Die Rosaceengattung Sibiraea hielt man lange Zeit für einen eurytopen Ende- mismus des Altai und Thian-shan, vor wenigen Jahren wurde eine der altai- schen S. laevigata (L.) Maxim. nahe stehende Pflanze var. croatica von Reiser auf der Cabulja Planina bei Mostar und von v. Degen auf dem Velebit oberhalb Carlopaga entdeckt. Die Oleaceengattung Forsythia galt lange Zeit für ostasiatisch; aber die Entdeckung von F. europaea Deg. et Baldacci änderte wesentlich unsere Anschauungen über die Entwicklung dieser Gattung. Ca- narina campanula Lam. galt als Gattungsendemismus der Kanarischen Inseln, bis auf dem Ruwenzori C. Eminiti Ascherson und im südöstlichen Abyssinien C. abyssinica Engl. entdeckt wurde. Ramondia Myconi (L.) F. Schultz (= R. pyrenaica Rich.) galt lange Zeit als eine auf die Pyrenäen beschränkte Gattung, bis man in den Gebirgen Serbiens die nahestehenden Arten R. serbica Pancic und R. Nathaliae Pancic et Petrovic auffand. Solcher Beispiele für die Umstempelung von isolierten Sippen zu disjunkten ließen sich noch viele anführen; sie sind von der größten Bedeutung für unsere Anschauungen von der Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt. Vor unseren Augen vollzieht sich unter dem Einfluß der Kultur leider recht oft der Übergang von eurytopem Vorkommen einer Art zu stenotopem; das gilt namentlich von Moor-, Wald- und Wiesenpflanzen, und ebenso sehen wir häufig Pflanzen erst an einer Lokalität auftreten, dann aber ihr Areal ganz erheblich vergrößern. Ein glänzendes Beispiel solcher Wanderpflanze ist Senecio vernalis W. Kit., welcher Anfang des 18. Jahrhunderts in Ostpreußen bei Angerburg beob- Areale der Pflanzen 221 achtet wurde, ungefähr seit 1820 im Memel- und Weichselgebiet, seit 1850 im östlichen und westlichen Brandenburg, Mecklenburg und Pommern auftrat, nunmehr aber bis zur Lüneburger Heide vorgedrungen ist (Ascherson). Mit der Feststellung des Areals einer Pflanze darf man sich aber nicht begnügen, sondern man hat auch die Existenzbedingungen derselben zu be- achten und wird hierbei finden, daß dieselben bisweilen recht mannigfach, bis- weilen aber auch sehr einseitig sein können, und daß bei der Verbreitung der Pflanzen außerordentlich viel davon abhängt, daß dort, wo ihre Samen hinge- langen, die ihr zusagenden Existenzbedingungen vorhanden sind. Es ist leicht einzusehen, daß eine Pflanze sich nur da ansiedeln kann, wo die ausgestreuten Samen alle Bedingungen für die Vorgänge von der Keimung bis zur Frucht- und Samenbildung finden und die Pflanzen in ihrer Entwicklung nicht durch die Konkurrenz stärkerer in der Nähe der neuen Ansiedlung befindlicher Mitbe- werber behindert wird. Aus diesem Grunde sehen wir gegenwärtig freiwillige Freiwillige Ansiedlung von Pflanzen fast nur da, wo entweder ein offenes noch nicht be- a siedeltes Gelände (Sanddünen, Sandbänke, sandige Flußufer, Flußgeröll, Ge- Tem Gelände röllhalden im Gebirge, Moränenschutt, Lava, Vulkanasche, umgepflügtes Land) sich darbietet, oder wo durch Änderung von Grundwasserverhältnissen, durch Aussaugung des Bodens, überhaupt durch allmähliche Änderung der physi- kalischen Bodenverhältnisse die Entwicklung der eingesessenen Bewohner eines Geländes allmählich geschwächt worden ist. Ganz anders ist es, wenn der Mensch nachhilft. Nicht wenige unserer Ackerunkräuter, welche zum Teil aus dem Mittelmeergebiet stammen, würden verschwinden, wenn es nicht mehr Feld- bau gäbe, durch denalljährlich für diese Pflanzengünstige Verhältnissegeschaffen werden. Die Kulturpflanzen aber beweisen, wie weit das Arealeiner Pflanze über das ursprüngliche hinaus ausgedehnt werden kann, wenn der Mensch den Boden vorbereitet und gefährliche Mitbewerber fernhält, wenn er ferner unter den in der Kultur entstehenden Rassen solche auswählt, welche auch unter Verhält- nissen gedeihen können, die von denen derUrheimat mehr oder weniger abweichen. Wenn wir von den Pflanzen der offenen Formationen absehen, so nimmt Für die Pflanzen- unter gewöhnlichen Verhältnissen das Areal einer Sippe selten zu; aber in der Be. Vergangenheit sind mehrfach Änderungen eingetreten, welche neues Land für a . Besiedelung schufen. Große Gebiete erhoben sich über das Meer oder das um- gebende Land zu einer Höhe, in welcher klimatische Bedingungen herrschten, welche den Pflanzen niederer Regionen nicht zusagten und diese von der Kon- kurrenz mit den von fern aus höheren Breiten eingewanderten ausschlossen, oder die fortschreitende Vergletscherung und Schneebedeckung eines Gebietes schuf in niederen Regionen Bedingungen, welche den an lange Ruhe unter Schnee und kurze Vegetationsperiode gewöhnten Pflanzen entsprachen. Einbrüche, wie die, welche die Entstehung des Roten Meeres, des ostafrikanischen Grabens und derzentralafrikanischen Seen veranlaßten, mußten gewaltige Umwälzungen in der Vegetation bewirken. Auch schuf die Erhebung von Gebirgen neue Gegensätze, welche vorher an dieser Stelle nicht bestanden. Seewinde, welche vorher über ein Gelände weit hingingen, konnten durch ein gehobenes Küsten- Endogene Faktoren. Genotypische Veranlagung. 222 A. ENGLER: Pflanzengeographie gebirge zur Ablagerung ihrer Feuchtigkeit veranlaßt werden, die eine Än- derung der Vegetation bewirkte. Die Entziehung der Feuchtigkeit auf der Windschattenseite eines Gebirges mußte dort zur Verminderung der Gewitter, zum Austrocknen der vorher von diesen gespeisten Seebecken führen und es konnten Wüsten- oder Steppengebiete an Stelle von Waldgebieten treten. Wenn marine Ablagerungen zu Gebirgen erhoben wurden, so enthielten diese zu- nächst noch reichlich Salz, aber die dann eintretenden starken Erosionen schufen Rinnen, welche zuerst ausgelaugt wurden und mehr Arten von Pflan- zen aufnehmen konnten, als die noch salzhaltigen ebenen Stellen auf der Höhe und am Fuß der Gebirge, von denen das Wasser keinen oder geringen Abfluß hatte und nach eingetretener Verdunstung immer wieder Salz zurückließ. II. Pflanzengeographische Faktoren. 1. Endogene Faktoren oder er der Pflanzen. Bei der Verbreitung der Pflanzen kommt vor allem die Konstitution, die genotypische Veranlagung in Betracht. Eine autophytische (selbst assimi- lierende) Pflanze hat mehr Aussichten für die Existenz an verschiedenen Orten als eine saprophytische oder gar eine parasitische, namentlich wenn die letztere nur an eine Art von Wirtspflanze gebunden ist. Lichtliebende Pflanzen oder solche offener Standorte verbreiten sich leichter als schattenliebende oder Waldpflanzen, weil ihre Samen auf offenem nicht oder unvollständig be- siedeltem Gelände leichter aufgehen und sich entwickeln können als die der letzteren. Sodann kommt in Betracht die Zeit, deren eine Art bis zur Frucht- und Samenreife bedarf. Arten, welche in wenigen Monaten diesen Prozeß voll- ziehen, werden sich rasch weiter verbreiten, wie wir es bei vielen der einjährigen Ackerunkräuter z. B. Veronica Tournefortii, Galinsoga parviflora, Oxalis stricta, Erigeron canadensis sehen. Aber auch die zweijährige Oenothera biennis, einige mehrjährige amerikanische Aster-, Solidago- und Rudbeckia- Arten haben in ver- hältnismäßig kurzer Zeit, nachdem sie von Amerika nach Europa gelangt waren, hier ein weites Areal gewonnen. Dies gilt auch von einzelnen Arten, bei denen an Stelle der nur selten eintretenden Produktion von Früchten eine reiche Sproßentwicklung stattfindet, wie bei der nachweislich erst 1839 aus Amerika nach Europa gelangten ‚„Wasserpest’’ Elodea canadensis und dem Kalmus Acorus calamus, welcher wahrscheinlich erst im 16. Jahrhundert von Ostindien hier eingewandert ist; hier erfolgt die Verbreitung von Rhizomstücken durch Überschwemmungen. Die Faktoren, welche die Verbreitung der Pflanzen haupt- sächlich bedingen, können wir einteilen in endogene und exogene. Endogene Faktoren sind die Konstitution der Pflanze oder ihre Individualität und ihre Variationsmöglichkeit. Exogene Faktoren sind Wärme, Feuchtigkeit, Licht, Wind, Boden, Organismen, die Konfiguration des Wohngebietes, zunächst in ihrer gegenwärtigen Wirkung. Sodann müssen wir aber auch noch exogene Faktoren der Vergangenheit in Betracht ziehen, wenn wir noch tiefer erkennen wollen, wie das Areal einer Pflanze zustande gekommen ist. Daran, daß das Fruchten in vielen Fällen von der Bestäubung durch hierzu geeignete Insekten Endogene Faktoren 223 abhängt, sei hier auch kurz erinnert. Nächst rechtzeitiger Samenreife sind für die Verbreitung einer Pflanze von Bedeutung die Verbreitungsmittel der Früchte und Samen und schließlich die Dauer der Keimfähigkeit. Diese Ver- hältnisse, welche für die Erklärung des Zustandekommens der Areale von Arten und Gattungen in erster Linie maßgebend sind, sind noch lange nicht ausreichend studiert. Die Verbreitung von sogenannten Klettfrüchten und Klettsamen, welche leicht an Tieren haften bleiben und von diesen oft weithin verschleppt werden, ist leicht verständlich, und ebenso ist einleuchtend, daß kleine Samen von Wasser- und Sumpfpflanzen, welche am Fuße von Wasser- vögeln und Sumpfvögeln mit Schlamm und Erde haften, bei deren Zug von nördlichen nach südlichen Breiten und umgekehrt leicht verbreitet werden können. Ein im Juli 1907 von Streitz bei Groß-Möllen in Pommern (Bez. Köslin) mit einem Fußringentlassener Storch wurde inNO-Rhodesia eingefangen und damit der Beweis geliefert, daß Vögel aus der nördlich gemäßigten Zone bis nach der Südgrenze der Tropen in Afrika gelangen. Solcher Fälle wurden mehrere durch Prof. Thienemann, denDirektor der Vogelwarte Rossitten, konstatiert (vgl. Engler, Bot. Jahrb. Bd. 46, Beibl. 106, S. 105). Wenn in den Millionen Jahren, in welchen Millionen von Zugvögeln alljährlich über den Äquator hinwegflogen, in jedem Jahr auch nur 100 keimfähige Samen ver- schleppt wurden und hiervon auch nur einer aufging und zu einer frucht- tragenden Pflanze sich entwickelte, konnte allmählich eine recht große Zahl borealer Arten nach der südlichen Hemisphäre gelangen. Was auf dem Wege von Nordeuropa nach Südafrika geschah, fand wahrscheinlich auch auf dem Wege von Nordamerika nach Südamerika, vom nordöstlichen Asien nach dem südöstlichen Asien und Australien statt. Ferner sichern Beeren und Steinfrüchte vielen Arten eine Verbreitung in größerer Entfernung von der Mutterpflanze, wenn der Same mit harter Samen- schale versehen oder von einem harten Endocarp eingeschlossen ungeschädigt den Darmkanal von Tieren passieren kann. Wie große Samen auch durch tropische Vögel verbreitet werden können, kann man z.B. daraus ersehen, daß die mit gelbem Arillus versehenen Muskatnüsse von mehreren Tauben- Arten verschluckt werden, die nach Verdauung des Arillus den Samen selbst unversehrt wieder von sich geben. Anderseits werden kleinere Samen, welche mit einer großen Nabelschwiele versehen sind, von den Ameisen, welche diese abfressen, verschleppt und so, wenn auch nicht weit verbreitet, doch immerhin von der konkurrierenden Mutterpflanze entfernt. Hierbei hat man aber nicht nur die gegenwärtigen Verhältnisse, sondern auch diejenigen der Vergangenheit zu berücksichtigen, als die heute vielfach zer- stückelten Waldformationen mehr zusammenhingen, als der Tierreichtum ein größerer war und klimatische Veränderungen auch Tiere zum Wandern ver- anlaßten. Wie viele Samen ohne Schaden für den eingeschlossenen Keimling von Tieren transportiert werden, so geschieht dies auch durch das Wasser, durch Gebirgsbäche, große Flüsse und Meeresströmungen. Viele Pflanzen, deren Früchte und Samen sich so entwickelt haben, daß der Keimling vor dem Zu- Verbreitungs- mittel und Dauer der Keim- fähigkeit. 224 A. ENGLER: Pflanzengeographie tritt von Salzwasser geschützt ist und daß sie gut schwimmen, haben an den Küsten der Meere, insbesondere auch der tropischen, eine weite Ver- breitung erreicht. Jedoch ist die Zahl der litoral- pantropischen Arten mit ausgeprägten Schwimmanpassungen nicht sehr groß; O. Warburg') rech- net 20 heraus, denen sich noch 5 andere anschließen, bei denen die große Hohlräume umfassenden Früchte Schwimmöglichkeit gewähren. 15 andere Arten sind durch ihre Haftapparate oder infolge der Verschleppung durch Vögel und Menschen litoral-pantropisch geworden. Dagegen kennen wir eine viel größere Zahl von Arten, welche durch Schwimmanpassungen eine große Verbreitung an den Küsten des tropischen Asiens und Ostafrikas erlangt haben, während andere dem Gestade des tropischen Amerika eigentümlich und auch nach Westafrika gelangt sind. Groß ist die Zahl der Pflanzenarten, bei denen die Samenverbreitung durch Flugapparate an den Früchten und an den Samen selbst begünstigt ist; doch muß man bei solchen Pflanzen einmal be- rücksichtigen, wie weit wohl ein Transport durch den Wind gehen kann und wie viel Zeit verstreichen muß, bis die Pflanze wiederum solche Früchte oder Beispiel Samen entwickelt. So sind die Früchte der im malayischen Gebiet häufigen von längerem __. ER ii il Wanderungs- Dipterocarpacee Shorea leprosula zwar mit fünf vergrößerten Kelchblättern ver- vermögen. sehen, welche einen Flugapparat vorstellen; aber derselbe setzt nur die Fall- geschwindigkeit herab und ermöglicht ein Abtreiben vom Baum hinweg, etwa bis auf IOO m, so daß die Früchte Aussicht haben, an Stellen zu gelangen, wo den aus ihnen aufgehenden Bäumen nicht die Konkurrenz benachbarter Bäume erwächst. Der Baum, welcher sich durchringen kann, braucht aber etwa 30 Jahr, bis er blühreif wird und Früchte trägt. Die Art kann also von einem Ausgangspunkt in IOoO Jahren nicht weiter als 300 m gelangen und braucht 58666 Jahre, um 100 englische Meilen weit zu wandern (Ridley, On the dispersal of seeds by wind — Annals of botany XIX (1905) 351). Ähnliches gilt von manchen anderen großen geflügelten Früchten. Dagegen ist bei vielen anderen Früchten und Samen, bei denen breite dünne Flügel einen leichten Kern umschließen, weiter Transport möglich, um so mehr, wenn die Früchte oder Samen nicht in dichter Waldformation, sondern in lichten Gehölzen oder in Steppen und anderen offenen Formationen produziert werden, in denen der Wind eine häufig wiederkehrende Erscheinung ist. Nicht minder sind diean vielen Samen (Epilobium, Salix, Populus, Asclepiadaceen, viele Apo- cynaceen usw.) sowie an vielen Früchten (Valerianaceen, Compositen) auftreten- den Haare gute Verbreitungsmittel. Auch die leichten feilspanartigen Samen der Orchideen und die ebenfalls kleinen Samen der meisten Ericaceen, Gentiana- ceen u. a. werden wie Staub und Pilzsporen durch starke Winde leicht weit Verbreitungs. Weg entführt. Wenn man nun bedenkt, daß in der Vergangenheit mehrfach en andere Meeresströmungen existierten, andere Windrichtungen herrschten, auch Vergangenheit. andere Tiere den Transport von Früchten und Samen beförderten, so kann man sich sehr wohl vorstellen, daß bei einer sehr großen Zahl von Früchten ı) Warburg: Einige Bemerkungen über die Litoral-Pantropisten in Annales du Jardin bot. de Buitenzorg, Suppl. II. (1898) p. 128 —136. Exogene Faktoren. Wärme 225 und Samen eine weitgehende Verbreitungsmöglichkeit angenommen werden darf. Nächst der äußeren Beschaffenheit der Früchte und Samen ist pflanzen- geographisch wichtig die Dauer der Keimfähigkeit, welche unter Umständen eine sehr lange ist. Nach meinen eigenen Beobachtungen haben 28 Jahr alte Langlebigkeit Samen der abyssinischen Urticacee Girardinia condensata sich zu kräftigen Pflan- "* zen entwickelt und Ewart (Longevity of seeds, 1908) hat gezeigt, daß bei zahl- reichen australischen Pflanzen, namentlich Myrtaceen, Malvaceen, Nymphaea- ‘ceen, über 50 Jahre alte Samen noch zu keimen vermögen. Vielleicht 99 %, der von ihrem Ursprungsort weggewehten und weggetragenen Samen gelangen an Plätze, wo ihre Keimung und Weiterentwicklung entsprechend der Konstitution der Art nicht möglich ist, weil die Standortsbedingungen nicht zusagen; aber es ist vollkommen ausreichend, wenn auch nur I% oder noch weniger an Standorte gelangen, wo die Samen nicht nur aufgehen, sondern auch die aus ihnen sich entwickelnden Pflanzen die richtigen Existenzbedin- gungen finden. Zu den konstitutionellen Eigenschaften, welche für die Verbreitung der Variations- Pflanzen maßgebend sind, gehört auch die Variationsmöglichkeit. Wenn eine " Pflanze sich stark vermehrt und dabei zahlreiche Varietäten erzeugt, so ist dies der erste Schritt dazu, daß sie über das Areal, welches die ihr zusagen- den Bedingungen darbietet, auch hinausgehen kann; es können Mutationen ent- stehen, welche mit einem geringeren Maß von Wärme und Feuchtigkeit oder auch noch anderen Bedingungen vorliebnehmen als denen, an welche die Stammpflanze gewöhnt war. Auf diese Weise ist es möglich, daß Mutationen polwärts weiter vordringen oder in höhere Regionen aufsteigen. Die Erfahrung lehrt, daß viele Pflanzen da, wo sie sich besonders wohlbefinden, stark mutieren und daß oft nahe verwandte Arten in größerer Zahl nebeneinander wachsen; so ist das z. B. bei manchen Hieracien und Rosen der Fall. Wir sehen aber anderseits auch, daß an den Grenzen eines ein großes Areal einnehmenden und in diesem gleichförmigen Typus Mutationen entstehen, welche ein kleineres, dem Hauptareal benachbartes Areal einnehmen. Solche Mutationen können zu vikariierenden Unterarten oder Arten werden. Im übrigen gehört zur Kon- stitution der Pflanze auch die ererbte Eigenschaft ihres Protoplasmas, in ganz bestimmter Weise auf die exogenen Faktoren Wärme, Licht, Feuchtigkeit, Nähr- stoffe des Bodens usw. zu reagieren. 2. Exogene Faktoren. a) Wärme, Jede Pflanze bedarf einer bestimmten Temperatur für die einzelnen Lebens- Wärme. vorgänge, zur Keimung, zur Knospen- und Blattentwicklung, zur Blütenbil- dung und Fruchtreife. Daß auf das verschiedene Verhalten in dieser Beziehung das Auftreten anderer Pflanzen in den polwärts gelegenen Ländern als in den dem Äquator mehr genäherten und ebenso die Verschiedenheit der Vegetation in den Höhenregionen der Gebirge zurückzuführen ist, ist so bekannt, daß es beinahe trivial erscheint, hier darüber zu sprechen; aber es mag doch auf einige bemerkenswerte Tatsachen hingewiesen sein. Durch genaue Beobachtungen K.d.G.III. ıv, Bd4 Abstammungslehre ete. 15 226 A. ENGLER: Pflanzengeographie ist festgestellt worden, daß für jeden Lebensvorgang ein Temperaturoptimum existiert, daß aber anderseits derselbe Vorgang auch noch bei anderer Tem- peratur bis zum Minimum und bei höherer bis zum Maximum vor sich gehen kann. Eine Zeitlang sah man die Ermittlung der Wärmesummen oder der Thermische thermischen Vegetationskonstanten als eine sehr wichtige Aufgabe an und suchte Yercafons- die Wärmemenge, welche eine Pflanze von der Keimung bis zur Samenreife empfangen hatte, festzustellen. Aber die hierbei eingeschlagenen Verfahren, die Mitteltemperatur einer gewissen Periode mit der Anzahl der Tage zu multi- plizieren oder die Tagesmittel der Wärme der von der Keimung bis zur Samen- reife verflossenen Tage zu addieren, waren dochrecht wenigexakt, danur auf dem Wege des Experimentes bei einjährigen Pflanzen die Wirkung eines Faktors genauer festgestellt werden kann und in der Natur andere Faktoren teilweise eine höhere Temperatur ersetzen können. Nützlich aber sind gut durchgeführte phänologische Beobachtungen, welche darauf eingehen, Linien gleichzeiti- ger Entwicklungserscheinungen, gleichzeitigen Blühens einzelner Arten, gleich- zeitigen Laubausschlags von Waldbäumen, gleichzeitigen Reifens einer Obstart zu ermitteln und so ein Material zu schaffen, das beim Vergleich mit den mete- orologischen Daten die Bedeutung der einzelnen Faktoren allmählich erkennen läßt. Jedenfalls ist zu beachten, daß die von den meteorologischen Stationen ermittelten Temperaturen (bei 3 m über dem Boden im Schatten) nicht denen entsprechen, welche auf eine niedrige dem Boden anliegende oder sich wenig über denselben erhebende Pflanze einwirken. Schon bei den Pflanzen der Hochgebirge läßt sich konstatieren, daß die ihnen zugute kommende Bodentem- peratur erheblich höher ist als die Lufttemperatur. So hat Ch. Martins vom 8. bis IO. September 1864 durch gleichzeitige Beobachtungen in Bagneres am Fuß der Pyrenäen bei 551m die Differenz 2,3 ° zwischen Luft- und Bodentem- Bodentemperatur peratur, dagegen 12,2° auf dem Pic du midi bei 2877 m ermittelt, während sen Trabert auf dem Sonnblick bei 3100 m konstatierte, daß die Erwärmung der Luft vom Boden aus dreimal so groß ist als die Erwärmung der Luft durch direkte Strahlung. In Sils Maria im Engadin (I8IIm) hat Diem durch fünf- jährige Beobachtungen in der Zeit von I—I11% Uhr nachmittags festgestellt, daß der mittleren Lufttemperatur von 1,79° folgende Jahresmittel der Boden- temperatur gegenüberstanden:in 5cm Tiefe 5,12°, in 30 cm Tiefe 4,53°, in 60 cm 4,52°, in I20 cm 4,92° C. Derartige Erhöhungen der Bodentemperatur über die Lufttemperatur ermöglichen vielen Pflanzen noch das Fortkommen in be- Widerstands- deutenden Höhen. Wenn anderseits Krustenflechten der Kalkfelsen des ist- Akt rischen und dalmatinischen Karstes im Sommer mehrere Stunden täglich eine einzelner Pflanzen gegen- Temperatur von 58—60° C ohne Schaden ertragen und in der Sahara die an ect = Mannaflechte Lecanora esculenta bis zu 70°C erhitzt wird, wenn einzelne Strand- Be... pflanzen in 69° heißem Sande an der Loangoküste beobachtet wurden, so zeigt dies, wie auch das Vorkommen von Schizophyten in Thermen von 80° und darüber, daß einzelne Pflanzen ein sehr hohes Maß von Wärme zu ertragen vermögen, während andere wiederum sehr niederen Temperaturen wider- stehen. Ein besonderes Aufsehen erregendes Beispiel hat Kjellman auf der Exogene Faktoren. Wärme 227 Vega-Expedition beobachtet, indem er konstatierte, daß Cochlearia fenestrata, eine 4—5 cm hohe aus einer Grundwurzel mehrere Stengel entwickelnde Cruci- fere mit ebenso langer Pfahlwurzel, auf dem Gipfel eines Sandhügels an der nordsibirischen Küste bei Pittekoj im Sommer 1878 zu blühen begann und beständigen scharfen Nord- und Nordostwinden ausgesetzt den Winter, in welchem die Temperatur auf mehr als — 46° C herabging, so gut überstand, daß sie bei Beginn des Sommers 1879 die überwinterten Blüten entfaltete und neue Blütenstände entwickelte. Daß im arktischen Gebiet ein paar hundert Arten existieren, welche, zu Eisklumpen gefroren, Winter ertragen, in denen die Temperatur auf — 60° herabgeht, ist nicht auffallend, wenn sie von einer Schneedecke geschützt sind; aber man findet auch in unseren hohen Alpen in der Schneeregion freistehende Pflanzen, wie die saftreichen Ranunculus glacialis und Aronicum Clusii, welche über Nacht eingefroren am frühen Morgen hart wie Eiszapfen sind, dann all- mählich auftauen und in den Mittagstunden starke Bestrahlung ohne Schaden ertragen. Wie verschieden das Protoplasma einzelner Pflanzen organisiert sein muß, ergibt sich auch daraus, daß Kjellman im Winter an der Küste von Spitzbergen bei 22 von 27 Algenarten, welche in dem eine Temperatur von —1,8 bis 0° zeigenden Meerwasser gesammelt waren, Wachstum und Fruktifikation konstatierte; ferner daraus, daß manche Zwiebelgewächse und Getreidearten schon bei 0° keimen, daß die Schnee- alge Sphaerella nivalis trotz der Dünnwandigkeit ihrer Zellmembranen auf dem Schnee der Alpen und der arktischen Länder eine massenhafte Vermehrung zeigt, daß anderseits viele tropische Pflanzen erst zwischen IO und 15° ihre Lebenstätigkeit beginnen. Wenn anderseits Sporen und trockene Samen sehr niedrigen Temperaturen (bis zu —80°) widerstehen, gequollene feuchte Samen durch viel geringere Kältegrade getötet werden, anderseits wie- der Gehölze in feuchter Luft sehr tiefe Temperaturen leicht ertragen, dagegen in trockener Luft zugrunde gehen, so ist hierbei immer noch ein anderer Fak- tor, die Feuchtigkeit, mitwirkend, welche unter Umständen schädlich sein kann, unter anderen Verhältnissen aber notwendig ist, wenn einmal durch höhere Temperatur in den oberen Pflanzenteilen die Wasserbewegung begonnen hat. Tropische Gewächse gehen mitunter schon zugrunde, wenn sie Temperaturen von + 2 bis + 5° C ausgesetzt werden. Die hier kurz angedeuteten Verhält- nisse zeigen schon, daß die mannigfachen Vorgänge des Pflanzenlebens, von denen die Verbreitung der Pflanzen abhängig ist, es nicht gestatten, das Vor- kommen einer einheitlichen Pflanzengemeinschaft auf gleiche Wärmeeinflüsse zurückzuführen. Alexander von Humboldts Isothermen verlaufen durch Gebiete mit außerordentlich verschiedenartiger Vegetation, so die Jahresiso- therme von Io® durch das nördliche Island mit ziemlich gleichmäßigem See- klima und das südliche Rußland, in welchem das Kontinentalklima zwischen dem kältesten und wärmsten Monat Differenzen von etwa 30° bedingt. Die Iso- chimenen und ebenso die Isotheren zeigen viel besser eine gewisse Übereinstimmung zwischen Pflanzenverbreitung und Klima. Wir können da- ICE Verhalten arktischer und nivaler Pflanzen gegen Kälte. Verschiedene Klimate unter denselben Isothermen. Physiologische Gruppen nach A.de Candolle. Feuchtigkeit. Hydrophyten. Mesophyten. 228 A. ENGLER: Pflanzengeographie her hier schon darauf hinweisen, daß die Grundzüge der Pflanzenverbreitung mit Rücksicht auf das physiologische Verhalten der Pflanzen am deutlichsten hervortreten, wenn wir Alphons de Candolle folgend 6 physiologische Grup- pen unterscheiden: I. Megistothermen, sehr hohe gleichmäßige Temperatur mit mehr als 30° Jahresmittel verlangend; sie herrschten in der Steinkohlen- periode. Die heute noch existierenden Megistothermen, Schizophyten der Thermalquellen, treten nur sehr lokalisiert auf. 2. Hydromegathermen, viel Wärme und Feuchtigkeit während des ganzen Jahres beanspruchend, in Gebieten mit einer mittleren Jahrestemperatur von mindestens 20°. 3. Xero- thermen, viel Wärme beanspruchend, wie die Gruppe 2, aber lange Trocken- heit liebend und ertragend. 4. Mesothermen, der wärmeren gemäßigten Zone angehörig, ein Jahresmittel von etwa 15—20° und mäßige Feuchtigkeit, zu bestimmten Jahreszeiten reichlichere Niederschläge beanspruchend, an- haltende Trockenperioden nicht liebend. 5. Mikrothermen, Pflanzen kühlerer Zonen mit einer Mitteltemperatur von O bis 15° beiregelmäßig ver- teilten Niederschlägen und während des kühlen Winters ruhend. 6. Hekisto- thermen, unter einer jährlichen Mitteltemperatur von weniger als 0° lebend. b) Feuchtigkeit. Es ist hier nicht der Platz, auf die allgemeine Bedeutung des Wassers für die Pflanze, auf das Imbibitionswasser der Membranen, auf die Turgescenz- wirkungen des Zellsaftes, auf die Beteiligung des Wassers an der Bildung der Kohlehydrate, an der Stoffleitung, an den Bewegungserscheinungen der Pflanze einzugehen. Dagegen mag einiges über die Wasserökonomie der Pflanze hervorgehoben werden. Die Erfolge eines Pflanzenzüchters sind in erster Linie davon abhängig, daß er mit der Wasserökonomie seiner Pfleglinge ver- traut ist. In vielen Fällen ist die Menge des einer Art zukommenden Wassers von geringerem Einfluß für das Gedeihen derselben als die Zeit, zu der sie es empfängt, und die Form, in der es ihr zukommt. Das können wir schon in jedem kleineren Gebiet, in welchem regelmäßige Niederschläge fallen, konsta- tieren. Wir sehen, daß sich die große Mehrzahl der Pflanzen ziemlich scharf sondert nach der Art, in der ihnen das Wasser zugeführt wird. Wir erkennen einmal Hydrophyten oder richtiger bezeichnet Hydatophyten, welche sich ganz oder mit einem Teil ihrer Organe im Wasser befinden, die Pflanzen der fließenden und stehenden Gewässer, der Fluß- und Bachufer, der Sümpfe und Moore, an mehr oder weniger andauernde Zufuhr von Wasser aus dem Sub- strat gewöhnt; dann Hygrophyten, welche auf Luftfeuchtigkeit ange- wiesen sind, deren sie sich, in besonders regenreichen Gebieten an verschiede- nen Stellen, in der Nebelregion von Gebirgen, oder auch in weniger regen- reichen Gebieten im Waldesschatten und in geschützten Tälern erfreuen. Solche Hygrophyten sind auch viele epiphytische Gewächse, während ein anderer Teil derselben xerophytisch ist. Mesophyten werden von Warming die Pflanzen genannt, welche an Boden und Luft von mittlerer Feuchtigkeit angepaßt sind, wie die Mehrzahl der Pflanzen der nördlich ge- Exogene Faktoren. Feuchtigkeit 229 mäßigten Zone. Groß ist die Zahl der Subxerophyten und der von ihnen zusammengesetzten Formationen; es sind dies Pflanzen, welche regelmäßig im Jahr zu bestimmten Zeiten reichlich Feuchtigkeit aufnehmen, aber dann während längerer Zeit Niederschläge entbehren können und gegen die nieder- schlagslose Periode durch dauerblättriges Laub, durch Reservestoffbehälter, durch Abwerfen der stark transpirierenden Blätter geschützt sind. Dieses Ab- werfen ist entweder eine Folge der Trockenheit, in welcher der Transpirations- verlust an Wasser nicht mehr durch Zufuhr aus dem Boden gedeckt werden kann oder auch eine Folge der niederen Temperatur, welche die Wasser- bewegung einschränkt. Xerophyten!)endlich sind diejenigen Pflanzenformen, welche nur sehr kurze Zeit im Jahr geringe Niederschläge empfangen, in man- chen Jahren aber auch diese entbehren müssen. Einzelne Xerophyten profi- tieren auch von dem Tau, den sie in regenlosen Zeiten aufnehmen. Es sind keineswegs die Xerophyten auf die regenarmen und regenlosen Gebiete be- schränkt, sondern auch in regenreicheren Gebieten gibt es Plätze, an welchen die Niederschläge nur geringe Spuren zurücklassen; das ist der Fall auf sandi- gem Boden, in welchem das Wasser rasch in die Tiefe versickert, an steilen, steinigen, sonnigen Abhängen, an denen das Wasser rasch abläuft und die Sonne die wenige an der Oberfläche verbleibende Feuchtigkeit bald wieder auftrock- net. Neuere Forschungen haben dazu geführt, auch die arktischen Pflanzen als Xerophyten aufzufassen; denn durch das Grundeis des Bodens ist die Wasserzufuhr erheblich erschwert, auch dann noch, wenn die mittlere Tages- temperatur den Nullpunkt überschritten hat und auf einmal sich der ganze Blütenflor aus den im Vorjahr angelegten Knospen entfaltet. Ihre Triebe sind äußerst kurz, das Dickenwachstum der Zweige äußerst schwach, die kleinen, nicht selten nadelförmigen oder schuppenförmigen Blätter lederartig, steif und hart, mit starker Cuticula versehen, in vielen Fällen auch fleischig. Wie bei Pflanzen trockener felsiger Standorte in den Alpen, den mediterranen Hoch- gebirgen und der Wüste Sahara sehen wir beihocharktischen Pflanzen die Sproß- verbände dichte kugelige oder halbkugelige Polster bilden. Alle diese Eigen- schaften bedingen eine geringe Verdunstung, und die Pflanze ist demzufolge nicht aufreichliche Wasserzufuhr angewiesen. Außerordentlich reich sind auch sonst die Beziehungen sowohl zwischen der Wasserzufuhr und der äußeren Ge- staltung, wie auch zwischen ersterer und dem anatomischen Bau der Organe der genannten Pflanzentypen; es ist die wesentlichste Aufgabe der Ökologie, diese zu erforschen. Bei dem mir knapp zugemessenen Raum muß ich auf eine Darstellung dieser Verhältnisse verzichten. Nur das möchte ich erwähnen, daß ich einen großen Teil dieser Beziehungen als direkte Wirkung der größeren oder geringeren Zufuhr von Feuchtigkeit auffasse. Große Zufuhr von Feuchtig- keit bedingt starke Turgescenz der parenchymatischen Gewebe, starke Wasser- bewegung im Leitungsgewebe und damit reichliche Stoffzufuhr aus dem Boden, zugleich starke Vergrößerung der Assimilationsflächen, damit in Verbindung ı) Anstatt der Endung „phyten‘“ wird vielfach auch bei den hier unterschiedenen Gruppen die Endung ‚„phile“ gebraucht. Xerophyten. 230 A. ENGLER: Pflanzengeographie rasches Abstoßen der an den jungen Organen vorhandenen Haare, im Inneren Erweiterung der Gefäße und der Interzellularräume; die starke Assimilations- tätigkeit und der rege Stoffwechsel sind ihrerseits wieder von Bedeutung für die Entwicklung der Knospen, der Verzweigung und Wurzelentwicklung, deren Verstärkung wieder zur größeren Nährstoffaufnahme beiträgt. Spärliche Wasserzufuhr wirkt verschieden bei denjenigen Pflanzen, welche eine starke Cuticula ausbilden, und bei denjenigen, welche sich nicht durch solche auszeichnen. Bei ersteren und bei den Pflanzen, welche reichlich Schleim- zellen enthalten, wird das Wasser leicht festgehalten, die Pflanzen werden zu Blatt- oder zu Stammsucculenten. Bei den anderen sehen wir bald Still- stand in der Entwicklung der Internodien, nicht selten auch in der Tätigkeit der Vegetationspunkte und dadurch bedingte Zweigdornbildung, kümmerliche Entwicklung der Blattflächen, Erhaltung der in der Jugend vor- handenen Haare, nicht selten auch Verdornung von Blatteilen, schwächeres Dickenwachstum, damit in Verbindung häufig längere Erhaltung des Korkes oder aber auch bei dürftiger Entwicklung der oberen Sprosse starke Ver- Feuchtigkeit dickungen des Stammes am Grunde. Daß die Feuchtigkeit auf die Verbrei- an tung der Pflanzen, auf die pflanzenphysiognomische Beschaffenheit Wärme. eines Landes einen oft viel größeren Einfluß hat als die Wärme, zeigt uns jede Karte, auf der die Wüsten- und Steppengebiete eingetragen sind, und die früher vielfach herrschenden irrtümlichen Vorstellungen von üppigem Pflan- zenwachstum zwischen den Wendekreisen sind namentlich auch bei den Laien erheblich eingeschränkt worden, seitdem die Erfahrungen in den tropischen Kolonien oft mit unangenehmer Deutlichkeit dargetan haben, daß auch in be- schränkten Gebieten unter gleichen Breitengraden die Menge der atmosphä- rischen Niederschläge recht verschieden sein kann. Aber es würde gänzlich ver- fehlt sein, aus der Regenmenge allein Schlüsse zu ziehen auf den Charakter der Vegetation eines Landes. Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß auch in regenreichen Gebieten Xerophyten an Stellen auftreten können, welche das ihnen zufließende Wasser nicht festhalten. Es kann aber auch der Gesamt- charakter der Vegetation zweier Länder trotz annähernd gleicher jährlicher Verteilung der Regenmengen verschieden sein. Ein Beispiel hierfür sind das mitteleuropäische Kesenmenset. nd das mediterrane Florengebiet. Füreinen großenTeil des ersteren, für Deutsch- land, ist durch van Bebber ein jährliches Niederschlagsmittel von 708,9 mm, für das Mittelmeergebiet eine mittlere Regenmenge von 759,4 mm berechnet wor- den. Wenn trotzdem der allgemeine Vegetationscharakter in den Mittelmeer- ländern mehr xerophytisch, in Mitteleuropa mehr hygrophytisch ist, so liegt dies daran, daß in Mitteleuropa, abgesehen von einzelnen Unregelmäßigkeiten, zu allen Jahreszeiten Niederschläge fallen, im Mittelmeergebiet dagegen die Niederschläge hauptsächlich zu einer Jahreszeit auftreten, in welcher die Be- triebswärme fehlt oder nur gering ist, anderseits fehlen, wenn die Betriebs- wärme am größten ist. Wo im Mittelmeergebiet fließendes oder stehendes Wasser dauernd die Vegetation beeinflußt, da ist auch der Charakter derselben dem der nordwärts der Alpen gelegenen Länder ähnlich. Wie große Ver- ee Exogene Faktoren. Licht 231 schiedenheiten an Bodenwärme und Bodenfeuchtigkeit bei gleichem Maße der Luftwärme und gleichen Niederschlägen auch bei gleicher chemischer Be- schaffenheit des Bodens sich auf engem Raum darbieten können, hat G. Kraus gezeigt in seiner Abhandlung ‚Boden und Klima auf kleinstem Raum. Ver- Beziehungen such einer exakten Behandlung des Standortes auf dem Wellenkalk“ (1911). ponmekır Es ergibt sich der Satz, daß die Wasserkapazität und damit die Feuchtigkeit ... des Naturbodens in erster Linie mit dessen Struktur zusammenhängt und daß die Größe des Wassergehalts ganz besonders maßgebend ist für die Wärme, die in den Boden eingestrahlt werden kann. c) Licht. Die Bedeutung des Lichtes für die Pflanzengeographie hängt im wesent- Licht. lichen zusammen mit der allgemeinen Bedeutung desselben für das Pflanzen- leben, mit seinem Einfluß auf die Assimilation. Dieselbe ist stärker bei kon- tinuierlicher Beleuchtung als bei dem Wechsel von Tag und Nacht innerhalb derselben Zahl von Tagen. Setzt man die den Äquator am 20. März treffende Strahlenmenge gleich 1000, so verhält sich zur Zeit der nördlichen Sommer- Sonnenwende die Verteilung der Strahlenmengen in verschiedenen Zonen wie Lichtmengen folgt: ne Nordpol 62° N 431,°N Äquator 661, ° S 1203 1192 1109 881 (6) Während unter 30°N die Strahlenmengen im Winter und Sommer zwischen 520 und 1088, unter 50° N zwischen 197 und 1IO5 schwanken, tun sie dies unter 70° zwischen O und 1130; d.h. in den polaren Ländern wird durch eine auf kurze Zeit zusammengedrängte Intensität der Bestrahlung nachgeholt, was in niederen Breiten während längerer Zeit bei einem Wechsel von Tag und Nacht erreicht wird. Da in der Natur die Wirkung von Licht und Wärme nicht zu trennen ist, so sind über den alleinigen Einfluß der Beleuchtung die Laborato- riumsversuche von Sachs zu beachten, welche ergaben, daß lichtbedürftige Sommergewächse in vierzehnstündiger Beleuchtung viermal so viel an Gewicht zunahmen als andere Exemplare der gleichen Art bei siebenstündiger Be- leuchtung. Auch Kjellmans Versuche in Nordsibirien, bei welchen Keimpflanzen der Cochlearia fenestrata fünf Wochen lang dem vollen Lichtgenuß ausgesetzt etwa doppelt so viel wogen als die gleiche Zahl von täglich 12 Stunden lang verdunkelten Pflänzchen, beweisen den Einfluß der kontinuierlichen Licht- wirkung. Wenn man aber diese Verhältnisse der Polarländer mit denen nie- derer Breiten vergleichen will, so muß man auch in Betracht ziehen, daß in den Polarländern die Wirkung der ununterbrochenen Beleuchtung im Sommer durch den niederen Sonnenstand beeinträchtigt wird. Wir sehen daher, daß sehr viele Arten in den dem Wechsel von Tag und Nacht unterworfenen Alpen- ländern sich durchaus ebenso entwickeln, wie in den Polarländern, wo sie kon- tinuierlich einige Monate unter dem Einfluß des Sonnenlichtes stehen. Pflanzen- geographisch wichtig ist auch die Tatsache, daß bei schwacher Beleuchtung die Mangelhafte Blütenbildung bei schwacher Beleuchtung. Messung des Lichtgenusses. 232 A. ENGLER: Pflanzengeographie Blütenbildung der Pflanzen beeinträchtigt wird; dies sehen wir bei vielen Ur waldpflanzen der Tropen und auch bei Pflanzen nebelreicher Küsten der ark- tischen Länder, z. B. bei Rubus chamaemorus in Spitzbergen. Andere auf das Licht zurückzuführende Erscheinungen sind die, daß an schattigen Orten die Pflanzen größere Blätter und längere Internodien, an stark belichteten Plätzen dagegen kleinere Spreiten und verkürzte Internodien entwickeln; aber diese Unterschiede, sowie die Differenzen von Oberlicht, Vorderlicht, Hinterlicht und Unterlicht finden sich überall, wo noch eine gesellige Entwicklung von Holzgewächsen möglich ist, welche Schatten geben. In Gebieten mit seltener bewölktem Himmel sehen wir einen viel reicheren Blumenflor als in den nebel- reichen. Die sonnigen Gebiete Australiens, Süd- und Ostafrikas, Südbrasi- liens, Kaliforniens und der Prärien, der russischen und siebenbürgischen Step- pen, die Krautfluren der Mittelmeerländer, die mäßigfeuchten Wiesen Mittel- europas, die Matten der Hochgebirge und die von der nebelreichen Küste ent- fernten Teile der Polarländer fallen auf durch eine Fülle leuchtender Blumen, während in den Waldformationen aller Zonen solche meist nur in Lichtungen, an den Rändern oder in den lichteren Teilen der Baumkronen wahrzunehmen sind. Diese in die Augen springenden Tatsachen hat man auch durch exakte Beobachtungen genauer festzustellen versucht. Es ist das Verdienst Wiesners, durch Anwendung der Roscoe-Bunsenschen Methode für die Messung der chemisch-wirksamen Strahlen den Weg zur zahlenmäßigen Feststellung des Lichtgenusses der Pflanzen innerhalb einer Formation oder eines Gebietes ge- wiesen zu haben. Durch Vergleich der von einem gewissen Licht bewirkten Schwärzung von Silberchloridpapier mit einem bestimmten Normalpapier und Notierung der bis zur Erreichung des Normaltones verstreichenden Zeit ver- mittelst eines Chromographen wird das Licht gemessen. Als Norm gilt die Lichtmenge, welche in einer Sekunde die Normalschwärzung des Silberchlorid- papiers bewirkt. Soll für eine Art der Lichtgenuß festgestellt werden, so wird nach Ermittlung des Gesamtlichtes im Freien /, das der Pflanze an ihrem Standort wirklich zukommende Licht 2 gemessen. Der Bruch : gibt den rela- tiven Lichtgenuß der Art an dem Standort an. Einige bemerkenswerte Resul- tate von Wiesners Studien über den Lichtgenuß der Pflanzen sind folgende: Je wärmer die Jahreszeit ist, in welcher eine zu verschiedenen Zeiten innerhalb der Vegetationsperiode wachsende, blühende und fruchtende Pflanze ihre Ent- wicklung durchmacht, desto niedriger ist das Minimum ihres relativen und ab- soluten Lichtgenusses. Es ergibt sich also eine Beziehung zwischen der Tem- peratur der Medien und dem Lichtgenuß einer bestimmten Pflanze, welche dar- auf hindeutet, daß ein Anteil des Lichtes, welcher ihr zustrahlt, für sie einen Wärmegewinn bedeutet, welcher desto größer ist, je kälter der Boden und die Luft, überhaupt die Medien sind, in denen die Pflanze ihre Organe ausbreitet. Dies leitet auf den Gedanken, daß auch mit Zunahme der geographischen Breite und mit Steigung der Seehöhe des Standortes einer Pflanze das im Licht- genuß zum Ausdruck gebrachte Lichtbedürfnis sich erhöhen müsse. Die Be- obachtungen Wiesners (z. B. an Betula nana) haben ergeben, daß die zur Exi- Exogene Faktoren. Wind 233 stenz der Pflanzen erforderliche Lichtstärke desto mehr zunimmt, je mehr sich die Pflanze ihrer polaren Grenze nähert, daß ferner der für die Existenz der Pflanze erforderliche untere Grenzwert des Lichtgenusses gegen die Nordgrenze des Verbreitungsbereiches nicht langsam und allmählich, sondern rapid zu- nimmt. An der nördlichsten Verbreitungsgrenze wird der Pflanze selbst eine kleine Einschränkung des Lichtgenusses gefährlich, während derselben Art weiter südlich, besonders bei günstiger Gestaltung der sonstigen Vegetations- bedingungen, ein weiter Spielraum des Lichtgenusses gegönnt ist. Wiesner kommt zu dem Resultat, daß mit der Zunahme der geographischen Breite so- wohl der relative als der absolute Lichtgenuß einer Pflanze steigt. Das Licht- klima des arktischen Gebietes ist durch eine relativ große Gleichmäßigkeit der Lichtstärke ausgezeichnet. Wenn man die Tageslichtsumme in der Ad- ventbai von Spitzbergen Anfang August mit der Tageslichtsumme von Wien Anfang Februar oder Anfang November vergleicht, also zu Zeiten, bei denen in Wien die gleiche Sonnenhöhe herrscht, so stellt sich heraus, daß die Tages- lichtsumme in Spitzbergen 2,5 mal größer ist als in Wien. Auch mit Zunahme der Seehöhe steigt der Lichtgenuß einer und derselben Art, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze; von da an schränken die Pflanzen die Steigerung des Lichtgenusses ein und sicherlich ist es die Baumvegetation, welche auf großer Seehöhe das starke Licht abwehrt. Bezüglich der Lichtverhältnisse in der baumlosen Region der Alpen sind namentlich Rübels Untersuchungen am Berninahospiz (Vierteljahrschrift der Naturforsch. Gesellsch. in Zürich, 1908) lehrreich. Sie haben ergeben, daß hier im Gegensatz zur Ebene die Lichtsumme des direkten Lichtes über den doppelten Wert der Differenz steigen kann. Auch das Gesamtlicht ist in den Alpen höher als in der Ebene. Ferner sind nach Niederschlägen die Intensitäten höher als nach länger andauernder schöner Witterung und der Unterschied zwischen nördlicher und südlicher Exposition tritt in den oberen Regionen der Alpen viel mehr hervor als in der Ebene. d\) Wind, Die Bedeutung der Luftströmungen für das Klima größerer und kleinerer wind. Gebiete, somit auch für deren Vegetation ist so einleuchtend und bekannt, daß er wir uns hier mit dem allgemeinen Hinweise auf den Einfluß kalter und warmer für das Klima. Luftströmungen, feuchter und trockener Winde, der Seewinde und Landwinde begnügen können. Besonders wichtig sind die konstanten oder regelmäßig auf- tretenden Winde, und ihre Wirkungen auf den Gesamtcharakter der Vegeta- tion eines Gebietes stehen im engen Zusammenhang mit der Höhe und der Rich- tung der Gebirgszüge, sowie auch mit dem Verlauf der einzelnen Täler. Viel- fach treten auch Lokalwinde auf, welche für die Erzeugung von Wärme und Kälte, von Feuchtigkeit und Trockenheit wichtig sind. In den Gebirgstälern treten regelmäßig talaufwärts bewegte Tagwinde und talabwärts wehende Nachtwinde auf, von denen die ersteren oft Nebel, Wolken und Regen bringen. Ein lokaler Wind ist auch der Föhn, ein trockener warmer Wind, der vom 234 A. ENGLER: Pflanzengeographie Alpenkamm mit großer Heftigkeit aus verschiedenen Richtungen, am meisten aus Südost und Süd, aber auch aus Südwest und sogar aus Norden hernieder- stößt. In kurzer Zeit schmelzen unter seinem Einfluß im Frühjahr mächtige Schneemassen, während er im Herbst nachsommerliche Erscheinungen hervor- ruft; wo er regelmäßig nach Norden vorstößt, da sind südliche Arten, wie Hypericum coris, über ihre allgemeine Nordgrenze viel weiter nach N vorge- drungen. Nach Rikli bewirken föhnartige Winde im nordwestlichen Grön- land gelegentlich mitten im Winter eine Erhöhung der Temperatur von — 44° auf + 2° C;im Sommer aber wurden Föhntemperaturen von 16—20° C notiert. Im Mittelmeergebiet sind der Mistral und die Bora von großem Einfluß auf die Vegetation, der erstere im Westen, die letztere im Osten; sie verdanken ihre Entstehung dem oft großen Temperaturgegensatz zwischen den kalten schnee- bedeckten Hinterländern und dem warmen Mittelmeerbecken und sind bekannt- lich trockene und kalte Stoßwinde, welche der Entwicklung immergrüner Macchien hinderlich sind. Der im afrikanischen Goldküstengebiet auftretende Harmattan ist ein sehr trockener, roten Staub mit sich führender Ostwind, welcher die normale Feuchtigkeit um 27% herabsetzt und plötzlich Vergilben und Abfallen der Blätter der Bäume, sowie Verdorren der Gräser und Kräuter bewirkt. Sehr stark wird auch in Nordrußland und in Nordasien die Baum- grenze durch die Nordwinde beeinflußt, was sich daraus ergibt, daß dieselbe überall in den großen Flußtälern weiter nach Norden vordringt, während außerhalb derselben die Tundra herrscht. Scherende Die Wirkung scherender Winde auf das Wachstum von Bäumen und Wide Sträuchern ist an windreichen Küsten ebenso wie an der oberen Waldgrenze in hohen Gebirgen häufig wahrzunehmen und wird mit Vorliebe in pflanzen- geographischen Schilderungen durch photographische Aufnahmen erläutert. Auch ist eine allgemeine Erscheinung in windreichen Küstenstrichen sowie auf windreichen Höhen das Zurücktreten von großblättrigen und aufrechten Pflanzen; es sei denn, daß dieselben durch Entwicklung geeigneter mechanischer Einrichtungen und Schutzmittel gegen Austrocknung vor Knicken und Ver- trocknen geschützt sind. Dafür sieht man reichlicher Pflanzen mit dem Boden dicht anliegenden Zweigen oder solche mit dichtem Rasen und Polstern. =esenenng der Für die zahlreichen windblütigen oder anemophilen Bäume und Gräser Winde für die Verbreitung vonsind leichte Winde geeignet zur Verbreitung des Pollens. Eine ganz hervor- Bo ragende Rolle aber spielt der Wind bei der Verbreitung von Früchten und Samen, ganz besonders da, wo offene Formationen vorherrschen, wie in den Steppengebieten. So haben in den Steppen Afrikas Gattungen mit Haar- schöpfen an Früchten (Compositen) oder Samen (Asclepiadaceen), solche mit Flügelbildungen (Malpighiaceen, Combretaceen, Zygophyllaceen, Bigno- niaceen, die Polygalacee Securidaca, die Aizoacee Trianthema, die Pe- daliacee Pierodiscus) eine weite Verbreitung erlangt; wir treffen sie sowohl nördlich wie südlich vom Äquator an. Daß ebenso wie der Lateritstaub auch kleine Samen durch die Steppenwinde weite Verbreitung finden, ist einleuchtend. Aber auch sonst trägt der Wind zur Verbreitung von Sporen, Exogene Faktoren. Wind 235 Samen und Früchten reichlich bei. Unzweifelhaft hatte der Wind einen großen Einfluß auf die Besiedelung der im Jahr 1883 durch einen gewaltigen vulkanischen Ausbruch ihrer Urwaldvegetation völlig beraubten und mit durchschnittlich 30 m mächtigen Schichten von Bimstein und Asche bedeckten Insel Krakatau. Nachdem Treub schon im Jahre 1886 dargetan hatte, daß auf die von den nächsten Inseln 18,5 bis 40,8 km entfernte Insel Krakatau nicht nur zahlreiche Keime von Schizophyceen, Diatomeen, Moosen und Farnen, son- dern auch die Samen von 6—8 Siphonogamen gelangt und sich entwickelt hatten, konnte Penzig 1897 schon 17 anemochore Siphonogamen nachweisen (8 Compositen, 5 Gramineen, 4 Orchidaceen). Ernst aber hat im Jahre 1906 konstatiert, daß noch II Arten hinzugekommen waren, bei denen man Wind- transport annehmen könnte. Wenn aber auch bei I3 am Strande vorkommen- den Arten die Möglichkeit eines Transports durch das Meer nicht ausgeschlossen ist, so bleiben immerhin noch 15 Arten übrig, bei denen ein anderer Transport als durch den Wind nicht anzunehmen ist. Lange Zeit hatte man sich mit Vor- liebe auf A. Kerners 1871 in der Zeitschrift des deutsch-österreichischen Alpenvereins erschienene Abhandlung über den Einfluß der Winde auf die Ver- breitung der Samen im Hochgebirge berufen, in welcher ausgesprochen wird, daß Früchte und Samen mit haarförmigem Flugapparat durch den aufsteigenden Luftstrom nur bei Sonnenschein, bei trockener Luft und in unbetautem Zu- stande emporgeführt werden können, daß die Möglichkeit des Aufsteigens schon bei geringer Zunahme der relativen Feuchtigkeit aufhöre, daß aber, wo die erwärmte Luft beim Aufsteigen sich ausdehne und abkühle, eine Feuchtig- keitszunahme eintrete und so die sehr hygroskopischen Samen über einen gewissen Höhenpunkt nicht herauskommen, keinesfalls in die Regionen ge- langen könnten, in welchen die emporsteigenden Luftmassen seitlich abfließen. Man hat sich ferner darauf gestützt, daß bei der Besiedlung der Moränen oder des durch Abschmelzen der Gletscher freigewordenen Terrains in der Regel nur aus der nächsten Umgebung derselben stammende Arten wahrgenommen werden. Durch die Beobachtungen am Krakatau sind alle diese Einwände gegen weiten Transport durch Wind hinfällig geworden und damit auch mancher- lei extreme Vorstellungen von der ehemaligen Verbreitung der Glazialflora und Steppenflora in Europa. Durch gründliche Untersuchung der Verbreitungs- mittel der Alpenpflanzen und Vergleiche mit den Arten tieferer Lagen ist V og- ler zu dem wichtigen Resultat gelangt, daß der Prozentsatz der anemochoren Arten mit der Höhe zunimmt, dagegen derjenige der zoochoren abnimmt. Auch macht er darauf aufmerksam, daß nicht nur der aufsteigende Luftstrom und die gewöhnlichen Talwinde Samen verbreiten, sondern daß in der alpinen Re- gion eine ganz bedeutende Windgeschwindigkeit herrscht, auf welche die Ver- breitung von Samen zurückgeführt werden kann. So hält Vogler es für mög- lich, daß bei Sturmwinden ein Transport von Samen über Entfernungen von 20 km stattfindet. Ein besonders interessantes Faktum ist auch das, daß bei dem Salzhagel am St. Gotthard vom 30. August 1870 Salzkristalle mit einem Ge- wicht von durchschnittlich 0,32 g (z.T. sogar bis zu 0,76 g) fielen, diedurch Wind- Bodenverhält- nisse. 236 A. ENGLER: Pflanzengeographie strömungen von Nordafrika her, das sind 1000 km, oder von der nördlichen Küste des Mittelmeeres, also mindestens 250km weit hergetragen sein mußten. Daraus geht hervor, daß nicht nur für die allerkleinsten Samen und Sporen, sondern auch für etwas größere die Möglichkeit eines Transportes durch den Wind besteht. Auch der Umstand ist von Bedeutung, daß unter den in die Alpen vorgedrungenen arktischen Arten mehr anemochore sich befinden als unter den in den Alpen entstandenen alpinen Arten. Auch auf den Hoch- gebirgen Javas und anderer Inseln des malayischen Archipels kommen in den obersten Regionen leichtsamige Arten vor, welche wir sonst noch auf dem Hi- malaya antreffen. Beccari hatte dies auf den Transport durch die von No- vember bis April wehenden Nordwestmonsune zurückgeführt; doch sollen nach Junghuhn diese sich nur bis höchstens 1600 m ausdehnen, dagegen ober- halb 2000 m der Südostpassat das ganze Jahr hindurch wehen. Es wird daher die Ansicht Beccaris noch weiter zu prüfen sein. Jedenfalls können durch die in den Gipfelregionen der tropischen Hochgebirge herrschenden Winde Samen weithin getragen werden. Das muß auch in Afrika geschehen sein und geschieht wohl auch noch, da auf den Hochgebirgen Abyssiniens, Ost- und Westafrikas, mitunter auch der Comoren, gleiche oder einander sehr nahe stehende Arten vorkommen, welche leichte Samen besitzen. Ich möchte hier auch darauf hinweisen, daß auf den Sandwichinseln von 675 Arten 140 Sporen- pflanzen und I4 Samenpflanzen anemochor sind. Wenn dieselben auch jetzt zum größten Teil endemisch sind, so können sie doch von anemochoren Arten abstammen, deren Samen unter günstigen Verhältnissen den weiten Weg von den Kontinenten nach den Sandwichinseln zurückgelegt haben. Überhaupt haben die Winde wie auch die Tiere schon in den vergangenen Perioden sehr viel zur Verbreitung von Samen und Früchten beigetragen; wie sehr dies der Fall gewesen sein muß, kann man gerade aus den Zahlen entnehmen, welche innerhalb 23 Jahren bei der Neubesiedelung des Krakatau ermittelt wurden. e) Bodenverhältnisse., Wir haben schon gesehen, daß die Einzelwirkung der Faktoren: Wärme, Feuchtigkeit und Licht auf die Pflanzenverbreitung nicht immer leicht zu be- stimmen ist, da sie zusammen und oft zugleich die Pflanze beeinflussen. Noch schwieriger ist zu bestimmen, inwieweit die Verbreitung einer Pflanzenart von der Beschaffenheit des Bodens abhängig ist. Man hat sich gefragt, ob die chemische oder physikalische Beschaffenheit des Bodens von größerer Be- deutung ist. Das Vorkommen bestimmter Arten auf salzhaltigem, kalkhaltigem, humusreichem, stickstoffreichem Boden, auf Serpentin und galmeihaltigem Boden spricht für die Bedeutung des chemischen Verhaltens; aber anderseits kann man sich leicht davon überzeugen, daß das verschiedene Verhalten phy- sikalisch-differenter, grobkörniger und feinkörniger Böden zum Wasser und zur Luft sowie zurWärme für das Vorkommen der Pflanzen von hervorragenderWich- tigkeit ist. Immer mehr hat man aber auch erkannt, daß sich ein Boden durch die auf ihm angesiedelte Vegetation allmählich chemisch und physi- re Exogene Faktoren. Bodenverhältnisse 237 kalisch verändert. Da in großen Gebieten sehr mannigfache Bodenverhältnisse auftreten, so hat für die Umgrenzung derselben der Boden im allgemeinen nicht die Bedeutung wie Wärme und Niederschläge; in kleineren Gebieten aber sind die Bodenverhältnisse, die ‚edaphischen‘‘ Faktoren, außerordentlich wichtig für die Bildung natürlicher Pflanzengesellschaften oder Pflanzenver- eine, der umfassenderen Formationen und der engeren Assoziationen. Wenn gewisse Arten in der Natur nur auf Salzboden, auf Serpentin oder auf Galmei vorkommen, so liegt dies daran, daß sie mehr alsandere Pflanzen die ihnen hier gebotenen Stoffe aufnehmen können und von deren Konkurrenz nichts zu fürchten haben, auf anderem Boden aber dieser Konkurrenz unterliegen. Man kann namentlich am Meeresstrand und am Rande von salzigen Becken ver- folgen, wie die Salzpflanzen in einiger Entfernung von denselben anderen Pflanzen weichen und in sehr entfernten Gebieten in derselben Reihenfolge auftreten. In den Alpenländern und überhaupt in engeren Gebieten macht sich oft in hohem Grade bei vielen Arten die Bevorzugung des Kalks, bei an- dern die kieselhaltiger Böden bemerkbar. Ausführlicher hat sich zuerst F. Unger, als er noch Arzt in Kitzbühel war, über die Kalk- und Kiesel- stetigkeit in seiner Abhandlung ‚über den Einfluß des Bodens auf die Ver- teilung der Gewächse, nachgewiesen in der Vegetation des nordöstlichen Tirols‘ ausgesprochen; Sendtner, Nägeli und Schimper, Magnin, Val- lot, Fliche, Grandeau, Contejean haben dann später die Anschauung verteidigt, daß die Kalkstetigkeit mit den chemischen Eigenschaften des Sub- strats zusammenhängt. Außer dem nicht direkt als Nährstoff anzusehenden, kohlensauren Kalk, welcher ja auf manche Pflanzen (die meisten Sphag- num-Arten, Drosera, Blechnum, Cryptogramme crispa, Castanea sativa, Pinus pinaster) schon in geringer Menge tödlich wirkt oder auch (nach den Unter- suchungen Bonniers) das äußere Aussehen und die anatomische Struktur verändert, enthält der Kalkboden wichtige Nährsalze, die schwefel-, phosphor- und salpetersauren Salze. Da aber viele Arten in einem Gebiet sich bodenstet, in einem anderen bodenvag verhalten, so haben mehrere Forscher geglaubt, den chemischen Einfluß des Kalkbodens leugnen und die Bevorzugung des Kalkes von seiten vieler Arten durch die physikalischen Eigenschaften des Kalkbodens erklären zu müssen. Es geschah dies namentlich durch den schweizerischen Forscher Thurmann in seinem Werk „Essai de phyto- statique appliqude a la chaine du Jura‘. Unter den physikalischen Eigen- schaften, welche in der Tat in dieser Frage maßgebend sind, ist hervorzuheben, daß die kalkreichen Böden unter sonst gleichen Verhältnissen wärmer und trockener, die kieselreichen feuchter und kälter sind. Nun sind aber auch bei gleichem physikalischem Verhalten des Substrats kalkstete Pflanzen und kalk- feindliche zu unterscheiden; so wachsen z. B. in den Gewässern der Kalkgebirge andere Moose auf den im Wasser befindlichen Felsblöcken als im Granitgebirge, andere Moose und Flechten auf nacktem, noch nicht verwittertem Kalkgestein als auf kieselhaltigem Fels, auch andere Moose auf Kalksand als auf Quarzsand. Ganz besonders aber spricht für die chemische Bedeutung des Kalkes auch noch der Bodenstete und bodenvage Pflanzen. Konkurrenz von Mitbewerbern Bildung von Dammerde. Ramanns Ein- teilung der Böden. 238 A. ENGLER: Pflanzengeographie Umstand, daß recht viele Arten, wie z. B. die kieselstete Achillea moschata und die kalkstete Achtillea atrata da, wo sie sich nach der chemischen Zusammen- setzung des Bodens scheiden, auf ihrem spezifischen Boden hinsichtlich der physikalischen Beschaffenheit desselben durchaus nicht wählerisch sind. Bei allen diesen Verhältnissen spielt die Konkurrenz von Mitbewerbern, welche im allgemeinen ähnliche Anforderungen stellen und bisweilen einander syste- matisch sehr nahe stehen, eine wichtige Rolle, wie Nägeli in seiner Abhandlung „über die Bedingungen des Vorkommens von Arten und Varietäten innerhalb ihres Verbreitungsgebietes‘‘ (1865) ausführlich dargelegt hat. Daß die physi- kalischen Verhältnisse des Substrates aber auch da, wo die chemischen aus- schlaggebend sind, für die Zusammensetzung der Formationen nicht gleich- gültig sind, kann nicht bestritten werden. Man wird daher dieser immer große Aufmerksamkeit schenken müssen. (Vergl. oben bei Kraus, S. 45). Von der physikalischen Beschaffenheit des Bodens hängt in hohem Grade ab seine was- serhaltende Kraft, seine Erwärmungsfähigkeit und Durchlüftungsfähigkeit. Je wasserreicher ein Boden ist, desto schwerer wird er erwärmt. Je lockerer er ist, desto weniger leitet er die Wärme, desto leichter können sich aber auch die Wur- zeln der Pflanzen ausbreiten. Bedeckung des Bodens durch Moos, Laub, Gras, Schnee mildert das Eindringen der Temperaturschwankungen, welche Sonne und Wind hervorrufen, hindert auch bis zu gewissem Grade das Eindringen der Nieder- schläge (Gräbner). Für die ihre Wurzeln in größere Tiefe sendenden Bäume sind auch die Grundwasserverhältnisse von großer Bedeutung. Felsen können zunächst nur von niederen Algen und von Flechten be- wohnt werden, bevor ihre Zersetzung und Spaltung beginnt. Sie leisten At- mosphärilien stärkeren Widerstand als den sie besiedelnden Flechten, von denen einzelne ihre Hyphen infolge chemischer Zersetzung des Gesteins sehr tief in dasselbe eindringen lassen. So wandeln sie das feste Gestein allmählich in Dammerde um, welche höher organisierten Pflanzen die Existenz ermöglicht. Zunächst sind es Moose, welche den Flechten folgen und zum Teil so wie diese je nach der Art bodenstet sind, während andere auf verschiedenartigem Ge- stein vorkommen. Wenn Frost und Hitze die Zertrümmerung des Gesteins her- beigeführt haben, so entstehen grobkörnige und feinkörnige Böden, deren Be- standteile durch das Wasser oder durch den Wind fortgeführt und mehr oder weniger vom Entstehungsort entfernt abgelagert wurden. Da die Verwitte- rungsvorgänge vom Klima abhängig sind, so ist Ramanns Einteilung der Böden in solche humider und solche arider Gebiete instruktiv. In den humiden Gebieten übertreffen die Niederschläge die Verdunstung, in den ariden kann mehr verdunsten, als durch Niederschläge zugeführt wird. Sodann werden Böden des Gesteinszerfalles und der Gesteinszersetzung unterschieden. Zu den ersteren gehören die humiden Spaltenfrostböden der arktischen Ge- biete (nährstoffarm), der Hochgebirge (in tieferen Lagen reichlicher Humus), der glazialen Bildungen, der Moränen; ferner die ariden Böden der Wüsten, Steinblöcke, fein- bis mittelkörnige Sande (oft Dünen bildend), durch den Wind über den Bereich der Wüste hinausgetragener (auf Grasfluren abgelager- Exogene Faktoren. Bodenverhältnisse 239 ter) Löß. Mannigfacher sind die Böden der Gesteinszersetzung. Als humide treten uns entgegen in den Tropen der eisenhaltige, stark ausgewaschene und nährstoffarme Laterit, die in tropischen und subtropischen Gebieten ver- breiteten humusarmen Roterden und Gelberden, die im gemäßigten Mittel- europa verbreiteten, nur mäßig ausgewaschenen, Eisen, Tonerde und Phosphor- säure enthaltenden Braunerden, welche wechseln vom schweren Tonboden bis zum leichten Sandboden, endlich die in humiden kälteren Gebieten auf- tretenden Podsolböden, sauren Humus und kolloid - aufquellbare Humus- stoffe sowie Kaolingel enthaltend. Von ariden Böden sind zu unterscheiden die Salzböden, der in Europa und besonders in den Hochebenen Mittelasiens verbreitete Löß, die in Europa und den Prärien große Flächen bedeckende Schwarzerde (Tschernosem), die hauptsächlich in Nordamerika, aber auch in Europa auftretenden weißgrauen Steppenböden. Für die jetzt so vielfach durchgeführten Formationsstudien empfiehlt sich noch mehr Ramanns Einteilung nach den physikalischen Eigenschaften, nach den Korngrößen und dem Mengungsverhältnis. Es werden in erster Linie Stein-, Sand-, Lehm-, Ton-, Kalk- und Humusböden unterschieden. Diese gliedern sich weiter wie folgt: A. Steinböden: I. Felsböden. 2. Großsteinige Böden (in humiden Gegenden von Waldbeständen und von Moosdecken bekleidet). 3. Grus- und Grandböden. B. Sandböden, von geringem Wassergehalt, leicht erwärmt, gut durch- lüftet: I. Reiner Sand. 2. Schwachlehmiger oder anlehmiger Sand. 3. Lehmiger Sand. 4. Schwachhumoser Sand (I—2 Gewichtsprozent Humus). 5. Humoser Sand (3—6 % Humus). 6. Starkhumoser Sand (&—12 % Humus). C. Staubböden, bis zu 90 % Staub enthaltend: I. Flottsande, von Mo- ränen ausgeschlemmt, nehmen reichlich Wasser auf und bilden beim Austrock- nen dichte, leicht zerreibliche Stücke. Ungünstige Waldböden. 2. Löß, wegen seiner langen, von Pflanzenwurzeln herrührenden Poren und wegen seines Ge- halts an Pflanzennährstoffen ein guter Boden. D. Lehmböden. Mischung von Sand und tonigen Bestandteilen. Bei- mischungen von Kalk machen den Boden lockerer (krümeliger) und begünstigen die Zersetzung der organischen Reste. Von der Vollkommenheit der Krümelung hängt die Durchlüftung des Bodens ab; derartiger Boden ist für die Wurzel- verbreitung der Bäume günstig. Sandige Lehmböden sind gute Waldböden, feste Lehmböden mit wenig abschlämmbaren Stoffen können bei Freilegung des Bodens im Winter sowie durch die Wirkung der Traufe im belaubten Zu- stande des Waldes leicht verschlämmen. E. Tonböden. Sehr abhängig von der Krümelung. Nicht gekrümelte Tonböden sind für Wasser undurchlässig und geben Veranlassung zur Ver- sumpfung. Sie sind schwer erwärmbar und nur bei reichlicher Krümelung durchlüftbar. F. Kalkböden. Der kohlensaure Kalk ist großenteils ausgelaugt; der entstandene Boden entspricht, je nach den Beimischungen des Muttergesteins, Allmähliche Veränderungen des Bodens. 240 A. ENGLER: Pflanzengeographie Sand-, Lehm- oder Tonboden, meist dem letzteren. I. Reine Kalkböden, mit reichlichem Gehalt von kohlensaurem Kalk, trocknen leicht aus. 2. Lehmböden auf Kalk. 3. Tonböden auf Kalk, sehr fruchtbar wegen des unterlagernden durchlässigen Gesteins. Austrocknen dieser Böden bewirkt rasche Zersetzung der dem Boden beigemischten pflanzlichen Reste. G. Humusböden. Der aus abgestorbenen Pflanzenresten entstehende Humus ist um so reichlicher vorhanden, je mehr die Tätigkeit der Verwesungs- organismen gehemmt ist. Beimengungen von Humus erhöhen die wasserhaltende Kraft der Böden und verlangsamen die Bewegung der Salze. Wenn Humus- flächen dem Regen, dem Wind und der Wärme ausgesetzt werden, entwickeln sich Humussäuren und die Tätigkeit der sonst so lebhaft arbeitenden Organis- men, der Bakterien und Regenwürmer hört auf; der Boden verdichtet sich zu torfartigem, luftabschließendem Rohhumus, welcher den tiefer gelegenen Wurzeln die nötige Atemluft entzieht. Auf solchem Rohhumus entwickelt sich die Heide. Dichte Rohhumuslagen bewirken auch die Auslaugung des darunter liegenden Bodens, im Sandboden die Bildung des bläulichgrauen Bleisandes und schließlich des aus verkittetem Sand bestehenden Ortsteins. Andere Humus- böden sind Schlamm, Niederungstorf, Hochmoortorf; letzterer ist arm an Nähr- stoffen und Kalk. Auf allmähliche Veränderung des Bodens sind mancherlei Erscheinungen zurückzuführen, welche wir in einzelnen Formationen vor sich gehen sehen, doch greifen dabei immer andere Faktoren mit ein. Verfolgen wir z. B. bei uns die Entwicklung eines Holzschlages, so sehen wir zunächst Gräser, vor allen Aira flexuosa und A. caespitosa, Kräuter, wie Chamaenerion (Ept- lobium) angustifolium, Senecio silvaticus, Galeopsis-Arten und Verbascum, Veronica officinalis, in Gebirgen Atropa und Digitalis purpurea usw. usw. und Gesträuche wie Salix caprea, Rubus-Arten, namentlich R. tdaeus, Cornus sanguinea, Corylus. Diese Sträucher und namentlich auch der Adler- farn, Pteridium aquilinum, entwickeln sich besonders da, wo sich nicht Roh- humus gebildet hat, welcher seinerseits die Entwicklung von Rohhumusmooren und Calluna begünstigt (Graebner). Wenn nun ältere Bäume in der Nachbar- schaft vorhanden sind, dann erscheinen Betula verrucosa, Populus tremula, Pinus silvestris und Picea. Von diesen entwickeln sich zunächst die Birken und Pappeln rascher als die Nadelhölzer. Sagen aber den letzteren die Bodenver- hältnisse zu, dann sieht man nach etwa IO Jahren die Kiefern und Fichten über die Birken hinauswachsen und diesen das Licht entziehen, so daß letztere all- mählich verschwinden. Vielfach entwickeln sich auch unter dem Schutze der Nadelhölzer Eichen und Buchen, welche namentlich dann über die Nadel- hölzer siegen, wenn diese von tierischen und pflanzlichen Schädlingen zu leiden hatten. So verdrängt gegenwärtig die Buche im südlichen Norwegen die Fichte. Der durch den Forstbetrieb bewirkte Waldwechsel zeigt ähnliche Er- scheinungen, doch soll auf diese nicht eingegangen werden. Daß durch Klimawechsel noch viel durchgreifendere Änderungen bewirkt werden, ist ein- leuchtend. 4% 2 ra ee nt 3 ae Exogene Faktoren. Organismen 241 In allen Waldformationen kann man konstatieren, wie sehr die Licht- und Feuchtigkeitsverhältnisse, welche einesteils durch die Entwicklung der Kronen, anderseits durch die geringere oder größere Aussaugung des Bodens von seiten der Baumwurzeln beeinflußt werden, sich allmählich ändern. Man wird aber immer auch die Eingriffe des Menschen und Windbrüche zu berücksichtigen haben. f) Organismen. Ein recht wichtiger Faktor für die Verbreitung der Pflanzen ist auch das Verhalten der Organismen zu denselben. Es wurde schon oben (S. 37) be- sprochen, daß die Beschaffenheit vieler Früchteund Samen der Verbreitung durch Tiere günstig ist; es soll daher hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Aber auch die Frucht- und Samenbildung selbst ist in hohem Grade von Tieren, von den bei der Bestäubung wirkenden Insekten abhängig. So ist ein bekanntes Beispiel hierfür die Gattung Aconitum, deren Blüten nur von Hummeln be- stäubt werden können; dies hat zur Folge, daß die Arten dieser Gattung nicht über das Verbreitungsgebiet der Hummeln hinausgehen. Auch können tie- rische Schädlinge das Areal mancher Pflanzen, namentlich an den Grenzen ihrer Verbreitung, einschränken. Sehr wichtig sind aber die Beziehungen der Pflanzen zueinander. Zunächst ist die Zahl der pflanzlichen Schädlinge eine außerordentlich große; die große Mehrzahl der Arten hat auch ihre pflanzlichen Parasiten, welche den Wirtspflanzen schädlich werden und häufig Frucht- und Samenbildung verhindern. Theoretisch kann man wohl annehmen, daß ein Parasit imstande ist, eine Pflanze auszurotten; faktisch finden wir aber in der Natur im allgemeinen einen Gleichgewichtszustand zwischen Wirtspflanzen und Parasiten, was auch darin seinen Grund hat, daß in vielen Fällen mit dem Verschwinden der Wirtspflanze die Fortexistenz der Parasiten abgeschlossen ist. Wenn aber ein Parasit auf mehreren Wirtspflanzen vorkommt, dann kann er, besonders den schwächlichen, gründlich gefährlich werden. Kulturpflanzen aber, deren Massenkultur dem Schädling fortwährend das von ihm begehrte Substrat liefert und die Übertragung in hohem Grade begünstigt, können durch einen Schädling, der nicht zu bekämpfen ist, in einem Gebiet leicht gänzlich vernichtet werden. Bedeutung der Tiere für Be- stäubung,Frucht- und Samen- bildung. Pflanzliche Schädlinge. Die Abhängigkeit der Pflanzen voneinander zeigt sich besonders in der Abhängigkeit Entwicklung von Formationen auf Neuland oder nach Zerstörung einer ge- schlossenen Formation. Die Besiedelung von Neuland wurde schon oben be- rührt. Die Nitromonaden, Flechten, Algen und Moose bereiten felsiges Ge- stein für stellenweise Besiedelung durch höhere Pflanzen vor. In der hoch- alpinen und alpinen Region ist auf Felsen und Geröll immer Platz für Ent- wicklung neuer Pflanzenstöcke; es sind aber nur Fälle bekannt, welche ein Vordringen von Pflanzen unterer Regionen in die oberen dartun, und dies geschieht dadurch, daß das Weidevieh Samen verschleppt und durch Düngung des Bodens mit seinen Exkrementen den Pflanzen der unteren Regionen zu kräftigem Wachstum verhilft. Ein plötzliches Auftreten von alpinen Arten anderer Hochgebirge wird, trotzdem Geröll und neuverwitterte Felsen Gelegen- K.d.G. IILıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 16 der Pflanzen von- einander. Sukzessive Änderung in Pflanzen- formationen. 242 A. ENGLER: Pflanzengeographie heit zur Ansiedlung bieten, gegenwärtig nicht bemerkt. Was haben aber die Zeiträume, in denen man auf solche Dinge achtet, zu bedeuten gegen die Jahr- tausende, welche seit der Eiszeit verflossen sind und gegen diejenigen, welche derselben seit der Hebung der Alpen vorangegangen sind. In diesen vergange- nen Zeiten gestattete ein kälteres Klima den heute die alpine Region bewoh- nenden Arten die Existenz in den unteren Regionen und so war der Zwischen- raum zwischen den von alpinen Pflanzen bewohnten Teilen der Hochgebirge ein geringerer; niedrige Gebirge, welche heute gar keine alpine Region besitzen, mußten damals auch alpine Pflanzen beherbergen. Alljährlich sehen wir auf dem Geröll alpiner Bäche und Flüsse, bisweilen auch an Bachufern und Fluß- ufern in der subalpinen und montanen Region, alpine Arten auftreten; wenn aber das Geröll mehrere Jahre erhalten bleibt, dann siedeln sich bald zwischen den neuen Ankömmlingen Pflanzen der Umgebung an und bilden, sobald unter ihnen Rasenpflanzen der unteren Region oder gar Gesträuche die Oberhand gewinnen, eine geschlossene Gemeinschaft, in welcher die Neuankömmlinge erdrückt werden. Gewöhnlich bildet sich aber in der Nähe wieder frisches Geröll, auf dem die Neuankömmlinge auch weiterhin eine Zeitlang für sich existieren. In den jetzt vielfach angelegten Alpengärten der Hochgebirge kann man auch leicht wahrnehmen, wie rasch bei nicht fortdauernd durchgeführtem Schutz die fremden Pflanzen den einheimischen erliegen; nur selten wird einmal eine der eingeführten Pflanzen über den Alpengarten hinausgehend innerhalb einer ursprünglichen Formation sich ansiedeln. Sandinseln von Flüssen, Eisenbahn- dämme, Ausstiche neben denselben, Kiesgruben, Brachen, Holzschläge, ge- rodete Waldparzellen in der gemäßigten Zone sowohl wie in den Tropen sind geeignet zum Studium der Abhängigkeit der Pflanzen voneinander, welche in einer ziemlich regelmäßigen Aufeinanderfolge zum Ausdruck kommt. In feuchten Ausstichen mit nährstoffarmem, kiesigem Boden sammeln sich oft in kurzer Zeit zahlreiche, auch seltenere Moose an, deren Sporen aus größerer Ent- fernung hergeweht worden sein müssen, oder wir sehen auch anfangs eine grö- Bere Zahl von Schizophyceen und anderen Algen auftreten, auf diese dann Jun- caceen und auch hydrophile Pflanzen folgen. Die Abhängigkeit der Unkräuter von den Kulturpflanzen, zwischen denen sie vorkommen, hängt zum Teil mit dem Schutz zusammen, den ihnen diese gewähren, zum Teil aber auch mit der Herrichtung des Bodens für die Kulturzwecke. Bessere Beispiele für sukzessive Entwicklung, verbunden mit Abhängigkeit von vorangegangener Vegetation, bilden die Hochmoore oder Heidemoore. Das regenreiche Klima bedingt zu- nächst in mesothermen hygrophilen Gebieten die Entwicklung von Sphag- num-Rasen, welche bald einen größeren Teil des Bodens und auch der Ge- wächse, unter deren Schutz sie sich entwickeln, bedecken. Das kann man so- wohl in den Heidegegenden des nordwestlichen Deutschlands, wie an den be- waldeten Abhängen des Isergebirges und auf der böhmischen Seite des Riesen- gebirges sehen. Nun stellen sich ein: Eriophorum vaginatum, E. alpinum, Scirpus caespitosus, Carices, Rhynchospora alba, Funcus squarrosus, Drosera rotundifolia, Empetrum, Andromeda polifolia, Vaccinium uliginosum und V. Exogene Faktoren. Organismen 243 oxycoccus, in manchen Gebieten auch Ledum, in Nordwesteuropa Myrica gale, Narthecium und Erica Tetralix und am trockeneren Rande des Moores Pinus silvestris, Betula pubescens. Auch die Entwicklung der Erlenbrüche geht sukzessive ohne Zutun des Menschen so vor sich, daß die zuerst auftretenden Pflanzen die Existenzbe- dingungen für die folgenden schaffen. In den wasserreichen Niederungen ent- wickelt sich am Rande der Gewässer aus den nicht vollständig verwesenden ab- sterbenden Teilen der dort vorhandenen Pflanzen eine Unterlage für mannigfache Sumpfpflanzen, welche zugleich zur Verfilzung der Pflanzenreste beitragen; es entsteht eineschwimmende Decke, in welcher sich bald das Farnkraut Dryopteris thelypteris, mehrere Carices, schließlich in den mitten absterbenden Bulten der letzteren Salix cinerea und andere, namentlich aber auch die Erle Alnus glutinosa ansiedeln. Damit ist der Anstoß zur Bildung eines Erlenbruches gegeben. Am Rande der einzelnen Bulte mit ihren Weiden oder Erlen gedeihen noch Caltha, Cicuta, Cardamine amara. Allmählich werden durch die aus dem abfallenden Laub entstehenden Humusmassen die Bulte miteinander verbunden und nun wird die Vegetation noch mannigfaltiger. Im ersten Frühjahr leuchtet aus dem schwar- zen feuchten Humus das goldgelbe Chrysosplenium alternifolium hervor, dann erscheinen die Gräser Aira caespitosa, Agrostis vulgaris, Calamagrostis lanceo- lata, Glyceria- Arten, ferner Orchis maculatus, Scirpus silvaticus, im Sommer Hydrocotyle vulgaris, Circaea alpina, Peucedanum palustre, Lysimachia vulgaris, Dryopteris cristata und D. spinulosa, oft massenhaft Eupatorium cannabinum und Urtica dioica, durch welche sich Calystegia sepium hindurchschlingt, während an den Stämmen der Erlen der Hopfen emporsteigt. In den Waldformationen werden durch die Entwicklung der geschlossenen Bestände Verhältnisse hervorgerufen, welche die Verteilung der Begleitpflanzen bedingen, die auch wieder voneinander abhängen, je nachdem sie aufrechte, stark verzweigte oberirdische Stengel oder niederliegende kurze Stengel ent- wickeln, je nachdem sie unter der Erde weithin kriechende und sich reich verzweigende Rhizome oder nur Büschelwurzeln oder eine auf wenige Zenti- meter beschränkte Knolle entwickeln. Wir sehen ferner, daß die günstigeren Lichtverhältnisse des Laubwaldes im Frühjahr eine blumenreiche Flora auf- kommen lassen, während im Sommer und Herbst im Schatten der dichten Kronen nur wenige Arten gedeihen. Durch den reichlichen Laubfall entwickelt sich ein lockerer, wasserhaltender Humusboden, und wo mehr Feuchtigkeit hin- gelangt, bilden sich mehr oder weniger dichte Moosdecken. An besonders hu- musreichen Stellen finden wir auch einzelne Saprophyten, namentlich mancher- lei Pilze; von Moosen finden wir immer wieder dieselben Arten am Grunde von Baumstämmen, wo sich reichlicher Wasser ansammelt, andere Arten stets am oberen Teil der Stämme, wo das Wasser rascher abläuft. Unter solchen Verhältnissen bilden sich viele eigenartige Existenzbedingungen aus, die einer gewissen Anzahl von Waldpflanzen, im Buchenwald z. B. den speziel- len Buchenbegleitern, zusagen, und es ist in der Tat überraschend, wenn man in einem hochgelegenen Buchenwald Südtirols oder der Pyrenäen den Nieder- 16° Lage und Be- schaffenheit des Wohngebietes. Bedeutung der Nachbarschaft. Flußläufe. 244 A. ENGLER: Pflanzengeographie wuchs zum großen Teil aus denselben Pflanzen zusammengesetzt findet, welche auch im Buchenwald Norddeutschlands vorkommen. Neben solchen kon- stanten Buchenbegleitern findet man allerdings auch noch andere, welche auf die einzelnen Gebiete beschränkt sind und bisweilen auch solche, welche dem Wald einen etwas anderen Charakter, eine andere Facies verleihen. Auch in den Tropen kann man häufig nach dem Roden und Abbrennen eines Waldes, nach dem Auflassen von Kulturen an den sich selbst überlassenen Stellen eine regelmäßige Aufeinanderfolge von verschiedenen Assoziationen wahrnehmen, welche die Abhängigkeit derselben voneinander dartut. St. Hilaire hat geschildert, wie solcher Formationswechsel in Südbrasilien vor sich geht. Nach dem Abbrennen eines Urwaldes erscheint sofort eine neue Gebüschformation, nach dem Abbrennen dieser in Menge Pieris caudata. Danach erscheint das klebrige, alle anderen Gewächse verdrängende Gras Melinis minutiflora. Nach- dem diese Pflanze eine mehrere Fuß dicke Schicht gebildet hat, verhindert diese selbst ein weiteres Aufsprossen des Grases, und bald treibt neues Gebüsch hervor, dessen Beschattung ein weiteres Zurückweichen des Grases zur Folge hat. Binnen Io Jahren sind dichte Gebüsche, die Capoeirasentstanden, welche sich vorzugsweise aus der Gattung Baccharis zusammensetzen. Unter ihrem Schutze entwickeln sich aber wieder die Baumarten, welche den ersten Wald zusammensetzten. Im allgemeinen ist zu bemerken, daß gegenwärtig die meisten Formations- änderungen durch das Eingreifen des Menschen in die natürlichen Verhält- nisse hervorgerufen werden. Vollständig unabhängige Formationsbildungen, bei denen auch mehr oder weniger Abhängigkeit der später folgenden Pflanzen von den ersten Ansiedlern hervortritt, kann man gegenwärtig fast nur ver- folgen bei Verlandungen von Gewässern, bei der Bildung von Flußauen, bei der Entwicklung von Geröllfluren in den Hochgebirgen, bei der Besiedelung von neuen vulkanischen Bildungen. Wo sich Gelegenheit zur Beobachtung der letzteren bietet, da sollte rechtzeitige Aussendung von Beobachtern nicht versäumt werden. g) Lage und Beschaffenheit des Wohngebietes. Daß die geographische Lage eines Gebietes den größten Einfluß auf die Zusammensetzung seiner Flora und den Vegetationscharakter haben muß, ist selbstverständlich. Mehr aber noch als die geographische Breite ist von Wich- tigkeit, ob das Gebiet im Meer isoliert, einem Meer benachbart oder mitten in einem Kontinent liegt. Bei allen Waldgebieten ist von großer Bedeutung, ob ihnen Steppengebiete benachbart sind, von denen aus bei Schädigung einzelner Teile des Waldes Steppenpflanzen eindringen können. Es sind auch wichtig die großen Flußläufe, deren Täler vielfach bequeme Eingangspforten für die Einwanderung der Pflanzen aus anderen Gebieten darstellen. Vögel und andere Tiere folgen gern den Flußläufen bei ihren Wanderungen und verschleppen Samen, wie auch die Flüsse selbst und die in ihnen wehenden Winde. Von Norden nach Süden verlaufende Flußtäler begünstigen im allgemeinen eine Exogene Faktoren. Lage, Beschaffenheit und Vergangenheit des Wohngebietes 245 stärkere Einwanderung, als von Ost nach West sich erstreckende; aber auch letztere können von großer Bedeutung sein, wenn sie z. B. wie die Donau vom Waldgebiet in das Steppengebiet übergehen und aus dem letzteren Pflan- zen nach ersterem vordringen können. Ebenso ist eine häufige Erscheinung, daß von benachbarten Gebirgsländern her die dort entspringenden Flüsse Ge- birgspflanzen in die unteren Regionen hinabbringen. Wesentlich wird die Vegetation eines Landes bedingt durch die in dem- selben vorhandenen Erhebungen. Je bedeutender dieselben sind, desto mannig- facher ist die Vegetation, und zwar ist dies in den wärmeren und temperierten Zonen mehr der Fall als in den arktischen, da in letzteren die tiefe Lage der Schneegrenze den Raum für die Höhenregionen stark zusammendrückt. Aber auch in den tropischen Ländern entwickeln sich in derselben Höhe, welche in einem Gebirgsland der gemäßigten Zone eine große Mannigfaltigkeit von Vegetationsregionen bewirkt, nicht so verschiedenartige Höhenstufen, da die vertikale Ausdehnung der einzelnen Höhenstufen eine größere ist. Von der Mächtigkeit der Gebirge und deren Schneebedeckung im Winter, noch mehr von ihrer Vergletscherung ist auch abhängig die Bewässerung der unteren Re- gionen und damit die Entwicklung hydrophiler Formationen. Es ist ferner für den Vegetationscharakter sehr wichtig, ob die Gebirge einzelne Kegelberge, schmale Kämme oder massige Bildungen sind. Je massiger ein Gebirgssystem ist, desto größer ist der Unterschied der Vegetation im Norden und Süden desselben. Je höher die Gebirge sind, desto höher steigen auch unter annähernd gleicher Breite die Regionen hinauf. Dann ist von Wich- tigkeit die Erosion und Zerklüftung des Gebirgslandes, weil mit der Steigerung dieser beiden die Mannigfaltigkeit der Vegetationsbedingungen ebenfalls zu- nimmt. Sehr einflußreich ist endlich die Richtung eines Gebirgszuges und sein Zu- sammenhang mit anderen Gebirgssystemen. h) Vergangenheit des Wohngebietes. Ein sehr bedeutungsvoller, die Flora eines Landes bedingender Faktor ist dessen Vergangenheit. Vor allem handelt essich darum, ob ein Gebiet Neuland ist oder ein altes Festland, welches verschiedene Phasen durchgemacht hat. Gebiete, welche während der Glazialperiode ganz von Eis und Schnee bedeckt waren oder in jüngerer Zeit von vulkanischer Asche bedeckt wurden, verhalten sich wie Neu- land. Die Mannigfaltigkeit der Flora eines Gebirgslandes ist in hohem Grade ab- hängig von seinem Alterund von der Ausdehnung seiner ehemaligen Vergletsche- rung. Alte hohe Gebirgsländer, welche nicht oder nur teilweise vergletschert waren, tragen eine an Endemismen reiche Flora; jüngere Vulkane zeigen in ihren oberen Regionen eine arme Flora und fast gar keine Endemismen. Ebenso sind diejenigen Gebirgssysteme, welche, wie die Berner Alpen und die Mont- blanc-Kette, besondersstark vergletschert waren, arm an Arten und namentlich an Endemismen. Es kommt ferner nicht nur die gegenwärtige Lage in Betracht, sondern auch, welche Verbindungen früher mit anderen Ländern bestanden. Erhebungen. Vergangenheit der Wohn- gebiete, wichtig für ihre gegen- wärtige Flora. 246 A. ENGLER: Pflanzengeographie Die vor noch nicht zu langer Zeit, wenn auch immer in vorhistorischer, mit dem kontinentalen Europa verbundenen Inseln Großbritanniens sind arm an Ende- mismen, die wahrscheinlich nie oder höchstens in ferner Zeit mit dem Fest- land verbunden gewesenen Kanarischen Inseln sind sehr reich an solchen. Eben- so verhalten sich dieSandwich- Inseln, dieGalapagos- Inseln, Juan-Fernandez u.a. Aber auch kontinentale Gebiete können sich wie alte Inseln verhalten, wenn sie von den Nachbargebieten klimatisch isoliert sind, wie z. B. das an Ende- mismen ungemein reiche südwestliche Kapland im Gegensatz zum benach- barten tropischen Afrika. Nicht gleichgültig sind auch, wenigstens für die Ruderalflora, die Gebiete, von denen aus ihre Besiedelung durch Menschen und Haustiere erfolgte. III. Pflanzengeographische Formationen. Pflanzengeogra- Bei den Beratungen des III. internationalen Botanischen Kongresses in nen Brüssel I9IO hat folgende Definition viel Zustimmung gefunden: Unter einer Gationen WVegetationsformation versteht man den gegenwärtigen Ausdruck be- stimmter Lebensbedingungen. Sie besteht aus Associationen, welche in ihrer floristischen Zusammensetzung verschiedensind, aber in erster Liniein den Stand- ortsbedingungen, in zweiter in ihren Lebensformen übereinstimmen. Bisweilen, aber selten sind die Formationen nur von einer Art von Gewächsen gebildet, in der Regel aber aus mehreren, welche teils gleiche, teils verschiedene Anforde- rungen an Nährstoffe und Licht stellen (ungleichartige Kommensalen). Die Aus- nutzung des in einer Formation gegebenen Raumes wird um so vollkommener sein, je mehr verschiedene Anforderungen von den ungleichartigen Kommensalen gestellt werden. Nicht selten wird man in einer Formation kleinere Pflanzen- gemeinden finden, welche sich nach bestimmten physikalischen Verhältnissen, nach Nährstoffen, Feuchtigkeit und Belichtung sondern; dies sind die Asso- ciationen. Im Abschnitt B. II wurde versucht, die Bedeutung der einzelnen Fak- toren für die Pflanzenverbreitung hervorzuheben. Die Gesamtwirkung dersel- ben spricht sich aus in der Physiognomie einer Pflanzengemeinde, welche auch von dem nicht pflanzenkundigen Laien, von dem malenden Künstler ober- A. belt flächlich erfaßt werden kann. A. v. Humboldts Versuch, die große Mannig- Physiognomische faltigkeit der Pflanzenformen auf wenige (17) Grundgestalten zurückzuführen, Grundgestalten. war unzulänglich, und Grisebach sah sich schon genötigt, dieselben erheblich (auf 60) zu vermehren; aber auch seine mit der wissenschaftlichen Gruppierung der Pflanzen im Widerspruch stehende physiognomische Einteilung derselben hat nicht Anklang gefunden, auch nicht bei den Biologen, welche vorzugsweise das Verhalten der Vegetationsorgane unter verschiedenen Existenzbedingungen im Auge behalten. Eine große Schwierigkeit liegt darin, einen Pflanzentypus mit einem Wort zu bezeichnen, wenn nicht der Wachstumsmodus durch eine systematisch einigermaßen einheitliche Gruppe von Pflanzenformen repräsen- tiert wird, wie z. B. bei den Baumfarnen. Hingegen wird man selbst mit den Worten Gras und Palme nicht einen Pflanzentypus bezeichnen können; denn . TEE 3 Pflanzengeographische Formationen 247 die Wachstumstypen der Palmen und erst gar die der Gräser sind recht ver- schiedenartig. In dem Abschnitt A. III 3 wurde schon erwähnt, daß Warming ein System!) von Wuchsformen aufgestellt hat, welches von ihm bei der Schilde- rung der Pflanzengemeinden oder der Vegetationsformationen angewendet wird. Mehrere der von Warming aufgestellten Gruppen von Lebensformen um- fassen recht verschiedene Typen, wie z. B. die Rosettenpflanzen, und man hat, wenn man die Pflanzen einer Formation oder einer Gegend nach diesen Typen ordnen will, oft wieder noch weitere Beschreibungen nötig. Da in der physio- gnomischen Darstellung der Totaleindruck wiedergegeben werden soll, so ist es in der Regel zweckmäßig, möglichst allgemeinverständliche Bezeichnungen zu gebrauchen, wie es meist bei Vegetationsschilderungen geschieht und wie sie auch Drude empfohlen hat, aber mit einigen Abänderungen: Bäume !) Dieses System ist im Auszuge folgendes: ı. Heterotrophische Wuchsformen. — Holosaprophyten und Holoparasiten, welche von Autophyten abstammen und mehr oder weniger degeneriert sind. 2. Aquatische Wuchsformen., 3. Moosartige Wuchsformen, wie die folgenden befähigt, Wasser fast ganz zu verlieren und rasch wieder zu ersetzen. 4. Flechtenartige Wuchsformen. 5. Lianenartige Wuchsformen, immer abhängig von den Pflanzengemeinden, in denen sie vorkommen. 6. Alle übrigen autonomen Landpflanzen. I. Monokarpische Kräuter. a) Sommerliche Einjährige. b) Winterliche Einjährige. Im Herbst keimend. c) Zwei- bis mehrjährige Kräuter, welche in der ersten Vegetationsperiode oder mehreren aufeinanderfolgenden Grundblattrosetten entwickeln und in der folgen- den blühen. II. Polykarpische Pflanzen, a) Redivive Kräuter. Erneuerungssprosse, in der Ruheperiode durch Schuppen- blätter geschützt. a) Kräuter mit vielköpfigem Rhizom, rasig. ß) Matten-Geophyten, mit Stengel oder Wurzelknollen oder Zwiebeln, meist ın warmem, trockenem Land. Epigäische vegetative Sprosse mit langen Interno- dien oder einer Rosette. y) Wandernde Geophyten, mit horizontalen, unterirdischen, verzweigten Sprossen. In lockerem Dünenboden, Waldboden, Sumpfboden. b) Rosetten-Pflanzen. Von großer Mannigfaltigkeit in offenen Formationen, in arktischen und alpinen steinigen Triften, auf Felsen wärmerer Gebiete. Warming schließt hieran auch die Schopfbäume, wie Yucca, Xanthorrhoea, Dracaena, Pal- men, Cycadeen und die Musa mit ihrem von Blattscheiden gebildeten Schein- stamm. e)Krleicher: d) Landpflanzen mit längeren, aufrechten, langlebigen Sprossen. Hier- her gehören die Polsterpflanzen, Halbsträucher und Schößlingssträucher; aber auch die weichstämmigen Pflanzen (tropische Waldpflanzen und Epiphyten), die Stamm- succulenten und die Holzgewächse mit langlebigen holzigen Stämmen, die Wipfel- bäume und -sträucher, auch die Bambusen und laubblattlosen Sträucher. Warmings Wuchsformen. Gebräuchliche Bezeichnungen der Lebensformen. Beschreibung von Formationen. 248 A. ENGLER: Pflanzengeographie (sommergrüne, regengrüne oder laubwerfende, immergrüne oder dauerblättrige, hartlaubige, Wipfelbäume, Schopfbäume); Sträucher (dieselben Typen; aber auch noch Rutensträucher, Dornsträucher); holzige Lianen, Kletterpflanzen, Spreizklimmer; Stammsucculenten, Blattsucculenten; Halbsträucher; Epiphy- ten; Stauden, welche man nach der von Raunkiaer vorgeschlagenen Klassi- fikation differenzieren kann; Knollen- und Zwiebelgewächse; krautige Schling- pflanzen; zwei- und einjährige Kräuter ; Wurzelparasiten und Stammparasiten; schwimmende und untergetauchte Wasserpflanzen. Immer aber wird es sich empfehlen, bei den krautigen Pflanzen die Gräser (auch wieder mit Angaben über ihre Wuchsform) und Farne abzusondern. Bei den Moosen und Flechten wird man die Boden und Steine bewohnenden von den epiphytischen zu sondern und ebenso bei den Pilzen saprophytische und parasitische zu unterscheiden haben. Mit Feststellung der Lebensformen einer Vegetation darf man sich nicht begnügen, sondern man muß auch die systematische Stellung der Kom- ponenten ermitteln. Leider trifft bei so vielen Reisenden, auch bei geographische Zwecke verfolgenden, nicht zu, was Ch. Darwin fordert: „A traveller should be a botanist“. Will man eine Formation beschreiben, so wird man immer, wenn sie keine offene (Fels, Geröll, Wüste, Düne) ist, zunächst berücksichtigen, welche Pflanzentypen in ihr die herrschenden sind, ob sie den Waldformationen oder anderen Gehölzformationen oder den Grasfluren zugehört, den beiden Gegensätzen unter den geschlossenen Formationen. Bei den Waldformationen wird man die herrschenden Baumformen hervorheben, deren Arten oder deren Mischung den Charakter des Waldes bestimmen; man analysiert dann den von Gesträuchen gebildeten Unterwuchs, und führt etwa vorhandene Lianen und Kletterpflanzen, sowie die Epiphyten und Stammparasiten an. Schließlich er- mittelt man die Bestandteile des Niederwuchses und sondert hierbei Farne, Gräser, Knollen- und Zwiebelgewächse, Stauden, die man noch weiter ein- teilen kann, Saprophyten und Wurzelparasiten. Bei den Grasformationen beginnt man mit den herrschenden Gräsern und anderen Hauptbestandteilen, welche zunächst ins Auge fallen; dann geht man zu den Nebenbestandteilen über und sondert diese in Seggen, Binsen und andere rasenbildende Mono- cotylen, Zwiebel- und Knollengewächse, andere Stauden, zwei- und einjährige Pflanzen, Moose, Flechten und eventuell Algen. Zur vollkommenen Schilderung einer Formation gehört auch, daß man ihr Aussehen zu verschiedenen Jahres- zeiten, im Frühjahr und Sommer oder Herbst berücksichtigt. Bei den Formationsschilderungen kann man zur Charakterisierung der Arten sich auch folgender Zeichen bedienen, welche die Hauptwuchsformen andeuten: BD Baum, DStrauch, b Zwergstrauchh, Ob Schößlingsstrauch, & holzige Liane, 5 krautige Schlingpflanze, Ss Kletterstrauch, 9 peren- nierende Staude, SZwiebelgewächs, L,Knollengewächs, (@) einjährige Pflanze, @) überwinternde einjährige, im Herbst keimende, im Frühjahr blühende Pflan- ze, O) @& zweijährige Pflanze. Um die Dichtigkeit des Vorkommens zu bezeichnen, wendet man folgende Termini.an: soc. = plantae sociales, gesellig auftretende Hauptarten des Be- Formationen der tropischen und subtropischen Zonen 249 standes; greg. — pl. gregariae, herdenweise im Bestand auftretende Haupt- arten; cop. = pl. copiosae, eingestreut auftretende, je nach dem Grade der Häufigkeit cop.?, cop.?, cop.!; spars. = pl. sparsae, vereinzelt auftretende Neben- bestandteile; sol. = pl. solitariae, selten auftretende. Schließlich möge eine Übersicht über die wichtigsten Pflanzenformationen folgen, aus der zu ersehen ist, worauf bei Unterscheidung derselben Wert zu legen ist. Von einer ausführlichen Charakterisierung muß natürlich abgesehen werden. I. Formationen der tropischen und subtropischen Zonen. A. Halophile Formationen. A! Meeresformationen oder Enalidenformationen. I. stark salz- haltige; a) Plankton. — b. Benthos; a) elitorale Felsenformation in größerer Tiefe, nur mit Rotalgen; ß) untere litorale Felsenformation mit Florideen; \ untere litorale Felsenformation mitSargassum (Sargassumformation); d) untere litorale Felsenformation mit Corallinaceen (Corallinaceenformation); e) obere litorale Kalksandformation mit Caulerpa; @ obere litorale Felsenformation; n Spritzwasserformation. — II. Brackwasserformation. A? Litorale: a) Mangrove; a) äußere; ß) innere. — b )Strandgehölz. — c) Krautformation des sandigen Strandes. — d) Strandfelsen. — e) Überschwem- mungsland der Küste. A?’ Im Binnenlande: a) Salzsteppe oder Salzwüste. — b) Salzsumpf. — c) Salzsee. B. Hydatophile (Hydrophile) Formationen. B! Die Pflanzen größtenteils unter Wasser oder schwimmend, a) Hydrocharitenformation; a) nährstoffarmer stehender Gewässer, z. B. flacher periodischer Tümpel; ß) nährstoffreicher stehender Gewässer. b) Plankton; a) stehender nährstoffarmer Gewässer; ß) stehender nähr- stoffreicher Gewässer (schließt ein die saprophilen Flagellatenverei- ne); y) Flußplankton. c) Formation heißer Quellen (mit Schizophyten). d) Abwässerformation (von niederen Saprophyten gebildet). e) Limnaeenformation; a) des nährstoffarmen stehenden Wassers (boden- ständig, aber untergetaucht oder mit Schwimmblättern, in Mooren der Hochgebirgsregion); ß) des nährstoffreichen stehenden Wassers; y) des fließenden Wassers (Podostemonaceen, Hydrostachydaceen); d) der Gebirgsbäche (Wassermoose). B®? Die Pflanzen unter Wasser wurzelnd, aber mehr oder weni- ger über dasselbe hervorragend (Helophyten). Sumpf; oa) Formation der gemischten Sumpfpflanzen (vielartiger Sumpf), I. der Ebene, II. der montanen Region, III. der subalpinen Region, IV. der alpinen Region; ß) gleichartiger Sumpf (nach der herrschenden Art zu benennen, z.B. Papyrussumpf, Araceensumpf, Scitamineensumpf, Palmiettsumpf etc.); Englers Über- sicht der Pflanzen- formationen. 250 A. ENGLER: Pflanzengeographie y) Quellensümpfe, I. der Ebene, II. der montanen, III. der subalpinen und IV. der alpinen Region, mit oft eigenartiger Vegetation wegen des immer frischen Wassers. B®? Die Pflanzen mit den Wurzeln das Grundwasser erreichend, aber mit dem unteren Teil des Stammes und dem oberen der Wurzeln in trockenerer Erde. a) Baumloses Alluvialland; a) regenreicher und sehr warmer Gebiete; ß) regenreicher und mäßig warmer Gebiete; y) regenarmer und sehr warmer Gebiete; d) regenarmer und mäßig warmer Gebiete;— y) und d), des Vergleiches halber hier angeführt, sind subxerophil. b) Alluvialwald oder Galeriewald; «) regenreicher und sehr warmer Ge- biete in der äquatorialen Zone, I. mit Palmen, II. mit riesigen diko- tylen Bäumen, viel Lianen und Epiphyten, sowie mit vielen humus- liebenden Schattenpflanzen; ß) regenreicher und mäßig warmer Ge- biete außerhalb der äquatorialen Zone, mit wenigen Palmen und ge- ringerer Mannigfaltigkeit der dikotylen Bäume, Lianen und Epiphy- ten, auch nicht sehr mannigfachem Niederwuchs; y) regenarmer und sehr warmer Gebiete, mit wenig dikotylen Bäumen, wenig Lianen, meist ohne Epiphyten und mit sparsamem Niederwuchs; d) Alluvial- wald und Uferwald, Ufergehölz regenarmer und mäßig warmer Ge- biete, mit wenig Baumarten, meist Leguminosen, deren tiefgehende Wurzeln immer Grundwasser erreichen, ohne Lianen und Epiphyten, oft auch ohne Niederwuchs; — y) und d), des Vergleiches halber hier angeführt, sind mehr subxerophil. C, Hygrophile megatherme Formationen. a) Unterster immergrüner Regenwald; a) primärer; ß) natürliche Lich- tungen und Bachufer; y) sekundärer. b) Mittlerer immergrüner Regenwald, in den äquatorialen Gegenden meist um 6—700 m über Meer beginnend ; — a) Hängewald, I.primärer, II. sekundärer; ß) natürliche Lichtungen und Bachufer; y) Schluchten. c) Oberer immergrüner Regenwald, in den äquatorialen Gegenden ober- halb 1000— 1100 m; — oa) Hängewald; ß) natürliche Lichtungen und Bachufer; y) Schluchten; d) mit Exposition gegen trockenere Winde. D. Hygrophile mesotherme Formationen. a) Oberer Bambuswald. — b) Höhenwald oder Nebelwald. — c) Hoch- gebirgsbachufer zwischen und über den Höhenwäldern. — d) Feuchtes Hoch- weide- und Bergwiesenland. E. Subxerophile Formationen. Et Baumformationen der Ebene und des Hügellandes. a) Parkartige Gehölze in den unteren Regionen. — b) Mehr oder weniger dichte Macchia mit hartlaubigem Gehölz. — c) Trockenwald, in welchem neben laubwerfenden Gehölzen auch solche mit immergrünem Laub vorkommen. — d) Trockenes Buschgehölz der Ebene. — e) Palmenhaine. Formationen der tropischen und subtropischen Zonen 251 E? Grasformationen der Ebene. a) Offene subxerophile Grassteppe; «) Niedergrassteppe; ß) Hochgras- steppe; y) Hochgrassteppe des höheren Gebirgslandes. — b) Formation winter- feuchter, blumenreicher Ebenen, subtropisch. E3 Buschformationen der Gebirgsländer. a) Buschgehölz des rot- erdigen Vorlandes. — b) Buschgehölz des schwarzerdigen Vorlandes. — c) Ge- birgsbusch; a) dichter primärer; ß) Lichtungen; y) sekundärer Gebirgsbusch.— d) Bergheide. — e) Gebirgsbuschsteppe. —f) Gebirgsbaumsteppe. — g) Trocke- ner Höhenwald. E* Pteridium-Formationen. a) Primäre Pteridium - Formation. — b) Sekundäre Pteridium-Formation. E35 Steinige und felsige Formationen, nebst anderen Forma- tionen des oberen Gebirgslandes. a) Kahle, steinige Bergkuppen und Abhänge. — b) Steinige Abhänge. — c) Trümmerfelder von großen und kleinen Felsblöcken. — d) Sonnige flache oder leicht gewölbte, rissige Felsen in der Gebirgsbusch- und -baumsteppe. — e) Trockenes Gebirgsweideland oder Hoch- gebirgssteppe. — g) Oberste Buschgehölze steinigen Bodens. — h) Oberste Schopfbaumformation. —i) Subalpine Zwergbüsche. — k) Oberste alpine Berg- wiesen. — 1) Alpines Geröll mit Siphonogamen und Pteridophyten. — m) For- mation der höchsten Gipfel mit Moosen und Flechten. F. Xerophile Formationen. a) Sandwüste (Sandwüstensteppe) mit ganz vereinzelten Pflanzen. — b) Succulentensteppe (Wüstensteppe mit einzelnen Succulenten). — c) Stein- wüste (Steinsteppe) mit Milchbusch. — d) Wüste oder Wüstensteppe mit Halb- sträuchern. — e) Halbstrauchsteppe. — f) Wüste (Wüstensteppe) mitSträuchern oder kleinen Bäumen; oa) mit Rutensträuchern ;ß) mit vereinzeltenkleinblättrigen Bäumen und Sträuchern; y) mit Dornsträuchern. —g) Immergrüne Dornbusch- steppe. —h) Steinsteppe mit baumartigen Monocotyledonen oder Kandelaber- bäumen; oa) Aloe-Steppe; ß) Drachenbaum-Steppe; y)laubwerfende Dornbusch- steppe. —i) Grasarme Obstgartensteppe.—k) Gemischte Dorn-und Buschsteppe. — |) Dürftige xerophile Grassteppe. — m) Grassteppe mit xerophilen Halbsträu- chern.—n) Grassteppe mit Dornsträuchern.—o) Grassteppe mit Dornbusch und kleinerem laubwerfenden Gehölz (gemischte grasreiche Dorn-und Buschsteppe). — p) Offene xerophile Grassteppe; a) xerophile Niedergrassteppe; ß) xerophile Hochgrassteppe. — q) Buschgrassteppe.—r) Baumgrassteppe oder offene Baum- steppe. — s) Busch- und Baumgrassteppe mit zum Teil breitlaubigen, meist laubwerfenden Gehölzen. Parksteppe. 2. Formationen der gemäßigten und kalten Zonen. A. Halophile Formationen. A! Meeresformationen oder Enalidenformationen. I. stark salzhaltige: a) Plankton. — b) Benthos; a) elitoraler toter Grund) mit Bakte- ı) A. Engler: Über die Pilz-Vegetation des weißen oder toten Grundes in der Kieler Bucht (Ber. d. Komm. z. wiss. Unters. Deutscher Meere VII-XI. p. 187. 252 A. ENGLER: Pflanzengeographie rien; ß) elitorale Felsenformation in größerer Tiefe, nur mit Rotalgen; Y) untere litorale Felsenformation mit Florideen; d) untere litorale Felsenformation mit Phaeophyceen; e) untere litorale Seegrasformation; Z) obere litorale Riesentang- formation, in indischen Meeren mit Individuen von I00—300 m Länge (Macro- cystis, Lessonia, Durvillaea); n) obere litorale Fucaceenformation; #) obere lito- rale Ulvaceenformation; ı) Spritzwasserformation. — Il. Brackwasserformation. A? Eulitorale Formationen. I]. Mit tonigem Substrat: a) Watten- formation mit Salicornia. — b) Niedere Strandwiese. — c) Höhere Strand- wiese. — d) Marschwiese (künstliche, infolge von Eindeichung). — II. Mit sandigem Substrat: e) Sandige Strandformation. — III. mit felsigem Substrat: f) Strandfelsenformation. A®? Halophile Binnenlandsformationen. a) Salzsumpf. — b) Salz- wüste (auf tonigem, schlammigem Boden). — c) Salzsteppe. — d) Schuppen- blättriges Halophytengehölz von Tamarisken; ist mehr subtropisch. B. Hydatophile (Hydrophile) Formationen. B! Die Pflanzen größtenteils unter Wasser oder schwimmend. a) Hydrocharitenformation; a) nährstoffarmer stehender Gewässer; ß) nähr- stoffreicher stehender Gewässer. — b) Plankton; a) stehender nährstoffarmer Gewässer; ß) stehender nährstoffreicher Gewässer (schließt ein die saprophilen Flagellatenvereine); y) Flußplankton. — c) Formation heißer Quellen (Schizo- phyten). — d) Abwässerformation (von niederen Saprophyten gebildet). — e) Limnaeenformation; o) des nährstoffarmen Wassers (bodenständig, aber un- tergetaucht oder mit Schwimmblättern, in Heidemooren, Tümpeln und Seen, in verschiedenen Facies und Associationen); ß) des nährstoffreichen Wassers; y)des fließenden Wassers; d) der Gebirgsbäche (Wassermoose, Hydrurus). — f) Gla- ziale Algenformation (von Diatomeen besetztes ‚Pfannkucheneis‘‘, — Brauner Schnee, Roter Schnee, Gelber Schnee, Grüner Schnee). B® Die Pflanzen unter Wasser wurzelnd, aber mehr oder weniger über dasselbe hervorragend (Helophyten). a) Sumpf; a) Forma- tion der gemischten Sumpfpflanzen (vielartiger Sumpf), I. der Ebene, II. der montanen Region, III. dersubalpinen Region, IV. der alpinen Region; ß) gleich- artiger Sumpf, nach der herrschenden Art zu benennen, z. B. Rohrsumpf, Phragmitetum, Typhetum, Scirpetum, Eriophoretum, Caricetum. (Da es sehr viele Carices gibt, so wird zur genaueren Bezeichnung der Speciesname im Genetiv hinzugefügt, z. B. Caricetum ripariae, vesicariae, strictae usw.); y) Quel- lensümpfe, I. der Ebene, II. montanen, III. subalpinen und IV. alpinen Region. B°’Die: Pilänzen. mit ‘den Wurzeln das Grundwasserzerget- chend, aber ihre Sprosse am Grunde nur zeitweise von Wasser umgeben. Viel Humussäuren im Boden. a) Wiesenmoor (Sumpfmoor, Grünlandmoor, Saure Wiesen). Von großer Mannigfaltigkeit und wie die Süßwassersümpfe nach den herrschenden Gat- tungen und Arten zu benennen. — b) Moorsumpf, besonders in arktischen Län- dern und in der Nähe von alpinen Gletschern. — c) Sphagnumtundra nordischer Formationen der gemäßigten und kalten Zonen 253 Gebiete, bei geringer Luftwärme langsam wachsend. — d) Sphagnummoor oder Heidemoor (nährstoffarm), verschiedene Facies in den nördlichen Erdteilen. — e) Waldmoore. — f) Knieholzsumpf (die hier vertretene Pinus montana kommt allerdings auch auf Felsen vor). — g) Kiefernmoor Nordamerikas (Pinebarren- Swamp) mit Pinusrigida, Quercusnana u. phellos sowie Ericaceen. — bh) Sumpf- gebüsch; a) gemischtes; ß) homogenes, z. B. Saliceten. —i) Subalpines Sumpf- gebüsch; a) subalpines Salicetum; ß) Grünerlengebüsch. — k) Hochstauden- flur der Gebirge. — I) Sumpfwälder; a) Erlenbruch; ß) Sumpflärchenwald, Tamarack-Swamp der nordamerikanischen Seenprovinz mit Larix americana und Abies balsamea; x) Sumpfcypressenwald des atlantischen Nordamerikas mit dem laubwerfenden Taxodium distichum; d) Sumpfwald mit T’huja occı- dentalis (Ceder-Swamp) in der Seenprovinz des atlantischen Nordamerikas; e) Sumpfkiefernwald mit Pinus palustris im südlichen atlantischen Nord- amerika; Z) Sumpffichtenwälder in Nordrußland. C. Hygrophile Formationen. a) Immergrüner antarktischer Wald des südlichen Chile, Neu-Seelands, Tasmaniens. Bei allmonatlichem Regen und niederer Temperatur (Jahres- mittel in Chile 5—7°C) erhält sich ein üppiger immergrüner kleinblättriger Buchenwald mit Lianen, mannigfachem Unterwuchs und Epiphyten. — b) Pacifischer Coniferenwald des Puget-Sound-Cascaden-Bezirks. — c) Immer- grüner Wald des Alleghany-Gebirges. — d) Laubwerfender Küstenwald des westlichen Irlands. — e) Mischlaubwald des Rion-Beckens oder kolchischer Mischlaubwald. — f) Unterer Mischlaubwald des Talysch. D. Subxerophile Formationen. D! Wald- und Buschformationen. I. Humusarme: a) Laubwerfender Trockenwald der Ebene: Birkenwald, Eschenwald, Buchenwald auf Rohhumus. — b) Auenwald auf Flußgeröll. — c) Auengebüsch auf Flußgeröll. — d) Laubwerfender Hängewald; a) Eichen- wald; ß) Kastanienwald. — e) Buschgehölz trockener Hänge. — f) Trockener Fichtenwald im Gebirgsvorland und im Gebirge. — g) Lärchenwald. Il. Humusreiche: a) Humusreicher Eichenwald. — b) Humusreicher Bu- chenwald. — c) Humusreicher Tannenwald. — d) Humusreicher Voralpen- wald. — e) Humusreicher Fichtenwald des Gebirges. — f) Humusreicher Arven- wald. — g) Alpenrosengebüsch. — h) Zwergmispelgebüsch. D®? Halbstrauchformationen. a) Südwesteuropäische Heideformation mit Erica-Arten, Daboecia, Ulex, Pteridium. — b) Bergheide der Alpenländer und anderer europäischer Hoch- gebirge (mit Erica herbacea oder Bruckenthalia). — c) Arktische Zwergstrauch- heide mit Phyllodoce, Cassiope, Vaccinium, Diapensia. — d) Alpine Zwerg- strauchheide. D® Baum- und strauchlose Formationen. a) Wiesen der Ebene. — b) Hochstaudenflur der Ebene. — c) Heide- wiesen des Alpenvorlandes. — d) Trockene Bergwiesen. — e) Alpenmatten. — Florenreiche und Florengebiete. 254 A. ENGLER: Pflanzengeographie f) Arktische Krauthalde. — g) Adlerfarnformation. — h) Schattige Felsen der montanen, subalpinen und alpinen Region. — i) Geröll mit feuchtem Unter- grund. — k) Hochalpine Moos- und Flechtenformation. E. Xerophile Formationen. a) Sonnige Felsen der montanen Region. — b) Sonnige Felsen der sub- alpinen Region. — c) Sonnige Felsen der alpinen Region. — d) Arktische Felsenflur. — e) Trockenes Geröll der montanen Region. — f) Trockenes Ge- röll der subalpinen Region. — g) Trockenes Geröll der alpinen Region. — h) Trockene Moosheide. — i) Flechtenheide. — k) Zwergstrauchheide von Calluna. — 1) Zwergstrauchheide von Arctostaphylos. — m) Sandflur. — n) Binnendüne. —o) Grassteppe. —p) Krautsteppe oder Prärie. —q) Trift. — r) Steinsteppe. — s) Dornbuschsteppe. — t) Dornbusch von Hippophae. — u) Wacholderbuschformation. — v) Arvenstrauchformation. — w) Trockener Kiefernwald. IV. Übersicht über die Florenreiche und Florengebiete der Erde 1. Nördliches extratropisches oder boreales Florenreich (auch als Holarktis bezeichnet). A. Arktisches Gebiet. Herrschend das arktisch-nivale Element, hier und da sparsam vertreten das arkto-tertiäre Element. Die früher ziemlich allgemein vertretene An- schauung, daß die arktische Vegetation hauptsächlich dem Schneeschutz ihre Existenzmöglichkeit verdanke, ist aufgegeben. Vielmehr ist es lediglich die Unempfindlichkeit des Protoplasmas der arktischen Pflanzen gegen Kälte, welches dieselben den Winter überdauern läßt; denn dieselben sind oft einige Wochen ohne Schneeschutz großer Kälte und austrocknenden Winden ausge- setzt. Während 8—10 Monaten erfolgt keine Wasseraufnahme, und im Sommer bewirkt das kalte Bodenwasser langsame Wasserbewegung, die herrschende Trockenheit der Luft aber starke Verdunstung. Eine Folge hiervon ist, daß die Blätter der arktischen Pflanzen in der Flächenentwicklung meistens zu- rückbleiben, daß bei der Verkürzung der Internodien die Blätter dicht stehen und die Pflanzen oft halbkugelige Polster bilden. Ferner konnten hartlaubige Pflanzen und solche mit zusammengerollten Blättern sich im trockenen ark- tischen Klima erhalten. Moose und Flechten mit eingestreuten Blütenpflanzen bilden die herrschende Formation der Tundra, während auf den Felsenfluren oder Fjelden mehr zerstreute Blütenpflanzen, kleine Gräser, Cyperaceen, Juncaceen, Caryophyllaceen, Compositen, Coniferen, Papaver nudicaule, Poly- gonum viviparum, Pirola rotundifolia, Sedum rhodiola, Ranunculus, Potentilla, Saxtfraga, Pedicularis und kleine Zwergsträucher (Funiperus communis nana, Salix, Betula nana, Empetrum, Diapensia, Dryas, Cassiope, Arclostaphylos alpina, Loiseleuria, Phyllodoce coerulea, Vaccinium) vorkommen. In den süd- licheren Teilen der Arktis sind diese Zwergsträucher zu zusammenhängenden, Übersicht über die Florenreiche und Florengebiete der Erde 255 oft weite Gebiete bedeckenden Zwergstrauchheiden vereinigt. Auch Moor- sümpfe, in welchen die Blütenpflanzen zurücktreten, kommen vor. Im Hinter- grund der Fjorde finden sich an geschützten Stellen oft auffallend üppige Krautfluren neben der Zwergstrauchheide. Die mitunter außerordentlich starke Erwärmung des Bodens (Kjellman notierte am 8. Juli 1879 vormittags IO Uhr bei 6,8°C Lufttemperatur im Boden bei IO cm Tiefe 23° C) bedingt oft sehr rasche Entwicklung eines reichen Blütenflores. Im allgemeinen wird aber da, wo die Temperatur anhaltend niedrig ist, die Entwicklung der einzelnen Arten sehr reduziert, so daß z. B. in Spitzbergen 25 % der dort vorkommenden Arten nicht zur Fruchtbildung gelangen, einzelne nicht einmal blühen. Die meisten der oben angeführten Gattungen und Arten sind circumpolar; viele erstrecken sich auch von der Arktis auf die meridionalen Gebirge südwärts, nach Süden zu immer höher aufsteigend, und viele finden sich auch in der alpinen Region der mitteleuropäischen und zentralasiatischen, von Ost nach West streichenden Gebirge wieder. Wir betrachten das ganze Gebiet als eine Pro- vinz. Als durch eigentümliche Arten ausgezeichnete Unterprovinzen sind zu unterscheiden: Arktisches Europa von Nord-Skandinavien bis Nowaja Semlja. — Arktisches Sibirien (östlich vom Ural bis zum Kolyma). — Berings- meerländer (Tschuktschenland bis West-Alaska). — Arktisches Kanada. — Grönland. — Der südlichste Teil von Grönland mit Birkengehölz, Weiden- gebüsch und Hochstaudenfluren ist subarktisch, wird aber besser nicht vom übrigen Grönland abgetrennt. B. Subarktisches oder Coniferengebiet. Herrschend das arkto-tertiäre und das arkto-nivale Element, das erstere in den Waldformationen, das letztere auf Wiesen- und Moorformationen, daher diese allmählich in die Tundrenformationen des arktischen Gebietes über- gehend. Die herrschenden Coniferengattungen sind Pinus, Larıx, Picea, Funiperus. — Prov.: Subarktisches Europa. Unterprov.: Island. — Far- Öer. — Skandinavien außer Schonen und Blekinge. — Kola und Finnland. — Westliches Rußland. — Ostrussische Waldzone und Ural. — Prov.: Subark- tisches Asien oder Sibirien. Unterprov.: Westsibirien mit den Be- zirken: Nördliches Westsibirien, Baraba, Altai. — Ostsibirien mit den Be- zirken: Nördliches Ostsibirien, Baikalien, Nordostsibirien mit Kamtschatka. — Prov.: Subarktisches Amerika. Unterprov.: Südliches Alaska. — Peace- und Athabasca - River- Land. — Nördliches Ontario. — Quebec und Labrador. C. Mitteleuropäisches Gebiet. Arktotertiäres Florenelement und die boreale, vorzugsweise aus laub- werfenden dikotyledonen Gehölzen bestehende Waldflora herrschend, wenn dieselbe nicht hinter dem Steppenelement zurücktritt; auf den Hochgebirgen alpin-nivales Element mit dem arktisch -nivalen. — Atlantische Prov. Unterprov. (Zonen): Irland. — England und Schottland. — Südwestliches fran- zösisches Tiefland. — Nordfranzösisches und belgisches Tiefland. — Nieder- 256 A. ENGLER: Pflanzengeographie rheinisches Tiefland. — Subatlantische Prov. Unterprov. Niedersachsen (einschl. Niederlande). — Jütische Halbinsel, benachbarte Inseln und südwest- liches Schweden. — Mecklenburg, Pommern, Rügen und nordwestliches West- preußen. — Sarmatische Prov. Unterprov.: Oeland. — Gotland. — Öst- liche Ostseeländer (Russische Ostseeländer bis zum östlichen Westpreußen. — Mitteldeutsches Tiefland. — Mittelrußland. — Prov. der Europäischen Mittelgebirge. Unterprov.: Zentralfranzösisches Bergland. — Rheinland mit den Bezirken: Vogesen und Schwarzwald, Mittelrheinisches Bergland. — Jurassisches Bergland. — Hercynisches Bergland. — Böhmisch - mährisches Bergland. — Sudeten. — Nördliches Karpathen - Vorland. — Pontische Prov. Unterprov.: Danubische Unterprov. — Russische Steppenländer. — Prov. der Pyrenäen. Unterprov.: Ostpyrenäen. — Zentralpyrenäen. — Asturisch-cantabrisches Gebirge. — Prov. der Alpenländer. Unterprov.: Nördliches Alpenvorland. — Nördliche Kalkalpen. — Zentralalpen und Süd- westalpen. — Südliche Kalkalpen. — Östliches Alpenvorland. — (Vgl. hierzu: Engler, Die Pflanzenformationen und die pflanzengeogr. Gliederung der Alpen- kette, im Notizblatt des Königl. bot. Gartens Dahlem-Berlin, Appendix VIIund Englers Syllabus der Pflanzenfamilien, 6. Aufl, Anhang S. 220.) — Prov. der Apenninen. Unterprov.: Nördlicher Apennin und die Apuanischen Alpen. — Mittlerer Apennin mit den Abruzzen. — Prov. der Karpathen. Unterprov.: Westkarpathen. — Waldkarpathen. — Siebenbürgen. — Prov. der westpontischen Gebirgsländer. Unterprov.: Pannonische U. (Nordkroatien, Nordbosnien, Slavonien, Nordserbien). — IUlyrische U. (Kroat. Bergland, Südbosnien, Nord- und Ostherzegowina, Montenegro, Novi Pazar, SW-Serbien, Westl. Altserbien, Nördlichstes Albanien).— Moesische U.: West- moesischer Bez. (Ostserbien, Altserbien, Westbulgarien); Ostmoesischer Bez. (Südostbulgarien, Ostrumelien mit dem Balkan). — Dacische U. (Nordostzipfel von Serbien und Ufergelände der Donau in Bulgarien und der Dobrudza). — (Einteilung nach Adamovic).—Prov. des Jailagebirges. — Prov. des Kaukasus. Unterprov.: Westlicher Kaukasus. — Daghestan. — Kleiner Kaukasus. — Alburs. D. Makaronesisches Übergangsgebiet. Neben dem an das hier auch noch vertretene mediterrane Element sich anschließenden makaronesischen Element tritt auch das paläotropische, afri- kanische, in auffallenden Formen hervor; schwach vertreten ist das boreale und auch in noch geringeremGrade das neotropischeElement. — Prov. der Cap Verden. Das afrikanische Element ist hier mehr vertreten als in den anderen Provinzen. — Prov. der Canaren. Starker Endemismus der ein- zelnen Inseln. — Prov. Madeira. — Prov. der Azoren. E. Mediterrangebiet. Die bekannten dauerblättrigen und hartlaubigen (immergrünen) Formen dieses Gebietes gehören nicht mehr dem arktotertiären Element an, da sie Übersicht über die Florenreiche und Florengebiete der Erde 257 in den tertiären Ablagerungen des heutigen arktischen Gebietes nicht fossil ge- funden werden, doch existieren mehrere in dem Gebiet, in welchem jetzt die boreale Flora herrscht, so daß wir das die Mittelmeerflora auszeichnende Ele- ment auch tertiär-boreal nennen können. Es ist aber schließlich nicht ver- schieden von dem paläotropischen. Festzuhalten ist, daß der Charakter der Mediterranflora von seiner ursprünglichen Beschaffenheit durch die fortschrei- tende Zunahme des xerophytischen Areals verloren haben muß. Im südwest- lichen Teil des Mittelmeergebietes finden wir noch mehr von dem ursprüng- lichen Charakter erhalten, im Osten aber hat das Steppenelement der Medi- terranflora, welches in gewissem Grade schon lange Zeit vorhanden sein muß und auch mit dem afrikanischen Steppenelement mehr oder weniger verwandt ist, so die Oberhand gewonnen, daß die Vegetationsdecke habituell immer mehr der der zentralasiatischen und südlichen Steppenländer ähnlich geworden ist. Auf den Hochgebirgen tritt die arktisch-nivale Flora fast ganz zurück. Südwestliche Mediterranprov. Unterprov.: Südatlantisches Ibe- rien. — Nördliches Marokko einschließlich des Atlas. — Iberische Prov. Unterprov.: Subpyrenäisches Iberien (ausschließlich der Pyrenäen selbst). — Zentrales Iberien. — Östliches Iberien mit den Bez.: Iberische Steppe. Iberisches Scheidegebirge und Plateau von Catalonien und Valencia. — West- atlantisches Iberien. — Nordatlantisches Iberien. — Ligurisch-tyrrhe- nische Prov. Unterprov.: Provencalische U. — Ligurische U. — Nord- tyrrhenische U. (westl. Mittelitalien und kleinere Inseln). — Südtyrrhenische U. mit Neapel und Calabrien. — Korsika. — Sardinien. — Sizilien. — Mitt- lere Mediterranprov. Unterprov.: Adriatische U. mit den Bez.: Poebene; Östliches Mittelitalien bis zum M“ Gargano; Apulischer Bez. ; Liburnischer Bez.; Süddalmatin. Bez.; Albanesischer Bez. — Hellenische U. mit den Bez.: Nord- griechischer Bez.; Mittelgriechischer Bez. (Ionische Inseln, Attische Halbinsel, Euboea, Aegina, Nordpeloponnes); Südgriechischer Bez. (südlicher Peloponnes, Kykladen). — Scardo-pindische U.: Östl. Bez. (Ostalbanien und Nord-Mace- donien); Westl. Bez. (Hinterland des adriatischen Albaniens); Südl. Bez. — Aegaeisch-macedonische U.: Aegaeisch-hellespontischer und Thrakischer Bez.; Südrumelischer Bez.; Nordrumelischer Bez. — U. der Krim. — Südeuxinische U. (nördliches Kleinasien.) — Colchische U. — Westl. kleinasiatische U. — Taurisch-cyprische U. — Syrische U. — Candische U. (Kreta). (Größtenteils Dach L. Adamovic.) — Armenisch-iranische Prov. — Südliche Mediterranprov. F. Zentralasiatisches Gebiet Außer dem Steppenelement sind vertreten das mediterrane, das subark- tische und arktisch-nivale; das boreale Element ist nur schwach entwickelt. Dieses Gebiet geht nach W ziemlich allmählich in die armenisch - iranische Provinz des Mittelmeergebietes über; im S reicht es bis zur temperierten Wald- region auf der Südseite des Himalaja, welche mit ihren Tannen und Fichten einen schmalen Streifen bildet, der sich ebenso wie die entsprechende Region von Yünnan und Sz-tschwan an das Gebiet des temperierten Ostasiens an- K.d.G.IIl.ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 17 258 A. ENGLER: Pflanzengeographie schließt. Im Norden grenzt es an den Altai und die ostsibirischen Gebirge, welche dem subarktischen Gebiet angehören, während die von Steppen ein- genommene Südseite dem zentralasiatischen Gebiet zuzurechnen ist. Turanische oder aralo-kaspische Prov. (inkl. des westlichen Tur- kestan.. — Prov. des turkestanischen Gebirgslandes. — Prov. des Han-hai. — Prov. der tibetanischen Hochwüste. — Prov. des alpinen Himalaja. Unterprov.: Westlicher Himalaja. — Östlicher Himalaja. — Prov. des alpinen Yünnan. — Prov. desalpinen Sz- tschwan. — Prov. Kansu. G. Gebiet des temperierten Ostasien. Neben dem borealen, subarktischen und arktisch-nivalen Element ist auch das subtropische Element etwas vertreten, d. h. im subtropischen Gebiet herr- schende Typen haben hier mehr als in Europa Gelegenheit gefunden, sich in dem gegenwärtig extratropischen Gebiet durch solche Formen zu erhalten, welche eine geringe Wärmemenge beanspruchen. Prov.destemperierten Himalaja, Yünnan, Sz-tschwan und Kansu. — Prov. des nördlichen China (nördlich vom Tsin-ling-shan) und Korea. — Prov. des mittleren und nördlichen Japan. — Prov. Amurland und Sachalin. — Prov. des südwestlichen Kamtsehatka mit den Ruritien und Aleuten. H. Gebiet des pazifischen Nordamerika. Im Norden und in der Mitte des Gebietes dieselben Elemente wie in G., besonders reich die Coniferen; an den Flußufern auch laubwerfende Bäume, im Süden Formen des neotropischen Xerophyten-Elementes eindringend und mit einzelnen, weniger Wärme beanspruchenden Formen selbst bis in die nivale Region vordringend. Prov. der pazifischen Coniferen. Unterprov.: Nördliche U. mit den Bezirken des nördlichen Küstenwaldes und des ciskaskadischen Waldes mit dem Kaskadengebirge. — Südliche U. mit dem Bezirk des kalifornischen Küstenwaldes und dem des westlichen Nevada-Waldes mit der Sierra Nevada. Prov. der Rocky Mountains. Unterprov.: Nördliche U. — Südliche U. und Übergang zu der Chaparal-Sonora-Provinz des zentralamerikanischen Xerophytengebietes. — Westamerikanische Wüsten- und Steppen- prov. Unterprov.: Übergang aus der Chaparal-Sonora-Provinz in die Gila- und Mohave-Wüste. — U. des Great Basin. — Innerkalifornische U. I. Gebiet des atlantischen Nordamerika. Zeigt vielfach starke Verwandtschaft mit G. und ist viel reicher an laub- werfenden, Wald bildenden Gehölzen als H. Die Staudenflora zwar arktoter- tiär; aber gegenüber der eurasiatischen viele Eigentümlichkeiten zeigend. Seenprov. Unterprov.: U. der Pinus strobus. — Östliche Übergangs- zone der sommergrünen Laubwälder. — Prov. des sommergrünen Mississippi- und Alleghany-Waldes mit den Alleghanies. Un- terprov.: Mississippi-Ohio-Tennessee-Zone. — Alleghany-Zone. — U. der Pine- Übersicht über die Florenreiche und Florengebiete der Erde 259 barrens. —Immergrüne Prov. dersüdatlantischen Staaten. Unter- prov.: Küstenzone der Sumpfkiefer. — Zone des Mischwaldes. — Prärie- Wald-Zone. — Nördliche Kiefernwald-Zone. — Prärienprov. Unterprov.: Nördliche U. — Mittlere U. — Südliche U. 24 Paläotropisches Florenreich, Herrschend das paläotropische Floren-Element, auf den Gebirgen in höhe- ren Regionen das boreale Element, das auch hier und da auf dem Kulturland, sowie in den trocknen Distrikten sich eingesprengt findet. Das subarktische und arktisch-nivale Element finden sich nur in dem nördlichen Grenzgebiet der indischen und chinesischen Hochgebirge, deren obere Regionen an das zen- tralasiatische Gebiet angeschlossen werden können. In einzelnen Gebieten kommt das australe und austral-antarktische Floren-Element schon ziemlich stark zur Geltung. A. Nordafrikanisch-indisches Wüstengebiet (einschließlich der Indus-Ebene). Das paläotropische Xerophyten-Element herrschend, daneben auch Ver- treter des mediterranen Xerophyten-Elements. Südmarokkanische Prov. — Prov. der großen Sahara. — Thebaisch-nubische Prov. — Übergangsprov. (mit viel Grassteppe und laubwerfenden Gehölzen). — Arabische Prov. — Nordwestindi- scherProy:. B. Afrikanisches Wald- und Steppengebiet. Das paläotropische Hygrophyten-Element reichlich, dazwischen einige Ver- treter des neotropischen Hygrophyten-Elements; in den Steppen und Wüsten paläotropische Xerophyten, in den Hochgebirgen Vertreter des australen und borealen Elements. — Wer sich für die spezielle Gliederung von A und B interessiert, findet dieselbe ausführlich in Engler, Pflanzenwelt Afrikas I. Bd. (Leipzig 1910). Sudanische Parksteppenprov. — Nordostafrikanische Hochland- und Steppenprov. Unterprov.: Östliches Etbailand. — Abyssinisches und Galla-Hochland mit Eritrea und Yemen. — Somalland mit Dschubaland und Tanaland. — Arabische Südküste. — Westafrikanische oder guineensische Waldprov. Unterprov.: Ober- und Mittel-Guinea. — Süd-Nigerien-Kamerun. — Gabun und Spanisch-Guinea. — Kongoland. — Zentralafrikanische U. — Lunda-Kassai-Katanga-U. (ausschließlich des oberen Katanga). — Ostafrikanische und südafrikanische Steppenprov. Unterprov.: Sansibarküste nebst Inseln. — Mosambikküste zwischen Kilwa und Sambesimündung. — Sofala-Gasa-Land. — Südostafrikanisches und süd- afrikanischesKüstenland.— Massai-Hochland.—ZentralafrikanischesZwischen- seenland. — Kilimandscharo und benachbarte Berge. — Usambara- und Pare- Gebirgsland. — Ostafrikanisches Gebirgsland zwischen Ruaha, Rufiji und Ruwu. Massai-Steppe. — Wembere-, Ugogo- und Ussangu-Steppe. — Nyassaland. — Banguelo- und Katanga-Land. — Oberes und mittleres Sambesiland mit dem Flußgebiet des Kuando, Kafue und unteren Loangera sowie desSchire..—Kunene- 17.8 260 A. ENGLER: Pflanzengeographie Kubango-Land nebst Ambo- und Okawanga-Land. — Maschonaland mit dem Hochland von Manika und Gorongoza. — Oberes und mittleres Limpopogebiet nebst den Matopos. — Südostafrikanisches Hochland von Oranje und Transvaal mit der Kalahari. — Zentrales Kapland. — Extratropisches Südwestafrika. C. Gebiet des südwestlichen Kaplandes. Das australe Element tritt in ganz besonders reicher Entwicklung auf, daneben aber auch das afrikanische Xerophyten-Element und sehr sparsam das boreale Element. Steht in Beziehung zu 4. D. Gebiet der südatlantischen Inseln. Vereinzelte Vertreter des australen und paläotropischen Floren-Elementes, meist endemisch. Prov. Ascension. — Prov. St. Helena. E. Madagassisches Gebiet. Das paläotropische Hygrophyten-Element herrschend, daneben das paläo- tropische Xerophyten-Elemen: und auch in geringerem Grade das australe Floren-Element. Prov. Madagaskar und Comoren. — Prov. Mascarenen. — Proy. Seychellen. F. Vorderindisches Gebiet. Im größten Teil des Gebiets das paläotropische Xerophyten-Element herr- schend, in den westlichen Gebirgen paläotropische Hygrophyten, im Osten solche vom malayischen Typus, in den Hochgebirgen einige boreale himalajen- sisch-ostasiatische Typen. Prov. des westlichen Gebirgslandes der Malabarküste (Khandesh, Konkan, Kanara). — Prov. der Gangesebene. Unterprov.: Obere Gangesebene. — Untere Gangesebene. — Malabar und Travancore. — Hindostanische Prov. — Prov. Ceylon. G. Monsungebiet. Paläotropisches Hygrophyten-Element des malayischen Typus herrschend, auf den hohen Gebirgen das boreale Element schwach hervortretend, im Süden das australe (altozeanische) Element eindringend. Prov. destropischen und subtropischen Himalaja.— Nord- westmalayische Prov. Unterprov.: Westl. Burma mit Nachbargebieten. — Andamanen. — Südwestmalayische Prov. Unterprov.: Nikobaren. — Malakka. — Siam. — Sumatra. — Java. — Borneo. — Zentromalayische Prov. (Celebes, Molukken). — Austromalayische Prov. (Timor und das tropische Nordaustralien. — Papuanische Prov. od. Papuasien (Neu- Guinea, Aru- und Key-Inseln, Bismarck-Archipel, Salomon-Inseln). — Arau- carien-Prov. Unterprov.: Ostaustralien. — Lord Howe-, Norfolk-Insel und Kermadec- Inseln. — Neu-Kaledonien. — Nördliches Neu-Seeland und Chatham- Inseln. — Hinterindisch-ostasiatische Prov. (Östl. Birma, östl. Siam, Cochinchina, Annam, Tongking, Hainan, südliches chinesisches Küstenland bis Übersicht über die Florenreiche und Florengebiete der Erde 261 Hongkong). — Prov. der Philippinen und Süd-Formosa. — Mela- nesischeProv. (Neue Hebriden, Fidschi-Inseln, Samoa-Inseln, Tonga-Inseln, Gesellschafts-Inseln). — Polynesische Prov. H. Ostchinesisches und südjapanisches Übergangsgebiet. Bildet den Übergang zwischen I. G. und 2. G., umfaßt das untere Gebiet des Jangtsekiang bis Itschang und das südliche Japan, Kiushiu und Shikoku; es enthält subtropische Formen und zieht sich an den Gebirgen von Sz-tschwan und Yünnan entlang, auch auf der Südseite des östlichen Himalaya in schmalem Streifen hin. In dem noch ungenügend erforschten China sind genauere Grenzen noch zu ermitteln. Die Nordgrenze liegt am Tsin-ling- shan. I. Gebiet der Sandwich-Inseln. Neben dem paläotropischen Floren-Element und dem sparsam vertretenen austral-antarktischen Element machen sich das neotropische und boreale Ele- ment geltend. Sehr starker Endemismus. 3. Zentral- und südamerikanisches Florenreich. Herrschend das neotropische Floren-Element, in den Gebirgen und den südlicheren, sowie den nördlicheren weniger warmen Gebieten teils geringere Wärmesummen erfordernde Verwandte der neotropischen Typen, teils boreale und subarktische, teils australe und austral-antarktische Typen. A. Mittelamerikanisches Xerophyten-Gebiet. Neotropische Xerophyten herrschend. Chaparal-Prov. (Texas, Süd-Arizona und Neu-Mexiko). — Sonora- Prov.(Sonora, Teil von Neu-Mexiko, größter Teil der kalifornischen Halbinsel). — Prov. des mexikanischen Hochlandes. B. Gebiet des tropischen Amerika. Neotropische Hydrophyten herrschend; Xerophyten jedoch auch in mehre- ren Unterprovinzen, welche von den Regen bringenden Seewinden abgeschlos- sen sind, Formationen bildend. Provodes tropischen Zentral- Amerika und süud-Kalisor- nien. Unterprov. (Zonen): Südkalifornien. — Mexikanische Zone. — Yucatan. — Guatemala. — Westindische Prov. Unterprov.: Süd-Florida mit Ba- hama-Inseln und Bermudas. — Cuba. — Jamaika. — San Domingo. — Porto Rico. — Kleine Antillen. — Subäquatoriale andine Prov. Unterprov.: Nicaragua -Costarica. — Colombia. — Ecuador. — Ost-Peru. — Cisäqua- toriale Savannenprov. (nichtandines Venezuela mit dem Hochland von Guyana und Trinidad). — Prov. des Amazonenstromes oder Hylaea. — SüdbrasilianischeProv. Unterprov. (Zonen): Ostbrasilianische Tropen- waldzone. — Catingas-Zone. — Campos-Zone. — Südbrasilianische Araucarien- Zone. — Insel Süd -Trinidad. C. Andines Gebiet. Das neotropische Element erscheint meist in subtropischen Formen, das boreale Element tritt sehr stark hervor, und zwar ganz besonders mit Typen 262 A. ENGLER: Pflanzengeographie des pazifischen Nordamerika. Selbst einzelne Vertreter des arktisch-nivalen Elements finden sich in den höchsten Regionen und im südlichen Teil des Ge- biets. Die fremden Elemente treten aber nirgends so stark hervor, daß die Regionen nach ihnen bezeichnet werden könnten. Nördliche und mittlere hochandine Prov. Unterprov. (Zonen): Nördliche Anden-Zone. — Tucuman-Zone. — Mittlere Anden-Zone. — Argen- tinische Prov. Unterprov. (Zonen): U. des Gran-Chaco. — U. des Espinale. — Pampas. — Andin-patagonische Prov. — Chilenische Über- gangsprov. D. Gebiet der Galapagos-Inseln. Starker Endemismus. Gattungen vielfach verwandt mit denen Zentral- Amerikas. E. Gebiet von Juan Fernandez und Masofuera . Starker Endemismus. Gattungen vorzugsweise verwandt mit denen der chilenischen Übergangsprovinz. ArAnstrales (altozeanisches) Florenreich. Herrschend das austral-antarktische Floren-Element mit mehreren hier allein oder besonders reich auftretenden Familien und Gattungen, vereinzelt auch arkto-nivale und boreale Typen. In den von den Seewinden beeinflußten Gebieten dauerblättrige hartlaubige Dikotyledonen und Coniferen herrschend, erstere auch weiter in das Innere vordringend, woselbst die dem austral-ant- arktischen Florenelement eigentümlichen Xerophyten herrschen. A. Austral-antarktisches Gebiet Süd-Amerikas. Herrschend die südamerikanischen Formen des austral-antarktischen Ele- ments neben einer Anzahl allgemein verbreiteter antarktischer sowie mehreren andinen und borealen Arten. Westliche Waldprov. — Östliche waldlose Prov. B. Gebiet der Kerguelen. Baumlos. Herrschend allgemein verbreitete antarktische Stauden neben einigen endemischen. C. Neuseeländisches Gebiet. Herrschend das austral-antarktische Floren-Element mit auffallend star- kem Endemismus der Arten, aber geringerem der Gattungen. Von den nicht endemischen Arten eine große Zahl in Australien, davon aber wieder viele weit verbreitet auf der südlichen Hemisphäre, in Ostasien und auf ozeanischen Inseln. Prov. Neuseeland. — Prov. Auckland-undCampbell-Inseln. — Prov. Macquarie-Inseln. D. Australisches Gebiet. Herrschend das austral-antarktische Floren-Element mit auffallend star- kem Endemismus der Gattungen und Arten, ganz besonders in West-Austra- lien. In Ost-Australien zahlreiche Formen, welche mit solchen des Monsun- Übersicht über die Florenreiche und Florengebiete der Erde 263 gebietes, der Sandwich-Inseln, Neu-Seelands und des antarktischen Süd-Ameri- kas, auch des temperierten Ostasiens identisch oder nahe verwandt sind. Ein- zelne in Australien dominierende. Familien auch im südwestlichen Kapland hoch entwickelt, insbesondere die Restionaceen und Proteaceen. Ostaustralische Drov. (inkl. Tasmanien). — Eremaea-Prov.__ Westaustralische Prov. — Nordaustralische Steppenprov. E. Gebiet von Tristan da Cunha, St. Paul und Amsterdam-Inseln. Arme Flora, bestehend aus endemischen und verbreiteten Arten des au- stral-antarktischen Floren-Elementes; auf Tristan da Cunha sehr zahlreiche weit verbreitete Farne und einige Arten, welche speziell mit solchen des südwest- lichen Kaplandes verwandt sind. 5. Ozeanisches Rlorenreich. Herrschend die gewöhnlich als ‚Algen‘ zusammengefaßten Rhodo- phyceen, Phaeophyceen, Chlorophyceen, Bacillariaceen, Dinoflagellaten, die drei letzteren auch im Plankton, von den übrigen die grünen in der litoralen Region, die braunen und roten in tieferen Schichten; nur wenige ‚„Seegräser‘ (Helobiae) in der litoralen Region. A. Boreales Gebiet. — B. Tropisches Gebiet. — C. Australes Gebiet. — Speziellere Gliederung erst im Werden. [Abgeschlossen im Juli— August 1912.] Aufgabe der Tiergeographie. TIERGEOGRAPHIE, Von A. BRAUER. Die Tiergeographie hat die Aufgabe, die gegenwärtige Verbreitung der Tiere über die Erde darzustellen und zu erklären, d. h. ihre Entwicklung klar zu legen. Die Lösung der Aufgabe muß unvollkommen bleiben, und zwar aus folgen- den Gründen. Erstens ist unsere Kenntnis der Verbreitung der Tiere noch schr lückenhaft. Dieses gilt nicht nur für die niederen Tiere, sondern auch für die höheren. Wohl können wir heute die Verbreitungsareale der meisten Gattun- gen und der größeren auffälligen Formen einigermaßen umgrenzen, aber wenn wir auf die Arten und Varietäten eingehen und besonders auch ein Verständnis der Tiere als Produkte der Wechselbeziehungen zwischen ihnen und der Umgebung zu gewinnen versuchen wollen, stoßen wir auf sehr große Lücken. Zweitens ist die Kenntnis der Verbreitung der Tiere in früheren Erdperioden um so dürf- tiger, in je ältere Zeiten wir zurückgehen, und drittens ist ebenso die Geschichte der geologischen und klimatischen Veränderungen, welche die Verbreitung der Tiere wesentlich beeinflußt haben müssen, in vortertiären Zeiten zum Teil noch sehr hypothetisch, besonders für die Gebiete, die jetzt von tiefen Meeren be- deckt sind. Außer dieser Lückenhaftigkeit unserer Kenntnis stellen sich einer befrie- digenden Lösung der Aufgabe noch andere Schwierigkeiten in den Weg. Will man eine Übersicht über die heutige Verbreitung der Tiere geben, so kann man zwei Wege gehen. Man kann die Verbreitungsareale aller Tiere angeben und kar- tographisch festlegen oder man kann die Erde in größere und kleinere Bezirke, Reiche, Regionen, Unterregionen usw. einteilen und sie durch die in ihnen vor- handenen Tiere charakterisieren. Der erste Weg gibt zwar ein vollständiges und sicheres Bild der Verbreitung, aber ein unübersichtliches; der zweite Weg führt zu einem klareren, übersichtlichen Resultat, aber das Bild ist weniger vollkommen und stets mehr oder minder künstlich. Denn die Tiere sind in bezug auf Ver- breitungsfähigkeit, Abhängigkeit von den Existenzbedingungen u.a. zu ver- schieden und infolgedessen können die Grenzen aller Tiere eines Landes nicht zusammenfallen. Weiter ist die Geschichte der Tiere, ihr Alter zu verschie- den. Die einen haben zu einer Zeit bereits gelebt, in welcher die anderen noch fehlten. Da auch das Oberflächenrelief der Erde und das Klima dem Wechsel unterworfen gewesen ist, so hat die Verbreitung der ersteren sich unter ganz anderen Verhältnissen vollziehen können als die der letzteren, d.h. also Begrenzung der Aufgabe 265 das Verbreitungsbild kann — soweit die geologischen und klimatischen Faktoren in Betracht kommen — nur für die Formen einigermaßen gleichartig sein, welche gleichalt gewesen sind und unter denselben Bedingungen ihre Hauptverbreitung erlangt haben. So müssen z. B. für die Verbreitung der Säugetiere, die im Ter- tiär ihre Hauptentwicklung erlangt haben, die Veränderungen der Länder und Meere dieser Periode maßgebend gewesen sein, während die Verbreitung der Reptilien zwar durch diese modifiziert wurde, aber im wesentlichen bereits in der mesozoischen Zeit, in der die Erde ein wesentlich anderes Aussehen hatte, festgelegt worden war. Daraus ergibt sich, daß die Regionen, in die man die Erde einteilen will, anders ausfallen müssen, je nachdem man sie auf die Säuge- tiere oder auf die Reptilien oder auf die Käfer oder auf eine andere Gruppe gründet. Eine für alle Tiere gültige Einteilung, wie man sie früher versucht hat, ist völlig ausgeschlossen. Ist es nun, wie in diesem Werke, wegen des geringen Raumes unmöglich, die Verbreitung aller Tierklassen im einzelnen zu behandeln, so kann man nur Unvollkommenes geben, indem man sich auf eine oder wenige Klassen be- schränkt und auf Grund ihrer Verbreitung zeigt, wie weit und in welcher Weise die Lösung der oben genannten Aufgabe der Tiergeographie nach dem heutigen Stande unserer Kenntnisse möglich ist. Man wird hierfür naturgemäß diejenige Klasse auswählen, welche am auffälligsten und daher am besten bekannt ist, welche von den topographischen und klimatischen Verhältnissen stark abhängig, also in ihrer Verbreitungsfähigkeit beschränkt ist und deren Vorgeschichte uns durch die Paläontologie einigermaßen aufgeklärt ist. Diese Bedingungen werden fraglos am besten von den Säugetieren erfüllt. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß andere Gruppen, wie z. B. Reptilien, Mollusken, Regenwürmer u. a. in tiergeographischer Hinsicht nicht ebenfalls sehr wichtige Aufklärung über die Geschichte ihrer Verbreitung und der Erde geben können; aber abgesehen davon, daß sie für einen kurzen Überblick über den heutigen Stand unserer tiergeographischen Kenntnisse nicht als geeignete Objekte an- gesehen werden können, wurzelt ihre heutige Verbreitung in so weit zurücklie- genden Zeiten und noch wenig geklärten Verhältnissen der Verteilung von Land und Wasser, daß die Darstellung einen viel zu hypothetischen Charakter anneh- men müßte. Für die Säugetiere und für die Erde können wir wenigstens einiger- maßen befriedigend bis zum Anfang des Tertiärs ihre Geschichte zurückverfolgen und somit den Regionen eine genetische Begründung geben, sie als Entwicklungs- zentren fassen und damit natürlicher gestalten. Die Wahl der Säugetiere hat auch noch den Vorzug, daß ihre Regionen in vielen Punkten auch für die Vögel gültig sind. Ich werde deshalb bei der Tiergeographie des Landes auch diese mit berücksichtigen, dagegen von den anderen Tiergruppen nur wenige auf- fallende Formen der übrigen Wirbeltiere kurz anführen. Die große Verschieden- heit des Mediums und seiner Bewohner bedingt es, daß die Land- und Meeres- fauna gesondert behandelt werden müssen. Einteilung der Erde in tiergeo- graphische Reiche. Notogaea. 266 A. BRAUER: Tiergeographie I. Die Landfauna, Von den vielen Einteilungen der festen Erde in tiergeographische Regio- nen haben die von Sclater und Wallace gegebenen am meisten Beifall ge- funden. Sie unterscheiden 6 Regionen, nämlich die paläarktische, die ne- arktische, die indo-malayische oder orientalische, die äthiopische, die australische und neotropische. Diese Einteilung hat den Vorzug, daß sie sich im wesentlichen mit der heutigen geographischen Einteilung der Erde deckt, aber es kommt in ihr die Geschichte der Verbreitung der Säugetiere nicht genügend zum Ausdruck. Man hat sie deshalb einer weiteren, die nur drei „Reiche‘‘ umfaßt, eingeordnet und dabei dem Wort ‚Reich‘ den gleichen Sinn wie ‚„Entwicklungszentrum‘‘ gegeben. Die australische Region bildet die „No- togaea‘, die neotropische die „Neogaea‘ und die übrigen Regionen sind als „Arctogaea‘ zusammengefaßt. Diese Einteilung und ihre Begründung muß immer noch als eine vorläufige betrachtet werden; neue paläontologische Funde in Südamerika und besonders in Afrika können sie noch wesentlich modifizieren. Im folgenden sollen nun zunächst die einzelnen Reiche besprochen und dann weiter der Versuch gemacht werden, die Tatsachen der heutigen Verbreitung auf Grund der Geschichte der Länder und der früheren Verbreitung zu erklären. 1. Notogaea. Dieses Reich umfaßt Australien mit Tasmanien, Neuguinea nebst dem benachbarten Bismarckarchipel, Admiralitäts- und Salomonsin- seln, Neuseeland und Polynesien bis zu den Sandwich- und Marquesasinseln. Lassen wir zunächst Polynesien und Neuseeland, weil sie besondere Verhältnisse bieten, außer acht, so ist dieses Reich in bezug auf Säugetiere leicht zu kenn- zeichnen durch einen positiven und einen negativen Charakter. Der erstere be- steht darin, daß die niedersten Säugetiere, die Monotremata oder Kloakentiere, nur hier vorkommen und die Marsupialia oder Beuteltiere sehr stark vertreten sind; von etwa 200 Arten leben hier drei Viertel. Der letztere besteht darin, daß außer dem Hund Dingo, zwei Schweinearten und einer größeren Zahl von Fledermäusen und mäuseartigen Nagetieren alle übrigen sogenannten mono- delphen Säugetiere fehlen. Von den Kloakentieren, Monotremen, kommt das Schnabeltier Orni- thorhynchus nur in Südwestaustralien und Tasmanien, der Beuteligel Echidna und Proechidna auch in Neuguinea vor. Die Beuteltiere, Marsupialia, sind nicht nur sehr reich an Arten, sondern zeigen auch eine so außerordentliche Mannigfaltigkeit in bezug auf Lebensweise und Anpassung an die verschiedenartigen Lebensbedingungen wie sonst die zahlreichen Ordnungen der übrigen Säugetiere in einem Gebiet; wir finden Pflanzen- und Fleischfresser, grabende, schwimmende, auf Bäumen lebende, flatternde, springende usw. Typen, welche an Nagetiere, Bären, Wölfe, Maul- würfe u.a. erinnern. Der größte Teil ist in Australien selbst verbreitet. Der Beutelwolf Thylacinus und der „einheimische Teufel“ Sarcophilus leben heute nur in Tasmanien, sind fossil aber auch in Australien gefunden worden. Auf Neu- guinea, dem Bismarckarchipel, den Admiralitäts- und Salomonsinseln finden Landfauna. Notogaea 267 sich noch 39 Arten, weitere 8 auf kleineren, Neuguinea benachbarten Inseln. Von ihnen dehnen einige wie der Kusu Phalanger und das Beuteleichhörnchen Petaurus ihr Gebiet noch bis zu den Molukken, Ceram, Jobi, Celebes, Saleyer (südlich von Celebes) und Timor aus. Es ist wichtig, daß von diesen 47 Arten 43 in Australien fehlen; von den Io Arten der Gattung Phalanger findet sich nur eine Art in Nordaustralien, alle anderen fehlen dem Festlande. Von den monodelphen Säugetieren ist das Vorkommen von Fledermäusen wegen ihres Flugvermögens weniger auffallend. Die beiden Schweinearten sind wahrscheinlich durch den Menschen eingeführt, und dasselbe muß man auch für den Dingo annehmen, wenn er auch fossil schon im Pleistocän gefunden ist. Denn sonst ist es ganz unverständlich, daß nicht auch andere Raubtiere, die sehr leicht sich verbreiten und überall, wo die Möglichkeit vorhanden ist, neben Nage- tieren mit als erste Tiere einwandern, in Australien gefunden worden sind. Da- für, daß der Dingo als Haushund eingeführt und später verwildert ist, spricht auch, daß er leicht zähmbar ist und mit anderen Hunden sich leicht paart. Dagegen verdienen die Mäuse unzweifelhaft eine andere Beurteilung. Sie können weder durch den Menschen direkt oder indirekt eingeführt noch passiv mit Treibholz u. a. nach Australien gelangt sein. Denn zum Teil leben ihre Ver- wandten in Gebirgen auf den Philippinen, Borneo und Celebes, zum Teil kommen sie nur in Australien vor und einige leben in Bächen. Von Vögeln sind II Familien dem Gebiete ganz oder fast ganz eigentüm- lich. In allen Teilen finden sich die Honigsauger Meliphagidae, die pinselzün- gigen Papageien oder Loris Trichoglossidae, die Kakadus Cacatuidae, der Edel- papagei Electus, die Großfußhühner Megapodidae. Zum Teil reichen diese auch noch nach dem malayischen Archipel hinüber. Engere Verbreitung haben die Leierschwänze Menuridae (nur in Südaustralien), die Paradiesvögel Para- diseidae (nur in Nordaustralien, Neuguinea, Aruinseln und Molukken), die Emus Dromaeidae (Australien), die Kasuare Casuaridae (nur eine Art in Nordaustra- lien, etwa 20 Arten in Neuguinea, Neupommern, auf den Aruinseln und einigen kleineren benachbarten Inseln und auf Ceram). Reich vertreten sind ferner die Plattschweifsittiche Platycercidae (Wellenpapagei), die Raben, Tauben, unter ihnen die große Kronentaube auf Neuguinea, die Laubenvögel, Eisvögel, Schwalme u. a. Dagegen fehlen ganz die Spechte, die echten Finken, Geier, Fasane u. a. Von den Reptilien ist bemerkenswert der große Reichtum an giftigen Schlangen, von denen nur die Gruppe der Vipern fehlt, und das gänzliche Fehlen der ungiftigen Colubriden, ferner das Fehlen der sogenannten cryptodiren Schildkröten, zu denen die gewöhnlichen Landschildkröten unserer Gebiete ge- hören. Krokodile finden sich nur in Nordaustralien, Neuguinea und auf den Salomonsinseln. Von Amphibien fehlen alle Blindwühlen, Schwanzlurche, und außer einer Art alle echten Frösche, von Fischen die sonst sehr weit verbreiteten Weißfische Cyprinidae. Bemerkenswert ist der Vertreter der Lurchfische Dipnaoi, Neoceratodus. Das Vorherrschen der Beuteltiere und Kloakentiere und die weitgehende 268 A. BRAUER: Tiergeographie Differenzierung auf der einen Seite und das Fehlen der meisten übrigen Säuge- tiergruppen auf der anderen lassen mit großer Sicherheit auf eine sehr lange und frühe Isolierung der besprochenen Gebiete schließen. Auch fossil sind keine an- deren Säugetiere als die der heutigen Gruppen bekannt geworden. Von den Kloakentieren sind bisher inanderen Ländern noch keine Reste gefunden worden, wohl aber von den Multituberculata, von denen sie wahrscheinlich abzuleiten sind. Beuteltiere dagegen sind uns aus noch älteren Schichten als aus Austra- lien von der nördlichen Halbkugel bekannt. Dieses läßt schließen, daß sie auch von dort eingewandert sind. Da in der Jurazeit aber der malayische Archipel, wie Tiefseeablagerungen auf Borneo, Celebes u. a. anzeigen, nicht existiert hat, so kann die Einwanderung frühestens nach der Entstehung dieser Inselgruppe nach Australien erfolgtsein. Diese Brücke muß aber wieder unterbrochen worden sein, [bevor die übrigen Säugetiere außer den Nagern sich auf der nördlichen Halb- kugel entwickelt oder in dieses Gebiet verbreitet haben, also spätestens im An- fang des Tertiärs, da ihr Fehlen sonst ganz unverständlich wäre. Da Beuteltiere heute auch noch in Südamerika vorkommen, haben manche auch eine Einwan- derung von hier aus angenommen, indessen wäre es dann ebenso unverständ- lich, weshalb nicht auch andere südamerikanische Säugetiere nach Australien gelangt sind. Wie es scheint, ist Neuguinea vielleicht in Verbindung mit Nordaustralien früh vom übrigen Australien isoliert und ein eigenes Entwicklungszentrum ge- worden, hat aber längere Zeit engere Beziehungen noch zu dem östlichen Teil des malayischen Archipels gehabt. Darauf deutet die Verbreitung und große Spezialisierung der Kusus, der Kasuare, der Paradiesvögel, Fische u. a. Polynesien umfaßt hauptsächlich vulkanische oder Koralleninseln auf wahr- scheinlich vulkanischem Untergrunde, also ursprüngliche Inseln. Dementspre- chend finden wir abgesehen von Fledermäusen und einigen sicher eingeführten Mäusen keine Säugetiere, keine Schlangen und Amphibien. Die Vögel, Reptilien u.a. zeigen ihre australische Herkunft an, nur vereinzelt ist eine stärkere Speziali- sierung eingetreten, so der Kagu Rhinochaetes auf Neu-Kaledonien und die Zahn- taube Didunculus auf Samoa. Nur die Sandwichinseln verdienen ein besonde- res Interesse, weil ihre Fauna, besonders Vögel, Mollusken und Insekten, eine ganz außerordentlich große Zahl von eigentümlichen Arten aufweist und da- durch auf ein sehr hohes Alter und eine sehr lange Isolierung schließen läßt. Von den Landmollusken sind z.B. drei Viertel den Inseln eigentümlich; die Familie der Achatinelliden ist mit I4eigentümlichen Gattungen in 300 Arten ver- treten; ebenso sind von 428 Arten von Käfern nicht weniger als 352 endemisch, welche 99 nur auf diesen Inseln heimischen Gattungen angehören. Da die Ver- wandten dieser Tiere nicht nur im übrigen Polynesien und Australien, sondern auch in Amerika, selbst Cuba, St. Helena u. a. sich finden, so muß die Be- siedelung schon in sehr alter Zeit, als die Verteilung von Land und Wasser von der heutigen stark abwich, vor sich gegangen sein. Noch problematischer ist die Fauna Neuseelands und der benachbarten kleinen Inseln (Norfolk, Lord Howe’s-, Chatam- und Aucklandinseln). Von Notogaea. Neogaea 269 Säugetieren sind nur 2 Arten Fledermäuse und eine Ratte vorhanden. Da letz- tere der kosmopolitischen Gattung Mus angehört, dürfte sie eingeschleppt sein. Es soll außerdem noch ein otterartiges Tier, von den Maoris ‚Waitoteke‘‘ ge- nannt, vorhanden gewesen sein, ist aber bis jetzt nicht gefunden worden und daher seine Natur und seine Existenz noch zweifelhaft. Die Vogelwelt ist durch eine große Zahl flugunfähiger oder schlecht fliegender Vögel ausgezeichnet; offenbar handelt es sich um eine Spezialisierung, die erst auf den Inseln sich ausgebildet hat. Unter ihnen sind bemerkenswert der Eulenpapagei Stringops, eine Ente, Rallen und der Kiwi Apteryx. Es kommen ferner noch II ver- schiedene fossile Arten der Dinornithiden hinzu, unter ihnen die gewaltigen 3%, m großen Moas. Ferner ist der zu den Loris gehörende Papagei Nestor be- merkenswert. Von Reptilien ist besonders die sehr alte Gattung Sphenodon hervorzuheben, die früher auf Neuseeland zahlreich war, jetzt fast ausgerottet ist. Schlangen fehlen. Ganz auffallend ist die Armut an Schmetterlingen; in einem Areal, das fast so groß wie Italien ist, gibt es nur II Arten! Die Ge- schichte Neuseelands ist noch wenig geklärt. Die Fauna zeigt zwar Verwandt- schaft zur australischen, aber mehr zur nordaustralischen und neuguinensi- schen und indomalyischen, so daß vielleicht in früherer Zeit eine Verbindung mit diesen Gebieten östlich von Australien, wenn auch nur über Inseln, bestan- den hat. Andere Verhältnisse weisen auch auf eine engere Beziehung zu Süd- amerika. Endlich deutet der große Reichtum von Dinornithiden und Aptery- giden auf weitgehende Veränderungen der Gestalt und Größe Neuseelands selbst. 2. Neogaea. Dieses Reich umfaßt ganz Südamerika und die tropischen Teile Zentralamerikas, also auch noch die niedrig gelegenen Küstenteile Me- xikos, nicht aber seine zentralen Hochebenen. Wie stets, wo zwei Gebiete kon- tinuierlich zusammenhängen, ist die Grenze Neogaeas gegen Nordamerika nicht scharf, sondern zwischen beiden ist ein Mischgebiet vorhanden, das Typen bei- der Gebiete besitzt. In der Regel wird auch Westindien Neogaea zugezählt, aber die tiergeographischen Verhältnisse sind hier so eigenartig, daß man diese Insel- gruppe besser gesondert betrachtet. Schon die Tatsache, daß von den in Neogaea vorhandenen 131 Säugetier- gattungen nicht weniger als 103, also */,, von 683 Arten Landvögel nicht weniger als 576, also 5/,, von 170 Familien Wirbeltiere 45 (in Europa-Asien von I36nur 3!) auf dieses Reich beschränkt sind und auch Insekten, Mollusken u.a. Tiere ähnliche Zahlenverhältnisse zeigen, lehrt ohne weiteres, daß hier eine außerordentliche Spezialisierung der Fauna eingetreten ist, daß Neogaea ein Entwicklungszentrum für viele Gruppen geworden ist. Noch stärker wird dieser Eindruck, wenn wir die heute vorhandenen Wirbeltiere etwas näher be- trachten. Von den Säugetieren sind an erster Stelle die Affen zu nennen, die durch- weg der Gruppe der Breitnasen Platyrrhini angehören, der rein altweltlichen Gruppe der Schmalnasen Catarrhini gegenübergestellt und mit Recht als ein ganz besonderer Zweig der Affen bewertet werden. Die Gruppe umfaßt die Rollaffen Cebidae (Brüll-, Klammer-, Woll- und Rollaffen), die Schweifaften Neogaea. 270 A. BRAUER: Tiergeographie Pithecidae und die Krallaffen Hapalidae. Ferner sind wichtig die Xenarthra (Faultiere, Gürteltiere und Ameisenbären). Man hatte diese früher mit dem Erd- ferkel und den Schuppentieren zu der Gruppe der Zahnlosen (Edentata) ver- einigt; diese Vereinigung ist aber jetzt als eine künstliche erkannt und deshalb aufgehoben worden. Sehr zahlreich sind die Nagetiere in der Neogaea ver- treten, nämlich die Hälfte aller Familien, und von ihnen sind vier, die der alten Gruppe der Hystricomorpha zugehören, endemisch, nämlich die Caviidae (zu denen das Meerschweinchen Cavia, der Pampashase Dolichotis und das größte heute lebende Nagetier Capybara gehören), die Agutis Dasyproctidae, die Lago- stomatiden und Octodontidae. Von den Fledermäusen ist die Familie der Blatt- nasen Phyllostomatidae fast ganz auf dieses Reich beschränkt. Interessant ist das Vorkommen von Beuteltieren, die sonst nur in der Notogaea sich finden, nämlich die Beutelratten Didelphiidae, die sich in neuerer Zeit auch weit in Nordamerika verbreitet haben, und die Epanorthidae mit der Gattung Caeno- lestes. Verhältnismäßig arm sind die Huf- und Raubtiere vertreten. Von erste- ren finden wir die zu den Schweinen gehörenden Pekaris Dicotylinae, ferner die Lamas Vicuna und Guanaco, den Tapir und einige kleine Hirsche (Cariacus, Pudua, Coassus). Die Raubtiere gehören den weit verbreiteten Katzen Felidae (Jaguar, Puma, Ozelot, Tigerkatze u. a.), den Ursidae (nur eine Art, der Brillen- bär Ursus ornatus, in den Gebirgen Perus und Chiles), den Mardern Mustelidae, und Hunden Canidae an; allerdings sind die meisten Gattungen endemisch, so von Canidae der Waldhund Icticyon, der Zwerghund Notocyon, der rote Wald- wolf Chrysocyon. Weit verbreitet sind die Wasch- und Nasenbären Procyont- dae (Procyon und Nasua); die Familie ist aber auch in Nordamerika durch Pro- cyon und im Himalayagebiet durch die Gattung Atlurus vertreten. Dagegen fehlen in Südamerika vollständig die Spitzmäuse. In Zentral- amerika leben zwei Arten der Gattungen Sorex und Blarina, aber siesind wahr- scheinlich von Norden eingewandert. Esfehlen weiter alle echten, zur Gattung Sus gehörenden Schweine, alle Schafe, Ziegen, Rinder, Pferde (die heutigen sind eingeführt), alle echten, zur Gattung Cervus gehörenden Hirsche, alle Antilopen, Nashörner, Nilpferde, echte Elefanten, Viverriden, Hyäniden u. a. Bevor wir auf die Frage der Entwicklung der heutigen Neogaea eingehen, wollen wir noch einen kurzen Blick auf andere Wirbeltiere werfen und das Be- merkenswerteste aus dem enormen Reichtum hervorheben. Von Vögeln ge- hören dem Gebiet ganz oder fast ganz an die Tukans oder Pfefferfresser Rham- phastidae, die Kondore Sarcorhamphidae, die Glanzvögel Galbulidae, die Säge- racken Monotidae, die Hokkos Cracidae, die Tyrannidae (über 400 Arten), die Steißhühner Tinamidae, die Ameisendrosseln Formicariidae, die Schmuck- vögel Cotingidae, die Tanagriden und viele andere der großen Unterordnung Clamatores, der dreizehige Strauß oder Nandu Rhea; weiter sind sehr charakte- ristisch, wenn sie auch in Nordamerika vorkommen, die Kolibris Trochilidae (mit mehreren hundert Arten) und von Papageien die Keilschwanzsittiche Co- nuridae besonders mit den Araras Sittace und von Kurzschwanzpapageien der Amazonenpapagei Chrysotis. Neogaea ZUAL Von Amphibien ist besonders die große Zahl der Laubfrösche Hylidae (75 Arten, die Hälfte aller lebenden) und das fast gänzliche Fehlen von Schwanz- lurchen Urodela hervorzuheben; nur die nordamerikanische Gattung Spelerpes hat sich bis in die nördlichen Teile des Gebietes verbreitet. Von Fischen verdient der elektrische Aal Gymnotus und der Lurchfisch Lepidosiren besonderes Interesse. Auf den großen Reichtum an Insekten, besonders an Schmetterlingen (Morpho, Heliconidae, Pieridae, Danaidae, Leptalidae u. a.) möge nur kurz hin- gewiesen werden. Um dieses Reich Neogaea tiergeographisch richtig beurteilen und seine Beziehungen zu den anderen Reichen klarlegen zu können, müssen wir uns die Säugetiere der Jetztzeit noch etwas näher betrachten und besonders die Frage mit Hilfe des fossilen Materials zu entscheiden suchen, welche Formen hier ihre Heimat oder wenigstens ihr Entwicklungszentrum gehabt haben, welche einge- wandert sind, und wann und woher diese Einwanderung stattgefunden hat? Selbstverständlich scheiden hierbei die Pferde, Haustiere, Mäuse und andere absichtlich oder unabsichtlich durch den Menschen eingeführte Tiere aus der Betrachtung aus. Das fossile Material, welches besonders durch Ameghino aus Südamerika bekannt geworden ist, ist sehr reich und stammt teils aus dem Miocän, teils aus dem Pleistocän. Die ältesten Schichten enthalten Reste von platyrhinen Affen, Nagetieren, die der Gruppe der Hystricoidea zugehören, Gürteltieren und Faultieren in For- men, die heute keine Vertreter mehr haben, von Beuteltieren, unter denen aber noch keine Didelphiden sind, und ferner von einer sonst nirgends bekannt ge- wordenen Gruppe von Huftieren. Es fehlen dagegen Halbaffen, Raubtiere, so- wohl ihre Vorfahren, die Creodontia als auch die heutigen Carnivora, paar- und unpaarzehige Huftiere, also auch die heute in Südamerika vorhandenen Tapire, Hirsche, Schweine, Lamas, und Didelphiden; dagegen sind ihre Reste in den gleich- oder fast gleichaltrigen Schichten Nordamerikas und zum Teil auch Eu- ropas vorhanden. Diese Tatsachen lassen nur den Schluß zu, daß zu dieser Zeit, also etwa im Miocän, Nord- und Südamerika voneinander getrennt gewesen sind. Dieser Schluß wird durch die weitere Tatsache gestützt, daß die marinen Fische und Mollusken zu beiden Seiten der Landenge von Panama dieselben oder einander sehr nahe verwandt sind, was ohne eine Verbindung des Stillen und Atlanti- schen Ozeans an dieser Stelle unerklärlich ist. Die Verbindung der beiden Kon- tinente muß aber schon am Ende des Tertiärs eingetreten sein, weil wir in dieser Periode in Nordamerika die Reste von Tieren finden, welche ausälteren Schich- ten nur aus Südamerika bekannt sind, so z. B. Erdfaultiere, zum Teil in rie- sigen Formen, und weil wir umgekehrt in Südamerika jetzt Formen finden, die aus älteren Schichten nur aus Nordamerika bekannt sind, so Didelphis, Raub- tiere, darunter Puma, Waschbären, echte Bären, Pekaris, Tapir, Lamas und Hirsche, alles nördliche Formen. Interessant ist noch, daß in dieser Zeit auch 272 A. BRAUER: Tiergeographie das echte Pferd, Mastodon und viele andere Huftiere nach Südamerika einge- wandert sind und daß das heute an Huftieren arme Land damals eine große Fülle von ihnen besessen hat. Der größte Teil ist im Diluvium wieder ausge- storben; alle heutigen Pferde sind durch den Menschen eingeführt. Die Frage, ob die in den ältesten Schichten Südamerikas gefundenen, oben genannten Tiere hier ihre Heimat gehabt haben oder ob auch sie in noch früherer Zeit vom Norden eingewandert sind, ist heute noch nicht entschieden, wenn es auch für einige wie die Beuteltiere und den besonderen Zweig der Huftiere sehr wahrscheinlich ist, daß sie oder ihre Vorfahren auf der nördlichen Halbkugel ihre ursprüngliche Heimat gehabt haben. Für alle ist aber Südamerika ein wichtiges Zentrum weiterer Entwicklung gewesen. Manche Forscher nehmen an, daß Südamerika einst aus mehreren durch Meeresstrecken getrennten Teilen bestanden hat; indessen wird diese Ansicht durch die Geologie und Paläontologie bisher wenig gestützt. Nur das La Plata- Gebiet, besonders im südlichen Teil, scheint zeitweise vom Meer bedeckt ge- wesen zu sein. Es lassen sich zwar auf Grund der heutigen Verteilung der Säuge- tiere mehrere Unterregionen unterscheiden, wie die Pampas- oder Steppen- gebiete Patagoniens und Argentiniens, die Urwälder Brasiliens und des nörd- lichen Südamerikas und Zentralamerikas, die Anden und die subtropischen Küstengebiete Chiles, aber sie scheinen erst durch die heutigen orographischen, klimatischen und Vegetationsverschiedenheiten Neogaeas entstanden zu sein. Von den Inseln gehören Trinidad und die südlichen kleinen Antillen ganz zur Neogaea, ebenso die Galapagosinseln; aber diese zeigen durch die große Spezialisierung ihrer Fauna, daß sie bereits längere Zeit ihre Beziehungen zum Kontinente gelöst haben. Rätselhaft ist die Herkunft der Riesenlandschild- kröten. Denn nehmen wir selbst an, daß die Größe sich erst auf den Inseln nach ihrer Isolierung ausgebildet hat, so würde ihrVorkommen doch eine engere Verbindung dieser vulkanischen Inselgruppe mit Südamerika voraussetzen, da ein Durchschwimmen so weiter Meeresstrecken für Landschildkröten ausge- schlossen werden muß. Da Riesenschildkröten fossil auch in Indien, Griechen- land, Frankreich, Madagaskar, Südamerika u. a. gefunden sind, so scheinen sie früher eine weite Verbreitung gehabt zu haben; die Galapagostiere wären dann als Relikte aufzufassen, würden aber natürlich auch bei dieser Auffassung eine Landverbindung voraussetzen. Sehr problematisch ist die Gruppe der Großen Antillen, die man auch als westindische Subregion von Neogaea zusammenfaßt. Ihre Größe, ihr konti- nentaler Ursprung und die Nähe von Nord- und Südamerika sollten eigentlich eine reiche Säugetierfauna mit nord- oder südamerikanischem Charakter erwarten lassen. Das ist aber nicht der Fall. Denn abgesehen von den zahl- reichen amerikanischen Zugvögeln, die heute auf ihrem Zuge sie besuchen, die über die tiergeographische Stellung wenig aussagen, ist die Fauna sehr eigen- artig. Während in Südamerika Insektivoren so gut wie ganz fehlen, findet sich auf Cuba und Haiti eine jetzt allerdings fast vernichtete Gattung Solenodon, die aber auch Nordamerika fremd ist und ihre nächsten Verwandten in Madagas- Große Antillen. Arctogaea 273 kar hat. Auch unter den Standvögeln und Mollusken, die besonders reich auf den Inseln vertreten sind, ist ein großer Teil weder nord- noch südamerikanisch. Da fossile Wirbeltiere bisher nur wenig bekannt geworden sind, so läßt sich über die Herkunft der Fauna sehr wenig sagen. Die Inseln müssen sehr alt sein und sich schon früh von dem Festlande abgetrennt haben; sie scheinen, wie aus den reichen marinen Ablagerungen zu schließen ist, eine sehr komplizierte Geschichte gehabt zu haben, in deren Verlauf die alte Fauna, besonders die der Säugetiere, zum größten Teil vernichtet worden sein dürfte. 3. Arctogaea. Die ganze übrige feste Erde, Afrika, Asien, Europa und Arctogaea. Nordamerika, faßt man jetzt als ein großes tiergeographisches Reich, Arcto- gaea, zusammen. Dieses wird zunächst befremden, weil die heutige Fauna in verschiedenen Teilen, z. B. im tropischen Afrika und im gemäßigten Europa- Asien, grundverschieden erscheint und auch ziemlich scharf sich begrenzen läßt. Die Zusammenfassung ist aber begründet in der Verbreitung der Tiere in frühe- ren Erdperioden. Bevor wir hierauf eingehen, wollen wir das heutige Verbrei- tungsbild skizzieren und dabei werden wir am besten an der alten Einteilung dieses weiten Reiches in die äthiopische, orientalische oder indo-südchinesisch- malayische, in die paläarktische und nearktische Region festhalten. a) Die äthiopische Region. Sie umfaßt ganz Afrika südlich der Sahara, Athiopische Abessinien, die Südhälfte Arabiens, die Küstengebiete des Arabischen Meeres **#* bis zur Westgrenze Vorderindiens. Es gehören ihr weiter noch Madagaskar, die Maskarenen, Seychellen, St. Helena und Ascension und einige den afrikanischen Küsten naheliegende Inseln an. Die Säugetierfauna ist außerordentlich reich an Gattungen, die auf dieses Gebiet beschränkt sind. Zunächst seien die Menschenaffen, der Gorilla und Schimpanse genannt, von denen der erstere von Kamerun, derletzterevon Liberia durch das Urwaldgebiet bis zum Tanganjika verbreitet ist. Von Affen sind aus der Familie der Makaken die Paviane (Mandrill, Drill, Pavian, Gelada u. a.), aus der der Semnopitheciden die Seidenaffen der Gattung Colobus, die langschwänzigen Mangaben, viele Meerkatzen (Cercopithecus) bemerkenswert. Die Halbaffen sind durch die Ohrenmakis, Potto und Awantibo (Galaginae) vertreten; ersterer findet sich von Natal nördlich im ganzen äquatorialen Afrika, letzterer nur an der Westküste. Außer Igeln und Spitzmäusen gehören dem Ge- biet von Insektivoren drei Familien an, die Wasserspitzmäuse Potamogalidae, die Goldmaulwürfe Chrysochloridae, die Rohrrüßler Macroscelidae, von denen nur die letzteren auch in Nordafrika durch eine Art vertreten sind. Von Chiro- pteren sind drei Gattungen von Flughunden, darunter der Palmenflughund, be- sonders hervorzuheben. Sehr reich sind die Nagetiere im Gebiet. Außer Eich- hörnchen, Siebenschläfern, Mäusen, Hamstern, Blindmolls, Stachelschweinen sind der Quastenstachler Atherura, der Kaphase Pedetes, die Stachelschwanz- eichhörnchen Anomaluridae, die wie Maulwürfe lebenden Bathyergidae, die Rohr- ratte Aulacodus, die Felsenratte Petromys, die Baummäuse Dendromyinae, die Breitohrratten Oiomyidae hervorzuheben. Das Erdferkel Orycieropus und das Schuppentier Manis, von denen das letztere auch in der orientalischen Re- K.d.G.IIR.ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 18 274 A. BRAUER: Tiergeographie gion vorkommt, sind eigenartige Tierformen, die besondere Ordnungen bilden. Die größte Zahl von Formen haben die Raubtiere und Huftiere. Unter den er- steren sind die bemerkenswertesten Formen der Löwe, Leopard, Gepard, Ser- val, Hyäne, der Hyänenhund Lycaon, der Löffelhund Otocyon, zahlreiche Zibethkatzen, Ichneumons und Marder, die Zibethhyäne Proteles, die durch das stark verkümmerte Gebiß und ihre Nahrung (Termiten, Aas u. a.) interessant ist. Der Löwe verbreitet sich bis zum Indusgebiet, der Leopard bis Sumatra und Java, die gestreifte Hyäne bis Persien und Turkestan; die gefleckte lebt nur südlich der Sahara. Die echten Dachse fehlen, dagegen ist der Honigdachs Mellivora weit verbreitet, kommt aber auch in der orientalischen Region vor. In noch größerer Mannigfaltigkeit und Fülle treten uns die Huftiere entgegen. Elefanten, Giraffen (unter ihnen das Okapi am oberen Kongo), Schliefer Pro- cavia, Nilpferd, Rhinozeros, Zebra, Büffel, Fluß-, Warzen-, Wald- und Pinsel- ohrschwein, Traguliden (Hyomoschus in Westafrika) und die zahlreichen Anti- lopen (Wasserbock, Riedbock, Elenantilope, Gnu, Pferde-, Rappenantilope, Kudu, Buschbock, Leierantilope, Zierböckchen, Springbock, Moschusböck- chen, Klippspringer u. a.) sind die auffallendsten. Dagegen fehlen ganz, was nicht minder bemerkenswert ist, Hirsche, echte Schweine Sus, Bären, Beuteltiere, Wildschafe, Wildziegen, echte Rinder, Bi- ber, Feldmäuse, Pfeifhasen, Murmeltiere, echte Maulwürfe Talpidae, Wald- spitzmäuse und andere Formen, welche in Europa und Asien verbreitet sind. Aus den Gruppen der übrigen Wirbeltiere mögen folgende Tiere als be- merkenswert hervorgehoben werden. Von den Vögeln sind ganz auf dieses Ge- biet beschränkt der zweizehige Strauß Struthio, der Schuhschnabel Balaent- ceps, die Pisangfresser oder Turakos Musophagidae, die Mausvögel Coliidae, die Perlhühner Numidinae und die Schattenvögel Scopidae. Außerdem sind sehr reich vertreten die Nashornvögel Bucerotidae, die Webervögel Ploceidae, die Sonnenvögel Nectariniidae, die Bienenfresser Meropidae, die Glanzstare Stur- nidae, die Frankoline der Gattung Francolinus, Lerchen, Ziegenmelker, Würger, Fliegenschnäpper u.a. Die Zahl der Papageien ist nicht groß; für das Urwald- gebiet sehr charakteristisch ist der bekannte Joko Psittacus erithacus L. Von Reptilien sind weit verbreitet Geckonen, Chamäleonten, das Krokodil, der große Waran, die Riesenschlange Python und Brillenschlange Naja und Puffotter Bitzs. Von Amphibien fehlen ganz Schwanzlurche Urodela und echte Laub- frösche Hylidae; gut vertreten sind echte Frösche, besonders Bufonidae; weit- verbreitet ist der Krallenfrosch Xenopus, und auch die Blindwühle Gymnophiona. Unter den Fischen überwiegen solche aus den Familien der C’yprinidae, Siluridae, Characinidae und Chromidae. Ihre weite Verbreitung über das ganze Gebiet erklärt sich aus dem Fehlen größerer Gebirgsketten. Auf die äthiopische Region beschränkt sind die elektrischen Mormyridae, der elektrische Wels Ma- lopterurus und der Lurchfisch Protopterus. Es wird der afrikanische Teil dieser Region noch in besondere Unterregio- nen eingeteilt, in die südafrikanische, in die westafrikanische, welche das Ur- waldgebiet des Kongo, Kameruns und der westlich angrenzenden Küstenstriche Athiopische Region. Madagaskar 275 bis Liberia umfaßt, in das ostafrikanische Steppengebiet, welches aber auch zwi- schen dem Urwaldgebiet und der Sahara weit nach Westen sich erstreckt. Es scheint aber, daß diese Unterregionen weniger einer besonderen geologischen Entwicklung als einer Verschiedenheit der Vegetation ihre Ausbildung verdan- ken und sich erst verhältnismäßig spät entwickelt haben. Nur der östlich von den großen Seen gelegene Teil scheint einst vom Festlande abgetrennt gewesen zu sein. Wir werden später diese Frage noch einmal zu berühren haben. Dagegen ist fraglos als ein selbständiges Faunengebiet, das eher den Rang einer Region denn einer Unterregion verdient, Madagaskar mit den benach- barten Inseln zu bezeichnen. Die madagassische Säugetierfauna ist besonders durch den Reichtum von Halbaffen, welche mit 12 Gattungen und etwa 40 Arten fast die Hälfte aller Säugetiere der Insel ausmachen, durch einige eigenartige Viverriden (z. B. Eupleres), durch die ihnen verwandte Cryptoprocta fossa, das größte Raubtier Madagaskars, durch die zu den /Insektivoren gehörenden igelartigen Centetiden, die mit der Gattung Solenodon inWestindien nahe verwandt sein sollen, und durch einige alte Nagetiere, besonders die Nasenratten Neso- myidae, charakterisiert. Die 4 Familien der Halbaffen, Chiromyidae, Indrisidae, Lemuridae und Microcebidae, sind weder in Afrika noch in der orientalischen Region vertreten. Fossil ist auch noch ein Riesenlemur von der Größe eines Mandrills bekannt geworden. Bemerkenswert ist noch das Vorkommen der Flug- hundgattung Pteropus, weil diese in der orientalischen Region weit verbreitete Gattung auf dem afrikanischen Festlande fehlt. Von Huftieren ist nur das afrikanische Flußschwein Potamochoerus und (nur fossil) das Nilpferd bekannt, dagegen fehlen alle anderen heute für Afrika charakteristischen Huftiere, Raubtiere, Affen, Nagetiere, echte Igel, Schuppen- tiere, Erdferkel usw. Ähnlich ist das Bild, das die Vogelwelt bietet. Wir finden nämlich, abge- sehen von den weit verbreiteten Wasser-, Sumpf- und Stelzvögeln einmal sehr eigenartige, sonst nicht bekannte Formen wie die Mesitidae, Philepittidae, Eury- cerotidae und die fossilen Aepyornithidae, riesige straußartige, aber den afrikani- schen Straußen nicht verwandte Vögel, und die fossilen Dididae mit der Dronte, die den Tauben nahe standen und die Größe eines Truthahns hatten und nur auf den Maskarenen lebten, dann sehr wenige von den heute in Afrika weit verbrei- teten Formen, z. B. Perlhühner, Scopidae und Psittacinae, und endlich typisch- indische Formen wie Palaeornis; dagegen fehlen ganz die afrikanischen Muso- phagidae, Coliidae, Vulturidae, Indicatoridae, Bucerotidae, Capitonidae, Otididae, Picidae u. a. Von Reptilien ist die große Zahl von Chamaeleonten, dagegen das Fehlen von giftigen Schlangen und von Amphibien das Fehlen des im ganzen tropischen Afrika gemeinen Krallenfrosches Xenopus hervorzuheben. Auf den Maskarenen waren einst Riesenlandschildkröten in großer Zahl vorhanden, heute leben nur noch Reste auf Aldabra und den Seychellen unter dem Schutze des Menschen. Die letztere Inselgruppe besitzt, obwohl sie kontinentalen Ursprungs ist, außer dem Flughund Pteropus keine einheimischen Säugetiere — Centetes, Hirsche und Ratten sind eingeführt — aber sie ist sonst DIR Madagaskar. Orientalische Region. 276 A. BRAUER: Tiergeographie außerordentlich reich an endemischen Arten, und fast jede Insel hat ihre be- sonderen Arten. b) Die orientalische oder indo-malayische Region. Vorderindien mit dem tropischen Himalayagebiet und Ceylon, Hinterindien und der Ma- layische Archipel und ferner das tropische und subtropische südliche China, die Insel Hainan und die Philippinen bilden die Hauptteile dieser Region. Von Säugetierfamilien sind folgende nur in dieser Region vorhanden: die Galeopithecidae, die sogenannten Flattermakis, die den Insektivoren am nächsten verwandtsind (östlich von Siam in Malakka, Borneo, Sumatra und auf den Philip- pinen), von Insektivoren die Spitzhörnchen Tupajidae (besonders in Hinter- indien, auf den Sundainseln und auf Hainan), ferner von Halbaffen die Kobold- makis Tarsidae (auf den großen Sundainseln, Celebes und den Philippinen) und die den Menschenaffen nahe stehenden Gibbons Hylobatidae in Hinterindien, auf den großen Sundainseln und auf Hainan. Die meisten übrigen in dieser Region vertretenen Ordnungen und Familien finden sich auch in Afrika und zum Teil in Europa; aber unter den Gattungen sind viele dem Gebiet eigentüm- lich und wichtig. In erster Linie ist der Orang-Utan auf Borneo und Sumatra zu erwähnen, weiter von Affen die Nasenaffen Nasalis, Simiops, die Kleider- affen Lasiopyga, von Halbaffen außer den schon angeführten Tarsidae die Le- muriden Sienops und Nycticebus in beiden Indien, auf Ceylon, Sumatra und Java. Eine interessante Tierform ist der Katzenbär oder Panda Atlurus im östlichen Himalaya, weil er der einzige altweltliche Vertreter der Waschbären ist. Von echten Bären sind der Lippenbär Melursus in Vorderindien und Ceylon und der Malayenbär Helarctos im westlichen Hinterindien, Malakka und auf den drei großen Sundainseln zu nennen, von Musteliden der weit verbreitete Palmenroller Paradoxurus, der Spitzfrett Helictis in Indien, Java und Süd- china, der Schweinedachs Arctonyx in Indien, Assam und China, und der Stink- dachs Mydaus in Java, von den wenig vertretenen Antilopen die gemsenartige Hirschziegenantilope Nemorhedus vom östlichen Himalaya bis Sumatra (ihr Ge- biet reicht nördlich aber noch bis Japan), die vierhörnige Antilope Tetraceros in Indien, das Nylgau Boselaphus in Indien und Assam, ferner von den Zwerg- hirschen Traguliden, die sonst nur in Westafrika noch mit einer Gattung ver- treten sind, die Gattung Tragulus und der zu den Schweinen gehörende Hirsch- eber Babyrussa auf Celebes. Von weit verbreiteten Gattungen und Arten mögen noch erwähnt werden die Affen Cercopithecus, Semnopithecus und Macacus, von denen die letzte Gattung im M. cynomolgus auf Celebes ihre östlichste Grenze hat, der Tiger, der nur Ceylon und Borneo fehlt, der Panther, der Nebelparder oder Irbis, ferner sind bemerkenswert: der Honigdachs in Ceylon, der Elefant in beiden Indien und im malayischen Archipel (in Borneo eingeführt), der Tapir in Malakka, Sumatra und Borneo, das einhörnige und zweihörnige Rhinozeros, ersteres im westlichen Hinterindien, Malakka, Java, Kalkutta, letzteres in Birma, Malakka und auf den drei großen Sundainseln, echte Schweine der Gat- tung Sus, von Arten der Gattung Bos der Gaur in Indien, der Banteng in Burma, Java, Bali, Lombok, der Karbau im ganzen Gebiet und die Anoa auf Celebes, Orientalische Region 27% von Hirschen der Aristoteleshirsch in Indien, Burma und China, der Axis- hirsch in Indien, der Schweins-, Schomburgh-, Leierhirsch und der Muntjak in der ganzen Region, das Schuppentier und der Flughund Pieropus im ganzen Gebiet. Der Löwe reicht nur vom Westen bis zur Nordwestgrenze von Indien, der Igel noch bis zur Bucht von Bengalen, echte Maulwürfe Talpidae fehlen. Unter den 55 im Gebiet vertretenen Vogelgruppen sind 27 kosmopolitisch, 14 auch in Afrika, 4 in Australien verbreitet und nur 5 sind ausschließlich indo- malayisch, nämlich die Pfauen Pavoinae, die Fasane Phasianae, die Hornrachen Eurylaeminae, die Blattvögel Phyllornithinae und die Gattung /rena. Sehr reich vertreten sind dieNashornvögel, Bienenfresser, Prachtdrosseln, Lerchen, Sonnen- vögel, Bärendrosseln, Tauben, Eisvögel u. a. Die gegebene knappe Übersicht über die in der äthiopischen und orientali- schen Region heute lebenden Säugetiere und Vögel läßt schon erkennen, wie eng beide faunistisch zusammengehören. Nicht nur viele Familien, sondern auch viele Gattungen sind beiden gemeinsam, so die Affen Semnopithecus, Cer- copithecus und Macacus, die Huftiere Rhinoceros, Bos, ferner Elephas, Mellivora, Manis u.a. Wenn wir von den weit verbreiteten Vögelgruppen absehen, sind von den 28 orientalischen und 27 afrikanischen Familien nicht weniger als 14 beiden Gebieten gemeinsam. Die Übereinstimmung in der Fauna wächst aber noch bedeutend, wenn wir die fossilen Säugetiere mit in die Betrachtung ziehen. Über die tertiäre Säuge- tierfauna des tropischen Afrika haben wir allerdings bis jetzt sehr geringe Auf- klärung erhalten. Dagegen hat die sogenannte pliocäne Siwalikfauna, die in weiten Gebieten der orientalischen Region gefunden ist, uns reiche Aufschlüsse gegeben. Unter anderen sind in ihr vertreten Schimpanse, Paviane, unter ihnen die Gattung Papio, Löwe, Gepard, Wölfe, Viverriden, Hyäne, Nilpferd, ein dem heutigen Warzenschwein verwandtes Schwein, Giraffe, Kudu, Säbel- und Elen- antilope, die Gattung Bubalis und wahrscheinlich auch der Wasserbock. In Persien sind auch Reste vom Erdferkel gefunden worden. Wir ersehen daraus, daß in den beiden Regionen nahezu dieselbe Tierwelt vorhanden gewesen ist. Eine ganz ähnliche Fauna hat zu derselben Zeit auch in Südeuropa gelebt, wie die sogenannten Pikermischichten erweisen. Sie ent- halten die Reste von Menschenaffen, Affen, Feliden, Hyänen, Wasserzwerg- moschustieren, Giraffen, Antilopen, darunter verwandte Formen von Elen-, Kudu-, Schirr-, Säbelantilopen, Gazellen, Rhinozeros, Erdferkel, Klippschlie- fer una. Ebenso haben wir Reste aus derselben Zeit aus Ägypten, die das Vorhanden- sein derselben Fauna auch für diesen Teil Afrikas erweisen. Aus dem tropischen Afrika dagegen sind tertiäre Säugetierreste erst in neuester Zeit sehr spärlich, aus dem größten Teil sogar gar nicht bekannt geworden, so daß wir keine klare Antwort auf die Frage erhalten, ob die für das heutige tropische Afrika so cha- rakteristischen Tierformen auch hier ihre Heimat gehabt haben oder erst im Pliocän aus Südeuropa und Südasien, wo sie sicher gelebt haben, eingewandert 278 A.BRAUER: Tiergeographie sind. Aber wir erhalten von anderenSeiten die Möglichkeit, auch auf diese Frage etwas bestimmter zu antworten, nämlich einmal durch die Fauna Madagas- kars und dann durch alttertiäre Ablagerungen in Ägypten und durch die Geo- logie. Wie wir gesehen haben, ist die Fauna Madagaskars besonders gekenn- zeichnet durch folgende zwei Eigentümlichkeiten: I. durch das Vorhan- densein und die starke Entwicklung von Halbaffen, Viverriden und Insecti- voren und 2. durch das Fehlen der für das heutige Afrika charakteristischen Huf- tiere, Affen, Raubtiere u. a. Zwar sind oder waren noch das Warzenschwein und Nilpferd vorhanden, aber es dürfte kaum eine andere Deutung ihres Vor- kommens möglich sein als daß sie in verhältnismäßig neuer Zeit vermöge ihres großen Schwimmvermögens nach der Insel gelangt sind. Woher hat nun Mada- gaskar seine Fauna erhalten? Die einen nehmen an, daß die Insel durch ein Land, Lemuria, das über die Seychellen und Chagosinseln mit dem Malayischen Archipel (nicht mit Ceylon) verbunden gewesen sei. Diese Annahme läßt sich stützen. Ich führe hier nur die Flughundgattung Pteropus, den Papagei Palae- ornis, das wandelnde Blatt Phyllium und dieKannenpflanze Nepenthes an, welche in der indomalayischen Region, auf den Seychellen (Palaeornis ist hier aus- gerottet) und Madagaskar verbreitet sind, nicht aber in Afrika. Diese Verbrei- tung — und Mollusken und Käfer liefern andere Beweise — ist nur durch die Existenz einer einstigen kontinuierlichen oder wenigstens durch nahe ge- lagerte Inseln gebildeten Landbrücke zwischen Madagaskar und dem Ma- layischen Archipel erklärlich. Aber es ist auch sicher, daß sie im Tertiär nicht mehr existiert haben kann, weil sonst auch andere Säugetiere nach der Insel hätten gelangen müssen. Für die Säugetiere Madagaskars ist es viel wahrschein- licher, daß sie von Afrika gekommen sind. Hat die Insel aber mit diesem Kon- tinent zusammengehangen, so kann es nur in einer Zeit gewesen sein, als die Huftiere, Affen, Raubtiere u.a. des heutigen Afrikas noch nicht daselbst lebten, da sie sonst auch in Madagaskar vorhanden sein müßten; d.h. also, Afrika hat vor der Einwanderung der Pikermi- und Siwalikfauna bereits Säugetiere gehabt, nämlich die, welche in Madagaskar heute noch leben, und weiter auch, wie die alttertiären Funde in Ägypten erweisen, Vorfahren der Elefanten und Schliefer Hyracoidea. Auch die Geologie lehrt uns, daß Afrika vor der Tertiärzeit durch das Mittelmeer, das aber viel breiter war, von Europa-Asien isoliert gewesen ist, und daß die Verbindung erst im Tertiär eingetreten ist. Über diese neue Landbrücke, die besonders im östlichen Teile gelegen war, ist dann die Pi- kermi- und Siwalikfauna eingewandert. Zugleich muß eine Ablösung Madagas- kars von Afrika erfolgt sein. Ob die Einwanderung der Affen, Huftiere, Raubtiere usw. nach Afrika erst in der jüngeren Tertiärzeit oder schon früher erfolgt ist, läßt sich, weil wir keine Reste, die älter sind als die pliocäne Siwalikfauna, aus dem tropischen Afrika kennen, nicht entscheiden. Es wäre auch möglich, daß sie schon vor der Ab- lösung Madagaskars erfolgt ist, nämlich unter der Voraussetzung, daß Mada- gaskar noch längere Zeit mit dem Teil Ostafrikas, der östlich der großen Seen- kette gelegen ist, in Verbindung gewesen wäre und mit demselben eine große Beziehungen zwischen der äthiopischen und orientalischen Region 279 Halbinsel gebildet hätte. Es würde dieses aber nur eine leichte Modifikation des Schlusses bedeuten, daß die Fauna Afrikas aus zwei Komponenten, aus früh eingewanderten oder in Afrika entwickelten und aus später eingewanderten Elementen sich zusammensetzt und daß die alten Formen, verdrängt durch die neuen, in Afrika nur in geringen Resten noch erhalten geblieben sind, da- gegen in Madagaskar infolge der Isolierung in ähnlicher Weise wie die Beuteltiere in Australien sich stark weiter entwickelt und differenziert haben. Die Ein- wanderung der neuen afrikanischen Tierwelt scheint über Arabien und dieNil- länder erfolgt zu sein und zwar vielleicht, weil Ostafrika damals eine mit Madagas- kar verbundene Insel war, zunächst nach Westen und von hier weiter auch nach Süden, da Westafrika manche indische Formen besitzt, die dem übrigen Afrika fehlen. Eine Einwanderung von Norden aus dem Mittelmeergebiet und Nordafrika scheint nur in geringem Grade im westlichen Küstengebiet vor sich gegangen zu sein. Wenn auch die Sahara nicht, wie man früher annahm, einst Meer gewesen ist, sondern ein großes Seengebiet, so scheint sie doch eineSchranke gebildet zu haben, da sonst die Unterschiede der Fauna Nordafrikas und der süd- lich der Sahara gelegenen Gebiete nicht verständlich sind. Dieser Schranke wird man wohl wenigstens zum Teil auch das gänzliche Fehlen der Hirsche, Bären und echten Schweine zuzuschreiben haben. Weshalb sie aber nichtaus derindomalay- ischen Region mit den anderen Huf- und Raubtieren eingewandert sind, erscheint schwer erklärlich. Topographische Schranken dürften kaum die Ursache sein, vielleicht aber biologische oder klimatische. Es wäre z. B. möglich, daß die große Zahl der Antilopen, andere Raubtiere, besonders Katzen, und andere Schweinegattungen die Hirsche, Bären und echten Schweine nicht aufkommen ließen, oder daß Hirsche und Bären hauptsächlich im gemäßigten Klima die günstigsten Bedingungen für eine kräftige Entwicklung finden. Bevor wir zumpalä- und nearktischen Teil der Arctogaea übergehen, möge noch ein Blick auf die Geschichte der indomalayischen Region geworfen wer- den, soweit sie die Säugetiere betrifft. Die lange Zeit herrschende Ansicht, daß diese Region von der australischen durch eine scharfe Linie, die sogenannte Wallacesche Linie, die den Malayischen Archipel durchschneiden sollte, ge- trennt sei, mußte aufgegeben werden, weil ihre Grundlage sich durch die neueren Forschungen, besonders der beiden Sarasin, Kükenthals, Webers u.a., als falsch erwiesen hatte. Vielmehr stellen die Inseln Celebes, die Molukken, die kleinen Sundainseln, Philippinen u. a. ein Mischgebiet dar. In der Jurazeit ist dort, wo heute der Archipel liegt, ein tiefes Meer gewesen. In der Kreidezeit be- gannen starke Hebungen und über die so entstandene Brücke ist wahrscheinlich die heutige Säugetierfauna Neu-Guineas und Australiens, also Monotremen, Beuteltiere und die altertümlichen Mäusegattungen, nach diesen Gebieten ein- gewandert. Am Ende der Kreidezeit oderam Anfang des Tertiärs hat wahrschein- lich in Verbindung mit starker eruptiver Tätigkeit eine Senkung besonders der östlichen Hälfte stattgefunden, durch die Neu-Guinea und Australien isoliert worden sind (und auch die Lemuria wahrscheinlich bis auf die heutigen Reste [Seychellen, Madagaskar u. a.] versunken ist). Einige Formen wie der Kusu, die 280 A. BRAUER: Tiergeographie alten Mäuse, Kasuar, Kakadus u. a., haben sich vielleicht auf Gebirgen, die als Inseln aus dem neuen Meere hervorragten, erhalten, sie wären also als Re- likte aus jener Zeit zu betrachten. Im Miocän sind neue Veränderungen einge- treten, welche wieder stärkere Hebungen veranlaßten, so das Gebiet der drei großen Sundainseln entstehen ließen und mit Hinterindien verbanden und fer- ner auch Celebes den Ursprung gaben. In dieser Zeit und im Pliocän wanderte die Siwalikfauna ein, und zwar, wie die reichen pliocänen Funde besonders auf Java, die die Reste vieler heute nicht mehr auf den Sundainseln lebenden Tiere wie die des Axishirsches, eines Riesenschuppentieres, eines Nilpferdes, einer Hyäne, von Rindern u. a. enthalten, erweisen, in weit stärkerem Maße als die heutige Fauna schließen läßt. Auch die heute nur auf Celebes noch lebenden Anoa, Babyrussa, Macacus maurus, Cynocephalus nigrescens sind damals von Java über eine jetzt nicht mehr vorhandene Brücke nach dieser Insel gewandert und haben sich hier allein erhalten. Von den großen Sundainseln hat Java sich am frühesten von Sumatra gelöst, dann Sumatra und zuletzt Borneo vom Fest- lande, wie sich aus der Verschiedenheit der Säugetierfauna der drei Inseln er- schließen läßt. Weil Java manche Formen besitzt, die auf Borneo und Suma- tra sich nicht finden, wohl aber in Hinterindien, so Helictis, das Nashorn, Lepus kurgosa und 5 Vogelgattungen, so haben manche eine besondere Verbindung Javas mit Hinterindien angenommen, doch ist es auch möglich, daß die frag- lichen Arten auf Sumatra und Borneo gelebt haben, aber ausgestorben sind. Celebes hat die wechselvollste Geschichte gehabt, indem es bald nach dieser, bald nach jener Richtung mit anderen Inseln in Verbindung getreten ist, so ungleichzeitig mit Java, mit den kleinen Sundainseln, den Molukken und Phi- lippinen. Sie ist bald Durchgangsgebiet für Tiere, die von Westen nach Osten, bald für solche, die von Osten nach Westen wanderten, gewesen. So erklärt sich die eigentümliche Mischfauna dieser Insel und auch der Molukken, kleinen Sundainseln und Philippinen; teils sind es Einwanderer aus älterer Zeit (Kreide- zeit oder Anfang der Tertiärzeit), die von Asien nach Australien wanderten und hier als Reste erhalten geblieben sind, teils Einwanderer in der jüngeren Zeit (Miocän- oder Pliocänzeit), die aus Asien über Hinterindien und die mit ihnen verbundenen großen Sundainseln oder von China über Hainan und die Philip- pinen nach diesem östlichen Teile des malayischen Archipels auf zeitlich ver- schieden sich bildenden, zum Teil schmalen und nur kurze Zeit bestehenden Brücken gelangten. Paläarktische c) Der noch übrig’ bleibende Teil der Arctogaea ist der größte; er umfaßt re ganz Nordamerika und die nördlichen Teile von Mexiko, besonders seine Hoch- ebenen, Europa, Nordafrika, das ganze nördlich der indomalayischen Region gelegene Asien und die arktischen Landmassen. Manche fassen diese Gebiete auch als die holarktische Region zusammen, andere trennen die arktischen, nörd- lich der Baumgrenze liegenden Teile als die arktische ab und unterscheiden wei- ter eine paläarktische (die altweltlichen) und eine nearktische Region (die neu- weltlichen Gebiete), wieder andere bewerten das südliche Nordamerika und die Mittelmeerländer als eigene Region und nennen erstere die sonorische, letz- Geschichte der indomalayischen Region. Palä- und nearktische Region 281 tere die mediterrane. Diese Verschiedenheit rührt zum großen Teil daher, daß die einen Forscher mehr die heutigen Verhältnisse zugrunde legen, die anderen dagegen den Ergebnissen, welche die reichen Fossilien über die Geschichte der Gebiete geliefert haben, mehr Geltung zu verschaffen suchen. Aber auch im ersteren Falle sind so scharfe Grenzen wie zwischen Noto- und Arctogaea und zwischen Neo- und Arctogaea nicht zu ziehen. In erster Linie sind es praktische Gründe, nämlich die Übersicht zu erleichtern, welche zu der Eintei- lung des ganzen Gebietes in Untergebiete geführt haben. Über die heutige Säugetier- und Vogelfauna wollen wir uns einen kurzen Überblick verschaffen, indem wir von Nord nach Süd vorgehen. Im Gebiete, das nördlich von der Baumgrenze und von der Südgrenze der Eisscholle gelegen ist, finden wir von Säugetieren vorwiegend den Eisbären, Eis- fuchs, Eishasen, Lemming, Moschusochsen und das Renntier und vereinzelt auch noch den Wolf und das Hermelin, von Meeressäugetieren, soweit sie noch auf das Land angewiesen sind, also von Robben das Walroß und die Klappmütze Cystophorus. Von Vögeln sind besonders aus den Familien der Alken, Möven, Regenpfeifer, Enten, Gänse, Taucher und Strandläufer viele Gattungen ver- treten, so der Taucher Urinator, die Möven Rissa, Xema, Pagophila, der Strand- läufer Phalaropus, die Eiderente Somateria, ferner auch die Schneeeule Nyctea, der Schneeammer Passerina, der Birkenzeisig Acanihis und das Schneehuhn Lagopus. Reptilien und Amphibien fehlen ganz. Von Fischen sind besonders die Salmoniden vorherrschend. Die angegebene Südgrenze ist natürlich keine scharfe. Manche Formen sind auch weiter südlich verbreitet, so der Schneehase, das Renntier, der Lemming, das Schneehuhn u. a. und ebenso reichen südliche Formen weiter nördlich, aber dieses kommt für unsere Betrachtung, die nur eine Übersicht geben soll, nicht in Betracht. Die genannten Säugetiere sind zirkumpolar verbreitet; der Moschusochse findet sich zwar heute nur im arktischen Amerika bis nach Grönland nord- wärts, aber wie Funde aus dem Diluvium erweisen, gehörte er einst auch der Fauna der Alten Welt an. Von den Vögeln sind unter 66 Gattungen von Brut- vögeln die Hälfte, von 150 Arten nicht weniger als ein Drittel zirkumpolar ver- breitet. An dieses arktische Gebiet schließt sich südlich das Waldgebiet der gemä- Bigten Zone an, dessen Südgrenze in Europa etwa mit der Nordgrenze der Mit- telmeerländer, in Asien mit der Nordgrenze Persiens und Afghanistans und des Wüstengürtels, der diesen Kontinent durchzieht, zusammenfällt. In Amerika ist es wenigerscharfbestimmbar,im allgemeinenreicht esetwabis zum45.Gradn.Br., erstreckt sich aber in den hohen Gebirgen der Rocky Mountains, Alleghannies, Sierra Nevada weiter südlich, dagegen in den Ebenen des Saskatchewan nur bis zum 54. Grad n. Br. Im Vergleich mit dem arktischen Gebiet ändert sich das Bild insofern, als einmal die Zahl der Säugetiere bedeutend zunimmt, die Zirkumpolarität dagegen abnimmt. Zwar ist die Zahl der gemeinsamen Gat- tungen immer noch groß, aber die Artverschiedenheit ist beträchtlicher und 282 A. BRAUER: Tiergeographie weiter treten daneben Gattungen auf, die nur auf die Alte oder Neue Welt be- schränkt sind. Von Säugetieren sind beiden Teilen dieses Gebietes gemeinsam die Gattungen Rothirsch Cervus, Elch Alces, Renntier Tarandus, Bison (Wisent, Büffel), Schaf Ovis, Schwein Sus, Biber Castor, Lepus (Kaninchen und Hase), Pfeifhase Lagomys, Eichhörnchen Sciurus, Fischotter Lutra, Canis (Wolf und Fuchs), Mustelus (Itis, Nörz), Vielfraß Gulo, Bär Ursus, Luchs Lynx und die Fledermäuse Microtus, Vesperugo und Vespertilio. Auf die Alte Welt sind be- schränkt die Gattungen Igel Erinaceus, Maulwurf Talpa, Rüsselmaus Myogale, Dachs Meles, Siebenschläfer Myoxus, Hamster Cricetus, Mus (durch den Men- schen und seine Verkehrsmittel erst in Amerika eingeschleppt), Ziege Capra, Gemse Rupicapra, Reh Capreolus, Esel, Pferd Equus, Kamel Camelus, Murmel- tier Arctomys. Auf die Neue Welt sind dagegen beschränkt von Nagern der Urson Erethizon, Haplodon, Neotoma, der Präriehund Cynomys, die Hüpfmaus Faculus, die Bisamratte Fiber, die Taschenratte Geomys, von Insektenfressern der Sternmaulwurf Condylura, die Erdspitzmäuse Blarinae, von Huftieren die Gabelgemse Antilocapra, die Schneegemse Haplocerus, von Raubtieren der Puma Felis concolor, der Dachs Taxidea, das Stinktier Mephitis, der Waschbär Procyon. Gehen wir noch weiter südlich, so bietet die Fauna dadurch ein anderes Bild, daß von den bisher genannten Formen die der gemäßigten Zone angehörigen mehr und mehr verschwinden, dagegen südlichere subtropische und tropische Formen, diezum großen Teilauch in der benachbarten Neogaea undin der indo- malayischen Regionsich finden, zahlreicher werden und in einzelnen geographisch abgeschlosseneren Gebieten auch neue Formen auftreten. So finden wir z. B. im südlichen Nordamerika, das man auch als die sonorische Region bezeichnet hat, neben Antilocapra, Mephitis, Lynx, Procyon, Neotoma, Erethizon u. a. auch die Beutelratte Didelphis, das Gürteltier Tatusia, das Pekari Dicotyles, den Nasen- bären Nasua, den südlichen Hirsch Cariacus und viele südliche Geomyidae und andere Nager und Fledermäuse. Eine solche Mischung ist hier nicht auffallend, da keine von Ost nach West verlaufenden Gebirge eine Schranke bilden. Ähnlich liegen die Verhältnisse auch im östlichen Asien, wo ebenfalls einer Mischung von paläarktischen und indomalayischen Formen kein Hindernis in den Weg tritt. So finden wir hier und ebenso im südlich der Tsugarustraße liegenden Japan, das früher fraglos mit dem Festlande durch eine Landbrücke verbunden war, neben dem Wolf, Bär, Fuchs, Ziesel, Maulwurf, Dachs, Igel auch die südlichen Macacus, Nemorhedus, das Wasserreh Hydropotes, das Moschustier Moschus, den Sikahirsch, den Tiger, Leopard, Irbis, den Viverrenhund Nyctereuthes, den schwarzen Bären Ursus tibetanus, das Stachelschwein Hystrix. Dagegen besitzt Zentralasien, besonders das Hochland Tibet, eine große Zahl von besonderen Formen. Außer dem Tiger, /Irbis, Leopard, Nyctereuthes, Gazellen, Spring- mäusen Dipodidae, Moschusspitzmäusen Myogalidae, Makaken und anderen auch östlich, wie schon erwähnt, vorkommenden Tieren ist hier die Heimat des Wildesels und des Wildpferdes, der wilden Kamele (Wüste Gobi), vieler Wild- ziegen und Wildschafe, des Yaks (Tibet), des Bambusbären Aeluropus (Tibet). Das Mittelmeergebiet erscheint besonders in seinen nordafrikanischen, Palä- und nearktische Region 283 syrischen, kleinasiatischen und südrussischen Teilen auch als Mischgebiet, indem wir hier auf der einen Seite typische europäische Formen wie Dachs, Iltis, Hirsch (Damhirsch), Ziege, Bär (nur fossil) finden, auf der anderen südliche Formen wie Löwe, Schakal, Leopard, Hyäne, Ginsterkatze und Ichneumon, die sogar bisnach Frankreich und Spanien nördlich verbreitet sind oder waren, Renn- mäuse Gerbillidae, Kammfinger Ctenodactylus, Rüsselspitzmaus Macroscelides, Klippschliefer Procavia, Macacus und die Antilopen Oryx, Addax und Gazel- len. Besonders im Nilgebiet, wo keine Wüste, kein Gebirge oder eine andere Schranke sich findet, ist die Grenze zwischen dem Mittelmeergebiet und der äthiopischen Region weniger scharf. Ein ähnliches Bild wie für die heutigen Säugetiere bieten uns auch die an- deren Landwirbeltiere; also je mehr wir weiter nach Süden in Nordamerika und in Europa-Asien vorschreiten, um so geringer wird die Zahl der in beiden Ge- bieten vorkommenden gleichen Gattungen und nimmt die Zahl der südlichen auch in der Neogaea, in der äthiopischen und indomalayischen Region verbrei- teten Formen zu. Nur vereinzelt sind ganze Familien nur auf den alt- oder nur auf den neuweltlichen Teil beschränkt. Während in dem arktischen Gebiet, wie wir bereits gesehen haben, eine sehr große Zahl von Gattungen und selbst Arten zirkumpolar verbreitet sind, sind im gemäßigten und subtropischen Gebiet von 41 Vogelgruppen, die sich im neu- und altweltlichen Teil finden, nur 17 beiden gemeinsam, 24 sind nur in Eurasien, I6 nur in Nordamerika, aber von 54 Fa- milien Nordamerikas sind nicht weniger als 25 südlicher Herkunft, und zwar 17 südamerikanisch, die anderen zirkumtropisch; der größte Teil ist selbst in vielen Gattungen noch in Südamerika vertreten, so die Kolibris (Trochilidae), Tyran- nidae, Cathartidae, Cracidae, Crotophagidae, Icteridae u.a. Nur eine Unter- familie, die Meleagrinae, hat ihre Heimat im gemäßigten Nordamerika. Ebenso sind von den 69 Familien und Unterfamilien in der paläarktischen Region 9 auch arktisch, 23 kosmopolitisch (meist auch afrikanisch und indomalayisch), 32 tro- pisch (12 afrikanisch) so Wiedehopfe Upupidae, Flamingos Phoenicopteridae, Geier Vulturidae, Lerchen Alaudidae, Sonnenvögel Nectariniidae, Bienenfresser Meropidae, Trappen Otididae, Kraniche Gruidae, Störche Ciconiidae, Honig- kuckucke Indicatoridae und Flughühner Pteroclidae oder indomalayisch, wie die Fasanen Phasianidae; nur zwei Unterfamilien, die Grasmücken Sylviinae und die Alpenkrähen Fregilinae und die Gattung Tetrao haben ihre Heimat in diesem Gebiet. Von bekannteren Formen mögen als nur in Europa-Asien weit verbreitet die Stare Sturnidae, Fliegenfänger Muscicapidae, Schwirrsänger Lo- custella, Gartenspötter Hypolais, Braunellen Accentorina, Nachtigall, Rot- und Blaukehlchen Lusciniinae, Steinschmätzer Saxicolinae, echte Finken Fringilla, Stieglitz Carduelis, Gimpel Pyrrhula genannt sein, ferner als alt- und neuwelt- lich verbreitet die Drosseln Turdidae, Elster Pica, Nußhäher Nucifraginae, Sei- denschwanz Ampelis, Kreuzschnabel Loxia, Hänfling Linota, Eichelhäher Gar- rulus, Meisen Paridae, Goldhähnchen Regulinae u. a. Von den Reptilien möge nur hervorgehoben werden, daß auf der ganzen nördlichen Halbkugel pleurodire Schildkröten, d.h. solche, die ihren Kopf nicht 284 A. BRAUER: Tiergeographie unter den Schild zurückziehen, sondern nur seitwärts legen können, fehlen, daß Alligatoren und Krokodile, Ringelnatter Tropidonotus, Coluber im ganzen gemäßigten und subtropischen Gebiet vorkommen, Eidechsen Lacertiden, Blind- schleiche Anguis, Natter Coronella, Kreuzotter Vipera berus nur altweltlich sind, die Klapperschlange Crotalus und die Leguane /guaniden nur neuweltlich. Von Amphibien fehlen dem Gebiet die Blindwühlen Gymnophiona, da- gegen sind die der südlichen Halbkugel so gut wie ganz fehlenden Schwanz- lurche Urodela reich vertreten. Echte Laubfrösche sind spärlich. Alt- und neu- weltlich sind die Gattungen Kröte Bufo, Laubfrosch Ayla, Frosch Rana und Spelerpes; nur altweltlich der Olm Proteus, Unke Bombinator, Geburtshelfer- kröte Alytes, Teichunke Pelobates und der in Japan lebende Riesensalamander Megalobatrachus, nordamerikanisch Desmognathinae, Plethodontinae, Axolotl Amblystoma, Sirenidae, Amphiumidae. Von Süßwasserfischen verdienen beson- ders hervorgehoben zu werden die Störe Acipenseridae, Hechte Esocidae, Lachse Salmonidae, die ihr Haupt- oder alleiniges Verbreitungsgebiet im gemäßigten Nordamerika und Eurasien haben. Sehr zahlreich sind ferner die auch andere Gebiete der Erde bewohnenden Barsche Percidae, karpfenartige Fische Cypri- nidae (Karpfen, Weißfische), Schlammpeitzger u. a., Neunaugen Petromyzon- tidae und Welse Siluridae vertreten. Dieser kurze Überblick über die Wirbeltierfauna der paläarktischen und nearktischen Region läßt schon klar die große Übereinstimmung der Tierwelt in beiden erkennen und zeigt, wie berechtigt es ist, beide zu einem Reich zu vereinigen. Die Übereinstimmung wird aber durch die Hinzuziehung der fos- silen Tierwelt noch größer. Die außerordentlich reichen Funde aus dem Ter- tiär in beiden Gebieten lassen uns nicht nur viele Familien, ja selbst Gattungen in ihrer Verbreitung und Geschichte weit zurückverfolgen, sondern zeigen uns auch, wie die Formen, die heute nur auf diese oder jene Region beschränkt sind, früher auch in der anderen gelebt haben. Ich erwähne nur, daß die Gat- tungen Pferd und Kamel auch in der Neuen Welt verbreitet gewesen sind, ja sogar hier ihre Heimat gehabt haben und erst später von hier nach der Alten Welt gewandert, in der neuen aber ausgestorben sind, ferner daß Elefanten, Rhinozerosse, Tapire, Moschusochs, Halbaffen, Beuteltiere u. a. beiden Gebie- ten angehört haben. Diese Tatsache der großen Übereinstimmung der heutigen und der fossilen Tierwelt ist nur dadurch erklärlich, daß die Alte Welt im Tertiär im Osten und Westen über Island und das Beringsmeer mit Amerika in breitem Zusammen- hang gewesen ist und über diese Brücken ein reicher Austausch stattgefunden hat, und ferner daß, wie uns ebenfalls die Paläontologie lehrt, im Tertiär bis weit nach Norden in den heute gemäßigten und subarktischen Gebieten ein wärmeres, subtropisches Klima geherrscht hat. und somit auch keine klima- tische Schranke den Austausch gehindert hat. Auf Grund der reichen tertiären Reste müssen wir sogar weiter schließen, daß die nördliche Halbkugel ein großes Entwicklungszentrum für die meisten heutigen Säugetiere gewesen ist. Indessen der Zusammenhang der Alten und Neuen Welt und die klimatische Geschichte der palä- und nearktischen Region. Eiszeit 285 Verschiedenheit derselben im Tertiär erklären uns noch nicht alle Erscheinun- gen der Verbreitung der Tierwelt in der palä- und nearktischen Region. Einmal bleibt noch unerklärt die reiche Mischung mit südlichen Formen, ferner das Vorkommen vieler arktischer Formen in den Gebirgen Mitteleuropas, so des veränderlichen Hasen, des Schneehuhns, des Schneeammers, der Salmoniden und vieler wirbelloser Tiere und auch sehr vieler Pflanzen, dann die Erscheinung des WandernsdesRenntiers, derZugvögelund mancher Fische, besonders des Lachses. Um für diese ein Verständnis zu gewinnen, müssen wir noch zwei Fak- toren in Betracht ziehen, nämlich den Menschen und die Eiszeit. Die Einwir- kung des Menschen beschränkt sich zwar nur auf die Vernichtung vieler beson- ders großer Formen durch seine Waffen und die mit ihm vordringende Kultur, aber sie ist trotzdem nicht hoch genug einzuschätzen, und besonders in der Gegenwart sind durch ihn viele alte und zoologisch und tiergeographisch wich- tige Tiere bereits ausgerottet oder gehen sicher ihrem Untergange entgegen. Man denke nur an die Veränderung des tiergeographischen Bildes im Kapland, wo Elefant, Giraffe, Quagga, Rhinozeros, viele Antilopen u. a. bereits gänzlich verschwunden sind! Aber noch weit eingreifender war die Eiszeit, unter welchem Namen die ver- schiedenenKälteperioden, dieim Diluvium auf der nördlichenHalbkugel einander gefolgt sind, zusammengefaßt werden mögen. Wenn auch manche früheren An- sichten über die Tiefe der Temperatur, die Größe der Vergletscherung u.a. sich als übertrieben herausgestellt haben, so kann doch darüber kein Zweifel sein, daß für die meisten Säugetiere und noch mehr für die Vögel Gebiete, in denen sie in der Tertiärzeit gelebt haben, während der Eiszeit nicht bewohnbar waren. Die starke Ausdehnung der Gletscher, wie ihre Spuren so deutlich beweisen, und damit das Herabrücken der Schneegrenze sind nicht zu bestreitende Tat- sachen und die vielen Reste der im Diluvium gefundenen nordischen Tiere bis zu dem Fuß der Pyrenäen und Alpen südwärts, wie Eisfuchs, Moschusochs, Lem- ming, Renntier u.a., reden ebenso wie das Verschwinden der meisten pliocänen und pleistocänen, an wärmeres Klima gebundenen Säugetiere eine zu deutliche Sprache. Diese starken Verschiebungen lassen sich nur auf klimatische Ver- änderungen zurückführen, und andere als die Eiszeit sind uns nicht bekannt. Versuchen wir nun in Kürze ein Bild von den Wirkungen der Eiszeit zu gewin- nen, wobei ich hauptsächlich Europa berücksichtigen will! Als erste Wirkung ist die Verdrängung der Tiere nach dem Süden und von den Gebirgen in die Ebenen zu verzeichnen. Die nordischen Tiere wanderten zum Teil, wie schon erwähnt, bis zum Fuß der Pyrenäen und Alpen, wo wahrscheinlich tundrenartige Ebenen ihnen noch Nahrung und Unterkunft boten. Alle frühe- ren Bewohner dieser nördlich der Gebirge liegenden Gebiete, welche sich dem kalten Klima nicht anpassen konnten, wurden weiter südlich gedrängt, oder, was für einen großen Teil wahrscheinlicher ist, vernichtet, weil die Gebirge für eine große Strecke eine unübersteigbare Schranke bildeten. Nur dort wo die nörd- lichen Länder nach dem wärmeren Süden breit sich öffneten, wie besonders im Südosten Europas, dürfte die Wanderung von größerem Erfolg begleitet ge- Einfluß der Eiszeit. 286 A. BRAUER: Tiergeographie wesen sein. Allerdings ist dabei nicht zu vergessen, daß diese südlichen Gebiete bereits durch eine reiche Tierwelt besetzt waren, die den neuen Einwanderern das Land nicht ohne direkten und noch mehr indirekten Kampf überlassen ha- ben dürfte, anderseits wird sie aber durch den Druck der neuen Einwanderer ebenfalls zu Bewegungen in südlicher Richtung veranlaßt worden sein, die je weiter südlich um so mehr an Intensität verloren. An diesen großen Wande- rungen werden alle Tiere beteiligt gewesen sein, soweit sie über größere aktive Bewegungsorgane verfügten; wo diese fehlten, dürften sie dem Untergang kaum entgangen sein. Hatten naturgemäß die Interglazialzeiten auch Rückwanderungen in das wieder bewohnbar gewordene Land zur Folge, so erfolgten diese doch erst in größerem Maße und führten allmählich zu den heutigen Verhältnissen hinüber, als die Periode der Eiszeiten ihr definitives Ende erreichte. Wenn die Studien auch noch keineswegs abgeschlossen sind, so lassen sich doch schon jetzt diese Rückwanderungen für manche Tiere und ebenso die Neubildung der Wälder und die Verschiebung ihrer Nordgrenze auf Grund der postglazialen Ablagerun- gen verfolgen. Die nordischen Tiere wanderten allmählich wieder dem Norden, ihrer einstigen Heimat zu, einige blieben aber in den gebirgigen Teilen, wo sie ähnliche zusagende Lebensbedingungen fanden, so der veränderliche Hase, das Schneehuhn, so die Forelle, der Saibling, die Maräne und viele wirbellose Tiere, die, durch die Eiszeit nach Süden getrieben, in die Flüsse aufwärts gewandert waren, die dann aber nach der stärkeren Erwärmung der Unterläufe nicht mehr in das Meer zurückwandern, sondern nur in den kalten Gebirgsbächen, in den Quellengebieten oder in den kalten Tiefen der Seen eine neue Heimat finden konnten. Die neueren Forschungen weisen überall im Zwischengebiete zwischen dem Norden und den Gebirgen besonders aus der wirbellosen Fauna Relikte der Eiszeit nach. Infolge der Rückwanderung nach den nördlichen Gebieten wurde im Süden Neuland frei, das dann auch allmählich wieder bevölkert wurde. Von Säuge- tieren sind es zum Teil die Formen gewesen, welche in präglazialer Zeit hier ge- lebt haben, zum Teil aber sind besonders von Osten und Südosten andere Tiere eingedrungen, so z. B. manche Steppentiere, wie Wildesel, Springmaus, Ziesel, Murmeltier, Hamster, Pfeifhase, Saigaantilope u. a., wie ihre mit den Knochen von Renntier, Schneehase, Eisfuchs, Gemse, Moschusochs u.a. zusammen gefundenen Reste beweisen; ein großer Teil ist allerdings später, als das Klima wieder feuchter wurde und der Wald sich wieder entwickelte, wieder zurück ge- wandert. Ob man auch die in der Mittelmeerregion heute lebenden südlichen Formen wie Ginsterkatze, Schakale, Gazellen, Klippschliefer, Affen, Hyänen u.a. als postglaziale Rückwanderer aus Afrika oder dem südlichen Asien oder als Relikte der präglazialen Fauna bewerten soll, läßt sich noch nicht sicher entscheiden, vielleicht treffen beide Möglichkeiten zu. In Nordamerika dürfte, da hier im Süden von Ost nach West ziehende Gebirge keine Schranke bildeten, die Neueinwanderung südlicher Tiere eine stärkere gewesen sein als in Eu- ropa und Asien. Eiszeit. Antarktische Region 287 Diese Bewegung vom Süden nach dem Norden hat auch in historischer Zeit noch fortgedauert und scheint auch jetzt noch nicht ihr Ende erreicht zu haben. Besonders das Rhone- und Rheintal und Ungarn und Schlesien scheinen die wichtigsten Eingangsstraßen zu bilden. Die gleiche Bewegung vom Norden nach dem Süden mit der Ausbildung der Eiszeit und die rückläufige Bewegung mit ihrer Abnahme zeigen uns auch die Vögel, nur dürfte hier der Prozentsatz der vernichteten Formen geringer ge- wesen sein als bei den Säugetieren, weil sie vermöge ihrer größeren Beweglich- keit leichter und sicherer nach Süden ausweichen konnten. Wie schon hervor- gehoben wurde, ist die Zahl der südlichen indischen und äthiopischen Elemente in den gemäßigten Teilen der paläarktischen Fauna sehr groß. Ist esauch kaum fraglich, daß diese erst nach der Eiszeit eingewandert sind, so ist es doch auch wahrscheinlich, daß sie vor der Eiszeit, wenigstens zum großen Teil, diese da- mals warmen Gebiete bewohnt hatten; es sind also nicht neue ihnen fremde Ele- mente, sondern vielmehr die alten Bewohner, welche in ihre alte tertiäre Hei- mat, aus der sie die Eiszeit vertrieben hatte, wieder zurückkehrten. Auch die Wanderungen des Renntiers, der Zugvögel und auch mancher Fische, besonders der Lachse, sind, wie hier nur noch kurz hervorgehoben sei, als Wirkungen dieser großen klimatischen Erscheinung aufzufassen. Es ist sehr wohl möglich, daß die Vogelwanderungen auch in früheren Zeiten, wo immer es klimatisch verschiedene Gebiete mit jährlichem größerem Temperaturwech- sel gegeben hat, stattgefunden haben, aber das heutige Bild in den nördlich ge- mäßigten Teilen der Alten und Neuen Welt kann sich erst nach ihrer erneuten Besiedlungsfähigkeit ausgebildet haben. Dafür spricht auch der Verlauf der Zugstraßen. | Die antarktische Region ist ein an Arten armes, aber doch an eigen- artigen Formen verhältnismäßig reiches Gebiet, das eine Sonderstellung ver- langt. Eine besondere tiergeographische Bedeutung hat sie dadurch erlangt, daß sie mit den drei südlichen Kontinenten in Verbindung gewesen sein und so eine Brücke für einen Austausch der Tiere zwischen ihnen gebildet haben soll. Diese Region umfaßt einmal den jetzt sicher nachgewiesenen antark- tischen Kontinent und ferner die ihm anliegenden, subantarktischen Inseln, wie Kerguelen, Crozet, Südgeorgien u. a. Die Fauna besteht aus fol- genden Säugetieren und Vögeln. Von ersteren kommen nur Meeressäugetiere in Betracht, und zwar Robben, von denen die Roßrobbe, Weddelrobbe, Seeleopard, Krabbenfresser ganz auf diese Region beschränkt sind. Von Vö- geln haben drei Familien hier ihr Verbreitungszentrum, nämlich die Pinguine Spheniscidae, Sturmvögel Procellaridae und Scheidenschnäbel Chionidae. Außerdem sind noch einige Enten, Kormorane und ein Pieper Anthus wichtig. Von etwa 53 Arten findet sich die Hälfte nur in dieser Region. Das antarktische Festland besitzt nur den Kaiserpinguin Aptenodytes forsteri, den Adelie-Pin- guin Pygoscelis adeliae, die Sturmvögel Pagodroma nivea und Thalassoeca ant- arctica, die Raubmöve Stercorarius maccormicki und die Seeschwalbe Sterna antistrophe, die anderen gehören den subantarktischen Inseln an. Die meisten Antarktische Region. 288 A. BRAUER: Tiergeographie sind zirkumpolar verbreitet, nur die Scheidenschnäbel, die nicht auf die hohe See gehen, haben sich auf deneinzelnen Inseln zu besonderen Arten differenziert. Was nun die Frage einer ehemaligen Verbindung der drei südlichen Kon- tinente durch oder ohneVermittlung der Antarktis betrifft, so ist eine Verbindung der Antarktis mit Südamerika noch in der Tertiärzeit wahrscheinlich und mit Neuseeland vielleicht vorhanden gewesen, dagegen nicht mit Afrika und Austra- lien, wenigstens nicht mehr vom Anfang der Tertiärzeit an. Das außerordent- lich tiefe Meer, das die deutsche Valdiviaexpedition zwischen Afrika und der Ant- arktis nachgewiesen hat, macht eine Verbindung zwischen beiden Ländern sehr unwahrscheinlich. Auch die tiergeographischen Gründe sind, soweit sie sich auf Wirbeltiere stützen, nicht ausreichend. Es werden besonders folgende angeführt: 1. das Vorkommen der Beuteltiere in Australien und Südamerika, 2. die Verbrei- tung derstraußartigen Vögel in den drei Kontinenten, 3. das Vorkommen der so- genannten Edentaten, Erdferkel, Schuppentier in Afrika und Gürteltier, Amei- senbär und Faultiere in Südamerika, 4. der Riesenschildkröten auf den Maska- renen und Galapagos und aller pleurodiren Schildkröten in den drei südlichen Kontinenten, 5. der drei Lurchfische in den drei Kontinenten, 6. das Vorkommen der Fischgattung Galaxias in den drei Kontinenten. Was zunächst die Beutel- tiere betrifft, so haben wir schon früher gesehen, daß ihre ältesten Reste der nörd- lichen Halbkugel angehören und daß deshalb wahrscheinlich von hier aus ihre Einwanderung in Australien und Südamerika stattgefunden hat. Wäre eine Ver- bindung zwischen beiden Ländern noch in der Tertiärzeit vorhanden gewesen, so wäre das Fehlen anderer südamerikanischer Säugetierein Australien völlig unver- ständlich. Neuseeland und Afrika müßte man aber sicher von dieser Verbindung ausscheiden, da hier bisher noch keine Reste von Beuteltieren gefunden sind. Die sogenannten Edentaten Südamerikas und Afrikas und ebenso diestrauß- artigen Vögel können nicht mehr für die uns beschäftigende Frage in Betracht kommen, seitdem die neueren Untersuchungen ergeben haben, daß es sich um völlig künstliche Gruppen handelt, die Elemente enthalten, die gar nicht oder nur sehr entfernt mit einander verwandt sind. Die Verwertung der heutigen Verbreitung der pleurodiren Schildkröten wird dadurch unmöglich gemacht, daß fossile Formen auch auf der nördlichen Halbkugel in weiter Verbreitung gefun- den sind. Ebenso sind die heutigen Lurchfische nur die kümmerlichen Reste einer einst zahlreichen und weit verbreiteten Klasse. Von den Galaxiiden gehen noch heute einige Arten zum Laichen ins Meer, eine Art ist ganz marin. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer anderen Erklärung für die heutige Verbreitung in den drei südlichen Kontinenten, nämlich, daß die Galaxiiden unabhängig von- einander in die Flüsse der drei Länder eingewandert sind. Mithin liegt auf Grund der rezenten und fossilen Verhältnisse der Wirbeltiere keine Veranlassung vor, die drei südlichen Kontinente durch Brücken direkt miteinander oder durch Vermittlung der Antarktis zu verbinden, wenigstens nicht von der Tertiärzeit ab. Es ist aber sehr wahrscheinlich, besonders auf Grund der Verbreitung fos- siler Saurier und von wirbellosen Tieren, daß vor dieser Zeit Verbindungen vor- handen gewesen sind. Meeresfauna. Für ihre Verbreitung wichtige Faktoren 289 lI. Meeresfauna. Von den Bewohnern der Hydrosphäfre zeigen die Süßwassertiere au- ßer den Planktonten der Seen, einigen wirbellosen Tieren der Uferregion und den Fischen noch enge Beziehungen zum Lande, so daß ihre Verbreitung noch wesentlich von denselben Faktoren bestimmt wird wie die der Landtiere. Da- gegen stellen die Meerestiere eine fast völlig selbständige Einheit dar. Denn abgesehen von den Robben, Vögeln, Schildkröten und einigen besonders auf Korallenriffen lebenden Schlangen, die nur ihre Nahrung in oder auf dem Meer suchen, sonst aber vor allem zur Fortpflanzungszeit auf das Land angewiesen sind, und abgesehen von manchen Fischen und Krebsen, die aus dem Meer in die Flüsse und umgekehrt wandern, ist die Meeresfauna nur an das Meer gebun- den, und ihre Zusammensetzung und die ihre Verbreitung bedingenden und ge- staltenden Faktoren sind wesentlich andere alsfür die Land- und Süßwassertiere. Diejenigen Formen, welche in der Landfauna am stärksten hervortreten, in der Tiergeographie die Hauptrolle spielen und für die Erklärung der Entwick- lung des heutigen Verbreitungsbildes besonders in Betracht kommen, die Wir- beltiere, treten außer den Fischen in der Meeresfauna ganz in den Hintergrund. Die Wale allein sind echte Meeresbewohner. Die Insekten sind nur durch die Meerwanzen, die Halocariden, vertreten. Dagegen dominieren die Fische, Krebse, Würmer, Moostierchen Bryozoen, Schwämme Spongien, Hydrozoen und Protozoen (Radiolaria, Globigerinen, Tintinnen, Flagellaten u. a.); aus- schließlich marin sind die Stachelhäuter Echinodermen, Tintenfische Cephalo- poden, Flossenfüßer Pteropoden, Kielfüßer Heteropoden, Armfüßer Brachio- poden, Manteltiere Tunicaten, Rippenquallen Ctenophoren, Lappenquallen Scyphomedusen, Korallen Anthozoen, Röhrenquallen Siphonophoren. Nicht minder groß sind die Verschiedenheiten in bezug auf die Faktoren, die die Verbreitung bedingen. Die ganze Oberflächengestaltung des Lan- des mit ihrer Mannigfaltigkeit durch Hoch und Niedrig, durch die Verschieden- heiten der Vegetation und des Klimas, durch den Wechsel der Jahreszeiten und die durch diese Faktoren oft bedingte Begrenzung der Verbreitungsmöglichkeit, der Einfluß der geographischen Isolierung auf die Ausbildung von Arten, ein ähnlicher Faktor wie der enge Zusammenhang der Verbreitung der Tiere mit der Geschichte des Landes, dieses und vieles andere fehlt zwar nicht ganz, tritt aber uns in ganz anderer Art und meistschwächerem Grade entgegen. Die Küsten der Kontinente geben die alleinigen festen Grenzen ab, Inseln, die im Ozean sich erheben, stören, so groß sie auch sein mögen, das gleichförmige Bild wenig. Der Boden der Ozeanbecken ist zwar nicht gleichmäßig glatt, sondern auch hier haben wir ein Hoch und Niedrig oft selbst in großer Abwechslung, aber dieses Oberflächenrelief kann nur selten zur Geltung kommen, weil es zu tief gelegen ist und das Meer ringsum dieselben Bedingungen bietet. Nur dort können Höhen- züge wirksam sein, wo sieso nahe zur Oberfläche reichen, daß sie als Querriegel verschieden temperiertes Wasser scheiden. Ebenso haben Hebungen und Sen- kungen des Landes, die für die Landfauna ihre Gebiete verbreitern oder ver- K.d.G.II.ıv,Bd 4 Abstammungslehre etc. Ig 290 A. BRAUER: Tiergeographie engern, die Tiere vermischen oder isolieren und zu großen Wanderungen Anlaß geben, für die Meeresfauna so gut wie keine Bedeutung. Selbst die Verbindung zweier Länder oder die Zerstörung von Landbrücken führen wohl zur Vereini- gung oder Trennung von zwei Ozeanen und zur Vermischung ihrer Faunen oder zur Unterbrechung des früher einheitlichen Gebietes, bleiben sonst aber für die Fauna meist ohne Bedeutung, da die Tiere nicht neuen Existenzbedingungen ausgesetzt werden. Dagegen sind andere Faktoren, die auf dem Lande eine geringere oder gar keine Rolle spielen, im Meere von großer Bedeutung. Weniger kommt eine Ver- schiedenheit der chemischen Zusammensetzung des Seewassers in Frage, weil diese abgesehen von einigen mehr oder weniger scharf vom Ozean getrennten Becken, die durch den Mangel oder durch den Reichtum des Zuflusses von Süß- wasser oder durch den Mangel einer genügenden Zirkulation besondere Verhält- nisse bieten, wie z. B. die Ostsee, das Mittelmeer, das Schwarze Meer, im Ozean nur sehr geringe Schwankungen aufweist, die auf die Verbreitung der Tiere kei- nen großen Einfluß auszuüben scheinen. Dagegen sind drei Faktoren von sehr großer Bedeutung, die Strömungen, die Temperatur und das Licht. Die Temperatur zeigt zunächst in den Oberflächenschichten große Ver- schiedenheiten nach den Breiten, und diese Unterschiede gewinnen dadurch be- sonders auf die Verbreitung großen Einfluß, daß das Oberflächenwasser in per- manenter Bewegung ist und die kalten und warmen Strömungen je nach ihrer Geschwindigkeit dort, wo sie aufeinander treffen, mehr oder weniger scharfe Grenzen schaffen, welche für die meisten Tiere, besonders alle diejenigen, die stenotherm sind, d.h. die nur geringe Schwankungen der Temperatur zu er- tragen vermögen, wie starke Schranken wirken. Die Bedeutung dieser Schran- ken, die die Temperatur setzt, wächst noch dadurch, daß ein sehr großer Teil der Tiere passiv durch die Strömungen fortbewegt wird, ihre Verbreitungsmög- lichkeit daher durch die Ausdehnung und den Verlauf der kalten und warmen Ströme direkt bestimmt wird. Innerhalb der Warm- und Kaltwassergebiete sind die Differenzen der Temperatur im allgemeinen weniger plötzlich und be- deutungsvoll. Dagegen treten uns solche wieder in vertikaler Richtung ent- gegen, zwar nicht in den polaren Gebieten, weil hier nur im Sommer das Ober- flächenwasser sich etwas mehr erwärmt als das tiefere Wasser, wohl aber in den Warmwassergebieten. Hierfinden wir, daß von der Oberfläche an bis 400— 600 m die Abnahme der Temperatur verhältnismäßig rasch erfolgt; z. B. beiden Cap- verden von 25—29 C an der Oberfläche bis auf 8—9° in 400m Tiefe, während sie von hier an gleichmäßig und langsam bis auf 34," in 2000 m und bis auf 2° am Boden sinkt. Wir haben eine verhältnismäßig dünne Oberflächenschicht mit warmem Wasser, die über einer mächtigen kühleren Schicht lagert. Dieses gilt nur im allgemeinen. Im einzelnen gibt es Gebiete, in denen die Schichtung des warmen Oberflächenwassers und des kühleren Tiefenwassers anders ge- staltet ist, das erstere tiefer reicht oder das letztere höher hinaufsteigt. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Es möge nur hervorgehoben werden, daß in abgetrennten Becken, in die das kalte Tiefenwasser infolge eines hohen Quer- Bedeutung von Strömungen, Temperatur und Licht 291 riegels nicht eindringen kann, eine hohe Temperatur bis zum Grunde erhalten bleibt, so z. B. im Mittelmeer von 300 m bis 3700 m 13°, in der Sulusee zwischen den Philippinen und Borneo von 730 m bis 4660 m 10,3° beträgt. Daß dieser Unterschied der Temperatur in den Oberflächenschichten bis etwa 400 m und in den tieferen Schichten auch einen großen Einfluß auf die vertikale Ausbrei- tung vieler Formen haben muß, ist fraglos, weil alle Meerestiere außer den Walen wechselwarm und daher von der Temperatur ihrer Umgebung sehr abhängig sind. Allerdings gilt dieses nur für die sogenannten stenothermen Formen, nicht für die eurythermen, die die Differenz der Temperatur ihrer Umgebung und ihres Kör- pers leicht auszugleichen vermögen und deren Existenz deshalb innerhalb gro- ßer Differenzen der Temperatur möglich ist. Steno- und Eurythermie ist aber nicht auf bestimmteGruppen beschränkt, sondern fast jedeGruppe enthältsowohl steno- wie eurytherme Formen. Daß die Tiefseetiere in den Ozeanen beim Fang fast stets tot an die Oberfläche kommen, hat sicher zum großen Teil in der ver- schiedenen Temperatur der Tiefsee und der Oberflächenschichten seinen Grund. Außer durch die kalten und warmen Strömungen und außer durch die höhere Temperatur sind die Oberflächenschichten noch dadurch verschieden von den tieferen, daß sie den Winden und Niederschlägen ausgesetzt sind. Wenn auch ihr Einfluß nur vorübergehend ist und kaum bis zu IOO m im besten Fall sich bemerkbar machen kann, so kommen sie doch für die Oberflächentiere in- sofern in Betracht, als sie diese zwingen, in die Tiefe zu gehen, oder wenn dies nicht möglich ist, selbst vernichtend auf sie wirken können. Wichtiger aber noch als die bisher besprochenen Faktoren ist das Licht. Auf Grund der bis jetzt vorliegenden Untersuchungen besonders mit photographischen Platten dringt das Sonnenlicht nur wenig tief in das Meer ein, wobei die roten Strahlen sehr bald, die blauen erst spät absorbiert werden. Bereits in 80 m Tiefe muß das Meer lichtarm genannt werden und 400 m ist die Grenze, bis zu welcher Pflanzen noch zu assimilieren vermögen. Ob das Licht, wenn auch in sehr ge- ringen, für uns mit photographischen Platten nicht mehr feststellbaren und für das Gedeihen nicht mehr genügenden Quantitäten, nicht doch noch tiefer dringt, diese Frage muß noch offen bleiben. Wenn die Tiefen lichtlos wären, müßten wir erwarten, daß ihre Bewohner ebenso wie die der Höhlen blind wären oder ver- kümmerte Augen hätten. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die meisten Tiere, besonders Fische, die sicher in großen Tiefen leben, haben wohl ent- wickelte Augen, sie müssen also sehen können. Die Ansicht, daß die Tiefen durch das_Licht, das die Tiere selbst erzeugen, erhellt werden, steht mit der Tatsache, daß die meisten leuchtenden Tiere nicht in den tiefen Schichten leben, nicht im Einklang. Die leuchtenden Tiere leben vorwiegend in den lichtarmen Schichten von etwa 400—800 m und steigen nachts zum großen Teil sogar an die Ober- fläche. Wir kennen z.B. keinen Fisch und keinen Krebs, der am Grunde lebt und leuchtet. Es wäre aber möglich, daß leuchtende Bakterien am Grunde in großer Zahl verbreitet wären, doch ist hierüber nichts Sicheres bekannt. Wie dem aber auch sei, es ist Tatsache, daß in den Tiefen unter 400 m kein für die Assimi- lation der Pflanzen genügendes Licht vorhanden ist. Das ist eine sehr wichtige 19* 292 A. BRAUER: Tiergeographie Tatsache, weil damit für alle tiefer lebenden Tiere die Pflanzen als Nahrung nicht in Betracht kommen können. Auf Grund dieser Betrachtungen über die für die Verbreitung der Meeres- fauna in Betracht kommenden Faktoren ergibt sich die Abgrenzung folgender Gebiete in den Ozeanen: I. die Oberflächenschichten bis zu 400 m (höhere Tem- peratur [außer in den polaren Gebieten], Bewegung, Licht und Pflanzenleben), 2. die unter 400 m liegenden Schichten (niedrige Temperatur, sehr geringe Be- wegung!), kein Pflanzenleben). Weiter teilen sich die Oberflächenschichten in die kalten und warmen. Die Grenzen bilden im Atlantischen Ozean der kalte Labrador- und der warme Golfstrom im Norden, der kalte Falkland- und Benguelastrom und die kalte Osttrift und der warme Brasilstrom im Süden, im Stillen Ozean der warme Kuroschiwo- und der kalte Kurilenstrom im Norden und der warme ostaustralische Strom und Ausläufer der kalten Östtrift im Süden. Der Indische Ozean hat nur warmes Wasser und ist im Süden durch die kalte zirkumpolar verlaufende Osttrift begrenzt. Betrachten wir nunmehr die Fauna! Zunächst möge die Frage kurz ge- streift werden, ob in allen den genannten Gebieten Tierleben möglich ist. Frü- her wurde sie dahin beantwortet, daß unter 550 m kein Tier wegen des großen Druckes und wegen Mangel an Licht und an Pflanzennahrung existieren könne. Diese Ansicht hat sich als falsch erwiesen. Der verschiedene Druck in den ver- schiedenen Tiefen ist für die Tiere wirkungslos, weil derselbe Druck auch im Innern des Tieres vorhanden ist. Er kann nur dann für die Tiefentiere in Be- tracht kommen, wenn sie in höhere oder tiefere Schichten steigen oder sinken und nicht imstande sind, einen Ausgleich zwischen dem jetzt verschieden wer- denden inneren und äußeren Druck herbeizuführen. Letzteres vermögen aber sehr viele, besonders wirbellose Tiere, welche keine festen Körperpanzer und keine mit Gasen erfüllte Räume im Innern haben, sehr leicht, wie ihre große vertikale Verbreitung und ihre vertikalen Wanderungen beweisen. — Das Licht macht nur jenen Tieren das Leben in größeren Tiefen unmöglich, in deren Kör- per Algen symbiontisch leben, wie esz. B. bei manchen Protozoen und Würmern der Fall ist. Als Nahrung können freilich für die Tiefseetiere Pflanzen nicht mehr in Betracht kommen, sondern nur andere Tiere oder die in den Oberflä- chenschichten sterbenden und in die Tiefen niedersinkenden Pflanzen und Tiere. Auch die Ansicht, daß wohl am Boden Tierleben möglich, aber die zwischen dem Boden und der Tiefe von 400 m liegenden Wasserschichten nicht von Organis- men belebt seien, ist besonders von Chun einwandfrei als falsch nachgewiesen, wenn auch keine Frage sein kann, daß das Leben in diesen Tiefen viel weniger reich ist als in den oberflächlichen belichteten Schichten. Leben ist aber überall bis zu den größten Tiefen vorhanden mit Ausnahme einiger weniger Becken wie z. B. des Schwarzen Meeres und einiger norwegischer Fjorde. Diese sind aus- r) Auch in vertikaler Richtung bewegt sich das Wasser, indem das kalte in den polaren Gebieten sich zum Boden senkt, in niedere Breiten sich bewegt und am Äquator wieder aufsteigt, aber diese Bewegung ist so langsam, daß sie für die Verbreitung der Tiere kaum in Betracht kommen dürfte. Allgemeines über Verbreitung der Meerestiere. Litorales Benthal 293 gezeichnet durch starken Süßwasserzufluß und geringe Kommunikation mit dem Meere. Infolgedessen lagert sich das leichte Süßwasser auf dem schweren Salzwasser und es fehlt für die Tiefe die Vertikalzirkulation. Durch Verwesung und Zersetzung der schwefelhaltigen Eiweißstoffe der toten, von oben herab- sinkenden Organismen wird das tiefe Salzwasser schwefelwasserstoffhaltig in so hohem Grade, daß Organismen nicht existieren können. Schaffen wir uns jetzt über die Verbreitung der Meerestiere einen allge- Einteilung meinen Überblick! Wir müssen zunächst zwei große Gruppen unterscheiden, ? eerestere das sind die Bodentiere und die vom Boden unabhängigen Tiere. Die ersteren Verbreitung. fassen wir als das ,Benthal‘‘, die letzteren als das ,‚Pelagial‘ zusammen. Zum Benthal rechnen wir nicht nur die am Boden festsitzenden oder am Boden krie- chenden Tiere, sondern auch diejenigen, die in einer schmalen Schicht über ihm leben, sei es, daß sie nur wie viele Fische vom Boden sich vorübergehend lösen, um ihren Platz zu verändern, seies, daß sie dauernd über ihm schwimmen, vom Boden aber ihre Nahrung nehmen. Ferner ist es für die Zurechnung zum Benthal gleichgültig, in welcher Tiefe die Tiere leben, ob in der belichteten Uferzone, in der nur Pflanzenleben möglich ist, oder in den unter 400 m liegenden Schichten der Abhänge der Kontinente und Inseln und auf dem Boden der Ozeanbecken, nur wird man beide als Untergruppen des Benthal sondern, die ersteren als das litorale Benthal, die letzteren als das Bathybenthal. Ebenso kann man im Pelagial zwei große Untergruppen auf Grund der- selben Verschiedenheit der Hochsee oder des Pelagos in vertikaler Richtung unterscheiden, nämlich die in den 0—400 m umfassenden Schichten lebenden als das superfizielle Pelagial und die zwischen 400 m und dem Boden lebenden als das Bathypelagial. 1. Das litorale Benthal. Die belichteten Abhänge der Kontinente und Litorales Inseln sind durch eine große Mannigfaltigkeit der Existenzbedingungen aus- Fe gezeichnet, indem starker Wechsel des Bodens (sandig, sumpfig, felsig, bewach- sen oder kahl, glatt oder klippenreich), große Verschiedenheit in der Bewegung des Wassers (Gezeitenwechsel, Brandung oder gegen die Wirkungen des bewegten Wassers geschützte Lage), große Differenzen der Temperatur, an den Einmün- dungen von Flüssen Vermischung mit Süßwasser und sehr günstige Ernährungs- bedingungen (außer der Produktion von Nahrung im Gebiet selbst noch reiche Zufuhr durch die Wellen) vorhanden sind. Dementsprechend finden wir hierauch die größte Mannigfaltigkeit des Tierlebens und der Anpassungen an die verschie- denen Existenzbedingungen. Ein großer Teil ist festsitzend oder von Röhren oder anderen Gehäusen umschlossen oder im Sand vergraben, mit großen Fang- und Wimperapparaten zum Herbeistrudeln versehen, ausgezeichnet durch star- kes Regenerationsvermögen und durch freischwimmende Jugendstadien oder Geschlechtstiere; ein anderer Teil ist kriechend oder auch frei schwimmend, aber mit Klammerorganen zum Schutz gegen Fortgeschwemmtwerden versehen. Foraminiferen, Spongien, Echinodermen, Hydroidpolypen, Anthozoen, Bryo- zoen, Crustaceen, Mollusken außer Ptero- und Heteropoden, Brachiopoden, fest- sitzende Ascidien und Fische sind am meisten im litoralen Benthal vertreten. 294 A. BRAUER: Tiergeographie Das großartigste Tierleben und die größte Tiergemeinschaft bietet im Ben- thal unstreitig das Korallenriff. Infolge der starken Abhängigkeit von der Temperatur, die nicht unter 20° C betragen darf, und der Notwendigkeit einer reichen Nahrungszufuhr ist die Verbreitung der Rifftiere auf frei in den Ozean vorragende Küsten von Festländern oder von Inseln in den Tropen beschränkt. Die Südsee und der Indische Ozean sind am reichsten an Riffen, im Atlantischen Ozean finden wir sie nur im Westindischen Archipel und an den Bermudas. Man unterscheidet das ringförmig eine Lagune umschließende Atoll, das der Küste direkt angelagerte Küstenriff und das von ihr durch eine Lagune getrennte Wallriff. Diese verschiedenen Formen sind in erster Linie durch die Gestalt des Untergrundes, auf dem sie sich erheben, dann durch die Geschichte desselben, ob er eine Senkung oder Hebung durchgemacht hat, und durch die Bauweise der Korallen nach oben und außen bedingt. So verschieden aber auch die Form und so verschieden die Lage der Riffe ist, außer den westindischen Riffen finden wir durchweg die gleiche Zusammensetzung der an ihrem Bau und ihrer Zer- störung beteiligten Tierwelt. Es kommen besonders die massigen Poritiden, die stark verzweigten Madreporiden und die zu den Hydrozoen gehörenden Mille- poriden in Betracht, außerdem viele andere wie Astraeiden, Gorgoniden usw. Im Westindischen Ozean treten die Gorgoniden stark hervor. An jedem Riff muß man einen lebenden und einen toten Teil unterscheiden. Der lebende bildet die dem Meer zugewandte Außenseite; er steigt steil aus 30—40 m Tiefe auf, hängt oft über und reicht bis zur Ebbegrenze. Dieser Teil liegt ganzin der Brandungs- zone und damit im Gebiet der reichsten Nahrungszufuhr. Daher ist hier das üppigste Wachstum und reiches Tierleben. Außer den Korallen finden wir Fische, Krebse, Echinodermen, Würmer u.a., welche in der verschiedensten Weise dem Leben zwischen den Korallen und dem Festhalten auch in der stärksten Brandung angepaßt sind, zum Teil wie die zu den Echinodermen gehörenden Euryaliden mit verzweigten Armen die Korallen umklammern oder wie viele Fische mit zu Saugnäpfen umgewandelten Brustflossen versehen sind oder wie Krebse abge- plattet sind, so daß sie gerade zwischen die einzelnen Polypen eines Korallen- stockes sich einklemmen können, oder wie manche Würmer und Rankenfüßer von der Koralle umwachsen werden bis auf eine Öffnung, durch die sie sich Nahrung herbeistrudeln können, u.a. Die Korallen, die nicht der Brandung widerstehen, werden nach der Küste oder Lagune geworfen, hier allmählich mehr und mehr zerrieben, zum Teil wieder verkittet, und das feinere Material als Korallensand der Küste zugeführt oder in der Lagune abgelagert. Beifrei im Ozean liegenden Riffen ist der Teil, der an den verhältnismäßig schmalen leben- den Teil nach innen sich anschließt, tot; er setzt sich in den tieferen Schichten aus den abgestorbenen Korallen, in den oberflächlichen aus den durch die Bran- dung losgerissenen Blöcken zusammen. Tot ist dieser Teil aber nur in bezug auf die riffbauenden Korallen, im übrigen ist hier ein außerordentlich rei- ches Tierleben, an dem die verschiedensten Gruppen beteiligt sind. Eine große Zahl hat sich in den toten Korallenblöcken eingenistet, besonders Echinodermen, Würmer, Muscheln, Krebse, andere leben in den ruhigen zahllosen Lücken zwi- Korallenriffe. Verbreitung des litoralen Benthal 295 schen denBlöcken, über die dieBrandungswelle hinwegbraust, Nahrung bringend, aber ohne ihnen zu schaden, so viele Einzelkorallen, Schwämme, Manteltiere, Schnecken, Stachelhäuter, Würmer, Moostierchen, Krebse, Fische u.a. Eine andere große Tiergemeinschaft bilden die Austernbänke der gemäßig- ten Zone. Im Gegensatz zu den stenothermen Rifftieren sind sie eurytherm, da sie die großen Differenzen der Temperatur im Sommer und Winter aushalten können. Was nun die Verbreitung der das litorale Benthal zusammensetzenden Tiere betrifft, so ist zunächst hervorzuheben, daß man nicht wie für die Land- fauna Gebiete abgrenzen kann, auf welche bestimmte größere Gruppen be- schränkt sind, vielmehr finden wir im allgemeinen eine ziemlich gleichmäßige Verbreitung innerhalb der warmen und kalten Gebiete aller Ozeane und erst für Familien, meist sogar erst für Gattungen tritt eine stärkere Spezialisierung hervor. Im Atlantischen Ozean sind die westlichen, amerikanischen Küsten des Warmwassergebiets faunistisch verschieden von den östlichen, europäisch-afri- kanischen; ähnliches gilt für den Pazifischen Ozean. Dagegen scheint eine solche Sonderung im Indischen Ozean nicht möglich zu sein, sondern hier bildet die ganze Küstenfauna nur eine Region. Die Fauna der Kaltwassergebiete ist im antarktischen Teil zirkumpolar verbreitet, ebenso, wie es nach den bis jetzt vor- liegenden, aber noch sehr lückenhaften Untersuchungen scheint, auch im arkti- schen Teil; nur im Beringsmeer scheint eine stärkere Differenzierung der For- men eingetreten zu sein. Diese Gliederung ist in erster Linie wohl dadurch be- dingt, daß im Atlantischen und Stillen Ozean die Küsten der Inseln, welche die West- und Ostküsten der Kontinente in Verbindung setzen könnten, im Kalt- wassergebiet gelegen sind und deshalb einen Austausch der westlichen und öst- lichen Tiere des Warmwassergebiets nicht gestatten. Da im Indischen Ozean die die östlichen und westlichen Küsten verbindende kontinuierliche Brücke auch von warmem Wasser bespült wird, so ist hier eine Ursache zur Speziali- sierung nicht vorhanden, und die litoralen Tiere an den ostafrikanischen wie indo-malayischen Küsten sind im allgemeinen sehr gleichartig. Weil viele Be- wohnerdeslitoralen Benthals wie Echinodermen, Würmer, Hydrozoen, Mollusken, Fische, Krebse, Brachiopoden dauernd oder als Larven frei schwimmend sind oder besondere derVerbreitung dienendeGeschlechtstiere ausbilden, könnte man erwarten, daß durch sie ein Austausch direkt durch den Ozean durch die Strö- mungen ermöglicht würde, und die genannten Gegensätze zwischen dem öst- lichen und westlichen Litoral sich nicht ausbilden könnten. Indessen scheint diese Ansicht nicht zuzutreffen. Entweder können die Larven sich nicht so lange schwebend erhalten, um zum andern Ufer zu gelangen, oder sie bleiben im Kreislauf der Strömungen, ohne geeigneten Boden für ihre Niederlassung zu finden, oder siewerden durch Strömungen wie z.B. durch die nördlichen Aus- läufer des Golfstromes in das Kaltwassergebiet geführt und gehen hier zugrunde. Es scheint ein solcher Austausch von Ufer zu Ufer direkt durch die Hochsee des Ozeans sogar so wenig in Betracht zukommen, daß wir in den Fällen, wo Teile des litoralen Benthals der östlichen und westlichen Küsten sehr weitgehende Bathybenthal. 296 A.BRAUER: Tiergeographie Übereinstimmungen zeigen wie z. B. die Mollusken, Brachiopoden u. a. der westindischen und der nördlichen westafrikanischen Küsten, mit größerer Wahr- scheinlichkeit diese Übereinstimmung auf das Vorhandensein einer früheren Landbrücke zwischen beiden Gebieten zurückführen dürfen, an deren Küsten die Tiere sich von Westen nach Osten haben verbreiten können. Daß die Gleich- heit der Fauna auf beiden Seiten der Landenge von Panama ihren Grund in einer früheren Verbindung beider Ozeane hat, wurde früher schon hervorgehoben. Die Verteilung des litoralen Benthals innerhalb derselben Region ist natür- lich keine gleichmäßige, sondern richtet sich nach der verschiedenen Gestaltung des Bodens, Ebenso wie wir auf dem Lande Wald-, Wüsten-, Gebirgstiere usw. unterscheiden können, haben wir eine Sand-, Schlick-, Klippenfauna u. a. Im einzelnen die Bewohner für die westatlantische, ostatlantische, indische, west- und ostpazifische, arktische und antarktische Region anzuführen ist hier wegen desgeringen zur Verfügung stehenden Raumes nicht möglich; man müßte dann bis auf die Arten eingehen. Das Bathybenthal besitzt zwar einige Tiergruppen, welche im litoralen gar nicht oder nur sehr schwach vertreten sind, so die Glasschwämme Hex- actinelliden, die Haarsterne Crinoiden, von Fischen die Macruriden, die Oncho- cephaliden u. a., oder es sind einige Gruppen sehr schwach vertreten wie z.B. die kurzschwänzigen Krebse Brachyuren; aber die Zahl der Tierformen, welche auch im litoralen Benthal vertreten sind, überwiegt derart, daß man es nur als ein verarmtes litorales Benthal bezeichnen kann. Zum Teil sind die Gattungen oder selbst die Arten noch bis in die belichteten Zonen hinauf verbreitet oder sind hier durch nahe verwandte vertreten. Selbst im Falle größerer Verschiedenheit ist ihre Abstammung von litoralen Formen doch noch so deutlich, oder wird durch fossile Formen vermittelt, daß über die Her- kunft des Bathybenthal von dem litoralen kein Zweifel sein kann. Die Tiere sind aus der belichteten Zone allmählich an den Abhängen der Kontinente und Inseln in die Tiefe gewandert und haben sich je nach dem Grade dieser Wan- derung differenziert, so daß im allgemeinen die Verschiedenheit von ihren litoralen Verwandten wächst, je weniger Beziehungen noch zu der belichteten Zone erhalten geblieben sind. Während z.B. die litoralen Fische auf beiden Seiten der Landenge von Panama dieselben Arten sind, sind die in die Tief- see eingewanderten von den litoralen und von denen der anderen Seite mehr weniger stark verschieden. Die Differenzierung hat aber nur selten eine neue Richtung eingeschlagen, welche die Formen als Bewohner des Bathybenthals charakterisieren würde, im Gegenteil muß die Gleichförmigkeit mit den lito- ralen Formen auffallen. So zeigen z. B. die Seitenschwimmer Pleuronectiden der Tiefsee unter den Fischen ebenso wie die der belichteten Zone eine gefärbte Ober- und eine lichte Unterseite, so ist der Angler Lophius in größeren Tiefen nicht anders gebaut als in der Uferzone. Selbst die Wirkungen des Lichtmangels geben sich nur in vergrößerten Augen, die aber auch nur bei einigen Formen vorhanden sind, und in der permanenten Dunkelstellung des Retinapigments, im Fehlen von Zapfen und in der größeren Länge und Zahl der Stäbchen kund. Bathybenthal. Pelagial 297 Alle anderen Eigentümlichkeiten sind solche, wie wir sie auch bei Bodentieren der belichteten 400 m-Zone finden. Aus dieser Herkunft des Bathybenthals aus dem litoralen erklärt sich auch, soweit die bisherigen Untersuchungen ein Urteil gestatten, die Überein- stimmung in der Verbreitung. Auch hier sind die meisten Familien zirkum- polar und zirkumtropisch, dagegen sind die Gattungen wieder an den östlichen und westlichen Küsten des Atlantischen und Stillen Ozeans verschieden, an allen des Indischen Ozeans aber gleich. Die frühere Annahme, daß die Tiefsee- grundfauna völlig kosmopolitisch sei und daß sie auch über die Böden der Tief- seebecken ebenso reich verbreitet sei wie an den Abhängen, ist dagegen nicht richtig. Die Böden wirken vielmehr etwa wie die Wüsten auf dem Lande als Schranken, weil sie an den meisten Stellen von einem derartig tiefen Schlamm in dichterer und feinerer Verteilung bedeckt sind, daß sie nur für wenige Tiere wie einige Echinodermen, Würmer, Protozoen u. a. bewohnbar sind. Nur dort, wo sich die Böden zu Bänken erheben, und sandig oder steinig sind, ist eine reichere Fauna zu finden. Ebenso sind auch die Abhänge der Kontinente in den Tiefen je nach dem Grade der Steilheit und nach der Natur ihres Bodens verschieden stark besiedelt. So sind z. B. die Abhänge der tropischen westafri- kanischen Küste sehr arm an Tierleben, die der ostafrikanischen dagegen sehr reich, weil jene steil abfallen und von einem zähen Schlick bedeckt sind, diese dagegen langsam abfallen und einen sandigen, für die Ansiedlung von Tieren sehr günstigen Boden haben. Ein ganz anderes Bild als das Benthal bietet uns dagegen das Pelagial. Das superfizielle ist zwar ganz aus dem litoralen Benthal, das Bathypelagial zum größten Teil aus dem superfiziellen Pelagial und zum kleinsten Teilaus dem Ba- thybenthal entstanden, aber trotz dieser Herkunft ist das Pelagial doch infolge der völligen Unabhängigkeit vom Boden und damit des Zwanges, sich dauernd schwimmend oder schwebend zu erhalten, wesentlich verschieden zusammen- gesetzt. Die meisten sind Tiere, die dem Benthal jetzt ganz fehlen, ein kleinerer Teil ist zwar mit verwandten Formen auch dort vertreten, aber sie sind dann fast durchweg in eigenartiger Weise den Bedingungen des Pelagos angepaßt. Das Pelagialsetztsich hauptsächlich zusammen I. aus Pteropoden, Heteropoden, Ctenophoren, Siphonophoren, Scyphomedusen, Salpen, Appendicularien, den Würmern Sagitten, Alciopiden, Tomopteriden, den einzelligen Radiolarien, Tintinnen, Globigerinen und Flagellaten, 2. aus Walen, Fischen, Krebsen, besonders Copepoden, Schizopoden und Decapoden. Die erste Gruppe ist ganz dem Pelagial eigentümlich, die letztere hat auch verwandte Formen im Benthal. Wir können unter diesen Tieren zunächst wieder zwei Gruppen sondern, nämlich I. solche, welche unabhängig von den Bewegungen des Wassers durch ihr starkes Schwimmvermögen sich verbreiten können und 2. solche, deren Ver- breitung ganz von den Bewegungen des Wassers bestimmt wird, weil sie ent- weder gar nicht schwimmen, sondern nur schweben, oder weil ihre Schwimm- stärke so gering ist, daß sie die Wirkung der Strömungen nur unterstützen, sel- ten abschwächen, aber nicht überwinden können. Die ersteren, zu denen die Pelagial. 298 A. BRAUER: Tiergeographie Wale, Fische und größeren Tintenfische und im Bathypelagos und in Gebieten der Oberfläche mit ruhigem Wasser wegen des Fehlens stärkerer Strömungen auch Krebse, gehören, bilden das Nekton, die letzteren, alle übrigen das Plankton; von Metazoen kommen am meisten die kleinen, zu den Krebsen schörenden Copepoden in Betracht, da sie 90 °/, aller mehrzelligen Tiere des Planktons ausmachen. Eine scharfe Grenze ist zwischen Nekton und Plank- ton aber nicht vorhanden. — Das Gebiet, das vom Pelagial bewohnt wird, ist zwar infolge seiner Ausdehnung in horizontaler und vertikaler Richtung das größte der Erde, gliedert sich aber, wie schon angegeben wurde, in sehr einfacher Weise, nämlich I. in die 400 m tiefe, belichtete, auch von Pflanzen bewohnte Schicht und 2. in die unter 400 m liegende; weiter sondert sich das erstere Gebiet wieder in das der kalten polaren Wasser und in das des war- men Wassers. Ferner läßt sich das superfizielle Pelagial noch in ein Küsten- oder litorales und Hochseepelagial oder Eupelagialsondern, indem die Eier und Larven von Echinodermen, Krebsen, Fischen, Anthozoen, Bryozoen, Mol- lusken, Würmern u.a., die Medusen der Hydroidpolypen und andere freischwim- mende Stadien von litoralen Tieren vorzugsweise in der Nähe der Küsten pela- gisch leben, bis sie ihre Entwicklung beendet haben und zu Gliedern der Boden- fauna werden. Ein Teil von ihnen wird allerdings durch Ströme auch in die Hochsee passiv hinausgeführt und geht wahrscheinlich zum größten Teil nach mehr oder minder längerer Zeit zugrunde, ohne den geeigneten Boden zur Nie- derlassung gefunden zu haben. Eine Scheidung dagegen nach den Ozeanen scheint sich nicht begründen zu lassen, vielmehr stellt sich, je weiter die Unter- suchung des Pelagials der Ozeane fortschreitet, mehr und mehr heraus, daß die Verbreitung der Nektonten und Planktonten der kalten Wassergebiete eine zir- kumpolare, die der warmen Wassergebiete eine zirkumtropische ist. Die Ver- teilung des Bathypelagials scheint sogar infolge des Mangels verschieden temperierter Gebiete eine kosmopolitische zu sein. Um einige auffallende Formen des Atlantischen Ozeans zu nennen, sei er- wähnt, daß für den Golfstrom besonders die Meduse Pelagia, die Siphonophoren Physalia, Velella und Porpita, die Schnecken Glaucus und /anthina und die Salpe Salpa confoederata charakteristisch sind, für die arktische Region die Me- dusen Aglaura digitalis und Mertensia, die Pteropoden Limacina helicina und Clione limacina u.a., für die antarktische die Salpe S. magellanica, die Ptero- poden Clio sulcata und Spongiobranchaea australis, die auf Macrocystis lebenden Tiere u.a. Außer dieser großen Einteilung lassen sich in den Warmwasserge- bieten noch kleinere Gebiete unterscheiden, so diejenigen Flächen ruhigen Was- sers, die innerhalb des Zirkels der Ströme liegen. Das bemerkenswerteste Unter- gebiet letzterer Art ist die Sargassosee im Atlantischen Ozean. Durch Stürme wird der Tang Sargassum bacciferum aus den Uferzonen Westindiens losgerissen und von dem Golfstrom als ‚‚Golfkraut‘‘ auf das hohe Meer geführt, sammelt sich schließlich in dem ruhigen Gebiet zwischen den Azoren und Bahamas und bildet hier große allerdings wenig dichte Wiesen. Diese Sargassosee hat ihre eigene Fauna. Zum Teil sind es Tiere, die an dem Kraut schon an den Küsten Pelagial 299 festsaßen und mit ihm in die Hochsee geführt sind, so Seerosen, Rankenfüßer Lepas, Bryozoen, Hydroiden, zum Teil sind es Bewohner des Pelagials, welche zwischen dem Kraut Schutz suchen, so kleine Fische, Krebse, Würmer u.a. Manche von ihnen sind in interessanter Weise sogar dem Leben zwischen dem Tang angepaßt. Von den Nektonten des superfiziellen Pelagials sind wohl die interessan- testen Formen die fliegenden Fische Exocoetus und Dactylopterus, welche auf die Warmwassergebiete beschränkt sind. Sie schnellen sich durch einen kräftigen Schlag der Schwanzflosse aus dem Wasser und vermögen sich, indem die verlängerten Brustflossen wie Fallschirme wirken, verhältnismäßig sehr weite Strecken außerhalb des Wassers zu erhalten. Weit stärkere Umbildungen lassen viele Nektonten des Bathypelagials erkennen, sowohl die Fische wie die Tintenfische und manche Decapoden undSchizopoden. Wenn auch andere Far- ben vorkommen, so herrscht unter den Fischen doch die schwarze, unter den Krebsen die rote Farbe vor. Viele Fische sind durch Schuppenlosigkeit und den Mangel einer Schwimmblase ausgezeichnet; beides erleichtert ihnen wahr- scheinlich einen Ausgleich zwischen dem äußeren und inneren Druck rasch her- beizuführen; dadurch sind die Tiere imstande, in vertikaler Richtung über größere Gebiete sich rasch zu verbreiten, was wegen der spärlichen Nahrung be- sonders für Raubfische notwendig ist. Die letzteren fallen ferner durchweg durch ein starkes Gebiß, ein weites Maul und einen sehr ausdehnungsfähigen Magen auf. Die interessantesten Anpassungen bieten entschieden die Leuchtorgane und Augen bei vielen Fischen, Krebsen und Tintenfischen. Die Leuchtorgane sind umgebildete Drüsen, deren Sekret im Wasser oder durch Berührung mit dem Sauerstoff des Blutes aufleuchtet. Die Tiere scheinen hauptsächlich in den Tie- fen zwischen 400 und 800 m am Tage zu leben, bei Nacht aber steigt ein großer Teil auch in die Oberflächenschichten auf, dagegen scheinen sie die größeren Tiefen nicht aufzusuchen. Die biologische Bedeutung der Leuchtorgane ist eine sehr mannigfaltige, indem sie zum Anlocken von Beutetieren, zum Ableuchten der Umgebung, zur Erkennung der Geschlechter und Artgenossen dienen. Offenbar unter der Einwirkung des geringen Lichtes hat sich bei vielen Nek- tonten eine besondere Augenform ausgebildet, welche bei Tieren in der obe- ren 400 m-Zone fast gar nicht verbreitet ist. Es ist das Teleskopauge, wie Chun diese Form bezeichnet hat. Es ist bei allen durch starke Verlängerung der Sehachse und durch große Gesichtsweite, bei Fischen und Tintenfischen auch noch dadurch ausgezeichnet, daß die Augenachsen parallel zueinander ge- stellt sind und damit binokuläres Sehen ermöglichen. Außerdem sind im ein- zelnen noch viele Eigentümlichkeiten vorhanden, auf die hier aber nicht einge- gangen werden kann. Die Hauptbedeutung der Umbildung des Auges dürfte in der möglichst starken Ausnutzung des in der Tiefsee vorhandenen schwachen Lichtes liegen. Abgesehen von diesen Eigentümlichkeiten, die ein Teil der Nektonten zeigt, finden wir bei ihnen keine Unterschiede, die nicht auch bei anderen schwimmen- den Tieren vorhanden sind. Dagegen ist dieses der Fall beim Plankton. Die 300 A. BRAUER: Tiergeographie meisten Planktonten besitzen Einrichtungen, um sich schwebend im Wasser zu erhalten. In Fischeiern finden wir häufig Fettkugeln, durch welche ihr spezi- fisches Gewicht so erleichtert wird, daß sie nicht untersinken. Bei Radiolarien ist der Gallertmantel, der sie außen umhüllt, mit Vakuolen durchsetzt und in ihnen findet sich eine Flüssigkeit, welche leichter als Seewasser ist. Eine Ent- leerung der Vakuolen ermöglicht den Tieren ein Sinken, eine Füllung ein Steigen. Medusen, Salpen sind durch starke Entwicklung von Gallerte, Siphonophoren durch besondere Gasbehälter ausgezeichnet; bei anderen ist durch Verbreiterung der Oberfläche z. B. durch Fortsätze, Membranen, verlängerte und verbreiterte Borsten, flügelartige Lappen u. a. der Reibungswiderstand erhöht und ein Sin- ken verhindert oder verlangsamt. Je mehr die Planktonten bekannt werden, um so mehr Anpassungen in dieser Richtung werden bekannt. Da die meisten Planktonten nicht ihre Beute aufsuchen, sondern nur die Pflanzen oder Tiere nehmen können, welche ihnen zufällig in den Weg schwim- men, so sind weiter oft besondere Einrichtungen zum Fangen derselben ausge- bildet in Gestalt von Wimperapparaten zum Herbeistrudeln, von langen Ten- takeln, die mit Saugnäpfen oder mit Nesselzellen, wie bei Tintenfischen, Medu- sen, Siphonophoren besetzt sein können, von Reusenapparaten von kompli- ziertestem Bau wie bei Appendicularien, von Leuchtorganen zum Anlocken, von Fangborsten und Haken u.a. Eine andere Gruppe bilden die Schutzeinrichtungen, lange Stacheln z. B. bei vielen Krebslarven, Durchsichtigkeit der Gewebe, Ausstoßung aufleuchten- der Sekrete (bei Krebsen), Schutzfarben u. a. Von den Planktonten haben eine ganz besondere Bedeutung die vielen einzelligen Organismen von meist mikro- skopischer Größe, und zwar als die Urnahrung für alle Organismen des Meeres. Den Hauptbestandteil bilden Pflanzen, in den Kaltwassergebieten die Diato- meen, Phytoflagellaten, Peridineen, Silicoflagellaten u. a., in den Warmwasser- gebieten die Oscillarien, Coccolithophoriden und Gymnodinien. Ihre Zahl über- wiegt derart, daß auf ein Protozoon nicht weniger als I0—20 pflanzliche ein- zellige Organismen kommen. Von einzelligen Tieren kommen in allen Gebieten Globigerinnen, Radiolarien, nackte Flagellaten, Tintinnen und andere Ciliaten in Betracht. Die Schicht, in der die größte Zahl dieses kleinsten Planktons lebt, ist die Oberflächenschicht von 0— 200 m, von hier nimmt die Zahl sehr rasch ab. Die Menge ist im Vergleich mit den mehrzelligen Tieren derart groß, daß auf eines der letzteren in den kühlen Gebieten nicht weniger als 814, in den Tropengebie- ten nicht weniger als 482 Protisten kommen. Diese Zahlen lassen schon er- kennen, welche Rolle dieses kleinste Plankton als Nahrung spielt. Die Planktonpflanzen sind die Produzenten, welche, die Energiequellen des Me- diums ausnutzend, neue lebendige Substanz aufbauen und so die Nahrung für die Planktontiere schaffen. Von diesen ernähren sich wieder viele mehrzellige Tiere, die wieder größeren als Nahrung dienen. ‚Die Planktonbakterien führen die Stoffwechselprodukte von Pflanzen und Tieren und deren abgestorbenen Körper wieder in anorganische Pflanzennahrung über. Man kann daher vom Plankton. Bipolarität 301 biologischen Standpunkte aus auch die Pflanzen als Produzenten, die Tiere als Konsumenten und die Bakterien als Reduzenten bezeichnen“ (Loh- mann). Dieser Satz kennzeichnet trefflich den vollständigen Kreislauf des Le- bens, der von den Planktonorganismen gebildet wird, und ihre hohe Bedeutung für die ganze Meeresfauna. Es möge noch das interessante Resultat hervorge- hoben werden, das schon die Planktonexpedition gewonnen hatte und in neue- ster Zeit Lohmann bestätigt hat, daß nämlich das Plankton in den kühlen Ge- bieten des Atlantischen Ozeans weit reicher ist als in den tropischen Meeren. So sind z.B. in Ikm Wasser aus 0—200 m Tiefe im kühlen Wasser 6000 Co- pepoden, in den Tropen nur 3000 gefunden worden; auch die oben angeführten Zahlen zeigen dasselbe. Es möge noch kurz auf eine andere eigenartige Erscheinung in der Verbrei- tung der Meerestiere hingewiesen werden, nämlich auf die der bipolaren Ver- breitung mancher Formen, d. h. derselben oder sehr nahe verwandter Arten in den polaren Meeren, ohne daß sie in den warmen Gebieten vorkommen. Solche Fälle sind vereinzelt bei Fischen, Pteropoden, Mollusken, Brachiopoden, Kalk- schwämmen, Ascidien, Appendicularien, Hydroiden, Polychaeten u. a. festge- stellt worden. Da ein doppelter Ursprung und eine Entstehung der Überein- stimmungen im Bau durch Konvergenz infolge der gleichen Lebensbedingungen sicher ausgeschlossen werden muß, so ist eine Erklärung nur durch die Annahme möglich, daß entweder diese jetzt bipolaren Tiere früher auch im warmen Ge- biet verbreitet gewesen, hier aber ausgestorben sind, oder daß sie durch die kühle Tiefsee der Tropen von, einem polaren Gebiet zum andern sich verbreitet haben. Eine sichere Entscheidung der Frage ist heute noch nicht möglich. Es scheint, daß verschiedene Wege zum Resultat dieser Diskontinuität geführt haben. Zum Schluß möge noch die Frage beantwortet werden, woher die große Übereinstimmung des Pelagials und die zwar nicht so große, aber immerhin auch sehr auffallende nahe Verwandtschaft des Benthals in allen Ozeanen kommt. Da das superfizielle Pelagial und das litorale Benthal der drei Ozeane durch die Kontinente und durch die zum Teil scharf aufeinander treffenden kalten und warmen Strömungen heute scharf geschieden sind, und nur eine sehr geringe Ver- mischung der Faunen der Ozeane möglich ist, so muß die Ursache in einer an- deren Verteilung von Land und Wasser in früheren Erdperioden liegen. Das ist auch der Fall. In der mesozoischen Zeit haben alle drei Ozeane zirkumtropisch in breiter Verbindung gestanden und es war dadurch eine gleichmäßige Verbrei- tung der marinen Fauna durch alle Ozeane ermöglicht. Wenn auch später durch die neu sich bildenden Landbrücken dieser große gemeinsame Ozean in drei ge- teilt wurde, so lag für eine weitgehende verschiedene Differenzierung der pela- gischen Formen in jedem Ozean kein Grund vor, weil die Lebensbedingungen in allen nahezu dieselben sind. Nur für das Benthal ist sie beträchtlicher ge- worden, weil, wie schon hervorgehoben wurde, hier die umbildend wirkenden äußeren Faktoren weit mannigfaltiger sind. Bipolare Verbreitung, Biteratur. CHUn, C., Atlantis. Biblioth. zoologica, H. 19. 1896. — Aus den Tiefen des Weltmeeres. Jena 1902. KOBELT, W., Studien zur Zoogeographie. Wiesbaden 1397. — Die Verbreitung der Tierwelt. Leipzig 1902. 5 LOHMANN, H., Die Probleme der modernen Planktonforschung. Verhandlg. der Deutsch. Zoolog. Gesellsch. Leipzig 1912. LYDEKKER, R., Die geographische Verbreitung und zoologische Entwicklung der Säugetiere. Jena 1897. ORTMANN, A., Grundzüge der marinen Tiergeographie. Jena 1896. REICHENOW, A., Die Begrenzung zoogeographischer Regionen vom ornithologischen Stand- punkt. Zool. Jahrb. Syst. Abt. B. III. 1888. SCHMARDA, L. K., Die geographische Verbreitung der Tiere. Wien 1853. STEUER, A., Planktonkunde. Berlin u. Leipzig 1910. WALLACE, A. R., Die geographische Verbreitung der Tiere. Dresden 1876. — Island Life. London 1892. WEBER, M., Die Säugetiere. Jena 1904. PALAONTOLOGIE UND PALAOZOOLOGIE. Von O. ABEL. I. Die Geschichte und Entwicklung der Paläontologie. PuDiestossilen Tiere im Volkselauben- und. in’den Sagen der Vorzeit und Gegenwart. Im Jahre 1897 brachte ein Steinbruchsarbeiter ein wohlerhaltenes Exemplar einer fossilen Schildkröte, die er in einem Stein- bruche am Leithagebirge entdeckt hatte, in das paläontologische Institut der Wiener Universität. Als ich I2 Jahre später in dem Steinbruche nach neuen Funden Umschau hielt, erzählte mir derselbe Arbeiter, daß er vor langer Zeit einen „ganzen versteinerten Dragoner mitsamt dem Pferde‘ gefunden und um 200 Gulden an die Wiener Universität verkauft hätte. In die Enge getrieben, gestand er zum größten Erstaunen seiner Kameraden die Wahrheit ein, wäh- rend die anderen Arbeiter ein Gefühl der Enttäuschung nicht verbergen konn- ten, daß diese schöne Geschichte sich als blanke Lüge herausgestellt hatte. Ähnliche Fälle von übertriebenen Darstellungen fossiler Funde kennt jeder Fachmann auf paläontologischem Gebiete. Die Übertreibungssucht und Leicht- gläubigkeit der niederen Volksschichten ist auch heute noch ebenso groß wie . vor Jahrhunderten, und wenn in der Gegenwart binnen I2 Jahren aus einem Schildkrötenfund die Sage von der Ausgrabung eines versteinerten Dragoners samt dem Pferde entstehen konnte, so darf man sich kaum wundern, wenn im Altertume und Mittelalter Fossilfunde die Veranlassung zur Entstehung von Drachenmythen und Lindwurmsagen geboten haben. Die Fabeln von Riesen, vom Einhorn und von anderen Fabelwesen besitzen wohl in den meisten Fällen einen realen Kern, der freilich von großsprecherischen Fabelhänsen ins Gro- teske verzerrt wurde und da und dort in den Sagenschatz eines Volkes über- ging. Uralt sind manche dieser Sagen von unheimlichen Riesen und Drachen und bei vielen wird auch eine sorgfältige Analyse den Kern nicht mehr ermit- teln können, so wie es kaum möglich wäre, aus der Erzählung vom versteinerten Dragoner auf den Fund einer Schildkröte zu schließen. Die fossilen Tiere im Volks- glauben. Dennoch ist es in einzelnen Fällen gelungen, den Ursprung derartiger Sagen Der reale Kern und Mythen zu ermitteln. Ich will es versuchen, eine der bekanntesten antiken Riesenmythen, die Sage von dem Kyklopen Polyphem, von den mythologi- schen Zutaten zu befreien und ihren realen Kern herauszuschälen. Nach den Vorstellungen der homerischen Griechen hausten in Sizilien rie- senhafte Menschen mit einem einzigen großen Auge auf der Mitte der Stirne. der Polyphen- sage. 304 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Wie Homer erzählt, kam Odysseus auf seinen Irrfahrten auch in das Land der Kyklopen und suchte Schutz in einer Höhle, ohne zu wissen, daß er die Woh- nung eines Kyklopen betreten hatte. Wie dann der ungeheure Riese Poly- phemos seine Schafherde abends in die Höhle trieb, wie er sechs Gefährten des Odysseus mordete und fraß, schließlich aber von Odysseus listig trunken ge- macht und geblendet wurde und wie endlich der schlaue Abenteurer Odysseus mit seinen Gefährten flüchtete, wird mit allen Einzelheiten im neunten Gesange der Odyssee erzählt. Zunächst fällt uns auf, daß im Altertum gerade Sizilien als das Land der einäugigen, höhlenbewohnenden Kyklopen gegolten hat. Besonders merkwür- dig ist aber die Fabel von der Einäugigkeit der Kyklopen. Prüfen wir, welche Umstände die Entstehung dieser Sage bedingt haben können. In den unweit des Meeresstrandes gelegenen Höhlen der Gegend von Mes- sina und an vielen anderen Stellen Siziliens, so bei Palermo und Trapani, findet man noch heute Reste von Zwergelefanten, die in der Eiszeit lebten und als eigene Art (Elephas mnaidriensis) beschrieben worden sind. Man hat schon im klassischen Altertume wiederholt derartige Knochenfunde auf Sizilien ge- macht; Empedokles (492—432 v. Chr.) berichtet von solchen Funden und hält sie für Reste eines erloschenen Gigantengeschlechtes. Giovanni Boc- caccio spricht im vierten Buche seiner ‚Genealogia deorum‘‘ geradezu von der Entdeckung der Knochenreste Polyphems in einer Höhle bei Trapani im 14. Jahrhundert. Viele Jahre später hat der gelehrte Jesuitenpater Athanasius Kircher diese Stelle besucht und die Reste noch gesehen; er schreibt aber in seinem „Mundus subterraneus‘‘ im Jahre 1664, daß nach einer Schätzung der Skelettdimensionen der Riese Polyphem höchstens 30 Fuß lang gewesen sei und nicht 300, wie Boccaccio angegeben hatte. Wenn Gelehrte des 17. Jahrhundertsf£ossile Elefantenreste als Riesenknochen ansprechen konnten, so darf uns ein ähnlicher Schluß von den homerischen Griechen wohl noch weniger wundernehmen. Dazu kommt aber noch folgendes: Als das wesentliche Kennzeichen des Polyphem wie der Kyklopen über- haupt gilt das einzelne, mitten auf der Stirne stehende Auge. Um das zu verstehen, müssen wir den Schädel eines sizilianischen Zwerg- elefanten betrachten und versuchen, ihn mit den Augen eines Laien anzusehen. Sofort wird uns das riesige, mitten in der Stirn stehende Loch auffallen; es ist die Nasenöffnung, während die Augenhöhlen tief unten an den Seiten des hochgewölbten Schädels liegen (Fig. 1). Die homerischen Helden haben den Elefanten keinesfalls gekannt. Sie konnten daher auch den Schädel eines fossilen Elefanten mit keiner ihnen be- kannten Tierform in nähere Beziehung bringen; die gewölbte Schädelform ließ noch am ehesten einen Vergleich mit einem menschlichen Schädel zu. So muß- ten die ersten Entdecker eines solchen Schädels zu der Vorstellung von riesen- haften Ungeheuern gelangen, die zwar Menschengestalt besaßen, aber sich vom normalen Menschen durch den Besitz eines einzigen, riesig großen Auges auf der Stirnmitte unterschieden. Riesensagen 305 Seefahrer der homerischen oder vorhomerischen Zeit waren wohl die ersten, welche von diesen Giganten Kunde in ihre Heimat gebracht haben. Sie konn- ten in einer Strandhöhle Siziliens Schutz vor Unwetter gesucht und beim An- zünden des Lagerfeuers einen aus dem Höhlenlehm aufragenden Elefantenschädel erblickt haben. Alles andere ist spätere Zutat; eine Zeit, die geneigt war, überall Götter und Göttersöhne zu sehen und allenthalben übernatürlichen Erschei- nungen zu begegnen, formte aus diesem Fund zuerst den lebendigen Riesen und zuletzt die ganze Sage von der Bekämpfung und Überlistung des Ungetüms. Funde fossiler Knochen, die im Mittelalter und der Neuzeit gemacht wurden, und zum Teil noch heute er- halten sind, haben zu allen Zeiten Anlaß zur Entstehung von Riesensagen gegeben. Nicht nur die Kyklopenmythe, sondern wohl auch die Sagen von Giganten und Titanen gehen auf Funde von Knochen großer Säugetiere in den Sanden, Schottern und Lehmbildungen der alten Kultur- länder des Mittelmeergebietes zurück. Zur Zeit Ludwigs XIII. kamen in der Dauphin& im Chaumonter Feld, das noch heute ‚le champ des geans‘“ heißt, gewaltige Knochen zum Vorschein, aus denen die Gelehrten der damaligen Zeit den König Teutobochus er- Fig.ı. Elefantenschädel ohne stehenlieben; amırı. Januar. 1613 war in einer Sandgrube >*oPzähne, vonvome gesehen, N E um das „Polyphemauge‘““, d.h. beim Schlosse Chaumont ein Skelett entdeckt worden, die auf der Stirne stehende große Nasenöffnung zu zeigen. das ein Arzt von Beaurepaire namens Mazurier an sich brachte und zuerst in Paris, später auch in anderen Orten Frankreichs und Deutschlands für Geld zeigte. Nach Mazurier sollten es die Gebeine des im Kampfe gegen Marius gefallenen Cimbernkönigs Teutobochus sein. Er erzählte, daß er die Knochen in einem ausgemauerten, 30 Fuß langen Grabmal entdeckt hätte, auf dem der Name des Cimbernherzogs geschrieben gewesen sei. Dieser Schwindel hielt die wissenschaftliche Welt seinerzeit fünf Jahre lang in Atem; zahlreiche Streitschriften erschienen über diese Frage. Die Reste werden noch heute im Jardin des Plantes in Paris aufbewahrt; sie gehören einem Dinothe- rium an. Wenn solche abenteuerliche Ideen noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts allen Ernstes von den Akademien diskutiert wurden, darf man sich wohl nicht über Pausanias lustig machen, der ein bei Milet gefundenes, zehn Ellen langes Gerippe für die Gebeine des Telamoniers Ajax hielt. Im Jahre 1577 entwurzelte ein Wirbelsturm beim Kloster Reyden in der Schweiz eine alte Eiche; unter ihren Wurzeln kamen große Knochen zum Vor- schein, die Felix Plater, ein Baseler Arzt, für Gebeine eines 19 Fuß langen Riesen erklärte. Seither wurde der ‚Luzerner Riese‘ in der Literatur oft er- wähnt und spielt in den zahlreichen Werken jener Zeit, die sich mit der Frage der Naturgeschichte der Riesen beschäftigen, eine große Rolle. Es war förm- lich eine Manie über die Gelehrtenwelt des 16. und 17. Jahrhunderts gekom- men, überall Reste von Riesen zu entdecken und auf diese Art die Existenz eines K.d.G.IH.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 20 Riesensagen. 306 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie riesenhaften Vorfahrengeschlechtes zu beweisen. Nach den Unterschieden der Knochenform dieser alten Gebeine von den Menschenknochen fragte niemand. So ist es selbstverständlich, daß an den verschiedensten Orten Europas die Riesenfabel durch neue Knochenfunde immer neue Nahrung fand. Einer der bekannteren Funde ist der Oberschenkelknochen eines Mammut, der im Jahre 1443 wahrscheinlich bei der Grundaushebung für den zweiten, unausgebauten Turm des Stephansdomes in Wien entdeckt wurde; er wurde mit zwei Schrift- rollen bemalt, deren eine die Jahreszahl des Fundes und deren andere den Wahl- spruch Friedrichs III. (A.E. 1.0. U.) zeigt und am Tore der Kirche befestigt, das noch heute das Riesentor heißt. Der Knochen wird jetzt in der Wiener Uni- versitätssammlung aufbewahrt (Fig. 2). Ein zweiter be- rühmter Fund auf österreichischem Bo- den wurde von den Schweden im Jahre 1645 zu Kremsan der Donau gemacht. Als dieSchwedenaufdem Fig. 2. Oberschenkelknochen eines Mammuts, gefunden bei der Grundaushebung für Rückzuge vor der den unausgebauten Turm des Stefansdomes in Wien im Jahre 1443, der durch Jahr- = Tech A hunderte an dem nach ihm benannten „Riesentore‘ befestigt war. Nach E. Suzss. alserlichen rmee dieBefestigungen der Stadt Krems erweiterten, stießen sie in der Nähe des Hundssteigesim Norden der Stadtmauer auf einen ‚‚Riesen-Cörper‘, dessen einzelne Teile weithin versandt wurden. Wenige Reste verblieben in Krems und wurden in dem Oratorium der Jesuitenkirche aufbewahrt. Merian bildete 1647 einen Zahn dieses ‚Riesen‘ ab; es ist der Mahlzahn eines Mammut. Seit der Aufhebung der Jesuitenkirche unter Josef II. waren die Reste verschollen; ich fand sie I9II in der Sternwarte des Benediktinerstiftes Kremsmünster in Oberösterreich wieder auf, worüber P. Leonhard Angerer vor kurzem berichtete. Noch an vielen anderen Stellen werden Mammutreste aus jener Zeit aufbe- wahrt, die an Riesen und Drachen glaubte und die Reste mit Riesen in Ver- bindung brachte, ‚die nach der Meinung des Volkes den alten Turm erbaut oder die riesige Glocke aufgehängt haben, deren Geschichte über Chronik und Tra- dition hinausgreift“ (O. Fraas). Stellenweise, wie in Valencia, werden noch heute Mammutknochen oder Mammutzähne als Reliquien des hl. Christophorus verehrt. Die Literatur über vorzeitliche Riesen ist außerordentlich groß. Überall, wo bei Erdarbeiten große Knochen zum Vorscheine kamen, bemächtigten sich die Anhänger der Theorie von Vorzeitriesen dieser Funde; so kommt es, daß fast jedes Land seinen Nationalriesen erhielt. Wahrscheinlich geht auch die Sage vom Riesen Antigonus in Antwerpen auf fossile Knochenfunde zurück; wenigstens wird in der „Gigantomachia‘“ des Goropius Becanus (gegen Einhornsage 307 1580) von Knochenfunden gewaltiger Riesen bei Antwerpen Erwähnung getan. C. G. Cuvier hat die zahlreichen Literaturangaben über ‚„Riesenfunde‘“ ge- sammelt und in seinen „Recherches sur les Ossements fossiles‘‘ zusammenge- stellt (1821). Fast immer handelt es sich um Knochen großer Dickhäuter, wie Dinotherium, Mastodon oder Mammut, aber stellenweise, wie in Antwerpen, mögen auch andere Knochen zu Riesengebeinen gestempelt worden sein. Enge verknüpft mit den Riesensagen ist die Einhornsage. Heute kann p;. Einhorn- kaum ein ernster Zweifel darüber bestehen, daß es Stoßzähne von eiszeitlichen 2° Elefanten waren, die als Einhornreste gedeutet wurden. Wie mir Kollege R. Much mitteilt, bezeichnet der Bauer des niederösterreichischen Lößlandes noch heute die vereinzelten Funde von Mammutstoßzähnen als das „Hurn von an Oang’hürn‘“ (Horn eines Einhorns); noch immer lebt also die Vorstellung des großen „Einhorns‘ im Volke fort. Die erste ‚Rekonstruktion‘ eines Ein- horns stammt von Otto von Guericke, dem berühmten Bürgermeister von Magdeburg. Er hatte am Zeunicken bei Quedlinburg ein Haufwerk von Kno- chen und Zähnen ausgegraben, die er kühn zu dem ‚„Unicornu fossile‘‘ kom- binierte; Leibniz bildete dieses Monstrum in seiner „Protogaea‘‘ zum ersten Male ab und es ging von hier aus in fast alle Lehrbücher jener Zeit über. Die für Einhörner gezahlten Preise waren enorm. Es galt lange Zeit als ein kostbares Medikament; ja, es wurden Beträge von 1000 Talern für besonders schöne Stücke bezahlt. Schon 1714 klagt jedoch Valentini über den Preis- sturz des Unicornu fossile, der jetzt nur mehr nach dem Pfund um wenige Taler bezahlt werde, ‚und es sei fast keine Officin mehr zu finden, in der nicht Unicornu verum (Narwalzahn) aufgehängt sei, aber nicht mehr in Gold und Silber gefaßt, wie ehedem, sondern an eiserner Kette. Die Kraft des Einhorns gegen Gift und Biß bewährte sich, scheint es, schlecht, und sein hohes Ansehen ist verschwunden bis zur heutigen Stunde‘. (O. Fraas.) Bei der Einhornsage wie bei den Riesensagen läßt sich schwer zwischen dem Volksglauben und der Meinung der Gelehrten eine Grenze ziehen. Die gelehrten Anschauungen jener Zeit stehen auf einer so tiefen Stufe, daß man sie zusammen mit dem Volksaberglauben als einheitlichen Ausdruck der An- schauungen ansehen muß, welche jene Zeit von den Versteinerungen hatte. Sehr deutlich tritt der krasse Aberglaube der Gelehrten an der Wende des Mit- telalters und der Neuzeit in der Basiliskensage hervor, die nicht nur im Die Basilisken- Volksmärchen weiterlebte, sondern von den damaligen Naturkundigen allen Rn Ernstes diskutiert wurde. Die Wiener Basiliskensage hängt übrigens, wie Edu- ard Sueß 1862 gezeigt hat, nicht mit einem Fossilfunde zusammen; der heute noch erhaltene und an der Front des Hauses Schönlaterngasse Nr. 7 befestigte „Basilisk‘‘ ist eine im Jahre 1212 bei einer Brunnengrabung gefundene Sand- steinkonkretion aus den unterpliozänen Kongerienschichten, deren Sande stel- lenweise Konkretionen führen und an vielen Stellen durch das Aufsteigen schwefelwasserstoffhaltigen Wassers gekennzeichnet sind. Diese Gase waren offenbar die ‚giftigen Dünste‘‘, von denen die Wiener Sage erzählt. An anderen Stellen mögen tödliche Kellergase die Basiliskensage scheinbar bestätigt haben; 20% Drachensagen. 308 O, ABEL: Paläontologie und Paläozoologie der Warschauer Basiliskenfund vom Jahre 1587 geht offenbar auf eine Vergif- tung durch Kellergase zurück, bei der mehrere Menschen den Tod fanden. Miß- verstandene Berichte des Plinius, die von den leichtgläubigen Scholasten blindlings geglaubt wurden, waren die Grundlage dieser Basiliskenfabel, die wohl zu gleichen Teilen durch den Volksaberglauben wie die Kenntnislosigkeit der mittelalterlichen Gelehrten neue Nahrung erhielt und zu dem Märchen ausge- baut wurde, das Sebastian Munsterus 1544 vom Basilisken auftischte, von dem er eine „genaue‘‘ Abbildung entwarf; nach Münster soll dieses Tier in Cyrene leben. Auch bei den Drachensagen und Lindwurmfabeln ist Volksaber- glauben und Gelehrtenphantasie der alten Zeit kaum zu trennen. Die Vorstellung von gefähr- lichen, mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Drachen ist uralt; ihre Entstehung reicht wahrscheinlich in sehr alte Zeit der Kultur zurück. Der reale Kern dieser alten Sage ist heute Fig. 3. De nee fur? der Selödel oo mehr zu ermitteln; sicher eines wollhaarigen Nashorns aus der Eiszeit (Rhinoceros antiqui- ist aber eine verschiedene Her- fanden wurde, Bas Ongnal befindet sich jetzt im Muscam m KUNft der Drachensage und der Ban Wurmsage. Uns kann diese Frage hier nur so weit interessieren, als die Drachen- und Lindwurmsagen durch Fossilfunde beeinflußt erscheinen und das Bild dieser Fabelwesen durch Funde vorzeitlicher Wirbeltiere ein bestimmtes Gepräge er- halten hat. So fällt denn auch die Tazzelwurmsage aus dem Kreis dieser Erörterungen, da es sich hier wohl um eine sagenhafte Ausschmückung eines heute noch lebenden Tieres, des Pseudopus Pallasi, eines blindschleichenähn- lichen Tieres, handelt, das nachweisbar in unseren Alpen noch in historischer Zeit lebte. Prüfen wir einmal einzelne Lindwurmsagen nach. In Klagenfurt steht auf dem Stadtplatz ein gewaltiges Lindwurmdenkmal; es knüpft an die Sage von der Tötung eines Lindwurmes an. Dechgen- Dieser Klagenfurter Lindwurm ist, wie Caesar von Leonhard berich- furter Lind- wurm. tet, im Zollfelde an einer Stelle gefunden worden, die noch heute die ‚Drachen- grube‘“‘ heißt. Der Schädel des Lindwurmes wurde nach Klagenfurt gebracht und dort im Rathause an Ketten aufgehängt; er diente nachweisbar dem Künst- ler zum Vorbilde, der im Jahre 1590 das Lindwurmdenkmal auf dem Klagen- furter Stadtplatz fertigte; dieser „Lindwurm‘“ ist aber nichts anderes, als ein eiszeitliches Nashorn gewesen. (Fig. 3). Die Drachensage hat ebenso wie die Lindwurmsage durch Funde fossiler Schädel wiederholt neue Nahrung erhalten. Aus dem Funde eines Höhlenbären- schädels in einer Kalksteinhöhle konnte leicht durch die Großmannssucht und Übertreibung des Finders ein Kampf mit dem lebenden Unhold werden; die Drachensagen 309 Weitererzählung steigerte die Schrecken des Drachens und die Gefahren der Be- kämpfung in seiner Höhle; von der Raublust des Ungetüms legten ja die zahl- reichen Knochen der Bärenhöhle genügendes Zeugnis ab. Man sollte meinen, daß der Schädel eines Bären auch als solcher von un- seren Vorvätern hätte erkannt werden müssen; indessen weise ich nur auf die Tatsache hin, daß in dem Verzeichnisse der Sammlung des Benediktinerstiftes Kremsmünster ein ‚„Drache‘‘ angeführt erscheint, der im 18. Jahrhundert ge- funden wurde und dieser Drachenschädel gehörte einem Höhlenbären an. Wenn dies noch im 18. Jahrhundert an einer Stätte reger geistiger Tätigkeit und humanistischer Bildung möglich war, so kann uns die Deutung von Eiszeittieren als Drachen im Mittelalter kaum verwundern. Die deutsche Drachensage hat ganz unverkennbar süddeutschen Einschlag. Die Entstehung Dies hängt sicher damit zusammen, daß in Süddeutschland reiche Fundstätten ee für fossile Saurier liegen, die ganz sicher schon im frühen Mittelalter beim Brechen der Bausteine für Burgen, Kirchen und Schlösser ganz ebenso ge- funden werden mußten, wie sie noch heute gefunden werden. ‚Am Fuße des Hohenstaufens‘, schreibt O. Fraas 1866, „werden im dortigen Lias alljährlich Dutzende von Sauriern aufgefunden bei Gelegenheit des Ausbrechens von Stein- platten. Uralt ist diese Plattenindustrie, Trümmer auf der Hohenstaufenburg zeigen, daß schon bei Gründung der Wiege des alten Kaisergeschlechtes dort Platten gewonnen wurden. Die Saurier konnten damals so wenig als heute der Aufmerksamkeit der Arbeiter entgehen, der Gedanke an unterirdische Tiere lag nahe. So macht Quenstedt auf die Ähnlichkeit aufmerksam zwischen dem Drachenbild an der alten Stadtkirche zu Tübingen und den Resten des schwäbi- schen Lindwurms, der an den Ufern des Neckars im obersten Keuper vielfach sich findet. Wir dürfen daher wohl auch keinen Augenblick Anstand nehmen, wenigstens lokal den Ursprung einzelner Drachensagen auf den zufälligen Fund von fossilen Sauriern zurückzuführen.‘ Die Chinesen bezeichnen seit alter Zeit die Knochen und Zähne fossiler Die chinesischen Säugetiere als Drachenknochen und Drachenzähne. . Die Drachenknochen (Lung-ku) und Drachenzähne (Lung-tschih) kommen »Prachenzähne. in China in ungeheuren Mengen vor; sie stammen größtenteils aus dem Innern Chinas, wo sie entweder in Höhlen oder geschichteten Ablagerungen in außer- ordentlicher Zahl gefunden werden. Die Chinesen sammeln diese Drachenreste sorgfältig, da sie einen sehr begehrten Handelsartikel bilden; die Knochen und Zähne des Drachen spielen in der Heilkunde der Chinesen noch heute eine so bedeutende Rolle, daß sie im Laufe eines Jahres, wie ein Jahresbericht der kaiserlich chinesischen Zollbehörden vom Jahre 1885 zeigt, an allen Hafen- plätzen Chinas in einer Menge von 350 Piccul oder 20 Tonnen verfrachtet wur- den! Wenn auch bei dieser Anführung ein und dasselbe Quantum vielleicht mehrmals in Rechnung gestellt erscheint, so läßt sich doch aus dieser Ziffer ein Schluß auf die ungeheuere Menge der fossilen Zähne und Knochen ziehen, die im Laufe eines Jahres auf den chinesischen Markt gelangen. Der Preis schwankt je nachdem, ob es sich um weiße, große Drachenzähne, die Fun-lung- 310 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie tschih, oder um die kleinen, schwarzen Zähne, die Tsing-lung-tschih, handelt; Knochen stehen niedriger im Preis als Zähne, und zwar beträgt der normale Preis in den Drogerien und Apotheken für das Piccul Lung-ku Io Tael, für das Piccul Lung-tschih 20 bis 30 Tael, was einem Werte von I Mark für das Kilo Lung-ku und 2 bis 3 Mark für das Kilo Lung-tschih entsprechen würde. Nach der Vorstellung der Chinesen sind die Lung-ku und Lung-tschih die Reste der Drachen, die infolge Mangels an Wolken und Regen nicht imstande waren, sich in den Himmel emporzuschwingen. Ein medizinisches Werk aus der Zeit des Kaisers Ch’'ien-hung (1736— 1796) sagt über die Heilkraft der ‚„Drachenknochen“ folgendes: „Die Drachenknochen haben einen süßsäuerlichen Geschmack, der jedoch wenig ausgeprägt ist. Siesind wirksam gegen Herz-, Nieren-, Darm- und Leber- leiden. Sie erhöhen die Lebenskraft und haben eine adstringierende Wirkung. Auf die Nieren besonders üben sie einen wohltätigen Einfluß, und was nervöse Anwandlungen betrifft, so ist diese Medizin vor allem schreckhaften und vom Schlagfluß gerührten Personen zu empfehlen. Drachenknochen bewähren sich auch als Heilmittel gegen Verstopfung, Träume, epileptische Anfälle, Fieber, Ruhr, Schwindsucht und Hämorrhoiden. Krankheiten der Harnblase, ferner Atmungsbeschwerden und Geschwüre werden durch den Genuß dieser Medizin geheilt. Drachenknochen sind ebenso adstringierend wie laxierend. Die beste Qualität dieser Arznei erkennt man daran, daß sie, wenn mit dünner Seide um- hüllt, beim Einnehmen an der Zunge kleben bleibt. Der Patient kann Drachenknochen auf vier verschiedene Arten zu sich nehmen. 1. Man tut eine Anzahl Knochen in eine Tasse mit kaltem Samshu (chinesi- scher Reiswein), läßt dieselben die Nacht über darin liegen, zieht am Mor- gen den Samshu ab und wäscht die Knochen dreimal im Wasser. 2. Die Knochen werden in kochendem Samshu abgebrüht und dann ge- gessen, 3. Die Knochen werden in Fett geröstet. 4. Sie werden im rohen Zustande gegessen usf. Drachenhörner (d. i. Geweihstücke von fossilen Hirschen und die Schneidezähne fossiler Nashörner) sind ein gutes Heilmittel gegen Epilepsie und Herzkrankheiten. Drachenzähne. Drachenzähne haben einen säuerlichen, jedoch wenig ausgeprägten Geschmack. Ihre Wirkung erstreckt sich hauptsächlich auf Herz und Nieren. Auch heilen sie epileptische Anfälle von Erwachsenen und Veits- tanz der Kinder. Die Zubereitung und Anwendung ist dieselbe wie bei den Drachenknochen.‘“ (Aus dem Original übersetzt vom chinesischen Zolldirektor H. A. Wilzer, mitgeteilt von Dr. K. A. Haberer, 1902.) Wie tief dieser lächerliche Aberglaube noch in den breiten Volksmassen des chinesischen Volkes wurzelt, geht aus dem kolossalen Absatz des Artikels in den Drogerien und Apotheken hervor. Große Vorräte sind in den Drogen- Engroshandlungen von Schanghai und Tientsin, sowiein den Apotheken Pekings Vorstellungen der Chinesen vom Mammut BE aufgestapelt; von hier stammt das wertvolle Material fossiler Säugetierreste, das K. A. Haberer auf seiner Reise I899—I90I erwarb und das in muster- gültiger Weise von Max Schlosser in München 1903 bearbeitet wurde. Wie tiefstehend die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Chinesen Das Mammut noch heute ist, ergibt sich aus den Vorstellungen, die sich die Chinesen schon in Yetanıen den alter Zeit über das Mammut gebildet haben und an denen sie starr festhalten. Cbinesen. Im asiatischen Rußland und in China, wo Tausende von Mammutleichen im Erdboden begraben liegen, kennt man diese riesenhaften Elefanten der Vor- zeit schon seit alten Zeiten. Die Asiaten haben sich über dieses Tier, dessen Reste sie wohl im Erdboden finden, das sie aber nie lebend gesehen haben, folgende merkwürdige Vorstel- lung gebildet: Der Tin-schu oder Fin-schu der Chinesen lebt wie der Maulwurf in der Erde und stirbt, wenn er das Tageslicht erblickt. Die Einwohner Sibiriens nennen diesen großen ‚Maulwurf‘ Mammont oder Mammut; die Stoßzähne werden Mammontovakost, von den Chinesen tin-schu-ya genannt. Die ersten Nach- richten über den Tin-schu gehen auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurück; zu die- ser Zeit waren also die Chinesen weiter als die alten Griechen, welche in den Resten der großen fossilen Säugetiere die Gebeine von Kyklopen und Giganten erblickten, während die Chinesen die Mammutreste richtig als Reste vierfüßiger Tiere erkannt hatten. Klaproth teilte der Petersburger Akademie der Wissenschaften einen Auszug aus der großen chinesischen Naturgeschichte, dem Bun-zoo-gann-mu (aus dem 16. Jahrhundert) mit, dem ich folgendes entnehme: „Der Tin-schu hält sich nur an dunklen, einsamen Stellen auf. Er stirbt, sowie die Strahlen der Sonne oder des Mondes ihn bescheinen; seine Füße sind im Verhältnis zu seiner Körpergröße kurz, weshalb er nur mühselig zu gehen vermag. Sein Schwanz ist eine chinesische Elle lang. Seine Augen sind klein, sein Hals gekrümmt. Er ist außerordentlich stumpfsinnig und träge. Bei einer Überschwemmung im Gebiete des Tan-schuann-tuy im Jahre 1571 erschien er in Menge auf den Ebenen; er nährt sich vonden Wurzeln der Pflanze Fu-kia.‘ (Aus C. G. Cuvier.) An anderen Stellen heißt es, daß der Tin-schu beim Ausgraben seiner Höhle die Erde erschüttere. Wir lächeln unwillkürlich zu der Vorstellung der Chinesen, daß das Mam- mut ein noch heute lebendes, unterirdisches Tier wie der Maulwurf sei. Und doch zeigt dieser Fehlschluß immerhin das Bemühen, sich aus den Tatsachen ein Bild von dem Tiere und seiner Lebensweise zu entwerfen. Zu genau der- selben Anschauung, zu demselben Fehlschluß wie die Chinesen sind auch die Bewohner der südamerikanischen Pampas gekommen. Als Darwin am I. Ok- tober 1833 den Rio Tercero befuhr, sagten ihm die Leute, daß sie sich schon lange Gedanken über die Lebensweise der großen Säugetiere in den Pampas- tonen gemacht hätten und zu dem Schlusse gekommen seien, daß sie, wie die Viscacha, unterirdisch lebende, grabende Tiere gewesen seien. Gewiß ein merk- 312 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie würdiger Fall von parallel entstandenen Fehlschlüssen in zwei weit entfernten Gebieten bei kulturell ganz verschiedenen Völkern! Vermeintliche Auch die Vorstellung von den Heilkräften, die gewissen Versteinerungen . innewohnen, ist nicht auf die Chinesen beschränkt; sie ist auch heute noch da rest. und dort, sogar im deutschen Volke anzutreffen. So werden im deutschen Jura bei Bolheim in Bayern die Stielglieder der fossilen Seeliliengattung Millerierinus eifrig gesammelt und als Amulette gegen Leibesschaden in der ganzen Gegend getragen. Im Stoderer Tale in Oberösterreich sammeln die Bauern die grauen Gosaukalksteine mit den Durchschnitten der Schneckengattung Actaeonella, um sie in den Brunnentrog zu legen, aus dem sie ihr Vieh tränken; nach ihrer Meinung sind die geheimnisvoll gedrehten ‚Zeichen‘ ein Mittel gegen den ‚, Wirfel‘‘ (Wirbel), die Drehkrankheit des Viehes, und sie nennen daher diese Steine ‚Wirfelsteine‘“. So sehen wir, daß abergläubische und kindische Vorstellungen aus uralten Zeiten und längst vergangenen Kulturepochen bis in unsere Tage hineinreichen. Die Wege des Volksaberglaubens und gelehrter Forschung, einst miteinander und nebeneinander laufend, haben sich schon seit langem endgültig getrennt; nur wenige Überreste des alten Aberglaubens, der Drachensagen und anderer Spukgeschichten, die mit Fossilfunden in Zusammenhang stehen, sind noch im Volke vorhanden, aber nur selten bringt uns der Zufall Kunde von den alten Ideen, die geheimnisvoll behütet im Volke wurzeln. Der Stoderer Bauer leugnet heute wohl jedermann gegenüber seinen Aberglauben von den Wirfelsteinen, und so verschwinden diese Überbleibsel einer früheren Kulturepoche nach und nach vor dem Eindringen der Aufklärung in die breiteren Massen. Nur in den geistig am tiefsten stehenden Volksschichten wie bei einfachen Steinbruchs- arbeitern begegnet man noch Vorstellungen, wie sie im Altertum und Mittel- alter, ja, sogar noch bis in das 17. und I8. Jahrhundert bei den europäischen Kulturvölkern geherrscht haben. Die Phantasten- 2. Die Periode der Phantasten. In der Entwicklungsgeschichte jeder le, Wissenschaft lassen sich bestimmte Epochen unterscheiden, die durch die jeweils herrschenden Lehrmeinungen ihr Gepräge erhalten. In jeder Wissen- schaft ist die Erscheinung zu verzeichnen, daß der eine oder andere Forscher seiner Zeit vorausgeeilt ist und daß die späteren Generationen, auf seine Werke zurückgreifend, erkennen, daß er allein den richtigen Weg gegangen ist, während seine Zeitgenossen von ihm abgeirrt sind. Eine rein chronologische Aneinanderreihung und Aufzählung der verschie- denen Werke über Versteinerungen und die Natur derselben kann kein richtiges Bild von dem allgemeinen Zeitgeist geben. Nur die jeweils dominierende Lehrmeinung entscheidet über die allgemeine Entwicklungsstute einer Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit; die unbeachtet geblie- benen Ausführungen einzelner, die vielleicht erst viele hundert Jahre nach dem Tode der Forscher in ihrer vollen Bedeutung erkannt werden, können bei einer Beurteilung des damaligen Zeitgeistes keine Berücksichtigung finden. Für den Historiker der Wissenschaften besteht also die Hauptaufgabe darin, aus der Phantastische Vorstellungen des Mittelalters a3 Literatur einer Zeit die vorherrschenden Meinungen herauszuschälen, um einen Überblick über den Einfluß der jeweils modernen Irrtümer oder Irrwege der Wissenschaft zu gewinnen. Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, wollen wir die Entwicklung der Kenntnisse von den Versteinerungen verfolgen. Wir würden zu ganz falschen Vorstellungen über diese stufenweise Entwicklung gelangen, wollten wir die Arbeiten eines Lionardo da Vinci, Alessandro degli Alessandri und Hieronymus Fracastoro, die um die Wende des I5. und 16. Jahrhunderts erschienen sind, als bezeichnend für den allgemeinen Charakter der Anschau- ungen jener Zeit über Versteinerungen betrachten. Sie spielten in ihrer Zeit bei weitem nicht die Rolle, die wir ihnen heute zuerkennen; die herrschende Lehrmeinung ging ganz andere Wege, und diese zu verfolgen, ist unsere Aufgabe. Das Mittelalter stand in naturwissenschaftlicher Hinsicht auf einer außer- Die Zeit der ordentlich tiefen Stufe. Von einer induktiven Forschung, einer unbefangenen er Beobachtung und Analyse der Naturerscheinungen war in der Zeit der Schola- stiker keine Rede. Der Buchstabe regierte; alle Belehrung über die Geschichte der Erde und ihres Lebens schöpften die Scholastiker teils aus dem mosaischen Schöpfungsbericht, teils aus dem Aristoteles. Die Vertiefung in die Werke des Stagiriten ging bei einzelnen hervorragenden Vertretern der jüngeren Schola- stiker so weit, daß einer der berühmtesten Gelehrten des 13. Jahrhunderts, Graf Albert von Bollstaedt, gewöhnlich Albertus Magnus genannt (1193— 1280), von seinen Gegnern geradezu der ‚Affe des Aristoteles‘‘ genannt wurde. Der Einfluß der Werke des Aristoteles auf die naturwissenschaftlichen Anschauungen des früheren Mittelalters war außerordentlich; wiederholt wur- den seine Schriften übersetzt und kommentiert, und zwar haben sich schon in früherer Zeit die Araber mit seinen Schriften beschäftigt. Der arabische Ge- lehrte Ibn Sina oder Avicenna (980— 1037) war der erste, der die generatio aequivoca des Aristoteles auf die Versteinerungen übertrug und dem feucht- warmen Urschlamm die Fähigkeit beilegte, aus nichts versteinerte Tiere und Pflanzen durch eine geheimnisvolle schöpferische Kraft, die ‚vis plastica‘‘ her- vorzubringen, die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts durch fast alle Arbeiten über Versteinerungen spukte und erst mit dem Fiasko der Beringerschen Hirngespinste endgültig als Irrtum erkannt wurde. Diese ganze Zeit von Ibn Sina bis Beringer stand unter dem Zeichen Der Glauben des Glaubens an die geheimnisvolle Virtus formativa oder Vis plastica der Ge- yis olauıca. steine. Besonders heftig entbrannte der Streit um diese geheimnisvolle Kraft im 15. Jahrhundert; die Debatten über die Naturspiele oder Lusus naturae füllen gewaltige Foliobände. Albertus Magnus hatte noch die Möglichkeit zugegeben, daß die Ver- steinerungen nicht ausschließlich Produkte der Virtus formativa seien, sondern daß auch die Leichenreste fossiler Tiere und Pflanzen dort zu Stein werden könnten, wo eine steinmachende Kraft ihren Einfluß ausüben könne. Ungefähr in denselben Bahnen bewegen sich die Vorstellungen von Georg Bauer, ge- nannt Agricola (1494—1555); Haifischzähne, die er nach dem Vorbilde des Die Beringer- schen „Lügen- steine“. 314 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie älteren Plinius ‚‚Glossopetren‘ nennt (eine Bezeichnung, die noch G. W. Leib- niz für fossile Pottwalzähne 1749 gebrauchte), sind nach Agricola ‚verhärtete Wassergemenge‘‘, ebenso die Ammoniten und Belemniten; Blätter und Hölzer, Knochen und Fische sind jedoch organischen Ursprungs und durch den Stein- saft, den „succus lapidescens‘“, zu Versteinerungen verwandelt worden. Die- selben Ideen vertrat Konrad Gesner (1516—1565), dessen Hauptwerk von tollen und wahnwitzigen Hypothesen wimmelt und neben vereinzelten richtigen Beobachtungen eine übergroße Menge abergläubischer Vorstellungen über Tiere und Versteinerungen enthält. Sein Werk ‚De rerum fossilium, lapidum et gem- marum natura‘, dasin Zürich 1565 erschien, ist die älteste Versteinerungskunde mit Abbildungen und war weit verbreitet. In dieser Schrift begegnen wir zum ersten Male den Angaben, daß sich unter den ‚‚Figurensteinen‘, den Lapides figu- rati, Sonne, Mond und Sterne abgebildet finden. Die Italiener Andrea Mattioli (1551), Faloppio(1557), Olivi vonCre- mona (1584) und Michele Mercati vertreten ähnliche Anschauungen wie die deutschen Gelehrten dieser Zeit. Am tiefsten stehen die Arbeiten des Fa- loppio, der alle Versteinerungen, sogar fossile Elefantenzähne, als Produkte der Vis plastica ansieht. Auch die Arbeiten des Ludovico Moscardi (1656) und Andrea Chiocci (1622) stehen auf derselben niederen Stufe; Valentino Alberti (1675), der die Fische des Mansfelder Kupferschiefers beschrieb, Bo- huslaw Balbini, der 1682 Versteinerungen aus Böhmen abbildete und be- schrieb, Ulysses Aldrovandi (1648), der schon früher genannte Athanasius Kircher (1664), Sebastianus Kirchmaier (1664) und viele andere ver- treten einmütig die Entstehung der Versteinerungen durch die vis plastica oder virtus formativa der Gesteine, bezeichnen sie als Naturspiele oder lusus natu- rae, als lapides figurati, lapides sui generis usw. Nach dem Vorbilde des Pli- nius sprechen die Gelehrten von Glossopetren, Ostraziten, Belemniten, Buc- ciniten, Ammoniten, Helmintholithen usf., Namen, die sich zum Teil noch bis in die heutige Nomenklatur herübergerettet haben wie Belemniten, Ammoniten und Graptolithen, während die Bezeichnung Zoolithen, Ornitholithen, Amphi- biolithen, Entomolithen u. a. schon lange ausgemerzt worden sind. Noch an der Wende des 17. und I8. Jahrhunderts wurden diese abenteuer- lichen Vorstellungen von der Entstehung der „Petrefakten‘‘ mit Hartnäckig- keit verfochten. Lister, Lhwyd und Lang gehören zu den hervorragendsten Vertretern der Theorie von der Entstehung der Lapides figurati zu jener Zeit. Das Hauptwerk Langs, das in Venedig 1708 erschien, bringt eine ausführliche Darlegung der Entstehung der Figurensteine im Erdboden. Dieser Irrweg mußte einmal zu einem katastrophalen Abschluß führen. Johannes Bartholomaeus Beringer, Professor der Naturgeschichte an der Würzburger Universität, war auf Versteinerungen aufmerksam gewor- den, die sich im Muschelkalk der Würzburger Gegend vorfinden. Sein Sammel- eifer reizte seine Studenten zu einem bösen Schabernack. Sie vergruben künst- liche Lapides figurati in einen der Steinbrüche, wo Beringer zu sammeln pflegte; zu seinem höchsten Erstaunen fand der leichtgläubige Sammler, der ohnedies Die „Lügensteine‘ 325 unter dem Banne der Anschauungen von der Vis plastica stand, treffliche Nach- bildungen von Fröschen in Copula, Bilder von Sonne, Mond und Sternen samt ihren Strahlen, Insekten verschiedener Art, Salamander, Vögel und hebräische Schriftzeichen. Überglücklich über diese wertvollen Funde, beschrieb er sie in einem stattlichen Folioband (1726). Schließlich kam aber bei weiteren Nach- grabungen ein „Figurenstein‘‘ mit dem Namen ‚‚Beringer‘‘ zum Vorschein und damit wurde die Mystifikation aufgedeckt. Der unglückliche Autor versuchte zwar die ganze Auflage seines Werkes aufzukaufen und zu vernichten; aber es blieben trotzdem einige Exemplare verschollen und 1767 erschien eine zweite Auflage dieser Kuriosität, die weite Verbreitung fand. Auch die ‚Lügensteine‘ selbst sind noch teilweise in den Sammlungen von Bamberg, Würzburg und München erhalten. War es auch für Beringer eine sehr schmerzliche Enttäu- schung, so müssen wir es doch den übermütigen Würzburger Studenten als Verdienst anrechnen, durch ihren Streich die Hypothesen von der Vis plastica so gründlich ad absurdum geführt und für immer der Lächerlichkeit preisge- geben zu haben. Wir fragen uns staunend, wieso es möglich war, daß Jahrhunderte hindurch Der Zusammen- die besten Gelehrten ihrer Zeit so hartnäckig an den tollen Ideen von der Schöp- Be. fungskraft der Gesteine festhalten und sich der objektiven Beobachtung ver- der Vis plastica. schließen konnten. Diese Erscheinung wird uns aber verständlich, wenn wir bedenken, daß alle diese Gelehrten unter dem Banne der biblischen Überliefe- rung standen und daß die Wege ihrer Untersuchungen durch die Grenzen be- zeichnet waren, die der mosaische Schöpfungsbericht zog. Daher sehen wir, daß in dem Momente, da mit den Würzburger ‚„Lügensteinen‘‘ das morsche Gebäude der Vis plastica und der Lusus naturae zusammenbrach, die Natur- forscher in großer Verlegenheit waren, weil sie nicht wußten, wie sie sich zu der Sintflut stellen sollten. Nun holte man die alten lange Zeit hindurch unbeachtet gebliebenen Werke wieder ans Tageslicht, in denen die Versteinerungen als wirkliche Reste von Tieren und Pflanzen erklärt worden waren. Schon die griechischen Philo- sophen wie Xenophanes hatten aus dem Vorhandensein versteinerter Meeres- muscheln auf dem Festlande und zwar auch auf hohen Bergen, den Schluß gezogen, daß die Erdoberfläche in vorhistorischer Zeit periodischen Über- flutungen ausgesetzt gewesen sei. Lionardo da Vinci (I452—1519), einer der vielseitigsten und verständigsten Männer seiner Zeit, hatte als junger In- genieur bei Kanalbauten in Norditalien viele versteinerte Meeresmuscheln ge- funden. Er zog daraus den richtigen Schluß, daß diese Tiere an Ort und Stelle gelebt haben müßten und daß daher einstmals das Meer Norditalien überflutet haben müsse. Er war der erste, der den aristotelischen Anschauungen, die von Ibn Sina in so unglücklicher Weise kommentiert und ausgebaut worden wa- ren, energisch entgegentrat. Dieselben vernünftigen Anschauungen vertraten der Neapolitaner Ales- sandro degli Alessandri (I461—1523) und Hieronymo Fracastoro (1483— 1553). Der letztere hob mit aller Entschiedenheit hervor, daß die von Die Ver- steinerungen als Reliquien der Sintflut 316 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Meereskonchylien erfüllten Schichten unmöglich als Absätze der Sintflut be- trachtet werden dürfen, da die Sintflut eine Süßwasserüberschwemmung gewesen sei und die Flut zu kurz gedauert hätte, um so mächtige Schichten mit Leichen- resten anzuhäufen; die Leichenreste aus der Sintflut könnten nicht tief im Ge- steine stecken, sondern müßten auf der Erdoberfläche lose verstreut worden sein. Diese mit der Bibel in Widerspruch stehenden Anschauungen konnten sich in einer streng kirchlich gesinnten Zeit nicht zu allgemeiner Anerkennung durch- ringen. Daher blieben auch die Auseinandersetzungen des Fabio Colonna (1616) und Agostino Scilla (1670) in der ersten Zeit unbeachtet. Nun warfen sich nach dem Zusammenbruch der Figurensteinhypothesen die Gelehrten auf die Frage, ob und inwieweit die Versteinerungen als Reliquien der Sintflut zu bezeichnen wären und so entstand die mächtige Schuleder,, Diluvianer‘‘, die unter dem Patronate der Kirche im 18. Jahrhundert zu einer mächtigen Partei anwuchs, deren letzte Reste erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erloschen sind. Einer der ältesten und hervorragendsten Vertreter der Diluvianerschule war Johann Jakob Scheuchzer (1672—1733), der in Zürich lebte und in seinen ersten Arbeiten noch die Theorie von den Figurensteinen verfocht. Als aber das große Sintflutwerk von Johannes Woodward (1695) erschienen war, warf er sich mit Begeisterung auf diese Theorie und veröffentlichte eine Reihe von Schriften, in denen er für die Sintflut neue Beweise zu erbringen suchte. Im Jahre 1708 erschien seine populäre Schrift über ‚„Piscium querelae et vindiciae‘‘, in denen er die versteinerten Fische der Schweiz redend vorführte und die Fische sich über die Ungerechtigkeit der Menschen beschweren ließ, sie „vor mineralische Stein- und Mergelgeburthen‘“ zu halten. Die Krönung seines Lebenswerkes sah Scheuchzerin dem Funde eines in der Sintflut ertrunkenen „verruchten Sünders“ in den miozänen Kalkschiefern von Oeningen in Baden, den er als homo diluvii tristis testis beschrieb und dessen Abbild er mit dem vielzitierten Verslein versah: „Betrübtes Beingerüst von einem alten Sünder, erweiche Stein und Herz der neuen Bosheitskinder.‘‘ Erst C. G. Cuvier er- brachte den endgültigen Nachweis, daß dieser vermeintliche Sintflutmensch, dessen Reste im Teylerschen Museum zu Haarlem aufbewahrt werden, ein Ver- wandter des lebenden japanischen Riesenmolches sei, und seit dieser Zeit führt dieser fossile Molch die Bezeichnung Andrias Scheuchzeri. Die Beschreibung des „betrübten Beingerüstes‘‘ wirft ein helles Streiflicht auf die anatomischen Kenntnisse jener Zeit: ‚Ein recht seltenes Denkmal jener verfluchten Menschen- geschlechter der ersten Welt. Die Abbildung gibt zu erkennen den umcreyhs des Stirnbeins, die Augenleisen, das Loch an der unteren Augenleise, welches dem großen Nerven vom fünften Paar den Durchpaß gibt, Überbleibsel des Ge- hirns, das Jochbein, etwas übriges von der Nasen, ein ziemlich Stück von denen kauenden Mäuslein, weiter 16 Rückgratwirbel und Anzeigen der Leber.‘ In einer Zeit, da die vergleichende Anatomie noch auf so tiefer Stufe stand, war noch keine Aussicht vorhanden, die Paläontologie zu einer Wissenschaft aus- bauen zu können; sie blieb einstweilen noch der Tummelplatz von Dilettanten und unwissenschaftlichen Spekulanten. Die Diluvianerschule a7 Langsam nähern wir uns der Epoche, in der die wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiete der fossilen Lebewelt beginnt. Hier mußte aber erst reiner Tisch geschaffen und die Fessel gewaltsam abgestreift werden, welche die Kirche der Forschung angelegt hatte. Hatte man doch schon sehr scheelen Blickes den Aufschwung der Diluvianerschule verfolgt und gesehen, daß die Resultate einzelner selbständigerer Forscher nicht mehr ganz mit dem Dogma des mosaischen Schöpfungsberichtes übereinstimmten. Auch auf diesem Ge- biete mußte es zu einer Entscheidung kommen, wie sie schon in viel früherer Zeit in der Astronomie gefallen war. In! II) N AlINVG; Burz in N = IR i : | in h || = a Zen I 12 u — A = a — PS > => Fr = BEE == NN — = IN S IN h N RN "ie Ta Di RI Fig. 4. Abbildung m Sünders, so in der Sintflutertrunken“. Verkleinerte Kopie der Originalabbildung des als Homo diluvii testis von J. J. SCHEUCHZER 1726 beschriebenen Riesenmolches aus dem Miozän von Oningen (Baden), der später von C. G. Cuvier Andrias Scheuchzeri genannt wurde, Als den eigentlichen Bahnbrecher in dieser Hinsicht müssen wir den Fran- zosen Jean Etienne Guettard (1715—1786) ansehen. Mit voller Ent- schiedenheit sagte er sich von der Tradition des biblischen Schöpfungsberichtes los, wurde aber später zum Widerruf gezwungen; sein Verdienst um die Schaf- fung freier Bahn bleibt jedoch dadurch ebenso ungeschmälert wie das Gali- leis. Auf dem von ihm vorbereiteten Boden entwickelte sich unter ihrem Führer Buffon die neue französische Schule. Damit nähern wir uns der modernen Zeit, in der dieGrundlagen der heutigen Paläontologie geschaffen wurden. Die Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts ging, was die Erforschung der Versteinerungen betrifft, nicht über trockene Beschreibungen hinaus; während die Zoologie und Botanik enorme Fortschritte machten, war die Hauptmasse der Arbeiten über Versteinerungen nicht über ein dilettantenhaftes Mittelmaß hinausgewachsen. Unter den zahl- reichen, mitunter sehr umfangreichen Werken jener Zeit ragt nur eins hervor, die „Sammlung der Merkwürdigkeiten der Natur und Altertümer des Erdbo- dens‘‘, das von Georg Wolfgang Knorr (1705—1761I) und Johann Ernst Immanuel Walch (1725—1778) verfaßt worden ist und in vier gewaltigen Foliobänden mit 275 Tafeln gewissermaßen die Summe der paläontologischen Kenntnisse jener Zeit darstellt. Die Untersuchungen Walchs über die Trilo- biten erheben sich turmhoch über das Niveau gleichzeitiger Arbeiten und leiten 318 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie die eigentliche Forschungsperiode der Paläontologie ein. Das Monumentalwerk von Knorr und Walch, das in Nürnberg 1755—1775 erschien, bildet auch äußerlich einen Abschluß der Periode phantastischer Spekulationen über die Vis plastica, die Figurensteine und die Beweise für die Sintflut, mit denen sich die Gelehrten jahrhundertelang beschäftigt hatten, ohne einen freien Ausblick gewinnen zu können. 3. Die Bahnbrecher der modernen Paläontologie. Nachdem sich die Paläontologie von dem phantastischen Wust der Literatur mit ihren Speku- lationen über die Entstehung der Fossilien durch die Vis plastica endgültig be- freit hatte, trat zunächst das Bestreben in den Vordergrund, den fossilen For- menschatz zu klassifizieren und zu beschreiben. Durch alle Arbeiten dieser Zeit zieht jedoch wie ein roter Faden die aus der Diluvianerzeit herübergenommene Vorstellung, daß alle versteinerten Tiere und Pflanzen, so seltsam auch mit- unter ihre Gestalt erscheinen möge, doch nur die Reste von Lebewesen dar- stellen, die noch heute in irgendeinem unbekannten Winkel der Erde oder im Meere leben. Der Gedanke, daß die meisten dieser fossilen Organismen gänz- lich erloschen seien, tauchte zwar da und dort auf, fand aber keinen rechten Anklang. Der EinAuß der Die berühmten Geognosten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, a ie wie Abraham Gottlob Werner (1749—1817) und James Hutton (1726 Paläontologie. Dis 1797), welche die Aufeinanderfolge der einzelnen Schichten der Erdrinde festzustellen suchten, hatten den in den Gesteinen eingeschlossenen Versteine- rungen keinen Wert beigelegt. In entschiedener Weise wurde diesen rohen An- fängen der stratigraphischen Geologie ein mächtiger Anstoß zur weiteren Ent- wicklung erteilt, als sich ein junger Engländer mit dem Studium der Gesteins- schichten seiner Heimat zu beschäftigen begann und in den Versteinerungen Er- kennungszeichen der einzelnen Schichten, „Leitfossilien‘‘, feststellte. William Smith, am 23. März 1769 als Sohn eines Farmers in Churchill geboren, trat nach dürftigem Elementarunterricht als Autodidakt mit I8 Jah- ren als Gehilfe bei einem Geometer ein. Später als Ingenieur bei einem Kohlen- kanal in Somerset tätig, hatte er hier Gelegenheit, den Versteinerungsreichtum einzelner durch den Kanalbau aufgeschlossener Gesteinsschichten kennen zu lernen. Schon mit 26 Jahren hatte er erkannt, daß alle Schichten der Reihe nach auf dem Meeresboden abgelagert worden seien, jede gekennzeichnet durch ihre eigentümlichen Versteinerungen. Die Versteinerungen selbst kannte Smith nur dem Aussehen und ihrer Form nach und beschäftigte sich nicht weiter mit der Frage ihrer Klassifikation. Trotzdem wurden seine Untersuchungen von fundamentaler Bedeutung für die weitere Entwicklung der Geologie und Paläontologie. Er hatte eine große Sammlung von Versteinerungen zusammengebracht; Richardson und Town- send, zwei dilettantische Liebhaber der Paläontologie, bestimmten ihm die- selben; seine Sammlung befindet sich noch heute, pietätvoll aufbewahrt, im British Museum of Natural History in London. Smith hatte noch nicht daran gedacht, seine Erfahrungen schriftlich zusammenzufassen, als Richard- Begründung der Paläontologie als Wissenschaft 319 son und Townsend ihm gelegentlich eines gemeinsamen Mittagessens vor- schlugen, seine Kenntnisse von den 23 Hauptschichten Englands vom Karbon bis zur Kreide in Form einer Tabelle niederzulegen. Dies ist die berühmte Smithsche Schichttabelle, die noch heute in der Geological Society in Lon- don aufbewahrt wird; sie wurde in vielen Abschriften verbreitet und übte einen geradezu revolutionären Einfluß auf die Geologie; 17 Jahre später erst erschien seine unvollendet gebliebene Darstellung ‚‚Strata identified by Organized Fos- sils containing Prints of the most characteristic Specimens in each Stratum“ (London 1816—1819, 4 Hefte). Schon 1815 war die große geologische Karte Englands erschienen, für deren Herausgabe er sein Vermögen geopfert hatte; er starb 1839 in dürftigen Verhältnissen zu Northampton. Mit Recht hat man ihm später den Beinamen ‚‚Vater der englischen Geologie‘ gegeben. Smiths Arbeiten wirkten zunächst in England nach, wo sich eine große Zahl von Geologen der Aufhellung der Stratigraphie zuwandte. Die Paläonto- logie zog zunächst keinen unmittelbaren Gewinn aus Smiths Forschungen; als aber Alexander Brongniart (1770— 1847) und Baron George Cuvier (1769— 1832) ihre eingehenden Untersuchungen über die Sedimentärgebilde des Pariser Beckens veröffentlichten, die zuerst im Jahre 1808 und in erweiterter Form 1811 erschienen, wurden von beiden Autoren auch die Fossilien selbst eingehend besprochen, während die englischen Stratigraphen der Smithschen Schule sich um die Klassifikation der Versteinerungen nicht viel bekümmert hatten. Mit den Untersuchungen Brongniarts und Cuviers über das Pariser Becken beginnt die neue Epoche der Paläontologie. Jetzt erst begann man die Bedeutung der Versteinerungen als ‚‚medailles de la cr&ation‘‘, als Denkmünzen der Schöpfung, zu erfassen; man erkannte immer mehr ihren eminenten Wert zur Unterscheidung und Altersbestimmung der Schichtgruppen. Ein ungeheures Arbeitsfeld erschien wie mit einem Schlage eröffnet. Zahl- reiche Forscher warfen sich mit Feuereifer auf die Lösung stratigraphischer Probleme; es begann die Forschungsrichtung, welche schon in wenigen Jahr- zehnten zu unerwarteten Erfolgen führte und den gesicherten Besitzstand der stratigraphischen Geologie schuf. Die Darstellung der Stratigraphie des Beckens von Paris und der Fauna desselben wirkte geradezu vorbildlich auf die Arbeitsrichtung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber damit begann eine Epoche der Paläontologie, die noch heute nicht zum Abschlusse gelangt ist und die Entwicklung dieser Wissenschaft schwer gehemmt hat. Die Forscher, welche sich der Lösung stratigraphischer Probleme zu- wandten, zogen nunmehr nach dem Vorbilde der französischen Schule auch die Fossilien selbst in den Kreis ihrer Untersuchungen. Sie entwarfen Beschrei- bungen, bildeten die Reste ab und benannten sie, immer von dem Gesichts- punkte ausgehend, daß der Stratigraph notgedrungen sich auch mit den Leit- fossilien beschäftigen solle und müsse. Damit kam ein dilettantenhafter Zug in die Paläontologie, an der sie zum Teil noch heute krankt, weil die meisten Bearbeiter der Versteinerungen nicht genügend zoologisch oder botanisch vor- Die Bedeutung der Unter- suchungen von Brongniart und Cuvier über das Pariser Becken Die Paläonto- logie als Zweig der Geologie. 320 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie gebildet waren, um von biologischen Gesichtspunkten aus die fossilen Reste zu studieren. Aus den Lehrkanzeln für Mineralogie an den Universitäten wurden Lehrkanzeln für Mineralogie und Geognosie; die Paläontologie wurde dem Geo- logen übertragen und dieser Zustand besteht heute noch an den meisten deut- schen Universitäten, ein Zustand, der aus dem Werdegang der Paläontologie verständlich wird, aber heute ebensowenig gerechtfertigt ist wie die Trennung der paläontologischen Sammlungen von den zoologischen und botanischen, während die mineralogischen und geologischen Musealabteilungen mit den pa- läontologischen verbunden zu sein pflegen. Man muß also bei unbefangener Betrachtung sagen, daß wir heute noch an den Folgen der Tatsache kranken, daß es zuerst die englischen und französischen Geologen waren, welche den Versteinerungen in ihrer Eigenschaft als ‚‚Leitfossi- lien‘‘ erhöhte Aufmerksamkeit zuwandten, während die Biologen sich zunächst um die Fossilien sehr wenig kümmerten. Diese Richtung befaßte sich zunächst nur mit den häufigsten Versteinerungen, die geeignet waren, leicht an anderer Stelle wiedergefunden zu werden und als Erkennungszeichen einer bestimmten Schicht zu dienen. Zunächst waren es dieKonchylien, welche im Vordergrund des Interesses standen; auf diesem Gebiete war ja schon im 17. und 18. Jahrhundert manches vorgearbeitet worden und eslagen an der Wende des I8.und IQ. Jahrhun- derts bereits zahlreiche Tafelwerke vor. Schnecken, Muscheln, Ammoniten und Brachiopoden bilden den Hauptteil des beschriebenen Materials aus dieser Zeit. Kurze Zeit nach der Herausgabe des Monumentalwerkes von Knorr und Walch war eine ‚Vollständige Einleitung in die Kenntnis und Geschichte der Steine und Versteinerungen‘‘ des gelehrten Pfarrers Johann Samuel Schrö- ter (1774—1784) in vier Quartbänden erschienen; in den zwei letzten Bänden beschrieb der Verfasser unter genauer Vergleichung mit den lebenden Formen die fossilen Reste. Es gehört dieses Werk zu den besten älteren Arbeiten und bringt eine sorgfältige Verarbeitung der älteren Literatur. Wertvolle Beiträge zur Kenntnis der Versteinerungen verdanken wir Jo- hann Friedrich Blumenbach, Professor der Zoologie in Göttingen, der 1803— 1816 zwei merkwürdige Aufsätze veröffentlichte. Sie sind bemerkens- wert durch die Art der Einteilung der Versteinerungen in vier Klassen. Die erste bilden Fossilien, welche denselben Arten angehören, die noch heute an Ort und Stelle leben (Beispiel: Pflanzen und Schnecken des Kalktuffs, Reste aus dem Mergel von Oeningen in Baden. Nach Blumenbach ist der Homo diluvii testis Scheuchzers ein Schädel des Welses, Silurus glanis). Die zweite Gruppe der Versteinerungen gehört zwar zu lebenden Arten, doch sind ihre Reste durch Katastrophen (Fluten, Überschwemmungen usw.) aus entfernten Gebieten verschwemmt worden. In diese Gruppe gehören nach Blumenbach die Reste jener Säugetiere, welche sich als Fossilien in den Mit- telmeerländern finden, heute aber in weit entfernten Gebieten leben. Die dritte Gruppe bilden Versteinerungen, welche für ein früher wärmeres Klima zu sprechen scheinen und mit lebenden nicht übereinstimmen, obzwar sie ihnen ähnlich sind. Hierher zählt Blumenbach die Reste des Mammut, Die Übergangszeit 321 Höhlenlöwen, Höhlenbären usf., die Versteinerungen des lithographischen Schiefers sowie die Versteinerungen aus der Kreide Hannovers. Die vierte Gruppe bilden Reste mariner Tiere, welche beweisen, daß die Erde früher vom Meere überflutet war. Beispiele sind Ammoniten, Orthocera- titen, Sepienschnäbel usw. K. A. von Zittel hat in seiner „Geschichte der Geologie und Paläonto- logie bis Ende des 19. Jahrhunderts‘ diesen Publikationen keinen besonderen Wert zugesprochen. In unseren Augen sind sie gewiß nicht als Grundsteine der modernen Paläontologie anzusprechen, aber es ist von seltenem Interesse, zu sehen, wie sich der Göttinger Forscher das ihm bekannte Material zurechtlegte und wo die Fehler seiner Schlußfolgerungen lagen. Er ist rein induktiv vorge- gangen, soweit er die Ähnlichkeit und Verschiedenheiten der fossilen Formen von den lebenden festzustellen versuchte; der zu seiner Zeit noch kleine Um- fang des Materiales hat ihn an einem klaren Überblick verhindert. Immerhin hat er ganz richtig erkannt, daß die Versteinerungen verschiedenen Epochen der Erdgeschichte entstammen; die zwei jüngsten Epochen bezeichnet er als das historische, die dritte als das heroische und die älteste als das mythologische Zeitalter der Erdgeschichte. Er hat zuerst die Reste von Elephas primigenius, Rhinoceros antiquitatis, Hyaena fossilis und Ursus spelaeus richtig diagnostiziert und beschrieben. Ein Schüler Abraham Gottlob Werners, Ernst Friedrich Freiherr von Schlotheim (1764— 1832), wandte sich zunächst der Untersuchung fos- siler Pflanzen aus der Steinkohlenformation zu und beschrieb sie in einer treff- lichen, klaren Monographie. Er wies nach, daß die fossilen Farne trotz aller Ähnlichkeit mit lebenden Gattungen ausgestorben seien; ebenso seien alle an- deren Steinkohlenpflanzen gänzlich erloschen. Er nahm große Erdrevolutionen als die Ursache der Zerstörung und Ausrottung der alten Floren an. Seine wei- teren Arbeiten bewegten sich auf dem Gebiete der fossilen Tierreste. Eine große Zahl fossiler Arten trägt noch heute den von Schlotheim aufgestellten Na- men; insbesondere hat er sich mit fossilen Mollusken beschäftigt. In der Be- arbeitung fossiler Wirbeltierreste war er weniger glücklich. Seine Untersuchun- gen sind aber vortrefflich und genau durchgearbeitet und können für die da- malige Zeit mustergültig genannt werden. Während die Arbeiten Blumenbachs und Schlotheims eine wertvolle Grundlage für die weitere Entwicklung der Paläontologie bilden, stehen die übrigen Arbeiten jener Übergangszeit nicht auf der gleichen Höhe. Die „‚Or- ganic Remains of a Former World‘ von James Parkinson (London, 1804 bis 1811, 3 Bände) sollten eine Enzyklopädie der Versteinerungen darstellen; das ganze Werk ist aber von demselben Charakter wie die Arbeiten von Knorr und Walch, und wir begegnen nirgends genaueren Vergleichen der Fossilreste mit lebenden Tieren und Pflanzen. Parkinson sucht noch den biblischen Schöpfungsbericht mit den Ergebnissen der Versteinerungskunde und Geogno- sie dadurch zu vereinen, daß er die ‚Tage‘‘ der Genesis als lange Zeiträume auf- faßt. Die Werke von Faujas de Saint-Fond und Defrance, die in den Zeit- &.d.G.IIL. ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 21 Die Bedeutung der morpho- logischen Unter- suchungen Cuviers für die Paläontologie. Leitfossilien. 322 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie raum von 1803—1830 fallen, stehen auf recht tiefer Stufe. Über eine Kata- logisierung der Fossilreste sind die genannten Autoren nicht hinausgekommen. Von geradezu revolutionärem Einfluß auf die Entwicklung der Paläonto- logie sind erst die meisterhaften Untersuchungen €. G. Cuviers geworden. Die Ergebnisse der Arbeiten Schlotheims und Blumenbachs gipfelten darin, daß ein Teil der Fossilreste von heute noch lebenden Arten herrühre, ein an- derer Teil aber zu gänzlich erloschenen Arten gehöre. Dem wurde von geg- nerischer Seite widersprochen, unter Berufung darauf, daß die fremdartig ge- formten fossilen Tiere doch noch irgendwo lebend entdeckt werden könnten, und daß kein Grund für die Annahme vorliege, daß es unter den fossilen Lebe- wesen ausgestorbene Arten gebe. | Die scharfe Unterscheidung der „Leitfossilien‘‘ und ihre chronologische Reihung durch William Smith war von den Paläontologen der damaligen Zeit inihren Konsequenzen noch nicht voll erfaßt worden. Aus diesen Tatsachen hätte sich ja für jeden unbefangenen, induktiven Forscher die Schlußfolgerung ergeben müssen, daß in den verschiedenen Epochen der Erdgeschichte verschie- dene Tiere und Pflanzen lebten, und daß die Verschiedenheit der Tierwelt und Pflanzenwelt der vergangenen Zeiten entweder durch ein Aussterben der alten und Neuschaffung neuer Formen oder durch eine Umformung der alten Arten zu neuen erklärt werden müsse. Cuvier war der erste, der diese Fragen aufwarf und zu ihnen Stellung nahm. Die Überreste der wirbellosen Tiere, der Muscheln, Schnecken, Kopf- füßer, Armfüßer, Foraminiferen, Korallen usw. schienen ihm nur in geringem Grade geeignet, zur Entscheidung dieser Fragen herangezogen zu werden. Cu- viers unvergängliches Verdienst besteht in der richtigen Erfassung der Bedeu- tung der Wirbeltierskelette zur Entscheidung der Fragen nach dem Gegen- satze zwischen den Arten vergangener Erdperioden und den lebenden Formen. Um diese Unterschiede genauer kennen zu lernen und sie richtig verstehen zu können, war es jedoch notwendig, die Kenntnisse von dem Knochenbaue und den Zahnformen der lebenden Arten zunächst zu erweitern und auf diese Weise die Grundlagen für einen Vergleich mit den fossilen Formen zu erhalten. Daher wandte sich Cuvier zunächst der Untersuchung der Skelette leben- der Wirbeltiere und zwar zunächst der Säugetiere zu. Seine erste, grund- legende Abhandlung über das einhörnige Nashorn, die 1804 in den Annalen des Pariser Museums erschien, beginnt mit den Worten: „Da ich mir vornehme, in diesen Annalen eine Reihe von Untersuchungen zu veröffentlichen, die ich über die Frage angestellt habe, zu welchen Arten die fossilen Knochenreste gehören, so muß ich vor allem die Osteologie mehrerer Quadrupeden besprechen, welche noch niemals unter diesen Gesichtspunkten studiert worden sind.‘ Der Erfolg dieser Untersuchungen, welche zuerst in regelloser Folge er- schienen und später von Cuvier zu den ‚Recherches sur les Ossements fossiles‘‘ zusammengefaßt wurden, war ein ungeheurer. Mit einem Schlage war den Zeit- genossen Cuviers klar geworden, mit welchen methodischen Mitteln an die Die Bedeutung der Arbeiten Cuviers 323 Aufhellung der Vorgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt geschritten werden müsse, um zu sicheren Ergebnissen zu gelangen. Die monumentalen ‚‚Recher- ches sur les Ossements fossiles‘‘ haben noch heute ihren Wert nicht verloren; sie bilden die unverrückbare Grundlage aller vergleichend anatomischen oder mor- phologischen Untersuchungen auf paläontologischem Gebiete, und wenn sich auch das Material seit Cuviers Zeiten vertausendfacht hat und manche neue Methoden und neue Gesichtspunkte in den Vordergrund getreten sind, so blei- ben seine Arbeiten doch immer der Grundstock unseres Wissens und bilden einen der wichtigsten Marksteine auf dem Wege der Entwicklung der Paläon- tologie. Ein unmittelbarer Erfolg der Untersuchungen Cuviers war der Nachweis von der Existenz ausgestorbener Arten in den Schichten früherer Erdzeitalter. Dies war der erste, streng wissenschaftliche Nachweis von der Verschiedenheit fossiler und lebender Faunen. Die von William Smith und seinen Nachfol- gern festgestellte Verschiedenheit der einzelnen chronologisch verschiedenen Faunen erschien jetzt von Cuvier zum ersten Male erklärt. Nun wäre aber noch die Frage zu entscheiden gewesen, ob neben diesen ausgestorbenen Arten nicht auch solche in den Erdschichten liegen, welche, wenn auch sehr verändert, in der Gegenwart noch heute fortleben und auf diese Weise als die Ahnen der jetzigen Lebewelt zu betrachten wären. Die Lösung der Frage im letzteren Sinne wurde von Cuvier mit aller Ent- schiedenheit abgelehnt. Die damalige Zeit stand unter dem überwältigenden Einfluß des Linn&schen Dogmas von der Unveränderlichkeit der Art: ‚Tot sunt species quot ab initio creavit infinitum ens‘‘, so viele Arten gibt es, als Gott am Anfange der Welt erschaffen hat. Innerhalb der Arten gestand Linne& ein gewisses Schwanken der Form, ein Variieren zu, aber keine derartige Ab- änderung, daß sie je zur Entstehung einer neuen Art führen könnte. Dieses Linn&sche Dogma bildete für die damalige Zeit eine schier unüber- windliche Schranke. Die Paläontologie war noch nicht in der Lage, aus ketten- artig geschlossenen, chronologisch gereihten Entwicklungsstufen einzelner Grup- pen des Tierreiches den Nachweis von Umformungen und von phylogenetischer Entwicklung erbringen zu können. Das Arbeitsgebiet war noch zu begrenzt, der damals bekannte Formenschatz zu klein und keine rechte Möglichkeit vor- handen, auch nur zwei Arten aus verschiedenen Schichten miteinander gene- tisch verknüpfen zu können. Die Kirche hielt, nachdem ja schon früher der Glauben an den mosaischen Schöpfungsbericht manche tiefgreifende Erschüt- terungen erfahren hatte, starr am Linn&schen Dogma, dem letzten Anker des mosaischen Schöpfungsberichtes, fest und wirkte in dieser Hinsicht auf die Vorstellungen der Zeitgenossen ein. Sind ja doch bis in unsere Zeit immer wie- der Stimmen laut geworden, die auf das Dogma von der Konstanz der Arten verwiesen und den Fortschritt der Erkenntnis zu hemmen suchten, bis auch diese letzte Schranke in unseren Tagen für immer fiel. Cuvier legte sich die Tatsache von der Existenz ausgestorbener Arten in früheren Erdzeitaltern in folgender Weise zurecht. Er hatte gefunden, daß unter 2 Die Existenz ausgestorbener Arten. Das Dogma von der Konstanz der Arten. Die Revolutions- oder Kata- strophentheorie. 324 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologıe den Faunen mit ausgestorbenen Arten keine heute noch lebende nachzuweisen war, so daß also zwischen der Gegenwart und Vorzeit tiefgreifende Unterschiede in der Zusammensetzung der Faunen bestehen, ferner hatte er feststellen kön- nen, daß diese Gegensätze um so kleiner wurden, je näher die fossilen Faunen der Gegenwart lagen, und um so größer, aus je älteren Zeiten sie stammen. Daraus schloß Cuvier — und dies ist der schwerste Fehlschluß, den er beging —, daß die fossilen Faunen durch gewaltige Revolutionen vernichtet worden seien, entweder gänzlich oder nur zum Teil, so daß sich ein kleiner Pro- zentsatz der Fauna in die neue Zeit retten konnte. Diese Revolutionen wieder- holten sich oftmals im Laufe der Erdgeschichte. Man hat Cuvier in späteren Zeiten die Vorstellung zugeschrieben, daß er an Neuschöpfungen in dem Sinne glaubte, wie dies später von d’Orbigny bestimmt ausgesprochen wurde. Davon findet sich aber in dem berühmten „Discours sur les Revolutions de la surface du globe‘‘ nichts Bestimmtes. Cu- vier äußert sich nur an einer Stelle sehr vorsichtig darüber, daß die Annahme von Neuschöpfungen nach jeder Erdrevolution nicht unbedingt notwendig sei; vielleicht hätten die Revolutionen jeweils nur einen Teil der Erdoberfläche verwüstet, so daß sich an einzelnen Punkten Tierformen erhalten hätten, die nunmehr in das alte Gebiet der von der Revolution zerstörten Fauna einge- wandert seien. Stellt man sich die vorsichtig verklausulierten Äußerungen Cu- viers aus seinem ‚Discours‘‘ zusammen, so sieht man, daß er starr an dem Prinzipe der Unveränderlichkeit der Art festhält: ‚,... siles especes ont change par degres, on devroit trouver des traces de ces modifications graduelles; qu’entre le palaeotherium et les especes d’aujourdhui l’on devroit decouvrir quelques formes interme&diaires, et que jusqu’a present cela n’est point arrive... Pourquoi les entrailles de la terre n’ont elles point conserv£& lesmonuments d’une gen&alogie si curieuse, si n’est parce que les especes d’autrefois etoient aussi con- stantes que les notres, ou du moins parce que la catastrophe qui les a detruites ne leur a pas laisse le temps de se livrer a leurs variations?‘“ Die Konsequenz seiner Vorstellungen kann nur die sein, daß ‚‚tot species sunt quot ab initio creavit infinitum ens“‘, wie Linne& glaubte, und daß die heu- tigen Lebewesen von versteckten Teilen der Erdoberfläche in das heutige Ver- breitungsgebiet eingewandert sind, aber schon von Erschaffung der Welt an vorhanden waren. Der eigentliche Ausbau der Revolutionstheorie oder Kataklysmen- theorie stammt von Alcide d’Orbigny (I1802—1857). Nach ihm sind im ganzen 27 oder 28 Neuschöpfungen der Lebewelt zu verzeichnen. Die Forscher der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts standen fast ausnahmslos auf dem Boden der Revolutionstheorie; nur in England und Deutschland hat sie nie recht Boden fassen können. Man hat Cuvier aus dem starren Festhalten an der Revolutionshypothese schwere Vorwürfe gemacht. In der Tat hätte er bei unbefangener Prüfung der Umstände, unter denen die verschiedenen fossilführenden Schichten abgelagert worden sind, erkennen können, daß von gewaltigen, erdumfassenden Katastro- Die Zeit der ‚„Revolutionstheoretiker“ 325 phen aus den Schichten selbst kaum etwas herausgelesen werden kann. Wir müssen aber anderseits zur Entschuldigung des genialen Begründers der wis- senschaftlichen Paläontologie ins Treffen führen, daß sich seine hauptsächlichen Studien auf dem Boden von Paris bewegten, wo in den gipshaltigen Tonen des Montmartre unzählige Wirbeltierleichen unter Umständen begraben liegen, die auf einen katastrophalen Untergang schließen lassen; freilich ist dies nur eine scheinbare Katastrophe, da man ja von einer solchen das plötzliche, momentane Eintreten voraussetzt, während sich das Versinken und Sterben der Mont- martre-Säugetiere in den alttertiären Gipssümpfen oder Schotts, die später zu den Gipstonen erhärteten, wiederholt vollzogen hat, so wiesich der Untergang der eiszeitlichen Tiere am Asphaltsumpf des Rancho La Brea in Kalifornien auch nicht an einem Tage abspielte, sondern auf einen langen Zeitraum verteilte. Wir müssen daher Melchior Neumayr beipflichten, wenn er sagt: „In jeder einzelnen Phase der Entwicklung einer Wissenschaft ist es not- wendig, den momentanen Stand der Kenntnis zu einer Theorie zusammenzu- fassen, von der aus eine einheitliche Anschauung über die Gesamtheit der Er- scheinungen möglich ist. Jede solche Theorie wird mit der Zeit überholt und mag sich in manchen Punkten als falsch erweisen; sie ist aber doch gut, wenn sie zur Zeit ihrer Aufstellung die Summe der bekannten Tatsachen umfaßt, mit keiner derselben in Widerspruch steht, früheren Auffassungen gegenüber einen Fortschritt bekundet und zu weiterer Forschung anregt. Von diesem Stand- punkte aus muß Cuviers Theorie ganz entschieden anerkannt werden; der Fortschritt, den sie enthält, beruht darin, daß die Faunen und Floren der ein- zelnen aufeinander folgenden Schichtgruppen als die großen Etappen in der Entwicklung der Organismenwelt aufgefaßt und die universelle Bedeutung der geologisch-paläontologischen Untersuchung ausgesprochen wurde. Aus dieser Behandlung des Gegenstandes entsprang eine mächtige Anregung für weitere Arbeiten. Wenn späterhin jene Kataklysmentheorie direkt schädlich wirkte, so liegt die Schuld nicht an Cuvier, sondern an denjenigen, welche sie ins Extrem trieben und auch dann noch an ihr festhielten, als sie mit den Tatsachen in offenbaren Widerspruch geraten war.‘ Nur eines kann vielleicht Cuvier vorgeworfen werden: er war mit der zeit- genössischen Literatur nur ungenügend vertraut. Die Untersuchungen von William Smith kannte er nicht; ebenso scheinen ihm die Arbeiten von Leh- mann, KuchselöCharpentier, Voigt, Heım, Lasıus, Hutton, Play- fair und vielen anderen, welche sich mit der Entstehung der Schichten beschäf- tigten, unbekannt gewesen zu sein. Sein ausschließliches, großes Verdienst be- steht in der gemeinsam mit Brongniart durchgeführten stratigraphischen Analyse des Tertiärbeckens von Paris, vor allem aber in der Begründung einer vergleichenden Anatomie als Grundlage einer wissenschaftlichen Paläontologie, ein Verdienst, das ihm nie geschmälert werden kann. So sind wir mit Cuviers Arbeiten an die Schwelle der Periode des großen ‚Der sleemeiel Aufschwunges der Paläontologie gelangt. Es gehört jedoch zu den merkwür- jzontologie in der digsten Erscheinungen in der Geschichte der Naturwissenschaften, daß die Ar- "I ra derts. 326 O. ABEL; Paläontologie und Paläozoologie beiten Cuviers, die unter den Zeitgenossen das größte Aufsehen hervorriefen, doch nicht unmittelbar zu einem Aufblühen der Paläontologie führten. Auf den glänzenden Aufschwung durch Cuviers Untersuchungen folgte eine verhältnis- mäßig lange Periode der Stagnation. In dieser Zeit wurde zwar enorm viel Ar- beit geleistet, aber die Untersuchungen bewegten sich vorwiegend auf strati- graphischem Gebiete. Die Bearbeitung der Fossilien lag fast ausschließlich in den Händen der Geologen; wäre sie in den Arbeitsbereich der Zoologie schon zu jener Zeit übergegangen, so hätten sich höchstwahrscheinlich aus Cuviers Arbeiten heraus unmittelbar Blüten und Früchte entwickelt. In den Zoologen- kreisen jener Zeit bestand aber wenig Interesse an den Versteinerungen, und so blieb die ‚‚Petrefaktenkunde‘“ in den Händen der Geologen, ohne hier eine wesentliche Förderung zu erfahren, da die Lösung wichtiger stratigraphischer Probleme im Vordergrunde des Interesses stand und die Bearbeitung der Fau- nen oder einzelner Faunenelemente nur nebenher lief. So wurden auch solche Fossilien von den Geologen beschrieben, die keinen morphologischen Wert be- saßen, sondern höchstens als Leitfossilien verwendet werden konnten. Dazu kam, daß die Geologen, wie es in der Natur der stratigraphischen Forschung liegt, mehr auf möglichst scharfe Trennung der fossilen Arten sahen, als auf genetische Verbände und Zusammenhänge, da es ihnen ja zunächst darum zu tun sein mußte, die Leitfossilien und mit ihnen die einzelnen Schichten und Horizonte möglichst scharf zu unterscheiden. So ging die Paläontologie nach der kurzen Glanzzeit unter Cuvier auf fastein halbes Jahrhundert wiederin der Petrefaktenkunde unter. Zahlreiche deskriptive Arbeiten mit Hunderten von Art- namen und vielen Abbildungen stammen aus jener Zeit, ohne daß sie von grund- legender Bedeutung für die Paläozoologie oder Paläobotanik geworden wären. So konnte Karl Alfred von Zittel in seiner ‚Geschichte der Geologie und Paläontologie bis Ende des 19. Jahrhunderts‘‘ (1899) schreiben: „Ein großer Teil der stratigraphisch-paläontologischen Literatur wird von Geologen geliefert, und gewisse Abteilungen von Versteinerungen, wie die fos- silen Mollusken und Molluskoideen, bilden noch jetzt eine Domäne von Autoren, worin zuweilen mit einem erstaunlich geringen Vorrat zoologischer Kenntnisse und Erfahrung beschrieben, systematisiert und spekuliert wird. Daß diese Lite- ratur von der wissenschaftlichen Zoologie keine Beachtung findet, ist begreif- lich. Sie verfolgt in erster Linie geologische Ziele und behandelt vielfach das paläontologische Material nicht nach den in der zoologischen Systematik üb- lichen Methoden, sondern nach rein persönlicher Aufiassung.‘ Seither ist mehr als ein Dezennium verstrichen, aber was Zittel damals brandmarkte, besteht noch heute fort und wird sich nicht eher ändern, bis die Lehrkanzeln der Paläontologie und Geologie an allen Hochschulen getrennt sein werden; denn diese Kumulierung hat unbedingt zur Folge, daß die heranzubil- denden Paläontologen die fossilen Tierreste immer wieder zunächst durch die geologische Brille kennen lernen und sich, einmal in diese Richtung verschlagen, nur sehr schwer entschließen, umzukehren und von vorne anzufangen. Nur das Gebiet der Wirbeltiere wurde den Zoologen nicht gänzlich ent- Die Entwicklung der Paläontologie im 19. Jahrhundert 327 fremdet; Faunen oder systematisch abgegrenzte Gruppen wurden von Zoologen untersucht und beschrieben. Von der Wirbeltier-Paläontologie ging dann auch die Erneuerung der Paläozoologie aus, die in den letzten Jahrzehnten zu so überraschenden Ergebnissen führte und der Paläozoologie wieder zu der ihr gebührenden Stellung unter den biologischen Wissenschaften verhalf. 4. Die Entwicklung der einzelnen Zweige der PaläontologieDas Schlagwort im 19. Jahrhundert. Seit dem Beginne regeren Interesses an den fossilen er Tieren und Pflanzen ist die Zahl der Paläontologen enorm gewachsen und mit paläonto- ihr die Zahl der Sammler. Immer neue Mengen von Versteinerungen gelangen a Jahr für Jahr in die Museen; Jahr für Jahr werden neue, reiche Fundgebiete der Forschung erschlossen; zu Hunderttausenden häufen sich die Reste der Versteinerungen in den Museen an, derart, daß wir von einzelnen fossilen For- men in den meisten Museen größere Suiten als von den lebenden besitzen. Das früher häufig gebrauchte Schlagwort von der Lückenhaftigkeit der paläonto- logischen Überlieferung hat schon lange seine Berechtigung verloren. Wo bleibt die Lückenhaftigkeit, wenn wir von dem größten Flugtier aller Zeiten, dem über 8m spannenden Pteranodon der oberen Kreide Nordamerikas, im Peabody- Museum der Yale University in New Haven allein die Reste von 465 Individuen besitzen! Mit dem enormen Anwachsen des Materials ist eine Arbeitsteilung nach Die Notwendig- systematischen Kategorien unvermeidlich geworden. Es ist heute nicht mehr “““ Re möglich, gleichzeitig Forschungen auf dem Gebiete der fossilen Mollusken, Protozoen, Korallen, Echinodermen und Wirbeltiere anzustellen, wenn eine ent- sprechende Vertiefung in das Material erfolgen soll und nicht nur oberflächliche Beschreibungen neuer Arten aus diesen Gruppen geliefert werden, die dann ohnedies von den Spezialisten überprüft und von neuem verarbeitet werden müssen. Der Paläontologentypus, der heute eine Krabbe, morgen einen neuen Nashornfund, übermorgen eine Bivalvenfauna, dann ein fossiles Insekt und hierauf eine Ammonitenfauna beschreibt, ein Typ, der in früherer Zeit dem Normaltypus des Paläontologen entsprach, beginnt mit jedem Tage seltener zu werden. Schon das Anwachsen der Literatur der einzelnen Gebiete macht es physisch unmöglich, alle Zweige der Paläontologie in gleichem Ausmaße zu be- herrschen, wenn durch die Arbeiten auf den betreffenden Gebieten die Wissen- schaft wirklich eine Förderung erfahren soll. Mit dieser Teilung nach Arbeitsgebieten hängt es zusammen, daß einzelne Gruppen durch das Zusammenwirken verschiedener Fachgenossen eine rasche Förderung erfahren, während andere Gebiete mehr oder weniger vernachläs- sigt erscheinen. Wie in jeder Wissenschaft wechselt aber auch in der Paläon- tologie das Interesse der Fachleute an bestimmten Gruppen, und ich will später an einzelnen Beispielen zeigen, durch welche Einflüsse dieser Wechsel im Be- reiche der Paläontologie bedingt erscheint. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschen Darstellungen von Faunen vor, während monographische Bearbeitungen einzelner Gattungen, Fa- milien und Ordnungen stark in den Hintergrund treten. Dieses Hervortreten Foraminiferen. Radiolarien. Spongien. 328 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie der Faunenbeschreibungen hängt auf das innigste damit zusammen, daß es fast ausschließlich Geologen waren, die sich an die Bearbeitung einer geschlos- senen Fauna, meist nur von einer einzigen Fundstelle, machten. Unter den niederen Tieren haben zuerst die Foraminiferen das Inter- esse der Paläontologen erweckt. Schon im Altertume waren einzelnen die Num- muliten aufgefallen; Herodot und Strabo erwähnen sie aus der Gegend von Kairo. Gesner verglich sie mit Ammoniten, Aldrovandi und Kircher sahen inihnen Naturspiele. Dann folgt eine Zeit, in der man sich weniger mit der Frage der Organisation der Nummuliten als mit ihrer Benennung beschäftigte, und so folgt eine bunte Reihe von Namen: Kümmelsteine, Münzensteine, Nummi lapidei, Nummuliten, Lapides frumentarii, Linsensteine, Lenticuliten, Phaciten, Discoliten, Helmintholiten, Heliciten usf. Über ihre zoologische Stellung war man lange Zeit im unklaren; meist hielt man sie für Würmer oder Innenteile von Mollusken. Die Literatur des 18. Jahrhunderts enthält bereits größere Ab- handlungen über fossile Foraminiferen; die erste Monographie erschien 1803. Grundlegend wurden die Untersuchungen von A. d’Orbigny, der 1825 und 1826 größere Modelle verschiedener Foraminiferen anfertigen ließ, die in den meisten Sammlungen Europas verbreitet sind. Die Systematik der Foraminiferen beruhte zuerst auf den allgemeinen Form- unterschieden und dem verschiedenartigen Wachstume. Diese dilettanten- hafte Betrachtungsweise wurde durch die fundamentalen Arbeiten von Car- penter und Williamson beseitigt, welche die mikroskopischen Verschieden- heiten der Schalenstruktur zur Grundlage der systematischen Gruppierung machten. Von da ab beginnt eine Periode lebhaftester Beschäftigung mit dieser Tiergruppe; in neuerer Zeit hat man auch einen Generationswechsel bei einzel- nen fossilen Foraminiferen nachgewiesen, seitdem ein solcher bei lebenden For- men festgestellt worden war. Die Fülle des Materials erlaubt es heute, für ein- zelne Gruppen die Grenzen ihrer geologischen und geographischen Verbreitung in den Hauptlinien festzulegen. Geringeres Interesse hat man den Radiolarien zugewendet. Die ersten Berichte über fossile Radiolarien stammen von Tilesius (1806); später hat sich Ehrenberg eingehend mit der Untersuchung dieser prächtigen Formen be- schäftigt. Bis 1862 nur aus dem Tertiär bekannt, kamen sie bei sorgfältiger Durchsuchung von Dünnschliffen auch in Kieselgesteinen älterer Formationen zum Vorschein und sind jetzt schon aus der archäozoischen Epoche, also aus vorkambrischer Zeit nachgewiesen. Die Literatur über diese Gruppe ist wenig umfangreich und das Interesse an der Erforschung der fossilen Formen im all- gemeinen gering. Fossile Spongien sind schon im 17. Jahrhundert abgebildet und beschrie- ben worden; freilich wurden sie entweder als Pilze, Seepflanzen, Korallen, See- anemonen oder als Früchte gedeutet. Guettard war der erste, der ihre wahre Natur erkannte (1758—1783). Erst im Momente, da die Zoologen sich energi- scher an das Studium der Schwämme machten, war die Grundlage für die Er- forschung der fossilen Formen gegeben. Trotzdem dauerte es lange Zeit, bis Die Erforschung der fossilen Evertebraten 329 die Epoche der tastenden systematischen Versuche und verunglückten Gruppie- rungen überwunden war. Erst Zittel (1876) und Sollas (1877) nahmen die Bearbeitung der fossilen Spongien energisch in Angriff und durch die sorgfältigen mikroskopischen Untersuchungen Zittelssind wir heute über diese Gruppe sehr genau unterrichtet. Seine Klassifikation bildet die Grundlage für alleseither er- schienenen Abhandlungen über fossile Kieselschwämme und Kalkschwämme. Die fossilen Korallen haben durch ihre charakteristischen Formen schon Korallen. frühzeitig die Aufmerksamkeit erregt und finden sich bereits in vielen Bilder- werken der Periode der Phantasten beschrieben. Zuerst bildeten jedoch nur die äußeren Merkmale den Gegenstand der Beschreibung; bis in das dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wußte man noch nichts Näheres von ihrer Organisation. Bis in die vierziger Jahre wurden in den paläontologischen Arbeiten über Korallen die lebenden kaum berücksichtigt, bis endlich Henri Milne Edwards und Jules Haime mit ihren Untersuchungen bahnbrechend wirkten. Die Korallenliteratur der letzten Jahrzehnte enthält sehr sorgfältige Untersuchungen über Form, Struktur, Organisation und Wachstum sowie über die genetischen Beziehungen zwischen Tetrakorallen und Hexakorallen. Die Literatur über fossile Korallen umfaßt sowohl monographische Dar- stellungen einzelner Familien als auch die geschlossener Faunen, und zwar über- wiegen die letzteren sehr bedeutend. Bis heute fehlt aber noch immer eine groß angelegte vergleichende Darstellung der chronologisch verschiedenen Ko- rallenfaunen, als biologische Einheiten betrachtet, und es wird die Aufgabe der Korallenforschung sein, diese empfindliche Lücke so bald als möglich auszu- füllen, um ein klares Bild über die Unterschiede der Korallenriffaunen und die durch. Konvergenz bedingten Übereinstimmungen der einzelnen Faunenele- mente gewinnen zu können. Die übrigen Gruppen der Coelenteraten spielen in der paläontologischen Literatur eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle. Die Seltenheit der Funde von Medusen und die unbedeutenden Unterschiede von den lebenden Formen bedingen das geringe Interesse für die fossilen Vertreter dieser Gruppe. Eine gewaltige Literatur bezieht sich auf die fossilenEchinodermen. Die Echinodermen. eigentümlich geformten Kronen der Seelilien, die zylindrischen, oft zierlich ge- kanteten Stielglieder derselben, die reich verzierten Seeigelgehäuse und Seeigel- stacheln lenkten schon frühzeitig die Aufmerksamkeit auf sich und waren der Gegenstand reger Sammeltätigkeit der Besitzer von Raritätenkabinetten des 16. und 17. Jahrhunderts. Man beschrieb die Stielglieder der fossilen Seelilien als Bonifaziuspfennige, Rädersteine oder Trochiten, die Kronen als Liliensteine und hielt sie lange Zeit für Pflanzenreste, nachdem die Anschauung von den „Naturspielen‘‘ überwunden war. Wie gering die Kenntnis von diesen Resten und ihrer zoologischen Stellung noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts war, beweist das Systema naturae Linn&s, in welchem Echinodermenreste teils als „Helmintholithus, petrificatum Vermis“, teils als ,„Entomolithus, petrificatum Insecti‘‘ angeführt erscheinen. Wenn man den Abschnitt des Systema naturae durchblättert, der von den Versteinerungen handelt, ist man erstaunt über 330 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie den außerordentlichen Tiefstand der paläontologischen Kenntnisse Linn&s, die ein buntes Durcheinander von naiver Betrachtungsweise, abenteuerlicher Erklä- rung und totalem Mangel morphologischen Blickes für die Fossilreste darstel- len. Ein wesentlicher Fortschritt in der Beurteilung der Seelilien oder Crinoiden ist erst durch die Untersuchungen Guettards angebahnt worden, der das erste Exemplar eines lebenden Pentacrinus untersuchte und als ‚Palmier marin‘ be- schrieb; aber erst Blumenbach stellte die engen verwandtschaftlichen Be- ziehungen zwischen Seelilien, Seesternen und Seeigeln fest. Von einer wissen- schaftlichen Bearbeitung dieser Gruppe kann aber erst seit dem Erscheinen der Arbeiten von J. S. Miller (1821) gesprochen werden, der zuerst gute anato- mische Darstellungen der Kelchstruktur mitteilte. Rasch folgten die Arbeiten von Fleming (1828), die von der Gruppe der Blastoideen handelten, und die Abhandlungen von Goldfuß und Münster, die wesentlich deskriptiver Natur waren und auf die Organisation nicht weiter eingingen. Es ist das dieselbe Be- trachtungsweise, die wir in späterer Zeit bei dem letzten großen ‚‚Petrefakto- logen‘‘ Friedrich August Quenstedt (I1809—1889) vertreten finden, für den das fossile Tier hauptsächlich ein Leitfossil, aber nur nebenbei der Überrest eines einstmals lebenden Tieres war. Wesentliche Fortschritte in der Erkenntnis der Seelilien sind durch Ru- dolf Leuckarts Arbeiten gegeben (1848). Von großer Bedeutung sind die Untersuchungen des genialen Morphologen und Physiologen Johannes Mül- ler, welche 1841, 1847 und 1853 veröffentlicht und für die weitere Forschung auf dem Gebiete der Echinodermen von maßgebender Bedeutung wurden. Die Gruppe der Seeigel oder Echinoidea wurde früher als die Seelilien von wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus bearbeitet. Schon 1732 erschien eine gute Darstellung der lebenden und fossilen Seeigel von Johannes Philipp Breyn, welcher zwei Jahre später die systematische Übersicht von Jakob Theodor Klein folgte. Beide Arbeiten gehören zu den besten Studien über fossile Tiergruppen, die im 18. Jahrhundert erschienen sind; mit der frühzeitig in Angriff genommenen wissenschaftlichen Untersuchungsmethode bei dieser Gruppe stehen’ die außerordentlichen Fortschritte im Zusammenhang, welche die Echinoideenforschung im I9. Jahrhundert aufzuweisen hat. Besonders hervorzuheben sind die umfangreichen Abhandlungen von Louis Agassiz (1838—1841) und die Arbeiten von Albert Gras und Eduard Desor, wel- chen eine große Zahl von deskriptiven und anatomischen Mitteilungen folgte. Unter den zahlreichen Seeigelforschern des 19. Jahrhunderts steht Gustave Cotteau (1818—1894) an erster Stelle. Unter den lebenden Forschern, die sich mit der Untersuchung fossiler Echinodermen beschäftigen, nimmt A. Bather den ersten Platz ein. Fossile Seesterne und Schlangensterne, welche die Klasse der Asterozoen bilden, spielen im Vergleiche mit den Pelmatozoen und Echinoideen nur eine untergeordnete Rolle, und diesem Umstand entspricht auch eine relativ geringe Zahl wissenschaftlicher Arbeiten über diese Gruppe. Ebenso ist auch die Lite- ratur über die fossilen Würmer wenig umfangreich und von geringer Bedeutung. Die Erforschung der fossilen Mollusken 331 Einen großen Teil der paläontologischen Literatur nehmen die Arbeiten Brachiopoden. über fossile Molluskoideen (Bryozoen und Brachiopoden) ein. Insbesondere waren die Brachiopoden Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit; Fabio Colonna hatte am Anfange des 17. Jahrhunderts ‚Conchae anomiae‘‘ (Ano- miten) beschrieben; das lebende Tier wurde aber erst 1774 bekannt. Lamarck kannte nur drei verschiedene Gattungen (Orbicula, Terebratula, Lingua); die ‚, lotenkopfmuschel‘‘ Crania und Discina stellte er zuden Muscheln. Die Periode wissenschaftlicher Erforschung der Brachiopoden beginnt erst mit der 1834 ver- öffentlichten Studie von Leopold von Buch, welcher eine große Zahl von weiteren Arbeiten verschiedener Forscher rasch folgten. Auf die Abhandlung von W. King (1846) folgte die meisterhafte Monographie von Thomas Da- vidson, die 1851 erschien und später durch die von E. Sueß besorgte deutsche Übersetzung für die weitere Entwicklung der Brachiopodenforschung von maß- gebender Bedeutung wurde. Von da an begann eine überaus rege Beschäftigung mit fossilen Brachiopoden; die deutschen und österreichischen Paläontologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben unter den vielen Untersuchun- gen über diese Gruppe die zahlreichsten und wertvollsten geliefert. In der Gegenwart arbeiten namentlich die englischen Forscher sehr erfolgreich an der Aufhellung der Phylogenie und der Variabilitätsgrenzen dieser vielgestaltigen Formengruppe. Weitaus der größte Teil der paläontologischen Literatur über fossile Everte- Cephalopoden. braten wird von den Arbeiten über Mollusken eingenommen, und unter diesen nimmt die Literatur über fossile Cephalopoden einen solchen Raum ein, daß sie allein eine große Bibliothek füllen würde. Verhältnismäßig spät sind die Arbeiten über Ammoniten auf eine wissen- Ammoniten. schaftliche Basis gestellt worden. Als die Grundlagen der modernen Cephalo- podenforschung sind die Untersuchungen von Leopold von Buch (1829 und 1839) anzusehen; mit dieser Zeit beginnt die rege Beschäftigung mit der Untersuchung der Ammoniten, die zu gewissen Zeiten und an einzelnen For- schungszentren fast die ganzen Arbeitskräfte der Paläontologen absorbierte. Weitaus die Mehrzahl der einschlägigen Abhandlungen, die zusammen viele tausend Tafeln Abbildungen umfassen, sind deskriptiver und nomenklatori- scher Natur, wobei die Untersuchungen über die Variabilitätsgrenzen stark in den Hintergrund treten. Die vonMelchior Neumayrzuersterfolgreich durch- geführten Versuche, die Phylogenie der Ammoniten zu enträtseln, sind in neue- rer Zeit namentlich von der Wiener Schule weiterverfolgt worden; hier hatte zuerst Eduard Sueß im Jahre 1865 die Grundlinien der weiteren Forschung über Ammoniten in einer kleinen, aber sehr bedeutungsvollen Arbeit vorgezeich- net, und Alphonse Hyatt bahnte eine weitere Reform der Ammonitenfor- schung durch seine Studie über die Liasammoniten an, die 1869 erschien. Die Beschreibungen Quenstedts, die sich vornehmlich auf die Ammoniten des deutschen Jura bezogen, nehmen im Vergleiche mit den vorstehend genannten Arbeiten ein geradezu dilettantenhaftes Stadium der Forschung ein. Die Ammonitenforschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat E32 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie viele Irrwege eingeschlagen, die teilweise noch heute nicht ganz verlassen sind. Lange Zeit hindurch schien es, als würde die Hauptaufgabe dieser Forschungs- richtung in der Kreierung möglichst zahlreicher Namen für Gattungen und Arten bestehen, und es gibt vielleicht kein zweites Gebiet der Paläontologie, auf dem so minutiöse Unterschiede zwischen den Arten und Gattungen gemacht werden, so daß die Zahl der bisher aufgestellten Artnamen bereits viele Tausend beträgt und noch beständig vermehrt wird. Die Reaktion ist unausbleiblich und es wird wahrscheinlich in späterer Zeit die systematische Abgrenzung und Gruppierung des Ammonitenheeres nach anderen Gesichtspunkten erfolgen als heute, wo bei Entdeckung jeder neuen Fauna aus jedem neuen Aufschlusse neue Gattungen und Arten aufgestellt werden. Wenn man einmal in eine haar- spalterische Unterscheidung verrannt ist, ist eine Umkehr nicht leicht; die konsequente Durchführung des von Rudolf Hoernes und M. Auinger bei den miozänen Pleurotomen des Wiener Beckens begonnenen, aber nicht mehr beendeten systematischen Unterscheidungsprinzipes hätte schließlich ins Ufer- lose führen müssen. Wenn an einzelnen Beispielen die Variabilitätsgrenzen einmal sorgfältig studiert sein werden, was bis heute noch nicht der Fall ist, so wird zweifellos die weitere Entwicklung der Ammonitenforschung eine andere Richtung einschlagen und der Zersplitterung der Arten und Gattungen Einhalt getan werden. Schon 1866 klagt O. Fraas über die Zustände der Ammonitenforschung. „peit Jahren schon fragt verzweifelnd der Paläontologe: Was ist denn eine Ammonitenart? Mit Befriedigung findet der eine, dem prinzipiell die Namen nur Nebensache sind, mit Schrecken der andere, der selber schon viele neue Namen gemacht hat, daß keine Art mehr standhält, sobald man nur recht viele Exemplare der ähnlichen Arten gesammelt hat, die nun vor Augen liegen. Ganz ebenso, wie wir es an Valvata multiformis gezeigt haben, legen wir von all den Arten, die wir in einigen hundert Individuen oder mehr in den Sammlungen haben, eine fortlaufende Reihe von sanften Übergängen vor, daß man, ohne bei zwei nächstliegenden Individuen einen Unterschied aussprechen zu können, bei einem Dutzend schon sehr bemerkenswerte Differenzen bezeichnen kann, und bei zwei Dutzend schließlich in der Tat vollendete Extreme vor sich hat. Die Unterschiede, die sich in der Reihe der zwei Dutzend Exemplare beobachten lassen, sind bei je zwei verglichenen Exemplaren so unbedeutend und unwesent- lich, daß jeder sie unbedingt bloß für individuelle Eigentümlichkeiten ansehen muß. Bei einem Dutzend aber summieren sich die kleinen Differenzen, und bei zwei Dutzend ist die Summe der Differenzen so groß geworden, daß ob der- selben gar keine Ähnlichkeit zwischen dem ersten und dem letzten in der Reihe sich beobachten läßt. Die Schwierigkeiten der Artenbestimmungen werden die Gelehrten noch lange nicht überwinden. Die Zukunft aber ist sicher nicht ferne, da ein kräftiger Geist all den Plunder minutiöser Unterscheidungen an der Außenseite der Schale, an der Form der Streifen, der Lage der Höckerchen und Warzen, der Weite des Nabels usw. über den Haufen wirft und eine ein- fachere, auf den geognostischen Horizont in erster Linie, in zweiter aber auf Die Erforschung der fossilen Cephalopoden 293 wesentlichere Lebensorgane, als es die Dunstkammern sind, begründete Syste- matik der Ammoniten ins Leben ruft. Solche wesentliche Teile an der Schale sind Größe der Wohnkammer, Form des Mundsaums, ob Backen, Ohren oder Kapuze, Beschaffenheit des Kiels, ob Hohlkiel oder Vollkiel, des Aptychus usw. Bei einem solchen natürlichen System fällt denn auch die bereits endlose Synonymik.‘‘ Was würde O. Fraas heute sagen, wenn er die Artennamen sehen würde, die seither aufgestellt worden sind! Im Vergleiche zu der Ammonitenliteratur nehmen die Arbeiten über Be- Belemniten. lemniten einen kleinen Raum ein. Schon Theophrastos aus Lesbos (368 bis 284 v. Chr.) hat sie gekannt; der ältere Plinius nennt sie Finger vom Berge Ida; der Deutsche kennt sie seit alter Zeit als Donnerkeile, Alpschoß, Schloß- steine, Katzensteine oder Teufelsfinger. Georg Bauer (Agricola) hat sie ab- gebildet und beschrieben, aber erst Baltasar Erhart hat sie 1727 als Reste von Tieren erkannt, die mit Nautilus und Spirula verwandt sind. Knorr und Walch widmeten den Belemniten eine eingehende Besprechung, ohne daß durch diese ihre Kenntnis wesentlich gefördert worden wäre. Erst die Schriften von J. S. Miller (1826), Ducrotay de Blainville (1827) und L. Ph. Voltz (1830) haben die Kenntnisse von der Organisation der Belemniten vermehrt. Immerhin wissen wir auch heute trotz zahlreicher Spezialarbeiten noch nicht viel über diese Gruppe, und es wäre an der Zeit, einmal an eine monographische Bearbeitung im größeren Stile zu schreiten, in der die verschiedenen Ansichten über die Belemniten kritisch gesichtet und zu einem Gesamtbilde vereinigt würden. Eine gewaltige Zahl von Arbeiten beschäftigt sich mit den fossilen Bi- Bivalven va!ven. Die Mehrzahl der Abhandlungen besteht aus Darstellungen geschlos- sener Bivalvenfaunen in enger chronologischer und geographischer Begrenzung; Monographien einzelner Gattungen und Familien zählen zu den größten Selten- heiten. Nur auf dem letzteren Wege aber ist es möglich, zu einem Überblick über die Geschichte eines Stammes und seiner Entwicklung vorzudringen; die enorme Zahl der bekannten Bivalven aus allen Perioden der Erdgeschichte bildet allerdings ein großes Hindernis für derartige zusammenfassende Darstellungen. Es wird aber unbedingt notwendig sein, einmal mit der Durcharbeitung des un- geheuren Materials und der monographischen Bearbeitung der einzelnen Grup- pen zu beginnen. Heute steht die paläontologische Literatur der Bivalven noch auf einer relativ tiefen Stufe, da sie über das Stadium stratigraphischer Arbei- ten kaum hinausgegangen ist und die wenigen Versuche phylogenetischer Unter- suchungen über Bivalven bis jetzt keinen nennenswerten Erfolg aufzuweisen haben. Zu den besten älteren Arbeiten auf conchyliologischem Gebiete zählen die Untersuchungen von Fr. Sandberger über die Land- und Süßwasser- conchylien. Unter den wenigen Monographien einzelner Gruppen ragen die Ar- beiten von Douville über die Rudisten und Coquands Monographie der Au- stern der Kreideformation hervor. Auf einer ähnlichen tiefen Entwicklungsstufe stehen die Arbeiten über fos- Gastropoden sile Schnecken. Auch auf diesem Gebiete trägt die Mehrzahl der einschlägigen Arthropoden. Wirbeltiere. 334 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Abhandlungen einen stratigraphischen Charakter, während monographische Darstellungen ganz in den Hintergrund treten. Ebenso wie bei den fossilen Bi- valven wird eine erfolgreiche Entwicklung der Forschung erst in dem Momente einsetzen, in dem nach monographischen Gesichtspunkten gearbeitet werden wird; dann wird es vielleicht möglich sein, einen besseren Überblick über die Geschichte der einzelnen Stämme zu gewinnen, als dies heute der Fall ist. Die Literatur über die fossilen Amphineuren und Scaphopoden spielt eine ganz untergeordnete Rolle. Im Vergleiche zur Literatur über fossile Mollusken steht die Literatur über fossile Arthropoden auf einer sehr hohen Stufe. Seit den grundlegenden Unter- suchungen von Alexander Brongniart und A.E. Desmarest (1822) ist eine große Zahl von Arbeiten über fossile Crustaceen veröffentlicht worden. Einen großen Fortschritt unserer Kenntnisse von den Trilobiten brachte die monumentale Monographie von Joachim Barrande, die 1852 begonnen und 1874 zum Abschlusse gebracht wurde. Aus neuerer Zeit sind namentlich den Untersuchungen von H. Woodward, Ch. E. Beecher, O. Jaekel und ]J.F. Pompeckj wertvolle Erweiterungen unserer Kenntnisse von den fossilen Cru- staceen zu danken. Die Kenntnisse von den fossilen Merostomata, deren einzige lebende Ver- treter die Molukkenkrebse darstellen, sind insbesondere durch die Untersuchun- gen von H. Woodward, H. Holm und F. Schmidt in neuerer Zeit gefördert worden. Die Gruppe der Arachnoidea oder Spinnen spielt infolge der Selten- heit fossiler Reste in der paläontologischen Literatur nur eine ganz unbedeu- tende Rolle; die Schriften über fossile Insekten nehmen dagegen einen großen Umfang ein. Aus älterer Zeit sind namentlich die Arbeiten von O. Heer, S. Scudder und Ch. Brongniart hervorzuheben. Erst durch die groß angelegte meisterhafte Monographie von A. Handlirsch ist jedoch die Paläontologie der Insekten auf ein hohes Niveau gehoben und unsere Kenntnis von der Morpho- logie und Phylogenie dieser Gruppe außerordentlich erweitert worden. Hand- lirschs Untersuchungen werden voraussichtlich auf lange Zeit hinaus die Grundlage für weitere Forschungen auf diesem Gebiete bilden. Die schönsten und größten Erfolge hat jedoch die Paläontologie unstreitig mit jenem Teile ihrer Literatur aufzuweisen, der sich die Erforschung der fos- silen Wirbeltiere zur Aufgabe gesetzt hat. Der Begründer der modernen Forschungsrichtung auf dem Gebiete der fossilen Wirbeltiere ist G. Cuvier. Schon an früherer Stelle wurden seine Ver- dienste in kurzen Umrissen hervorgehoben. Sein Prinzip war folgendes: Die Erforschung des fossilen Wirbeltieres ist nur möglich, wenn die Morphologie des lebenden Tieres so genau bekannt ist, daß zunächst die Bestimmung der Skelettelemente fossiler Formen mit voller Sicherheit erfolgen kann und zweitens die Unterschiede der lebenden von der fossilen Form klar erfaßt werden können. Die Morphologie sollte nach Cuviers Meinung auf eine so hohe Stufe gebracht werden, daß auch aus kleineren, un- bedeutenden Partien oder Elementen des Skelettes die systematische Stellung Die Erforschung der fossilen Wirbeltiere 335 des betreffenden fossilen Tieres mit voller Sicherheit erschlossen werden könne. Cuvier hat zuerst erkannt, daß die verschiedenen Teile eines Organismus in gegenseitiger Beziehung zueinander, in ‚„Korrelation‘‘ stehen, so daß aus der Beschaffenheit eines Skeletteiles auf die der übrigen ein Schluß gezogen werden kann. Dieses ‚„Korrelationsgesetz‘‘ ist wie manche andere Darstellungen Cu- viers vielfach mißverstanden worden; ich lasse daher seine Auseinandersetzung über diese Frage in kurzem Auszuge folgen: Jeder Organismus bildet ein geschlossenes einheitliches System, dessen Ele- Korrelations- mente wechselseitig korrespondieren. Keiner dieser Teile kann sich durchgrei- °°*** “wies. fend verändern, ohne daß diese Veränderung auf die übrigen zurückwirken würde. Bei einem Raubtier entsprechen die Fangzähne den Greifkrallen; das ganze System der Bewegungsorgane entspricht der für Raubtiere notwendigen schnellen Bewegung; das Gehirn ist hoch organisiert, ebenso die Sinnesorgane. Wenn die Kiefer und die Zähne nach dem Raubtiertyp gebaut sind, so entspricht dieser Bauart auch die des Unterkiefergelenks, eine bestimmte Stärke der Kau- muskeln und mit ihr eine bestimmte Form des Jochfortsatzes und die größere Weite der bis zum Scheitelkamm reichenden Schläfengruben. Wenn die Kral- len zum Greifen geeignet sein sollen, so müssen auch die Finger beweglich sein; der Funktion der Krallen muß eine bestimmte Form und Stärke der Finger- glieder entsprechen; der Unterarm muß sehr beweglich sein und die Schulter- knochen eine genügende Festigkeit besitzen. Alle Muskeln müssen mit dieser Funktion des Eingreifens übereinstimmen und die Knochenformen entscheidend beeinflussen (;,et les impressions de ces muscles ainsi proportionnes determi- neront encore plus particulierement les formes des os‘‘). Kurz ausgedrückt, die Zahnform hängt mit jener des Kiefergelenkes zu- sammen; die Form der Schulterregion mit jener der Krallen; und alle übrigen Organe stehen, entsprechend den Gesetzen der organischen Ökonomie, unter- einander in Einklang. Die Erfassung des Korrelationsgesetzes durch Cuvier war von höchster Bedeutung für die Entwicklung der Paläontologie auf morphologischer Basis. Zuerst standen die Zeitgenossen diesen Ideen Cuviers sehr skeptisch gegen- über; ein glücklicher Zufall fügte es jedoch, daß Cuvier vor einer Kommission den Nachweis von der Richtigkeit seiner Anschauungen überzeugend erbringen konnte. ; Der größte Teil der von Cuvier untersuchten fossilen Wirbeltiere stammt cariers Beweis aus den Gipsgruben des Montmartre, die heute längst unter dem Großstadt- °° Korrelations- gesetzes an dem panzer von Paris begraben liegen. Cuvier hatte eines Tages einen Block aus ee diesen Gruben erhalten, der entzweigespalten war und an einer Spaltfläche ratte. Reste des Schädels samt Zähnen eines kleinen Säugetieres zeigte. Cuvier untersuchte die Zähne genau und fand, daß sie nur mit denen der lebenden Beutelratten aus der Gattung Didelphys in nähere Beziehung gebracht werden konnten. Nachdem er diese Beziehung ermittelt hatte, lud er eine Kommission von sachverständigen Zoologen ein, um vor ihren Augen das Becken auszuprä- parieren; war es wirklich das Skelett einer Beutelratte, so mußten nach seinem 336 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Korrelationsgesetz auch die Beutelknochen noch im Gesteine verborgen liegen. Mit einer feinen Präpariernadel begann er vor den Augen der skeptischen Kom- missionsmitglieder Stück um Stück des Gesteins abzutragen. Nach kurzer Zeit hatte er die beiden Beutelknochen bloßgelegt und somit die Richtigkeit seiner Theorie schlagend bewiesen, daß aus dem Baue der Zähne allein die systema- tische Stellung eines Fossils be- stimmt werden könne. Der Fall machte ungeheures Aufsehen, da schon früher ein Unterkiefer der- selben Art in den Gipsschichten des Montmartre gefunden und von Delametherie im Journal de Physique vom Brumaire des Jah- res Xl als Kiefer einer Fledermaus beschrieben worden war. Cuvier hatte den Nachweis erbracht, daß es durch seine Methode möglich sei, aus dürftigen Fragmenten die Or- IHN ITererTErATET INA! Hin, Yıl ini ı ı ih Al | nl) ai 111112 ZZGL N 77 Ih \ ANNIE HUNM] ES = T er reger II m 7 5 N SI‘ 5 : R ; N IN \ Sao des ganzen Tieres ge IH NV wissermaßen vorauszusagen. Das Il I Original dieser Didelphys Cuvieri ANIME SD ö e : R ß I | Fischer liegt als eines der wichtig- NIIM SO sten Dokumente der Entwicklun I der Paläontologie im Museum des Hl Jardin des Plantes in Paris. Ich ge- IN N In iv be die Abbildungen wieder, die Cu- IN Il NL. vier mitteilteund welche diebeiden EA ill Spaltflächen des Gipsblockes vor Ertl .. . . f . 1 t x der Präparation und diefreigelegte Beckenregion nach der Präpara- tion zeigen. Diespätere Abbildung durch A.Gaudry, diein vieleLehr- bücher überging, ist ungenau. Man hätte erwarten dürfen, daß sich die von Cuvier mit so durchschlagen- dem Erfolge begründete vergleichend-anatomische Methode rasch weiter ent- wickeln würde. Das war aber nicht der Fall; die nächsten Jahrzehnte brachten Beschreibungen von Wirbeltieren, die tief unter dem Niveau der Cuvierschen Schriften standen; die meiste Arbeit auf dem Gebiete der fossilen Vertebraten wurde von Geologen geleistet, und es gingen dieschönen Anfänge der morpho- logischen Paläontologie einstweilen in der ödesten Petrefaktenkunde unter. Cuviers Arbeiten über fossile Wirbeltiere umfaßten zwar alle Gruppen der Vertebraten, doch bildeten die Untersuchungen über lebende und fossile Säuge- tiere den Grundstock der Untersuchungen und stehen inhaltlich den übrigen voran. Unter den Aufsätzen über andere Gruppen fossiler Wirbeltiere ist die Fig. 5. Didelphys Cuvieri Fischer, eine obereozäne Beutelratte. Das Original CuvIers aus den obereozänen Gipsen des Mont- martre in Paris. Die eine Hälfte des Gipsblockes. Natürliche Größe. Nach C. G. Cuvier. Die Erforschung der fossilen Wirbeltiere 337 Besprechung der Ibismumien, die Abhandlung über den Mosasaurusschädel aus der oberen Kreide von Maastricht und die Untersuchung über den Andrias Scheuchzeri (den „Homo diluvii testis‘ Scheuchzers) von dauerndem Werte geblieben. Unter den Epigonen Cuviers trat offenkundig das Bestreben hervor, es dem großen Meister möglichst gleich zu tun und Monumentalwerke von ähnlicher Bedeutung wie die „Recherches sur les Ossements fossiles‘‘ zu verfassen. Du- erotay de Blainville (1778 —1850) gab eine gewaltige, aber nicht ganz voll- endete Monographie der lebenden und fossilen Säugetiere heraus, die 1839 zu erscheinen begann. Obwohl Blainville bei jeder Gelegenheit Cuvier zu berich- tigen sucht, um seine Überlegenheit zu beweisen, steht doch seine Arbeit weit hinter der Cuviers zurück, was Genauig- “ keit der Beobachtung und Sorgfalt der Darstellung betrifft. Während Cuviers Tafeln gestochen waren, konnte Blain- ville die in Frankreich zu hoher Blüte gelangte Lithographie für seine Darstel- lung verwerten, wofür er einen Stab vor- züglich geschulter Zeichner beschäftigte. Trotzdem steht sein Atlas nicht auf der wissenschaftlichen Höhe der ‚Recher- chesj“. Ein zweites großes Tafelwerk mit vorzüglich gestochenen Abbildungen ha- ben Christian Pander und E.d’Al- ton 1823— 1841 herausgegeben. Die Ta- feln sind meisterhaft ausgeführt und ge- hören zu den schönsten und besten Ske- lettdarstellungen. Noch heute können A Fig. 6. Die andere Hälfte des Originals von Fig. 5. A vor der Präparation, 5 nach der Präparation. Nach C. G. Cuvier. wir unterschreiben, was Goethe in einem Referate der Abhandlung d’Altons über das Riesenfaultier (1821) sagte: ‚So hinsichtlich auf Gestalt der Knochen, wie auf die Ausführung derselben zeugt alles von ungemeinem Fleiß, äußerster Sorgfalt, von ernstem Bemühen nach Deutlichkeit. Wir haben nicht leicht Ab- bildungen von Knochen gesehen, wo der Charakter derselben so gelungen dar- gestellt, so außerordentlich viel Aufmerksamkeit auf das Detail der Gestalt derselben verwendet worden wäre... ferner muß der Gedanke, hinter den Ske- K.d.G.IILıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 22 Cuviers Epigonen Die Fortschritte der Abbildungs- technik im 19. Jahrhundert. Kompilationen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts Fortschritte der Forschungen über fossile Säugetiere im 19. Jahrhundert. 338 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie letten der Pachydermen ein Schattenbild des lebenden Tieres auftreten zu lassen, als höchst geistreich genannt werden.“ Ich hebe diesen hohen Grad der Darstellungsart deshalb hervor, weil er für die nun folgende Entwicklungsperiode der Paläontologie charakteri- stisch ist. Die wundervoll gezeichneten Lithographien der vierziger und fünf- ziger Jahre gehören zu den schönsten Darstellungen in naturwissenschaftlichen Werken überhaupt; der Niedergang der Lithographie in den zwei letzten Jahr- zehnten des 19. Jahrhunderts hat in Verbindung mit der Vervollkommnung der photographischen Reproduktion bedingt, daß heute die Mehrzahl der paläonto- logischen Arbeiten von Phototypien oder Lichtdruckbildern begleitet ist, die aber sehr häufig keinen Anspruch auf klare Verständlichkeit machen können, auch wenn sie naturtreu sind. Federzeichnungen in einer Manier, wie sie von den nordamerikanischen Paläontologen für Skelettdarstellungen verwendet wird und jetzt auch bei uns mehr und mehr an Verbreitung gewinnt, haben sich als weitaus instruktiver und klarer erwiesen. Die bildlichen Darstellungen von Säugetierskeletten waren zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr schön, aber das Niveau der Arbeiten war im allgemeinen recht tief. Giebels ‚Fauna der Vorwelt‘‘ (1847) ist eine der schlechtesten Kompilationen auf paläontologischem Gebiete; die ‚Zoologie et Paleontologie frangaises‘‘ von P. Gervais enthält herrliche Abbildungen, aber die Darstellung steht weit hinter Cuviers Arbeiten zurück; auch R. Owens Odontographie (1840— 1845) hat bei weitem nicht die Bedeutung für die Entwicklung der Paläontologie besessen, wie von den Zeitgenossen und vielen Epigonen geglaubt wurde. Die Arbeiten von Goldfuß und G. Jaeger stehen trotz der Verdienste durch Bekanntmachung neuer Formen auf derselben Höhe wie die Arbeiten J. J. Kaups, der zwar die ersten Grundlagen für die Kenntnis von der Fauna von Eppelsheim und verschiedener fossiler Säugetiere (z. B. Halitherium) schuf, dabei aber überall, wo er über reine Beschreibung hinaus- ging, Fehler auf Fehler häufte. Zu den besten Arbeiten dieser Zeit gehören die sorgfältigen Studien Her- mann von Meyers (1801— 1869), der mit unermüdlicher Arbeitskraft eine Fülle neuer Formen beschrieb; die Mehrzahl seiner Arbeiten ist in den älteren Jahrgängen der ‚Palaeontographica‘‘ veröffentlicht worden. Seine Unter- suchungen erstreckten sich nicht nur auf die Morphologie der fossilen Formen, sie enthalten auch Ausblicke auf ihre Lebensweise; diese Ideen fielen aber da- mals auf keinen fruchtbaren Boden und blieben fast ganz unbeachtet. Schon zu dieser Zeit begann das Anwachsen des fossilen Materials zu einer Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Wirbeltiere und speziell auf dem Gebiete der Säugetiere zu drängen. Es bildeten sich Spezialisten für die Bearbeitung einzelner Gruppen aus, die nicht immer Ersprießliches leisteten; so blieb z. B. die Kenntnis der fossilen Wale trotz der zahlreichen Arbeiten mehrerer Spezia- listen wie P. Gervais, P. J. van Beneden, Vicomte du Bus, J. F. Brandt u. a. auf einer sehr tiefen Stufe. Man verlor sich in Artbeschreibungen, in Dar- stellungen von ganz unwesentlichen und unbedeutenden Resten, wobei wohl Die Erforschung der fossilen Säugetiere 339 die Namen von Gattungen und Arten erheblich vermehrt wurden, ohne daß, wie Kowalevsky (1874) treffend hervorhob, unsere Kenntnisse von der Organi- sation der fossilen Formen, ihren genetischen Beziehungen untereinander und zu den lebenden Arten sowie die Kenntnis von ihrer Lebensweise auch nur um einen Schritt weiter gerückt worden wären. Einzelne Forscher ragen aus der Gruppe ihrer Zeitgenossen heraus. Zu ihnen gehört Th. Huxley, der große englische Anatom, der sich allerdings nur ganz gelegentlich mit der Bearbeitung fossiler Reste beschäftigte; vortreffliche Leistungen hat Falconer aufzuweisen, der 1846—1849 in Gemeinschaft mit Cautley eine vorzügliche Darstellung der Säugetierfauna aus den Siwalik- schichten Ostindiens veröffentlichte; zu den besten Arbeiten jener Periode zäh- len jedoch die Untersuchungen von Ludwig Rütimeyer, Professor der Zoo- logie und vergleichenden Anatomie in Basel (1825—1895), der in zahlreichen Mitteilungen vorzügliche Abhandlungen über die verschiedensten Säugetier- gruppen lieferte. In Deutschland hat namentlich Max Schlosser durch seine überaus sorg- fältigen Detailstudien an fossilen Säugetieren, die sich hauptsächlich auf das Ge- biß erstreckten, sehr wesentlich zum Ausbau unserer Kenntnisse von den fos- silen Säugetieren beigetragen. Neben ihm arbeiteten eine große Zahl von For- schern, die freilich meist nur einzelne Formen oder Faunen beschrieben, wäh- rend die monographische Bearbeitungsweise nur auf wenige Gruppen ausgedehnt wurde. Auch hier ist noch viel zu tun übrig. Gibt es doch bis heute noch keine monographische Bearbeitung eines der häufigsten fossilen Säugetiere, des Höhlenbären. Kleinere Mitteilungen über fossile Säugetiere, die von großem Werte für die Erweiterung unserer Kenntnisse geworden sind, stammen aus der Feder von C. J. Forsyth-Major, Arthur Smith-Woodward, A.Pomel und H. Filhol. Größere Monographien haben Charles Dep£ret, H.Pohlig, W. Kowalevsky, E.v. Stromer, H. G. Stehlin, A. Gaudry und viele andere geschrieben. In den Vereinigten Staaten hat zuerst Joseph Leidy (1823—1891) die Kenntnisse der nordamerikanischen fossilen Säugetiere wesentlich gefördert. Ihm folgten Othniel Charles Marsh (1831— 1899) und Edward Drinker Cope (1840—1897). Beide haben sich große Verdienste um die Ausbreitung der paläontologischen Kenntnisse in Nordamerika erworben. Die großzügig durchgeführten Aufsammlungen in den verschiedensten Teilen Nordamerikas brachten eine unermeßliche Fülle von Resten zum Vorschein, die zum Teil heute noch nicht gänzlich durchgearbeitet sind. Das Wettrennen zwischen den beiden Rivalen Marsh und Cope führte zwar zu mancherlei unerquicklichen Differenzen, die sich mitunter in Schriften stark polemischen Charakters ent- luden, aber diese Epoche war trotzdem und vielleicht gerade aus diesem Grunde der Rivalität für die Entwicklung der Paläontologie von hoher Bedeutung. Un- streitig war E. D.Cope der Bedeutendere von den zweien; er ist als Theoretiker stark hervorgetreten und in den Tagen seiner Vollkraft das Haupt der sogenann- 22% 340 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie ten neulamarckistischen Schule geworden, während Marsh sein Ziel in der Masse der Aufsammlungen fossiler Reste und der Aufstellung möglichst zahlrei- cher Arten erblickte. In dem letzten Punkte wollte Cope nicht zurückstehen, und so erklärt sich die ungeheure Menge von Namen für fossile Wirbeltierarten und Gattungen aus dem Boden Nordamerikas, die sehr häufig nur auf unge- nügende Überreste gegründet sind. Die Zahl der neuen Formen, die Cope und Marsh beschrieben, ist eine gewaltige; seitdem Cope und Marsh der modernen Paläontologie in Nordamerika Bahn gebrochen haben, ist jedoch die Zahl der fossilen Säugetierarten aus dem Tertiär und Quartär der Vereinigten Staaten um mehr als das Doppelte angewachsen. Führend war Henry Fairfield Os- born, der jetzige Präsident des American Museum of Natural History in New York; neben ihm arbeitet William Diller Matthew, und beiden verdankt die Paläontologie eine große Zahl von grundlegenden Abhandlungen. Osborn und Matthew arbeiten vorwiegend monographisch, und dieser Methode sind ihre großen Erfolge zu verdanken. Zu den besten Arbeiten, die jemals über fossile Säugetiere geschrieben worden sind, zählen die von Osborn verfaßten Monographien der Rhinocerontiden und die noch nicht zum Abschluß gebrachte Monographie der Titanotheriden; die Monographie der Amblypoden ist gleich- falls noch unvollendet. Eine Meisterleistung ist die umfangreiche Abhandlung Matthews über die Carnivoren und Insektivoren des Bridgerbeckens; grund- legend sind seine Untersuchungen über die Phylogenie der Carnivoren, und zwar insbesondere der Felinen und Machairodontinen, die Phylogenie der Cerviden, Cameliden usw. geworden. Kennzeichnend für die Arbeitsrichtung der moder- nen amerikanischen Paläontologen auf dem Gebiete der fossilen Säugetiere ist die richtige Verknüpfung der morphologischen Untersuchung mit phylogeneti- schen und paläobiologischen Studien. Von größter Bedeutung sind die Unter- suchungen Osborns auf dem Gebiete der Odontologie der Säugetiere und der Phylogenese des Säugergebisses; Cope hatte die Grundlagen zu dem von Os- born aufgeführten Gebäude gelegt. Unter den Mitgliedern des Stabes der ame- rikanischen Paläontologen, die sich mit der Untersuchung fossiler Säugetiere beschäftigen, ragen J. L. Wortman, W.B. Scott, W. J. Sinclair, W.K. Gregory und J. W. Gidley hervor. Nicht so gut ist es mit der Erforschung der südamerikanischen fossilen Säugetiere bestellt. Die Arbeiten von H. Burmeister, der die zweite Hälfte seines Lebens in Südamerika verbrachte und zahlreiche fossile Formen be- schrieb, stehen auf einer sehr tiefen Stufe, und das gleiche gilt von den Arbeiten des überaus eifrigen Florentino Ameghino, der zwar das große Verdienst hat, gemeinsam mit seinem Bruder Carlos eine gewaltige Menge fossiler Säuge- tiere aus den verschiedenen Abteilungen der Tertiär- und Quartärzeit gesammelt zu haben, dessen Beschreibungen und Bestimmungen aber sehr mangelhaft sind, ganz zu schweigen von den Entgleisungen auf phylogenetischem Gebiete, die heftigem Widerspruche begegneten und ebenso wie seine stratigraphischen Gliederungsversuche keinen Anklang bei den nordamerikanischen und europä- ischen Forschern fanden. Das ganze riesige Material, das im Museum von La Die Erforschung der fossilen Reptilien 341 Plata aufgehäuft worden ist, muß von Grund auf revidiert werden, um einen richtigen Überblick über das Heer der fossilen Säuger Südamerikas zu gewinnen. Im ganzen und großen steht die Literatur über fossile Säugetiere gegen- wärtig auf einer hohen Stufe. Was dringend notwendig ist, sind moderne Mono- graphien gewisser Gruppen. Bei dem regen Interesse, dem das Studium der fossilen Säugetiere jetzt allenthalben in Biologenkreisen begegnet, steht zu hof- fen, daß sich diese Lücken bald schließen werden. Täglich strömt neues Mate- rial den Sammlungen zu und das Tempo der Vermehrung des Materials und der Durcharbeitung desselben hält so ziemlich gleichen Schritt, so daß wir für die nächste Zukunft ein weiteres Aufblühen dieser Richtung der Paläontologie pro- phezeien können. Einen geradezu ungeheuren Aufschwung hat die paläontologische Erfor- Fortschritte der schung der Reptilien in den letzten 50 Jahren genommen. Seitdem Cuvier im ei Jahre 1812 die Grundlage für eine weitere Entwicklung dieses Forschungszwei- * ee ges durch seine osteologischen Untersuchungen über die Maasechsen (Mosa- saurus Hofmanni), Eidechsen, Schildkröten, den Pterodactylus, die Ichthyo- saurier und Plesiosaurier gegeben hatte, ging es mit Riesenschritten vorwärts. Zu den Vorkämpfern und Bahnbrechern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählen Hermann von Meyer und Richard Owen (1804—1892). Stehen auch die Arbeiten beider Männer noch nicht auf der Höhe der modernen Rep- tilienforschung, so haben sie doch ein gewaltiges Material bewältigt und auf diese Weise den späteren Untersuchungen in wahrem Sinne des Wortes bahn- brechend vorgearbeitet. Meyers Arbeiten zeichnen sich, was man von den Owenschen nicht immer behaupten kann, durch musterhafte Sorgfalt und Ge- nauigkeit aus. Um diese beiden Männer konzentrierte sich die Erforschung der fossilen Reptilien zu jener Zeit. Langsam erst lösten sich von ihrer Schule For- scher los, die ihre eigenen Wege zu gehen begannen; frühzeitig schon begegnen wir selbständigen, vorzüglichen Untersuchungen von Thomas Huxley, dem großen englischen Anatomen, über fossile Reptilien. Dann folgen Arbeiten von zahlreichen anderen Forschern; O.C. Marsh und E.D.Cope greifen ın die Entwicklung der Forschung über diese Wirbeltierklasse entscheidend ein; zu Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts tritt Louis Dollo mit seiner ersten Studie über die Iguanodonten von Bernissart hervor (1882), in der er eine meisterhafte, kurz gedrängte Darstellung der beiden Arten aus dem Wealden von Bernissart gibt, welcher rasch die weiteren Mitteilungen folgten. Seine Arbeitsrichtung gewann entscheidenden Einfluß auf die Betrachtungsweise der fossilen Reptilien und später der fossilen Wirbeltiere überhaupt, da er es zum ersten Male versuchte, aus der sorgfältigen Analyse der Anpassungen der fossilen Formen in stetem Vergleiche mit den analogen oder ähnlichen An- passungen der lebenden Typen die Lebensweise der fossilen Formen zu er- schließen. Damit beginnt eine neue Periode der Reptilienforschung. Zunächst be- gegnen wir zwar immer noch Abhandlungen rein deskriptiver Natur; aber na- mentlich in Nordamerika erwacht das Interesse an der von Dollo eingeschlage- 342 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie nen Methodik. Rasch folgen Mitteilungen auf Mitteilungen, neue Formen wer- den bekannt, in den Jura- und Kreidebildungen der Vereinigten Staaten und in England kommen zahlreiche neue Reptilientypen zum Vorschein; heute ist allein aus Nordamerika ein ganzes Heer von Dinosauriern bekannt. In Deutsch- land fördert Eberhard Fraas die Kenntnisse von den fossilen Reptilien aus süddeutschen Trias- und Jurabildungen durch eine Reihe vorzüglicher Beschrei- bungen; der geniale, leider zu früh verstorbene Georg Baur veröffentlichte zahlreiche scharfsinnige Aufsätze über die Morphologie und Phylogenie der Rep- tilien. Verhältnismäßig spät rücken die fossilen Schildkröten in den Vordergrund des Interesses. Die ältere Literatur beschränkte sich auf bloße Beschreibung und Abbildung der Reste, die meist nur in Panzerfragmenten bestanden; noch heute begegnet man da und dort einer solchen Beschreibung nach altem Stil, wie sie z. B. durch die Beschreibungen von Karl Peters (1825—1881) reprä- sentiert sind. Erst durch die von Baur angedeuteten und von Dollo ausge- bauten Prinzipien der Forschung über fossile Schildkröten ist auch hier ein Feld für weitere erfolgreiche Entwicklung geschaffen worden. Die Forschungen über fossile Reptilien konzentrieren sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um die beiden hervorragendsten Vertreter der nordamerikanischen Paläontologen der älteren Schule, E. D. Cope und O.C. Marsh, und später um S. W. Williston und H. F. Osborn; in neuerer Zeit haben EAC Hase, n]BrHatcher GSR! Wieland, SE Merriami Rs. Lull, L.M. Lambe, Ch. W. Gilmore, G. F. Eaton und viele andere erfolg- reich an der Erforschung der verschiedenen Gruppen fossiler Reptilien mitge- arbeitet. In England waren es hauptsächlich H.G. Seeley und E.T. Newton, in neuerer Zeit A. Smith-Woodward und Ch. W. Andrews, die eine Reihe wichtiger Mitteilungen über fossile Reptilien veröffentlichten. In Deutschland schrieb OÖ. Jaekel zahlreiche kleinere Abhandlungen, in denen er hauptsächlich die phylogenetischen Beziehungen der Reptilien erörterte und aufzuklären ver- suchte; F. Broili, F. Plieninger und in neuerer Zeit Friedrich vonHuene und J. Versluys haben viele wertvolle Beiträge auf dem Gebiete der Reptilien- forschung geliefert. Außerdem haben noch zahlreiche andere Autoren, meist Angehörige der deutschen Geologenschulen, Aufsätze über fossile Reptilien ge- schrieben. Die wichtigen Reste fossiler Reptilien aus der Karrooformation sind seit einer Reihe von Jahren durch R. Broom bekanntgemacht worden; die Dino- saurierfunde aus der Kreide Siebenbürgens hat F.von Nopcsa beschrieben. Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle Namen derjenigen zu nennen, die sich gegenwärtig mit der Erforschung der fossilen Kriechtiere beschäftigen. Das rasche Anwachsen der Funde, das auffallende Zunehmen des Interesses an den merkwürdigen Reptilientypen der Vorzeit und das Anwachsen der Forscherzahl im allgemeinen hat mit dem Durchbruche der Anschauungen unserer modernen Paläontologenschule vereint dazu beigetragen, in relativ kurzer Zeit die For- schungen auf diesem Gebiete zu überraschender Höhe zu erheben, und man kann Fossile Reptilien und Vögel 343 auch diesem Zweige der Paläontologie für die nächste Zukunft ein weiteres Aufblühen mit Bestimmtheit voraussagen. Die Stegocephalen und fossilen Amphibien sind im Verhältnisse zu den fossilen Reptilien selten. Damit steht im Zusammenhang, daß die einschlägige Literatur der älteren Zeit keinen großen Umfang besitzt. Auf diesem Gebiete lagen einige vorzügliche Studien vor, unter denen die Monographie H. Cred- ners über die Stegocephalen des sächsischen Perms an erster Stelle steht; die Untersuchungen von Anton Fric stehen hinter ihnen weit zurück, und sein großes Werk über die Funde aus der Gaskohle von Nürschan und aus dem Rot- liegenden von Böhmen und Mähren bedarf schon heute dringend einer Revision. Im Vordergrunde des Interesses steht gegenwärtig die Frage nach der Ent- stehung der Reptilien und ihren engeren ‚verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Stegocephalen. In den paläozoischen Bildungen Nordamerikas sind in der letzten Zeit zahlreiche Formen von fraglicher systematischer Stellung entdeckt worden. Die verschiedenen Versuche einer systematischen Gruppierung und Phylogenie dieser Formen haben einstweilen noch zu keinem Ergebnisse ge- führt; die sich unaufhörlich mehrenden Funde veranlassen beständig eine Ab- änderung der Anschauungen von der Stellung und den Beziehungen dieser Formen. Insbesondere haben sich E.C. Case, S. W. Williston und F.Broili in der letzten Zeit mit der Enträtselung dieser Formen beschäftigt, und es steht zu hoffen, daß bald eine Beantwortung dieser noch ungelösten Fragen erfolgt, an denen gegenwärtig so intensiv gearbeitet wird. Man darf sagen, daß auf keinem Gebiete der Paläontologie so viele Überraschungen wie auf diesem zu erwarten stehen. Die fossilen Vögel sind verhältnismäßig selten und die Literatur über sie ist wenig umfangreich. Das meiste Interesse hat sich auf die Archaeopteryx kon- zentriert, von welcher ein vorzügliches Exemplar im Berliner Museum für Na- turkunde, das zweite, unvollständigere, im British Museum of Natural History in London aufbewahrt wird. Die ausgesprochene Zwischenstellung dieses Ur- vogels zwischen den Reptilien und echten Vögeln hat das größte Aufsehen her- vorgerufen. Wenn auch von einigen Paläontologen, die infolge mangelnder mor- phologischer Schulung die Bedeutung dieses Restes als wirkliches ‚missing link‘ nicht zu erkennen vermögen, dann und wann immer wieder behauptet wird, daß die Archaeopteryx ein „echter Vogel‘ sei, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß durch diesen Fund ein exakter Beweis der Herkunft der Vögel von den Reptilien erbracht erscheint. Die wenigen Reste fossiler Vögel aus der Tertiärzeit sind von geringer Be- deutung. Wichtig sind die Funde einzelner Vogelskelette in der oberen Kreide Nordamerikas, welche von O. C. Marsh beschrieben worden sind. Die Skelette der flugunfähigen Riesenvögel aus dem Quartär Neuseelands sind vonR. Owen in einer umfangreichen Monographie geschildert und prächtig abgebildet wor- den. In der letzten Zeit ist die Frage der gemeinsamen Herkunft der Vögel und theropoden Dinosaurier von baumbewohnenden Vorfahren erörtert und von paläontologischen Gesichtspunkten aus analysiert worden. Fossile Amphi- bien und Stego- cephalen. Die Frage nach der Entstehung der Reptilien Fossile Vögel. Fossile Fische. 344 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Fossile Fische kannte man schon im Altertum. Während die Skelette höherer Wirbeltiere meist in verrenkter Lage in den Gesteinen liegen, selten vollständig sind und daher dem naiven Beschauer das Aussehen des lebenden Tieres nur selten vor Augen führen können, liegen die fossilen Fische in der Regel wie zwischen Herbarblätter gepreßt in schieferigen Gesteinen und sind selbst von den betrachtenden Laien oder von den gelehrten Philosophen als Fischreste erkannt worden. Die Glossopetren des Plinius sind fossile Haifisch- zähne, und da solche in tertiären Bildungen zu den häufigeren Wirbeltierresten gehören, so erregten sie schon frühzeitig die Aufmerksamkeit. Es berührt eigentümlich, noch heute einen einfachen Taglöhner, der gewiß nicht die min- deste Ahnung von der Literatur der Scholastenzeit besitzt, einen fossilen Hai- fischzahn, den er in seinem Bruche fand, als „Vogelzunge‘‘ bezeichnen zu hören. Bis zur Zeit Knorrs und Walchs gingen Haifischzähne vorwiegend unter der Bezeichnung Zungensteine, Vogelzungen, Schwalbenzungen oder Schwalbensteine, Lamiodonten, Schlangenzungen usw. durch die Literatur, und noch Leibniz hielt an der Bezeichnung ‚‚Glossopetra‘‘ des älteren Plinius fest. Als man ganze Fischskelette samt ihren Schuppen häufiger fand, ver- glich man sie mit Vorliebe mit lebenden Formen, ohne aber dabei auf mehr zu schen, als auf die oberflächlichsten Ähnlichkeiten der Körperformen. Die erste zusammenfassende Arbeit auf dem Gebiete der Paläoichthyologie lieferte Volta 1796. Von einer wissenschaftlichen Bearbeitung kann aber in dieser Zeit noch nicht gesprochen werden; der Begründer einer wirklichen For- schung auf dem Gebiete der fossilen Fische war Louis Agassiz (1807— 1873). Einer der merkwürdigsten und vielseitigsten Paläontologen seiner Zeit, wid- mete er sich mit großem Eifer schon in sehr jungen Jahren der Erforschung der fossilen Fische und erregte durch seine ersten Arbeiten derartiges Aufsehen, daß er mit 25 Jahren Professor an der Akademie in Neuchatel wurde; als die erste Lieferung seines monumentalen Fischwerkes 1833 erschien, war sein Ruhm der- art gestiegen, daß er bereitsim Jahre darauf die goldene Wollaston-Medaille der Geological Society erhielt. In der Tat ist sein Atlas der fossilen Fische auch nach modernen Gesichtspunkten als eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges zu bezeichnen, obwohl seine Haupteinteilung der Fische nach der Schuppen- form in Placoidei, Ganoidei, Cycloidei und Ctenoidei heute nicht mehr haltbar ist. Seinem Werke verdankt aber die Paläontologie die Möglichkeit, die oft sehr schwer zu enträtselnden fossilen Fische methodisch zu untersuchen, und hierin liegt sein eminentes Verdienst um die Wissenschaft. Einen wesentlichen Fortschritt in der Erforschung der fossilen Fische brachten die Untersuchungen von Johannes Müller (1844). Von da an be- ginnt eine Epoche regster Tätigkeit auf diesem Gebiete. Großes Aufsehen er- regten die Abhandlungen Chr. Panders über die merkwürdigen Panzerfische der Silur- und Devonformation (1856, 1858). Mit den Arbeiten von Th. Hux- ley beginnt die moderne Zeit. Einer der Bahnbrecher auf dem Gebiete der Pa- läoichthyologie war Ramsey Heatley Traquair, dessen sorgfältige und peinlich genaue Studien, die er durch eigenhändige Zeichnungen und Rekon- m . Die fossilen Fische 345 struktionen ergänzte, als Meisterleistungen anzusehen sind. Zahlreiche Forscher warfen sich auf dieses Gebiet und brachten es in kurzer Zeit zu bedeutenden wissenschaftlichen Erfolgen. Den äußeren Abschluß dieser erfolgreichen Epoche bildet die monumentale Enzyklopädie der fossilen Fische von Arthur Smith- Woodward, die sich bescheiden einen Katalog der fossilen Fische nennt, aber weit über einen solchen hinausreicht und zu einem unentbehrlichen Nachschlage- werk geworden ist. In neuerer Zeit haben namentlich die eigentümlichen Pan- zerfische des älteren Paläozoıkums den Mittelpunkt der Forschungen gebildet. Der größere Teil der Literatur über fossile Fische behandelt lokale Fischfaunen von enger chronologischer Begrenzung oder einzelne neue Formen. Indessen sind bereits einige Gruppen monographisch dargestellt worden; es wäre zu wünschen, daß die Bearbeitung der fossilen Fische mehr und mehr von der strati- graphischen Betrachtungsweise zu einer monographischen und damit von selbst zu einer phylogenetischen übergehen möchte, in einer Weise, wie sie z. B. R. H. Traquair für die Familie der Platysomiden und L. Dollo für die Lungen- fische durchgeführt hat. Dieser Überblick über die Spezialzweige der Paläozoologie sollte nur in großen Zügen die wichtigsten Etappen der Geschichte dieser einzelnen Zweige andeuten und kann auf Vollständigkeit, namentlich was Einzelheiten betrifft, keinen Anspruch erheben. Über den Einfluß von größeren Sammelwerken, Lehrbüchern und Handbüchern wird bei der Besprechung der Paläozoologie und ihrer Aufgaben im speziellen Teile dieses Buches die Rede sein. Hier mag nur kurz erwähnt werden, daß für die Entwicklung der Paläozoologie und Paläo- botanik ein Werk von grundlegender Bedeutung geworden ist, nämlich dasHand- buch der Paläontologie von K. A. von Zittel. Schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die von Jahr zu Die Bedeutung Jahr beängstigend anwachsende, verwirrende Formenmenge der fossilen Reste nun einen derartigen Umfang erreicht, daß es für den einzelnen unmöglich erschien, Be das ganze Gebiet zu übersehen. Es war kaum mehr möglich, ohne Spezialstu- logie. dien auf einem Gebiete eine auch nur oberflächliche Bestimmung irgendeines Restes durchzuführen. Sollte die Paläontologie in ihrem Entwicklungsgang nicht gehemmt werden, so mußte eine umfassende Enzyklopädie geschaffen werden, die das ganze Gebiet der fossilen Reste umspannte, denn die vorhan- denen Lehrbücher waren gänzlich unzureichend geworden. Es war hohe Zeit, ein solches Werk zu unternehmen, da das weitere An- schwellen des Stoffes es für einen einzelnen unmöglich gemacht hätte, das ganze ungeheure Gebiet kritisch zu verarbeiten. Diese Aufgabe übernahm Karl Al- fred von Zittel (I839— 1904) ungefähr um das Jahr 1875 und veröffentlichte, den Stoff systematisch gruppierend, 1876 das erste Heft eines fünfbändigen Handbuches mit einem Artikel über die Foraminiferen. Da aber begann die Herausgabe zu stocken. Zittel hatte versucht, sich in der Literatur über fossile Spongien zurecht zu finden; die bisherigen Arbeiten waren jedoch zu so ungenügenden und unbefriedigenden Ergebnissen gelangt, daß hier erst aufgeräumt und neue Grundlagen geschaffen werden mußten. So- Die Geschichte der Paläobotanik. 346 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie fort ging Zittelans Werk, warf sich mit Feuereifer auf das Studium der Spon- gien und hatte in zwei Jahren die Frage derart geklärt, daß schon 1878 das zweite Heft des ersten Bandes erscheinen konnte. Ein anderer Kompilator hätte voraussichtlich entweder den Plan einer Enzyklopädie der fossilen For- men schon bei dieser ersten ernsten Schwierigkeit aufgegeben oder sich mit einer referierenden Darstellung der bisherigen Kenntnisse begnügt. Zittel war aber zuviel Forscher und Kritiker, um hier stehenzubleiben, und hatte die große Genugtuung, bei der weiteren systematischen Durcharbeitung des Rie- senstoffes keinen größeren Hindernissen mehr zu begegnen, so daß die vier Bände seines Handbuches 17 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Heftes abgeschlossen werden konnten. Der fünfte Band umfaßte die Paläobotanik und wurde von W. Ph. Schimper und A. Schenk bearbeitet. Nichts kann den riesigen Aufschwung, den die Paläozoologie seither ge- nommen hat, besser kennzeichnen, als die Tatsache, daß an der IQII erschie- nenen Neubearbeitung des Abschnittes über fossile Wirbeltiere der 1895 her- ausgegebenen „Grundzüge der Paläozoologie“ Zittels nicht weniger als drei Paläontologen, E. Koken, F.Broili und M. Schlosser, tätig waren. Das Material ist seit 1895 so enorm angewachsen, daß es über die Kraft eines einzel- nen geht, in allen Spezialgebieten heute noch so zu Hause zu sein, wie es Zittel war; als Zittel daran ging, sein Handbuch zu schreiben, war es in der Tat der letzte Moment für eine einheitliche Verarbeitung des ganzen Stoffes für einen einzelnen. Wenn auch seither sich vieles geändert hat, neue Formen bekannt ge- worden und alte von neuen Gesichtspunkten aus untersucht worden sind, so daß „der große Zittel‘ heute bereits veraltet ist, so ist dieses Werk doch noch heute die Grundlage desmodernen Lehrbetriebes und von keinem anderen Werke erreicht oder übertroffen worden; für die Entwicklung der Paläozoologie ist das Handbuch Zittels von größter Bedeutung. Seit der Teilung der Paläontologie in die Paläozoologie und diePaläobotanik ist jeder Zweig seinen eigenen Weg gegangen. Während aber die Paläozoologie namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Erfolg zu Erfolg eilte, neue Untersuchungsmethoden geschaffen wurden und sich nicht nur das fos- sile Material, sondern auch die Zahl der Paläozoologen vermehrte und infolge aller dieser Umstände die Paläozoologie sich immer mehr als biologische Wis- senschaft und wichtige Stütze der Deszendenzlehre entwickelte, ist die Paläo- botanik in ihrer Entwicklung hinter ihrer glücklicheren Schwester lange Zeit weit zurückgeblieben. Nicht der Mangel an Untersuchungsmaterial, nicht fehlerhafte Methodik und nicht Unfähigkeit der Bearbeiter haben dieses Zurückbleiben der Paläo- botanik bedingt. Die Ursache liegt zum weitaus größten Teile darin, daß die erhaltenen Reste der fossilen Tiere weit wichtigere Aufschlüsse über ihre syste- matische Stellung, ihre Organisationshöhe und ihre phylogenetischen Bezie- hungen zu geben vermögen als Blätter und Stammreste fossiler Pflanzen. Die Grundlage der Pflanzensystematik und Pflanzenphylogenie sind die Geschlechts- Die fossilen Pflanzen 347 organe und von diesen sind nur in den allerseltensten Fällen Reste erhalten; keinesfalls reichen diese wenigen Reste aus, um die systematische und phylo- genetische Gruppierung der fossilen Pflanzen zu ermöglichen. Die Paläobotanik hat damit zu rechnen, daß die Hauptmasse der überlieferten fossilen Reste aus Blättern, Zweigen und Stämmen, sehr selten aus Früchten besteht. Es scheint so, als ob die Erkenntnis der Schwierigkeit, aus fossilen Blattresten richtige Bestimmungen abzuleiten, in die Entwicklung der Paläobotanik lähmend eingegriffen hätte; denn es sind lange Jahre seit dem Erscheinen der großen Florenwerke von OÖ. Heer, J. Unger und C. von Ettingshausen vergangen, ohne daß ihnen in moderner Zeit ein Florenwerk von gleichem Umfange gefolgt wäre. Die erste wissenschaftliche Grundlage für die Erforschung der fossilen Pflanzen hatte Ernst Friedrich Freiherr von Schlotheim (1764— 1832) mit seinen „Beiträgen zur Flora der Vorwelt‘ geschaffen. Ihm folgte Kaspar Maria Graf von Sternberg (1761— 1838), der in einer Reihe von Abhand- lungen, namentlich aber in seinem ‚Versuch einer geognostisch-botanischen Darstellung der Flora der Vorzeit‘‘ (1820— 1832) die Bearbeitung und systema- tische Gruppierung der fossilen Pflanzenreste nach denselben Prinzipien, wie für die lebenden Pflanzen durchführte. In dieselbe Zeit fallen die Arbeiten von Adolphe Theodore Brongniart (1801— 1876), dessen Ansichten sich weit über den Standpunkt der Cuvierschen Schule erheben, obwohl er sich zu ihr bekennt. Brongniart betont, daß sich die fossilen Pflanzen schrittweise ver- vollkommnet hätten und eine aus der anderen hervorgegangen sei. Die Gegen- sätze der aufeinanderfolgenden fossilen Floren erklärt er freilich ebenso wie Cuvier durch große Katastrophen, die nicht nur die Faunen, sondern auch die Floren gleichzeitig vernichtet haben sollen. Seitdem A. Sprengel 1828 zum ersten Male von der makroskopischen Be- trachtungsweise der fossilen Pflanzen zur mikroskopischen Untersuchung über- gegangen war, eröffnete sich ein neues Arbeitsfeld auf paläobotanischem Ge- biete. Eine große Zahl von Arbeiten erschien in der Periode von 1830— 1884, die sich mit Untersuchungen über die mikroskopische Struktur fossiler Pflan- zenreste beschäftigten; die wesentlichsten Fortschritte auf diesem Gebiete sind H. R. Goeppert (1800— 1884) zu verdanken. Den Mittelpunkt der paläobotanischen Forschung bildeten in älterer Zeit die paläozoischen Floren. Die Bearbeitung derselben erfolgte freilich in der Hauptsache nach stratigraphischen Gesichtspunkten. Später lenkten O. Heer, J. Unger, C. v. Ettingshausen und andere die Aufmerksamkeit auf die ter- tiären Floren; eine überaus große Zahl paläofloristischer Arbeiten entstand in jener Epoche. Ettingshausen versuchte, durch sorgfältiges Studium der Blattnervatur bei lebenden Pflanzen einen Bestimmungsschlüssel für die fos- silen Blattreste zu erhalten. Lange Zeit hindurch schien diese Methode geeig- net, Aufklärung über die verschiedenen Elemente der Tertiärflora zu gewinnen; seitdem aber A. Schenk gezeigt hat, daß die Blattnervatur zur Bestimmung fossiler Blätter nicht recht geeignet ist, weil ihr Verlauf in kleinen Gruppen oft 348 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie beträchtlich wechselt, in größeren aber sehr häufig keine größeren Abweichun- gen zeigt, so ist die von Ettingshausen begründete Bestimmungsmethode einstweilen ganz zur Seite gelegt worden. Die Schwierigkeit der Bestimmung fossiler Dicotyledonenblätter erscheint dadurch noch weiter erhöht, daß auch die Blattform, welche man früher für ein wichtiges Mittel zur Bestimmung ge- halten hatte, höchstens die Untersuchung einzelner Arten ermöglicht, zur Er- kennung irgendeiner Gattung aber ganz und gar nicht ausreicht. Gegenwärtig steht also die Literatur über fossile Phanerogamenfloren im Zustande einer Krise und es ist einstweilen noch nicht abzusehen, ob, wo und wie eine Methode gefunden werden wird, um die verwirrende Fülle fossiler Blatt- formen zu sichten und zu klären. Am leichtesten gelingt dies naturgemäß bei jungtertiären und quartären Floren, wird aber schon bei miozänen recht schwie- rig und um so schwieriger, mit jeälteren Floren wir eszu tun haben. Trotzdem glaube ich, daß das Beiseitelegen der fossilen Phanerogamentfloren nicht der richtige Weg ist. Man muß wieder versuchen, ein Mittel zur Bestimmung aus- findig zu machen und ausgedehntere Vergleiche anstellen, als sie in früherer Zeit angestellt worden sind. Nichts ist für die Entwicklung einer Wissenschaft schädlicher als mutloses Verzichten auf die Erreichung eines Zieles, wenn sich ein lange beschrittener Weg als Irrweg herausgestellt hat. Die Bearbeitung der paläozoischen und mesozoischen Floren ist im Ver- gleiche zu den känozoischen viel weiter vorgeschritten, wenn freilich auch hier noch sehr viel zu tun übrig ist. Am besten bekannt ist wohl die Flora der Stein- kohlenformation, über die zahlreiche, große Monographien vorliegen; auch die Permflora ist verhältnismäßig gut bekannt. Unter den Pflanzengruppen des Mesozoicums sind besonders die Cycadofilicineen Gegenstand zahlreicher er- folgreicher Untersuchungen gewesen. Von zusammenfassenden Darstellungen über die fossilen Pflanzen sind namentlich die von A. Schenk und W.Ph. Schimper, von D. H. Scott und A.C.Seward, ferner die Lehrbücher von M.B.Renault (1881—1885), Graf zu Solms-Laubach, R.Zeiller und H. Potonie zu nennen. Gegenwärtig sind im ganzen etwa 30 Forscher mit paläo- botanischen Untersuchungen beschäftigt, allerdings eine verschwindend kleine Zahl im Vergleiche zu der nach mehreren Hunderten zählenden Zahl der Paläo- zoologen. Freilich ist auch die Paläobotanik weit weniger der Tummelplatz von Dilettanten als die Paläozoologie. Ungleichmäßige Wenn wir die hier nur in den allgemeisten Umrissen skizzierte Entwick- Entwickl ed « D .. . AN . . . Vorcchiedenen Jung der einzelnen Zweige der Paläontologie überblicken, so sehen wir, daß in ee den einzelnen Gruppen der fossilen Tiere und Pflanzen die Fortschritte sehr ungleichmäßig sind. Vieles liegt an dem Erhaltungszustand und der Häufig- keit der Fossilreste und sehr vieles an der morphologischen Ungleichwertigkeit der überlieferten Leichenteile; während die Hartteile der Mollusken nur in sehr geringem Grade ein Urteil über den anatomischen Bau des Tieres gestatten, ist bei den fossilen Wirbeltieren, den Echinodermen, Crustazeen und Insekten gerade einer der wichtigsten Teile des Organismus erhaltungsfähig und gestattet viel tiefere Einblicke in die Organisation dieser Gruppen, als bei den Mollusken. Der Ausbau der Paläontologie zu einer Stütze der Abstammungslehre 349 Trotzdem spielt noch ein anderer Umstand bei dem ungleichmäßigen Fort- schreiten der Kenntnisse von einzelnen Gruppen mit, den man bis zu einem ge- wissen Grade auf wissenschaftliche Moden zurückführen kann. Wenn es einem gelingt, durch eine hervorragende Studie das Interesse an irgendeiner Frage zu erwecken, so kann man mit Sicherheit eine Sturmflut der Literatur auf diesem Gebiete prophezeien, bis wieder das allgemeine Interesse abflaut und der Er- örterung anderer Probleme Platz macht. Derartige Interessenwechsel zeigt die Geschichte jeder Wissenschaft und so auch die Geschichte der Paläontologie. Daher läßt sich eine Entwicklung und Förderung gewisser Forschungsrichtun- gen immer nur für eine kurze Zeit hinaus prophezeien. Die Erfahrung hat ge- lehrt, daß ein entschiedener Vorstoß genügt, um das Interesse der Fachgenossen auf ein bisher vernachlässigtes Gebiet zu konzentrieren; dann folgt eine Epoche reger Entwicklung, indem mit vereinten Kräften oder, was unter Umständen für die Erkenntnis noch besser ist, im heftigen Widerstreite der Meinungen an der Aufhellung der betreffenden Probleme so lange gearbeitet wird, bis entweder die Fragen je nach dem Bedürfnisse der Zeit gelöst sind oder ein neues Problem das allgemeine Interesse gefangen nimmt. 5. Der Ausbau der Paläontologie zu einer Stütze der Abstam- spätes Eintreten mungslehre. Die Geschichte der Paläontologie umfaßt mehrere große Ab- nenn ogiein die Reihe schnitte. In der ältesten Zeit standen phantastische Ideen und Spekulationen eg über das Wesen der Versteinerungen im Vordergrund; nur langsam reifte die schungszweige. Erkenntnis, daß die in Schwefelkies, Kieselsäure, Kohle, Kalkstein oder Braun- eisenstein verwandelten Leichenreste wirklich von einmal lebend gewesenen Organismen herstammen und nicht unbegreifliche Spiele der Natur seien. Von dem Momente an, da sich diese Erkenntnis allgemein durchgesetzt hatte, bis zu dem heutigen Stande der Paläontologie war freilich noch ein weiter Weg zurückzulegen. Die Untersuchungen William Smiths in England über die Verschiedenheiten der Versteinerungen in den aufeinanderfolgenden Schich- ten führten dazu, die Versteinerungen mehr und mehr unter chronologischen Gesichtspunkten zu betrachten. Das ist jener Abschnitt der Geschichte der Paläontologie, den man wegen der vorherrschenden Arbeitsrichtung den strati- graphischen nennen könnte. Auf dem Gebiete der Wirbeltiere hatte Cuvier durch seine Meisterwerke den einzig richtigen Weg zur Erforschung der Fossilreste gewiesen, die mor- phologische Methode. Von hier aus nimmt die moderne Paläontologie ihren An- fang, und wenn auch viele unnütze Beschreibungen ganz unwesentlicher Reste die Bände aus den ersten 50 Jahren dieser Entwicklungsperiode füllen, so kann man doch diesen ganzen Geschichtsabschnitt der Wirbeltierforschung den mor- phologischen nennen. Merkwürdigerweise sind aber Fragen nach dem genetischen Zusammenhang der fossilen Formen mit der heutigen Lebewelt erst sehr spät aufgetaucht, und wenn sie erörtert wurden, so drangen die betreffenden Forscher über den Stand- punkt abenteuerlicher Spekulation kaum hinaus. Man liest heute mit Erstau- nen die Vorstellungen von der Geschichte der Wirbeltiere, wie sie J. J. Kaup Die Ursachen des Mangels phylogenetischer Forschungen in der Paläon- tologie vor dem Erscheinen der „Entstehung der Arten“. 350 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie hatte. Obwohl die Unterschiede zwischen den einzelnen fossilen Formen unter- einander und von den lebenden Formen mit Hilfe der vergleichend-anatomi- schen Methode festgestellt wurden, ging man doch nicht an die Lösung der Frage heran, wie sich diese Formen auseinander entwickelt haben. So wie wir heute staunend in den dickleibigen Bänden der Phantastenzeit vergeblich nach Vorstellungen suchen, die uns seit unserer Kindheit geläufig sind, so begegnen wir in den Arbeiten der Paläontologen bis zu Anfang der sechziger Jahre nur ganz verschwommenen Vorstellungen von genetischen Zusammenhängen der einzelnen Tiergruppen und der einzelnen Gattungen und Arten, aber keinen exakten Untersuchungen. Der Grundsatz ‚Natura non facit saltum‘‘ war von Charles Lyell auf die Erdgeschichte übertragen worden; mit dem Erscheinen der berühmten Prin- ciples of Geology (1830—1833) ging es mit der Katastrophentheorie rasch ab- wärts, da Lyells klare Beweise für die Allmählichkeit und Stetigkeit der Na- turkräfte überzeugender waren als die Annahmen erdumwälzender Katastro- phen. Merkwürdigerweise hatte sich die Paläontologie noch nicht auf den Stand- punkt der Geologie erhoben, was die Anschauungen von steter ununterbroche- ner Entwicklung betrifft. Es ist das auf den ersten Blick um so merkwürdiger, als ja die Paläontologie in der ersten Hälfte des IQ. Jahrhunderts fast aus- schließlich in den Händen der Geologen lag. Sieht man aber genauer zu, so er- kennt man freilich, welche Umstände es bewirkten, daß gerade, weil die Palä- ontologie von Geologen betrieben wurde, Ideen von der allmählichen Entwick- lung der Lebewelt keinen Anklang finden konnten. Die Geologen hatten die Lyellschen Grundsätze von den langsamen, aber stetigen Veränderungen der Erdrinde angenommen. Sie wollten und mußten aber auch fernerhin ein Mittel zur Altersbestimmung und Homologisierungder Schich- ten haben. Das konnten nur die Leitfossilien sein, und mit dem Begriffe des Leitfossils war es unerläßlich, daß es sich von dem nächstjüngeren, ähnlichen Leitfossil sehr bestimmt unterschied. Die Methodik der paläontologisch ar- beitenden Geologen, also der Stratigraphen, war im wesentlichen auf die Tren- nung und möglichst scharfe Unterscheidung der Leitfossilien basiert. Was in der Form schwankte oder durch mehrere Schichten durchging, war als Leit- fossil unbrauchbar und wurde in dieser Zeit kaum beachtet. Aus diesen Umständen erklärt es sich, warum die Paläontologie so lange Zeit förmlich auf dem Katastrophenstandpunkte verblieb, während die Geo- logie selbst den Lyellschen Grundsätzen folgte. Es erklärt sich daraus aber auch weiter, daß die Geologen sich die Beschäftigung mit den Versteinerungen nicht nehmen ließen, im Gegenteile, eifersüchtig die Zugehörigkeit der Paläon- tologie zur Geologie hüteten, die Paläontologie aber mehr oder weniger als einen der Geologie untertanen Zweig dieser Wissenschaft betrachteten. Da die Paläontologen jener Zeit aus Geologenschulen hervorgegangen waren und äußere Verhältnisse die Abhängigkeit der Paläontologen von den Geologen begünstig- ten, so hat es sehr lange gedauert, bis sich die heute geltenden Grundsätze der Paläontologie durchsetzen konnten. Die ersten phylogenetischen Forschungen in der Paläozoologie 351 Die ersten Ansätze zu einer phylogenetischen Betrachtungsweise fossiler Die „Valvata- Formen sind schon kurz nach dem Erscheinen der „Entstehung der Arten‘ zu "Yon Sein merken. F. Hilgendorfs Untersuchungen aus dem Jahre 1866 über die Carinifex multiformis von Steinheim waren der erste Ver- such, eine geschlossene Formenreihe chronologisch und phylo- genetisch zu verfolgen. (Fig. 7.) Steinheim in Württemberg liegt in einem Senkungskessel, aus dessen Mitte sich als zentraler Kegel der Klosterberg erhebt. Die- ser zentrale Kegel besteht aus verschiedenen Schichten der Jura- formation, welchen verschiedene obermiozäne Bildungen wie der aus heißen Quellen abgesetzte schalige Sprudelkalk mit Aragonit- einschlüssen, harter Süßwasserkalk und Kalkmergel, endlich sehr schneckenreiche Sande angelagert sind. Diese Schneckensande sind mit Millionen von Gehäusen der Carinifex multiformis erfüllt. H. Hilgendorf hat nun gezeigt, daß in den untersten Schichten die Gehäuse ganz flach und pla- norbisartig gestaltet sind, während in den höheren Schichten die Gehäuse immer höher und in der obersten endlich turmartig wer- den wie die Gehäuse von Paludinen. Das flachgehäusige und das hochgetürmte Extrem sind durch zahlreiche Übergänge mitein- ander verbunden, die teils nebeneinander auftreten, teils scharf nach Schichten geschieden sind. Über diese „Valvatareihe von Steinheim‘ entspann sich ein lebhafter Streit. Zuerst hatte F.Hilgendorf die Gruppierung der Formen im Sinneder Darwinschen Theorieals Stammbaum durch- geführt. Dann aber wurde behauptet, daß es sich nicht um einen Stammbaum mit konstanter Variationsrichtunghandle, sondern um Varianten, die durch den Einfluß heißer Quellen entstanden seien und nicht zu einer ‚„Stammesreihe‘‘ vereinigt werden dürfen. Ich will hier in keine ausführliche Darlegung der Frage ein- gehen, sondern nur hervorheben, daß die letzten Untersuchungen von W. Branco und E. Fraas (I905) ergeben haben, daß in den Schneckensanden wirklich Horizonte mit bestimmten Carinifex- Formen zu unterscheiden sind. Der tiefste Horizont ist durch Planorbis Steinheimensis gekennzeichnet; darüber folgt eine Sand- Fig.,. Die phylo- schicht mit Carinifex tenuis; auf diesen folgt die Schicht mit Cari- Serefische Reihe x vonCarinifex mul- nifex multiformis mit allen Übergängen zwischen beiden Extremen. tiformis = = £ x 4 : 5 B miozänenSchnek- Die Hilgendorfsche Angabe hat sich als richtig erwiesen; ZU- kensanden von = . - A = e St - h ” - unterst lagen die planorbisartigen Schalen der Carinifex multi- wWiurtembers. formis f. discoidea, zuoberst die getürmten Gehäuse der Carini- NachHıcenoorr . . : - aus O,FRAAS 1866. fex multiformis f. trochiformis. Die Bedeutung dieser Reihe kann auch dadurch nicht geschmälert werden 3 3 ) daß man die große Variabilität der Art mit dem Ausströmen heißer Quellen in Verbindung bringt. Bedeutung der Forschungen Kowalevskys für den Ausbau der Paläozoologie zu einer Stütze der Abstammungs- lehre. 352 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Mit dieser Arbeit über die Formenreihe der Carinifex multiformis beginnt einer der erfolgreichsten Abschnitte der Paläontologie, die phylogenetische For- schungsperiode. Wie wenig man noch zu der Zeit des Erscheinens der Hilgendorfschen Arbeit von genetischen Verbänden einzelner Arten und Gattungen und der Stammesgeschichte größerer Gruppen des Tierreiches wußte, geht wohl am besten aus dem im selben Jahre erschienenen Buche O. Fraas’ ‚Vor der Sünd- fluth‘‘ hervor, das die Anschauungen jener Zeit in vorzüglicher Weise und in fesselnd geschriebener Form zusammenfaßte. Damals sah man das Mammut als den Ahnen des indischen Elefanten, den Höhlenbär als Ahnen unseres brau- nen Bären, das Megatherium als den Vorläufer der brasilianischen Faultiere an. Immerhin zeigte sich bereits das Bestreben, die Formen untereinander zu ver- knüpfen und Ahnenreihen zu ermitteln; man war aber weit, sehr weit davon entfernt, auch nur in einem einzigen Falle ein klares Bild von diesen Zusammen- hängen zu besitzen. Man hätte überhaupt erwarten sollen, daß die von Darwin begründete Abstammungslehre auf die Paläontologie eine viel raschere und tiefere Wirkung ausüben würde, als dies tatsächlich der Fall war. Vielleicht lag die Schuld daran teilweise an Darwin selbst, der die Lückenhaftigkeit der paläontologi- schen Überlieferung zu stark betonte und vielleicht dadurch viele von phylo- genetischen Untersuchungen an fossilen Formen abhielt. Erst mit den Arbeiten des genialen Russen Woldemar Kowalevsky, dessen Hauptwerk im Jahre 1874 in den Palaeontographica erschien, trat die Paläozoologie mit einem Schlage in eine neue, überaus fruchtbringende Entwick- lungsperiode ein. Von diesem Momente an trat der Gegensatz zwischen der von Geologen betriebenen Biostratigraphie und einer in biologischem Geiste forschen- den und nach morphologischen Methoden arbeitenden Paläontologie zutage. Kowalevsky war der erste, der seit Cuviers Zeiten wieder mit aller Schärfe die Notwendigkeithervorhob, die Paläontologie auf eine rein morphologi- sche Basis zu stellen. Was aber Cuvier fremd war, das waren die phylogeneti- schen Gesichtspunkte, die nun gleichfalls in den Vordergrund gestellt erschie- nen. Cuviers Geist waren Vorstellungen von stammesgeschichtlichen Zusam- menhängen fremd; es ist allgemein bekannt, daß die ‚Philosophie zoologique‘‘ Lamarcks, die 1809 erschienen war, von Cuvier vollständig ignoriert und nie eines Wortes gewürdigt wurde; und es ist weiter bekannt, daß er in dem Kampfe gegen den ihm geistig weit überlegenen Synthetiker Geoffroy Saint- Hilaire im Jahre 1830 den Sieg davontrug. Goethes letzte Arbeit aus dem Jahre 1832 hat diesen Streit zum Gegenstande; sie nennt sich ‚„Principes de Philosophie zoologique par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire‘; er been- digte sie wenige Tage vor seinem Tode. Dieser Streit hatte sich besonders um die Frage einer gemeinschaftlichen Abstammung aller Lebewesen von einer Stammform und die Veränderlichkeit der Art bewegt, Anschauungen, welche Cuvier heftig bekämpfte und mit dem Gewichte seiner Autorität niederschlug. In der Tat war es ihm gelungen, den Entwicklungsgedanken aus der Palä- Die Bedeutung der Forschungen Kowalevskys 353 ontologie weit über seinen Tod hinaus auszuschalten. Das Verdienst, ihn wie- der mit allem Nachdrucke in den Vordergrund gestellt zu haben, bleibt W. Ko- walevsky vorbehalten, wenn auch schon vor seinen Arbeiten einzelne phylo- genetische Studien veröffentlicht worden waren. Kowalevskys Stärke lag aber nicht nur in der Beherrschung morpho- logischer Kenntnisse, sondern vor allem darin, daß er aus den fossilen Resten das Bild des lebenden Tieres wieder aufleben ließ. ‚It regards‘, schrieb Henry Fairfield Osborn 1893 über das Hauptwerk Kowalevskys, ‚the fossil not as petrified skeleton, but as moving and feeding; every joint and facet has a meaning, each cusp a certain significance. Rising to the philosophy of the matter, it brings the mechanical perfection and adaptiveness of different types into relation with environment, the charge of herbage, the introduction of grasses. In this competition it speculates upon the causes of the rise, spread and extinction of each animal group. In other words the fossil quadrupeds are treated biologically so far as possible in the obscurity of the past.“ Außer dem Hauptwerke Kowalevskys ‚Monographie der Gattung An- thracotherium Cuv. und Versuch einer natürlichen Klassifikation der fossilen Huftiere‘‘ hat Kowalevsky nur noch fünf andere Abhandlungen über fossile Huftiere veröffentlicht, die alle auf gleich hoher wissenschaftlicher Stufe stehen. Wir müssen ihn in der Tat als den Begründer unserer modernen Paläontologie ansehen, die mit seinen Arbeiten endgültig aus dem dilettantenhaften Stu- dium der Petrefaktenkunde in den Rang einer wissenschaftlichen Paläozoologie eintrat. Seither ist die phylogenetische Betrachtungsweise der paläozoologischen Forschung als ständiges Requisit einverleibt worden. Die Arbeiten der stratigra- phischen Richtung, die Beschreibung einzelner Faunen und Vergleiche dersel- ben stehen nunmehr als biostratigraphische Forschungen den paläozoologischen scharf gegenüber. Wie so häufig über das Ziel hinausgeschossen wird, wenn in einer Wissen- Übertreibungen schaft eine neue Richtung oder Methode eingeführt wird, so ist es auch in der vn m nsene tischen Forschun- Paläontologie der Fall gewesen, als die phylogenetische Betrachtungsweise I den Vordergrund trat. Jeder Arbeit mußte am Schlusse ein „Stammbaum“ lage. angehängt werden, in welchem die meist durchaus persönlichen Anschauungen des betreffenden Verfassers zum Ausdrucke gebracht wurden. Dabei gingen die verschiedenen Autoren bei ihrer Gruppierung von ganz verschiedenen Gesichts- punkten aus. Ein und dieselbe Gruppe wurde beispielsweise von einem Autor nach der Spezialisationshöhe der Extremitäten phylogenetisch gruppiert, von einem zweiten nach der Spezialisationshöhe des Gebisses. Dabei kamen ganz verschiedene Resultate heraus, da die eine Form im Gliedmaßenbau höher, im Zahnbau tiefer stand als die zweite, die zweite aber im Gliedmaßenbau tiefer und im Zahnbau höher stand als die erste. Das führte wieder zu Meinungs- differenzen, die mitunter scharfe polemische Form annahmen; die Fernerstehen- den hielten diese Zustände für einen klaren Beweis dafür, daß die Paläontologie als Stütze der Abstammungslehre überhaupt nicht zu verwenden sei, während K.d.G. Il. ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 23 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie 354 andere, die sich über das biostratigraphische Niveau nicht erhoben hatten, die verschiedenen Resultate der phylogenetischen Forschungen und die aus ihnen entspringenden Meinungsdifferenzen mit Schadenfreude betrachteten. Die Bedeutung Erst in dem Momente wurde reiner Tisch geschaffen, als Dollo in seiner Be zwar wenig umfangreichen, aber meisterhaft durchgearbeiteten und grund- een legenden ‚‚Phylogenie des Dipneustes‘“ (Brüssel 1895) zeigte, daß in ein und der- selben Gruppe bei nahe verwandten Formen ‚Chevauchements des sp£cialisa- tions‘‘ oder Spezialisationskreuzungen auftreten können und auftreten müssen, da wir nicht nur eine direkte Ahnenkette, sondern auch eine Menge von Formen unterscheiden müssen, die von dem Hauptstamm zu verschiedenen Zeiten ab- gezweigt sind und wieder für sich separate Stammeszweige bilden. Die fossilen Vertreter eines ganzen Stammes mit allen seinen Seitenzweigen sind noch in keinem Falle vollzählig bekannt, und daher ist es notwendig, bei der Beurtei- lung genetischer Zusammenhänge so sorgfältig als möglich vorzugehen. Dazu kommt noch folgendes. L. Dollo hatte 1899 zuerst versucht, lebende Vertreter eines Stammes nach der Spezialisationshöhe ihrer Anpassungen der- art zu gruppieren, daß daraus nicht nur eine reihenförmige Anordnung der ein- zelnen Formen, sondern auch die Entstehungsgeschichte der betreffenden An- passungen klar hervorging. Das berühmte Beispiel von der Entstehung des Kän- guruhfußes aus dem Kletterfuß der arboricolen, d. h. baumbewohnenden Beu- teltiere zeigt diesen Fall in klarer Weise. Nur durfte nicht daran gedacht wer- den, etwa alle lebenden Vertreter der Beuteltiere mit verschieden hoch an das Baumleben und an das Springen angepaßten Extremitäten in einen „Stamm- baum‘ zu vereinigen. Unterschied Um diese phylogenetischen Reihen möglichst scharf zu trennen, habe ich Sur vor einiger Zeit vorgeschlagen, eine verschiedene Benennung durchzuführen. en Diejenige Gruppe von Formen, die auseinander hervorgegangen sind und zwar unmittelbar voneinander abstammen, ist als Ahnenreihe zu bezeichnen; jene Reihen, welche Formen eines Stammes von verschiedener Spezialisationshöhe eines oder mehrerer Organe umfassen, ohne direkt miteinander verwandt zu sein, als Stufenreihen; endlich jene Reihen, welche die schrittweise Speziali- sationssteigerung eines Organes zum Ausdruck bringen, ohne damit einen Schluß auf genetische Zusammenhänge zu gestatten, als Anpassungsreihen. Wennz.B. die Formen A,B,C,D, E, F in der Spezialisation aller Organe (a—e) gleichen Schritt miteinander halten und keine Spezialisationskreuzungen auf- treten, so daß also die Organe gleichsinnig spezialisiert erscheinen, so liegt eine Ahnenreihe vor. Folgendes Schema soll diesen Fall zum Ausdrucke bringen: Geologisches Alter: Form: Spezialisationen: Gegenwart (Holozän) .. B UBER Elistozan. ma use E a PL NEO, Fre, Pliozanaar A D ERBE OLE NIOZan IB SUENIER C a Dligozant. Ana B D4F HBSLETE EU, Bozanı... 77,03 Iname a A en a a = Anpassungsreihen, Stufenreihen, Ahnenreihen 355 Wenn aber die Spezialisationen bei den einzelnen Gattungen oder Arten verschieden hoch sind, so daß z. B. die Form D die Stufe o,, die Form B aber schon a, einnimmt, bei der Form F die Stufe a, und y, festzustellen ist, bei E aber a, und y,, so kann es sich nicht um eine direkte Ahnenreihe, sondern nur um eine Gruppe von Formen handeln, die zwar einem Stamme angehören, aber auf verschiedener Spezialisationshöhe stehen geblieben und zu ganz verschiede- nen Zeiten vom Hauptstamme abgezweigt sind. Dies zeigt folgendes Schema: Geologisches Alter: Form: Spezialisationen: Elolozann al F SB LO, Fre Elistozane une zanon. E Gy. Ba fer rOgl|N.Es Pliezann. unse rs D GE EHBeL EIED Os Miozamie sa ale C GHPBe SursEKOn BE, Ohigozana SRazae. 2 B OU IABSEETSELO RES POZams any. A GET EL Ore Das wäre also ein Fall, in welchem die Gattungen A bis F keine direkte Ahnenkette bilden. Solche Fälle sind weitaus häufiger als direkte Ahnenreihen; im ganzen sind bis jetzt etwa sechs bis sieben sichere Ahnenreihen, aber hun- derte Stufenreihen bekannt. Die graphische Darstellung eines solchen Stam- mes wäre folgende: e Das wäre der ein- Kolben N ae fachste Fall; es wäre nur der leichteren Ver- er : B, (,ß, 1,8, &) Ständlichkeit wegen zu en, | bemerken, daß der D Be Stammbaum der bes- en SZ serenÜbersichthalber Pliozän 2 | in Schachtelhalmform Boa, e) gezeichnet wurde. Miozän rer Be Rechts ist, aus B her- vorgehend, ein selb- sn a a (a4 Pa Ya ds &ı) ständiger Seitenweg gezeichnet, der eine Eorin A Ahnenkette von B, und B, nach B, und B, dar- stellt und in der die Spezialisation des Organs a weiter gegangen ist als in der Hauptreihe. Beispiele für solche Seitenzweigreihen ließen sich dutzendweise erbringen. Ich sehe von der Erörterung solcher Beispiele ab, da mir hier nur daran liegt, den Kern der ganzen Frage herauszuschälen. Anpassungsreihen endlich wollen nichts anderes zur Darstellung brin- gen, als die Geschichte einer Anpassung ohne Rücksicht darauf, ob die verschieden hoch angepaßten Formen zu einer genetischen Reihe zu vereinigen sind oder nicht. Daß die Aufsuchung und Feststellung solcher Reihen von emi- nenter Wichtigkeit für die Erweiterung unserer phylogenetischen Kenntnisse sind, liegt auf der Hand. Plistozän Da 356 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Die scharfe Trennung dieser drei Kategorien von phylogenetischen Reihen war unbedingt notwendig, um endlich einmal den Widerspruch gegen die „Kon- struktion von Stammbäumen‘“ verstummen zu machen. Wenn die Paläonto- logen sich bescheiden, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen über die Speziali- sationssteigerungen der verschiedenen Organe fossiler Formen in Stufenreihen zusammenzufassen, ohne für diese den Charakter von Ahnenreihen zu bean- spruchen, so werden wir zeigen können, daß innerhalb eines Stammes die Spe- zialisationen der einzelnen Organe in ganz verschiedener Weise erfolgt sind und daß die so verschieden spezialisierten Formen zwar Glieder eines Stammes sind, aber verschiedenen Arten angehören. Nehmen wir den Fall an, daß der erste Forscher, der sich mit der Ge- - schichte eines Stammes beschäftigte, zunächst nur das Organ ß auf seine Spe- zialisationshöhe untersuchte. Er würde dabei folgende Reihe erhalten haben: Holozan..er 2.3 Br 2 222. ß, Blistozan. 2. Ba 00 ß, Pliozanzer 2.2 Di ne ß, Miozan. 2... ER? ß, Oligozän. Beh. ehr B, Bozan 2... De ß, Da mußte es wohl sehr naheliegend erscheinen, diese Formen zu einer Ahnenkette zu verbinden. Beging er diese Unvorsichtigkeit, so mußte seine Aufstellung in dem Momente zusammenbrechen, als der zweite Forscher das Organ a untersuchte. Dieser mußte folgende Reihe aufstellen: Bis ice & HER 0; GC. DREI Ol, N a [oM Damit würde er zu dem Ergebnisse gelangen, daß sein Vorgänger unbedingt un- recht hatte, als er die oben zusammengestellte Reihe als Ahnenreihe bezeich- nete. Der dritte Forscher, der das Organ y, und der vierte, der das Organ d als Grundlage nahm, mußte wieder zu anderen Ergebnissen über die Phylogenie dieser Gruppe gelangen. Es ist ohne weiteres klar, daß ein solcher Zustand in der Forschung die Kritik der Gegner herausfordern mußte. Wenn sich die phylogenetischen Grup- pierungen so rasch änderten, als dies in der Paläozoologie der Fall war und noch ist, so liegt der Schluß nahe, daß entweder das Material zu solchen Schlußfolge- rungen nicht ausreichte oder die Forschungsmethode verfehlt war. Wären je- doch seinerzeit die als „Ahnenreihen‘ ausgegebenen ‚„Stammbäume‘‘ des Menschengeschlechtes als das bezeichnet worden, was sie wirklich sind, nämlich als Stufenreihen, so wäre eine neue Stufenreihe, aufgebaut auf neuen Ge- sichtspunkten, nicht gleichbedeutend mit dem Einreißen aller früheren Hypo- thesen gewesen. Das Dollosche Gesetz 357 Die Klärung in der Beurteilung der phylogenetischen Reihen und die Er- kenntnis ihrer Ungleichwertigkeit wird voraussichtlich dazu beitragen, die Pa- läozoologie nicht als Tummelplatz phylogenetischer Spekulationen anzusehen, sondern als einen biologischen Forschungszweig, in welchem ebensogut wie in anderen induktiv gearbeitet wird. Von wesentlicher Bedeutung für die Be- urteilung der Paläozoologie im Rahmen der biologischen Wissenschaften erscheint mir die Tatsache, daß in den letzten Jahrzehnten von paläontolo- gischer Seite aus die phylogenetische Forschung im allgemeinen auch in methodischer Hinsicht eine wertvolle Förderung erfahren hat. Neben der Er- fassung der Bedeutung der Spezialisationskreuzungen steht die Aufstellung des „Dolloschen Gesetzes“ für die Entwicklung und den Ausbau der stammesge- schichtlichen Forschung überhaupt an erster Stelle. Dollo hat im Jahre 1893, gestützt auf zahlreiche Beobachtungen und lang- jährige Studien an fossilen Wirbeltieren, zuerst den Satz von der Irreversibilität der Entwicklung ausgesprochen und seither in zahlreichen Arbeiten eine Fülle neuer Beispiele dafür erbracht. Auch von anderer Seite ist auf die Bedeutung dieses Gesetzes für die phylogenetischen Forschungen auf dem Gebiete der ganzen Biologie hingewiesen worden. Dieses Gesetz ist in folgender Weise zu formulieren: I. Ein im Laufe der Stammesgeschichte verkümmertes Organ erlangt niemals wieder seine frühere Stärke; ein gänzlich verschwun- denes Organ kehrt niemals wieder. 2. Gehen bei einer Anpassung an eine neue Lebensweise (z. B. beim Über- gang von Schreittieren zu Klettertieren) Organe verloren, die bei der früheren Lebensweise einen hohen Gebrauchswert besaßen, so entstehen bei einer neuerlichen Rückkehr zur alten Lebensweise diese Organe nie- mialsewieder; an ihrerestellewwirde ein Ersatz dureh anderevOr- gane geschaffen. Wie sehr die Paläozoologie auf die Zoologie zurückwirkt, beweisen die Er- folge, welche die Forschung seit dem Momente aufzuweisen hat, als die Prin- zipien und die Methodik der modernen paläozoologischen Forschung auch auf die Untersuchung rezenter Formen angewendet wurden. Eine ganze Reihe von Pro- blemen ist auf diese Weise entweder gelöst oder doch der Lösung nähergerückt worden; ich komme darauf zurück, wenn ich die Aufgaben und Ziele der mo- dernen Paläontologie näher beleuchten werde. Jedenfalls kann man schon heute sagen, daß die Periode in der Geschichte der Paläontologie, welche mit den Arbeiten von Woldemar Kowalevsky einsetzt, überraschend fruchtbringend gewesen ist und daß diese erfolgreiche Ent- wicklung darauf beruht, daß phylogenetische Gesichtspunkte in die Forschung getragen worden sind, die zu einer gründlichen Revision des gesamten Materia- les anspornten. Die Entwicklung dieser phylogenetischen Forschungsperiode hätte jedoch wahrscheinlich bald zu einem Fehlerfolg geführt, wenn nicht gleich- zeitig mit der Geltendmachung phylogenetischer Prinzipien mit aller Schärfe betont worden wäre, daß eine aussichtsreiche Entwicklung der Paläontologie Das Dollosche Gesetz. Die vergleichende Anatomie als ‘Grundlage der Paläontologie. Erhaltungs- zustand der fossilen Reste. Zerstörung der Tierleichen vor der Fossil- werdung. 358 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie nur im unbedingten Festhalten und weiteren Ausbau der morphologischen For- schung zu erhoffen ist. 6. Die Aufgaben und Ziele der Paläontologie. Die wichtigste und erste Aufgabe der Paläontologen, speziell des Paläozoologen, besteht in der richtigen Erfassung des anatomischen Baues des Fossils.. Um .aber die Anato- mie des fossilen Tieres oder der fossilen Pflanze erkennen zu können, muß der Paläontologe vor allen Dingen Anatom und zwar vergleichender Anatom oder Morphologe sein. Die fossilen Tierleichen und Pflanzenleichen liegen in der weitaus größten Mehrzahl der Fälle in außerordentlich stark zerstörtem Zustande vor. Der Ver- wesungsprozeß hat die Weichteile fast immer vernichtet, und nur die Hartteile sind es, die vor dem Zerfall wenigstens unter gewissen Umständen geschützt sind. Auch Hartteile werden mitunter gänzlich vernichtet; wir brauchen nur an das Vermodern der Knochen im Waldboden oder an die Vernichtung aller orga- nischen Reste in tropischen Ästuarien oder an die Auflösung aller aus Kalk bestehenden Hartteile in großen Meerestiefen zu denken. Was uns beim Fossilwerden eines Leichenrestes überliefert wurde, besteht daher in normalen Fällen nur aus den Hartteilen, also dem Außen- oder Innen- skelett der Tiere, so daß uns aus diesen nur selten ein Abbild des lebenden Tieres unmittelbar entgegentritt, während bei den fossilen Pflanzen häufiger auch die äußere Form erhalten blieb. Die Hartteile der fossilen Tiere befinden sich aber nur selten in ihrem ur- sprünglichen Zusammenhang. Bei den Skeletten fossiler Wirbeltiere sind die ein- zelnen Knochen meistens verstreut und auseinandergerissen. Wurde die Leiche an der Meeresküstefossil, so war es die Brandung, welche die durch die Verwesung gelockerten Verbände der Skelettelemente zerriß und die Knochen zerstreute; räuberische Tiere, wie sie auf dem Meeresboden leben und auch bei der Zerstö- rung der in der Schorre gestrandeten Kadaver tätig sind, vollenden das Zer- störungswerk. So bleibt von einer Wirbeltierleiche, die von den Wogen ans Ufer gespült wurde, oder die auf den Grund niedersank, schließlich nur ein loses, wirr durcheinander geworfenes Haufenwerk von Knochen zurück, wenn nicht besonders günstige Umstände bewirkten, daß die zu Boden gesunkenen Leichen rasch vom Schlamme umhüllt und so vor weiterer Zerstörung geschützt wurden, wie es mit den Leichen der Ichthyosaurier, Plesiosaurier und Fische in den Liasschiefern von Boll und Holzmaden in Württemberg der Fall ist. Freilich treten auch an diesen Lokalitäten stark verweste und dislocierte Ske- lette auf, die beweisen, daß schon vor der Einbettung und Umhüllung des Ka- davers der Zerstörungsprozeß weitere Fortschritte gemacht hatte. Die Reste, die der Paläontologe zur Untersuchung erhält, sind also in der Regel in einem Zustande, aus dem nicht ohne weiteres der Zusammenhang und die Zusammengehörigkeit der einzelnen Skeletteile hervorgeht. Es kommt vor, daß einem fast vollständigen Skelett ein wichtiges Element fehlt, und daß von einem zweiten, in der Nähe lagernden Kadaver ein Knochen herüberge- schwemmt wurde, der auf den ersten Blick als dem ersten Skelett zugehörig Rekonstruktion der fossilen Tiere 359 erscheinen kann. So habe ich vor einigen Jahren bei Louis Dollo das Skelett einer fossilen Schildkröte gesehen, das noch im Gesteine lag. Der Unterkiefer fehlte; an seiner Stelle lag der Unterkiefer eines Fisches. Die Charaktere eines Schildkrötenkiefers und eines Fischkiefers sind so verschieden, daß diese Fest- stellung leicht möglich war; wenn es sich aber um Reste von Tieren handelt, die nicht genau bekannt sind, so können aus solchen Vermischungen schwere Irr- tümer entstehen. F. Lucas beschrieb vor I2 Jahren ein Skelettelement, das in der Lendenregion eines fossilen Urwales aus dem Eozän von Alabama in Nordamerika gefunden worden war, als das Becken dieses Wales; erst sechs Jahre später gelang es mir, nachzuweisen, daß dieses vermeintliche Zeuglodon- becken dem Schultergürtel eines großen Vogels angehörte, der zufällig in die Lendenregion des Walkadavers verschwemmt worden war. Neben diesen Zerreißungen und Durcheinanderschwemmungen fossiler Skelette spielen noch andere Faktoren bei der Deformierung fossiler Kadaver eine wichtige Rolle. Was die Brandung und die aasfressenden Tiere am Meeres- strande nicht vollendet haben, was der Tätigkeit der Flußströmungen bei Kada- vern in Flußanschüttungen nicht gelang, das wird in manchen Fällen lange nach der Einbettung der Kadaver in das schützende Gestein durch den Druck der auflastenden jüngeren Gesteinsschichten, Gebirgsfaltung oder durch Zerreißun- gen, Zerrungen und Verwerfungen des Fossillagers vollendet. Aus diesen Umständen erwächst dem Paläozoologen eine dem Zoologen fremde Aufgabe, die Rekonstruktion des fossilen Tieres. Jedes Skelett- element muß sorgfältig geprüft und analysiert werden, um zu vermeiden, daß etwa ein in die Halsregion verschwemmter Schwanzwirbel als Halswirbel ge- deutet wird. Die Charaktere der einzelnen Skelettelemente müssen auf dassorg- fältigste durch eingehende morphologischeStudien ermittelt werden, umIrrtümer in der angedeuteten Weise zu vermeiden. Das Skelett muß erst zusammenge- stellt werden, und fehlende Teile sind auf morphologischer Grundlage zu er- gänzen, um ein Gesamtbild von dem Skelettbaue und damit von der Gesamt- organisation des fossilen Tieres zu gewinnen. Daß der Erfolg einer derartigen Rekonstruktion in direktem Verhältnis zu der Menge der von der betreffenden fossilen Art bekannten Skelettelemente steht, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Wenn wir von einem fossilen Wirbel- tier nur drei Halswirbel, einen Oberarmknochen und den Unterschenkel, ferner ein Fragment des Schädeldaches und den Unterkiefer kennen, so wird die Rekonstruktion unter Umständen sehr schwierig sein. Sie ist schwer durch- zuführen, ja kaum möglich, wenn die Reste einer ganz abseits stehenden Art angehören, von der noch nichts Näheres bekannt ist; sie wird leicht durchzuführen sein, wenn die Reste einer Art angehören, welche zu besser bekannten Fossilien oder lebenden Arten im engen Verwandtschaftsverhält- nisse steht. Im letzteren Falle werden die fehlenden Skeletteile unschwer zu ergänzen sein. Mit der Bestimmung der Skelettelemente und Ergänzung des Fehlenden ist aber die Aufgabe noch nicht beendet. Noch sind wir weit von dem Ziele ent- Deformierung der fossilen Reste. Notwendigkeit einer wissen- schaftlichen Re- konstruktion der fossilen Tiere. 360 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie fernt, das Skelett in die Stellung gebracht zu haben, welche der Haltung und Bewegungsart des fossilen Tieres während seines Lebens entsprach. Hier reichen die morphologischen Vergleiche und Studien allein nicht mehr aus. Die Rekonstruktion muß mißlingen, wenn nicht physiologische Studien über die Bewegungsfähigkeit der einzelnen Skeletteile, den Mechanismus der Gelenke, ihre Bewegungsmöglichkeit, die Beziehungen der Knochenvorsprünge zu der nichterhaltenen Muskulatur, kurz alle jene Untersuchungen angestellt worden sind, die uns über die funktionelle Bedeutung der einzelnen Skelettele- mente Aufschluß geben können. Aber auch mit diesen physiologischen Studien ist die Rekonstruktion eines fossilen Tieres noch nicht beendet. Wir müssen aus der Morphologie und Phy- siologie der Skelettelemente zu ermitteln suchen, in welchen Beziehungen die Funktionen der Körperabschnitte und Skelettelemente zu der Lebensweise des fossilen Tieres standen. Wir müssen also aus den Anpassungen der fossilen Form ihren Aufenthaltsort, ihre Bewegungsart und ihre Nahrungsweise zu er- mitteln trachten, um ein möglichst vollständiges Bild von dem Aussehen des fossilen Tieres und seinem Habitus zu gewinnen. Wenn wir auf diese Weise das Skelett in entsprechende Stellung gebracht und montiert haben, so ist der wichtigste Teil der Rekonstruktion beendet. Nun ist aber noch eine andere Frage zu lösen, nämlich die, wie wir uns das Äußere des fossilen Tieres vorzustellen haben. Muskelvorsprünge der Knochen werden uns über den Verlauf und die Stärke der Muskulatur Aufschluß geben. Wir werden aus der relativen Größe der Muskelursprünge und Muskelinsertionen an den Knochen ein Urteil über die Stärke der Muskulatur und damit über das Äußere des Tieres gewinnen können. Liegen Hautpanzerreste oder andere Epidermalbildungen vor, wird ein rekonstruktives Bild unschwer durchzuführen sein. Wir wissen heute, daß viele fossile Meeresreptilien nackt waren; wenn wir bei der Rekonstruktion des Gesamtbildes dieser Formen an die Hautfarben der Delphine denken, so werden wir auch für die Ichthyosaurier ähnliche Färbungen annehmen und z. B. den Schluß ziehen dürfen, daß die Oberseite in der Regel dunkel, die Bauchseite hell gefärbt war. Derartige Schlüsse sind ebenso wie alle Schlußfolgerungen morphologischen Charakters Analogieschlüsse, die von dem Grundsatze ausgehen, daß eine gleichartige Lebensweise zu allen Zeiten organischen Lebens auf der Erde die gleichen Formveränderungen oder Anpassungen an die Umgebung zur Folge hatte. Diese Forschungsrichtung, welche nicht nur die morphologische, sondern auch die physiologische und biologische Stellung des fossilen Tieres zu ermit- teln sucht, bezeichnet die jüngste Epoche der Paläozoologie. Schon in alter Zeit hatte man versucht, aus den Resten fossiler Formen ihr Skelett und ihr Lebensbild zu rekonstruieren oder, wie man damals sagte, die Tiere zu „restaurieren“. Eine solche ‚Rekonstruktion‘, vielleicht die älteste, die wir kennen, ist das „Unicornu fossile‘‘ von Otto Guericke. So- Aufgaben und Ziele der Paläobiologie 361 lange die Versuche nicht auf wissenschaftlicheGrundlage gestellt waren, konnten sie nichts anderes sein, als unterhaltliche Spekulationen und Spielereien. Diese Versuche haben denn auch fast das ganze IQ. Jahrhundert hindurch höchstens in populärwissenschaftliche Werke ihren Einzug gehalten, aber die Forscher ver- mieden es, in ihren Arbeiten auf solche Fragen näher einzugehen, da man sich vor dem Vorwurfe der Lächerlichkeit fürchtete. Wenn Betrachtungen über die Lebensweise fossiler Formen wissenschaft- lichen Wert beanspruchen sollten, so mußte zunächst eine wissenschaft- liche Methode gefunden werden, welche derartige Betrachtungen ihres speku- lativen Charakters entkleidete und sie zum Range einer wissenschaftlichen Disziplin erhob. Diese Methode hat Louis Dollo gefunden. Die stete eingehende Beschäf- tigung mit den großen mesozoischen Reptilien, namentlich mit den Iguano- donten aus dem Wealden von Bernissart, den Mosasauriern aus der Kreidefor- mation Belgiens und den zahlreichen anderen prachtvollen Resten, welche das Musee d’Histoire naturelle de Belgique weltberühmt gemacht haben, lösten in Dollo schon frühzeitig den Wunsch aus, für die Aufstellung der Skelette in be- stimmter Haltung und Stellung eine wissenschaftliche Begründung zu schaffen. Auf diesem Wege hat dann Dollo wirklich ein Mittel gefunden, den rekon- struktiven Fragen auf wissenschaftlichem Wege beizukommen; Dollo hat die Methode geschaffen, die im wesentlichen analytischen Charakters ist und welche als die ‚ethologische Analyse‘‘ bezeichnet werden kann. Für diese ganze Forschungsrichtung, die in kurzer Zeit einen überraschenden Aufschwung genommen hat, habe ich die Bezeichnung ‚‚Paläobiologie‘‘ eingeführt. Die Paläobiologie kann als jene Wissenschaft gekennzeichnet werden, welche sich die Erforschung der fossilen Organismen in ihren Beziehungen zur Umgebung zur Aufgabe stellt. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muß sie zunächst die Anpassungen der lebenden Tiere in ihren Beziehungen zum Milieu eingehend berücksichtigen, und prüfen, ob unter gleichen Bedingungen die gleichen Anpassungsformen vor- liegen oder ob verschiedene Anpassungen bei gleichen Lebensformen möglich sind. Sie muß sich also durchaus auf die Lebenserscheinungen der lebenden Tiere stützen, um per analogiam einen Rückschluß auf die fossilen Formen zie- hen zu können. Die erfolgreiche Durchführung dieses Programmes ist untrennbar von einer möglichst sorgfältigen morphologischen Untersuchung der fossilen unter stetem Vergleiche mit den lebenden Formen. Die Paläobiologie erscheint also aus der rein morphologischen Paläontologie und Osteologie herausgewachsen und bildet ihre organische Fortsetzung. Die neuartige Betrachtungsweise der fossilen Formen in ihren Beziehungen zum Milieu führte naturgemäß zu phylogenetischen Fragen, zunächst zu der Erörterung der Entstehungsgeschichte der Anpassungen. Beim Ausbau dieser Forschungsrichtung hat sich aber als ganz unerwartetes Ergebnis herausge- stellt, daß wir in der ethologischen Analyse ein neues Mittel gefunden haben, Aufgaben der Paläobiologie. Die Paläobiolo- gie ist im Wesen eine phylogene- tische Wissen- schaft. Neue Ziele der Biostratigraphie. 362 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie um einzelne dunkle Gebiete der Stammesgeschichte aufzuhellen, und daß wir schon jetzt einzelne Fragen lösen konnten, die bisher allen Erklärungsversuchen getrotzt haben. Von Paläontologen begründet und ausgebaut, ist sie von ihnen in neuerer Zeit sogar auf die phylogenetische Forschung an lebenden Formen übertragen worden und hat sich auch bei ihrer Anwendung auf rezente Typen als überaus erfolgreich erwiesen. Die ethologische Analyse hat in Fragen Klar- heit gebracht, die bisher weder durch die morphologische noch durch die em- bryologische Methode gelöst werden konnten. Die morphologische Methode hatte zunächst nur das Ziel, die fossilen und lebenden Formen zu unterscheiden, ihre Gegensätze und Ähnlichkeiten festzu- stellen und auf diese Weise die genetischen Beziehungen zu ermitteln. Die Pa- läobiologie geht tiefer; sie begnügt sich nicht mit der Frage, wodurch sich die Anpassungen unterscheiden, sondern fragt vor allen Dingen, wie sie entstanden sind und entstehen. Die embryologische Methode kann in diese Frage keine voll- ständige Klarheit bringen. Die Paläobiologie ist somit eine Wissenschaft, die sich nicht nur auf morphologische Untersuchungen beschränkt; sie ist ihrem innersten Wesen nach eine phylogenetische Wissenschaft. Wenn ich die Erörterung des wesentlichsten Interessenkreises und der Auf- gaben der Paläobiologie diesem Abschnitte vorbehalten habe, so ist dies da- durch begründet, daß die Paläobiologie erst am Anfange ihrer Entwicklung steht und daß noch nicht abzusehen ist, zu welchen Erfolgen sie führt und führen kann. Die Resultate, welche bis jetzt durch die ethologische Analyse erzielt worden sind, lassen vermuten, daß bei längerer Verfolgung dieser Methodik eine stattliche Reihe von bisher ungelösten Fragen der Beantwortung zugeführt werden kann. Es ist somit eine der wichtigsten Aufgaben der modernen Paläontologie, diese Gesichtspunkte zu vertiefen und die ethologische Analyse weiter auszu- bauen. Es wird nötig sein, mit Vorsicht vorzudringen und Schritt für Schritt vorzugehen. Die Geschichte aller Wissenschaften lehrt, daß bei zu unvorsich- tigem, raschem Vorstürmen schwere Fehler unvermeidlich sind, die dann früher oder später zu einer Reaktion führen müssen, und es ist ein Gebot der Vorsicht, nicht auf diesen Abweg zu geraten. Vor allem scheint das Eingreifen von Dilet- tanten in der nächsten Entwicklungsperiode der Paläobiologie gefährlich, und es wird für diese Fälle das ‚caveant consules‘‘ sehr notwendig sein, um nicht die ganze Richtung in weiteren Kreisen zu diskreditieren. Die Paläontologie hat aber außer diesen noch andere große Aufgaben zu erfüllen. Die Biostratigraphie hat zwar bereits eine hohe Stufe der Vollendung erreicht, aber es wird notwendig sein, neue Gesichtspunkte bei der stratigraphi- schen Darstellung von Faunen zu berücksichtigen. Es wird notwendig sein, eine Geschichte einzelner Faunen nicht nach rein chronologischen Gesichts- punkten zu entwerfen, sondern die faziellen Eigentümlichkeiten näher zu be- rücksichtigen, welche den Faunen den charakteristischen Stempel aufprägen. Es fehlen noch vergleichende, historische Darstellungen der Korallenfaunen und ihrer Elemente; es fehlt eine vergleichende Schilderung und Analyse der Strand- Ausblicke auf die weitere Entwicklung der Paläontologie 363 faunen, Seichtwasserfaunen, Schlammfaunen usw. aus den verschiedenen Zeiten der Erdgeschichte; was in dieser Richtung bis jetzt gearbeitet wurde, ist noch sehr wenig im Vergleiche zu den zahlreichen ungelösten Problemen, welche nach dem Stande der Wissenschaft schon heute lösbar sind. Hand in Hand mit diesen Untersuchungen wird eine sorgfältige biolo- gische Analyse der Faunen nach dem Muster jener gehen müssen, die Johan- nes Walther (I904) über die Fauna der Solnhofener Plattenkalke durchge- führt hat. An diese Aufgaben schließen sich Untersuchungen über die geographische Die Zoogeogra- Verbreitung der Tiere an. Hier ist verhältnismäßig viel vorgearbeitet worden; Be. vieles ist aber zu tun übrig, und immer wieder tauchen neue Probleme auf. ee Die systematische Forschung, die Beschreibung einzelner Faunen und Fau- Notwendigkeit nenelemente, vor allem aber die monographische Darstellung größerer Gruppen, wer muß nach wie vor eifrig gepflegt werden. Je mehr die eine oder andere Metho- dik oder Richtung in einer Wissenschaft in den Vordergrund tritt, desto sorg- fältiger muß darauf geachtet werden, daß die älteren Zweige nicht absterben. Eine Arbeitsgruppe ergänzt die andere, und namentlich die rein deskriptive Richtung ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen, da sie das Material umgrenzt und festlegt. Vor allem aber darf darauf nicht vergessen werden, von Zeit zu Zeit an Bedürfnis nach zusammenfassende Darstellungen der einzelnen Arbeitsgebiete in der Paläon- on tologie zu schreiten. Der rasche und bedeutende Aufschwung dieser Wissen- schaft bringt es zwar mit sich, daß die Lehrbücher schon im Momente ihres Er- scheinens veraltet sind, weil das Anwachsen des Tatsachenmaterials mit außer- ordentlicher Raschheit erfolgt; trotzdem behalten solche Enzyklopädien, wie wir sie Zittel verdanken, auch dann noch ihren Wert, wenn sie längst durch neue Tatsachen überholt sind. Der große Fortschritt der Paläontologie in den letzten 30 Jahren hängt größtenteils mit dem Erscheinen des Handbuches der Paläozoologie zusammen. Im Vergleiche mit anderen Wissenschaften ist der Werdegang der Paläon- tologie als Wissenschaft sehr kurz. Wenn wir an die Phantastenzeit zurückden- ken, in der sich noch Volksaberglaube mit gelehrten Betrachtungen so innig vermischte, daß von einer wissenschaftlichen Forschung keine Rede sein kann, und wenn wir erwägen, daß mit der Schaffung der ersten Grundlagen für den Ausbau der Paläontologie zu einer Wissenschaft kaum 150 Jahre verflossen sind, so muß man zugeben, daß sich die Entwicklung aus diesen Anfängen bis zum heutigen Stande der Paläontologie unter den übrigen biologischen Wissen- schaften überraschend schnell vollzogen hat. Auf die Forschungsgeschichte der Spezialgebiete konnten nur kurze Streiflichter geworfen werden; vielleicht ge- nügen sie aber, um zu zeigen, wie aus einer Petrefaktenkunde die nach zoologi- schen Gesichtspunkten forschende Paläontologie und bei weiterer organischer und selbständiger Entwicklung aus der Paläontologie die Paläobiologie hervor- gegangen ist. Eine lange Bahn ist zurückgelegt — eine noch viel längere liegt vor uns. Das Quellen- material der Paläozoologie. Der Erhaltungs- zustand der Bernstein- insekten. 364 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie II. Die Paläozoologie. 1. Das Quellenmaterial. Die Paläozoologie gibt kein vollständiges Bild von der fossilen Lebewelt. Nur einzelne Gruppen von Tieren sind es, deren Reste erhaltungsfähig sind, und nur diese können den Gegenstand einer wissen- schaftlichen Betrachtung bilden. Alle weichkörperigen Tiere gehen nach ihrem Tode vollständig dem Zerfalle entgegen und nur in äußerst seltenen Fällen können Quallen und andere weichkörperige Tiere entweder in schattenhaften Umrissen oder in körperlichen Ausgüssen erhalten bleiben. Nur Hartteile der Organismen sind fähig, der Verwesung zu trotzen und, umhüllt durch den schützenden Gesteinsmantel, ungeheure Zeiträume zu über- dauern. Man hat mitunter darauf hingewiesen, daß das zu Bernstein erhärtete fossile Baumharz der älteren Tertiärzeit die zartesten Insektenabdrücke ent- hält und daß wir sonach vielleicht noch da und dort Aussicht darauf hätten, Aufschluß über Tiere zu erhalten, die sonst rasch der Zerstörung verfallen. Aber dazu ist zu bemerken, daß der Kreis der auf diese Weise überlieferten Formen ungemein beschränkt ist und daß höchstens wieder Insekten aus älterer Zeit in dieser Form in irgendeinem unbekannten Winkel der Erde überliefert sein könnten. Der Körper selbst ist bei den Bernsteininsekten gänzlich zer- stört; was vorhanden ist, das ist ein Hohlraum, der an seinen Wänden mit einem weißen oder farbigen Staub überzogen ist; löst man den Bernstein auf, in der Hoffnung, das Tier freilegen zu können, so bleibt nichts übrig, als ein Häuflein Asche. Bei den im Kopalharz eingeschlossenen Insekten ist dieser Prozeß des gänzlichen Zerfalles zu Staub noch nicht eingetreten, da das Kopalharz aus weit jüngerer Zeit stammt, als der Bernstein des Samlandes. Der normale Vorgang des Fossilwerdens ist der, den wir stündlich an der Meeresküste verfolgen können. Tausende von lebenden und toten Konchylien werden an den Strand geworfen; die bei der lebenden Muschel fest geschlossenen Schalen klaffen nach dem Tode auseinander. Aasfresser eilen geschäftig zwischen den Leichen und den verendenden Meerestieren hin und her, zerknacken die Schalen der noch lebenden und vollenden das Zerstörungswerk des Meeres, dessen Brandung Millionen von Leichenteilen herumrollt, abreibt, zerbricht und endlich zu kleinen Splittern zermahlt. Hat einmal eine neue Woge die Schorre mit einer neuen Schlamm- oder Sandschicht überschüttet, so ist das Zerstörungswerk einstweilen aufgehalten. Die Hartteile der Organismen, also die Außenskelette oder Innenskelette, be- stehen in der Regel aus phosphorsaurem Kalk (Knochen), aus Kalkspat (z. B. Foraminiferen, Brachiopoden, Echinodermen), Aragonit (z. B. die Schnecken- gehäuse und die Mehrzahl der Muschelschalen), seltener aus amorpher Kiesel- säure (z. B. Radiolarien und Kieselschwämme), aus Silikaten (einige Radio- larien), Chitin (Insekten, Crustaceen), Horn (Alcyonarien, Antipatharien, Epi- dermalbildungen der Reptilien), Zellulose (Tunicaten) usf. Diese Hartteile trotzen der die Weichteile zerstörenden Verwesung und bleiben unter günstigen Umständen erhalten; die günstigsten Bedingungen sind Quellen der Paläozoologie 365 am Meeresstrande und am Meeresboden gegeben. Daher kommt es, daß unter den fossilen Tieren weitaus die Mehrzahl von marinen Formen eingenommen wird; Reste von Landtieren sind weit seltener. Da man echte Landbildungen erst aus der Steinkohlenformation kennt, ist es'nur einem besonders glücklichen Zufalle zu danken, daß auf einer zu Kalkstein erhärteten Platte aus dem Ufer- schlamm des oberdevonischen Meeres am Alleghany River in Pennsylvanien der Fährtenabdruck eines größeren Landwirbeltieres, des ältesten bisher be- kannten, erhalten blieb. Dies ist die von O. C. Marsh (1896) als Thinopus an- tiquus beschriebene Fährte. Meeresablagerungen kennt man aus allen Formationen; Landablagerungen ers treten im Vergleiche zu Gesteinen marinen Ursprungs ganz in den Hintergrund. ablagerungen. Man kennt Landbildungen in Form von Torfmooren und Waldsümpfen, die zu Kohlenlagern wurden; in den Absätzen der riesigen Landseen Nordamerikas aus der Jurazeit findet sich eine Fülle von landbewohnenden Wirbeltieren be- graben; Sumpfbildungen kennen wir weiter aus der Unterkreide (Wealdenfor- mation); da und dort sind in den Spaltenausfüllungen der verkarsteten Kalkge- biete Süddeutschlands, Frankreichs und der Schweiz Reste von Säugetieren aus der Tertiärzeit und Quartärzeit erhalten; an anderen Orten sind Schlamman- häufungen und Schotter von großen Flüssen die Lagerstätten von fossilen Land- tieren; imLöß, dem von Staubstürmen verwehten und angehäuften Hochwasser- schlamm der Eiszeit, im Pampaslehm und im Lehm der Karsthöhlen sind zahl- reiche Landtierreste eingeschlossen. Auch die vereinzelt erhaltenen Erdwachs- sümpfeGaliziens und Kaliforniens, die fossilen Schotts aus Frankreich (Gipse des Montmartre) und Südaustralien sind ergiebige Fundstellen fossiler Landwirbel- tiere. So haben wir also verschiedenen Faktoren die Erhaltungsmöglichkeit von Landtieren zu verdanken; in einigen Fällen, wie bei den Einschlüssen des sam- ländischen Bernsteins, sind sogar Einzelheiten der Organisation noch erkennbar, diein marinen Ablagerungen nur in den seltensten Fällen zu beobachten sind und nur das Plattenkalklager Bayerns wäre als eine Bildung hervorzuheben, in der sich Fossilien der oberen Jurazeit inbewunderungswürdigerWeise erhalten haben. Aus dieser Übersicht ergibt sich, daß im Gegensatz zu der weitaus günsti- geren Erhaltungsbedingungen für Fossilien in marinen Schichten verschiedene glückliche Umstände zusammenwirken mußten, um uns auch von der Land- fauna vergangener Zeiten einen freilich nur kleinen Ausschnitt zu überliefern. Trotz alledem ist die Zahl der fossilen Arten noch sehr klein, wenn wir be- Zahl der bisher denken, welche ungeheure Menge von lebenden Arten heute das Festland und nn die Meere bevölkert. Die Zahl aller bisher bekannten fossilen Tierarten dürfte, einer beiläufigen Schätzung nach, über 90000 betragen; die Insekten nehmen mit etwa 12000 Arten ungefähr den achten Teil ein; trotz der raschen Vermehrung . der Zahl, die in jedem Jahre einige hundert beträgt, ist die Zahl der fossilen Arten doch sehr gering, wenn wir bedenken, daß es sich um Restevon Lebewesen aus ungeheuren Zeiträumen handelt. Dieser Gegensatz hatschon Darwin dazu ge- führt, die Armut unserer paläontologischen Sammlungen zu betonen, und seit dieser Zeit ist die „Lückenhaftigkeit der paläontologischen Überlieferung‘ ein Ungleichwertig- keit des Quellen- materials der Paläozoologie. Zwischenformen oder „Missing links“. 366 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie beliebtes Schlagwort geworden. Bedenkt man, daß wir aus den Fährtensand- steinen der Triasformation von Massachusetts nur fünf Arten von Reptilien kennen, die durch Skelettreste vertreten sind, während die erhaltenen Reptilien- fährten dieser Sandsteine ungefähr 92 verschiedene Typen umfassen, die sich auf etwa 40 größere Gruppen, ‚Gattungen‘ verteilen, so müssen wir wohl zuge- stehen, daß die Kenntnisse von der Tierwelt der einzelnen Perioden noch immer sehr gering sind. Alles in allem repräsentiert aber eine Zahl von über 90000 fossilen Arten immerhin eine ganz beachtenswerte Menge von Formen, so daß wir sagen müssen, daß das Schlagwort von der Lückenhaftigkeit der paläonto- logischen Überlieferung heute doch nicht mehr dieselbe Berechtigung hat, wie im Jahre 1859. Viele fossile Formen sind schon heute in ihrem Skelettbaue ge- nauer bekannt, als so manche häufige lebende Art; das Untersuchungsmaterial der Reste des Höhlenbären ist beispielsweise weitaus größer als die Zahl der in den Museen vertretenen Skelettexemplare des braunen Bären, so daß eine um- fassende und eingehende Darstellung des Skelettbaues viel leichter am Höhlen- bären als am braunen Bären durchzuführen ist. Das Quellenmaterial der Paläozoologie ist also der Artenzahl nach bereits sehr bedeutend angewachsen, seiner morphologischen Bedeutung nach aber sehr ungleichwertig. Von großen Tiergruppen, wie von den Mollusken, liegen zwar Schalenreste in einer Zahl von vielen Millionen in den Sammlungen; aber gerade die Weichteile fehlen, die für eine systematische Unterscheidung der Mollusken viel wichtiger sind, als die Schalen oder Gehäuse. Dafür werden wir durch die Wirbeltierreste entschädigt. Das Skelett der Wirbeltiere bringt die wichtigsten Merkmale der gesamten Organisation klar zum Ausdruck und dieser Umstand ist es, der auf diesem Gebiete zuerst der Paläontologie ermöglicht hat, erfolg- reich an dem Ausbaue der Stammesgeschichte der Wirbeltiere mitzuarbeiten. Man hat wiederholt der Paläontologie die Berechtigung abzusprechen ver- sucht, in Fragen der genetischen Verknüpfung größerer Gruppen ein Wort mit- reden zu können, da wirkliche Zwischenformen nur in beschränkter Zahl vor- liegen. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig; die Zwischenformen oder ‚‚missing links‘ sind zwar noch wenig zahlreich, dafür aber von großer Wichtigkeit. Ihre Seltenheit hängt damit zusammen, daß die ‚‚Übergangsformen‘ als Begründer neuer Gruppen jedenfalls nicht so zahlreich waren, wie ihre Nachkommen und infolgedessen nur sehr selten Möglichkeiten zu ihrer Erhaltung vorhanden wa- ren. Um so wichtiger und erfreulicher ist die Tatsache, daß doch immerhin sehr wesentliche Aufschlüsse und Nachweise über die genetischen Zusammen- hänge einzelner größerer Gruppen erbracht werden konnten, wie durch den „Urvogel‘“ von Solnhofen, die berühmte Archaeopteryx, den Stammvater der Wale, Protocetus atavus, der die Cetaceen mit den Landraubtieren verbindet, Übergangsformen zwischen Stegocephalen und Reptilien, Ahnenformen der Ungulatenstämme usf. Würde Darwin heute die paläontologischen Sammlungen durchwandern, so würde er sein Urteil über die Armut dieser Sammlungen, das er 1859 berech- tigterweise fällte, zweifellos ändern. Die Entdeckung fossiler Tierreste 367 Das Quellenmaterial der Paläozoologie ist seit dieser Zeit enorm ange- Rasche Zunahme wachsen und wird ununterbrochen vermehrt. Diese Vermehrung nimmt rapid a zu, seitdem die von Akademien, Gesellschaften und Vereinen veranstalteten *!äozoologie. großen Sammelexpeditionen ein bereits ungeheuer zu nennendes Material zu- sammengebracht haben. Den weitaus größten Zuwachs haben die nordamerika- nischen Museen aufzuweisen, für die mit ganz anderen Geldmitteln aufgesam- melt werden kann, als sie den europäischen Museen in der Regel zur Verfügung stehen. Somit sehen wir, daß sich die noch vor 60 Jahren weitklaffenden Lücken der Geschichte der fossilen Tierwelt sichtilch zu schließen beginnen, und daß wir in absehbarer Zeit über eine ganz andere Grundlage für paläontologische Untersuchungen verfügen werden als heute. Unser Ziel muß darauf gerichtet sein, von jenen fossilen Arten, die bisher nur durch dürftige Überreste bekannt sind, möglichst vollständige Reste zu erhalten, um die Morphologie der bis jetzt bekannten und benannten Arten auf eine sichere Grundlage stellen zu können. 2. Die Entdeckung von Fossilresten. Die meisten der berühmten Die Entdeckung Fossilfunde sind nicht durch zielbewußtes Nachgraben, sondern durch zufällige zz Entdeckungen aufgeschlossen worden. Irgendwo kommt ein Stück Knochen, die Schale eines Ammoniten usw. durch die Denudation der Erdoberfläche zum Vorschein; vieles geht unbeachtet verloren, manches findet jedoch bei den Be- wohnern der betreffenden Gebiete oder bei Reisenden Beachtung und bildet so den Ausgangspunkt von Nachforschungen. Einen der interessantesten Fälle dieser Art bildet die Geschichte des berühmten Mammutfundes im Jahre 1799 an der Lenamündung. In diesem Jahre bemerkte ein tungusischer Fischer an der Küste des Eis- Entdeckung des meeres unweit der Lenamündung mitten unter Eisschollen einen Block von eigen- De tümlicher Gestalt, den er nicht zu deuten verstand. Im nächsten Jahre fand "Ü"duns 1799. er den Block ein wenig aufgetaut, aber noch war nicht zu erkennen, was sein Inhalt sein mochte. Am Ende des dritten Jahres kam die ganze Seite und ein Stoßzahn eines gewaltigen Tieres zum Vorschein. Im fünften Jahre nach der Entdeckung schmolz das Eis ungewöhnlich rasch ab und der gewaltige Kadaver wurde an die Küste auf eine Sandbank geschwemmt. Mitte März 1804 löste der Fischer die beiden Stoßzähne aus dem Kadaver, die einen beiläufigen Wert von 50 Rubeln besaßen. Bei dieser Gelegenheit entstand die erste Skizze von der Leiche, die nach St. Petersburg kam und später in einer Kopie an C. G. Cuvier gesandt wurde. Weitere zwei Jahre später, also erst sieben Jahre nach der Entdeckung, hörte der auf dem Wege durch Sibirien befindliche russische Gesandte für China Adams in Jakutsk von dieser Entdeckung und begab sich sofort an Ort und Stelle. Er fand den Kadaver bereits stark zerstört. Die Ein- heimischen hatten das Fleisch von den Knochen gelöst, um damit ihre Hunde zu füttern; Raubtiere waren von weither zu dem Kadaver gekommen und hat- ten das Zerstörungswerk fortgesetzt. Trotzdem war das Skelett mit Ausnahme eines Vorderfußes noch gut erhalten; ein Ohr zeigte noch den dichten Kranz Entdeckung der Fundstelle von Pikermi in Attika. Entdeckung von fossilen Tieren bei Erdbewe- gungen. 368 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie aus dunkelbraunen Haaren; auch der Augapfel war noch vorhanden. Das Gehirn war bereits ganz in Verwesung übergegangen, die Halsmähne noch gut erhalten. Zehn Mann hatten Mühe, die noch übrigen Reste von der Stelle zu schaffen. Die Stoßzähne maßen neun Fuß längs ihrer Krümmung; der Schädel ohne Zähne wog 400 Pfund. Der Zar erwarb die Reste um 8000 Rubel für die Peters- burger Akademie. Auch seither sind die Funde fossiler Mammutkadaver im sibirischen Land- eis immer nur zufällig gemacht worden. In der Regel werden die Einheimischen auf den Fund eines solchen Kadavers erst dadurch aufmerksam, daß von weither die Wölfe und Bären zusammenströmen, um den auftauenden Kadaver zu zer- reißen, dessen Fleischteile trotz seiner Lagerung im Eise seit mehr als 30000 Jahren noch gut erhalten sind. Häufig haben ausgewitterte Versteinerunger in Wasserrissen, an Felswän- den, Steilufern der Flüsse usw. die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. So ist eine der berühmtesten Fundstellen fossiler Knochen, das Tälchen des Wild- baches Megalorhevma am Südabfall des Pentelikon in Attika, ganz zufällig von einem bayrischen Soldaten entdeckt worden, der im Bachbette unweit des Meierhofes Pikermi einzelne Knochen fand. In den Markröhren der Knochen hatte er glänzende Kalkspatkristalle gesehen, die er für Diamanten hielt; er brachte eine Anzahl von diesen Knochen nach München, wo Professor A.Wag- ner mit großem Erstaunen unter den Knochenresten die Schnauze eines fossilen Affen erkannte. Dieser Fund erregte ungeheures Aufsehen und war die unmittel- bare Veranlassung dazu, diese Fundstelle auszubeuten, die trotz wiederholter Ausgrabungen noch lange nicht erschöpft ist. Ebenso haben zufällige Funde von Versteinerungen im Geschiebe von Wildbächen oder am Fuße von Felswänden wiederholt Veranlassung zu Nach- grabungen an solchen Stellen gegeben. Eine weitere Gelegenheit zu Fossilfunden haben Erdbewegungen gegeben, die entweder zufällig eintraten oder durch verschiedene Bauten veranlaßt wor- den sind. Ein solcher Zufallsfund war die Entdeckung des ‚Luzerner Riesen‘, der 1557 unter einer von einem Sturme entwurzelten Eiche zum Vorschein kam; sehr häufig hat die Anlage von Befestigungsgräben und Schanzwerken zur Aufdeckung fossiler Reste geführt. Der berühmte ‚Kremser Riese‘ wurde 1645 gefunden, als die Schweden auf dem Rückzuge vor den kaiserlichen Trup- pen die Stadt Krems gegen Norden und Osten befestigten; die reichen Fossil- funde von Antwerpen, die in ganzen Wagenladungen an das Museum in Brüssel geschafft worden sind, wurden in den Jahren 1861— 1863 entdeckt, als die For- tifikationsgräben ausgehoben wurden, und zwar ist namentlich der Festungs- graben beim Fort Nr.4 (‚‚Vieux Dieu‘) an der Stelle, wo heute die Eisenbahn- linie nach Brüssel die Festungslinie durchbricht, eine fast unerschöpfliche Fund- grube gewesen. Auch die Gräben bei den Forts Nr.5 (Edeghem), Nr. 6 (Wil- ryck) und Nr. 8 (Hoboken) sind besonders ergiebig gewesen. Schon viel früher waren-bei Erdaushebungen in Antwerpen Reste von Walen gefunden worden, die zu der Zeit der ,‚Gigantomachien‘‘ als Riesenknochen beschrieben wurden; Entdeckung fossiler Tierreste 369 ich möchte es nicht für unwahrscheinlich halten, daß auch die Sage vom Riesen Antigonus, dem Salvius Brabo die Hand abgeschnitten haben soll, auf die Funde solcher Knochen zurückgeht. Die Volksetymologie erklärte den Namen Ant- werpen aus „Hand werpen‘ und erfand die Sage, daß der Riese Antigonus an der Stelle des heutigen Antwerpen lebte und Schiffern, die ihm den Durchfahrts- zoll verweigerten, eine Hand abschnitt und in die Schelde warf. Ebenso wie Fortifikationsanlagen boten auch Kanalbauten zu allen Zeiten Gelegenheit zu Knochenfunden. Einer der reichsten Funde dieser Art ist I9IO in Belgien gelegentlich des Aushubs für einen Kanal durch Baggermaschinen gemacht worden, ein Fund, der eiszeitliche Säugetierreste in prächtiger Erhal- tung und gewaltigen Mengen umfaßt. Auch diesmal kamen die Reste karren- weise in das Museum von Brüssel und werden, aufgestellt, eine seiner schönsten Zierden bilden. Wiederholt sind in Belgien bei Kanalbauten im Gebiete der tertiären Bildungen wertvolle Funde gemacht worden. Grundaushebungen für Gebäude waren schon seit alter Zeit Veranlassun- gen zu kleineren oder größeren Funden, meist von Knochenresten tertiärer und quartärer Säugetiere. Auch bei Eisenbahnbauten sind wiederholt wertvolle Funde von fossilen Resten gemacht worden. Weil aber diese Erdbewegungen sich vorwiegend in ebenem oder schwach hügeligem Terrain bewegen, das meist aus tertiären oder quartären Schichten gebildet ist, so sind es fast immer nur die Knochen jün- gerer Säugetiere und Konchylien, die bei diesen Gelegenheiten zum Vorscheine kommen. Das gleiche gilt auch für Brunnengrabungen, die übrigens nur selten wertvollere Reste geliefert haben, wie aus der Art der Grabung verständlich ist. Weitaus die meisten aller Fossilfunde sind bei industriellen Betrieben ge- Entdeckung fossiler Reste wonnen worden und sie bilden noch heute die Mehrzahl der Funde, die in unsere bei industriellen Sammlungen gelangen. An erster Stelle stehen Steinbrüche. Die unschätz- baren Reste von Wirbeltieren aus den Plattenkalken Bayerns wurden und wer- den in den Steinbrüchen gewonnen, in denen die lithographischen Schiefer ge- brochen werden. Die Funde sind in der letzten Zeit viel seltener geworden, da die Betriebe infolge der Entwicklung der modernen Reproduktionstechnik wie Autotypie, Lichtdruck usw., nicht mehr so rentabel sind wie früher und lang- sam zurückgehen. Die eigentliche Blütezeit der Steinbrüche auf lithographische Schiefer setzt mit der Entdeckung der „lithographischen Eigenschaften“ der feinkörnigen Plattenkalke durch den Münchner Senefelder im Jahre 1793 ein, die zu reger Abbautätigkeit führte. Schon im 17. und 18. Jahrhundert waren die Brüche im Betrieb, doch wur- den damals nur Bausteine abgebaut; in einer Urkunde vom Jahre 1674 regelte der Fürstbischof von Eichstädt in Franken den Steinbruchsbetrieb. Die Brüche von Solnhofen wurden 1738 entdeckt, und schon kurze Zeit danach gelangten die schönen Funde von Krebsen und Fischen usw. in die verschiedenen Rari- tätenkabinette und Sammlungen, so daß schon 1755 Knorr eine Reihe von fossilen Krebsen aus Solnhofen beschreiben konnte. Seitdem die Nachfrage nach Versteinerungen gestiegen ist und die Besitzer K.d.G.IlLıv, Bd4 Abstammungslehre etc 24 Betrieben, Die Steinbrüche in den Platten- kalken Bayerns. Die Steinbrüche in den Liasschiefern Schwabens. Die Steinbrüche des Petersberges bei Maastricht. 370 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie der Steinbrüche ebensowohl wie die Arbeiter den Wert der fossilen Reste kennen gelernt haben, geht wohl kein Stück mehr verloren, aber die Steinbrüche gehen zurück und es ist sehr fraglich, ob wieder eine so erfolgreiche Fundperiode wie im 19. Jahrhundert für die schönen Reste aus den Plattenkalken wiederkehrt. Berühmt und seit alter Zeit im Betriebe sind die Steinbrüche in den schwar- zen Liasschiefern von Boll und Holzmaden in Württemberg. In geradezu un- gcheuren Mengen füllen die Reste von großen Wirbeltieren und kleinen niederen Tieren die schwarzen Schiefer, die ölgetränkt sind. Schon im Jahre 1548 be- richtet der Arzt Johannes Bauhin von einem Brande des Schieferlagers von Boll und erzählt, daß dabei das Bitumen aus dem Boden emporquoll. Früher ist es als Schieferöl auf dem Wege trockener Destillation gewonnen worden; daß wir heute noch in Holzmaden eine der ergiebigsten Fundstellen fossiler Reptilien besitzen, hängt damit zusammen, daß die großen, ölgetränkten Schie- ferplatten weite Verwendung als Verkleidungsplatten für Anstandsorte finden. Diese beiden Beispiele werfen ein Streiflicht auf die gegenseitigen Bezie- hungen zwischen den verschiedenen Wegen der Kultur und ihre weit verzweig- ten Zusammenhänge. Die Zementindustrie hat bis heute nicht viel zu einer Vermehrung des Quellenmaterials der Paläozoologie beigetragen. Die meisten Brüche in Ze- mentmergeln sind fossilienarm und nur in wenigen wie z. B. in Beocin am Nord- abhange der Fruska Gora in Slawonien werden Fossilreste häufiger gefunden. Wertvolle Funde verdanken wir dem Steinbruchsbetrieb in der weißen Schreibkreide Hollands und Belgiens. Hier ist namentlich der Petersberg bei Maastricht zu nennen, in welchem ein wahres Labyrinth unterirdischer Gänge besteht, die eine Länge von über sechs Stunden erreichen und schon in vor- römische Zeit zurückreichen; die großen Galerien sollen römischen Ursprungs sein. Durch Katakomben des 12., 13. und 14. Jahrhunderts gelangt man in die Galerien des ı5. Jahrhunderts mit flachen Decken. In den Läufen, die im 18. Jahrhundert ausgebrochen wurden, fand sich im Jahre 1780 ein Rest, der das höchste Aufsehen in der wissenschaftlichen Welt erregte: ein Schädel eines meeresbewohnenden, riesigen Reptils der Oberkreide, das dem Eidechsen- stamme entsprossen ist. Seither ist diese Gruppe durch zahlreiche Funde aus Belgien und Holland, vereinzelte Reste aus Rußland, namentlich aber durch die nordamerikanischen Funde sehr genau bekannt geworden. Da aber die Ge- schichte des ersten Fundes, von dem wir nähere Kenntnis haben, nicht ohne allgemeines Interesse ist, mag sie hier mitgeteilt werden. Über Funde aus älterer Zeit, die gewiß gemacht worden sind, sind uns keine Nachrichten überliefert worden. Wir wissen erst aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwas Näheres. Um das Jahr 1766 begann der Offizier Drouin mit Aufsammlungen von Knochenresten in den Petersberger Galerien, die an das Teylersche Museum nach Haarlem gelangten. Der Garnisonchirurg Hofmann setzte diese Aufsammlungen fort; nach seinem 1782 erfolgten Tode erwarb Peter Camper diese Sammlung und überließ einen Teil derselben dem britischen Museum in London. Die Entdeckungsgeschichte des Mosasaurus Hofmanni 373 Das wertvollste Stück der Hofmannschen Sammlung bestand aus einem nr ae: erößeren Schädelfragment eines Sauriers mit wohlerhaltenen bezahnten Kiefer- Hofmanni. teilen. Hofmann hatte 1780 das Stück mit vieler Mühe auf seine Kosten aus- meißeln lassen. Der Fund erregte großes Aufsehen; da erwachte der Neid des Steinbruchsbesitzers, des Pfarrers Godin. Er klagte Hofmann auf Heraus- gabe des Schädels; es kam zu einem Prozesse und das Gericht sprach den Schädel dem Kläger zu. ‚Alsim Jahre 1795‘, erzählt OÖ. Fraas, ‚die Truppen der französischen Republik das Fort St. Pierre bombardierten, befahl der Gene- Fig.8. Schädel des Mosasaurus Hofmanni Cuv., aus der obersten Kreide des Petersberges bei Maastricht, stark verkleinert. Gefunden 17380 durch Hofmann; seit 1795 im Jardin des Plantes in Paris. Nach C.G.CuvIEr 1824. ral, der um den wissenschaftlichen Schatz im Hause des Kanonikus wußte, das- selbe zu schonen. Dieser, nicht minder um seinen Schatz besorgt, als der Gene- ral, und wenig erbaut von dessen rücksichtsvoller Aufmerksamkeit, ließ es bei Nacht in der Stadt verstecken und hoffte so, nach Übergabe des Platzes sein Stück zu retten. Vergeblich! Der Volksrepräsentant Freicine verstand hinter das Geheimnis des Geistlichen zu kommen und ließ öffentlich den zweiten Ent- deckern des Sauriers 600 Flaschen Wein zusichern. Das wirkte unwidersteh- lich. Schon am folgenden Morgen brachten 12 Grenadiere im Triumph das Stück, um ihren Lohn zu empfangen. Seither ist dasselbe im Jardin des Plantes in Paris und Gegenstand der eingehendsten Untersuchungen der Gelehrten, namentlich Cuviers, der auch einen Akt der Gerechtigkeit übte, daß er den Namen des armen Hofmann der Vergessenheit entriß.‘ Peter Camper hatte einen schon früher entdeckten Kiefer der Drouin- schen Sammlung, der heute noch im Teylerschen Museum liegt, als Kiefer- stück eines Pottwals beschrieben. Barthelemy Faujas de Saint-Fond (1742— 1819) hatte daran gezweifelt, und er war es, der als ‚‚commissaire pour les sciences dans la Belgique, A la suite de l’arm&e du Nord‘ die ,„Erwerbung‘“ des Schädels für den Jardin des Plantes veranlaßt hatte. Die Geschichte dieses 24” Mangel von Staatsgesetzen über die Ab- lieferung von Fossilfunden an öffentliche Sammlungen. Verschiedene industrielle Be- triebe, bei denen Fossilfunde ent- deckt werden. a2 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Fundes erzählt er in seiner großen Monographie des Petersberges, die in Paris 1799 erschien. Die Beispiele sind überaus zahlreich, welche zeigen, daß Steinbruchsbe- triebe zu industriellen Zwecken Gelegenheit und Veranlassung zu Fossilfunden geben. Daß wir über die sehr verstreut in den marinen Miozänbildungen auf- tretenden Wirbeltierreste verhältnismäßig gut unterrichtet sind, verdanken wir nur der regen Steinbruchstätigkeit. Leider gehen noch immer viele wertvolle Objekte dadurch verloren, daß keine Staatsgesetze über die Ablieferung der Funde an öffentliche Sammlungen bestehen und daher die Objekte in die Hände von sammelnden Schülern gelangen, weit verschleppt werden und eti- kettenlos in irgendeiner Privatsammlung oder einer Volksschule verstauben, zerbröckeln und zugrunde gehen. Viele wertvolle Wirbeltierfunde auf öster- reichischem Boden sind auf diese Weise verloren gegangen. Wichtige Fundquellen sind außer den Steinbrüchen die Sand- und Schot- tergruben, Ziegeleien und Gipsgruben. Auch in Bohnerzwäschen der schwäbi- schen Alb und in der Schweiz, in den Phosphoritgruben des Quercy in Frank- reich, den Diamantseifen Südafrikas, den Erdwachsgruben von Kalifornien und Galizien usf. sind wiederholt wertvolle Fossilfunde gemacht worden. Eine sehr wichtige Fossilquelle sind Kohlengruben. Vorwiegend sind es Pflanzenreste, die im Hangenden und Liegenden der Flöze gesammelt werden können; aber an vielen Stellen ist die Steinkohle oder Braunkohle selbst das Lager der Versteinerungen. Dem Abbau von Kohlenflözen verdanken wir die wichtigsten Aufschlüsse über die ältesten paläozoischen Landtiere, wie Wirbel- tiere, Insekten, Spinnen usw. In jüngeren Kohlenbildungen sind wiederholt Reste großer Schweine, Tapire, Nashörner, Proboscidier usw. gefunden worden; unsere Kenntnisse von der reichen Säugetierfauna von Göriach, Pyrimont, _ Cadibona usw. stützt sich ausschließlich auf den Abbau der betreffenden Koh- lengruben. Da und dort haben Abbaue auf andere Minerale wie Blei oder Kupfer wich- tige Aufschlüsse über fossile Faunen gebracht. Zu den wichtigsten Fundstellen dieser Art gehören die Kupfergruben im Harzgebiete Deutschlands. Hier sind auch die Bezeichnungen entstanden, die vom Bergwerksbetrieb auf die Geo- logie übertragen wurden; noch heute spricht man vom Zechstein als dem Ge- stein, in welchem der Bergmann seine ‚Zeche‘ anlegte, das Grubengebäude, von dem aus die Strecken in den Berg getrieben werden. Unter dem Zechstein zieht sich in Thüringen und Hessen das berühmte Kupferschieferflöz hin, das Lager der berühmten Fischreste; unter ihm liegt rotes „taubes‘‘ oder ‚‚totes‘ Gestein, welchem der Kupfergehalt fehlt; das ist das ‚„Rottotliegende‘‘ oder ‚‚Totliegende“. Wir sehen hier, daß vom Bergwerksbetrieb nicht nur die Palä- ontologie neue Zufuhr von Material erhält, sondern daß auch aus den alten Be- trieben mit ihren charakteristischen Lagerungsverhältnissen die Lokalbezeich- nungen schon in früher Zeit in die wissenschaftliche Literatur übernommen worden sind. In der Mehrzahl der Fälle spielt das Sammeln der Fossilien bei diesen indu- Gewerbsmäßiges Sammeln fossiler Tierreste 373 striellen Betrieben nur eine Nebenrolle. In einzelnen Fällen aber hat die ge- steigerte Nachfrage nach Fossilfunden die Eigentümer zu der Erkenntnis ge- führt, daß die Fossilien selbst als wertvolle Abbauobjekte zu betrachten sind. Auf diese Weise ist es stellenweise geradezu zu einer gewerbsmäßigen Aus- beutung der Versteinerungen gekommen, welche für die Eigentümer der be- treffenden Betriebe in vielen Fällen eine hohe Einnahmequelle bildet. 3. Die gewerbsmäßige Ausbeutung von Lagern fossiler Tier- reste. An vielen Stellen liegen die Fossilreste in solchen Mengen aufgehäuft, daß sie zu verschiedenen Zwecken mit Rücksicht auf ihren industriellen Wert abgebaut werden. Beispiele sind die Bergbaue auf Koprolithen in England, die Phosphoritgruben des Quercy in Frankreich, die Gruben auf Knochen eiszeit- licher Säugetiere auf den sibirischen Inseln und die Knochengruben in China, wo die fossilen Reste als Heilmittel sehr gesucht sind und verhältnismäßig hoch im Preise stehen. Gelegentlich sind auch die in manchen Höhlen in Massen bei- sammenliegenden Knochen von eiszeitlichen Säugetieren von gewinnsüchtigen Spekulanten abgebaut und an Fabriken verkauft worden. Erst in der letzten Zeit hat der Verfasser Kenntnis von einem ausgedehnten, überaus reichhaltigen Knochenlager in Asien erhalten, das zum Zweck der Phosphorgewinnung ab- gebaut werden soll, doch steht zu hoffen, daß dieses Projekt nicht ausgeführt wird, sondern die Reste für unsere wissenschaftlichen Sammlungen gerettet werden können. Vereinzelt ist der Abbau auf Mammutzähne in größerem Maßstabe betrieben worden; dies war namentlich auf den neusibirischen Inseln zwischen der Lenamündung und der Mündung der Indigirka der Fall. Auf den dem asiatischen Festland vorgelagerten Inseln unter einer Breite von 75° liegen die Mammutskelette in solchen Haufen beisammen, daß die Elfen- beinhändler lange Zeit hindurch die gefahrvollen Expeditionen über das ge- frorene Meer nicht scheuten. M. Neumayr gab an, daß etwa ein Drittel alles in den Handel gebrachten Elfenbeins von sibirischen Mammutzähnen stammt. Dieses Verhältnis hat sich in der letzten Zeit verschoben, da die Nachgrabungen auf Mammutzähne gegenwärtig nicht mehr so rege sind wie in früherer Zeit. Aus fossilen Elefantenzähnen ist auch wiederholt künstlicher Türkis dadurch hergestellt worden, daß der ohnedies schon zu bläulicher Farbe neigende Zahn- schmelz der Mastodonzähne durch Glühen in eine schön türkisblaue Farbe über- geht. So hat sich eine eigene Industrie zur Herstellung falscher Türkise ent- wickelt, die an die Funde von fossilen Mastodonzähnen geknüpft ist. Solche Fabriken sind in Simorre bei Sansans in Frankreich gegründet worden, und man nennt die falschen Türkise die Zahntürkise von Simorre. Sie lassen sich von den echten leicht durch ihre weit geringere Härte unterscheiden. Während bei den bisher aufgezählten gewerbsmäßigen Abbauen von Fossil- lagern die Objekte zerstört werden, ist dies bei der zweiten Gruppe gewerbs- mäßiger Abbaue von Fossilien nicht der Fall. An zahlreichen Orten, wo größere Aufschlüsse in fossilführenden Schichten bestehen, sind sowohl die Arbeiter als die Eigentümer der industriellen Betriebe auf den Sammelwert der Objekte auf- merksam geworden. Schon im 18. Jahrhundert bildeten die Versteinerungen Die gewerbs- mäßige Aus- beutung von Lagern fossiler Tierreste, Der Abbau auf Mammu tzähne in Sibirien, Künstlicher Türkis. Verkaufspreise einzelner Fossil- reste aus den Plattenkalken Bayerns. Die Fossilfunde in den Lias- schiefern Schwabens. 374 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie aus den Plattenkalken Bayerns sehr gesuchte Raritäten, und schon seit dieser Zeit legen die Arbeiter sorgfältig jeden Fund zur Seite. Seitdem aber die Stein- bruchsbesitzer den Verkauf der Fossilien nicht mehr den Arbeitern überlassen, sondern als wesentliche Einnahmequelle ihrer Betriebe betrachten, muß man die Angaben von dem Fundorte der einzelnen Stücke sehr vorsichtig prüfen. Da viele Steinbruchsbesitzer des Plattenkalkgebietes heute verlangen, daß alle gefundenen Fossilien von den Arbeitern an sie abgeliefert werden, bringen die Arbeiter manches kostbare Stück heimlich zur Seite, tauschen es aus und geben es an Unterhändler weiter, die nun einen anderen Fundort angeben, um gericht- lichen Verfolgungen aus dem Wege zu gehen. So kommen viele Funde von Mörnsheim nach Eichstädt und Funde von Zandt nach Solnhofen und kommen mit den falschen Fundortsangaben Eichstädt oder Solnhofen in den Handel. Einzelne Exemplare aus diesen Plattenkalken sind um enorme Preise ver- kauft worden. Im Jahre 1862 wurde das erste Exemplar des Urvogels in Soln- hofen gefunden; schon 1863 wanderte das kostbare Stück um den Preis von 600 £ nach London. Im Jahre 1877 wurde bei Eichstädt das zweite weit vollstän- digere Skelett gefunden und durch Vermittlung von Siemens für das paläon- tologische Museum der Berliner Universität um 20000 Mark angekauft, nach- dem zuerst ein Preis von 35000 Mark begehrt worden war. Allerdings handelte es sich bei diesen Funden um Stücke von unschätzbarem wissenschaftlichem Wert; immerhin mögen aber die angeführten Zahlen begründen, warum die Steinbruchsbesitzer den Verkauf von Plattenkalkpetrefakten heute bereits als eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle betrachten. In neuerer Zeit sind die schon seit langem bekannten Schieferbrüche von Holzmaden eine der wertvollsten Fossilquellen für unsere Sammlungen gewor- den. Seitdem der Besitzer, Herr Bernhard Hauff in Holzmaden, eine eigene Präparationsmethode erfunden hat, um die Hautbekleidung der Ichthyosaurier und Haifische aus dem Schiefer freizubekommen, ist dieser Fundplatz zu hoher Bedeutung für die Paläozoologie geworden. Die oberflächlich präparierten Skelette werden mit Wasser überschüttet; beim Verdunsten desselben heben sich die erhaltenen Hautpartien vom Ge- steine selbst unter der schützenden dünnen Schieferhülle scharf durch verschie- deneFärbungabundwerdendanndurch die Meisterhand Hauffsselbstfreigelegt. So ist es Hauff gelungen, schon eine ansehnliche Zahl von Hautexemplaren fossiler Ichthyosaurier zu präparieren, die heute noch sehr hoch im Preise stehen und einen Durchschnittswert von 10000 Mark besitzen. Indessen sind die Ich- thyosaurierreste in diesen Schiefern so häufig, daß schlechtere oder unvollstän- dige Exemplare schon zu sehr billigen Preisen zu erstehen sind. Es gibt heute keine größere paläontologische Sammlung mehr, der ein Ichthyosaurus aus den Liasschiefern Württembergs fehlt. Wie der Betrieb und der Verkauf der Saurier in alter Zeit durchgeführt wurde, erfahren wir aus einer anziehenden Schilderung von OÖ. Fraas. „In Schwaben‘, schreibt O. Fraas 1866, ‚sind es die Orte Holzmaden, Zell, Ohmden, Isingen, Boll, darin seit Jahrhunderten die Plattenindustrie ge- Gewerbsmäßiges Sammeln fossiler Tierreste 975 trieben wird, und wo in offenen 15—20 Fuß tiefen Gruben die Posidonien- schiefer ausgebrochen werden. Der Name von Boll, des alten schon von Bau- hin verherrlichten Badeortes, ist dem Auslande der bekannteste. Auf einer Quadratrute Oberfläche liegt durchschnittlich ein ‚‚Tierle‘‘, wie der Arbeiter die Saurier nennt; bald liegt es im ‚‚wilden‘‘ Schiefer, bald im ‚‚Fleins‘“, bald im „Stein“. Da liegen sie in ihren vieltausendjährigen Steinsärgen, von Schiefer dicht umhüllt, nur die rohen Umrisse erkennt man gleich den in Leinwand ge- wickelten Mumien. Man sieht den Kopf durchblicken, die Wirbelsäule, die Lage der Extremitäten, die ganze Länge des Tieres und raschen Blickes erkennt an dieser Form schon der Arbeiter, ob’s ein Tier ist mit Flossen oder mit ‚,‚Pratzen‘. Ist doch ein Pratzentier ums Dreifache mehr wert, als eines mit Flossen. Aber nicht bloß danach richtet sich der Preis: Das wichtigste ist, wie und wo das Tier liegt, ob im festen dauerhaften Fleins, was das erwünschteste ist, ob es Schwe- felkies führt, was leider die schönsten Stücke oft unbrauchbar macht und na- mentlich, ob am Stücke nichts fehlt, wenn die Platte durch das Schrämmen oder durch natürliche Abgänge entzweiging. Bis zu 100 fl. wird für ein vollstän- diges Tier bezahlt. Der Arbeiter tut keinen Schritt zum Verkaufe des Fundes, er stellt ihn ruhig zur Seite, weiß er doch, daß fast von Woche zu Woche die Käufer kommen, die Unterhändler der Kabinette und wissenschaftlichen Samm- lungen. Kein Pferdehandel wird je mit solchem Eifer abgeschlossen, mit solchem Aufgebot aller Beredsamkeit und Entfaltung aller Künste und Kniffe als der Saurierhandel, und keiner erfordert neben genauer Kenntnis der Stücke so viel Schlauheit, um nicht, da ohnehin die Katze im Sack gekauft wird, zu Schaden zu kommen.“ Schon F. Quenstedt berichtet, wie an verschiedenen Stellen Schwabens die findigen Bauern den Wert der Fossilien als Verkaufsobjekte erfaßten und auf eigene Faust zu graben begannen. Sie machten keine schlechten Geschäfte dabei; langsam kam aber dieser Erwerbszweig wieder in Verfall. Endlich er- warb das Petrefaktenkontor B. Stürtz in Bonn einige Brüche, so den Bruch von Nusplingen in Schwaben, und baute diesen Schieferbruch ab. Bei diesen Nachgrabungen kamen Skelette von Fischen und Reptilien in prachtvoller Er- haltung zum Vorschein. So steht zu hoffen, daß auch bei einem weiteren Nach- lassen des Abbaues der lithographischen Schiefer die reichen Fossilquellen die- ses Gebietes nicht gänzlich versiegen werden; freilich ist zu erwägen, daß die wertvollen Wirbeltierreste der bayrischen Plattenkalke zu den größten Selten- heiten gehören und daß die Plattenkalke überhaupt als sehr fossilarm zu be- zeichnen sind. Nur dem Umstande, daß seit alter Zeit auf jeden Fund in diesem Gesteine sorgfältig geachtet wird, verdanken wir die Tatsache, daß eine relativ ungeheure Zahl von Fossilresten der lithographischen Schiefer in unsere Samm- lungen gelangt ist. Die Erkenntnis, daß aus Versteinerungen Kapital zu schlagen ist, kam auch so manchen anderen Steinbruchbesitzern und Arbeitern. In einzelnen Gruben, wie in den Ziegeleien, in denen die miozänen Pleurotomentone des Wiener Bek- kens in Baden, Soos und Vöslau abgebaut werden, gibt es förmliche Petrefak- Das gewerbs- mäßige Sammeln von Fossilresten in Schwaben, Österreich usw. Sammel- expeditionen. 376 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie tenkartelle unter den Arbeitern, welche die Funde durch Schlämmen des Tones gewinnen und ruhig auf den Käufer warten. Nur in Steinbrüchen, die weiter ab vom Verkehre und in weiterer Entfernung von der Großstadt mit den zahl- reichen sammelfreudigen Schülern und Dilettanten liegen, kann man noch wie in alter Zeit um geringes Geld gute Stücke erwerben. Geradezu verhängnisvoll ist für die zentralen Sammlungen die Einrichtung von kleinstädtischen Regio- nalsammlungen geworden, von deren Beziehungen zur Wissenschaft noch spä- ter die Rede sein wird. Mit der Zunahme des Interesses an Fossilresten in weiteren Kreisen hat sich ein ganz neuer Erwerbszweig ausgebildet, der berufsmäßige Petrefakten- sammler. Schon in den fünfziger Jahren des IQ. Jahrhunderts gab es zahlreiche Sammler in den so überaus fossilreichen Juragebieten Schwabens. Sie haben der Wissenschaft wiederholt große Dienste geleistet. Ich möchte einige dieser verdienten Sammler besonders hervorheben; die Entdeckung der reichen Trias- flora von Lunz in Niederösterreich, die leider noch immer nicht monographisch bearbeitet worden ist, verdanken wir dem regen Sammeleifer des Bergverwal- ters J. Haberfelner in Lunz; viele der wertvollsten Wirbeltierreste aus dem Eozän Ägyptens hat der berühmte Sammler Markgraf in Kairo ausgegraben; der berühmteste „Fossil Hunter‘ der Gegenwart ist aber wohl Charles H. Sternbergin Lawrence, Kansas, dem die amerikanischen, englischen und deut- schens Museen den Besitz von prächtigen Wirbeltierskeletten, fossilen Pflanzen, Crinoiden usw. verdanken. Das Büchlein Sternbergs ‚The Life of a Fossil Hunter‘ (1909), das sich wie ein fesselnder Roman liest, wirft Streiflichter auf die unsäglichen Mühen, unter denen dieser selbstlose und rastlos tätige Sammler unter den schwierigsten Verhältnissen an der Aufschließung jener wertvollen Funde arbeitete, welche zu den schönsten Zierden unserer Sammlungen gehören. 4. Wissenschaftliche Sammelexpeditionen. Die Zunahme des wis- senschaftlichen Interesses an Fossilfunden im 19. Jahrhundert hat schon früh- zeitig dazu geführt, daß einzelne Forscher mit Unterstützung von Akademien, gelehrten Gesellschaften und Museen ausgesandt wurden, um entweder einzelne wertvolle Objekte für die Sammlungen zu erwerben oder Aufsammlungen in größerem Stile durchzuführen, oder um über geschlossene fossile Faunen nähere Kenntnis zu erhalten. Die für solche Zwecke bewilligten Geldmittel sind in früheren Jahren recht gering gewesen. Erst seit ungefähr 40 Jahren hat man, zuerst in den Vereinigten Staaten, begonnen, größere Expeditionen auszurüsten und bedeutendere Geld- mittel für die Ausgrabung von Fossilien zu opfern. O. C. Marsh ist hierin vor- angegangen; er hat fast sein ganzes sehr beträchtliches Vermögen für Ausgra- bungen geopfert und ist als verarmter Mann gestorben. Die ungeheuren Er- folge, die sich an seine Grabungen geknüpft haben, waren die Veranlassung, ihm auf diesem Wege zu folgen, und seither ist eine große Zahl von Sammelexpedi- tionen an die verschiedensten Fundorte ausgesandt worden, von denen die mei- sten bedeutende Erfolge erzielten. Die großen Museen der Vereinigten Staaten senden bereits regelmäßig Expeditionen zur Ausgrabung fossiler Wirbeltiere Sammelexpeditionen 3ur7 aus; die Spenden des bekannten Millionärs Carnegie haben dem Museum von Pittsburgh in Pennsylvanien die Durchführung großzügiger Aufsammlungen er- möglicht, hinter denen jedoch die Expeditionen des American Museums of Na- tural History in New York nicht zurückstehen. Das Arbeitsgebiet der amerika- nischen Forschungsinstitute und Museen waren vorwiegend die Central Great Plains der Vereinigten Staaten, namentlich die Bad Lands, die Fossilfundorte im Perm von Texas, in den Jurabildungenvon WyomingundColorado, inden Kreide- gebieten von Kansas, Laramie usw., aber einzelne Expeditionen wie die der Princeton University sind weiter hinausgegangen und haben sich Aufsammlun- gen in Argentinien als Ziel gesteckt, die zu schr erfolgreichen Ergebnissen ge- führt haben. Im Vergleiche zu den in den letzten Jahrzehnten durchgeführten nord- amerikanischen Sammelexpeditionen sind die europäischen Forschungsinsti- tute ziemlich zurückgeblieben. Erst in neuester Zeit zeigt sich regere Expedi- tionslust; eine der größten Expeditionen, die in den letzten Jahren von Deutsch- land ausgezogen sind, ist die Tendaguru-Expedition nach Deutschostafrika, welche an dem zuerst von E. Fraas 1907 näher untersuchten Fundorte am Tendaguru Nachgrabungen im großen Stile veranstaltete und reiche Erfolge erzielte. Zu den erfolgreichsten Ausgrabungen der letzten zehn Jahre zählen neben den nordamerikanischen die von C. W. Andrews geleiteten Aufsamm- lungen im Alttertiär von Ägypten. Die meisten dieser Expeditionen sind von Museen und Akademien ausge- sandt worden; einige wurden von Privaten ausgerüstet oder die Geldmittel durch Spenden und Sammlungen aufgebracht. Jedenfalls haben die durchwegs befriedigenden Erfolge gezeigt, daß derartige zielbewußte Expeditionen nach alten, aber noch nicht erschöpften Fundorten oder nach neu aufgedeckten Fund- stellen noch häufiger abgesandt werden sollten, als es bis jetzt der Fall ist. Das Quellenmaterial der Paläozoologie wird dadurch sehr erheblich vermehrt und die Wissenschaft erfährt bei entsprechender Verarbeitung des Materials eine rasche und nachdrückliche Förderung. Es gibt eine große Zahl von Fundorten, die energische Nachgrabungen in hohem Maße lohnen würden. So wird sich zweifellos allmählich der Prozentsatz der Herkunft des Quellenmaterials ver- schieben, das heute immer noch zum größten Teile bei industriellen Betrieben zufällig entdeckt wird. 5. Die Anlage paläontologischer Sammlungen. Die älteste palä- Paläontologische ontologische Sammlung, von der wir Kenntnis besitzen, hat Kaiser Augustus rn in seiner Villa auf Capri angelegt. Wir erfahren nichts Näheres über die Art der Aufstellung; aber da Suetonius davon erzählt, daß die Augusteische Villa mit Raritäten und Altertümern gefüllt war, und daß die Knochensammlung sich noch zur Regierungszeit Kaiser Hadrians dort befand, so scheint sie zu den Sehenswürdigkeiten der damaligen Zeit gehört zu haben. Aus dem Mittelalter erfahren wir nichts darüber, daß sich irgendwo öffent- De u lich zugängliche Museen befunden hätten, in denen neben anderen ‚‚Naturmerk- xabinette. würdigkeiten‘‘ auch Fossilreste zur Schau gestellt gewesen wären. Wie die da- 378 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie malige Zeit von Fossilien und überhaupt von Naturobjekten dachte, geht aus dem Tiefstand der biologischen Wissenschaft bis zum 18. Jahrhundert hervor. Wurde irgendwo ein Mammutknochen gefunden wie das Femur bei der Grund- aushebung für den zweiten Turm des Stefansdomes in Wien, so wurden der- artige Funde an Ketten oder eisernen Schließen in Burgen, Kirchen und Rat- häusern aufgehängt, so wie dies in der getreu dem Zeitgeiste nach restau- rierten Burg Kreutzenstein bei Wien von Graf Hans Wilczek anschaulich gemacht wurde. Später hat man dann ‚„Einhörner‘‘ in Gold und Silber ge- faßt und in den Offizinen als Wandschmuck befestigt. Sammlungen aber in dem Sinne, wie sie heute überall vorhanden sind, waren ein Privatvergnügen der Fürsten, reicher Adeliger und einzelner Gelehrten, die in ihrer Privat- bibliothek oder in Sternwarten oder eigenen ‚„Raritätenkabinetten‘‘ ihre Schätze aufstapelten. Heute sind nur noch wenige dieser Raritätenkabinette erhalten. Am ehe- sten bekommt man noch eine Vorstellung solcher ‚Sammlungen von Merk- würdigkeiten der Natur‘ in den Sammlungen alter Klöster, wo Stücke aus ur- alter Zeit liegen und noch Etiketten vorhanden sind, auf denen Bezeichnungen der Scholastenzeit stehen. Die Museen, welche aus alten Raritätensammlungen und Naturalienkabi- netten hervorgegangen sind, kranken zum Teile immer noch an den Überliefe- rungen aus alter Zeit. Der Gesichtspunkt, daß die Museen zum Volksunterrichte bestimmt sein sollen, dabei aber den Charakter wissenschaftlicher Sanımlungen nicht einbüßen dürfen, ist in den modernen paläontologischen Sammlungen der Vereinigten Staaten, im British Museum of Natural History in London und im Musee Royal d’Histoire naturelle de Belgique in vorzüglicher Weise zum Aus- drucke gebracht, und das Senckenbergsche Museum zu Frankfurt a. M. ist im Begriffe, diesem Beispiele zu folgen. Im Museum von Brüssel ist die Aufstellung und Erklärung der Objekte in musterhafter Weise durchgeführt. Bei jedem fossilen Objekt stehen eine oder mehrere Tafeln mit kurzen, leichtfaßlichen Erklärungen der Reste. Liegen nur einzelne Skeletteile vor, so ist in einer daneben gezeichneten Skelettrekonstruk- tion jene Partie eingetragen, welche dem fossilen Skeletteil entspricht. Die Methode der Aufstellung und Schaustellung von Musealobjekten, die man als Musealtechnik bezeichnen kann, ist im Begriffe, noch weiter ausge- bildet zu werden. Mit dem Begriffe der modernen Schausammlung ist das Bestreben enge ver- knüpft, die fossilen Tiere und ihre Leichenteile nicht in Schachteln nebenein- ander zu legen, sondern aus den vorhandenen Resten ein Skelett des Tieres in möglichst naturtreuer Haltung und Bewegung zu montieren. Aus diesen Be- strebungen ist die moderne Montierungs- und Rekonstruktionstechnik der Mu- seen hervorgegangen, die namentlich in den großen Museen der Vereinigten Staaten, insbesondere von New York, ferner in den Museen Londons und Brüs- sels und in einigen anderen zu hoher Vollkommenheit ausgebildet worden ist. Paläontologische Schausammlungen 379 Damit steht weiter die Vervollkommnung der Präparationsmethoden und der Konservierungsmittel in enger Verbindung. Nicht nur das Skelett, und zwar das rekonstruierte Skelett, soll dem Be- schauer eine Vorstellung von dem Aussehen des fossilen Tieres vermitteln. Es sollen dem Skelette in Reproduktionen aus wissenschaftlichen Arbeiten die ver- schiedenen Ansichten der Forscher von der Stellung, Haltung und Lebensweise des Tieres beigegeben werden; plastische Rekonstruktionen von Künstlerhand unter strenger Beaufsichtigung von seiten der berufenen Fachleute sollen die Vorstellung zum Ausdrucke bringen, die sich der wissenschaftliche Bearbeiter von dem Aussehen dieses Tieres gebildet hat. In allen diesen Punkten sind die Musealarbeiten der amerikanischen Palä- ontologen vorbildlich geworden. Die meisterhaften bildlichen und plastischen Rekonstruktionen fossiler Tiere, die Charles Knight unter der Leitung von Henry Fairfield Osborn, W. D. Matthew und anderen Paläontologen ent- warf, sind ein vorzügliches Anschauungsmittel und sind auch für die Entwick- lung der Paläontologie von großem Einfluß gewesen, da erst bei den Rekonstruk- tionsversuchen manche Fragen von der Lebensweise und Körperhaltung des Tieres auftauchten, die vorher nicht berücksichtigt worden waren. Ich habe aus dem Grunde hier so ausführlich von den Prinzipien der paläontologischen Schausammlungen gesprochen, weilich der Meinung bin, daß durch den Ausbau der Musealmethodik die Wissenschaft selbst viele befruch- tende Anregungen schon erhalten hat und sicher noch erhalten wird. Von großer Wichtigkeit erscheint die stärkere Betonung regionaler Sammlungen. In dieser Hinsicht ist das paläontologische Museum in Brüssel ein Vorbild. Die in der Heimat gefundenen Objekte werden sorgfältig behütet und kein Original an ausländische Museen abgegeben; nur Gipsabgüsse derbesten Stücke werden gegen solche von anderen Exemplaren auswärtiger Sammlungen eingetauscht. Aus diesem Prinzipe folgt zunächst eine imposante Anhäufung des fossilen Materiales aus der Heimat, die dem einheimischen Beschauer ein geschlossenes Bild gibt; was mir jedoch das wertvollste zu sein scheint, das ist die Möglichkeit, alle Objekte von einem bestimmten Fundorte und aus einem Lande an einer Stelle untersuchen zu können. Wer die Wale aus dem belgi- schen Tertiär studieren will, braucht nur nach Brüssel zu reisen; wer aber Solnhofener Petrefakten studieren will, muß sie in der ganzen Welt zusammen- suchen. So zeigt sich, daß für die Forschung regionale Museen von großem Nutzen sind. Von großem Schaden für die Wissenschaft und ohne größeren Nutzen für den Kreis von Leuten, der dabei in Betracht kommt, ist dagegen die jetzt so beliebte Gründung von kleinen Provinzmuseen. Alle diese Fragen stehen in enger, ja in engster Verbindung mit der Ent- wicklung der Paläozoologie und werden in naher Zeit einer Lösung zugeführt werden müssen, wenn der Entwicklung der Wissenschaft nicht aus mißverstan- denem Übereifer und falsch gedeutetem Werte der Popularisierung ein mäch- tiges Hindernis erwachsen soll. Die Wichtigkeit regionaler Sammlungen. 380 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Gesichtspunkte Vor allen anderen Dingen aber ist bei der Aufstellung paläontologischer en Sammlungen strenge darauf zu sehen, daßsie nach biologischen und nicht nach geologischen Prinzipien geordnet werden. Die geologischen Samm- lungen bedürfen einer Kollektion typischer Leitfossilien und die biostratigra- phischen Kollektionen müssen den geologischen Sammlungen inkorporiert blei- ben. Das gewaltige Heer der fossilen Wirbeltiere aber muß in engstem Zusammen- hange mit den Präparaten der lebenden Formen vereinigt aufgestellt werden. Ma- stodon und Mammut gehören neben den Elefanten, der Höhlenbär neben den Grizlybären, das wollhaarige Nashorn der Eiszeit neben das weiße afrikanische Nashorn usf. und die Trennung darf nicht derart geschehen, daß alle fossilen Formen in die geologische Abteilung eines Museums gebracht werden. Das ist das wichtigste Prinzip für die Gründung moderner paläozoologischer Galerien. 6. Die wissenschaftliche Bearbeitung fossiler Tierreste. Wenn wir die beträchtliche Menge der in jedem Jahre erscheinenden Mitteilungen über paläontologische Themen überblicken, so wird uns sehr bald eine Ungleich- wertigkeit derselben auffallen. Diese Ungleichwertigkeit veruht freilich größ- tenteils auf denselben Ursachen wie in allen anderen Wissenschaftszweigen; außerdem kommen aber hier noch andere Faktoren in Betracht, die in gleichem Maße kaum in verwandten Arbeitsgebieten zu beobachten sind. Bepeseies- Wie ein roter Faden zieht sich durch einen großen Teil der paläontologi- “ schen Literatur das Bestreben, möglichst viele ‚neue‘‘ Arten und Gattungen aufzustellen. Es ist diese ,„‚Speziesmacherei‘‘ wohl nicht dem Boden der Palä- ontologie entsprossen, hat aber hier ihreschönsten Blüten getrieben. Der Kampf, den Darwin vor mehr als 70 Jahren gegen die „Speziesmacher‘ unter den Zoologen und Botanikern geführt hat, hat leider erfolglos geendet; noch heute wird von einer großen Zahl von Autoren als erstrebenswert angesehen, ihren Namen mit einer möglichst großen Zahl ‚‚neuer‘‘ Gattungen und Arten zu ver- binden. Die noch immer herrschende Unsitte, dem lateinischen Artnamen den Namen ihres ersten Beschreibers (richtiger Benenners) anzuhängen, hat na- mentlich auf paläontologischem Gebiete unendlich viel Schaden angerichtet, da viele Autoren von mittelmäßiger Befähigung ein weites Feld für ihre Tätig- keit offen fanden. Schon 1874 klagt der Begründer der modernen Paläozoologie Woldemar Kowalevsky über diesen ungesunden Zustand und schreibt: ‚Mir scheint es im Interesse der Wissenschaft zu sein, diese innerliche Armut der paläontologi- schen Literatur der Säugetiere möglichst aufzudecken; ein Übelstand ist um so größer, so lange er ein versteckter ist. Ein oberflächlicher Zuschauer, der die Sachen nur durchblättert, oder viel auf die Zahl der Namen von fossilen Genera und Spezies gibt, wird im Gegenteil von Achtung durchdrungen, wenn er das scheinbar viele sieht, was in den letzten 40 Jahren in der Literatur der fossilen Säugetiere geleistet wurde, wenn er die langen Reihen der generischen und spezifischen Namen durchmustert, die in den großen Lehrbüchern, wie z.B. Pictet oder der Lethaea zusammengestellt sind. Wenn man aber tiefer in den Gegenstand eindringt, wenn man nur den leisesten Versuch macht, diese Wissenschaftliche Bearbeitung der Fossilreste 3 Namen auf ihre positiven Begriffe zurückzuführen, um damit zu operieren, d.h. Verwandtschaften aufzusuchen, ein Bild von der Organisation der fossilen For- men und deren Zusammenhang mit der heutigen Schöpfung zu entwerfen, dann nur findet man, daß das meiste gar nicht verwendbar ist, da außer dem bloßen Namen fast nichts vorliegt, und die Namen selbst sind oft aufsolcheungenügende Überreste gegründet, welche über die wahre Organisation der Tiere keine Vor- stellung geben können. Der große Übelstand, den dieser Zustand der Dinge hervorruft, besteht in der Selbsttäuschung, daß die Enträtselung der ausge- storbenen Formen große Fortschritte mache, während in Wirklichkeit nur die Namen vermehrt werden, unsere Kenntnisse aber über die Organisation und die Bedeutung der neu aufgedeckten Formen für die heutige Schöpfung fast ganz unverändert bleiben.“ Die Genesis der zahlreichen ‚‚neuen‘‘ Arten ist aber eine sehr verschiedene. Man muß wohl unterscheiden, ob einem Autor ein schr großes Material von zahlreichen Individuen zur einheitlichen Untersuchung vorlag, auf das er eine Anzahl neuer Arten und Gattungen ‚begründete‘, oder ob die große Zahl von Artennamen, die sich bei näherer Beleuchtung in ein Nichts auflösen, nach- einander von einem oder von mehreren Autoren aufgestellt wurde. Man hat ferner zu unterscheiden, ob die Schaffung zahlreicher Speziesnamen auf große Formverschiedenheiten der untersuchten Objekte begründet ist oder ob die Unterschiede nur mühselig und fast gewaltsam hervorgesucht werden, um nur um jeden Preis mehrere neue Arten zu „kreieren‘‘. Ein Beispiel möge diese Verhältnisse näher beleuchten. Im schwarzen Pectunculussande von Antwerpen, einer Meeresablagerung aus der oberen Miozänzeit, wurde zu Anfang des IQ. Jahrhunderts die Schnauze eines fossilen Zahnwales aus der Familie der Schnabelwale oder Ziphiiden ent- deckt, die C. G. Cuvier als Ziphius longirostris im Jahre 1823 beschrieb. Neue Funde in Antwerpen und im Crag von Suffolk wurden von J.P. van Beneden 1846 und R. Owen 1856 zu derselben Art gestellt. Schon 1852 beschrieb P. Gervais einen weiteren Rest als eine neue Art unter dem Namen Dioplodon Becanii; die Unterschiede, welche P. Gervais zwischen der Cuvierschen Art und seinem neuen Funde zu sehen glaubte, waren ganz unter- geordneter Natur. Indessen war dieser Weg einer subtilen Unterscheidung be- reits betreten worden, und als neue Reste im Crag Englands zum Vorschein kamen, gründete T. H. Huxley 1864 auf einen Schnauzenrest die neue Art Belemnoziphius compressus, R. Owen auf zwei andere Schnauzenfragmente die Arten Ziphius declivus und Ziphius undatus. Damit war ein Weg betreten, der bei weiterem Verfolgen nur zur Aufstel- lung einer Unzahl von neuen Namen führen mußte; schon zu dieser Zeit hätte die Frage aufgeworfen werden müssen, ob diese vermeintlichen Artunterschiede nicht auf individuellen oder sexuellen Differenzen, vielleicht auch auf Alters- unterschieden beruhen. Diese kritischen Untersuchungen blieben jedoch aus und es folgte 1868 die Aufstellung zweier weiterer neuer Artnamen Rhinostodes Antwerpiensis und Belemnoziphius recurvus durch B. du Bus, 1870 die Unter- 382 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie scheidung neu aufgefundener Schnauzenreste im Crag von Suffolk durch R. Owen als Ziphius gibbus, Z. angustus, Z. angulatus, Z. medilineatus und Z. te- nuirostris. Als ähnliche Reste in Südkarolina entdeckt wurden, beschrieb sie J. Leidy 1876 und 1877 als Belemnoziphius prorops, Proroziphius macrops und P. chonops, während R. Lawley für Reste aus Oberitalien die Namen Dioplodon Meneghinii und D. d’ Anconae einführte. Noch immer waren die Paläontologen nicht auf die merkwürdige Tatsache aufmerksam geworden, daß bei dieser Methodik der Artunterscheidung eigent- lich jedes Individuum als eine eigene Art erschien und daß bei konsequenter Anwendung dieses Prinzipes jeder neue Fund zur Aufstellung eines neuen Na- mens führen müsse. Für jene Autoren, deren wissenschaftliches Ziel in der mög- lichsten Vermehrung ‚‚neuer‘‘ Arten besteht, eröffnete sich bei dieser Arten- gruppe ein dankbares Arbeitsgebiet. Im Jahre 1891 veröffentlichte C. G. Ca- pellinieine Abhandlung über neue Funde aus Italien, deren jeder einen eigenen neuen Namen erhielt (Dioplodon bononiensis, D. senensis und D. Lawleyi), so- weit die bisher unterschiedenen Typen nicht zu klar die Identität mit den neuen Funden zur Schau trugen. Dann folgte noch 1890 Mesoplodon floris als neuer Artname für den Manuskriptnamen Mesoplodon Floweri, den Canham aufge- stellt hatte, ferner Mesoplodon scaphoides (beide von E. T. Newton), bis C. G. Capellini 1890 mit dem neuen Namen Dioplodon Farnesinae und 1894 G. Vi- gliarolo mit Dioplodon compressior die Reihe schlossen. Im ganzen waren 25 Artnamen aufgestellt worden und sie wären wahr- scheinlich immer noch vermehrt worden, wenn nicht H. ©. Forbes 1893 in seiner vorzüglichen Studie über die Variabilität der lebenden Gattung Meso- plodon in klarer Weise nachgewiesen hätte, daß gerade diese Zahnwalgattung sehr bezeichnende Altersunterschiede und sexuelle Differenzen im Schnabelbau aufweise und daß bei dieser Gattung innerhalb der wenigen lebenden Arten sehr bedeutende Variationen auftreten. So war es ein leichtes, 1905 zu zeigen, daß dieses Heer von 25 Arten, die auf 6 Gattungen (Ziphius, Dioplodon, Mesoplodon, Belemnoziphius, Rhinostodes, Proroziphius) verteilt worden waren, nichts anderes als so und so viele junge und alte Männchen oder Weibchen einer einzigen Schnabelwalart darstellt, welche schon von C. G. Cuvier den Namen Ziphius longirostris erhalten hatte. Die kritische Beleuchtung dieses Beispieles zeigt klar die Mängel in der Methodik dieser deskriptiven Arbeiten. Als P. Gervais seinen Dioplodon Be- canii aufstellte, konnte man freilich noch nicht beurteilen, ob es sich hier nicht doch um eine selbständige Art handle. Als aber die neuen Funde im Bold£rien von Antwerpen und im englischen Crag gemacht wurden, wäre es Pflicht ihrer Bearbeiter gewesen, sich um die Frage der Variabilitätsgrenzen bei lebenden Walen zu kümmern, bevor die Literatur mit so vielen überflüssigen Namen be- lastet wurde, die sich jahrzehntelang von Arbeit zu Arbeit fortschleppten und einen klaren Einblick in die Eigentümlichkeiten der stark variablen Art ver- hinderten. Dies war ein Beispiel, wo sich die Schuld auf verschiedene Autoren gleich- Wissenschaftliche Bearbeitung der Fossilreste 383 mäßig verteilt. Wenn aber der Fall eintritt — und er ist häufig genug einge- treten —, daß eine geschlossene, große Fauna zur Bearbeitung vorliegt und un- zählige Ammonitenarten oder Brachiopodenarten aufgestellt werden, wo es sich um verhältnismäßig wenige, aber stark variierende Formengruppen handelt, so ist ein solches Vorgehen kaum mehr zu rechtfertigen. Da kein Individuum dem anderen ganz genau gleicht, lassen sich mit der Beschreibung, Abbildung und Benennung solcher Individuen als ‚Arten‘‘ dicke Bände füllen, ohne daß wir auch nur um einen Schritt weiter in die Kenntnis von der Morphologie und Phylogenie aller dieser Formen vorgedrungen wären. Hier gilt das, was Dar- winam 4. Februar 1849 an Hugh Strickland schrieb: ‚Das bloße Definieren einer Spezies ist nichts....ich denke, ein Mann erwirbt sich durch das Defi- nieren einer Spezies nicht mehr Verdienst, als ein Tischler, wenn er eine Kiste macht.‘ In der paläontologischen Literatur finden sich auffallend wenige Studien Geringes Inter- über die Variabilitätsgrenzen fossiler Formengruppen. Dieser Mangel steht da- ER ee mit im Zusammenhange, daß noch immer viel zu wenig monographisch gear- ee . beitet wird, das heißt, daß noch immer Einzelstudien über neue Funde oder zoologenkreisen. Darstellungen ganzer Faunen in der paläontologischen Literatur überwiegen. Arbeiten, wie sie Melchior Neumayr über die Paludinen des slawonischen Pliozäns in vorbildlicher Weise durchgeführt hat oder Untersuchungen über die Variabilität der Brachiopoden, wie wir sie Georg Geyer verdanken, sind bis heute nur vereinzelt geblieben. Der Bearbeiter eines neuen Fundes hat das in psychologischer Hinsicht verständliche Interesse, die Mitteilung über denselben möglichst interessant zu gestalten, und daraus erklärt sich, daß in solchen Fällen kleine Abweichungen des neuen Fundes von älteren Funden überschätzt werden. Der Bearbeiter einer Fauna beherrscht selten die Geschichte aller Elemente der Fauna in vollem Umfange, und so erklärt sich leicht, daß in Mitteilungen über neue Funde und Beschreibungen von Faunen immer wieder so viele neue Arten unterschieden werden, welche dem kritischen Blicke des Monographen der betreffenden Gruppe selten standhalten können. Material zu monographischen Bearbeitungen fossiler Gattungen und Fami- lien ist heute in Hülle und Fülle vorhanden, und es bedürfte nur einer energi- schen und zielbewußten Aufarbeitung der Gruppen. Freilich liegen ihre Reste in den Museen der ganzen Welt zerstreut, aber die einheitliche Durcharbeitung ist unerläßlich, wenn die Paläozoologie erfolgreich fortschreiten soll. Unter den vielen großen Aufgaben, die dieser Wissenschaft harren, wird die energische Inangriffnahme von großen Monographien eines der wichtigsten Ziele sein. Ein großer Teil der paläontologischen Literatur krankt noch an einem an- Die Folgen der deren Übelstande, an dem die einzelnen Autoren weniger Schuld tragen, als a die historische Überlieferung. Ich meine die Tatsache, daß sehr viele paläon- tvreh Geologen. tologische Funde in die Hände von Geologen gelangen, welche in zoologischer Hinsicht oft nur ungenügend vorgebildet sind. Dies hängt damit zusammen, 384 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie daß nicht nur an vielen Hochschulen die Lehrkanzeln der Geologie und Paläon- tologie in einer Hand vereinigt, sondern daß auch fast in allen europäischen Museen die geologischen Sammlungen zusammen mit den paläontologischen aufgestellt sind. Daher ist es begreiflich, daß so viele Kustoden ‚„geologisch- paläontologischer‘‘ Kabinette oder Hochschulprofessoren in die unmittelbare Gelegenheit zur Bearbeitung eines Fossilfundes gelangen, der in den Händen des Zoologen besser aufgehoben gewesen wäre und infolge der ungenügenden Durcharbeitung doch noch ein zweites Mal untersucht und beschrieben werden muß. Da aber eine solche Neubearbeitung aus verschiedenen Gründen nicht immer sogleich in Angriff genommen werden kann, so schleppen sich die unge- nügenden und sehr oft fehlerhaften Bestimmungen und Beschreibungen durch die Literatur fort, um vielleicht erst nach vielen Jahren eine entsprechende Durcharbeitung zu finden. Dieser Übelstand der paläontologischen Literatur wird nur dadurch zu beheben sein, daß immer wieder mit voller Schärfe be- tont wird, daß die Paläozoologie eine biologische Wissenschaft ist, deren Be- herrschung spezielle Vorkenntnisse erfordert, und daß nur die stratigraphische Paläontologie in die Domäne der Geologie gehört. Ein Beispiel möge zeigen, wie notwendig eine solche scharfe Trennung ist. In Österreich liegen an verschiedenen Stellen der Niederungen und des Hügellandes tertiäre Flußschotter ausgebreitet, deren Alter noch nicht sicher- gestellt ist; der Geologe hat daher ein großes Interesse daran, in den Schottern fossile Reste zu finden, deren Bestimmung ihm eine Feststellung des Alters ermöglicht. Unter diesen Resten kommen beispielsweise Zähne der Elefantiden- gattung Tetrabelodon in Betracht; Tetrabelodon angustidens ist eine ältere, auf das mediterrane und sarmatische Miozän beschränkte Art, während Tetra- belodon longirosire der darauffolgenden Stufe des Tertiärs, also dem unteren Pliozän angehört. Eine solche Altersbestimmung auf Grund eines isolierten Tetrabelodonzahnes ist aber nur dann möglich, wenn erstens wirklich beide Arten gut unterscheidbar sind, und zweitens wirklich ganz genau diesen Ab- schnitten des Tertiärs angehören. Sonach sind Zwischenformen zwischen Tetra- belodon angustidens und T.longirostre für den Geologen wertlos, und ebenso würde die Altersbestimmung auf Grund der Tetrabelodonzähne unmöglich sein, wenn sich herausstellen würde, daß T. angustidens da und dort noch in späterer Zeit gelebt hat oder T. longirostre an einzelnen Stellen schon im Miozän auf- getaucht ist. Der Paläozoologe hingegen hat das Ziel, nicht nur die Unterschiede beider Tetrabelodonarten festzulegen, sondern auch nachzuforschen, ob sich nicht da und dort Zwischenformen zwischen beiden Arten vorfinden. Ich bin mehrere Male in die Gelegenheit gekommen, über derartige Zähne, die einer „sicheren‘‘ Bestimmung Schwierigkeiten verursachten, ein Urteil ab- zugeben. In einigen Fällen handelte es sich um Zwischenformen, die Merkmale von Tetrabelodon angustidens mit solchen von T. longirostre vereinigt zeigten und daher in stammesgeschichtlicher Hinsicht von besonderem Interesse waren, weil durch sie die von ©. Roger, M. Schlosser und anderen festgestellte ge- Paläontologische Zeitschriften 385 netische enge Verknüpfung beider Arten eine neue Stütze erhielt. Die betreffen- den Fragesteller aber zeigten sich über meine Befriedigung, eine Zwischenform in Händen zu halten, nicht sehr erbaut, weil sie nun nicht mehr in der Lage waren, einen sicheren Anhaltspunkt über das Alter der betreffenden Schotter- schichten zu gewinnen. Diese verschiedenartigen Interessen spielen auch bei größter persönlicher Gewissenhaftigkeit in psychologischer Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Rolle; für den Fortschritt der Wissenschaft ist es aber von größtem Werte, daß eine und dieselbe Frage von zwei ganz verschiedenartigen Gesichtspunk- ten aus beleuchtet wird, und daher ist es für die Vermehrung unserer Kenntnisse auf geologischem und auf paläozoologischem Gebiete von hoher Wichtigkeit, wenn der Paläozoologe nach ganz anderen Gesichtspunkten arbeitet, als der Geologe. Die genetische Seite der Frage muß zoologisch behandelt werden, die chronologische aber stratigraphisch; daher soll die stratigraphische Paläontologie ein integrierender Bestandteil der Geologie bleiben. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Entwicklung einer Wissen- schaft ist die Form der wissenschaftlichen Publikationen, die Art der Illustra- tion des Materials, das Vorhandensein oder Fehlen von Zeitschriften referieren- den Charakters, zusammenfassenden Jahresberichten, Katalogen, Handbüchern und Lehrbüchern. Es ist unverkennbar, daß die günstige Entwicklung einer Wissenschaft von dem glücklichen Zusammenwirken aller dieser Faktoren in entscheidender Weise beeinflußt wird. Die Paläozoologen haben eine Reihe von wissenschaftlichen Zeitschriften in großem Format für ihre Publikationen zur Verfügung, die sie in den Stand setzen, das untersuchte Material eingehend zu beschreiben und reichlich zu illustrieren. Unter diesen Zeitschriften stehen die ‚„Palaeontographica‘‘, die seit 1846 erscheinen, in erster Reihe; ihr schließen sich die „Geologischen und paläontologischen Abhandlungen‘ an, die von Da- mes und Kayser begründet worden sind. In Wien erscheinen die ‚Beiträge zur Paläontologie und Geologie Österreich-Ungarns und des Orients‘, in Pisa die „Palaeontographia Italica‘, in Paris die ‚„Annales de Paleontologie‘‘, in Zürich die ‚Abhandlungen der schweizerischen paläontologischen Gesellschaft‘, in London seit 1847 die ,‚Monographs‘‘ der Palaeontographical Society, während in Brüssel größeren paläontologischen Abhandlungen die ,„Memoires du Muse£e Royal d’histoire naturelle de Belgique‘‘ Aufnahme gewähren, ebenso wie in Wien die „Abhandlungen der k. k. geologischen Reichsanstalt‘‘ und in New York die ,„Memoirs of the American Museum of Natural History‘. Damit ist jedoch die Reihe der großformatigen Zeitschriften, die paläontologischen Publi- kationen offen stehen, noch lange nicht abgeschlossen. Es kommen noch die Abhandlungen der zahlreichen Akademien und Gesellschaften, wie z. B. der Senckenbergschen Gesellschaft zu Frankfurt a. M., die Abhandlungen der Societe geologique de France, Mitteilungen und Berichte größerer Museen hinzu, so daß heute die Möglichkeit einer größeren, mit vielen Tafeln oder Abbildungen ausgestalteten Publikation in reichem Maße vorhanden ist. Somit ist auch die K.d.G.III. ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. 25 Die paläontolo- gischen Zeit- schriften. 386 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Entfaltung der paläontologischen Literatur, wenigstens was den Raum für die Druckschriften betrifft, gewährleistet; dies ist eine wichtige Vorbedingung zu einer gedeihlichen Entwicklung. Freilich ist auch bei dieser leichten Möglich- keit, selbst umfangreichere Arbeiten relativ rasch veröffentlichen zu können, ein Nachteil vorhanden: er liegt in dem Überwuchern der Vielschreiberei und einer zu breiten Anlage gewisser Arbeiten, die einmal sehr treffend ‚‚die mecha- nische Verdickung einer Publikation‘ genannt worden ist. Beschreibungen, die ganz gut in knappe und dabei doch treffende Form gebracht werden könnten, werden in epischer Breite auseinandergezogen, und es ist nicht zu verkennen, daß dabei der Umstand eine Rolle spielt, daß manche Autoren sich gerne als Verfasser einer recht ‚dicken‘ Arbeit sehen. Insbesondere die in deutscher Sprache erscheinenden Publikationen besitzen mitunter einen Umfang, der in keinem Verhältnisse zu dem Inhalte steht. Diese Erscheinungen sind nicht ohne Bedeutung für die weitere Entwick- lung der Paläozoologie. Es wird von Tag zu Tag schwerer, die Literatur zu verfolgen und den Überblick über ein größeres Gebiet zu behalten. Die phy- sische Unmöglichkeit, alle neuen Erscheinungen der paläontologischen Litera- tur zu verfolgen, muß dazu führen, daß sich die einzelnen Spezialisten noch mehr in ihr Spezialgebiet einkapseln und das Interesse an dem Fortschritt der For- schung selbst in enge benachbarten Gebieten verlieren. Notwendige Daher ist eine Abänderung der Publikationsform dringend geboten ung der ind liegt nicht nur im Interesse der Wissenschaft, sondern auch im Interesse formen. jedes einzelnen. Große, eingehende Monographien mit sorgfältigen Beschrei- bungen müssen zwar wie früher durchgeführt werden, aber es wird geboten sein, daß jeder Autor selbst an einer leicht zugänglichen Stelle und in knapper Form die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammenfaßt, ohne dabei die Form eines Autorenreferates zu wählen. Die richtige Form scheint mir jene zu sein, welche Louis Dollo seit vielen Jahren für seine Publikationen gewählt hat, und die auch mehr und mehr von den nordamerikanischen Paläozoologen befolgt wird. Knappe Form der Darstellung, kurzgefaßte, aber erschöpfende Diagnosen, klare Disposition des Stoffes, Darlegung der Untersuchungsmethode mit scharfer Betonung der maßgebenden Gesichtspunkte sowie eine entspre- chende Illustrierung nebst sorgfältigster Angabe der Literatur — dies scheint die Lösung des Problems zu sein, wie in der Zukunft die äußere Form der Publi- kationen beschaffen sein muß, um möglichst weite Verbreitung in der Fachwelt zu finden. en, Welchen Einfluß ein Schatz guter Lehrbücher und Handbücher für Referierorgane. die Entwicklung einer Wissenschaft darstellt, ist zu klar, als daß es nötig wäre, viele Worte darüber zu verlieren. Diese Kompendien sind nicht nur eines der ersten Erfordernisse für einen guten Lehrerfolgan den Hochschulen, sondern auch für die weiteren Studien. Von hohem Werte sind gute Referierorgane. Das beste auf paläontologischem Gebiete ist die ‚Revue critique de Pal&ozoologie‘‘, die M. Coßmann in Paris redigiert und welche die paläontologische Literatur rasch und mit großer Vollständigkeit referiert. Jene Revuen, in welchen geo- Hilfsbücher 387 logische, mineralogische, petrographische und paläontologische Arbeiten durch- einander referiert werden, waren in früherer Zeit von hohem Werte, haben aber heute viel davon eingebüßt, da sie die ungeheuer anschwellende Literatur auf allen diesen Gebieten nicht mehr bewältigen können und kleinere Arbeiten ent- weder gar nicht berücksichtigen oder erst nach vielen Jahren besprechen. Der Zweck einer Revue ist aber doch zunächst der einer raschen Bekanntmachung und viel weniger der einer Kritik, die schließlich jeder selbständig denkende Forscher selbst an der Literatur ausüben muß. Die in den letzten Jahren auch auf dem paläontologischen Gebiete aufgekommene Sitte der Autorenreferate scheint mir aber anderseits auch nicht von Vorteil zu sein. Von großer Wichtigkeit für die Entwicklung der Spezialgebiete sind kata- logartige Zusammenstellungen. Die Kataloge, welche die Leitung des Briti- schen Museums seit vielen Jahren über einzelne Gruppen fossiler Tiere gewis- sermaßen als Führer durch die Sammlung herausgibt — sie führen teils den Titel Katalog wie der vorzügliche Katalog der fossilen Fische von A. Smith- Woodward, teils den Titel Guide —, sind nicht nur für den Museumsbesucher, sondern auch für den Fachmann von hohem Wert, da sie sehr sorgfältig durch- gearbeitet sind und von Zeit zu Zeit „up to date‘ korrigiert werden. So er- scheinen auch in dieser Hinsicht alle Voraussetzungen gegeben, um für die nächste Zukunft eine gedeihliche Entwicklung der Paläozoologie zu ermöglichen. In diesem Zusammenhange soll noch die für den Fernestehenden gewiß auffallende Erscheinung beleuchtet werden, daß von einzelnen Forschergrup- pen, die sich um die Vertreter der Paläontologie an den verschiedenen Hoch- schulen scharen, ganz bestimmte Arbeitsrichtungen bevorzugt werden. In vielen Fällen hängt diese Entstehung einer ‚Schule‘ mit dem Umstande zusammen, daß der Begründer derselben sich mit der Lösung einer Reihe zu- sammenhängender Probleme befaßt und naturgemäß seine Schüler zur Mit- arbeit an diesen Fragen zu gewinnen sucht. In anderen Fällen ist die Speziali- sation einer ganzen ‚‚Schule‘‘ in bestimmter Richtung durch die Zahl und Nähe wichtiger Fundorte fossiler Reste bedingt. Die reichen Fossillagerstätten im südlichen Deutschland haben ganz auto- matisch dazu geführt, daß an den süddeutschen Hochschulen und Museen das Interesse an den Fossilresten dieses Gebietes im Vordergrunde steht. In Wien, in dessen nächster Umgebung überaus fossilreiche Tertiärschichten genügenden Stoff zu eingehender Erforschung dieser Faunen und ihrer einzelnen Elemente bieten, ist eine merkwürdige Arbeitsteilung eingetreten. Seitdem die ersten großen Aufsammlungen durch Moriz Hoernes monographisch verarbeitet wurden, ist das naturhistorische Hofmuseum in Wien das Zentrum der Tertiär- forschung geblieben. An der Universität haben sich dagegen um den Altmeister Sueß diejenigen Forscher gruppiert, die sich die Erforschung der Alpen, na- mentlich der alpinen Triasbildungen zur Aufgabe gestellt haben, und aus dieser Schule sind die meisten Geologen der geologischen Reichsanstalt in Wien her- vorgegangen, die sich unter der Führung von Franz v. Hauer gleichfalls Fe 25 Wissenschaft- liche Kataloge paläontolo- gischer Samm- lungen. Paläontologen- schulen. Paläozoologie und Systematik. 388 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie der Erforschung der Fossilreste der Alpentrias gewidmet haben. Um Melchior Neumayr, W. Waagen und E. v. Mojsisovics scharten sich die Paläonto- logen, welche sich der Ammonitenforschung zuwendeten, eine Schule, die durch eine Reihe von Forschern wie V. Uhlig, F. Wähner, C. Diener, F. Koß- mat, G.A. v. Arthaber und viele jüngere Paläontologen vertreten ist. Da immer neues Material an Ammonitenfaunen aus alpinen und außeralpinen Gebieten diesem Arbeitszentrum zuströmte, blieb diese Forschungsrichtung in Österreich dominierend, während bei einzelnen deutschen Forschungszentren mehr und mehr ein Übergreifen auf weiterliegende Gebiete stattfand. Die Spezialisation auf ein ganz enges Arbeitsgebiet, dessen Mittelpunkt durch die Forschungsrichtung des akademischen Lehrers gebildet wird, ist aber vielleicht für die Entwicklung der Forschung nicht günstig. Es erscheint für den Lehrer von großer Wichtigkeit, dem Schüler nicht eine bestimmte Arbeits- richtung aufzuoktroyieren, sondern ihn selbst den Weg zur Lösung von Proble- men suchen und finden zu lassen. Je vielseitiger die Interessensphären einer geschlossenen Paläontologenschule sind, desto größere Aussicht ist auf eine er- folgreiche Entfaltung ihrer Tätigkeit vorhanden, weil sich die einzelnen durch ihre Tätigkeit nicht beengen und stören, sondern frei entwickeln können. Durch den persönlichen Verkehr bieten sich dann wieder mannigfache gegen- seitige Anregungen aus dem Vergleiche der Methoden und der erzielten Ergeb- nisse, so daß es für den wissenschaftlichen Fortschritt vorteilhafter erscheint, das Interesse einer wissenschaftlichen Schule auf möglichst heterogene Gebiete zu lenken. Diese Auseinandersetzungen mögen vielleicht als Banalitäten erscheinen. Sie mußten aber eine Besprechung finden, wenn es sich darum handelte, über die Prinzipien einer wissenschaftlichen Bearbeitung der fossilen Reste ins Klare zu kommen und die Voraussetzungen der Entwicklung der Paläozoologie zu analysieren. Man muß die Bedeutung aller dieser verschiedenen Faktoren er- wägen und abschätzen, um von den äußeren und inneren Einflüssen auf die wei- tere Entwicklungsrichtung der paläontologischen Forschung ein Bild zu erhal- ten, und zu erkennen, auf welchen Wegen eine gedeihliche Entfaltung der Kräfte am ehesten gesichert erscheint. 7.Der revolutionäre Einfluß der Paläozoologie auf die Syste- matik. In Linn&s „Systema naturae‘“ sind die versteinerten Überreste der fossilen Organismen nicht in den Rahmen des Tier- und Pflanzenreiches aufge- nommen. Sie erscheinen als dritte Klasse dem ‚Systema Lapidum‘ eingereiht, und zwar unterschied Linn& unter den ‚Fossilien‘ die drei Gruppen der Petri- ficata, Concreta und Terrae. Einen Teil der Petrefakten bezeichnete Linne& als „vera“ (Zoolithus, Ornitholithus, Amphibiolithus, Ichthyolithus, Entomolithus, Helmintholithus, Phytolithus), einen anderen (Graptolithus) als ‚Petrificata ficta, Petrificatum simulans‘“, Diese Zeiten liegen freilich weit hinter uns. Noch heute bilden aber in vielen Lehrbüchern der Zoologie die lebenden Ausläufer des tierischen Stamm- baumes den Kern der Systematik, an welchen nur einzelne der größeren Grup- Paläozoologie und Systematik 389 pen fossiler Tiere gleichsam als unwesentliche Anhängsel angereiht werden, ohne daß ihre phylogenetische Bedeutung in das rechte Licht gerückt erscheint, In- dessen läßt sich dieser Standpunkt insofern verteidigen, als es sich ja in Lehr- büchern der Zoologie nur um die Darstellung derlebenden Tierformen handelt. Die Frage, ob diese auf den lebenden Formen aufgebaute Systematik des Tierreiches nicht unbedingt einer Berücksichtigung der fossilen Formen bedarf, wird erst in dem Momente kritisch, wenn wir die Diagnosen der Familien und höheren systematischen Kategorien, also der Unterordnungen, Ordnungen usw. überprüfen. Wenn die Diagnosen solcher systematischer Gruppen ausschließlich auf der Abstraktion der den lebenden Vertretern einer solchen Gruppe eigentüm- lichen Merkmale aufgebaut sind, so sind diese Diagnosen sofort wertlos, wenn auch primitivere Formen als die lebenden mit den letzteren nachweisbar stamm- verwandt sind, In diesem Falle müssen die Diagnosen der Familien, Unterord- nungen, Ordnungen usw. wesentlich modifiziert werden, wenn sie sowohl für die lebenden als für die fossilen Angehörigen der betreffenden Stämme passen sollen. Greifen wir ein Beispiel heraus. Der hervorragende englische Zoologe Wil- liam Henry Flower hat 1867 die Familie der Physeteridae oder Pottwale neu umgrenzt und eine Diagnose für die Untergruppe der Physeteriden gegeben, die ausschließlich auf den aus den lebenden Gattungen Physeter und Kogia abstrahierten gemeinsamen Merkmalen beruhte. Die zweite Untergruppe der Physeteriden, die Ziphüinae, umfaßte nach W. H. Flower die lebenden Gat- tungen Hyperoodon, Mesoplodon, Ziphius und Berardius. Nun sind im Laufe der letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts zahl- reiche fossile Wale entdeckt worden, welche mit den lebenden Ausläufern der Physeteriden enge verknüpft sind. ; Diese tertiären Wale unterscheiden sich jedoch in vielen Merkmalen von den lebenden; sie besitzen kein so hochgradig verkümmertes Gebiß wie die lebenden Gattungen, und zwar sind die Zähne der ältesten Physeteridengat- tungen wie z. B. von Scaldicetus noch wohl entwickelt. Nicht nur die Gruppe der Pottwale, sondern auch die der Schnabelwale ist im Miozän durch derartige primitive Formen vertreten. Diese Funde haben uns dazu gezwungen, die Familien der Pottwale und Schnabelwale scharf zu trennen, da ihre Geschichte keine gemeinsame ist, son- dern seit der mittleren Tertiärzeit divergente Wege eingeschlagen hat. Sie ha- ben uns weiter gezwungen, die Diagnosen der Familien mit Rücksicht auf die von den lebenden Formen abweichenden Merkmale der fossilen Gattungen wesentlich zu verändern. Die nunmehr abgeänderte Diagnose der Physeteriden umfaßt eine Charakte- ristik der Merkmale der ältesten Gattungen des Stammes neben solchen der jüngsten, nochlebenden Nachkommen; es ist auf diese Weise in die Diagnose ein genetischer Gesichtspunkt gebracht worden, wel- cher den älteren Diagnosen gefehlt hat. Die Systematik der Gruppe ist dadurch erheblich verändert worden, und zwar mußte sie derart erweitert Unterschied der zoologischen und paläozoolo- gischen Syste- matik. 390 O.ABEL: Paläontologie und Paläozoologie werden, wenn nicht die fossilen Physeteriden künstlich und gewaltsam von den lebenden losgerissen werden sollten. Dieses Beispiel zeigt in klarer Weise, worin der Unterschied der zoo- logischen und der paläozoologischen Systematik liegt. Die rein zoo- logische Systematik kann als horizontaler Querschnitt durch den vielfach ver- ästelten und verzweigten Stamm des Tierreiches bezeichnet werden; die paläo- zoologische Systematik ist ein Versuch, das Wachstum der Äste des Stamm- baumes in den Diagnosen größerer Gruppen zum Ausdrucke zu bringen. Solange es noch nicht gelungen ist, die einzelnen Familien und Ordnungen eines größeren einheitlichen und genetisch geschlossenen Stammes bis zu der Abspaltungsstelle aus einer gemeinsamen Wurzel zu verfolgen, ist es immer mög- lich, die einzelnen Gruppen voneinander abzugrenzen und bei der Entdeckung neuer Glieder einer Gruppe die Diagnose der letzteren entsprechend zu verän- dern und zu erweitern. Vor ernste Schwierigkeiten werden wir erst in dem Augenblicke gestellt, in welchem wir eine Zwischenform entdecken, die an der Spaltungsstelle zweier divergent verlaufender Reihen liegt oder eine Lücke zwischen direkt miteinander verknüpften Stämmen ausfüllt. Man pflegt sich in solchen Fällen dadurch zu helfen, daß man für eine Zwischenform eine neue systematische Kategorie errichtet und die betreffende Gattung in diese künstlich abgegrenzte Gruppe einreiht. Damit meint man die schwierige Entscheidung aus dem Wege geräumt zu haben, welcher der beiden bekannten systematischen Gruppen die neue Form einzureihen sei. Auch dazu möge ein konkretes Beispiel angeführt werden. Daß die Schei- dung der Cetaceen in die Stämme der Zahnwale und Bartenwale schon vor lan- ger Zeit erfolgte, wird jetzt allgemein angenommen. Unsicher war die Herkunft der Bartenwale, während die Zahnwale durch die Familie der Squalodontiden mit den alttertiären ‚„Urwalen‘‘ oder Archaeoceten verknüpft sind. Nun ist vor kurzem im Oberoligozän von Linz in Oberösterreich der Schädel eines Wales entdeckt worden, den ich Patriocetus genannt habe. Diese Gattung bildet in ihren Schädelmerkmalen ein geradezu ideales Bindeglied zwischen den Urwalen und den Bartenwalen, und zwar können wir mit Sicherheit feststellen, daß Patriocetus als eine bezahnte Ahnenform der Furchenwale oder Balaen- opteriden angesehen werden muß. Wenn wir den Versuch unternehmen, diesen Wal in das System einzu- reihen, so haben wir drei Möglichkeiten vor uns, wenn wir nach den bisherigen Grundsätzen bei der Beurteilung derartiger Zwischenformen vorgehen. Wir können Pairiocetus entweder zu den Urwalen stellen und müssen dann die Dia- gnose der Archaeoceten derartabändern, daß die Gegensätze zu den Bartenwalen abgeschwächt erscheinen; oder wir können Patriocetus zu den Bartenwalen stellen und müssen die Diagnose dieser Gruppe in der Richtung zu den Archaeo- ceten erweitern; oder wir können endlich für Patriocetus eine neue systematische Kategorie errichten, die zwischen die Bartenwale und Urwale zu stehen käme, ohne daß die Diagnosen der beiden Gruppen modifiziert zu werden brauchten. Aber es ist wohl klar, daß keiner dieser drei Auswege in klarer und ein- Systematische Probleme 391 deutiger Weise das zum Ausdrucke bringt, was das Wesen der ganzen Frage betrifft: daß die bisherigen scharfen Grenzen zwischen Bartenwalen und Ur- walen nicht mehr existieren und daß die ganze Kette, angefangen vom mittel- eozänen Protocetus atavus bis zum lebenden Grönlandswal, ein genetisch eng verknüpftes Ganze darstellt. Wollte man aber an die Möglichkeit denken, Urwale und Bartenwale in eine einzige systematische Einheit zu vereinigen, so haben wir bei unseren bis- herigen Methoden der systematischen Unterscheidung kein Mittel, um gleich- zeitig die genetische Verbindung zwischen Urwalen und Zahnwalen zum Aus- drucke zu bringen. Da muß nun die Frage auftauchen, ob wir nicht bei weiterem Fortschreiten unserer Kenntnisse von der Geschichte der Tierstämme und ihrer Zusammen- hänge und bei neuen Entdeckungen von Bindegliedern größerer Gruppen und der Verschließung von Lücken der Stammesreihen schließlich zu einem Punkte gelangen müssen, an dem eine Verknüpfung der Darstellung der Phylogenie der Stämme mit der Unterscheidung der Zweigenden in einem System über- haupt unmöglich wird. Fälle wie die Entdeckung von Patriocetus zeigen, daß wir uns schon jetzt mit diesem Probleme beschäftigen müssen. Wo der Ausweg aus diesen Schwie- rigkeiten zu suchen ist und ob er überhaupt gefunden werden kann, ist aber heute noch vollständig unsicher. Es wird kaum möglich sein, die Unterschiede der einzelnen Querschnitte der Stammbaumaäste einerseits, den Verlauf und die Abzweigungsstellen andererseits in einem System zum Ausdrucke zu brin- gen. Eines ist sicher, daß der jetzige Zustand der Systematik gebieterisch zu einer Erörterung des Problems drängt, ob sich die Phylogenie und Geschichte des Tierreiches überhaupt in Form einer „systematischen Phylogenie‘‘ oder „phylogenetischen Systematik‘ mit dem ‚System des Tierreiches‘‘ vereinigen lassen wird. 8. Die Popularisierung der Paläozoologie in Schrift und Bild. Popularisierung Wenn die Erörterung der Paläozoologie im Rahmen der biologischen Diszi- Br plinen erschöpfend sein soll, so darf die Besprechung der Popularisierung in ihrer Bedeutung für die Ausbreitung des Interesses für diese Wissenschaft und die Erörterung der verschiedenen Vorteile und Gefahren nicht fehlen, die sich an die Popularisierung knüpfen. Die wissenschaftliche Literatur ist durch die Geheimsprache der Fachleute dem großen Publikum wie ein Buch mit sieben Siegeln verschlossen. Ganz all- mählich tauchte in dem Maße, als die Museen ihre Tore der Öffentlichkeit er- schlossen, in den weiten Kreisen der Naturfreunde aller Bevölkerungsschichten das Verlangen auf, etwas Näheres über die eigentümlichen Formen der vorzeit- lichen Tierwelt zu erfahren. Schon im 18. Jahrhundert begegnen wir einer großen Zahl kleinerer Bücher, Ältere Schriften die teils von Gelehrten, teils von Dilettanten verfaßt sind und zur „Gemüts- Peruiren und Augenergötzung‘ dienen sollten. Als Beispiele derartiger, für einen größe- ren Leserkreis berechneten Abhandlungen mögen die in humoristischer Form 392 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie geschriebenen Aufsätze von Johann Jakob Scheuchzer genannt werden, die in den Anfang des 18. Jahrhunderts fallen. Als die Paläontologie von einer dilettantenhaften Betrachtungsweise zu wissenschaftlicher Methodik überging, dauerte es einige Zeit, bis sich die Paläontologie wieder im populären Mäntel- chen an die breiten Schichten der , Gebildeten‘‘ wandte. Zu den besten Büchern dieser Zeit gehört W. Bucklands Schrift über: ‚Die Urwelt und ihre Wunder‘, welche weite Verbreitung fand. Dann folgten G. A. Mantells ‚The Medals of Creation‘ (1844) und „The Wonders of Geology‘‘ (1858), und um diese Zeit ent- standen noch viele andere Schriften populärwissenschaftlichen Inhalts, wie die berühmte ‚Geschichte der Schöpfung‘ Burmeisters (1856), Quenstedts „Sonst und Jetzt‘ (1856) und viele andere. Schuberts allgemeine Naturge- schichte, die zuerst 1825 erschien, hat sich am längsten, wenngleich ganz un- verdienter Weise, behauptet, während die populären Schriften von Wagner, Burmeister, Zimmermann, Quenstedtundanderen rasch der Vergessen- heit anheimgefallen sind. Ein Buch, das wirklich verdient, der Vergessenheit wie- der entrissen zu werden, ist die mitgroßer Lebhaftigkeit geschriebene Darstellung von OÖ. Fraas ‚Vor der Sündfluth‘ (1866), ein Buch, das zu den besten Werken auf populärwissenschaftlichem Gebiete gehört, heute aber freilich in wissenschaft- licher Hinsicht längst veraltet und nur für historische Studien wertvoll ist. Vergleiche der Um den Lesern eine greifbare Vorstellung von den vorsündflutlichen Un- Me geheuern geben zu können, war es notwendig, Landschaftsbilder aus der geo und neuer Zeit. Jogischen Vorzeit zu entwerfen und die fossilen Tiere in Rekonstruktionen als Staffage zu verwenden. Da erschienen wilde Saurier, die sich gegenseitig mit ihren furchtbaren Gebissen zerfleischten; auf anderen Bildern erschienen wie in einer Menagerie die Vertreter verschiedener im Leben sich bekämpfender Tierarten friedlich nebeneinander gestellt. Aus den Rekonstruktionen, die in allen Populärdarstellungen jener Zeit unter wissenschaftlicher Aufsicht von Künstlern angefertigt wurden, ist klar der Umfang der Kenntnisse von der Morphologie der betreffenden Formen zu ersehen. So erscheint noch 1866 der Mastodonsaurus ohne Schwanz, weil damals noch keine Skeletteile aus der Schwanzregion dieses Tieres bekannt waren und man der Meinung war, daß er mit den Fröschen näher verwandt sei als mit den Schwanzlurchen. Die Flug- saurier erschienen mit abenteuerlich gestellten Flügeln; der Rhamphorhynchus nach der Auffassung der damaligen Zeit ist ein Zerrbild im Vergleiche mit un- seren heutigen Anschauungen von dem Aussehen dieses Tieres, von dem seither zahlreiche vorzüglich erhaltene Reste bekannt geworden sind. Damals wußte man noch nicht, wie lang sein Flugfinger war und daß der ungemein verlängerte Schwanz ein rhombisches Hautsegel am Schwanzende trug. Man kannte noch nichts Näheres über die Zahl der Finger und Zehen, so daß man Fährten aus den lithographischen Schiefern Bayerns mit den Resten von Rhamphorhynchus in Zusammenhang bringen konnte, während es heute als sichergestellt betrach- tet werden darf, daß diese Fährten von dem bipeden Dinosaurier Compsogna- thus herrühren. Auch die Vorstellungen von dem Aussehen des Pterodactylus ha- ben sich sehr verändert, und zwar in diesem Falle weniger infolge neuer Funde, Popularisierung der Paläozoologie 393 als durch gründliche Revision und neuerliche Bearbeitung derselben Reste, welche die Grundlage der alten Rekonstruktionen bildeten. Wie sehr diese Re- konstruktionen durch neue Funde beeinflußt werden, wobei wir dem wirklichen Aussehen des fossilen Tieres Schritt für Schritt näher kommen, beweisen die neuen Untersuchungen G. F. Eatons über den Schädelkamm von Pteranodon (1910), wodurch unsere Vorstellungen von dem Aussehen des Schädels dieses Flugsauriers wesentlich modifiziert worden sind. In den letzten 20 Jahren macht sich nun in der Populärliteratur eine Rich- tung breit, die auf das schärfste bekämpft werden muß, weil ihre Darstellungen nicht von Fachmännern herrühren, sondern von Außenseitern, die in ober- flächlicher Weise das Material für das große Publikum verarbeiten, wobei ihre Darstellungen von Irrtümern wimmeln. Als einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung ist der heute viel gelesene Bölsche zu bezeichnen, der mit großer Sicherheit, unterstützt durch eine vorzügliche und fesselnde Darstel- lungsform, zahllose Irrtümer und höchst persönliche Anschauungen ohne wis- senschaftliche Basis den breiten Volksmassen gegenüber so darzustellen sucht, als ob seine Phantasien Gemeingut der Wissenschaft wären. Seine anschaulichen Schilderungen vom Leben und Treiben der Dinosaurier lesen sich leicht und angenehm, da sie flott geschrieben sind, tragen aber Irrtümer auf Irrtümer ın die breiten Volksschichten, welche nicht zu unterscheiden vermögen, wo die Grenzen der Wissenschaft und des Dilettantismus liegen. Wie leichtfertig heute vielfach mit der Popularisierung vorgegangen wird, zeigt eine in jüngster Zeit in der Wochenschrift der Wiener ‚Urania‘ erschie- nene Artikelserie von F. Knauer über die Entstehung des Vogeltluges. Zur Illustrierung dieses Artikels, der einer höchst flüchtigen Verarbeitung der neue- ren Literatur über dieses Thema seine Entstehung verdankt, bringt der Ver- fasser Bilder verschiedener Flugsaurier und des Urvogels Archaeopteryx.!) Da erscheinen nebeneinander auf einem Bilde, in ein und dieselbe Landschaft ge- stellt, ein Rhamphorhynchus, ein Pteranodon, ein Pterodactylus und eine Ar- chaeopteryx. Während aber Pteranodon, den der Autor nach seinem eigenen Gutdünken oder dem Vorbilde der Populärpaläontologie in Pterodactylus orni- thosoma (!) umtauft, der oberen Kreideformation angehört, lebten die übrigen, auf demselben Bilde in dieselbe Landschaft gestellten fossilen Reptilien und der Urvogel in der oberen Juraformation! Es ist hier also derselbe schwere Fehler wie im zweiten Bande von ‚Weltall und Menschheit‘‘ gemacht worden, wo auf einer von der Meisterhand Kuhnerts gemalten Doppeltafel zwei Ex- emplare des Brontosaurus aus der oberen Juraformation von dem Raubdino- saurier Laelaps der oberen Kreidezeit angefallen werden. Nächstens werden vielleicht, wenn eine derartige Leichtfertigkeit weitere Nachahmung findet, Mammute im Kampfe mit Allosaurus dargestellt werden. Wenn wir aber die Zeichnungen in diesem Aufsatze ‚Die Herkunft der Vögel‘‘ näher betrachten, so zeigt sich, daß der Autor als Vorbild für seinen 1) Dieses Bild ist seither in Nr. 1216 der Zeitschrift „Prometheus“, 1913, p. 315 nach- gedruckt worden. 394 O. ABEL: Paläontologie und Paläozoologie Rhamphorhynchus die alte Rekonstruktion aus dem Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gewählt hat und daß er dieneueren Rekonstruktionen vonO.C. Marsh, E.v. Stromer und anderen gänzlich ignorierte. Was für eine Vorstellung von dem Flügelbaue dieser Saurier soll sich der Laie machen, wenn der Arm von Rhamphorhynchus hier ganz frei von einer Flughaut gezeichnet ist und sich dieselbe nach der Vorstellung des Autors aus dem Hüftbeinwinkel als dreieckiges Segel nach vorne und oben ausspannt, um von einer bogenför- migen Sehne oder einem Knochen mit zwei freien Enden abgeschlossen zu werden! Daß Pieranodon noch ohne Schädelkamm dargestellt ist, mag damit entschuldigt werden, daß das betreffende Heft am 3. Februar 1912 erschien, die Abhandlung von G. F. Eaton dagegen kaum zwei Jahre vorher. Aber die Spannweite hätte trotz allem in richtigem Verhältnisse zu den übrigen darge- stellten Tieren stehen können. Ich will dieses Beispiel nicht weiter verfolgen und auch keine weiteren an- führen. Wo immer man aus der Populärliteratur der letzten Jahre ein Buch herausgreift, wird man solchen Dingen begegnen; es ist die Leichtfertigkeit in der Wiedergabe von Resultaten der wissenschaftlichen Forschung für unsere Zeit geradezu bezeichnend geworden. Diese bedauerliche Erscheinung hängt damit zusammen, daß trotz der großen Zahl berufener Fachleute heute nur sehr wenige auf populärwissenschaft- lichem Gebiete tätig sind. Dilettanten halten Lichtbildervorträge über Unge- heuer der Vorwelt, Laien schreiben aus Lehrbüchern unverstandene Fragen und Lösungsversuche ab und schmücken sie nach Gutdünken mit ihren eigenen Vor- stellungen aus. Dieser Zustand darf von wissenschaftlicher Seite aus nicht ach- selzuckend ignoriert werden; er ist zu bekämpfen, weil ganz falsche Vorstel- lungen von der Paläontologie in die breiten Volksschichten gelangen und nicht nur die Methodik der Forschung, sondern die Aufgaben und Ziele der Paläo- zoologie in ein ganz falsches Licht gerückt werden. Es wird daher eine ernste Aufgabe der Paläozoologen sein, diese Literatur nicht nur zu bekämpfen, sondern in der Weise auszumerzen, daß wieder, wie vor 50 Jahren, die Popu- larisierung von Fachleuten selbst in die Hand genommen wird. Es kann für die Wissenschaft nicht gleichgültig sein, in welcher Verzerrung sie dem Volke mundgerecht gemacht wird. Gerade aus dem Grunde, weil das Interesse des großen Publikums an diesen Fragen von Jahr zu Jahr zunimmt, ist es not- wendig, daß sich die Forscher selbst die Mühe nehmen, die Fortschritte der Paläozoologie weiteren Kreisen vor Augen zu führen und diese wichtige Auf- gabe nicht jenen zu überlassen, die sich in leichtfertiger Weise in dem Ge- fühle der Unverantwortlichkeit an der Aufklärung des Volkes beteiligen. Für die Paläozoologie, die in den letzten 50 Jahren so große und reiche Erfolge aufzuweisen hat, ist die Frage der Stellungnahme zur Popularisierung wichtiger als die bei anderen biologischen Disziplinen; Lichtbildervorträge, Demonstra- tionen, vor allem aber die Herausgabe guter und leichtfaßlicher Volksschrif- ten durch die Paläontologen selbst werden diese Auswüchse der modernen Po- pularisierungswut rasch verschwinden machen. Literatur. (Schriften zusammenfassenden Inhalts, Lehrbücher und Handbücher.) CUVIER, C. G., Recherches sur les Ossemens fossiles (r. Aufl. 1812; 2. Aufl. 1821; 3. Aufl, 1825; 4. Aufl. 1834). OWEN, R., Palaeontology; or, a Systematic Summary of Extinct Animals and their Geological Remains (1. Aufl. 1860; 2. Aufl. 1861). ZITTEL, K. A. von, Handbuch der Paläontologie. I. Abt. Paläozoologie. IV Bde. (Das erste Heft erschien 1876; abgeschlossen 1893.) GAUDRY, A., Les enchainements du monde animal dans les temps geologiques. IV Vols., Paris 1878 — 1896. CoPE, E. D., The Origin of the Fittest. — Essays on Evolution. New York 1887. NICHOLSON, H. A. and LYDEKKER, R., A Manual of Palaeontology for the Use of Students, with a General Indroduction on the Principles of Palaeontology. 3. Aufl. 1889. WILLIAMS, H.S., Geological Biology: An Introduction to the Geological History of Organisms. New York 1895. NEUMAYR, M., Erdgeschichte. II. Bd. 2. Aufl., bearbeitet von V. UHLIG. 1895. ZITTEL, K. A. von, Grundzüge der Paläontologie (Paläozoologie). ı. Aufl. (1 Bd.) 1895; 2. Aufl. (in 2 Bd.), neubearbeitet, abgeschlossen 1911. CoPpE, E. 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Handwörterbuch der Naturwissenschaften (Jena, G. Fischer); im Erscheinen begriffen. Einleitung. PALAEOBOTANIK. Von W. J. Jonemans. I. Einleitung. Fossile Pflanzen sind schon sehr früh in der Literatur erwähnt. Es war schon vielen Forschern des 17. und 18. Jahrhunderts aufgefallen, daß sich in verschiedenen Gegenden Pflanzenabdrücke oder versteinerte Bäume oder Äste befanden. In den meisten Fällen war jedoch die Deutung dieser Gebilde höchst eigentümlich. In der allerersten Zeit hielt man sie für zufällige Erzeugnisse und dachte nicht entfernt daran, sie mit Pflanzen, welche früher gelebt haben, in Verbindung zu bringen. Doch schon verhältnismäßig früh sah man ein, daß diese Auffassung nicht haltbar ist und daß es sich tatsächlich um Reste früherer Pflanzen handelt. Es ist nun selbstredend, daß die weitere Entwicklung der Paläobotanik regelmäßig Schritt hält mit derjenigen der allgemeinen Geologie. Daher wurden, nachdem man einmal eingesehen hatte, daß essich um Pflanzen- reste handelt, diese Pflanzen mit der damals noch allgemein angenommenen Sintflut in Zusammenhang gebracht. Man nahm an, daß die fossilen Pflanzen dieselben waren, welche zu dieser Zeit die Erde bedeckten. Daß die Typen, welche man fossil fand, ganz andere waren, als die, welche jetzt in den Gegenden, wo man die Fossilien antrifft, vorkommen, empfand man nicht als besondere Schwie- rigkeit. Teilweise wurden sie ganz falsch bestimmt und zum anderen Teil als durch jenes Ereignis von fremden Gegenden angeschwemmte Pflanzen gedeu- tet. Man war so fest überzeugt, daß die Pflanzen aus der Zeit der Sintflut stamm- ten, daß sogar eine ganze Literatur darüber entstand, in welcher man aus den Pflanzen und den Entwicklungsstadien, in welchen man sie fand, die Jahres- zeit, in der die Sintflut stattgefunden hatte, zu bestimmen versuchte. Schon im 18. Jahrhundert gab es indessen einige Forscher, die darauf hin- wiesen, daß die fossilen Pflanzen von den jetzt lebenden verschieden waren. Die eigentliche Grundlage der Paläobotanik wurde jedoch erst im Anfang des 19. Jahrhunderts gelegt. Männer wie Sternberg, Schlotheim und Brong- niart haben für die damalige Zeit ausgezeichnete Arbeiten geliefert. Erst von dem Erscheinen ihrer Bücher an war es möglich, von einer Paläobotanik zu reden. Die Hauptaufgabe der Paläobotaniker bestand damals noch in der Be- schreibung der Flora der einzelnen Gegenden und Formationen. Leider war es vielen Forschern unmöglich, ihr Material mit dem von anderen zu vergleichen und zudem war die Technik noch nicht so weit fortgeschritten, um solche aus- Einleitung 397 gezeichnete Abbildungen, wie wir sie jetzt z. B. in Zeillers Büchern bewundern, liefern zu können. Der Vergleich mit älteren Abbildungen mußte in vielen Fäl- len zu falschen Schlußfolgerungen führen, da doch immer bei der Anfertigung von Zeichnungen die Phantasie eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Eine der ersten Folgen dieser Schwierigkeiten sehen wir in den jetzigen Synonymen- listen. Fast jede einigermaßen allgemeine Pflanze ist wiederholt als neue Art beschrieben worden. Nun muß zwar zugegeben werden, daß auch das Material an und für sich leicht zu solchen Verwirrungen führt. Denn was das Material betrifft, sind die Paläobotaniker entschieden im Nachteil den Paläozoologen gegenüber. Bei den fossilen Pflanzen handelt es sich fast ausschließlich um Fragmente, und erst große Serien von Exemplaren oder sehr glückliche Zufälle können zur richtigen Erkenntnis einer fossilen Pflanze führen. Die Beschreibungen der einzelnen Floren haben ein riesenhaftes Material angehäuft, dem vieles für spätere Forschungen von pflanzengeographischer oder klimatologischer Natur entnommen werden kann. Ein Ergebnis von ganz be- sonderer Wichtigkeit war es jedoch, daß, wie jede Formation ihre eigene Fauna hatte, sie auch durch ihre eigene Flora charakterisiert war. Die Pflanzen sind also, ganz ebenso, wie die Tiere, für die Bestimmung des geologischen Horizon- tes geeignet. In dieser Zeit, welche wir die der beschreibenden Paläobotanik nen- nen können, haben sich die Botaniker nur sehr wenig mit diesem Zweige ihrer Wissenschaft beschäftigt, denn auch die oben angedeuteten pflanzengeographi- schen und klimatologischen Arbeiten datieren fast ohne Ausnahme aus den letz- ten Jahrzehnten. Die Botaniker wurden erst dann aufmerksam, als es sich um Reste handelte, welche noch die Struktur zeigten. Zwar gibt es schon einige ältere Arbeiten über solche Reste. Sogar Brongniart hat sich schon damit beschäftigt, aber immer handelte es sich doch mehr um die Beschreibung der allgemeinen Merkmale, als um Einzelheiten des feineren anatomischen Baues. Auch hier mußte die Technik erst zu Hilfe kommen. Die früheren For- scher fertigten sehr dicke Schliffe an, welche nicht durchsichtig waren, oder sie begnügten sich damit, die Schnittflächen zu polieren und eine Zeichnung da- von zu entwerfen. Es ist selbstredend, daß es unmöglich war, auf diese Weise die feineren Einzelheiten zu Gesicht zu bekommen. Eine etwas sorgfältigere Präparation erfuhr z. B. schon das Material von Renault. Aber wenn man die Originalschliffe seiner Sammlung sieht, versteht man doch kaum, wie es ihm möglich war, schon so viele Details an solchen dicken Schliffen festzustellen. Man muß staunen, wenn man das Material vergleicht mit den großartigen Resul- taten seiner Arbeit. Der eigentliche Vater der Anatomie der fossilen Pflanzen war William- son. Ihm verdanken wir wundervolle Untersuchungen, welche zum weitaus größten Teil an Material aus dem englischen Karbon ausgeführt wurden. Wil- liamson ist der Gründer der englischen Schule, welche jetzt eine der bedeu- tendsten auf paläontologischem Gebiet ist. Die Technik der Anfertigung der Dünnschliffe ist so weit fortgeschritten, daß wir imstande sind, die dazu geeig- Erhaltungs- weisen der fos- silenPflanzen und Untersuchungs- methoden. 398 W.]J. JonGMANS: Paläobotanik neten fossilen Pflanzen fast genau so gut zu untersuchen wie rezentes Material. Dafür nur ein Beispiel. Es gelang Gordon bei seinen Untersuchungen über Diplolabis Serien von Dünnschliffen anzufertigen, welche aus einem Block in bestimmten Intervallen von einer Dicke von t/,, bis !/], und bisweilen sogar nur 1/,, eines englischen Zolls geschnitten wurden. Die weitaus größte Zahl der fossilen Pflanzen kommt als Abdruck vor. Ist z. B. ein Blatt eingeschlossen, so erhält man eine Platte mit dem Abdruck der Oberseite und eine Gegenplatte mit dem der Unterseite. Dazwischen findet man dann die in Kohle umgewandelte Blattsubstanz. In einigen Fällen, be- sonders bei Blättern und Wedeln aus der Juraformation, kann diese Kohlen- schicht in größeren oder kleineren Stücken vom umgebenden Gestein abgehoben und getrennt aufbewahrt werden. Sehr schöne Beispiele dafür werden im Stock- holmer paläobotanischen Museum aufbewahrt. In solchen Fällen ist es dann auch möglich, durch geeignete Methoden, wie Mazeration der Kohle mittels Sal- petersäure und Kaliumchlorat, noch mehr von der Struktur zu Gesicht zu be- kommen. Die vielen Arbeiten von Nathorst über Rhätische und Jurassische Pflanzen liefern zahlreiche Beispiele. Diese Abdrücke werden oft von manchem als botanisch wenig wichtig be- zeichnet. Als Grund dieser Auffassung wird dann angegeben, daß sie so wenig Einzelheiten zeigen. Diese Auffassung ist jedoch gänzlich unberechtigt. Wohl allgemein wird der hohe Wert der Abdrücke für stratigraphische und allgemeine Studien zugegeben. Dadurch, daß Funde von Abdrücken viel häu- figer sind als solche von Struktur zeigenden Resten, werden die Abdrücke für die Lösung von allgemeinen geologischen Fragen wohl immer von sehr großer Wichtigkeit bleiben. Aber auch die Auffassung, daß die Abdrücke zu wenig bo- tanische Details zeigen, trifft nicht im allgemeinen zu. Durch die neueren Me- thoden, nämlich die Kollodiummethode und das Mazerieren der Kohle, welche den Abdrücken anhaftet, hat man in der letzten Zeit Einsicht erhalten in viele Details bei Abdrücken. Wenn man die oben schon erwähnten Arbeiten von Nathorst und von vielen anderen durchblättert, ist man erstaunt über den Reichtum von Tatsachen, welche in dieser Weise gefunden worden sind. Es ist bei vielen Fruktifikationen gelungen, die Sporen zu isolieren; man kann Epi- dermis und Spaltöffnungen studieren; die Struktur der Sporangien wird in vie- len Fällen äußerst klar durch Anwendung der Kollodiummethode. Kurz, ein ganzes, in vieler Hinsicht noch unbearbeitetes Feld für neue Untersuchungen auf paläontologischem Gebiet liegt vor uns. Nur soll man diese Methoden nicht auf dazu nicht geeignete Objekte anwenden. So ist es z. B. nicht oder fast nicht möglich, Kollodiumabdrücke zu erhalten von Abdrücken von Wedeln aus dem Karbon, denen die Kohle noch anhaftet. Ausgebranntes Material aus den glei- chen Schichten liefert dagegen oft ein sehr gutes Resultat. Zur Aufhellung nicht sehr deutlicher Objekte kann in manchen Fällen mit gutem Erfolg Zedernöl verwendet werden. Wie Halle angibt, hat er damit bei der Untersuchung jurassischer Farnreste und ihrer Fruktifikationen schöne Re- sultate erzielt. Erhaltungsweisen; Untersuchungsmethoden 399 Auch die allgemeine Benutzung der binokulären Mikroskope wird noch in manchen Fällen Klarheit bringen, wo jetzt noch Zweifel herrscht. Renier hat vor kurzem zum ersten Male Stereoskopaufnahmen von Calamiten-Fruktifika- tionen veröffentlicht, welche auch viel für die Zukunft versprechen. Hieraus ersieht man, daß durch Anwendung geeigneter Methoden auch von Abdrücken in vielen Fällen sehr weitgehende Aufklärung über die Struktur zu erhalten ist. Falls die Pflanzen, welche fossilisiert wurden, innere Hohlräume besitzen, wie dies bei vielen Stengeln und Früchten der Fall ist, so können diese Hohl- räume auch mit der Umhüllungsmasse erfüllt sein. In diesem Falle entsteht ein Steinkern. Die Oberfläche solcher Steinkerne zeigt dann die Skulptur, welche die Innenfläche der Höhlungen gehabt hat. An der Außenseite ist ein solcher Steinkern in den meisten Fällen mit einer Kohlenschicht als Rest der Gewebe bedeckt, auf welcher man zuweilen mehr oder weniger deutliche Spuren der Skulptur der Oberfläche der betreffenden Stämme oder Früchte findet. Den Abdruck dieser Oberfläche findet man in dem sogenannten Hohldruck, welcher den Steinkern und die Kohleschicht umgibt und durch das Abdrücken der äußeren Oberfläche in die Umhüllungsmasse gebildet wurde. Die am besten erhaltenen Abdrücke findet man in Schiefern, oder, wenn es sich um jüngere Formationen handelt, in Lehm oder Ton. Diese zeigen oft die Details der Nervatur in staunenswerter Klarheit. Viel weniger gut, aber doch oft brauchbar, sind Abdrücke in sandigen Schiefern oder in nicht zu grobkörni- gen Sandsteinen. Ist der Sandstein zu grobkörnig, so werden die Abdrücke un- deutlich und sind dann in den meisten Fällen nicht mehr zu bestimmen. Ganz besonders schöne Abdrücke findet man im Innern der Toneisenknol- len. Aus diesen stammt z. B. ein großer Teil des Materials, an welchem Kid- ston seine Entdeckungen über Neuropteris und Crossotheca gemacht hat. Wird eine Pflanze in die Umhüllungsmasse eingeschlossen, so kann es vor- kommen, daß die organische Substanz nicht als Kohle zurückbleibt, sondern ganz verwest. Der Pflanzenkörper hinterläßt dann im umgebenden Gestein eine Höhlung, deren Wand genau die äußere Skulptur der Oberfläche der Pflanze zeigt. So zeigen die pliocänen und quaternären Tuffe von Meximieux beiLyon und von Cannstadt zahlreiche Höhlungen und Löcher, aus denen die Pflanzen- substanz verschwunden ist. Wenn man nun unter der Luftpumpe diese Tuff- stücke mit geschmolzenem Wachs imprägniert, und dann das umgebende Ge- stein, falls essich um Kalk handelt, mit Salzsäure löst, so erhält man den Pflan- zenteil wieder körperlich. Diese Erhaltungsweise kommt viel vor bei Pflanzen, welche sich in Ablagerungen von Mineralquellen befinden oder in vulkanischen Tuffen. Auch im Bernstein findet man oft solche Hohlräume, welche genau die Form der eingeschlossenen Pflanzen und Tiere zeigen. Auch hier ist die Sub- stanz der Pflanze gänzlich verschwunden. Diesen Erhaltungszuständen gegenüber hat man noch solche, bei welchen die Struktur der Pflanze erhalten ist. Dies sind die sogenannten echten Ver- Coalballs. 400 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik steinerungen oder Intuskrustate. Die ganze Pflanze ist dabei mit der versteinernden Substanz durchtränkt. Als solche versteinernde Substanzen kommen in erster Linie Kieselsäure und Kalziumkarbonat in Betracht, daneben auch noch Eisenkarbonat und Dolomit. Die schönsten Versteinerungen sind die mit Kieselsäure. Die besten Beispiele sind die berühmten verkieselten Pflan- zen von Autun und der Umgebung von Chemnitz. Von solchen mit Kalzium- karbonat sind besonders bekannt die sogenannten Coalballs aus Großbritannien, Deutschland (Ruhrrevier und Aachener Becken), Rußland (Donetz) und aus Österreich. Als weitere Beispiele von versteinerten Pflanzen sind der versteinerte Wald von Arizona und die vielen sonstigen versteinerten Hölzer zu erwähnen. Die Coalballs sind, wie der Name schon sagt, in der Kohle vorkommende Knollen. Auch im Hangenden der betreffenden Kohlenlager werden sie ange- troffen. In typischer Ausbildung sind sie nur aus dem Karbon bekannt. Sie sind an bestimmte Flöze gebunden, in Deutschland z. B. an die Flöze Catha- rina und Finefrau-Nebenbank. Eigentümlich ist es, daß alle Flöze mit Coal- balls, in welchem Lande sie auch gefunden sind, im Hangenden von einer ma- rinen Schicht begleitet sind. Es war also selbstredend, daß man den Ursprung der Knollen in diesen marinen Transgressionen suchte. Als das Karbonmoor, aus dem später das betreffende Flöz entstand, vom Meere überdeckt wurde, wurden die in Lösung befindlichen Kalzium- und Magnesiumsulfate durch den Kohlenstoff der darunter liegenden verwesenden Substanzen reduziert und als Karbonate abgesetzt. Bei einer solchen Absetzung dienten die Pflanzen- fragmente als Mittelpunkt für die Entstehung knollenförmiger Gebilde. In die- ser Weise konnten also in der Kohle selbst größere und kleinere Knollen gebildet werden. Die Bildung der Knollen, welche sich im Hangenden befinden, wird dadurch erklärt, daß auch von dem umgebenden Land Pflanzen ins Meer hinein- trieben. Diese sanken dort zu Boden und wurden dann von Sedimenten, denen viele Tierreste beigemischt waren, überdeckt. Durch die Verwesung der orga- nischen Reste hat wieder die gleiche Reduktion der Sulfate stattgefunden und konnten die Pflanzen wieder versteinert werden. Man findet sie in den Knollen aus dem Hangenden daher auch immer mit Tieren zusammen. In solchen Knol- len sind fast immer die Gewebe nicht so gut erhalten wie in den Knollen aus den Flözen. Dies wird erklärt durch ihren längeren Aufenthalt im Meereswas- ser und die langsamere Versteinerung. Die Pflanzen aus diesen Knollen sind also im Gegensatz zu denjenigen aus den Knollen, welche in der Kohle selbst vorkommen, nicht an Ort und Stelle, wo sie jetzt gefunden werden, gewachsen, also nicht autochthon, sondern allochthon. Hierdurch wird auch erklärt, daß die in den Knollen aus dem Hangenden gefundene Flora oft gänzlich verschie- den ist von der aus den Flözknollen, ja sogar teilweise ganz andere Typen um- fassen kann. Ob essich nun in diesen Fällen, wie von einigen Forschern behaup- tet wird, um die Flora der höher gelegenen Gegenden handelt, läßt sich nicht entscheiden. Notwendig ist es nicht, es kann sich auch um an nah gelegenen Stellen gewachsene Pflanzen handeln. Nur wuchsen sie aller Wahrscheinlich- keit nach nicht in dem zu dem Kohlenflöz gewordenen Karbonmoor. Coalballs; Entstehung der Kohle 401 Solche Knollen sind nicht nur aus dem Karbon, sondern auch aus jüngeren Formationen bekannt. Stopes und Fujii haben ähnliche Knollen in der Kreide von Japan und Gothan und Hörich in der rheinischen Braunkohlen- formation gefunden und untersucht. Manche Pflanzen, zumal niedere Formen, haben in gewissen Formationen die Entstehung ganzer Bänke veranlaßt. So sind die triasischen Diploporenkalke, die tertiären Lithothamniumkalke und die Diatomeenlager ganz oder fast ganz aus Pflanzen aufgebaut. Von ganz besonderem Interesse ist jedoch die Rolle, welche die Pflanzen bei der Entstehung der Kohlenlager gespielt haben. Potonie hat sich durch seine Studien über die Entstehung der Kohle ein großes Verdienst erworben und mit einigen Ausnahmen wird seine Auffassung jetzt wohl von jedem als die richtige angesehen. Potonie teilt die Kaustobiolithe, die brennbarenGesteine, in Sapro- pelite, Humusgesteine und Liptobiolithe ein. Sapropel entsteht aus den imWasser lebenden tierischen und pflanzlichen Organismen. Das rezente Sapropel ist ein Schlamm. Nicht die Kohlehydrate, son- dern Fette und Proteine bilden die Hauptbestandteile. Beispiele fossiler Sapro- pelite sind die Cannelkohlen, auch die Mattkohle der sogenannten Streifenkohle gehört hierher. Bogheadkohlen können besser Sapropeltone genannt werden, da viele anorganische Bestandteile beigemischt sind. Die eigentlichen Sapro- pelkohlen werden Sapanthrakon genannt. Die meisten Kohlen gehören zu den Humusgesteinen, zu welchen von re- zenten Bildungen die Moore gerechnet werden. Diese entstehen in folgender Weise. Zuerst ist ein offenes Wasser vorhanden, in dem Sapropelbildung statt- findet. Allmählich wird das Wasser mit dem Sapropel gefüllt, und an den flach- sten Stellen werden höhere Pflanzen Gelegenheit haben, zu wurzeln und den Schlamm fest zu halten. In dieser Weise entsteht eine Verlandungsstelle, welche im allgemeinen durch Röhrichte eingeleitet wird. Ein Flachmoor ent- steht. Aus diesem kann sich dann durch weitere Hebung der Unterlage ein Zwischenmoor und zum Schluß ein Hochnioor entwickeln. Mit welchem dieser drei Typen nun die Moore aus den verschiedenen geo- logischen Horizonten verglichen werden müssen, ist ziemlich klar. Hochmoore können sich nur lokal und ausnahmsweise fossil erhalten, da sie die Überschwem- mungsgebiete meiden. Die Kohlenlager (und also auch die Moore, aus welchen sie entstehen) können sich nur dann erhalten, wenn sie bedeckt werden. Es sind also vorzüglich Flachmoore, aus welchen die Kohlenlager entstanden sind. Potonie macht nun einen Unterschied zwischen Tertiär- und Karbon- kohlen. Daß zwischen diesen ein Unterschied sein muß, liegt schon in der Na- tur des Urmaterials. Aber auch klimatologisch sind die beiden offenbar ver- schieden gewesen, indem die Karbonmoore mit tropischen, oder doch subtropi- schen Sumpfflachmooren und die Tertiärmoore mit solchen aus gemäßigten Gegenden zu vergleichen sind. Besonders darüber, ob den Karbonmooren ein tropischer Charakter zugesprochen werden muß, sind die Meinungen noch sehr geteilt. Auf die verschiedenen Auffassungen kann hier jedoch nicht eingegangen K.d.G. III ıv, Bd. 4 Abstammungslehre etc. 26 Kaustobiolithe. Entstehung der Kohle. Autochthonie und Allochthonie. Aufbau der Kohlenlager. 402 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik werden. Da es höchst wahrscheinlich ist, daß Potonie&s Auffassungen doch in großen Zügen richtig sind, tun solche Fragen von untergeordneter Bedeutung verhältnismäßig wenig zur Sache. Für die fossilen Moore, die Kohlenlager, gibt Potoni£ nun folgende Ent- wicklungsreihe an: Moor, Torf, Braunkohle, Schwarz (Stein-)kohle, Anthrazit. Durch Einwirkung von Hitze kann aus letzterem Graphit entstehen. Mit dieser stufenweisen Verdichtung des Materials geht eine Abnahme des Gasgehaltes par- allel. Anthrazit enthält am wenigsten Gas. Dieser Gasgehalt kann durch Einfluß von Atmosphärilien infolge tektonischer und sonstiger Verhältnisse (Bedeckung, Störungen) wesentlich beeinflußt werden. Auch durch Einwirkung plutonischer Gesteine können die einzelnen Stufen ineinander übergeführt werden. In solcher Weise gebildete Kohlen sind selbstverständlich autochthon, d.h. an Ort und Stelle entstanden. Es kommt indessen auch vor, daß die Ur- materialien der Kohle weggeschwemmt und an anderen Stellen wieder abge- lagert worden sind. Es handelt sich dann um Allochthonie, und zwar um primäre, da esauch möglich ist, daß durch irgendeine Ursache die Kohle (Braun- oder auch Steinkohle) selbst verbröckelt und verschleppt wird. Die letztere Art von Allochthonie nennt man sekundär. Es gibt nun mehrere Forscher, die nicht annehmen, daß die Kohlenlager nur aus an Ort und Stelle gewachsenen Pflanzen entstanden sind, sondern an- geschwemmten Materialien eine mehr weniger große Rolle zusprechen. Einer der wichtigsten Gründe ihrer Auffassung ist wohl der, daß die Bildung eines großen Teiles der Kohlenlager paralisch war. Hierunter versteht man, daß es sich um Küstenland oder doch um Bildungen in der Nähe des Meeres handelte, undes wirdangenommen, daß dorthin viel Treibmaterial hingeschwemmt wurde. Nun sind erstens gerade solche Tiefländer ausgezeichnet zu Moorbildungen ge- eignet, und zweitens wird, wenn das Wasser so rasch fließt, daß es viel Treib- material mitführen kann, die erste Bedingung für die Ablagerung, stagnierendes oder doch ruhiges Wasser, nicht gegeben sein. Es ist denn auch nicht wahr- scheinlich, daß solche angeschwemmten Bestandteile wesentlich zur Bildung der Steinkohlenlager beigetragen haben. Wirkliche Allochthonie ist nun zwar wohl möglich, aber aus den genannten Gründen wird es nurselten vorkommen, daß Materialien, welche weggeschwemmt wurden, an anderen Stellen wieder in solcher Menge angehäuft werden, daß sie zur Bildung von Kohlenlagern führen können. Sekundäre Allochthonie scheint bei Braunkohlen eine nicht gerade seltene Erscheinung zu sein; im allgemeinen wird aber die Kohle in diesem Falle nicht über große Strecken transportiert worden sein. Es ist interessant, die hier nach Potonie geschilderte Entwicklungsweise zu vergleichen mit dem, was man z. B. an einem Kohlenlager in einer Stein- kohlengrube beobachten kann. Unter dem Kohlenlager findet man die Stig- mariabank, welche die unterirdischen Teile solcher Pflanzen enthält, welche das Karbonmoor bewohnten. Unter dieser Stigmariabank findet man fast im- mer eine mit Calamites gefüllte Schicht. In vielen Fällen ist die Calamitesschicht Aufbau der Kohlenlager 403 sehr deutlich, in anderen Fällen mehr weniger verdrückt, aber fast ausnahmslos kann man in den untersten Teilen der Stigmariabank Calamiten finden. Cala- mites ist nun von allen Karbonpflanzen am besten zu vergleichen mit den Röh- richten und hat ganz gewiß die gleiche Rolle gespielt. Hier haben wir also den Anfang der Verlandung. Die Stigmariabank und das Kohlenlager repräsentie- ren das Moor. Da ein solches Moor mit Wasser überdeckt war, so ist es selbst- redend, daß das Wasser zeitweilig höher, zeitweilig niedriger stand. Bei ganz hohem Wasserstand wurde die eigentliche Moorbildung geringer und fand mehr Sapropelbildung statt. Hieraus entstand ein Sapropelit, und dieser lieferte ein Sapanthrakon. Diese Erscheinung sieht man in vielen Kohlenlagern, welche Streifenkohle enthalten. Die Mattkohlen dieser Streifenkohle sind die Sapan- thrakone und vergegenwärtigen die Perioden in der Moorentwicklung, in wel- chen der Wasserstand ein höherer war. Wäre es möglich, in der Glanzkohle noch genau nachzuweisen, aus welchen Pflanzen sie entstanden sind, so würde man wahrscheinlich in der Glanzkohle, welche direkt über und unter der Mattkohle liegt, wieder mehr Calamitenreste finden. Als nun die Moorbildung zu Ende ging, gab es viele verschiedene Möglich- keiten. Wurden die Verhältnisse, welche zur Moorbildung notwendig waren, nur ganz allmählich ungünstiger, so wird man im Hangenden dunkle Gesteine mit vielen autochthonen Pflanzenresten finden, und unter diesen viele Farne. Diese Gesteine enthalten noch viel Kohle und tragen oft in der allernächsten Nähe des Kohlenlagers Brandschiefercharakter. Wenn indessen der Wasser- stand in raschem Tempo gestiegen ist, so wird man weniger Pflanzen oder nur angeschwemmte Fetzen oder gar keine im Hangenden finden. Meist ist dann auch das Gestein aus dem Hangenden nicht so dunkel gefärbt. Findet man in diesem Falle doch dunklere Gesteine, so sind diese meistens reich an Tierresten. In anderen Fällen erfolgten Überschwemmungen durch das Meer, und dann wird man über dem Kohlenlager eine marine Schicht finden. Man kann nun oft, wenn ein Kohlenlager über große Strecken bloßgelegt ist, wahrnehmen, daß das Hangende nicht immer gleich ist. So ist mir ein Koh- lenlager bekannt, bei dem das Hangende teilweise Pflanzen enthält und teil- weise keine oder wenige. Diese beiden Teile gehen ganz allmählich in einander über. Die ersten Strecken, welche Pflanzen enthalten, zeigen nur Calamites und darüber Lepidodendron und Filices. Hieraus geht also hervor, daß der Wasser- stand in dem Teil des Karbonmoores, welcher dem Teile des Kohlenlagers mit wenigen Pflanzen im Hangenden entspricht, bei der Überschwemmung des Moo- res höher gewesen sein muß als in dem übrigen Teil. Die Calamitesschicht zeigt auch hier wieder die Verlandungsstelle, während die darüber liegenden Pflan- zen diejenigen waren, welche in dem teilweise überschwemmten Moore wuch- sen. Wäre der Wasserstand an der Stelle noch niedriger geworden, so hätte die Moorbildung weiter fortschreiten können und so zu einer Zunahme der Mächtig- keit des Kohlenlagers führen können. Im Zusammenhang damit muß noch darauf hingewiesen werden, daß eine 2.05 Devon. 404 W.J. JONGMANS: Paläobotanik genaue Feststellung des Vorkommens von Pflanzenbänken und deren Natur ebensogut wichtige Resultate für stratigraphische Studien haben wird, wie die Feststellung der Bänke mit tierischen Resten. Viel zu wenig sind die Pflanzen bis jetzt von den Geologen berücksichtigt worden. Es gibt sogar Bücher über Leitfossilien, in welchen die Pflanzen ganz weggelassen wurden. Nur an sehr wenigen Universitäten werden von geologischer Seite Vorlesungen über Paläo- botanik gehalten. II. Die Flora der verschiedenen geologischen Formationen. Wie schon in der Einleitung hervorgehoben wurde, hat sich die Flora in den verschiedenen geologischen Formationen oft und beträchtlich geändert. Jede Formation hat ihre eigenen Charakterpflanzen. Von diesen können hier nur die wichtigsten in allgemeinen Zügen besprochen werden. Hierbei wird sich dann wiederholt Gelegenheit bieten, auf einige mehr allgemeine Fragen hinzuweisen. Man unterscheidet die folgenden Hauptformationen: A. Archäikum. C. Mesozoikum. B. Paläozoikum. a) Trias (Rhät, Keuper, Muschelkalk, a) Präkambrium. Buntsandstein). b) Kambrium. b) Jura (Malm, Dogger, Lias). ce) Silur. c) Kreide (Senon, Turon, Cenoman, d) Devon. Gault, Neocom oder Wealden). e) Karbon. D. Känozoikum. f) Perm oder Dyas (Zechstein, a) Tertiär (Pliocän, Miocän, Oligocän, Rotliegendes). Eocän). b) Diluvium (Pleistocän). c) Alluvium. Von der Flora der ältesten Zeiten wissen wir nichts. Aus vorsilurischer Zeit sind überhaupt keine Pflanzen bekannt. Im Silur selbst werden an man- chen Stellen Kieselalgen gefunden, welche in ihrem Bau merkwürdigerweise mit den jetzt noch lebenden Formen übereinstimmen. Was an Landpflanzen aus dem Silur angegeben wird, ist meist sehr problematisch. Mehrere als silurisch beschriebene Floren gehören überhaupt nicht hierher, sondern zum Devon und einige sogar (Little River Group) zum Karbon. Die Flora des Devons ist von manchen Stellen gut bekannt. Man findet hier schon alle Gruppen der paläozoischen Flora vertreten. Am meisten wurden Farne und Lycopodiales gefunden. Daneben wahrscheinlich auch schon Ver- treter der interessanten Pteridospermen oder Cycadofilices. Diese Gruppe zeigt, wie später beschrieben werden wird, im Habitus alle Eigenschaften von Farnen, in der Anatomie auch von Cycadeen. Der Hauptunterschied der C'ycadofilices von den Farnen besteht darin, daß sie Samen tragen. Equisetales sind im Devon mit Ausnahme von Asterocalamites noch nicht bekannt. Sphenophyllum, eine jetzt ganz ausgestorbene Gruppe, welche wahr- scheinlich mit den Equisetales verwandt ist, hat im Devon schon einige Ver- treter. Daneben tritt im Devon der Bäreninsel eine eigentümliche Form, Pseudo- Sılur; Karbon 405 bornia, auf, welche als Mittelform zwischen Equisetalen und Sphenophylien betrachtet wird. Lycopodiales sind auch schon in manchen Formen vertreten, besonders die eigentümliche Gattung Bothrodendron oder Cyclostigma. Gymnospermen sind noch sehr selten. Indessen sind doch z. B. Arten von Cordaites und ein Psygmophyllum (Spitzbergen), welches wahrscheinlich zu den Ginkgoalen gehört, bekannt. Die Flora des Karbons ist viel reicher und auch viel besser bekannt. Karbon. Im unteren Teil, dem sogenannten Culm, zeigt die Flora in verschiedener Hin- sicht noch Anklänge an die devonische. Asterocalamites gehört hier zu den ty- pischen Formen, daneben jedoch schon manche andere, welche mehr den Pflan- zen des mittleren und oberen Teiles des Karbonsähnlich sind. Man kann vom Cuimwanıbistzum Rotkegendenleine/ununterbrochene Serie. von Floren aufstellen, welche alle ineinander übergehen, von denen aber jede für sich ihre eigenen typischen Formen besitzt. Die wichtigsten Bestandteile der Karbonflora sind wieder die Farne und die diesen in so vieler Hinsicht ähnlichen Cycadofilices. Letztere Gruppe war im Karbon offenbar sehr mächtig entwickelt, und das Material zu fast allen Un- tersuchungen und Entdeckungen, welche über sie in den letzten Jahren ge- macht worden sind, stammt aus dieser Formation. Die großen, jetzt ganz ausgestorbenen Vertreter der Lycopodiales, wie Sigil- laria, Lepidodendron und Bothrodendron, haben im Karbon ihre höchste Ent- wicklung erreicht. Sie besitzen mächtige Stämme, welche offenbar ganze Wälder bildeten. Ihre unterirdischen Teile, die Stigmarien, bilden die charakteristi- schen Bänke unter den Kohlenlagern dieser Formation. Sphenophyllum fand ebenfalls seine größte Entwicklung in dieser Zeit; über dem Rotliegenden hat man diese Gruppe nicht mehr gefunden. Typische Vertreter der Karbonflora findet man auch unter den Equisetalen. Die hierzu gehörenden Calamiten kann man am besten vergleichen mit riesen- großen Schachtelhalmen. In der Fruktifikation zeigen sie eine große Mannig- faltigkeit. Man nimmt oft an, daß die Calamiten aus dem Karbon gänzlich von den Formen der späteren Perioden, Equisetum und Equisetites, verschieden sind. Meiner Meinung nach ist der Unterschied nicht so groß. Zwar ist die Frukti- fikation der jüngeren Formen von der der meisten Calamiten verschieden; es sind jedoch schon aus dem Karbon ganz ähnliche Exemplare beschrieben worden. Die Gymnospermen sind im Karbon hauptsächlich durch die Gruppe der Cordaitales vertreten. Diese gehören an mancher Stelle zu den häufigsten Pflan- zen. Daneben findet man im Karbon noch einige Formen, wie Psygmophyllum, welche vielleicht zu den Ginkgoalen gerechnet werden müssen. Aus den Coal- balls und dem sonstigen echt versteinerten Material kennt man noch viele an- dere Typen. Von den früher den Gymnospermen zugerechneten Samen werden wohl sehr viele, wenn nicht die meisten, zu den Cycadofilices gehören. Aus dem obersten Teil des Karbons und dem Rotliegenden kennt man noch mehrere an- dere Gruppen von Gymnospermen, wie Walchia und Voltzia. Calamarien. Spheno- phyllaceae. 406 W.J. JONGMANS: Paläobotanik Wir werden nun die verschiedenen Gruppen der paläozoischen Pflanzen etwas eingehender besprechen. Die Calamarien gehören zu den gemeinsten fossilen Pflanzen aus dem Kar- bon. Sie besitzen ein verzweigtes Rhizom und aufwärts wachsende Stämme, an welchen man Knoten und Glieder unterscheiden kann. Auch die Stämme sind verzweigt. Die Blätter stehen in Wirteln und zwar in sternförmigen Wirteln an dünneren, besonderen Blattzweigen oder an den Knoten der dickeren Stämme. Im letzten Falle besitzen sie mehr oder weniger das Aussehen einer Scheide. An den Steinkernen der Calamiten, den Ausfüllungen der Markhöhle, findet man auf den Gliedern Rippen und Furchen. Die äußere Oberfläche der Stämme zeigt diese meistens nicht. Hier sind dagegen an den Knoten die Blattnarben und, wenn der Stamm verzweigt war, auch die Astnarben zu finden. Es ist jedoch möglich, daß nicht alle sogenannten Astnarben wirklich Äste getragen haben, sondern, daß in mehreren Fällen die Fruktifikation an solchen Narben befestigt war. Auch die Wurzeln hinterlassen ähnliche, nur meist etwas kleinere Narben, welche oft fast ebenso regelmäßig angeordnet sind wie jene der Äste. Die Fruktifikation der Calamiten besteht aus Ähren mit einer zentralen Achse, welche abwechselnde Wirtel von sterilen und fertilen Blättern trägt. Die fertilen haben meist die Form von säulenförmigen Sporangienträgern, an deren oberem Ende die Sporangien befestigt sind. Man kann verschiedene Typen die- ser Ähren unterscheiden, hauptsächlich nach der Weise, in der die Sporangien- träger der Achse eingefügt sind. Die meisten Ähren besitzen nur eine Art von Sporangien, man hat jedoch in letzterer Zeit auch Exemplare gefunden mit großen (Makro-) und kleinen (Mikro-) Sporen. Die Entdeckung dieser Hetero- sporie ist von großer Bedeutung gewesen für die Frage der Verwandtschaft der Equisetales. Der Bau der Stämme stimmt im großen und ganzen mit dem von Equi- setum überein. Der Hauptunterschied ist darin gelegen, daß Equisetum kein Dickenwachstum und auch keine Holzbildung besitzt. Denn bei Calamiten wird von den Außenecken der Gefäßbündel aus Holz gebildet. Dadurch entsteht schließlich ein solider Zylinder, der nur von den Markstrahlen unterbrochen wird. Diese Markstrahlen verlaufen vom zentralen Teil nach außen und teilen also den Holzzylinder in Segmente. Die Sphenophyllaceen zeigen gleichfalls gegliederte Stämme; an den Knoten stehen auch hier Blattwirtel. Die Blätter sind bei den meisten Arten der Haupt- sache nach keilförmig, bei anderen jedoch mehr oder weniger tief gespalten. Es kommt sogar bei einigen Arten vor, daß sie nur aus dichotomisch verzweigten, linealen Zipfeln bestehen. Die Glieder sind auch hier gerippt. Während jedoch bei allen Calamiten, mit Ausnahme von Asterocalamites und vielleicht von einigen Formen aus dem unteren Teil des Karbons, die Rippen an den Knoten alter- nieren, ist dies bei den Sphenophylien nicht der Fall. Die Fruktifikationen zeigen sehr verschiedene Typen. Bei den meisten For- men sind es endständige Ähren. Aber jenach Zahl und Stellung der Sporangien zerfällt diese Gruppe noch weiter in verschiedene Typen. In einer anderen Calamarien; Sphenophyllales; Lycopodiales 407 Gruppe ist jedoch der fertile Teil oben und unten von sterilen Teilen begrenzt. Ähnliche Unterschiede findet man auch bei rezenten Lycopodiaceen. Interessant ist es, daß in neuerer Zeit an Material aus dem böhmischen Karbon auch bei den Sphenophylien Heterosporie gefunden worden ist. MitSphenophyllum ist vielleicht auch der sehr komplizierte Cheirostrobus ver- wandt. Diese Form sowie die devonische Gattung Pseudobornia von derBäreninsel können vielleicht, wenn mehr darüber bekannt wird, vieles beitragen zur Kennt- nis der Verwandtschaft zwischen den Sphenophyllaceen und den Equisetaceen. Der Stamm von Sphenophyllum besitzt im Zentrum ein dreieckiges (tri- archisches) Gefäßbündel, welches sich zentripetal entwickelt hat. Durch Ver- mittlung einer Kambiumschicht findet später sekundäres Wachstum statt; wenn diese sekundäre Holzschicht dicker wird, verschwindet nach außen zu die dreieckige Form des primären Holzes. Das voll ausgewachsene Stengelbündel istrund. Das Ganze wird von einer dicken, aus mehreren konzentrischen Schich- ten bestehenden Rinde umgeben. Die Lycopodiales sind zu den charakteristischsten Pflanzen des Paläozoi- kums zu rechnen. Wie schon gesagt wurde, haben sie ihre Höchstentwicklung im eigentlichen Karbon. Es sind Stämme von einer oft staunenswerten Höhe, Viele dieser Formen müssen sehr hohe Bäume gewesen sein. Man rechnet neben einigen kleineren Formen, wie Selaginellites und Lycopodites, welche in mancher Hinsicht mit den jetzt lebenden Vertretern der Gruppe zu vergleichen sind, zu den Lycopodialen die Gattungen Lepidodendron, Bothrodendron, Sigillaria, Pinakodendron usw. Alle zeigen sie auf der Oberfläche der Stämme eine eigentümliche Skulptur. Bei den Lepidodendren ist in normalen Fällen die Oberfläche der Stämme von mehr oder weniger rhombischen Blattpolstern bedeckt, welche meist in ihrer oberen Hälfte die eigentliche Blattnarbe tragen, auf welcher man die Durch- trittsstellen des Gefäßbündels und der dieses begleitenden Stränge sehen kann. Über der Blattnarbe findet man noch eine meist dreieckige Narbe, die soge- nannte Ligulargrube. Die Ligula ist ein nur bei fossilen Formen und bei Isoetes vorkommendes Organ, dem hoher Wert beigelegt wird für die Beurtei- lung der Verwandtschaft der einzelnen Formen. Die Stämme sind oft reich verzweigt. Die dünneren Äste findet man viel- fach noch im Zusammenhang mit den Blättern. Es kommt jedoch auch vor, daß man die Blätter noch an alten Stämmen findet. Diese Blätter sind offenbar von sehr verschiedener Größe gewesen. Man hat Blätter von etwa einem Zentimeter und auch solche von etwa einem Meter gefunden. Die Fruktifikation besteht aus Zapfen, welche entweder am Ende dünnerer Zweige oder auf den Stämmen getragen werden. Die Zapfen bestehen aus einer Achse, an der die Sporophylle, die die Sporangien tragenden Blätter, sitzen. Die Zapfen enthalten auch hier zweierlei Sporen, wie die Ähren der Calamaria- ceen und Sphenophyllaceen. In dieser Hinsicht sind sie also von den jetzt leben- den Lycopodien verschieden und stimmen darin überein mit den heterosporen Selaginellen. Lycopodiales. 408 W.J. JOnGManS: Paläobotanik Die Stammskulptur der Sigillarien ist dadurch von der der Lepidodendren verschieden, daß die Blattnarben nicht auf Polstern stehen, sondern bald locker, bald gedrängt direkt auf der Oberfläche. In einigen Fällen stehen sie in so ge- drängten Längsreihen, daß die ganze Oberfläche damit bedeckt ist, in anderen Fällen ist der Stamm gerippt und die Blattnarben stehen in regelmäßigen Längs- reihen auf diesen Rippen. Bei einer dritten Gruppe ist von dieser Berippung nichts zu sehen und die Narben stehen in Längsreihen auf der sonst nur mit einer oft überaus reichen Skulptur aus feinen, gebogenen Linien versehenen Stammoberfläche. Die Verzweigung der Sigillarien ist viel weniger reich als die der Lepido- dendren. Die Fruktifikation besteht gleichfalls aus Zapfen, welche im Bau in mancher Hinsicht mit denen der Lepidodendren zu vergleichen sind, aber durch die Form der Sporophylle und einige weitere Eigenschaften sofort von diesen zu unterscheiden sind. Sie wurden niemals am Ende dünnerer Zweige, sondern im- mer unmittelbar an den Stämmen getragen. Die dritte Gruppe der Lycopodiales, die der Bothrodendraceen, zeigt in mancher Hinsicht Übereinstimmung mit der Gruppe der Sigillarien, bei welcher die Oberfläche keine Rippen zeigt und die Blattnarben voneinander getrennt in regelmäßigen Längsreihen stehen. Die Stammoberfläche zwischen den Blattnarben ist bei den Bothro- dendraceen, wie in einer anderen kleinen Gruppe, den Pinakodendraceen, mit einer überaus zierlichen Skulptur versehen. Es ist oft sehr schwierig, diese verschiedenen Gruppen auseinander zu halten. Die unterirdischen Organe der Lepidodendren und Sigillarien nennt man Stigmarien. Diese Stigmarien haben auch eine große praktische Bedeutung, da aus ihnen die fast unter jedem Kohlenlager vorkommenden Bänke aufgebaut sind. Sie bilden dichotomisch verzweigte unterirdische Organe. Wenn man die vollständigen Exemplare betrachtet, wie diese in Berlin und Manchester auf- bewahrt werden, wo die Stigmarien noch mit den oberirdischen Stämmen in Ver- bindung sind, so sieht man zunächst vier Hauptstigmarien an der Basis der Stämme ansitzend. In Wirklichkeit sind es deren nur zwei, welche beide sehr nahe an der Insertionsstelle schon gegabelt sind. Der Aufbau der Stigmarien ist vom Anfang an dichotomisch. Auf der ganzen Oberfläche der Stigmarien sind kreisförmige Vertiefungen zu sehen, welche mehr weniger im Quincunx an- geordnet sind. Oft ist durch Druck diese regelmäßige Anordnung gestört. An diesen Vertiefungen waren die Wurzeln befestigt, welche oft noch mit dem Hauptkörper im Zusammenhang gefunden werden. Man erblickt darin, ob die Stigmarien noch ihre Wurzeln tragen oder nicht, eins der Unterscheidungsmerk- male zwischen Autochthonie und Allochthonie; autochthone Stigmarien tragen sie noch, allochthone haben sie während des Transportes eingebüßt. Gewisse Sigillarien tragen anders gebaute unterirdische Organe, welche man Stigmariopsis nennt. Auch hier sind vier Hauptäste vorhanden. Von der Unterseite jedes dieser Äste geht in der Nähe der Basis des Stammes ein koni- scher Ast direkt nach unten ab. Weiter trägt die Oberfläche ähnliche Vertie- Lycopodiales; Cycadofilices 409 fungen wie die Stigmarien; nur scheint die Skulptur der Stigmariopsis etwas anders zu sein. Die Anatomie jugendlicher Stämme von Lepidodendraceen glich derjenigen der einfacheren Formen von Selaginellen, jedoch zeigten die einzelnen Arten viele Unterschiede des feineren Baues. Meist wird die Struktur in älteren Stäm- men durch das sekundäre Dickenwachstum sehr verändert. Der Stamm ent- hält immer einen einzigen Gefäßbündelkreis. Bei einigen Lepidodendren ist der zentrale Holzzylinder solide. Bei den meisten jedoch ist ein Mark vorhanden. Bei einigen Sigillarien ist der Holzring mehr oder weniger in einzelne Bündel aufgelöst. Die meisten Lepidodendren und alle Sigillarien zeigen sekundäres Dickenwachstum mittels kambialer Tätigkeit. Auch in der Rinde fand Bildung von sekundärem Gewebe in ausgiebiger Weise statt. Gerade dieses sekundäre Dickenwachstum hat in früheren Zeiten dazu ge- führt, die Sigillarien und Lepidodendren, welche ein solches zeigen, für Gym- nospermen zu halten. Auch die Calamiten, welche Dickenwachstum besitzen, wurden anfangs nicht für Equisetales gehalten, sondern für Angiospermen. Williamson war der erste, der die Zugehörigkeit dieser Pflanzen zu den Kryptogamen beweisen konnte. Er zeigte, daß in paläozoischen Zeiten in jeder Gruppe der höheren Kryptogamen Dickenwachstum vorgekommen ist. In der Jetztzeit ist Isoetes der einzige Vertreter dieser Gruppe, welcher noch Dickenwachstum besitzt. In früheren Zeiten hat man alle Pflanzen aus dem Paläozoikum, welche ei- nen farnähnlichen Habitus besitzen, zu den Farnen gerechnet. Jedoch war es schon lange aufgefallen, daß viele dieser Farnblätter niemals fertil gefunden wurden. Es hat sich nun gezeigt, daß manche dieser Pflanzen nicht zu den Farnen gehören, sondern echte Samen trugen und also, wie Scott auch sagt, überhaupt keine Kryptogamen waren. Es sind unter denLycopodialen auch wohl samenähnliche Gebilde gefunden worden, wie Miadesmia und Lepidocarpon, welche zwar einige Merkmale von Samen zeigen, aber doch aus verschiedenen Gründen nicht zu den echten Samen gerechnet werden können. Immerhin ist es höchst bemerkenswert, daß auch bei dieser Gruppe sozusagen der Versuch zur Ausbildung von Samen gemacht worden ist. Bei den farnähnlichen Samenpflanzen, welche man Pteridospermae oder C’ycado- filices genannt hat, handelt es sich, wie aus den Untersuchungen besonders von Oliver und Scott hervorgeht, um echte Samen, welche sich — so weit bekannt — in jeder Hinsicht mit denen der Cycadophyten vergleichen lassen. Schon früher kannte man eine ganze Reihe von Stämmen und Blattstielen, welche in mancher Hinsicht in ihrer Anatomie Übereinstimmungen mit den Cy- cadophyten zeigen. Potoni& war der erste, der diese Reste zu der Gruppe der Cycadofilices vereinigt hat. Nun entdeckte Oliver die Zugehörigkeit des schon früher bekannten Samens Lagenostoma Lomaxi zu Lyginopteris oldhamia (von den Engländern fast immer Lyginodendron genannt). Die Gründe, welche hierfür angeführt werden, sind derartig einleuchtend, daß diese Zugehörigkeit wohl rich- tig sein wird. An den Resten der Beblätterung, welche in den Coalballs mit Filices und Cycadofilices. 410 W.J. JONGMANS: Paläobotanik Stämmen, Blattstielen und Samen zusammen gefunden wurden, konnte ent- schieden werden, daß es sich um Wedel, etwa vom Typus der Sphenopteris Hö- ninghausi handelt. Aus verschiedenen Gründen ist es jedoch geboten, diese letzte Identifizierung nur unter Vorbehalt zu akzeptieren und nur zu sagen, daß es sich um diesen Typus handelt, und die Blattreste nicht spezifisch zu be- stimmen. Wie dem auch sei, durch diese Untersuchungen wurde bewiesen, daß wir im Karbon Pflanzen hatten mit echten Samen, aber noch farnähnlichem Habitus, während in der Anatomie mehr oder weniger Eigenschaften von Cycadophyten vorhanden waren. Es ist nun eine ganze Menge von solchen C'ycadofilices aufgestellt worden. Für viele dieser Fälle liegen aber noch keine direkten oder doch nur sehr unvoll- ständige Beweise vor. Bei der großen Schwierigkeit, zu entscheiden, was in Ab- drücken und auch in den Coalballs zusammengehört und was nicht, ist die größte Vorsicht geboten. Von den Abdrücken sind z. B. Neuropteris heterophylla, N. obligqua und Pecopteris Pluckeneti mit Bestimmtheit in Zusammenhang mit Samen gefunden worden. Mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit wer- den auch Aneimites fertilis, Alethopteris, Lonchopteris, Linopteris, Callipieris und einige weitere Neuropteris-Arten zu den C’ycadofilices gerechnet. Besonders bei Alethopteris ist die Wahrscheinlichkeit so groß, daß es sich, wenn man nicht allzu kritisch veranlagt ist, eigentlich um eine sichere Tatsache handelt. Es geht jedoch nicht an, daß man, weil man bestimmte Samen einige Male mit einem bestimmten Blattabdruck auf einer Platte zusammenliegend findet, daraus schließt, daß diese beiden zusammengehören. Ebensogut könnte man, da sehr oft Sphenophyllum neben Calamites gefunden wird, schließen, daß Sphenophyl- lum die Beblätterung von Calamites ist. Auch hat man jetzt besonders durch die Untersuchungen von Kidston Einsicht in die vermutlichen männlichen Organe der Cycadoftlices. Kidston konnte diese nachweisen bei verschiedenen Sphenopteris-Arten. Wahrschein- lich stellt, was man früher Crossotheca genannt hat, und manche andere Form nur die männlichen Organe von Cycadofilices dar. Es ist zurzeit in manchen Ein- zelfällen noch nicht möglich, zu entscheiden, inwieweit diese Angaben richtig sind. Die Entscheidung ist um so schwieriger, da es sich bei den männlichen Organen um Gebilde handelt, welche viel farnähnlicher sind als die weiblichen. Man hat nun auch verschiedene Formen aus dem Devon und dem Perm mit mehr oder weniger triftigen Gründen gleichfalls zu den Cycadofilices gerechnet. Und wie wir später schen werden, herrscht unter vielen Forschern eine Neigung, auch noch manche Form aus dem Mesozoikum zu dieser Gruppe zu rechnen. Diese Angaben sind jedoch fast alle zweifelhaft. Wie man nun auch die einzelnen Resultate interpretiert, so steht doch fest, daß im Paläozoikum eine Gruppe von Samenpflanzen exi- stiert hat, deren Wedel (Sphenopteris, Neuropteris usw.) farnähnlich waren, und welche in der Anatomie teils Farn-, teils Cycadeen- eigenschaften zeigten (Medullosa, Heterangium, Lyginopteris usw.). Cycadofilices; Filices 4Il Nun entsteht die Frage, ob es dann im Paläozoikum überhaupt echte Farne gegeben hat und wenn ja, zu welchen Gruppen diese gehörten, und weiter- hin: Ist es möglich, die Cycadofilices mit diesen echten Farnen in irgendeiner Weise in phylogenetische Verbindung zu bringen? Eine dritte Frage, wie die Cycadofilices mit höheren Formen zusammenhängen, wird später bei der Be- sprechung der Cycadophyten behandelt werden, Ohne Zweifel gab es im Paläozoikum eine große Anzahl echter Farne. Diese gehören verschiedenen Gruppen an: Botryopterideen, Zygopterideen, Marattiaceen und wahrscheinlich auch Osmundaceen. Vertreter anderer Grup- pen sind zwar oft erwähnt worden, aber die Zugehörigkeit solcher Reste zu diesen Gruppen ist immer wenigstens zweifelhaft. Erst im oberen Paläozoikum, dem Perm, werden sichere Reste von anderen Gruppen gefunden. Mehrmals werden in den Coalballs und in dem verkieselten Material von Autun isolierte Sporangien gefunden, welche in jeder Hinsicht mit Osmunda- ceen übereinstimmen. Noch vor ganz kurzer Zeit hat Pelourde solche Sporan- gien beschrieben und abgebildet. Er fand sie zusammen mit Botryopteris an- tiqua. Es ist jedoch nicht bekannt, zu welchen Wedeln diese Sporangien ge- hören. Erst im Perm werden Wedelreste angetroffen, welche zu den Osmunda- ceen gerechnet werden können. Diese verschiedenen Tatsachen deuten also dar- auf hin, daß es sich in den Osmundaceen um eine alte Gruppe handelt. Inter- essant ist es dann auch, daß gerade die Osmundaceen manche Übereinstimmung zeigen mit den Primoftlices, unter welchem Namen man die Botryopterideen und Zygopterideen zusammengefaßt hat. Von den fertilen echten Farnen, welche man aus dem Paläozoıkum kennt, gehört der überaus größte Teil den Marattiaceen an. Nach dem Sporangienbau hat man bei diesen eine große Zahl von Gruppen zu unterscheiden, auf welche hier nicht näher eingegangen werden kann. Typische Vertreter unter den Blatt- abdrücken bietet die Gattung Pecopteris. Auch Stämme, welche große Ähnlich- keit mit Marattiaceen zeigen, sind bekannt. Die Psaronien, welche so oft und in so wundervoll erhaltenen Exemplaren, die alle Einzelheiten der Struktur zei- gen, gefunden worden sind, werden zu dieser Gruppe gerechnet. Die Botryopterideen und Zygopterideen sind dagegen ausschließlich aus Struktur zeigendem Material bekannt. Wie die Wedel dieser Pflanzen ausge- sehen haben, weiß man nicht. Zwar sind einige Gruppen in Abdrücken gefun- dener Farne, besonders Corynepteris, mit ihnen verglichen worden, und es ist möglich, daß verschiedene andere, bei den Abdrücken vorkommende Frukti- fikationstypen ebenfalls hiermit zusammengehören; völlige Bestimmtheit hat man jedoch in dieser Frage noch nicht. Man hat nun auf anatomischen Merkmalen eine überaus große Zahl von Typen aufgestellt, welchen man Gattungswert beigelegt hat. Besonders P. Bertrand hat die Zygopterideen äußerst genau studiert und eine ganze syste- matische Einteilung davon gegeben. Inwieweit jedoch diese anatomisch begrün- deten ‚Gattungen‘ wirklich Gattungen sind, muß noch dahingestellt bleiben. Neuere Untersuchungen, wie die von Gordon über Diplolabis, scheinen darauf Vorkommen echter Filices im Paläozoikum. 412 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik hinzuweisen, daß es sich nicht in allen Fällen um ‚, Gattungs‘‘-Merkmale handelt, sondern daß man einige der verschiedenen Typen mehr oder weniger deutlich sukzessive in ein und derselben Pflanze finden kann. Wie dem auch sei, um zu einer guten Übersicht und einem richtigen Einblick in eine so schwierige Gruppe zu kommen, muß allererst Ordnung geschafft werden, und es wird ein großes Verdienst P. Bertrands bleiben, daß er dafür einen in jeder Hinsicht sehr gut gelungenen Versuch gemacht hat. Primofilices. Wie schon oben bemerkt wurde, hat man diese Gruppe die der Primofilices genannt und angenommen, daß es sich um ganz primitive Farne handelte. Von anderer Seite (Kidston, Gwynne-Vaughan) wird jedoch diese Auffassung bestritten und angenommen, daß die Eigenschaften dieser Farne lange nicht so primitiv sind, daß sie diesen Namen Primoftlices verdienen. Wenn man die enorme Zeit in Betracht zieht, welche in der Erdgeschichte schon vergangen war, bevor die Schichten, aus welchen wir Pflanzen kennen, abgelagert wurden, so brauchen wir nicht darüber zu staunen, daß die paläozoische Flora, wie auch aus dieser Auffassung der Primofilices wieder hervorgeht, so wenig wirklich primi- tive Formen zeigt. Je tiefer wir in die Kenntnisse der paläozoischen Flora ein- dringen, um so mehr werden wir überrascht durch die Kompliziertheit der Or- ganisation bei den Vertretern der verschiedenen Gruppen, gleich nach ihrem Erscheinen. Verwandtschaft Wie steht es nun mit der Möglichkeit einer Verbindung zwi- ee. schen den C'ycadofilices und den echten Filices? Scott hat in letzterer flices. Zeit diese Frage sehr klar und deutlich beantwortet. „Es gibt eine große Lücke unter den Cycadofilices. Wie sind diese Pflan- zen entstanden und aus welcher Gruppe? Diese Fragen werden vielleicht nie- mals gelöst werden, da die Cycadofilices vermutlich zurückgehen bis zu der Zeit der ersten uns bekannten Landpflanzen. Die Verwandtschaft ist jedoch deut- lich; Habitus, Anatomie und Bau der Mikrosporangien zeigen deutlich auf die Farne hin. Wir kennen Cycadofilices, deren ganze Struktur die von Farnen ist, und die Mikrosporangien dieser Formen sind oft nicht von Farnsporangien zu unterscheiden. Erst, wenn wir die Samen in Betracht ziehen, fangen die Schwie- rigkeiten an. Die der Cycadofilices sind hoch organisierte Gebilde und zeigen sehr wenige Spuren einer Verwandtschaft mit den Kryptogamen. Es handelt sich hier um echte Samen, denn die Makrospore liegt fortwährend innerhalb des Nucellus, der dem Makrosporangium äquivalent ist, und der Nucellus ist in einer oder mehreren Hüllen eingeschlossen. Alle diese Teile stimmen im Bau mit den Samen der Cycadophyten überein, und es gibt nur wenig Beweise dafür, daß diese alten Samen den Kryptogamen nahestanden. Zwar ragte bei Lyginopteris (Lagenostoma) der Hals der Pollenkammer noch über die Integumente hinaus und hat so ohne Zweifel selbst die Mikrosporen aufgefangen, ohne zu warten, bis diese durch dieMikropyle zugeführt wurden. Aber diesesprimitiveMerkmal findet man nicht bei allen Samen der C’ycadofilices.‘‘ Die Untersuchungen von Oliver und Salisbury über Conostomaund Physostoma haben bewiesen, daß bei diesen, und zwar besonders bei Conostoma eine wirkliche Mikropyle vorhanden ist. Filices; Cycadofilices 413 Eigentümlich ist an diesen paläozoischen Samen, daß noch niemals ein Embryo in ihnen gefunden wurde. Daraus schließt Scott, daß die Ernährung der jungen Pflanze eine Funktion ist, welche die Samen anfangs noch nicht aus- übten, sondern erst später erhielten. Mit den Cycadofilices wird, wie schon hervorgehoben wurde, eine große Stämme von Zahl von Stämmen in Verbindung gebracht. So wird Lyginopteris zu dem Sphe- toRlices. nopteris-Typus Höninghausi, Heterangium ebenfalls zu Sphenopteris-ähnlichen Typen, Medullosa zu Alethopteris und Neuropteris gerechnet. Daneben gibt es nun noch eine ganze Menge von paläozoischen Stämmen, welche auch alle eine mehr oder weniger deutliche Kombination von Farn- und Cycadophyten-Eigen- schaften zeigen, aber von deren Fruktifikation und Beblätterung wir keine Kenntnis haben (Megaloxylon, Calamopitys, Cycadoxylon). Es gibt ferner noch eine andere Gruppe von Stämmen, die von einigen For- Protopityeae. schern gleichfalls mit den Cycadophyten in Verbindung gebracht wird, aber deren Zugehörigkeit zu dieser Gruppe wenigstens sehr zweifelhaft ist. Es han- deltsich um die Protopityeen. Vielleicht haben wir in dieser geologisch sehr alten Gruppe — sie stammt aus dem oberen Devon und dem Culm — Typen, welche zur Lösung der Frage nach dem Ursprung der Gymnospermen beitragen können. Es sind in ihrer Anatomie Eigenschaften von Farnen und von Gymnospermen kombiniert, aber keine speziellen Cycadophyten-Eigenschaften. Das primäre Gewebe deutet auf eine Verwandtschaft mit den Farnen, das sekundäre auf eine solche mit Gymnospermen. Noch eine weitere sehr eigentümliche Gruppe ist aus dem Devon bekannt, Cladoxyleae. die Cladoxyleen. Diese Gruppe wird in Zusammenhang gebracht mit den soge- nannten Primofilices, besonders mit Asterochlaena; sie zeigt jedoch auch Ähnlich- keit mit den Medullosen. Alle diese verschiedenen Formen dürften wohl darauf hindeuten, daß die phylogenetische Trennung der Farne, Cycadofilices, Cycadophyten und übrigen Gymnospermen etwa im Devon oder im untersten Teil des Karbons stattgefun- den hat. Daß wir jedoch jemals die Urformen finden werden, ist nicht anzu- nehmen, da mehrere dieser Gruppen schon in denjenigen Schichten nebenein- ander auftreten, aus welchen wir die ersten Landpflanzen kennen. Ganz ausge- schlossen ist es freilich nicht, daß wir einmal Schichten mit Landpflanzen aus dem unteren Silur kennen lernen werden. Eine solche Entdeckung wäre zweifel- los für die Paläobotanik und die Phylogenie von größtem Interesse. Es bleibt nun noch die Behandlung der Cordaitalen übrig, einer alten, auS- Cordaitales. gestorbenen Gruppe, welche zu den Gymnospermen in weiterem Sinne gerechnet werden kann. Diese Gruppe ist schon aus dem Devon bekannt, erreicht im Kar- bon ihre Höchstentwicklung und stirbt offenbar in der Trias, aus welcher wir noch einige zu ihr gehörige Reste kennen, aus. Ihre Blätter gehören zu den größ- ten, welche wir im Paläozoikum kennen, nur einige zu Psygmophyllum ge- rechnete Blätter sind von ähnlicher Größe. Die Anatomie der Stämme deutet auf die Coniferen hin. Die großen Blätter und ihre Anatomie zeigen jedoch mehr Übereinstimmung mit den Cycadeen. Die Fruktifikation ist schon weiter 414 W. J. JONGMANS: Paläobotanik fortgeschritten als bei den C’ycadofilices, was besonders in den männlichen Or- ganen zur Geltung kommt. Die Mikrosporophylle werden von Brakteen ge- schützt und sind zu Kätzchen vereinigt. Jedes Mikrosporophyli ist gestielt und trägt am Ende vier bis sechs aufrecht stehende Pollensäcke. Am besten lassen sie sich mit denen von Gingko biloba vergleichen. Zwar sind hier meist nur zwei hängende Pollensäcke vorhanden, aber es kommt auch bei der rezenten Pflanze vor, daß ihrer mehrere vorhanden sind, und sehr oft ist dies der Fall bei den mesozoischen Gingkoalen. Die Brakteen sind jedoch nur Cordaites eigen. Die weiblichen Organe und die Samen zeigen alle Eigenschaften von Cyca- deen. Es muß hier erwähnt werden, daß es einige Cycadofilices gibt, deren Sa- men große Ähnlichkeit mit denen der Cordaiten zeigen, in dem Grade sogar, daß sie isoliert gefunden, nicht davon zu unterscheiden sind, z. B. Pecopteris pluckeneti. Schon diese Eigenschaft deutet auf eine Verwandtschaft hin. Noch verstärkt wird dies aber durch die Tatsache, daß man eine ganze Serie von Stämmen kennt, deren Anatomie alle Übergänge zeigt von Cycadofilices, wie . Lyginopteris, welche noch die meisten Farneigenschaften besitzt, bis zu Cor- daites. Es ist also wohl außer Zweifel, daß die Cordaiten mit der Cycadofilices- und Cycadophyten - Entwicklungslinie verwandt sind. Wo und wie sie daraus hervorgegangen sind, ist unbekannt, und diese Frage gehört gleichfalls zu jenen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach wohl niemals gelöst werden. Wir haben nun gesehen, daß man im Paläozoikum zwei große, alte Gruppen kennt, welche beide Verwandtschaft zeigen zu den Gymnospermen im weitesten Sinne. Was ist nun in späteren Zeiten aus diesen geworden und welche später auftretenden Gruppen können mit ihnen in phylogenetische Verbindung ge- bracht werden? Die Cycadofilices werden in dieser Hinsicht später besprochen werden, hier nur einige Bemerkungen über die Cordaitalen. Am meisten mit den Cordaitalen verwandt sind dieGinkgoales. Ohne Zwei- fel ist diese ebenfalls sehr alte Gruppe aus dem gleichen Stamm entstanden wie die Cardaitalen, aber nicht aus diesen selbst. Die Cordaitalen werden allgemein als eine selbständige, ohne weitere Nachkommen ausgestorbene Gruppe betrach- tet. Daß die Ginkgoalen eine sehr alte Gruppe darstellen, würde bestätigt wer- den, wenn wirklich bewiesen werden könnte, daß Psygmophyllum, eine Gattung, welche schon aus dem untersten Karbon bekannt ist, zuihnengehört. Auch hät- ten wir dann bei einigen dieser Psygmophylien in den Blättern eineneue, wenn auch ganz äußerliche Übereinstimmung mit Cordaites. Die Frage der Zugehörig- keit von Psygmophyllum zu den Ginkgoalen ist jedoch noch nicht entschieden. Nun bleibt also die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den ei- gentlichen Coniferen und den Cordaitalen? Wie wir später sehen werden, sind alle Gruppen der jetzt lebenden Coniferen erst im Mesozoikum oder in den jüngsten Schichten des Paläozoikums aufgetreten. Zwar gibt es eine Anzahl von Resten im Paläozoikum, welche Eigenschaften von Araucarien zeigen, wie es auch bei Cordaites selbst der Fall ist, aber echte, wirkliche Araucarien sind sie nicht. Es gibt indessen in so vieler Hinsicht Übereinstinnmung zwischen den Coni- feren und den Cordaitalen, daß wir ganz sicher annehmen dürfen, daß auch diese Gymnospermen; Allgemeines über Karbonflora 415 zu einem und demselben Stamm gehören, obgleich auch hier wieder nicht ver- mutet werden darf, daß sie direkt aus einander hervorgegangen sind. Man kennt noch viele mehr oder weniger Gymnospermen ähnliche Hölzer aus dem Paläozoikum, welche man vorläufig mit dem Namen Dadoxylon belegt hat. Vielleicht werden spätere Untersuchungen, wie man das schon längst vermutet, unter ihnen noch Formen zutage fördern, welche in die Frage nach dem Ur- sprung der Coniferen mehr Licht zu bringen geeignet sind. Auch unter den Poroxyleen und Pityeen sollte man nach solchen suchen, denn sie zeigen Eigen- schaften, welche mit Cordaitalen, Gymnospermen und auch noch wohlmit Cyca- dofilices übereinstimmen. Während des Karbons hat sich die Flora sehr gründlich verändert. Wie schon oben angedeutet wurde, ist der untere Teil des Karbons ganz verschieden von dem oberen und besonders von dem daran anschließenden Rotliegenden. Besonders deutlich zeigt sich dieser Florenwechsel bei den Farnen und den Cycadofilices. Im unteren Teil finden sich noch wenig Pecopteris-Arten und keine Farne mit netzförmiger Aderung. Viele Arten aus dem Culm zeigen, wie die aus dem Devon, eine Nervation, bei welcher man keinen Mittelnerv unter- scheiden kann. Man nennt dies eine Parallelfächernervation. Im mittleren Teil des Karbons zeigen die meisten Arten eine Fiedernervation, d. h. sie haben einen Mittelnerv, von welchem die Seitennerven ausgehen. Auch treten dann schon einige Formen mit Netzaderung auf, wie Linopteris und Lonchopteris. Das Merkwürdige bei diesen netzaderigen Formen ist, daß sie, in bezug auf den Habitus, eine Parallelreihe bilden mit Formen, wie Neuropteris und Aletho- pteris, welche lange vorher auftreten. Im oberen Teil des Karbons, sowie im Rot- liegenden entfalten dann die Pecopteriden eine reiche Entwicklung, und neben den schon bestehenden treten neue Gruppen auf, wie Odontopteris, Callipteris und Callipteridium, welche nun mehr und mehr die älteren Typen verdrängen. Auch die Lycopodialen zeigen große Änderungen. Ihre Hauptentwicklung haben sie im mittleren Teil des eigentlichen, sogenannten produktiven Karbons. Die Lepidodendren sind im oberen Teil und im Perm selten; die Sigillarien sind im Perm nur noch durch eine Gruppe vertreten, welche keine Rippenbildung, wie einesolche bei den übrigen Gruppen vorkommt, mehr zeigt. Überhaupt scheinen die Riesen unter den Lycopodialen mit dem Rotliegenden auszusterben. Die Equisetales werden gleichfalls von den allmählichen Änderungen beein- flußt. Asterocalamites ist beschränkt auf den unteren Teil des Karbons, den Culm. Alle übrigen Formen aus dem Karbon und dem Rotliegenden gehören zu Calamites. Von dieser Gattung findet man mehrere Arten unverändert durch das ganze Karbon und sogar bis ins Rotliegende hinein. Es scheint jedoch, daß besonders im oberen Teil des produktiven Karbons und im Rotliegenden eine eigentümliche Gruppe vorherrscht, welche in den unteren Teilen überhaupt noch nicht vorkommt. Umgekehrt gibt es auch einige den unteren Teilen eigene Formen. Daß die Calamiten sich im Laufe des Paläozoikums sehr eingehend ge- ändert haben, geht deutlich hervor aus der großen Verschiedenheit, welche die Fruktifikationen zeigen. Änderung der Flora während der Karbonzeit. Pflanzen- geographie des Karbons 416 W.]J JONGMANS: Paläobotanik Im allerobersten Teil des Karbons und im Rotliegenden finden wir auch die ersten Vertreter der Cycadophyten, welche in der mesozoischen Periode eine so große Entwicklung zeigen. Der Charakter der Flora ist im Karbon über die ganze Welt noch ziemlich einheitlich. Die Flora, welche auf den arktischen Inseln gefunden wird, ent- hält im allgemeinen die gleichen Typen, wie z. B. eine homotaxiale Flora aus Deutschland. Unter homotaxialen Floren versteht man Floren solcher Schichten, welche die gleiche Stellung im geologischen System einnehmen; es ist jedoch nicht damit gesagt, daß es sich um Schichten handelt, welche genau zur selben Zeit abgelagert worden sind. In Nordafrika, China und an mehreren anderen Stellen in jetzt wärmeren Gegenden findet man die gleichen Charakterpflanzen wie in unseren Breiten. Selbstverständlich sind hie und da andere Arten aufgetreten, aber die Unter- schiede gehen nicht so weit, daß es den Eindruck von verschiedenen Formatio- nen macht. Hieraus folgt, daß die klimatischen Verhältnisse so ziemlich über die ganze Welt die gleichen waren. Auch gab es offenbar noch keine Jahreszei- ten; einer der besten Beweise hierfür ist das Fehlen von Jahresringen bei den paläozoischen Hölzern. Trotzdem kann man doch von einer Pflanzengeographie desKarbons reden. Gothan hat sich schon seit längerer Zeit mit diesem Studium beschäf- tigt. Eshatsich dabei herausgestellt, daß esauch im Karbon schon viele Lokal- floren gab, welcheFormen enthielten, die in anderen Gegenden überhaupt nicht oder doch nur sehr selten vorkamen. Als typische Beispiele können die böh- misch-schlesischen Reviere sowie das Saarrevier genannt werden. Auch ist es auffallend, daß man, obgleich die Flora Europas in vieler Hinsicht mit der von Nordamerika übereinstimmt, doch viele sehr markante Unterschiede finden kann. Dieser Unterschied ist schon in den Floren der verschiedenen Gebiete Europas deutlich sichtbar, und zwar besonders, wenn man Floren aus östlichen Gebieten mit solchen aus westlichen vergleicht. So ist Calamites distachyus eine östliche Form, welche bis jetzt nur aus den schlesischen Revieren und aus Klein- asien bekannt ist. Als sehr typisches Beispiel kann folgendes Zitat aus Gothan über Lonchopteris dienen: „Man kann die-Gattung in zwei Untergruppen teilen: Eulonchopteris mit typischen, mehr oder weniger engen Maschenadern und Lonchopteridium mit wenig Maschen und Übergänge zu Alethopteris. Diese letztere Gruppe kommt hier, da es sich nur um seltene oder Lokalarten handelt, nicht in Betracht. Die Eulonchopteris-Gruppe beschränkt sich fast ganz auf die paralischen Becken des variskischen Bogens (d.h. des großen Bogens, welcher von den großen Karbongebieten von Deutschland, Holland, Belgien und Nordfrankreich gebildet wird) und reicht nur über Niederschlesien in einigen Ausläufern nach Böhmen hinein, fehlt im Saargebiet und den sächsischen Becken völlig und er- reicht ihre Westgrenze an der variskisch-armorikanischen Scharung in Nord- frankreich; in England sind diese in Deutschland, Frankreich, Belgien im mitt- leren Teil des mittleren produktiven Karbons so häufigen und charakteristi- Pflanzengeographie des Karbons; Perm 417 schen, so auffallenden Pflanzen so gut wie verschwunden, und nur äußerst dürftige Funde geben uns davon Kunde, daß die Gruppe dort als große Selten- heit existiert hat (es muß hier hinzugefügt werden, daß in der, als Gothan die- sen Aufsatz schrieb, noch nicht bekannten Flora des holländischen Karbons die Lonchopteriden eine richtige Mittelstellung einnehmen. Ganz gewiß sind sie hier nicht so allgemein, wie z. B. im angrenzenden Aachener Becken, aber an einigen wenigen Stellen kommen sie doch in großen Mengen vor). In Amerika findet sich keine Lonchopteris, auch in Osteuropa, im Donetzgebiet, fehlen sie offenbar.“ Hier handelt es sich also um eine Pflanze mit östlicher Verbreitung, wenn man Europa und Nordamerika miteinander vergleicht. In Lepidodendron W or- theni haben wir einen westlichen Typus. Die Pflanze istnach Gothan aus Nord- amerika, England, Frankreich und Belgien bekannt. Nach meinen eigenen Be- obachtungen kommt sie auch in Holland vor, sie gehört hier doch nicht zu den allgemeinen Formen. In Deutschland ist keine Spur von dieser charakteristi- schen Pflanze bekannt. Das Studium der Pflanzengeographie im Karbon wird ganz gewiß zu wich- tigen Resultaten führen. Leider ist es nur durchzuführen nach einem genauen Vergleich der einzelnen Floren, und da man dabei meist nur auf oft recht man- gelhafte Abbildungen angewiesen ist und kein Material zur Hand hat, so kann nur ganz vorsichtig und allmählich damit fortgeschritten werden. Das erste, was zu diesem Zwecke notwendig ist, ist eine genaue Durchtorschung der einzel- nen Reviere und eine mit guten Abbildungen versehene Veröffentlichung der Resultate. Ein Vergleich zwischen den nordamerikanischen und den europäischen Flo- ren gehört zu den wichtigsten, noch ausstehenden Untersuchungen für das Kar- bon. Er ist jedoch, bei dem fast vollständigen Fehlen guter Abbildungen nord- amerikanischer Pflanzen, ohne Untersuchung des Typenmaterials nicht durch- zuführen. Die Flora des europäischen Perm ist, wie wir schon gesehen haben, eine Fortsetzung der Karbonflora. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der Unterschied zum großen Teile in dem Auftreten mehrerer Gymnospermen und Cycadeen liegt. Die Lycopodiales und Equisetales treten in Formenzahl stark zurück, und man kann getrost behaupten, daß Sigillarien, Lepidodendren und Bothro- dendren nach dem Perm nicht mehr existieren. Nur Pleuromeia, welche zu den Sigillariaceen gerechnet wird, tritt noch später auf. Vergleicht man die Farne am Anfang des produktiven Karbons mit denen, welche im Perm lebten, so ist schließlich nicht eine einzige Art aus den früheren Perioden mehr übrig. Die Flora hat sich, obgleich sie aus ähnlichen Elementen besteht, vollständig geändert. Fast alle Pflanzen, welche im europäischen Perm gefunden worden sind, stammen aus dem unteren Teil; aus dem oberen Teil sind leider nicht viele Pflanzen bekannt. Es sind zwar aus angeblich höheren Horizonten Rußlands K.d. G.III.1v, Bd. 4 Abstammungslehre etc. 27 Perm, Europa. Glossopteris- flora. Permkarbonische Eiszeit. 418 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik und Kanadas Pflanzen erwähnt, welche eine Übergangsflora zwischen Perm und Trias bilden sollen, aber bis jetzt sind diese Floren noch nicht genauer studiert. Auch bei diesen Pflanzen findet man immer noch keine Andeutungen kli- matologischer Änderungen. Die Hölzer, welche aus dieser Zeit bekannt sind, zeigen absolut keine Zuwachszonen. Bei dieser Gleichmäßigkeit des Klimas ist es um so auffälliger, daß wir aus Australien, Afrika und Südamerika eine Flora kennen, welche zeitlich mit dem Perm und vielleicht auch mit dem obersten Teil des Karbons gleichgestellt wer- den muß und doch ganz andere Eigenschaften und Bestandteile zeigt. Es han- delt sich hier um die sogenannte Glossopterisflora. Diese hängt eng zusammen mit der Frage der permischen Eiszeit. Die Glossopterisflora ist bekannt von Indien, Queensland, Neusüdwales, Victoria, Tasmanien, Deutsch- und Portugiesisch-Westafrika, Rhodesia, Zulu- land, Transvaal, Orange-River-Colony, Natal, Kapland, Argentinien, Brasilien und den Falklandsinseln. Andeutungen für ihre Anwesenheit gibt es in Kasch- mir, Afghanistan, Persien, Borneo und Westaustralien. A Die wirklich reine Glossopterisflora besteht aus einer Anzahl eigentüm- licher Farne, wie Glossopteris und Gangamopteris mit Noeggerathiopsis, Phyllo- theca, einer Anzahl von Sphenopterideen und Coniferen. Es gibt keine Aletho- pterideen, Neuropterideen, Sphenophyllaceen, und auch Lepidodendren und Sigillarien fehlen gänzlich. Die Flora ist also absolut verschieden von der sonstigen Karbon- oder Permflora. In vereinzelten Fällen sind jedoch Typen aus diesen beiden den Glossopteristypen beigemischt. Die große Übereinstimmung ihrer Bestandteile in den verschiedenen Ge- genden, wo man diese Flora antrifft, hat schon lange dazu geführt, einen großen Kontinent auf der Südhemisphäre anzunehmen, welcher Südasien, Australien, Südafrika und Südamerika umfaßte. Viele Forscher nehmen an, daß südlich von diesem Kontinent ein großes offenes Meer lag. Andere bezweifeln dies und nehmen statt dessen an, daß Südamerika und die Falklandsinseln mit einem permischen antarktischen Kontinent und dieser Kontinent auf der anderen Seite mit Australien und Indien verbunden waren. Jedenfalls steht fest, daß in der perm-karbonischen Zeit große Landmassen auf der südlichen Hemisphäre vor- handen waren, welche entweder einen großen Kontinent bildeten oder wenig- stens so nahe beieinander lagen, daß in Flora und Fauna ein Austausch zwischen den verschiedenen Teilen ungehindert stattfinden konnte. Diese perm-karbonische Landmasse hat eine große Vereisung durchge- macht, deren Spuren schon in Indien, Südafrika und Australien gefunden wur- den, in Südbrasilien angedeutet sind und auf den Falklandsinseln durch Halle ebenfalls nachgewiesen wurden. Wie diese Vereisung zustande gekommen ist, kommt für uns hier nicht in Betracht. Übrigens sind auch die Meinungen hier- über noch sehr geteilt. Daß nun die Glossopterisflora in einem Gebiet vorkommt, wo man auch Spuren einer Vereisung findet, beweist absolut nicht, daß es sich um eine Gla- zialflora handelt. Denn wie Gothan mit Recht hervorhebt, müßten der Wein Permokarbon; Glossopterisflora 419 und die mediterrane Flora, welche in Oberitalien auf den Moränen der diluvia- len Gletscher wachsen, dann ebenfalls für Glazialpflanzen angesprochen werden. Jedoch vieles in der Flora deutet darauf hin, daß sie von den Nachwehen der Vereisung noch beeinflußt wurde. Ein Beweis hierfür liegt wohl darin, daß in den ältesten Schichten des Systems die Flora relativ sehr arm ist und nur aus von den sonstigen perm-karbonischen Pflanzen abweichenden Typen be- steht. In späteren Schichten wurde die Flora zwar reicher an Formen, aber es hat offenbar ziemlich lange gedauert, bis Elemente der Flora der nördlichen Halbkugel in die Glossopterisflora einwanderten. In den jüngeren Schichten findet man mehrere solcher Einwanderer. Reste der Glossopterisflora werden sogar noch in der Trias gefunden. Den besten Beweis, daß die Glossopterisflora von den Nachwehen der Ver- eisung beeinflußt wurde, liefert die Anatomie der in dieser Formation gefunde- nen Hölzer. Hölzer, welche von Arber aus Neusüdwales aus der älteren Glos- sopterisflora beschrieben worden sind, zeigen Zuwachszonen, und White gibt an, daß in Brasilien in den tieferen Schichten Hölzer gefunden worden sind, welche ebenfalls solche zeigen. Dagegen die aus den höheren Schichten nicht oder sehr wenig. Auch Halle fand auf den Falklandsinseln Hölzer mit deut- lichen Zuwachszonen. Sehr interessant ist es, daß auch auf der nördlichen Halbkugel die Glosso- pterisflora gefunden wurde. In Nordrußland findet man typische Glossopteris- elemente, zusammen mit Typen aus der nordischen Permflora; gleichfalls im Altai und in Sibirien. Diese Vorkommnisse sind offenbar einer Einwanderung der Glossopterisflora in das Gebiet der nordischen zuzuschreiben. Auch einige Pflanzen aus der Trias Europas werden zu den Resten der Glossopterisflora ge- rechnet. Ich kann nicht umhin, darauf hinzuweisen, daß viele der Floren, in welchen man Elemente der Glossopterisflora zusammen mit solchen aus der nordischen gefunden hat, am Rande des Gebietes der Glossopterisflora liegen. Dies ist z. B. der Fall mit Argentinien und Südbrasilien, mit Transvaal, Natal, Portugiesisch- Westafrika. Dies wird wohl dadurch zu erklären sein, daß von Norden her die nordischen Typen soweit vordringen konnten und daß es sich um ein wirkliches Zusammentreffen der beiden Floren handelt. Wie aus diesen kurzen Auseinandersetzungen hervorgeht, sind die fossilen Pflanzen von sehr großer Wichtigkeit für das Studium der Verhältnisse im Permkarbon. Trias, Jura und Kreide kann man im Gegensatz zu den bis jetzt behandelten Abteilungen, in welchen besonders die Pteridophyten, Cycadofilicas und riesen- großen Lycopodiales herrschten, zusammen als Zeit der Gymnospermae be- zeichnen. Zumal die Cycadophyten sind die charakteristischen Vertreter der Flora dieser Zeit, und unter diesen gibt es eine ganze Reihe sehr merkwürdiger und höchst interessanter Pflanzen. Auch Coniferen sind sehr häufig, jedoch viele dieser Reste werden immer zu den zweifelhaften gerechnet werden müssen, da es häufig äußerst schwierig ist, beblätterte Zweige dieser Gruppe, ohne daß an * = { Mesozoikum. Filices. Matonieae. 420 W.]J. JonGMANS: Paläobotanik Zapfen damit zusammengefunden werden, zu bestimmen. Dagegen sind die in dieser Periode gefundenen versteinerten Hölzer wieder äußerst wichtig, beson- ders in bezug auf eine der brennendsten Fragen der Geologie und Paläobotanik, die Frage nach dem Klima und den Klimadifferenzierungen in diesen Perioden. Ob die Cycadofilices im Anfang der mesozoischen Periode schon ganz ver- schwunden sind, muß wohl bezweifelt werden. Bommer stellt in einer vor- läufigen Notiz über die Wealdenpflanze Weichselia Mantelli diese auch zu den Cycadofilices. Einige in dem gleichen belgischen Horizont, Bernissart, gefun- denen Samen und einige Reste, welche wahrscheinlich als Infloreszenzen gedeu- tet werden müssen, wie solche auch bei den Cycadofilices vorkommen, verstär- ken diese Meinung. Wie wir später sehen werden, gibt es auch unter den son- stigen farnähnlichen Pflanzen dieser Periode verschiedene Formen, welche von manchem Forscher zu den Cycadoftlices gerechnet werden. Die Equisetaceae sind offenbar mehr zurückgegangen. Sie zeigen in ihrem Habitus noch Anklänge an diejenigen aus dem Paläozoikum, und zwar in dem Maße, daß man die Steinkerne der mesozoischen Equisetites-Arten praktisch ge- sprochen nicht von denen der paläozoischen Calamites-Arten unterscheiden kann. In ihren Fruktifikationen nähern sie sich jedoch mehr den rezenten Equr- setum-Arten. Auch scheinen die Blattscheiden von denen der paläozoischen ver- schieden zu sein, obgleich auch in dieser Hinsicht wohl noch mehr Anknüp- fungspunkte an die paläozoischen vorhanden sind, als man bisher gedacht hat. Die Beblätterung einiger amerikanischen Formen ist nicht von Annularia zu unterscheiden. Die großen Lycopodiales aus dem Paläozoikum sind vollständig verschwun- den. Pleuromeia ist ihr letzter Vertreter in der Trias. Diese Pflanze erreicht noch immer die Höhe eines Meters und kann somit noch zu den baumartigen gerechnet werden. Wahrscheinlich ist diese Gattung verwandt mit I/soetes. Eine der interessantesten Tatsachen, im Zusammenhang mit der jetzigen Flora, ist das Auftreten der Angiospermen. Diese sind sicher nachgewiesen in der untersten Kreide. Auch aus dem Jura sind zwar ab und zu Angiospermen angegeben; es hat sich dabei aber immer herausgestellt, daß die betreffenden Reste nicht zu den Angiospermen gerechnet werden dürfen oder ganz proble- matisch sind. Zeiller und Seward haben ausgezeichnete Referate gegeben über die Flora dieser Periode. Die hier folgende Übersicht ist, mit Hinzufügung einiger Angaben aus der neueren Literatur, diesen Referaten entnommen. Fast alle wichtigeren jetzt bestehenden Gruppen der Farne sind im Meso- zoikum schon vertreten. Die Hymenophyllaceen haben nur einen und dazu noch zweifelhaften Vertreter aus dem Lias von Polen. Gleicheniaceen sind mehrfach im Lias angetroffen, und mit großer Wahrscheinlichkeit werden auch mehrere fertile Formen der Trias hierzu gerechnet. In der Kreide sind die Gleicheniaceen sehr häufig und zeigen schon alle Eigenschaften, welche die Gruppe auch jetzt noch charakterisieren. Eine interessante Gruppe sind die Matonieen. Von dieser sind jetzt nur Mesozoische Farne 421 zwei Vertreter bekannt, von welchen Matonia pectinata in Westborneo, auf den Karimatainseln und an verschiedenen Stellen der Malaiischen Halbinsel, M. sarmentosa jedoch nur in Sarawak vorkommt. Diese sporadischen Vertreter nun sind die Reste einer einst ziemlich reich entwickelten Gruppe. Die fossilen Ma- tonidium-Arten sind von der rezenten Matonia oft nicht zu unterscheiden. Ne- ben dieser Gattung existierte vom Rhät bis zur Kreide noch die Gattung Lac- copteris. In mesozoischer Zeit haben diese Pflanzen in Gegenden gelebt, welche jetzt arktisches, gemäßigtes und subtropisches Klima haben. Die jetzt lebenden jedoch sind auf einige wenige tropische Standorte beschränkt. Ähnliches gilt für eine andere mesozoische Gruppe, die Dipteridinen. Diese werden nach den Polypodiaceen ausführlicher besprochen werden. Sie lebten in Gegenden, welche jetzt zu den gemäßigten, subtropischen und tropischen Gebieten gehören, und werden jetzt wie die Matonieen nur in tropischen Gegenden gefunden, wo sie allerdings eine weitere Verbreitung besitzen. Wir haben in diesen Tatsachen einen außerordentlich deutlichen Beweis dafür, daß die damals in unseren so- wie in arktischen und subtropischen Gebieten lebenden Gruppen sich infolge von ungünstigen klimatischen Verhältnissen zurückziehen mußten. Solcher Be- weise kann man gerade im Mesozoikum viele finden, wie z. B. in der ganzen Gruppe der Cycadophyten. Sewardsagt denn auch: Wenn wir diese Überleben- den aus verflossenen Zeiten unterfragen könnten, würden wir eine tragische Ge- schichte hören von hoffnungslosen Kämpfen gegen kräftigere Konkurrenten und von ihrem allmählichen Rückzug aus der alten nordischen Heimat bis zum anderen Ende der Welt.‘ » Cyatheaceen sind mit Sicherheit erst seit dem Lias bekannt. Allerdings wer- den sie schon aus dem Paläozoikum angegeben; so wurde Pecopteris Pluckeneti, welchezu denC'ycadofilices gehört, ursprünglichvonSterzelmit denCyatheaceen verglichen. Die übrigen zu den Cyatheaceen gerechneten Pflanzen des Paläo- zoikums sind entweder problematisch, oder sie gehören zu den Marattiaceen. Die fertilen Fiedern mancher fossilen Cyatheaceen gleichen denen von Thyr- sopteris, einem in der jetzigen Flora ziemlich isolierten und nur auf der Insel Juan- Fernandez vorkommenden Farn. Eine große Zahl jurassischer und untercreta- ceischer Reste sind mit dem Namen Thyrsopteris belegt worden, während sie absolut nichts damit zu tun haben. So sind nach Berry die aus der unteren Kreide von Maryland beschriebenen Arten zu Onychiopsis, einer Polypodiacee, zu rechnen. Jedenfalls sind aus dem Jura doch daneben mehrere als Thyrso- pteris beschriebene Formen bekannt, welche sicher zu den Cyatheaceen gehören und mit Thyrsopteris verwandt sind. Auch die Dieksoniaceen sind schon im Mesozoikum vorhanden. Man rech- net hierzu viele der als Protopteris aus dem Jura und der Kreide von Europa, Sibirien, China, Japan und Nordamerika beschriebenen Stämme von Baum- farnen. Nach den Untersuchungen von Thomas muß auch die häufige Coniopteris zu den Cyatheaceen gerechnet werden. Das gleiche ist der Fall mit einer Clado- phlebis, welche er als Eboracia lobifolia mit den Cyatheaceen vereinigt. Cyatheaceae. Dicksoniaceae. Polypodiaceae. Dipteridinae. 422 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik Die jetzt in den Tropen weit verbreitete Gattung Alsophila ist im Meso- zoikum nur aus dem Lias von Krakau bekannt. Im übrigen Jura und in der Kreide wurden keine Reste, welche hierzu gerechnet werden können, gefunden. Erst aus dem Tertiär sind weitere zu Alsophila gebrachte Formen bekannt. Die Polypodiaceen bilden jetzt die größte, artenreichste Gruppe der Farne. Es ist beachtenswert, daß diese Gruppe im Mesozoikum noch eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Sie wird jedoch schon aus dem Paläozoikum an- gegeben. Pteridotheca aus den englischen Coalballs ist ein Sporangium, wel- ches eine auffallende Ähnlichkeit mit Polypodiaceen zeigt. Da es sich jedoch nur um isolierte Sporangien handelt, so ist es unmöglich zu entscheiden, wie diese orientiert waren, und dadurch ist die genaue Stellung des Ringes unmöglich zu bestimmen. Unter den als Abdrücke und anatomisch bekannten Formen findet sich keine weitere Andeutung für die damalige Existenz dieser Gruppe, denn die Gattung Adiantites ist nur auf äußere Merkmale hin mit Polypodiaceen ver- glichen worden, und es ist sogar möglich, daß diese Gattung zu den C'ycadofilices gerechnet werden muß. Es sind nun aus dem Jura verschiedene Reste als zu Polypodiaccen gehörig angegeben worden, aber nur in ganz wenigen Fällen spricht mehr als die äußere Ähnlichkeit für diese Zugehörigkeit, und erst in der Kreide werden Reste ange- troffen, welche ohne Schwierigkeiten zu den Polypodiaceen gerechnet werden können. Am besten ist von diesen die Gattung Onychiopsis bekannt. Von die- ser wurden, wie wir schon sahen, mehrere Arten ursprünglich als Thyrsopteris beschrieben. Die fertilen Exemplare stimmen jedoch in jeder Hinsicht mit der rezenten Gattung Onychium überein. Eine der interessantesten Gruppen unter den mesozoischen Farnen ist die der Dipteridinen. Diese wurde früher zu den Polypodiaceen gerechnet. Es ist jedoch angebracht, sie wegen anatomischer Merkmale, der Gliederung der Blät- ter, sowie der Form der Sporangien als eine besondere Familie zu betrachten. Während nun die Dipteridinen in der Jetztzeit nur einige wenige Vertreter in den Tropen haben, gehören sie im Mesozoikum und besonders im Rhät und Jura zu den charakteristischen Formen. Eine Gattung, Hausmannia, scheint ihre Hauptentwicklung in der unter- sten Kreide gehabt zu haben, ist jedoch auch im Jura gefunden. Zumal diese Gattung zeigt große Ähnlichkeit mit der rezenten Dipteris. Eine aus dem Eocän von Bornemouth bekannte Pflanze gehört wahrschein- lich auch zu Dipteris; wenn diese Bestimmung richtig ist, läßt sich also die Gruppe auch im Tertiär verfolgen. Anderseits ist auch aus dem Perm eine Dipteris-ähnliche Pflanze bekannt. Zu den typischen Vertretern der Dipteridinen gehören die Gattungen Dic- tyophyllum, Thaumathopteris, Clathropteris und Hausmannia. Die Gattung Hausmannia ‚mit der wohl Protorhipis identisch ist, ist vom Lias bis zur Kreide bekannt. Protorhipis hat offenbar polymorphe Wedel, welche oft in zwei von- einander unabhängige Abschnitte geteilt sind, wie es auch bei Dipteris der Fall ist. Nervatur und Stellung der Sporangien stimmen ebenfalls überein. Haus- Mesozoische Farne 423 mannia zeigt ähnliche Verhältnisse. Besonders instruktive Exemplare sind aus dem Neocom von Quedlinburg bekannt und von Richter, dessen Sammlung jetzt im Stockholmer paläobotanischen Museum aufbewahrt wird, bearbeitet worden. Die Wedel sind hier sehr polymorph. Richter fand einfache oder mit einer Einbuchtung am Rande versehene oder durch wiederholte Dichotomie tief geteilte. Es ist ihm auch gelungen, die Wedel noch im Zusammenhang mit den kriechenden Rhizomen zu finden. Die Sporangien waren genau denen von Di- pteris gleich. Ähnliche Typen sind noch im Cenoman, einer viel höheren Stufe der Kreide, gefunden worden. Bei allen übrigen Dipteridinen findet man gleichfalls eine Teilung des We- dels in zwei unabhängige Teile, welche dem gemeinsamen Blattstiel symmetrisch inseriert sind. Diese Teilung ist am wenigsten deutlich bei Thaumatopteris. Es gelang Nathorst jedoch, sie auch bei dieser mit Sicherheit nachzuweisen. Eigentümlich war bei mehreren dieser Pflanzen, besonders bei Camptopteris die Torsion der beiden Äste der Rhachis, wodurch die einzelnen Fiedern, deren bei Camptopteris sogar etwa 150 oder 160 gezählt werden können, der Rhachis in einer Art Schraubenlinie ansitzen. Der äußere Habitus dieser Pflanzen muß also höchst sonderbar gewesen sein. Ob die Schizaeaceen schon aus dem Paläozoikum bekannt sind, ist noch Schizaeaceae. eine offene Frage. Die früher hierzu gerechnete Gattung Aneimites aus Kanada und den Vereinigten Staaten gehört sicher nicht hierher. White hat bei der- artigen Pflanzen Samen gefunden, und sie gehören daher zu den Cycadofilices. Ob die aus dem Karbon bekannte Senftenbergia elegans zu den Schizaeaceen gehört, ist noch nicht entschieden. Zeiller ist der Meinung, daß sie wirklich hierher gehört; Solms-Laubach glaubt jedoch an eine Verwandtschaft mit den Marattiaceen. Zeiller vergleicht sie besonders mit Lygodium. Eine sichere Schizaeacee ist die Gattung Klukia; ihre Sporangien zeigen ge- nau die für die Schizaeaceen typische Form. Die Gattung ist jurassisch; es scheint jedoch, daß sie auch noch im Wealden existierte. Eine weitere zu den Schizaea- ceen gerechnete Pflanze ist Ruffordia aus dem Wealden Englands. Diese gleicht habituell Aneimia. Da die Sporangien nicht untersucht werden konnten, so ist, obgleich wegen der für Aneimia typischen Verteilung der fertilen und sterilen Fiedern ihre Zugehörigkeit zu den Schizaeaceen zwar wahrscheinlich ist, diese Zugehörigkeit nicht ohne Einwand. Berry hat neuerdings eine ganz sichere Schizaeacee beschrieben aus der Patuxentformation, der unteren Kreide von Virginien. Fontaine hatte diese Pflanze als Baieropsis zu den Ginkgoalen gerechnet. Berry konnte jedoch be- weisen, daß Habitus und Fruktifikation mit Schizaeaceen übereinstimmen, und nennt die Pflanze Schizaeopsis. In der Form der sterilen Blätter zeigt diese Pflanze auch große Ähnlichkeit mit der Gattung Acrostichopteris, es ist also möglich, daß auch diese zu den Schizaeaceen gehört. Schon Seward gibt an, daß die sterilen Blätter von Klukia große Über- einstimmung mit Cladophlebis zeigen. Im Wealden von Peru wurden von Zeiller Blätter dieses Typus gefunden, welche Sporangien vom Typus der Osmundaceae. 424 W.]J. JOoNGMAnNS: Paläobotanik Schizaeaceen trugen. Andere Cladophlebis-ähnliche Pflanzen gehören jedoch zweifellos zu den Osmundaceen und eine Form, wie wir gesehen haben, zu den Cyatheaceen. Wieder ein Beispiel, wie vorsichtig man sein muß bei der Bestim- mung von Farnen nur auf Grund der sterilen Blätter. In der oberen Kreide von Japan wurden in Knollen, welche versteinertes Material enthielten, Sporangien gefunden (Schizaeopteris mesozoica), welche gleichfalls zu den Schizaeaceen gerechnet-werden müssen. Durch die Tatsache, daß versteinertes Material von Osmundaceen sehr häu- fig gefunden wurde, ist diese Gruppe zu einer der interessantesten unter den Farnen geworden. Wie wir schon gesehen haben, werden mehrere paläozoische Formen zu den Ösmundaceen gerechnet. Fast in allen Fällen ist jedoch die Zu- gehörigkeit zweifelhaft. Abdrücke, welche zu den Osmundaceen gehören, sind erst aus Trias und Rhät bekannt. Wie oben schon erwähnt wurde, gehört ein Teil der als Cladophlebis beschriebenen Reste zu dieser Gruppe. Halle fand fertile Exemplare von C. denticulata, welche zwar große Übereinstimmung mit Osmundaceen zeigen, aber anderseits doch wieder so viele Unterschiede aufwie- sen, daß er sie zu einer besonderen Gattung, Cladotheca, rechnet. Zur selben Zeit fand Thomas die Sporen von Todites Williamsoni, welche gleichfalls zu den Osmundaceen gehört. Diese Sporen zeigen große Übereinstimmung mit de- nen von Cladotheca, so daß, wie Thomas angibt, Todites und Cladotheca recht wohl zu einer und derselben Gattung gehören können. Aus der Trias sind noch eine Anzahl Formen unter dem Namen Speiro- carpus beschrieben worden. Es ist sehr gut möglich, daß es sich auch in diesem Falle um Osmundaceen handelt. Die von Kidston und Gwynne-Vaughan anatomisch untersuchten Stämmestammen von verschiedenen Horizonten und Fundorten. Ein großer Teil wurde im Perm vonRußland, ein anderer Teil im Jura von Neuseeland und Kap- land, wieder eine andere Form in der Kreide von Britisch-Columbien und end- lich noch eine indemEocän vonWight undin dem Pliocän von Ungarn gefunden. Die Untersuchungen dieser Stämme haben zu folgenden Resultaten geführt. Die Osmundaceen sind in bezug auf die Entwicklung der Gefäßbündel als eine progressive Serie zu betrachten. Zu gleicher Zeit wurde klar, daß die rezen- ten Osmundaceen nicht die kompliziertesten sind, denn sie werden in dieser Hin- sicht weit von Osmundites skidegatensis aus der Kreide überragt. Obgleich es nun nicht angeht, von vornherein die Möglichkeit, daß die rezenten Formen im Vergleich zu dieser cretaceischen Form reduziert sind, zu verwerfen, ist es doch, wenigstens vorläufig, noch besser, anzunehmen, daß es sich um zwei getrennte Entwicklungsreihen handelt. Wie dem auch sei, es konnte bewiesen werden, daß das typische Gefäßbündel der Osmundaceen gebildet wurde durch Medul- lation einer Protostele mit ursprünglich solidem Xylem und nachherige Auf- lösung des peripheren Xylemringes in getrennte Bündel. Die Osmundaceen zei- gen nun große Ähnlichkeit mit den Zygopterideen, und durch die Entdeckung der Stämme, welche zu den schon längst als Diplolabis Römeri bekannten Blatt- stielen gehören, ist diese Übereinstimmung sehr verstärkt worden. Es handelt Mesozoische Farne; Cycadofilices 425 sich bei den Osmundaceen offenbar um alte Formen, und eben deswegen ist es schr eigentümlich, daß wir von dieser Gruppe so wenig mit Bestimmtheit aus dem Paläozoikum kennen. Wie wir schon gesehen haben, gehört ein großer Teil der im Paläozoikum Marattiaceae. gefundenen Farne zu den Marattiaceen. Eine der paläozoischen Gattungen wurde auch im Mesozoikum noch gefunden. Asterotheca, welche im obersten Karbon und im Perm so häufig ist, wurde auch noch in der oberen Trias der Schweiz und in Virginien und sogar im Rhät von Tongking angetroffen. Im übrigen sind die Marattiaceen vertreten durch Arten, welche zu den jetzt noch lebenden Gattungen Marattia und Danaea gehören oder doch wenigstens sehr nahe mit diesen verwandt sind. Diese wurden schon im Rhät und in der Trias angetroffen. Aus dem Jura sind Danaea-ähnliche Reste bekannt. In der Kreide von Grönland wurde Nathorstia gefunden und ursprünglich mit Lacco- pteris verglichen. Nathorst hat jedoch beweisen können, daß es sich um Sori handelt, welche genau denen von Kaulfussia ähnlich sind. Es bleibt nun noch eine Anzahl Farne übrig, wie Taeniopteris, Thinn- feldia usw., von welchen es bis jetzt nicht gelungen ist, auch nur einigermaßen sicher anzugeben, zu welcher Familie der Farne sie gehören. Viele von diesen werden mit den Cycadofilices in Zusammenhang gebracht. Jedoch nur bei Weich- selia, welche in mancher Hinsicht große Übereinstimmung mit Lonchopteris zeigt, hat man das einigermaßen beweisen können. Manche dieser vermutlichen Cycadoftlices zeigen eine größere oder gerin- gere Übereinstimmung mit Odontopteris, einer der häufigeren Pflanzen des obe- ren Karbons, welche gleichfalls zu den C’ycadofilices gerechnet wird. Odonto- pteris wird auch aus dem Mesozoikum (Trias) angegeben. Große Ähnlichkeit mit Odontopteris zeigt Dichopteris aus Jura und Kreide. Auch Thinnfeldia, eine zeit- lich sehr verbreitete Gruppe, welche schon aus dem Perm erwähnt wird, in Trias, Rhät und Jura ihre höchste Entwicklung erreicht und vielleicht auch in Kreide und Tertiär vorkommt, wird oft mit Odontopteris verglichen. Mit Thinn- feldia wieder zeigen die jurassischen Gattungen Lomatopteris und C'ycadopteris große Ähnlichkeit. Auch Taeniopteris, welche schon aus dem Karbon angegeben wird, im Perm häufig und im Mesozoikum mit Ausnahme der Kreide sehr häufig ist, wird zu den Cycadofilices gerechnet. Ebenso auch Neuropteridium, ein Rest aus der Glossopterisflora, aus der unteren Trias, und Glossopteris selbst. Neben diesen vermutlichen Cycadofilices gibt es noch einige Gattungen, Ptilozamites und Ctenopteris, von welchen man nicht sagen kann, ob sie besser zu den Cycadophyten oder zu den C’ycadoftlices gerechnet werden. Aus diesen Angaben geht jedenfalls deutlich hervor, daß die eigentümliche Gruppe der Cycadofilices nicht jäh mit dem Abschluß des Paläozoikums zu Ende war, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Mesozoikum, besonders in Trias und Jura, noch viele Vertreter gehabt hat. A priori war auch von einer Gruppe, welche gewissermaßen Eigenschaften zweier großer Abteilungen des Pflanzenreichs kombiniert hat, nichts anderes zu erwarten. Cycadofilices. Hydropterideae. Cycadophytae. Bennettiteae. 426 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik Aller Wahrscheinlichkeit nach haben auch die Hydropterideen ihre ersten Vertreter im Mesozoikum gehabt. Vieles deutet darauf hin, daß die eigentüm- liche Gattung Sagenopteris zu dieser Gruppe gerechnet werden muß. Halle hat vor kurzer Zeit unter dem Namen Aydropterangium marsilioides Sporo- karpe beschrieben, welche große Ähnlichkeit mit Marsilia zeigen und wahr- scheinlich die Fruktifikation von Sagenopteris darstellen. Vielleicht die interessanteste Gruppe aus dem Mesozoikum ist die der Cyca- dophyten. Wiejeder weiß, spielen die Cycadeen in der jetzigen Flora nur eine ganz untergeordnete Rolle. Fast alle Vertreter dieser Familie sind mehr oder weniger Seltenheiten. Auch im Paläozoikum hatten sie noch keine große Ver- breitung. Vor dem Perm sind keine wirklichen Cycadophyten bekannt. Erst im Perm hat man einige wenige, jedoch meist noch zweifelhafte Vertreter gefun- den. In Trias und Jura gehören sie zu den besten Charakterpflanzen, und auch in der unteren Kreide sind gewisse Gruppen noch sehr häufig. Reste, welche mehr oder weniger mit den jetzt noch lebenden übereinstim- men, hat man wiederholt gefunden. Aus Jura und Kreide sind Reste bekannt, welche mit den jetzigen Gattungen sehr große Ähnlichkeit zeigen. Ausdem Rhät von Schonen hat Nathorst einen Zapfen beschrieben, der ganz mit denen der heutigen Zamieen und Cycadeen übereinstimmt. Auch sind aus dem schwedi- schen Rhät Makrosporophylle bekannt, welche aller Wahrscheinlichkeit nach zu Podozamites gehören und dadurch beweisen, daß dieser auch zu den echten Cycadeen gehört. Die häufigsten Vertreter der Cycadophyten findet man unter den Blatt- resten, welche oft so sehr alle Merkmale von Cycadeen zeigen, daß es nicht mög- lich ist, die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu bezweifeln. Es zeigt sich also, daß es sich in den Cycadeen in engerem Sinne auch schon um eine alte Gruppe handelt. Weit interessanter sind die Bennettiteen. Diese wurden früher mit denCy- cadeen vereinigt. Besser ist es jedoch, wie die neueren Untersuchungen zeigen, diese beiden einigermaßen getrennt zu halten. Zusammen bilden sie die Cycado- phyten. Diese Bennettiteen sind von der Trias an bekannt, gehören zu den häufig- sten Resten des Jura und erreichen den Höhepunkt ihrer Entwicklung in der un- teren Kreide. Aus späterer Zeit sind nur noch einige wenige Formen bekannt. Die Untersuchungen über diese Pflanzen wurden zumeist von Nathorst an schwedischem und besonders englischem Material und von Wieland an amerikanischem Material vorgenommen. Nathorst untersuchte nur die Ab- drücke, er war jedoch dank seiner vorzüglichen Methode imstande, so vieles an diesen zu zeigen, daß seine Resultate zu den wichtigsten aus den letzten Jahr- zehnten gehören. Die Untersuchungen Wielands wurden an echt versteiner- tem Material vorgenommen. Seine Resultate haben uns einen solchen Einblick in bestimmteGruppen der Cycadophyten gegeben, wie wir ihn selbst in der Or- ganisation mancher lebenden Gruppen noch nicht haben. Es ist auffallend, daß die weiblichen Blüten im allgemeinen bei allen Gat- Hydropterideae; Cycadeae; Bennettiteae 427 tungen ziemlich gleich gebaut sind. Man kann an diesen drei Teile unterschei- den: den Panzer, die Strahlen und das Polster. Das Polster ist der obere Teil der Blütenachse, aus welchem die Samenstiele und die Stiele der interseminalen Organe heraustreten. Es muß von fleischiger Beschaffenheit gewesen sein und ist nur selten erhalten. Die Strahlen werden durch die Stiele der Schilder der interseminalen Or- gane sowie durch die Stiele der Samen gebildet. Die Samen hatten ihren Platz im peripheren Teil der Strahlenschicht. Der Panzer ist gefeldert, und zwar so, daß je sechs Schilder der intersemi- nalen Organe um kleine punktförmige Mikropylaröffnungen gruppiert sind, Im allgemeinen ist nun dieses Schema gültig, sowohl für die weiblichen Blüten der eingeschlechtigen, wie für den weiblichen Teil der zwitterigen Blü- ten. Es gibt nämlich eine große Anzahl Bennettiteen, welche Zwitterblüten ha- ben. Hierzu gehören Cycadeoidea, Wielandiella und vielleicht Weltrichia. Ein- geschlechtige Blüten haben ganz sicher fast alle Arten von Williamsonia und C'y- cadocephalus. Es gibt aber vielleicht auch Williamsonien, welche zwitterig sind. Die männlichen Organe kennt man aus den männlichen Blüten von Wil- liamsonia und aus den zwitterigen von Cycadeoidea, Wielandiella und Welitrichra. Während nun die weiblichen Blüten oder Blütenteile so sehr nach einem Schema gebaut sind, sind die männlichen äußerst verschieden. Danach lassen sich die Bennettiteen sehr gut in Gruppen einteilen. Die erste Gruppe wird von Bennettites und Cycadeoidea gebildet, welche knollenförmige Stämme, zamites- ähnliche Blätter und reich gegliederte männliche Sporophylle haben. Diese stehen in einem Kreis und sind wie Farnblätter doppelt gefiedert. An den Sei- tenfiedern tragen sie die Synangien (Pollensäcke). In der Jugend waren sie eingerollt, ähnlich so wie Farnblätter. Die ganze Blüte war von einem Schopf von Hochblättern umhüllt. Noch muß erwähnt werden, daß die männlichen Organe früher reif waren als die weiblichen; die Blüten waren also proterandrisch. Die zweite Gruppe wird von Williamsonia und Weltrichia gebildet. Ob hier zwitterige Blüten existiert haben, ist in beiden Fällen äußerst zweifelhaft. Die männlichen Blüten bestehen aus einer Anzahl mehr oder weniger verwachsener Sporophylle. Aufden Sporophyllenfindetmanzubeiden Seiten der Mittellinieeine Reihe von Sporangien. Es scheint, daß diese zuweilen im unteren Teil reduziert sind. Wieland hat eine ganz merkwürdige zu dieser Gruppe gehörende Form beschrieben, bei welcher die Mittellinie der Sporophylle allein aus dem verwach- senen Teil hervorragt und die Synangien an beiden Seiten frei trägt. Wie die Stämme dieser Gruppe waren, ist noch nicht genau bekannt. Die Blätter, welche mit ihnen zusammengebracht werden, gehören zu verschiedenen Ty- pen, so daß wir esin dieser Gruppe vielleicht noch mit einem Kollektivtypus zu tun haben. Von Cycadocephalus sind nur männliche Blüten bekannt. Diese sind im Bau der Synangien und der Form der Mikrosporen von den Williamsonien ver- schieden. Vielleicht bildet er eine dritte Gruppe. Die vierte Gruppe bildet Wielandiella. Auch von dieser kennen wir zwit- Verwandtschaft von Cycadophy- ten mit Cycado- filices. Cordaiteae. 428 W.]J. JONGMAnNS: Paläobotanik terige Blüten. Die Mikrosporophylle sind hier sehr reduziert. Oberhalb der letz- ten Narben, welche die Ansatzstellen der die ganze Blüte umhüllenden Hoch- blätter andeuten, ist die Blütenachse etwas angeschwollen und bildet hier den sogenannten Palissadenring. Dieser Palissadenring stellt die männlichen Organe dar und ist wohl als die miteinander verwachsenen reduzierten Sporo- phylle zu deuten. Der Bau des weiblichen Teiles der Blüte konnte durch An- wendung der Mazerationsmethoden von Nathorst wenigstens in großen Zügen festgestellt werden. Die Stämme sind eigentümlich gegabelt; die damit im Zusammenhang gefundenen Blätter gehören zum Anomozamites-Typus. An Cycadeoidea hat Wieland auch die Samen untersuchen können. Diese zeigen in mancher Hinsicht große Übereinstimmung mit denen der Cycadofili- ces, besonders mit Lagenostoma und Conostoma. Es gibt auch noch weitere Übereinstimmungen zwischen Cycadophyten und Cycadofilices, und zwarsolcher Art, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, daß sie miteinander verwandt sind. Wie sie jedoch voneinander abgeleitet werden müssen, ist zurzeit nicht klar. Scott hat dies neuerdings noch sehr deutlich auseinandergesetzt: „Wir wissen nicht, wie der Übergang zwischen Cycadofili- ces und Cycadophyten zustande gekommen ist. Die Lücke zwischen Cycado- filices und einer Cycadee, wie der weiblichen Pflanze von C'ycas, ist zwar nicht so groß, und wir wissen auch, daß der Cycastypus ein alter Typus ist, der sich bis ins Mesozoikum zurück verfolgen läßt. Wir können den Samen tragenden Teil der Cycadofilices zwar wohl mit den blattähnlichen Karpellen von Cycas vergleichen, und auch die Samen an und für sich bieten keine Schwierigkeiten. Wenn wir jedoch die männliche Cycaspflanze betrachten, gibt es große Unter- schiede, denn wir kennen keine Form unter den Cycadofilices mit ihren nicht spezialisierten, von der Rhachis getragenen Sporophylien, welche vergleichbar ist mit den Cycadeen. Noch weniger können wir die komplizierten Blüten der Bennettiteen vergleichen mit den blütenlosen Cycadofilices. Die Staubfäden der Bennettiteen sind zwar, wie wir gesehen haben, cycadofilices- und sogar farn- ähnlich, jedoch in dem Zusammentreten der Organe zur Bildung einer Blüte, sowie in dem komplizierten Gynöceum mit seinen reduzierten Karpellen, haben wir neue Merkmale, deren Ursprung noch vollständig im Dunkeln liegt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß durch spätere Untersuchungen diese Lücke überbrückt wird. Um so mehr, da wir jetzt schon mehrere Formen kennen, welche einigermaßen den Charakter von Übergangsformen tragen, deren Bau aber noch nicht so weit aufgeklärt ist, daß wir aus diesen bestimmte Schlüsse ziehen können.“ Aus dem Mesozoikum kennen wir außer den Cycadophyten noch viele an- dere Gymnospermen. Vertreter der Cordaiteen werden noch aus der Trias und auch aus dem Jura angegeben. Die meisten dieser Angaben sind auf die Blätter basiert. Doch auch Cordaites-ähnliche Samen sind im Lias gefunden. Da jedoch Cordaitessamen zuweilen eine äußere Ähnlichkeit mit den Samen gewisser Cycadofilices haben, so ist Vorsicht geboten. Wichtig ist die Gruppe im Mesozoikum jedenfalls nicht. Cycadophyten; Gymnospermen 429 Die Gingkoalen waren im Mesozoikum und besonders im Jura sehr häufig. Ginkgoates. Es war ihre Blütezeit. Wie wir schon gesehen haben, waren sie jedoch schon im Paläozoikum vertreten. Die wichtigste Gattung ist Baiera; diese ist von Ginkgo unterschieden durch die kurzen Blattstiele und die wiederholt und tief dichotom geteilten Blattspreiten. Später treten Formen auf, welche von dem jetzt leben- den Ginkgo biloba fast nicht zu unterscheiden sind. Sie waren über die ganze Welt verbreitet, während jetzt Ginkgo biloba nur noch in China und Japan und vielleicht auch hier nicht einmal mehr wild vorkommt. Am wichtigsten waren im Mesozoikum von den Coniferen die Abietineen und Araucarien. Es herrscht ein großer Streit über die Frage, welche von die- sen beiden Gruppen die älteste ist. Es ist äußerst schwierig, auf Grund von Ab- drücken eine solche Frage zu beantworten. Die wichtigsten Beweise muß man im Bau der Zapfen und in der Anatomie suchen, aber erstere sind nur ausnahms- weise so gut erhalten, daß sie genügend Einzelheiten zeigen. Über die Phylogenie und diegeologische Verbreitung der Coniferen wurde in den letzten Jahren von mehreren Forschern, wie Seward, Jeffrey, Gothan und vielen anderen eine große Zahl von Arbeiten veröffentlicht. Die hier fol- genden Angaben sind hauptsächlich nach Gothan zusammengestellt. Aus allem scheint hervorzugehen, daß die Araucarien sich bis ins obere Pa- läozoikum zurück verfolgen lassen. Zwar ist es dann notwendig, den Begriff „Araucarien‘ in etwas abweichendem Sinne aufzufassen. Man unterscheidet in der Holzanatomie der Coniferen zwischen der araucarioiden Hoftüpfelung und dem gewöhnlichen Typus. Bei dem araucarioiden Typus stehen die Hoftüpfel, d. h. die eigentümlichen Verdickungen — oder richtiger vielleicht Perforationen — der Coniferen-Holzzellen, die sich meist nur auf deren Radialwänden fin- den, sehr gedrängt, sind klein und stumpfen sich gegenseitig polygonal.ab. Bei dem gewöhnlichen Typus sind sie größer, lockerer und bei Mehrreihigkeit meist gegenständig. Nun zeigen im Paläozoikum alle Coniferen einen solchen arau- carioiden Holzbau. Erst in der Juraformation tritt der gewöhnliche Typus mehr in den Vordergrund. Unter diesen Hölzern mit araucarioidem Typus gibt es nun, wie Gothan bewiesen hat, mehrere, welche auf Grund anderer Eigenschaf- ten besser zu den Abietineen gerechnet werden können, so daß bei der Inter- pretierung der Anatomie fossiler Hölzer die größte Vorsicht geboten ist. Im Rotliegenden haben wir einen sehr deutlichen Beweis für die Existenz von Arau- carien in Walchia. Habitus, Zapfenbau und Anatomie weisen hier alle auf diese Pflanzengruppe. Aus der Triasflora sind sichere Vertreter der Araucarien kaum bekannt. Zwar gibt es hier manche Form, welche aus irgendeinem Grunde zu den Araucarien gerechnet wird, aber absolut überzeugend sind diese Gründe nicht. Besser sind die Beweise im Jura, in der Kreide und im Tertiär. In diesen Perioden gibt es nun einen eigentümlichen Gegensatz in der geographischen Ver- breitung. Während im Jura und der Kreide Vertreter von Araucarien aus bei- den Hemisphären bekannt sind, sind sie aus dem Tertiär nur von der südlichen Halbkugel bekannt, und zwar aus Südamerika, Australien und Südostasien. Sie gingen im Tertiär aber noch viel südlicher, als es jetzt der Fall ist. Abietineae und Araucarieae. Taxodieae. 430 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik Reste, welche zu den Abietineen gerechnet werden, hat man schon aus der Trias angegeben. Diese Reste sind jedoch sehr spärlich und scheinen, wie Go- than auch hervorhebt, in Europa wenigstens, mehr lokale Erscheinungen ge- wesen zu sein. Interessant ist es, hier nach Gothan die frühere und jetzige Verbreitung der Abietineen kurz zu skizzieren. „Alle Reste, welche aus Trias und Jura bekannt sind, sind mehr oder weni- ger unsicher und sind jedenfalls so zusammenhangslos, daß sie pflanzengeogra- phisch nicht zu verwenden sind. Im oberen Jura der arktischen Gegend hat Nathorst eine große Zahl von Abdrücken gefunden, welche er als Abietineen deutet. Ihre Zugehörigkeit zu den Abietineen wird durch die Resultate von Gothans Untersuchung der Höl- zer von Spitzbergen und König Karls-Land bestätigt. Die Anatomie dieser Höl- zer beweist, daß es sich um wirkliche Abietineen handelt, obgleich auch hier die araucarioide Hoftüpfelung noch vorkommt. Im oberen Jura zeigen die Abieti- neen zumal in der Arktis eine reiche Entfaltung. Es scheint, daß sie hier eine dominierende Stellung einnahmen. Seit dieser Zeit kann man mit ziemlicher Deutlichkeit das Vordringen dieser Familie in südlichere Breiten verfolgen, mit anderen Worten ihre zirkumpolare Ausdehnung. Im Wealden sind Reste der Familie z. B. in England und Belgien nicht mehr so selten, und in der eigent- lichen Kreideformation hat sich die Familie in unseren Breiten bereits ein ähn- liches Areal erobert, wie im Tertiär, doch scheint sie erst im Tertiär selbst all- gemeiner bis in die Gebiete der heutigen Mittelmeerregionen vorgedrungen zu sein, wonach sich auch im Tertiär eine weitere Südwanderung dieser Familie annehmen ließe. Auch in Nordamerika finden wir in der Kreideformation die Verhältnisse ähnlich; während in der Potomacformation außer den wenigen unsicheren Abietites-Resten nichts von der Familie zu spüren ist, ist sie in der Dakotagruppe schon häufiger und gerade die neueren Untersuchungen Jef- freys und Chryslers haben ihre Anwesenheit dargetan. Im Tertiär ist sie dort wie bei uns sehr verbreitet. Den Äquator hat keine fossile Abietinee erreicht gleich den rezenten Vertretern der Familie, und ferner können wir als sicher aus- sprechen, daß nie eine Angehörige dieser Familie sich auf der Südhemisphäre befunden hat; sie ist wie heute so auch früher auf die Nordhemisphäre und zwar vornehmlich auf deren gemäßigtere Breiten beschränkt gewesen und offenbar, wo siein größerer Zahl auftrat, auch früher für die Pflanzenphysiognomie dieser Gegenden von größter Bedeutung gewesen.“ Auch die Taxodieen gehen weit in die Vorgeschichte der Erde zurück. Man kann sie bis ins Paläozoikum verfolgen, wenn man annimmt, daß die Voltzien aus dem Perm zu dieser Gruppe gehören. Es gibt auch eine ganze Anzahl trias- sischer und jurassischer Formen, welche zu den Taxodieen gerechnet werden. Im allgemeinen ist jedoch der Beweis für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ziemlich schwer zu liefern. Von der Kreide an kennen wir Reste, welche ganz sicher dazu gehören, und unter diesen ist an allererster Stelle die Gattung Se- quova zu nennen, von welcher wir schon mehrere Vertreter aus der Kreide ken- nen. Sie erreicht jedoch ihre Höchstentwicklung im Tertiär, wo die Sequoien und Gymnospermen; Angiospermen 431 manche andere Taxodieen sehr allgemein verbreitete Pflanzen waren und z. B. sehr viel beigetragen haben zu der Bildung der Braunkohle. Fast alle diese da- mals häufigen Formen haben sich jetzt stark zurückgezogen. Seguoia findet man nur noch in einigen Gegenden von Nordamerika; Glyptostrobus kommt nur noch in China vor, Taxodium nur in Nordamerika. Die Cupressineen haben ihre ersten Vertreter vielleicht schon in der Trias; Cupressineae. ziemlich sichere Reste sind seit dem oberen Jura bekannt, obzwar andere For- scher annehmen, daß sie mit Gewißheit erst seit der Kreide bekannt sind. Diese ältesten Reste sind verwandt mit den heutigen Gattungen Callitris, Widdring- tonia, Chamaecyparis. Eine dominierende Stellung scheinen die Cupressineen niemals eingenommen zu haben, ebensowenig wie die Taxaceen. Interessante, Taxaceae. zu dieser letzten Gruppe gehörende Reste wurden von Nathorst in jurassischen und rhätischen Schichten Schonens gefunden. Im Bau der samentragenden Schuppen zeigt eine von diesen Pflanzen, Stachyotaxus, große Übereinstimmung mit Dacrydium, und der Bau der Zweige weist auf eine Verwandtschaft mit den Podocarpoideen, einer Unterabteilung der Taxaceen, zu welcher Podocarpusund Dacrydiunı gehören. Hölzer, welche zu Pflanzen aus dieser Verwandtschaft ge- hört haben müssen, sind aus dem Jura Grönlands bekannt. Im Rhät Schonens fand Nathorst weiter eine Pflanze, Palaeotaxus, welche in mancher Hinsicht mit Taxus übereinstimmt. Im Tertiär scheinen die Taxaceen noch ziemlich weit verbreitet gewesen zu sein. Die größte Änderung in der Flora des Mesozoikums hat in der Kreide durch das Auftreten der Angiospermen stattgefunden, welche in der älteren Kreide zu- erst gefunden wurden und sich von da ab immer mächtiger entwickelt haben. Es ist auffallend, daß die ältesten Angiospermen praktisch gesprochen genau den heute lebenden gleich sind. Wohl gibt es viele Arten, welche nur fossil ge- funden wurden und jetzt ausgestorben sind. Aber soweit mir bekannt, ist man, wenn es sich um einigermaßen bestimmbare Reste handelte, niemals genötigt gewesen, darauf eine besondere Familie zu gründen. Auch ist es auffallend, daß gleich nach dem Auftreten der Angiospermen diese Gruppe eine so reiche Gliederung zeigt, daß in den ältesten Schichten, welche Angiospermen enthalten, eigentlich alle Familien, welche zum Fossilisieren geeignet sind, auch schon ge- funden werden. Der einzige Unterschied liegt darin, daß im Zusammenhang mit dem Klima viele Pflanzen, welche jetzt nur in tropischen und subtropischen Gegenden vorkommen, damals eine größere Verbreitung zeigten. Auch hat in geologischen Zeiten durch verschiedene Landverbindungen ein anderer Floren- austausch stattfinden können, als das jetzt der Fallist. Man kann jedoch deut- lich sehen, daß viele Gruppen der Angiospermen jetzt einen anderen Anteil an dem Gesamtbild der Flora haben als früher. Besonders auffallend ist dieser Unterschied bei den Monochlamydeae und Polycarpicae. Diese bildeten in den ältesten Zeiten einen viel höheren Prozentsatz als jetzt. Und nun sind es ge- rade diese Pflanzengruppen, welche von den Phylogenetikern als die ursprüng- lichsten angesehen werden. Eine Gruppe von Forschern leitet die Angiospermen von den Coniferen ab, Auftreten der Angiospermae. Ableitung der Angiospermen. 432 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik eine andere leitet sie von den Bennettiteen ab. Es ist bei den Bennettiteen auf- fallend, daß gerade die älteren, die jurassischen Formen, wie Wielandiella, die größte Übereinstimmung mit den Angiospermen zeigen. Es wird von den Ver- tretern dieser letzteren Auffassung denn auch ziemlich allgemein angenommen, daß die Verbindung unter den älteren Formen zu suchen ist und daß die Ben- nettites- und Cycadeoidea-Formen selbst eine jetzt ganz ausgestorbene, selbstän- dige Entwicklungsreihe bilden, welche nichts mehr mit den Angiospermen und ihrem Ursprung zu tun hatte. Diese Auffassung scheint mir wahrscheinlicher als die Ableitung der Angiospermen gerade von denjenigen Gymnospermen, welche wir jetzt als die höchst entwickelten betrachten. Denn fast überall im Pflanzenreich sieht man neben dem Auftreten neuer Gruppen eine selbständige Weiterentwicklung der Formenreihe einhergehen, aus der man annimmt, daß die neue Gruppe ihre Entwicklung genommen hat. Hallier, einer der Vertreter der Auffassung, daß die Polycarpicae die äl- testen Angiospermen sind, nimmt neuerdings als hypothetisches Zwischenglied zwischen diesen und den Cycadophyten die sogenannten Proberberideae an. Die nächsten Verwandten dieser im Gegensatz zu den Gnetaceen und Amentaceen stets und in normaler Weise noch zwitterblütigen Proberberideen waren dann unter den bekannten Gymnospermen die gleichfalls zwitterigen Bennettiteen. Jedoch zeigen diese in mancher Hinsicht schon eine höhere Entwicklung als die Proberberideen. Demnach leitet Hallier die Proberberideen neben den bekannten Cycadophyten von einer älteren, unbekannten Sippe der Cycadophyten ab. Er gibt noch an, daß diese Sippe vielleicht in der Südsee oder auf deren großen Inseln oder auf ihrem andinen Ostrand fossil zu finden sein wird. Wettstein ist einer der Vertreter der Hypothese, daß die Angiospermen aus hochentwickelten Gymnospermen entstanden sind. Er nimmt an, daß die Blüten der Angiospermen aus Infloreszenzen der Gymnospermen und daß zu- erst eingeschlechtige Blüten entstanden sind. Später wurde dann die weib- liche Blüte in das Zentrum der männlichen hineinverlegt und damit war die zwitterige Blüte erreicht. Diese Auffassung beruht zu einem sehr großen Teil ebenfalls auf Hypothesen. Er sieht nun in den Monochlamydeae eine Gruppe der Angiospermen, welche in mancher Hinsicht zu den primitiven gehört. Auch zeigen die Monochlamydeen eine Verschiedenheit im Blütenbau, welche sich nach Wettstein sehr gut mit der oben kurz angegebenen Entwicklungsweise in Übereinstimmung befindet. Wie aus dieser kurzen Skizze der Auffassungen zweier Vertreter der ent- gegengesetzten Meinungen hervorgeht, ist es bis jetzt noch nicht gelungen, sich ein Bild des Ursprungs der Angiospermen zu machen ohne Zuhilfenahme von mehr oder weniger komplizierten Hypothesen. Es ist darum auch ohne Zweifel berechtigt, zu sagen, daß man tatsächlich, was den Ursprung der Angiospermen betrifft, noch nicht klar sieht. Es gibt zwar manche wertvolle Andeutung, aber mehr als Andeutungen sind es nicht. Es muß also weiteren Forschungen vorbehalten bleiben, uns die Lösung dieser so wichtigen Frage zu bringen. Auftreten der Angiospermen; Klima; Känozoikum 433 Noch eine das Mesozoikum betreffende Frage, die der Klimadifferen- zierung, muß hier kurz beantwortet werden. Wie wir gesehen haben, gab es im Paläozoikum, mit Ausnahme der permokarbonischen Glossopterisflora, noch keine Andeutungen für Klimadifferenzierungen. Diese werden nun im Meso- zoikum immer deutlicher. Die in dieser Periode gefundenen Hölzer zeigen durch- wegs Jahresringe, was also, da es sich bei diesen Hölzern allermeist um Coni- ferenhölzer handelt, ganz bestimmt auf eine Differenzierung des Jahresklimas in wärmere und kühlere Perioden deutet. Denn wie Gothan hervorhebt, haben die Coniferen meist xerophile, persistierende Blätter, und deshalb können regel- mäßige, periodische Zuwachszonen im Holzkörper nur auf das periodische Ein- setzen einer kühleren Periode zurückgeführt werden, d.h. auf einen Wechsel von kälterer und wärmerer Jahreszeit. Die Angiospermen-Hölzer können in dieser Hinsicht nicht als Beweis die- nen, denn unter den Angiospermen gibt es viele, welche infolge der Abwechs- lung von Regen- und Trockenperioden ihre Blätter abwerfen und demzufolge Wachstumszonen im Holzkörper zeigen. Es ist nun weiter eine große Frage, ob das Klima im Mesozoikum auf der ganzen Welt noch uniform war wie im Paläozoikum, oder ob es damals schon Klimazonen gab, welche mit der jetzigen Verteilung in arktische, gemäßigte, subtropische und tropische Zonen vergleichbar waren. Es gibt nun vieles, was in letzterem Sinne zu deuten ist. Das Auftreten sol- cher Zonen muß selbstverständlich auch in der Zusammensetzung der Flora zum Ausdruck kommen, und es scheint tatsächlich, daß die Funde im hohen Norden hierauf weisen. Wir müssen jedoch neue Untersuchungen abwarten, bevor wir uns mit Bestimmtheit darüber aussprechen können. Es bleibt uns noch übrig, etwas von der Flora des Känozoikums zu sagen. Das Känozoikum ist die Zeit der Angiospermen. Die im Mesozoikum beginnende Klimadifferenzierung macht immer weitere Fortschritte. Während noch im äl- testen Tertiär viele Vertreter jetzt tropischer Familien in Nordeuropa gefunden werden, sind solche im jüngsten Tertiär fast ganz verschwunden. Nur noch ei- nige Gewächse, welche jetzt den Mittelmeergebieten eigen sind, finden sich auch im Pliocän von Nordeuropa. Auffallend ist es, daß auch im Tertiär die arkti- schen Gebiete noch eine reichere Flora gehabt haben. Man hat das Auftreten dieser Flora in so hohen Breiten und noch in so späten Zeiten mit einer Ver- schiebung des Poles in Zusammenhang gebracht. Von anderer Seite wird je- doch angenommen, daß die Lage des Poles unverändert blieb. Nachdem Nat- horst einwandfrei beweisen konnte, daß die in den arktischen Ablagerungen gefundenen Pflanzen an primärer Lagerstätte liegen, d. h. daß die sie enthalten- den Schichten autochthon sind, bleibt es ein Rätsel, wie eine solche Flora bei der extremen Tag- und Nachtverteilung der arktischen Gegenden dort existie- ren konnte. Wie schon weiter oben erwähnt wurde, findet man in der europäischen Ter- tiärflora viele Pflanzen, welche jetzt nur Ostasien und Australien oder Nord- amerika bewohnen, und zwar findet man im ältesten Tertiär mehr östliche, vom K.d. G. IIT.ıv,Bd4 Abstammungslehre ete. 28 Klimadifferen- zierung im Me- sozoikum. Känozoikum. Tertiäre Eiszeit. 434 W.J. JOnGMAnS: Paläobotanik Oligocän ab mehr amerikanische Typen, während in den jüngsten Tertiärablage- rungen nur noch einige wenige amerikanische Typen unter reichlicher Entfal- tung der Mittelmeerbewohner gefunden werden. Einige dieser amerikanischen Typen, wie Dulichium und Brasenia, scheinen sogar erst im Diluvium in Europa ausgestorben zu sein. Das Studium des Tertiärs wird sehr erschwert durch die Schwierigkeiten bei der Bestimmung isolierter Blattabdrücke. Gibt es doch Blattypen, welche in ähnlicher Weise in Familien vorkommen, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Es ist im allgemeinen nur möglich, sichere Bestim- mungen zu liefern, wenn ein außerordentlich reiches Material vorliegt, so daß man sich einigermaßen ein Urteil über die Variation der vorliegenden Formen bilden kann. Ein in letzter Zeit neu in Angriff genommenes Feld für Untersuchungen der tertiären und späteren Ablagerungen wurde besonders durch C. und E. Reid bearbeitet. In vielen Ablagerungen findet man zahlreiche Früchte und Samen. Durch geeignete Methoden ist es gelungen, diese in ausgezeichneter Weise aus dem Substrat zu isolieren und zu konservieren. Der Vergleich des so erhaltenen Materials mit dem rezenten ist äußerst schwierig. Jedoch sind die Resultate, welche in verschiedenen Gegenden durch diese Untersuchungen erreicht wurden, äußerst wichtig und versprechen vieles für die Zukunft. Am Schluß des Tertiärs hat eine umfangreiche Vereisung stattgefunden, welche sich über einen großen Teil von Nordasien, Europa und Nordamerika erstreckte. Das Studium der fossilen Pflanzen hat nun auch vieles zur Kenntnis dieser Eiszeit und der Ausdehnung der Vereisung beigetragen. DieUntersuchun- gen Nathorsts, Webers und vieler anderer Forscher haben zu schönen Re- sultaten geführt. Allerdings ist bei der Interpretierung solcher Resultate große Vorsicht geboten. Es ist denn auch von verschiedenen Seiten, besonders in der allerletzten Zeit durch Brockmann- Jerosch, Einspruch erhoben gegen Nat- horsts Schlußfolgerungen. Nathorst hatte die Hypothese aufgestellt, daß in der Nähe der vereisten Gegenden eine Tundravegetation geherrscht hatte und daß die Temperatur in den betreffenden Gegenden viel niedriger war, als es jetzt der Fallist. Daß neben den typischen arktischen Pflanzen auch eine Anzahl von anderen phanerogamen Pflanzen gefunden wurde, steht hiermit nicht in Wider- spruch, denn wenn man die Verzeichnisse der letzteren durchsieht, gewahrt man, daß es sich meist um Wasserpflanzen handelt, und es ist eine bekannte Tatsache, daß die Temperatur der Binnenseen im allgemeinen bedeutend höher ist als die der Luft, so daß bei einer Lufttemperatur, welche nur das Gedeihen arktischer Landpflanzen gestattete, die Flora der Seen eine viel reichere ge- wesen sein kann. Auch darf nicht vergessen werden, daß die typische Glazial- flora abgelöst wurde durch eine, in welcher auch andere Pflanzen vorkamen, und daß man noch niemals gesehen hat, daß eine Pflanzengemeinschaft einer an- deren plötzlich Platz macht. Solche Übergänge sind immer allmählich. Auch wird diese Florenfolge, da die Temperatur der Seen etwas höher war, in diesen eher eingetreten sein als auf dem umringenden Lande, so daß es in einem seen- reichen Gebiet sehr gut möglich ist, unter geeigneten Umständen die Dryastlora Tertiär; Tertiäre Eiszeit 435 und die Anfänge der postglazialen Birkenregion direkt nebeneinander und sogar mehr oder weniger miteinander gemischt zu finden. Daraus geht hervor, daß man, wenn das Sammeln des Materials in einer Gegend, wo Glazialpflanzen vor- kommen, nicht ganz genau und methodisch nach Schichten vorgenommen wird, leicht zu falschen Schlußfolgerungen gelangen kann. III. Zusammenfassung. Wenn wir die ganze Geschichte des Pflanzenreichs, so wie sie uns durch die paläobotanischen Tatsachen gelehrt wird, überblicken, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß eine stete Änderung des Gesamtbildes der Flora stattgefunden hat. Von den Formen, welche im Paläozoikum lebten, sind keine, von denen aus dem Mesozoikum nur sehr wenige und dann auch nur stark umgewandelte Reste bis in die heutige Zeit erhalten geblieben. Diese Änderung der Flora kann man im allgemeinen als ihre Entwicklung bezeichnen. Es ist durchaus nicht notwendig, anzunehmen, daß diese Entwicklung im- mer vom einfachen zum komplizierteren fortgeschritten ist. Wenn wir die jetzt lebenden Vertreter der Equisetales, Lycopodiales, Filices, Cycadeae, der sonsti- gen Gymnospermae und der Angiospermae vergleichen mit dem, was wir von ihrer geologischen Vergangenheit wissen, so sehen wir, daß die Angiospermen (und vielleicht auch die Bryophyten) jetzt in voller Entwicklung begriffen sind. Auch die leptosporangiaten Farne befinden sich vermutlich noch unter günstigen Le- bensbedingungen. Erst im Mesozoikum haben sie angefangen, ihre volle Ent- wicklung zu erreichen, und gewisse Gruppen, wie die Polypodiaceen, sind ganz sicher jetzt reicher entwickelt wie je vordem. Andere Gruppen überschritten schon den Höhepunkt ihrer Entwicklung und bilden jetzt nur noch Reste ihrer früheren Blüte, so die Dipteridinen und die Matonieen. Ahle amderen Gruppen sindrjetzt nicht, mehr aufidem Gipfel ihrer Entwicklung. Und es ist auffallend, daß, was von diesen Gruppen jetztinochtlebt wnichtrzusihren .kompliziertesten’ Bor- men gehört. Sehr deutlich fällt dies in die Augen, wenn wir die einfachen Equti- setales und Lycopodiales der Jetztzeit vergleichen mit ihren äußerst komplizier- ten und vielgestaltigen paläozoischen Vorfahren. Die C’ycadeae aus dem Meso- zoikum hatten eine viel reichere Entwicklung und zeigten viel zahlreichere und höher organisierte Formen als die jetzigen. Das Bild, welches die Geschichte der Pflanzen vor uns entrollt, ist, wie Scott sagt, in Wirklichkeit nur: ‚eine Aufeinanderfolge dominierender Grup- pen, von welchen jede zu ihrer Zeit ihre Höchstentwicklung erreicht hat, um dann, als sich die Lebensbedingungen änderten, in den Hintergrund zu rücken und irgendeiner neu aufgekommenen Gruppe Platz zu machen.“ „Die dominierenden Kryptogamen aus dem Paläozoıkum, die riesigen Lyco- podiales und Equisetales, naben ihre Wichtigkeit in mesozoischen Zeiten ver- loren. Die große paläozoische Gruppe der Cycadofilices wurde in der ganzen Welt durch die Cycadophyten verdrängt, während zur selben Zeit die echten Farne mehr in den Vordergrund traten. Den Cordaiteen folgten die Coniferen 285 436 W.]J. JonGMANS: Paläobotanik und Ginkgoalen. In der Kreide verschwanden die dominierenden Cycadoqhyten bald, und fast plötzlich wurde ihr Platz von den wahrscheinlich aus ihnen ent- standenen Angiospermen eingenommen. Diese großen Änderungen las- sen sich zwar in Worte fassen, aber wir haben keine Ahnung da- von, wie diese Revolution zustande gekommen ist. Wie die endlose Variation der Blütenpflanzen sich aus den ersten Anfängen offenbar so rasch entwickelt hat, läßt sich zurzeit auf Grund der paläobotanischen Tatsachen nicht erklären. Außer der wahrscheinlichen Verwandtschaft mit den Cycado- phyten wissen wir tatsächlich nichts von der Entstehung der Angiospermen, nur ist es höchst wahrscheinlich, daß die Monokotyledonen jünger sind als die Diko- tyledonen. Es ist jedoch ein unendliches Material für das Studium dieser Ge- schichte vorhanden, und wir können ganz bestimmt erwarten, daß weitere Unter- suchungen vielleicht schon in verhältnismäßig nahen Zeiten uns wichtige Re- sultate bringen werden.‘ Fassen wir kurz zusammen, was wir wissen und was wir je zu erfahren er- warten dürfen. Der Ursprung der Filices liegt wenigstens, bis wir Reste von Landpflanzen kennen werden, welche älter sind, als die bis jetzt gefundenen, vollständig im Dunkeln. Auch wie die Cycadofilices aus diesen entstanden sind, werden wir, da der Ursprung dieser Gruppe wahrscheinlich in einer Zeit liegt, aus welcher noch keine Reste bekannt sind und vielleicht auch niemals be- kannt werden, wohl nie erfahren. Daß sie nahe miteinander verwandt sind, ist sicher. Aus den Cycadofilices sind einerseits die Cycadophyten und anderseits die Gymnospermen im engeren Sinne hervorgegangen. Und aus einer dieser Gruppen, wahrscheinlich aus den Cycadophyten, die Angiospermen. Alles deutet darauf, daß die Monokotyledonen sehr früh aus den ältesten Dikotyledonen ent- standen sind. Der Ursprung der Lycopodiales, Equisetales liegt gleichfalls in einer Zeit, aus der bis jetzt keine Reste bekannt sind; auch die Lösung der Frage nach der Entstehung dieser Gruppen werden wir vielleicht niemals erfahren. Die Beantwortung der Frage nach der Entstehung der Angiospermen sowie vielleicht der leptosporangiaten Farne, Cycadophyten und Gymnospermen in engerem Sinne dürfen wir noch erwarten, da aller Wahrscheinlichkeit nach diese Entstehung erst stattfand zu Zeiten, aus welchen uns Reste bekannt sind und noch weiter bekannt werden können. Es sind zwar schon mehrmals Hypothesen aufgestellt worden, wodurch man sich ein Bild der Entstehung solcher Gruppen zu machen versucht hat. Auch lassen sich für verschiedene dieser Hypothesen mehr oder weniger Wahr- scheinlichkeitsgründe anführen. Jedoch mehr als Hypothesen sind es nicht. Und, wenn es uns nicht gelingt, genügend alte und vollständige fossile Pflanzen zu finden, werden wir niemals erfahren, ob eine und welche dieser Hypothesen der Wahrheit entspricht. Leiden, im Mai 1912. Wichtige Literatur. Mit wenigen Ausnahmen erwähne ich hier nur Handbücher und Zusammenfassungen, und zwar besonders solche, in welchen man ausführliche Literaturangaben findet. Fast die ganze paläobotanische Literatur ist in vielen Zeitschriften zerstreut, so alle Arbeiten von NATHORST, WILLIAMSON, OLIVER, HALLE, THOMAS, LAURENT, MENZEL und viele von BERTRAND, POTONIEk, SCOTT, ZEILLER, GOTHAN, KIDSTON, SEWARD, ARBER, STOPES, BERRY, JEFFREY, WIELAND usw. Lokalfloren habe ich nicht erwähnt, da diese alle in den angegebenen Büchern zitiert sind. Auch habe ich die ältere Literatur nicht besonders hervorgehoben, erstens da diese zur richtigen Orientierung nicht geeignet ist und zweitens, da man auch diese ın den Literaturlisten leicht finden kann. Mitaufgenommen wurden einige Arbeiten von nicht streng wissenschaftlicher, sondern mehr populärer Natur. ARBER, E.A.N., The Glossopterisflora. London 1905. —, Bibliography of Literature on palaeozoic fossil plants. Progressus Rei Botanicae I, 1906, P- 218. —, The natural History of Coal. The Cambridge Manuals of Science and Literature ıgr1. BERRY, E.W., The Lower Cretaceous Floras of the World. Maryland Geological Survey, Lower Cretaceous, p.99, Correlation of the Potomac Formations id. p. 153, Systematic paleontology id. p. 181, 19LL[. BERTRAND, P., L’&tude anatomique des Foug£res anciennes et les probl&mes, qu’elle souleve. Progressus Rei Botanicae IV, ıgrI, p. 182. BOWwER, F.O., The origin of a Landflora. London 1908. COULTER and CHAMBERLAIN, Morphology of Gymnosperms. Chicago 1910. — , Die Veränderungen des Klimas seit dem Maximum der letzten Eiszeit (11. Intern, Geologen- kongreß). Stockholm 1910. FEISTMANTEL, O., Fossil Flora of the Gondwana System, Vol. I-IV, 1880—1886 und die übrigen paläobotanischen Arbeiten aus der Palaeontologia indica. GOTHAN, W., Entwicklung der Pflanzenwelt im Laufe der geologischen Epochen. Die Natur, Bd. VI. — , Paläobotanik. Handb. d. Naturwiss. Jena, Bd. VII, 1912, p. 408. —, Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt. Das Leben der Pflanze, Bd. VI, 1912. —, Aus der Vorgeschichte der Pflanzen. Naturw. Bibliothek, Leipzig 1912. HALLIER, H., Über frühere Landbrücken, Pflanzen- und Völkerwanderungen zwischen Australien und Amerika. Mededeel. van’s Ryks Herbarium, Leiden, Nr. 13, 1912. —, L’origine et le systöme phyletique des Angiospermes exposes a l’aide de leur arbre genealogique. Arch. neerl. des Scienc. exact. et natur. Serie IIIB, I, p. 146, 1912. HEER, O., Flora fossilis arctica, Bd. I—-VII, Zürich 1868—1883 (meist Separata aus K. Svenska Vetensk. Akad. Handl. und anderen Zeitschriften). JONGMANS, W.]J., Die paläobotanische Literatur. Bd. I—-IIl, 1910— 1913. Enthält die Literatur der Jahre 1908—ıIgı1, wird jährlich fortgesetzt. —, Anleitung zur Bestimmung der Karbonpflanzen Westeuropas I. s’Gravenhage u. Frei- berg IgıT. LAURENT, L., Les Progrös de la pal&obotanique angiospermique dans la derniere decade. Progressus Rei Botanicae I, 1907, p. 319. LoTsv, J. P., Vorträge über botanische Stammesgeschichte I—III. Jena 1907— 1911. 438 W.]J. JONGMANS: Paläobotanik PoTonI£, H., Die Entstehung der Steinkohle und der Kaustobiolithe überhaupt. 5. Auflage. Berlin 1910. — , Lehrbuch der Pflanzenpaläontologie. Berlin 1899. (Hauptsächlich Kryptogamen, Pterido- phyten, Gymnospermen im weitesten Sinne.) —, Abbildungen und Beschreibungen fossiler Pflanzenreste der paläozoischen und meso- zoischen Formationen. Liefer. I-VII. (Wird fortgesetzt, jede Lieferung enthält die Be- schreibung und Abbildung von 20 Pflanzen.) —, Die rezenten Kaustobiolithe und ihre Lagerstätten. Abh. k. Pr. Geol. Landesanstalt, Heft 55, 1908—1912. (Wichtig für die Entstehung der Kohle verschiedener Formationen.) —, Grundlinien der Pflanzenmorphologie im Lichte der Paläontologie. Jena 1912. — und GOTHaN, Paläobotanisches Praktikum, Berlin 1912. RENIER, A., Les Methodes pal&eontologiques pour l’Etude stratigraphique du terrain houiller. Paris et Liege 1908. ScoTT, D.H., Studies in fossil Botany, 24 Ed., 2 Volumes. London 1908, 1909. (Hauptsäch- lich Anatomie paläozoischer Pflanzen.) —, The evolution of plants. Home University Library. New York ıgıı. (Eine der besten Übersichten über die Paläobotanik, ihre Aufgaben und die Resultate, sowie über Anklänge der Paläobotanik zur rezenten Botanik.) SEWARD, A.C., Fossil plants for students of botany and geology. Vol.I 1908, II ıgro (Die Cycadofilices und höheren Pflanzen werden in Vol. III behandelt werden.) —, The Jurassic Flora. I 1900, II 1904. London. — The Wealden Flora. I 1894, II 1895. London. SOLMS LAUBACH, H. zu, Einleitung in die Paläophytologie. Leipzig 1887. (Auch in englischer Übersetzung erschienen.) SIOPES, M.C., Ancient Plants. London Ig1o. WARD, L. F., The geographical distribution of fossil plants. Eighth Ann. Rept. U. S. Geol. Surv. 1889, p. 665. WETTSTEIN, R. 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Dieser Versuch führte allerdings erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zum Teile unter dem Einfluß des Siegeslaufes der Darwinschen Selektionslehre, zu zielbewußten und methodisch durchgeführten Arbeiten, trat dann aber im Programme der biologischen Forschung immer stärker hervor. Ein halbes Jahrhundert intensiver phylogenetischer Forschung liegt hinter uns, und wenn wir heute den Versuch machen, die Ergebnisse derselben kurz zusammenfassend zu überblicken, so können wir wohl feststellen, daß die Überzeugung von der Berechtigung und der außerordentlichen Wichtigkeit der ganzen Forschungseinrichtung eine allgemeine geworden ist, daß aber ander- seits immer mehr die großen Schwierigkeiten erkannt werden, welche sich der Erfüllung der Aufgabe in den Weg stellen und einen nur langsamen wirk- lichen Fortschritt zulassen. Die Wichtigkeit der phylogenetischen Forschung liegt nicht nur darin, daß es sich um die Klarstellung eines der gewaltigsten und bedeutungsvollsten Naturphänomene an und für sich handelt, sondern auch darin, daß sie für zahl- reiche andere Disziplinen eine Basis schafft, indem sie Grad und Umfang des in der organischen Welt überhaupt Vergleichbaren feststellt; viele morpho- logischen und physiologischen Erscheinungen sind nur verständlich, wenn auch sie als etwas Gewordenes aufgefaßt werden. Es ist psychologisch ganz erklärlich, daß der ersten Zeit der stammesge- schichtlichen Forschung ein gewisser sanguinischer Zug anhaftete, der vielfach zu etwas vorschnellen Präzisierungen der Resultate führte, so daß z. B. die Aufstellung von ‚„Stammbäumen‘“ und die Ausarbeitung ‚‚phylogenetischer Systeme‘ geradezu Modesache wurde; handelte es sich doch darum, das enorme vorliegende Tatsachenmaterial im Sinne der neuen Auffassung zu verarbeiten — und vieles war zu einer solchen Verarbeitung schon reif —, konnten doch die vorhandenen Schwierigkeiten, ja die ganze Größe der Aufgabe erst im Laufe längerer Anwendung der neuen Methoden erfaßt werden. Wenn heute in der Darstellung der Ergebnisse phylogenetischer Forschung demgegenüber eine gewisse Zurückhaltung zu beobachten ist, so ist dies keineswegs auf einen Mißerfolg oder auf geringere Wertung der Richtung zurückzuführen, sondern auf eine ruhigere, ja nüchternere Auffassung, die anderseits geradezu die Vor- aussetzung eines dauernden Aufbaues ist. Die Stammesgeschichte der Organis- Entwicklung der phylogenetischen Forschung. Schwierigkeiten der phylogenetischen Forschung. Phylogenie des Pflanzenreiches. 440 R. v. WETTSTEIN: Phylogenie der Pflanzen menwelt erscheint uns heute als ein so kompliziertes Phänomen, daß wir gar nicht hoffen können, dasselbe in absehbarer Zeit zu überblicken; unsere Auf- gabe muß noch für lange Zeit darin bestehen, schrittweise und mit gründlicher und vorsichtiger Vorbereitung jedes Schrittes uns der Erkenntnis zu nähern. Stammbäume und phyletische Systeme, wie sie sich in der Literatur finden, sind meist nichts anderes als kurze und prägnante Ausdrucksweisen für subjektive Meinungen oder Darstellungen des momentanen Standes der Er- kenntnis. Sie sind, um dies gleich hier zu sagen, unzulängliche Darstellungs- mittel, weil sie der Kompliziertheit des natürlichen Vorganges gar nicht zu folgen vermögen. Damit soll der Wert dieser Darstellungen nicht negiert wer- den; es soll nur betont sein, daß es sich bei ihnen noch nicht um definitive Ergebnisse, sondern nur sozusagen um Annäherungswerte handeln kann. Die großen Schwierigkeiten der phylogenetischen Forschung sind darin begründet, daß essich hier um die Rekonstruktion des Bildes eines unendlich komplizierten, außerordentlich große Zeiträume hindurch sich abspielenden Vorganges handelt. Die Beobachtung und das Experiment können nicht direkte Resultate liefern, sondern nur das Material, welches erst für die Rekonstruktion geistig verarbeitet werden muß. Wesentliche Fortschritte setzen das eine Mal die Entwicklung ganzer wissenschaftlicher Disziplinen voraus, deren Ergebnisse erst verwertet werden müssen, das andere Mal glückliche Funde und Ent- deckungen, welche selten planmäßig herbeigeführt, meist nur abgewartet werden können. Eine Schwierigkeit, deren sich viele Forscher oft gar nicht bewußt sind, liegt auch darin, daß die phylogenetische Forschung erst zu einer Zeit einsetzte, in der durch die Systematik gewisse Organismengruppen schon scharf umgrenzt und allgemein als solche aufgefaßt waren. Unwillkürlich war man bemüht, die Phylogenie dieser gegebenen Gruppen zu erforschen, statt erst die Ergebnisse stammesgeschichtlicher Detailforschung zur Konstruierung der Gruppen zu verwerten. Trotz all dieser Schwierigkeiten ist die Summe unserer Kenntnisse über die Stammesgeschichte der Organismen bereits eine sehr stattliche. Treten wir jenem Teile dieser Kenntnisse, der sich auf die Pflanzenwelt bezieht, näher, so ist zunächst im Sinne des eben Gesagten die Frage zu er- örtern, ob wir die Entwicklung des Pflanzenreiches überhaupt als etwas Ein- heitliches betrachten können, d.h. ob die Organismen, welche wir usuellerweise als ‚Pflanzen‘ zusammenfassen, eine entwicklungsgeschichtlich einheitliche Gruppe darstellen. Der Begriff ‚Pflanze‘ ist nicht entstanden durch Zusam- menfassung genetisch zusammengehörender, sondern durch Zusammenfassung physiologisch ähnlicher Organismen. Die Fähigkeit der Assimilation anor- ganischer Verbindungen im Lichte unter Beteiligung spezifischer Eiweißver- bindungen und eine Reihe damit im engsten Zusammenhange stehender Eigentümlichkeiten hat die Abgrenzung der Pflanzen- gegenüber der Tierwelt ermöglicht. Daß eine solche physiologische Übereinstimmung auch bei sehr verschiedener phylogenetischer Herkunft möglich wäre, liegt auf der Hand. Die Beachtung dieses Umstandes führt zu der Erwägung, daß die Entwick- Allgemeines über die Phylogenie des Pflanzenreiches A4I lung der Pflanzenwelt nicht notwendigerweise eine einheitliche, monophyle- tische gewesen sein muß, sondern daß das, was wir Pflanzen nennen, auch eine polyphyletisch entstandene Organismengruppe sein kann. Wenn man von der Stammesgeschichte der Pflanzenwelt spricht, so denkt Monophyletische man allerdings in der Regel an jenen Entwicklungsprozeß, welcher in der Aus- BR... bildung der Blütenpflanzen seinen Abschluß fand. In dieser Einschränkung Fetwicklung. kann von einer monophyletischen Entwicklung der Pflanzenwelt gesprochen werden, die, wie weiterhin gezeigt werden soll, sich im großen und ganzen heute schon überblicken läßt. Dagegen zeigt sich immer deutlicher, daß neben jener großen Entwicklungsreihe einige andere Reihen existieren, welche zu so hoch organisierten Formen, wie es die Blütenpflanzen sind, nicht geführt haben, so z. B. die Spaltpflanzen, die sog. Schleimpilze, die Rotalgen, Braunalgen u. a.; indem wir üblicherweise auch diese als Pflanzen bezeichnen, können wir von einer polyphyletischen Entwicklung der Pflanzenwelt sprechen. Die ursprüngliche Herkunft aller pflanzlichen Organismen ist in Dunkel Ursprung des gehüllt. Eine Reihe von Tatsachen spricht dafür, daß die Anfänge aller pflanz- a lichen Entwicklungsreihen in Organismen zu suchen sind, welche etwa den heute lebenden wasserbewohnenden einzelligen Flagellaten morphologisch und physiologisch ähnlich gewesen sein mögen. Eigentümlichkeiten der Flagellaten sind nämlich in allen pflanzlichen Entwicklungsreihen ziemlich weit hinauf zu verfolgen. Die deutlichen Beziehungen vieler Flagellaten zu tierischen Or- ganismen anderseits ermöglichen Vorstellungen von einem entwicklungs- geschichtlichen Zusammenhang aller Organismen überhaupt: Flagellaten-ähn- liche Organismen haben sich in physiologischer Hinsicht nach zwei Richtungen entwickelt; die eine charakterisiert das tierische Leben, die andere führte zu Lebewesen, die wir Pflanzen nennen. Diejenigen pflanzlichen Entwicklungsreihen, welche, wie schon erwähnt, Thallophyten und es nicht bis zu jener Organisationshöhe brachten, die dann zur Ausbildung der “vier. Blütenpflanzen führte, fassen wir als Thallophyten zusammen. Damit wollen wir sagen, daß es pflanzliche Organismen sind, die — bei aller unend- lichen Mannipgfaltigkeit ihrer Gestalt und ihres Aufbaues — jene regelmäßige Gliederung in eine Anzahl von stets wiederkehrenden, wenn auch je nach der Funktion sehr verschieden gebauten, Organen vermissen lassen, wie wir sie bei den Kormophyten oder Sproßpflanzen finden. Diese sogenannten „Grundorgane‘“‘ der Kormophyten sind Wurzel, Stamm und Blatt. Es ist nicht schwer, eine Erklärung für diesen Unterschied zu finden. Die Kormo- phyten sind jene autotrophen, d. h. selbständig assimilierenden höheren Pflan- zen, welche — wie noch weiterhin darzulegen sein wird — sich an das Land- leben anpaßten; die autotrophen Thallophyten sind von Anfang an Wasser- pflanzen. Die autotrophe Landpflanze braucht ein der Befestigung und Nah- rungsaufnahme dienendes Organ, das ist die Wurzel; sie braucht im Lichte ausgebreitete Assimilationsorgane, das sind die Blätter; der Stamm stellt die leitende Verbindung zwischen Wurzel und Blättern her und fungiert als deren Träger. Die autotrophe Wasserpflanze braucht diese Gliederung nicht. Stämme der Thallophyten. Schizophyta. Myxophyta. Zygophyta. 442 R. v. WETTSTEIN: Phylogenie der Pflanzen Die Kormophyten sind jene große Entwicklungsreihe der Pflanzen, welche zur Ausbildung der Blütenpflanzen führte; der Name Cormophyta ist daher die Bezeichnung für eine phylogenetisch einheitliche Pflanzengruppe. Die Bezeich- nung Thallophyta dagegen ist nichts anderes als eine morphologische Zusammen- fassung verschiedener Entwicklungsreihen, die eine bestimmte Organisations- höhe nicht erreichten. Wie schon bemerkt, hat sich die Überzeugung Bahn gebrochen, daß in- nerhalb der Thallophyta mehrere Entwicklungsreihen zu konstatieren sind, welche keine direkten genetischen Beziehungen zueinander haben, wir nennen diese Reihen Pflanzenstämme. Wie groß die Zahl dieser Stämme ist, dar- über sind die Meinungen noch nicht geklärt. Der Verfasser hat den Versuch gemacht, sechs solcher Reihen zu präzisieren. Kleiner ist die Zahl gewiß nicht, eher wäre es denkbar, daß sich noch die Notwendigkeit einer weiteren Spal- tung herausstellen wird. Diese 6 Stämme können als die der Schleimpilze (Myxophyta), Spaltpflanzen (Schizsophyta), Panzeralgen (Zygophyta), Braunalgen (Phaeophyta), Rotalgen (Rhodophyta) und Lagerptlanzen im engeren Sinn (Euthallophyta) bezeichnet werden. Die entwicklungsgeschichtliche Höhe, welche diese Stämme erlangten, ist außerordentlich verschieden. Sie ist verhältnismäßig gering bei den Myxo- phyten und Schizophyten, welche in ihrer Organisation überhaupt sehr iso- liert dastehen. Die Schizophyten sind durchwegs einzellig, zeigen einen Zellbau von so geringer Differenzierung, wie sie sich sonst bei Pflanzen und Tieren nicht findet, und vermehren sich ausschließlich auf asexuelle Weise. Sie gliedern sich in eine autotrophe, anorganische Stoffe assimilierende Gruppe, die Spaltalgen, und in eine heterotrophe, organische Stoffe als Nah- rung aufnehmende Gruppe, die Spaltpilze. Überaus bemerkenswert ist die große Mannigfaltigkeit der ernährungsphysiologischen Vorgänge, welche die heterotrophe Gruppe der Schizophyten aufweist und welche die bekannte allgemein biologische Bedeutung dieser Organismengruppe bedingt. Die My- xophyten sind durch die membranlosen vegetativen Stadien ausgezeichnet, welche morphologisch und physiologisch an die tierischen Rhizopoden, z. B. Amoeben erinnern. Den Abschluß ihrer Entwicklung kennzeichnen Formen mit recht kompliziert gebauten Sporenbehältern, die auf ganz anderem Wege zustande kommen, als die sporenerzeugenden Organe anderer Thallophyten. Eine interessante Organismengruppe stellt der Stamm der Zygophyten dar. Mit Formen beginnend, die sich den Flagellaten anschließen, hat dieser Stamm eine unendliche Fülle von Formen erzeugt unter Beibehaltung der Ein- zelligkeit. Es braucht nur an die hierher gehörenden Peridinieen, Kieselalgen und Desmidiazeen erinnert zu werden, um ein Bild von dieser Mannigfaltigkeit hervorzurufen. Trotz der Einzelligkeit haben die Zygophyten eine relativ bedeutende Höhe der Organisation erreicht; schon die außerordentliche Kom- plikation des Membranbaues, der uns heute noch Rätsel zu lösen gibt, beweist dies. Während in den drei bisher besprochenen Pflanzenstämmen uns Organis- mengruppen vorliegen, welche bei aller Mannigfaltigkeit innerhalb der er- Die Phylogenie der Thallophyten 443 reichten Organisationshöhe doch eine gewisse Grenze der Entwicklung nicht über- schritten haben, was uns bestimmt, selbst die abgeleitetsten Formen noch als Pro- tophyten zu bezeichnen, treten uns in den drei andern Stämmen der Thallophyten Formenkreise entgegen, welche mit relativ einfachen einzelligen Formen begin- nend allmählich reiche Differenzierung ihrer vielzelligen Organe erlangt haben. Dies gilt zunächst von den Phaeophyten und Rhodophyten, zwei Phacophyta Pflanzenstämmen, deren Vertreter sich heute, abgesehen von ganz vereinzelten ee abgeleiteten Ausnahmefällen, im Meere finden. Die höchst entwickelten For- men zeigen reiche Gliederung im anatomischen und im Organbaue. Es kommt bis zur Ausbildung von wurzel-, blatt- und stammähnlichen Organen, bis zur Ausbildung eines deutlichen Generationswechsels, also bis zur Erreichung jener Organisationshöhe, welche die einfachsten Kormophyten charakterisiert. Wir haben den Eindruck, als wenn der Höhepunkt der Entwicklung unter Bei- behaltung des Lebens im Meere, aber unter voller Ausnutzung der Mannig- faltigkeit der Lebensbedingungen in demselben, erreicht worden wäre. Ähnliches gilt von dem Stamme der Euthallophyten, nur sind hier die kuthallophyta Verhältnisse durch Ausbildung einer großen Gruppe heterotropher, sapro- phytisch oder parasitisch lebender Organismen, der Pilze, kompliziert worden. Die autotrophe Entwicklungsreihe ist die der Chlorophyceae. Es ist bisher noch nicht gelungen, dieselben in ein einheitliches phylogenetisches System zu brin- gen, es fehlt daher auch nicht an Stimmen, welche an der Einheitlichkeit dieser Reihe zweifeln; immerhin bietet sie uns im allgemeinen das Bild einer Pflan- zengruppe, welche mit einfachsten, flagellatenartigen Organismen beginnend bis zu jener Höhe aufsteigt, welche bei dauerndem Leben im Wasser nicht überschritten zu werden braucht. Überaus interessant ist die schon erwähnte heterotrophe Klasse der Eu- thallophyten, das ist die der Pilze. Ihre Phylogenie ist noch durchaus nicht geklärt; es gibt Typen, die heute lebenden Chlorophyceen noch sehr nahe- stehen, es gibt anderseits Typen, welche ganz bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Rhodophyten aufweisen. Es wäre daher möglich, daß die Pilze phyloge- netisch überhaupt nicht homogen sind, daß diese Organismengruppe poly- phyletisch entstand. Darin stimmen aber alle Anschauungen überein, daß die Pilze entwicklungsgeschichtlich auf ‚Algen‘, also auf autotrophe, wasser- bewohnende Thallophyten zurückzuführen sind und sich an die heterotrophe Lebensweise außerhalb des Wassers angepaßt haben. Der Mangel, respektive Verlust des Chlorophylis oder physiologisch analog wirkender Stoffe ist damit leicht in Einklang zu bringen; auch das Fehlen respektive der Verlust der sexuellen Fortpflanzung durch Vermittlung von im Wasser schwimmenden Sper- matozoiden, die Tendenz der Ausbildung von ‚Fruchtkörpern‘, welche die Fortpflanzungsorgane umhüllen, hängt damit zusammen. Wie noch darzulegen sein wird, haben wir allen Grund anzunehmen, daß auch die Kormophyten aus ‚algenähnlichen‘‘ Thallophyten in Anpassung an das Landleben entstanden sind. Pilze und Kormophyten stellen in dieser Hinsicht zwei überaus bemerkenswerte analoge Entwick- 444 R. v. WETTSTEIN: Phylogenie der Pflanzen lungsreihen dar, die ersteren repräsentieren den Typus der Landpflanzen mit heterotropher Ernährung, die letzteren jenen mit autotropher Ernährung. Der ganz verschiedene morphologische Bau hängt mit dieser Verschiedenheit der Ernährung zusammen; trotzdem fehlen auch morphologische Analogien nicht. Bei den Kormophyten erfolgt der Übergang vom Wasser- zum Land- leben, wie wir sehen werden, durch Vermittlung des Generationswechsels; dasselbe gilt von den Pilzen. Geradeso wie bei den Kormophyten beruht die fortschreitende Anpassung an das Landleben bei den Hauptgruppen der Pilze, den Ascomyceten und Basidiomyceten, auf dem allmählichen Zurücktreten der geschlechtlichen, dem Wasserleben noch stärker angepaßten Generation und in der parallel damit vor sich gehenden stärkeren Entwicklung der un- geschlechtlichen Generation. Die Analogie läßt sich noch weiter verfolgen. Das Landleben schuf für die Kormophyten jene unendliche Vielfältigkeit der Lebensbedingungen, welche in der Formenfülle, in der großen Zahl von Fa- milien, Gattungen und Arten zum Ausdrucke kommt; dieselbe Formenfülle charakterisiert die Pilze und erschwert ihre systematische Behandlung. Das Landleben ermöglichte bei den Kormophyten die Anpassung an Verbreitungs- faktoren, die den Wasserpflanzen -fehlen, wie bewegte Luft und Tiere; an die- selben Faktoren hat sich auch das Heer der Pilze in der mannigfachsten Weise angepaßt. Wenn Möller gewisse Bauchpilze, die zuckerhaltige Flüssigkeiten, Duftstoffe und Farben produzieren, um damit Tiere anzulocken, welche die Verbreitung der Sporen bewirken, als „Pilzblumen‘‘ bezeichnete, so ist dies nicht nur ein bildlicher Ausdruck, sondern die berechtigte Bezeichnung für eine sehr bemerkenswerte phylogenetische Analogie. Zweimal ist es demnach der Pflanzenwelt gelungen, den Weg zu höherer pflanzlicher Organisation durch das Mittel der Anpassung an das Landleben zu finden: einmal durch die Ausbildung des Pilztypus, das zweitemal durch die Erlangung des Baues der Kormophyten. Kormophyten. Wenden wir uns der Betrachtung jenes großen Pflanzenstammes zu, wel- cher in den Blütenpflanzen seine letzte Ausgliederung erfahren hat, so kann es zunächst keinem Zweifel unterliegen, daß außer den Blütenpflanzen, den An- thophyten, ihm auch die Moose (Bryophyten) und Farnpflanzen (Pteridophy- ten) angehören. Wir fassen deshalb, wie schon gesagt, alle diese Pflanzen als Sproßpflanzen (Cormophyta) zusammen und gelangen damit zu einem phy- logenetisch begründeten systematischen Begriff. Pkt der Die Kormophyten zeigen schon in ihren einfachsten Vertretern hohe Or- er ganausbildung; es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß schon diese keine ursprünglichen Typen darstellen, sondern daß ihnen solche von einfache- rem Baue vorausgegangen sind. Man hat mehrfach den Versuch gemacht, phylogenetische Beziehungen zwischen den einfachsten Kormophyten, den Moosen, und Vertretern der früher besprochenen Stämme der Thallophyten aus- findig zu machen und dabei insbesondere auf die Grünalgen (die Chlorophyceen) und die Braunalgen (Phaeophyta) die Aufmerksamkeit gelenkt. In der Tat sind Ähnlichkeiten mit diesen Typen vorhanden, wurde ja doch schon hervor- Die Phylogenie der Kormophyten 445 gehoben, daß diese Thallophytengruppen sich knapp bis an die Grenze der Or- ganisationshöhe der Kormophyten entwickelt haben; unzweifelhafte Beweise für einen phylogenetischen Zusammenhang der einfachsten Kormophyten mit den heutigen Repräsentanten der genannten Stämme wurden aber noch nicht erbracht. Dies bestimmt uns auch dazu, den Stamm der Kormophyten syste- matisch von den Stämmen der Thallophyten scharf zu trennen. Wenn wir also auch nicht in der Lage sind, einen bestimmten Formen- kreis der Thallophyten als Vorläufer der Kormophyten zu bezeichnen, so steht doch nichts im Wege, die letzteren von einem Typus abzuleiten, der durch die heute lebenden höheren, wasserbewohnenden, autotrophen Thallophyten re- präsentiert ist; vieles spricht dafür, daß wir hierzu vollauf berechtigt sind. Nehmen wir Pflanzen vom Typus der Chlorophyceen oder Phaeophyten Entwicklung der als Vorläufer der Kormophyten an, dann ergeben sich Gesichtspunkte, welche die ganze Fortentwicklung des Kormophytenstammes verständlich erscheinen lassen, mit der Gesamtheit der morphologischen und physiologischen Eigenart derselben im Einklange stehen und damit auch auf jene Annahme im bestäti- genden Sinne zurückwirken. Die Chlorophyceen und Phaeophyten stellen jenes Stadium der Entwicklung dar, in welchem sich die ganze Ontogenie im Wasser abspielte. Eine Differenzierung des Organismus — mag sie sonst noch so weit gehen — in mehreren Medien entsprechende Organkomplexe oder Organe ist nicht eingetreten und nicht erforderlich. Die Fortentwicklung der Thallophyten zu einfachsten kormophytischen Pflanzen ist gleichbedeutend mit der Um- bildung derselben aus Wasser- in Landpflanzen durch Vermittlung eines so- zusagen amphibischen Stadiums, in welchem eine Differenzierung im Sinne einer Anpassung an zwei Medien erfolgte. Es ist überaus anziehend, diesen Übergang schrittweise zu verfolgen, und die Deutung einer Reihe schon längst bekannter Eigentümlichkeiten der ein- facheren Kormophyten im Sinne dieses Überganges gehört zu den wertvollsten Errungenschaften der Botanik im 19. Jahrhundert. Der Weg, auf dem die Anpassung an zwei Medien, damit also der Übergang Der Generations- zur Landpflanze, erfolgte, war — wie schon früher erwähnt — die Ausbildung a. eines Generationswechsels, d h. die Ausbildung von zwei verschiedenen Or- Be gankomplexen, welche mit je einer Art der Fortpflanzung abschließen und mit- einander im Laufe der Ontogenie abwechseln. Andeutungen eines solchen Ge- nerationswechsels sind schon bei den Chlorophyceen vorhanden, er findet sich bei den Phaeophyten und Rhodophyten, er beherrscht die Gesamtentwick- lung der Bryophyten und Pteridophyten. Von den beiden Organkomplexen, a. den sogenannten Generationen, zeigt der eine — die Geschlechtsgeneration der Moose und Farnpflanzen, der Gametophyt — in hohem Maße die Ab- hängigkeit von der wenigstens zeitweisen Benetzung durch liquides Wasser; dieselbe ist nötig für die Nahrungsaufnahme wie für die Fortpflanzung, bei welcher im Wasser schwimmende Spermatozoiden als männliche Fortpflan- zungsorgane fungieren. Die zweite Generation — die ungeschlechtliche Gene- ration, der Sporophyt — erweist sich als im viel höheren Maße unabhängig Gymnospermen. Angiospermen. 446 R.v. WETTSTEIN: Phylogenie der Pflanzen von der Benetzung, sie steht nur zum Zwecke der Nahrungsaufnahme mit wasserhaltigen Substraten in Verbindung und hat dieser Verbindung dienende Organe ausgebildet. Schrittweise läßt sich nun bei Betrachtung der einfacheren Kormophyten die Rückbildung der geschlechtlichen und die Fortbildung der ungeschlechtlichen Generation verfolgen, d. i. im Sinne des früher Gesagten die fortschreitende Umbildung zur Landpflanze. Die Ausbildung von geregelten Wasserleitungsbahnen, von getrennten nahrungsaufnehmenden und assimilie- renden Organen in der ungeschlechtlichen Generation (Wurzeln und Blätter) hängt damit zusammen. Bei den höchststehenden, den heterosporen Farn- pflanzen ist die geschlechtliche Generation bereits so reduziert, daß sie nur ge- rade noch hinreicht zur Ausbildung der Geschlechtsorgane. Die Notwendigkeit der tunlichsten Abkürzung der Entwicklung dieser Generation bewirkt, daß ihr schon in der vorausgegangenen ungeschlechtlichen Generation organbildend sozusagen vorgearbeitet wird, daß schließlich die Teile der geschlechtlichen Ge- neration auf denen der ungeschlechtlichen entstehen und von ihnen ernährungs- physiologisch ganz abhängig werden, womit äußerlich der Generations- wechsel aufgehoben erscheint, die ganze Pflanze zur Landpflanze geworden ist. Mit der Ausbildung der Gymnospermen, der nacktsamigen Blütenpflanzen, ist dieser Schritt vollzogen gewesen. Die Entdeckung der Spermatozoiden- befruchtung bei Gingko und den Cycadeen, die der großen ausgestorbenen Pflanzengruppe der Cycadofiliceen in den letzten Jahrzehnten, ferner die bis in die kleinsten Details durchgeführte Homologisierung der Fortpflanzungsorgane der Gymnospermen mit jenen der Pteridophyten hat viel dazu beigetragen, um dieses wichtige Stadium in der Phylogenie der Pflanzenwelt aufzuklären. Innerhalb der Gymnospermen vollzieht sich nun der Übergang von der Befruchtung durch im Wasser schwimmende Spermatozoiden (das dazu nötige Wasser wird zuletzt von dem weiblichen Fortpflanzungsorgane selbst ausge- schieden) zu der durch den Pollenschlauch, der zuerst als Befestigungsorgan für die männlichen Fortpflanzungsorgane, die Pollenkörner, diente und dann die Überleitung des Inhalts derselben selbst übernahm. Bei Übertragung des männlichen Fortpflanzungsorganes, des Pollenkornes, zum weiblichen, der Samenanlage, trat die bewegte Luft als Agens ein; bei den abgeleitetsten Gym- nospermen sehen wir bereits Insekten diese Übertragung besorgen. Bei den bedecktsamigen Blütenpflanzen, den Angiospermen, endlich erlangt die Anpassung an das Landleben in mehrfacher Hinsicht die höchste Ausbil- dung. Sie äußert sich in der reichen Gliederung der vegetativen Teile, vor allem aber der mit der Fortpflanzung in Verbindung stehenden Organe. Die weib- lichen Organe erhalten wirksame Schutzeinrichtungen (Fruchtknoten), die Über- tragung der Pollenkörner an die zur Befruchtung geeigneten Stellen erfolgt nicht mehr nur durch den Wind, sondern immer mehr durch Tiere. Dement- sprechend erfahren auch die mit dem Befruchtungsvorgange indirekt in Zu- sammenhang stehenden Organe (Blütenteile) Veränderungen. Die Blüte nimmt immer regelmäßigere Formen an, sie wird zu einem höchst sinnreichen Apparate, in welchem in einer geradezu unerschöpflichen, zum Teile der Vielgestaltigkeit Phylogenie der Blütenpflanzen 447 des Tierreiches folgenden Mannigfaltigkeit die mit fortschreitender Arbeitstei- lung zusammenhängenden Einzelteile zu einer Funktion zusammenwirken, zur Ermöglichung und Sicherstellung des Fortpflanzungsvorganges. Die Fortentwicklung der Gymnospermen zu den Angiospermen fällt dem- Entwicklung nach mit der Ausgestaltung der Blüte zusammen, jenes Organes, welches diese ln beiden Pflanzengruppen charakterisiert, was auch in deren Zusammenfassung als Blütenpflanzen (Anthophyta) zum Ausdrucke kommt. Die Blüten der Gymnospermen sind phylogenetisch leicht zu erklären. Sie stellen Ansammlungen von Blättern dar, welche den sporenerzeugenden Blättern der Farnpflanzen, den Sporophyllen, entsprechen. Schon bei einzelnen Farnpflanzen, wie bei den Bärlappen und Schachtelhalmen finden wir Anhäu- fungen von Sporophylien, die als Vorläufer der Blüten angesehen werden kön- nen. Die Sporen der Pteridophyten sind bei dem Übergange derselben zu den Gymnospermen Organe der sexuellen Fortpflanzung geworden, indem in ihnen sich jene Teile entwickeln, welche die geschlechtliche Generation darstellen; die sie erzeugenden Blätter nennen wir bei den letzteren Fruchtblätter und Pollen-, beziehungsweise Staubblätter. In den Blüten der Gymnospermen kom- men entweder nur Frucht- oder nur Pollenblätter vor, sie sind eingeschlechtig; außer diesen Blättern finden sich in ihnen nur solche Blattgebilde, welche, besonders im Knospenzustande, als Schutzorgane für jene fungieren. Die Ab- nahme der Zahl der Frucht- und Pollenblätter in der einzelnen Blüte, ihre Vereinfachung charakterisiert den Entwicklungsgang der Gymnospermen und findet ihre Erklärung darin, daß die Vereinigung zahlreicher Blüten zu Blüten- ständen oder eine Summe von die Wahrscheinlichkeit des Befruchtungsvor- ganges erhöhenden Anpassungen dieVereinfachung der einzelnen Blüte zuläßt. Eine in neuerer Zeit viel diskutierte und für die Aufklärung der Phylogenie der Angiospermen sehr wichtige Frage ist die nach der Herkunft der An- giospermenblüte. Unmittelbar läßt sich diese von den Blüten der höheren Gymnospermen nicht ableiten; so lange diese Ableitung nicht sichersteht, ist so- gar die Kluft, welche die Angiospermen von den Gymnospermen trennt, größer als die Kluft zwischen Pteridophyten und Gymnospermen, welche man lange Zeit für so bedeutend hielt, daß sie die Einteilung der Pflanzen in Kryptogamen und Phanerogamen veranlaßte, während sie heute nach den Forschungsergeb- nissen der letzten Jahrzehnte als nahezu geschwunden bezeichnet werden muß. Wenn auch in bezug auf den Blütenbau bei den Angiospermen größte Mannigfaltigkeit herrscht, so läßt sich doch leicht ein allgemeiner Typus des- selben konstruieren, dessen Modifikationen eben zu jener Mannigfaltigkeit führ- ten. Dieser Typus unterscheidet sich von den Blüten der Gymnospermen durch die Zweigeschlechtigkeit, durch das doppelte Perianthium (Kelch und Blu- menkrone), durch die zyklische oder nahezu zyklische Anordnung der Blüten- teile, durch die vier Pollensäcke aufweisenden Antheren und — nicht in letzter Linie — durch die Ausbildung des vollständig geschlossenen, die Samenanlagen umhüllenden Fruchtknotens. Ein Versuch, das Zustandekommen dieses kom- plizierten und so zweckmäßigen Organes zu erklären, wird uns nur dann be- 448 R. v. WETTSTEIN: Phylogenie der Pflanzen friedigen können, wenn er — wie jeder phylogenetische Erklärungsversuch — nicht nur morphologisch zulässig, sondern auch ökologisch verständlich ist. Zwei Theorien versuchen nun das Zustandekommen der Angiospermen- blüte aufzuklären. Die eine derselben (Pseudanthienlehre) betrachtet dieMonochlamydeen unter den Dikotyledonen (hierher gehören beispielsweise die Kätzchenblütler, die nesselartigen Pflanzen u. a.) mit ihrem meist einfachen Perianthium, häufig eingeschlechtigen anemophilen Blüten als die relativ ursprünglichen und leitet deren Blüten von den Blütenständen relativ hochstehender Gymnospermen (selbstverständlich nicht der rezenten) ab. Das einfache Perianthium ist aus einem Deckblattwirtel hervorgegangen; die Stellung der Staubblätter über den Perianthblättern entspricht der Stellung der männlichen Blüten, deren je eine zu einem Staubblatte wurde; die Vierzahl der Pollensäcke entspricht der Annahme, daß je zwei Staubblätter der abgeleitetsten Gymnospermenblüte zusammen ein Staubblatt lieferten. Der Blütenstandcharakter dieser ursprüng- lichen Angiospermenblüte macht es leicht verständlich, daß eine ganze weibliche Blüte, die ihrerseits auch nur aus Fruchtblättern besteht, in die Mitte der männ- lichen Blüte verlegt werden konnte, womit das Stadium der zwitterigen Blüte erreicht war. Das doppelte Perianthium entstand dadurch, daß ein Teil der Staubblätter seine mit der sexuellen Fortpflanzung zusammenhängenden Funk- tionen verlor und zu Anlockungsorganen für Insekten, d. i. zu Nektarien und weiterhin zu Blumenkronblättern wurde. Kelchblätter und Blumenkronblätter sind demnach verschiedener Herkunft, erstere entsprechen phylogenetisch den Deckblättern der Gymnospermen, letztere sind metamorphosierte Staubblätter. Diese Theorie wird nicht bloß dadurch gestützt, daß sie sich nur auf mor- phologisch mögliche Vorgänge stützt, daß die angenommenen Zwischensta- dien ohne Ausnahme in der rezenten Pflanzenwelt tatsächlich zu finden sind, daß eine ganze Reihe morphologischer Eigentümlichkeiten der Monochlamy- deen damit im Einklang steht (Chalazogamie, Stellung der Staubblätter über den Perianthblättern, Vorkommen von Leitbündeln im Integumente der Samenanlage, häufiges Vorkommen von anemophilen Blüten usw.), sondern insbesondere auch dadurch, daß es möglich ist, den ganzen Umbildungsprozeß ökologisch verständlich zu machen. Fast sämtliche Gymnospermen sind windblütig, die Mehrzahl der Angio- spermen ist insektenblütig; die oben geschilderte typische Angiospermenblüte ist eine Insektenblüte. Es liegt nahe, die Umwandlung der Gymnospermen- blüte in die Angiospermenblüte mit dieser Neuanpassung in Zusammenhang zu bringen. Die erste Veranlassung zum Besuche der Blüten durch Insekten bil- dete wohl in der Regel das Einsammeln von Pollen durch die Tiere. Dieser Insektenbesuch bedeutet aber das Eintreten eines überaus wichtigen und wirk- samen Selektionsfaktors, welcher die Weiterentwicklung solcher Blüten be- günstigte, dieaußer Pollen auch andere Nahrungsmittel und sonstige Anlockungs- mittel darboten, bei denen also ein Teil der Staubblätter fertil blieb, während ein andererTeil durchNektar-, Duft-undFarbenproduktion zu speziellenAnlockungs- Phylogenie der Blüte 449 mitteln, d. i. zu den Blumenkronblättern wurde. Hand in Hand mit dieser Blumenkronbildung mußte auch das Zwittrigwerden der Blüte eintreten. Ein Insektenbesuch war für die Pflanze nur wertvoll, wenn die Tiere nicht nur mit den Staubblättern, sondern auch mit den Narben in Berührung kamen; da den weib- lichen Blüten die erwähnten primären Anlockungsmittel (Pollen und aus den Staubblättern hervorgegangene Blumenkronblätter) fehlten, mußten jene Fälle durch Selektion außerordentlich gefördert werden, in denen zufällig eine Ver- einigung der männlichen und weiblichen Organe, mithin eine zwittrige Blüte zustande kam. Der Eintritt der Pollenverbreitung durch Tiere hatte also das Zwit- trigwerden der Blüte und die Ausbildung des doppelten Perianths, das sind zwei der wesentlichsten Merkmale der Angiospermenblüte, zur notwendigen Folge. Die zweite der erwähnten Theorien (Strobiluslehre) faßt die Reihe der Polycarpicae (hierher gehören von bekannteren Familien z. B. die Magnoliazeen, die Ranunkulazeen u.a.) unter den Dikotyledonen als die ursprünglichsten Typen derselben auf und bringt sie in direkte Beziehungen zu einem nurfossil bekannten ursprünglichen Typus der Gymnospermae, zü den Bennettitinae. Diese Ben- nettitinae sind bisher aus triasischen, Jura- und Kreideablagerungen bekannt geworden und durch sorgfältige und umfassende Untersuchungen in den wich- tigsten Eigentümlichkeiten aufgeklärt. Sie waren von Cycadeen-ähnlichem Aussehen und besaßen Blütenzapfen, welche ein- oder zweigeschlechtig und von einer Perianth-artigen Hülle umgeben waren. Die Staubblätter stan- den wirtelig, waren bei manchen Formen farnblattartig geteilt, bei anderen Formen einfach und ähnelten dann tatsächlich den Staubblättern der Angio- spermen. Die Fruchtblätter waren in großer Zahl zu einer zapfenartigen Bildung vereint und trugen am Ende je eine Samenanlage. Die Ableitung der Angio- spermenblüte von dieser Bennettitinen-Blüte ist leicht, wenn man hypothe- tische Zwischenformen annimmt, welche insbesondere in bezug auf den Bau der Fruchtblätter den immerhin nicht unbeträchtlichen Abstand überbrücken. Es ist nicht zu leugnen, daß diese Theorie infolge ihrer Einfachheit etwas Be- stechendes besitzt und dies hat ihr auch manche Freunde gewonnen. Gegen dieselbe sprechen aber insbesondere drei Momente. Zunächst ist von wirk- lichen Zwischenformen nichts bekannt geworden; solche wurden bisher nur theoretisch konstruiert; dann würde die Richtigkeit der Theorie voraussetzen, daß die Monochlamydeae unter den Dikotyledonen infolge Reduktion im Blütenbaue einfach geworden sind, was bisher in keiner Weise wahrscheinlich gemacht wurde; endlich fehlt bisher jeder Anhaltspunkt dafür, wie die oben er- wähnten, zweifellos primitiven Eigentümlichkeiten dieser Monochlamydeae, die gewiß nicht auf Rückbildung beruhen, erklärt werden sollten. Es erscheint daher die Pseudanthienlehre trotz ihrer etwas weniger einfachen Annahmen morphologisch und ökologisch besser begründet. Der oben geschilderte Übergang von den Monochlamydeen zu den Angio- spermen mit doppeltem Perianthium dürfte sich mehrfach vollzogen haben, darum gibt es mehrere Reihen von solchen Angiospermen, die uns als Ausgangs- punkte für weitere Entwicklungen erscheinen; dazu gehören z. B. die Poly- K.d.G.II.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 29 Entwicklung der Angiospermen, Monokotyle- donen. Dikotyledonen, 450 R. v. WETTSTEIN: Phylogenie der Pflanzen carpicae, die Centrospermae (hierher gehörig z. B. die Chenopodiazeen, Ama- rantazeen, Caryophyllazeen u. a.) und die Tricoccae (Euphorbiaceae). Versuchen wir es nun, in die Phylogenie der Angiospermen selbst tiefer einzudringen, so stellt sich uns eine große Schwierigkeit entgegen. Die Mannigfaltigkeit ist eine so große, der Unterschied in der Organisationshöhe anderseits kein sehr bedeutender, so daß es sehr schwer fällt, die einzelnen Entwicklungslinien zu verfolgen und voneinander zu trennen. Zwei große Gruppen lassen sich leicht unterscheiden und sind in ihrer Selbständigkeit schon seit langem erkannt: die Monokotyledonen und die Dikotyledonen. Es ist kaum zweifelhaft, daß die ersteren bei sehr hohem Alter von einem Typus der letzteren abzuleiten sind und zwar kommen von Stammformen hierbei in erster Linie die Polycarpicae unter den Dikotyle- donen in Betracht, eine Gruppe, der sowohl nach der Pseudanthium- wie nach der Strobiluslehre hohes Alter zukommt. Die Monokotyledonen zweigten mit- hin von den Dikotyledonen erst zu einer Zeit ab, in welcher diese schon in den Besitz von zwitterigen Blüten mit doppeltem Perianth gelangt waren und dies stimmt mit der Beschaffenheit der ursprünglichsten Monokotyledonen recht gut überein. Die heute lebenden Monokotyledonen zeigen einige Entwicklungs- reihen, in welchen sich die fortschreitende Anpassung an bestimmte ökolo- gische Faktoren verfolgen läßt, was anderseits das Zustandekommen dieser Entwicklungsreihen mit ihren oft recht weitgehenden morphologischen Um- prägungen verständlich macht. — So zeigt die Reihe der Helobiae fortschrei- tende sekundäre Anpassung an das Wasserleben (extreme Formen bei den Hydro- charitaceae, Potamogetonaceae, Najadaceae u.a.); die Glumiflorae (Gräser) und Cyperales (Scheingräser) erscheinen uns als analoge Reihen mit weitgehender Anpassungan Anemophilie; in den Scitamineae und Gynandrae (z.B. Orchidaceae) treten uns Typen mit weitgehender und ungemein differenzierter Anpassung an die Bestäubung durch Tiere entgegen, während schließlich die Spadiciflorae (z. B. Palmae, Araceae u.a.) durch Vereinigung zahlreicher relativ einfacher Blüten zu dichten vielblütigen Infloreszenzen sich die ökologischen Vorteile dieser Organisation sicherten. Was die Dikotyledonen anbelangt, so stellt die Abstufung in der Or- ganisation, welche die Aufeinanderfolge der Gruppen: Monochlamydeae (ein- faches Perianth) — Dialypetaleae (doppeltes Perianth mit freien Blumenkron- blättern) — Sympetalae (doppeltes Perianth mit verwachsenen, d. h. zu einer einheitlichen Bildung verbunden erscheinenden Blumenkronblättern) andeutet, zwar im großen und ganzen einen Entwicklungsweg dar, doch wäre es unrichtig, wenn man annehmen wollte, daß dieser Weg nur einmal eingeschlagen wurde. Die Methode, welche uns in die Lage versetzen kann, aus dem Wirrsal von For- men die einzelnen wirklich zurückgelegten Wege der Entwicklung herauszu- finden, besteht darin, daß wir den Stammbaum stückweise rekonstruieren, in- dem wir zweifellos zusammengehörende Familien zu Reihen verbinden und dann den Versuch machen, die genetischen Beziehungen dieser Reihen zueinander zu erforschen. Phylogenie der Angiospermen 451 Wenn wir dies tun, so gelangen wir bei den Dialypetaleen zu Gruppen von Reihen, welche als von je einem gemeinsamen Zentrum ausgehende Aus- strahlungen erscheinen. Ohne hier auf eine Charakteristik der Reihen näher eingehen zu können, sei erwähnt, daß es beispielsweise keine Schwierigkeiten bereitet, die Reihen der Rhoeadales, Parietales, Guitiferales, Rosales und Myr- tales direkt oder indirekt vom Typus der Polycarpicae abzuleiten, während eine Gruppe anderer Reihen, wie die der Columniferae, Gruinales, Terebinthales, Rhamnales, Celastrales und Umbelliflorae einen anderen Ursprung zu haben scheint, der vielleicht in einem Typus liegt, welcher durch die rezenten Tricoccae repräsentiert wird. Sympetalie dürfte bei den Dialypetaleen mehrfach eingetreten sein und es scheint vielleicht berechtigt, nach dem Vorgange E. Halliers die alte Unter- klasse der Sympetalae als systematische Einheit in Zukunft aufzulassen und die Reihen derselben jenen Reihen der Dialypetaleen anzuschließen, zu denen sie phylogenetische Beziehungen haben. So erscheint es schon jetzt sehr wahrscheinlich, daß beispielsweise die Tubiflorae von den Rosales, die Plum- baginales von den Centrospermae, die Ligustrales von den Celastrales, die Ru- biales von den Umbelliflorae abzuleiten sind usw. Überblicken wir die Reihen der Dikotyledonen, so können wir auch bei vielen derselben die Faktoren erkennen, welche die Entwicklung und damit die Ab- zweigung von anderen Reihen beeinflußten. Es sind zumeist Anpassungen an bestimmte Lebensbedingungen. Die Endglieder mancher Reihen sind durch Zygomorphie der Blüten und damit durch extreme Anpassung an den Tier- besuch derselben gekennzeichnet, so die der Rosales (Papilionaceae) und Tubi- florae (Scrophulariaceae, Labiatae u. a.); in anderen Reihen tritt die Vereinigung relativ vereinfachter Blüten zu vielblütigen Infloreszenzen, welche in gewissem Sinne in ihrer Gesamtheit wie eine Blüte fungieren, hervor, so bei den Umbelli- florae und Synandrae (Compositae); wieder in anderen Reihen zeigt sich die fortschreitende Versenkung der Fruchtknoten in die Achse mit ihren ökologischen Vorteilen als die Entwicklung bestimmendes Moment, so bei den Myrtales und Rhamnales; xerophiler Bau ist charakteristisch für abgeleitete Typen der Centro- spermae (Cactaceae); wohl charakterisierte, in ökologischer Hinsicht nach ver- schiedener Richtung einen besonders leistungsfähigen Apparat darstellende Blüten finden wir bei den Endgliedern der Rhoeadales (Cruciferae), Contortae (Asclepiadaceae) u. a. Die oft gestellte Frage, welche Pflanzengruppe etwa als die höchstorgani- sierte bezeichnet werden kann, läßt sich nicht präzise beantworten. Zahlreiche Reihen der Blütenpflanzen haben, unabhängig voneinander sich entwickelnd, Endglieder hervorgebracht, die durch Reichtum der Differenzierung und Sum- mierung überaus funktionsgemäßer adaptiver Einrichtungen uns den Eindruck des Höhepunktes pflanzlicher Organisation machen; es fällt uns in diesem Sinne schwer, zu entscheiden, ob wir etwa einer Komposite oder einer Orchidee, einer Papilionacee oder einer Aracee den Rang der höchstorganisierten Pflanze zusprechen sollen. 29* Höchstorgani- sierte Pflanzen. Neuere Literatur. ARBER E.A.N. and PARKIN J., On the Origin of Angiosperms. Journ. of Linn. Soc. London. XXXVII 1907. ATKINSON G. F., Some probl. in the evolution of the low. Fungi. Annal. mycol. VII. 1909. BENSoN M., The origin of flow. Plants. N. Phytolog III. 1904. BESSEY C. E., Phylogeny and Taxonomy of the Angiosp. Bot. Gaz. 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Den Pro- tozoen gegenüber, deren einzellige Individuen meist isoliert, seltener in kolo- nialen Verbänden vereinigt auftreten, kennzeichnen sich die Metazoen durch die Erreichung einer höheren Individualitätsstufe, welche, aus zahlreichen Zel- len bestehend, einen Aufbau ihres Körpers aus Keimblättern, eine Differenzie- rung ihres Zellmaterials in verschiedenartige, bestimmten Funktionen dienende Gewebeschichten erkennen läßt. Man hat dementsprechend die Metazoen als Gewebetiere oder Keimblattiere bezeichnet. Die ersten Stadien, welche in der Keimesentwicklung aller Metazoen mit einer gewissen Regelmäßigkeit festge- halten sind, enthalten für uns dunkle Hinweise, wie wir uns den Übergang von Protozoen zu Metazoen, die Herausbildung des komplizierter gebauten Meta- zoenindividuums aus einem Aggregat gleichartiger Protozoenindividuen vor- zustellen haben. In dem Stadium der befruchteten Eizelle durchlaufen alle Me- tazoen einen einzelligen Zustand, wie wenn die Natur uns daran erinnern wollte, daß selbständige einzellige Wesen den Ausgangspunkt für die Entwicklung aller höheren Formen gebildet haben. Wenn dann in der Periode der Eifurchung durch Zellteilungsprozesse das Ei in einen Komplex mehrerer zunächst noch ziemlich gleichartiger Zellen zerlegt wird (Fig. IA), die sich um einen zentralen, gallerterfüllten Hohlraum (Blastocöl, primäre Leibeshöhle Fig. ı /) zur Wand der einschichtigen Keimblase, des Blastulastadiums (Fig. ı B) anordnen, so sehen wir in diesem Vorgange das Bild einer durch fortgesetzte Zellteilung ent- standenen kolonialen Vereinigung einer größeren Zahl von noch ziemlich gleich- artigen einzelligen Individuen. Eine Differenzierung unter diesen Zellen tritt erst dann deutlicher zutage, wenn aus der Blastula durch einen Einstülpungs- vorgang oder durch andere vielleicht stets auf Invagination zurückführbare Pro- zesse ein zweischichtiger Keim, das Gastrulastadium (Fig. 2) gebildet wird. Was wir hier vor unseren Augen, wie z. B. an dem Keime der vieluntersuchten Seeigel, in wenigen Stunden ablaufen sehen, ist zunächst nichts anderes, als das Entstehen der ersten ursprünglichsten Organanlage. Durch Einstülpung ins Innere des Keimes ist der Urdarm (ud) gebildet worden. Er verdrängt bei seiner zunehmenden Ausbildung mehr und mehr (und bei verschiedenen For- Protozoen und Metazoen. Die ersten Ent- wicklungs- zustände der Metazoen. 454 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen men in verschiedenem Grade) die das Innere der Keimblase erfüllende Gallerte (7). Die primäre Leibeshöhle wird auf diese Weise eingeengt. Die beiden Schich- ten, welche nun die Wand der Gastrula bilden, sind nach Funktion und histologischem Bau different. Sie sind die beiden primären Keimblätter des Embryos, von denen das äußere, die primitive Hautschicht, als Ektoderm (ec), das innere, die Urdarmwand, als Entoderm (en) bezeichnet wird. Der ganze Embryo stellt in diesem Stadium einen Schlauch oder Sack dar, der in seinem Innern den primären Magen (den mit dem Urmund oder Blastoporus (bp) nach ai VEDE: a \) » N ) = 2 ” Fig. ı. A Späteres Furchungsstadium, 3 Blastulastadium eines Metazoons im schematischen Durchschnitt. «a animaler Pol, v vegetativer Pol, f Furchungshöhle (Blastocoel). außen geöffneten Urdarm) enthält. Es gibt Metazoen, welche in ihrer Entwick- lung über dieses Stadium nicht wesentlich hinausgehen. Der vielstudierte Süß- wasserpolyp Hydra kann als ein solches, mit Tentakeln versehenes und zur Ge- schlechtsreife gelangendes Gastrulastadium betrachtet werden. Bei den meisten Metazoen folgen auf diesen Zustand noch weitere Entwicklungsstufen, die dann je nach der Gruppe, der die betreffende Form zugehört, differente Wege ein- schlagen. Nur die ersten hier kurz gekennzeichneten Entwicklungsstufen: die der befruchteten Eizelle, der Furchung, des Blastula- und Gastrulastadiums, sind allen Metazoen gemeinsam. Sie liefern die ontogenetische Charakteristik dieser Hauptgruppe des Tierreiches. nlsgelläten- Bei dem Suchen nach Anknüpfungspunkten, nach vermittelnden Formen, kolonien. welche uns eine Vorstellung eröffnen, in welcher Weise sich der Übergang von den Protozoen zu den Metazoen vollzogen haben mag, sehen wir uns vor allem auf die Protozoenklasse der Flagellaten oder Geißelschwärmer verwiesen. Es ist nach dieser Hinsicht von Bedeutung und keineswegs selbstverständlich, daß die männlichen Keimzellen der Metazoen, die Spermien oder Spermatozoen, in der Regel den Bau einer Geißelzelle besitzen, daß viele Blastulae und Gastrulae niederer Metazoen durch Geißelbewegung umherschwärmen, wie denn überhaupt die Zellen der Cölenteraten eine Neigung besitzen, Flagellen zur Ausbildung zu Vergleich der Blastula mit einer Flagellatenkolonie 455 bringen. Vor allem stehen die Kragengeißelzellen der Spongien den Zellen ge- wisser Flagellaten (der Choanoflagellaten) ungemein nahe. Überhaupt ist es die Klasse der Flagellaten, welche, an der Grenze des Tier- und Pflanzenreiches stehend, unter allen Protozoen die meisten Anknüpfungspunkte nach den ver- schiedensten Richtungen darbietet. Merkwürdigerweise sind es gerade chloro- phyliführende, grüngefärbte, in ihrer Ernährungsweise den Pflanzen sich an- schließende, von den Botanikern den Algen zugerechnete Formen, welche in dem Aufbau ihrer Kolonien (Cöno- bien) und in der Differenzierung ihrer Zellen, die sich bereits in somatische (dem Untergang gewidmete, sterile) und propagative (Fortpflanzungs- zellen) scheiden, am nächsten den Fig. 3. Junge Kolonie von Volvox, aus dem mütterlichen Cönobium entnommen und noch von der embryonalen Hülle um- Fig. 2. Gastrulastadium eines Metazoons im sche- schlossen. go die jungen Fortpflanzungs- matischen Durchschnitt. a—a Hauptachse, 55 Urmund zellen. Nach Stemım aus HATSCHEKS oder Blastoporus, ec Ektoderm, ex Entoderm, / pri- Lehrbuch. märe Leibeshöhle (Blastocoel), #2 Urdarm. Anschluß an einfache Entwicklungsstufen der Metazoen vermitteln. Vielfach ist nach dieser Richtung vor allem auf die in grünen Cönobien im Süßwasser rotierende Gattung Volvox hingewiesen worden. Man könnte Volvox als ein zur Geschlechtsreife gelangendes Blastulastadium bezeichnen. Die kugelförmigen Kolonien von Volvox (Fig. 3) bestehen aus zahlreichen Zellen, welche an der Oberfläche der Kugel in einfacher Schicht angeordnet sind. In abstehender Zellmembran geborgen, mit doppelter Geißel versehen und einen roten Augenfleck tragend, unterscheiden sich diese Zellen in ihrem Bau nur wenig von anderen Flagellaten, die nicht in Cönobien vereinigt, son- dern einzellebend das Süßwasser bevölkern. Sie erinnern an die Individuen von Haematococcus pluvialis, jener Form, welche unter Umständen massenhaft auf- tretend und oft rot gefärbt, der Sage vom Blutregen zum Anlaß gedient hat. Daß es sich bei der Vereinigung zahlreicher Zellindividuen in der Kolonie von Volvox tatsächlich um die Bildung einer „Ernährungsgenossenschaft‘‘ handelt, erkennt man daran, daß alle Zellen untereinander durch Plasmafäden verbun- den sind, Stränge, welche, von Arthur Meyer eingehend studiert, wohl nicht nur dem Austausch von Nährmaterial, sondern auch der Reizleitung von Zelle Volvox. 456 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen zu Zelle dienen. Die Übereinstimmung, welche zwischen den Volvoxkolonien und dem Blastulastadium (Fig. I B) der Metazoen besteht, bezieht sich noch auf einen weiteren wesentlichen Punkt. Dem Blastulastadium der Metazoen kommt ein typischer axialer Bau zu. Wir können an ihm einen animalen, durch die Lage der Richtungskörperchen gekennzeichneten Pol (Fig. 1ıBa) von einem vegetativen Pol (v), in dessen Bereich die Zellen etwas größer und reicher an Nahrungsdotter erscheinen, unterscheiden. Auch die Kolonien von Volvox zei- gen die gleiche symmetrische Anordnung der Teile um eine Hauptachse. Volvox rotiert stets um eine bestimmte Achse, in deren Richtung die Kugel durch die Bewegung der Geißeln fortgetrieben wird. Er schraubt sich durch das Wasser. Die Individuen, welche in der Nähe des beim Schwimmen nach vorne ge- A richteten Poles liegen, sind — wie Ryder nach- wies und Klein bestätigte — durch besonders mächtig entwickelte Augenflecke ausgezeichnet, während die am hinteren Pol gelegenen Zellen dieses Sinnesorgan wenig entwickelt haben, ja ee vielleicht manchmal desselben völlig entbehren. A im schematischen Durchschnitt, 30ber-- Hier an dem hinteren Pole der Primärachse flächenansicht. Nach KIRCHNER. - e : ; und in seiner Umgebung werden die Keimzellen (Fig. 3 gon) gebildet, welche, sich allmählich vergrößernd und der Geißeln ent- behrend, in das Innere der Kolonie hineinrücken. Die Fortpflanzungsweise von V olvox soll uns hier nicht näher beschäftigen. Erwähnt sei nur, daß die Keimzellen in gewissen Fällen als Agameten zu unge- schlechtlicher Hervorbringung neuer Tochterkolonien befähigt sind, während in anderen Fällen ein Befruchtungsakt die Entwicklung junger Cönobien ein- leitet. In diesem Falle handelt es sich um die Kopulation inäqualer Keimzellen, von denen die größeren (Makrogameten) der Eizelle, die kleineren, mit Geißeln umherschwärmenden (Mikrogameten) den Spermien der Metazoen verglichen werden können. Wie wichtig diese Vorgänge an sich sind, wie sehr sie zur Klärung unserer allgemeinen Vorstellungen über die Fortpflanzungsvorgänge der Metazoen beitragen, hat vor allem Max Hartmann in ansprechender Weise entwickelt. Uns interessiert hier vielleicht noch ein Punkt, der uns be- züglich der Hervorbildung des blastulaartigen, kugeligen Cönobiums Näheres enthüllt. Wenn sich die Keimzellen von Volvox — sei es, daß sie durch einen Be- fruchtungsvorgang hierzu angeregt wurden, sei es, daß sie als Agameten eines solchen entbehren — zur Entwicklung einer Tochterkolonie anschicken, so machen sie in fortgesetzter Zellteilung einen Prozeß durch, der durchaus an den Furchungsvorgang des Metazoeneies erinnert. Die Teilungen sind hier — wie bei Flagellaten überhaupt — durchaus Längsteilungen, d.h. sie entsprechen Meridianen oder Parallelkreisen der kugeligen, aber axial differenzierten Keim- zelle. Es resultiert aus diesem Teilungsmodus zunächst eine eingekrümmte Zellplatte (Fig. 4A), welche sich immer stärker wölbend zur Kugel umbildet. Noch in späteren Entwicklungsstadien kann man an den jungen kugeligen Toch- Die Kolonien von Volvox und Anthophysa 457 terkolonien eine vielleicht in der Gegend des vegetativen Poles gelegene Lücke (Fig. AB) wahrnehmen, welche dem sich zusammenziehenden Rande der ur- sprünglich gewölbten Zellplatte entspricht. Wir wollen für diese Lücke den Aus- druck Dermatoporus wählen. Er soll uns andeuten, daß es sich um eine Lücke in der oberflächlichen Zellschicht, im Blastoderm des Keimes, handelt. In einigen seltenen Fällen wurde ein derartiger Dermatopor auch in der Entwicklung ge- wisser Metazoen beobachtet. Wir erinnern uns besonders der merkwürdigen Angaben von E. B. Wilson, welcher mitteilt, daß den jugendlichen Blastulastadien der Regenwürmer eine derartige Blastodermlücke zukommt. Ähnliches hat F.E. Schulze in der Entwicklung des Kalk- schwammes Sycandra beobachtet. Das Vorkommen dieser Bildung ist vielleicht verbreiteter, als wir der- zeit annehmen. Wir erwähnen diese Bildung hier deshalb, weil in ihrem Vorkommen möglicherweise ein Hinweis darauf vorliegt, wie wir uns das Zustandekommen 2 derartiger kolonialer Zellvereine, wie ihn uns das Fie. a ee Cönobium von Volvox darstellt, vorzustellen haben. Bei den Flagellaten entwickeln sich solche kugelige Zellaggregate nicht selten im Anschlusse an die festsitzende Lebensweise. Als Beispiel mag uns hier ein der Familie der Volvocinen fernerstehendes Wesen aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Flagellaten dienen: Anthophysa vegetans (Fig. 5). Diese Form bildet kugelige — richtiger halbkugelige — Zellkolonien, welche auf eigentümlichen, oft verzweigten Gallertstielen auf einer Unterlage festge- wachsen sind. Nicht selten trennen sich diese halbkugeligen Zellaggregate von ihrer stielförmigen Unterlage los, um als blastulaähnliche Komplexe eine Zeitlang frei umherzuschwimmen, worauf meist eine Auflösung des ganzen Komplexes erfolgt, indem die einzelnen Zellen sich voneinander trennen, um nun als Einzelwesen ein selbständiges Leben zu beginnen. Es liegt die Ver- mutung nahe, daß der kugelförmige Blastulazustand der Metazoen auf dieser Grundlage erworben wurde. Es würde sodann der das Blastocöl (den Innen- raum der Blastula) erfüllende Gallertkern (f in Fig. 1) als ein Stielrest anzusehen sein, während der Dermatoporus uns die Stelle andeutet, an welcher der Stiel aus dem Inneren der Kolonie sich nach außen fortsetzte. Es würde dann auch der axiale Bau des Blastulastadiums, die Entwicklung eines beim Schwimmen nach vorne gerichteten Poles von der Orientierung des kolonialen Gebildes zum ur- sprünglich vorhandenen Anheftungsstiel abzuleiten sein. Es sind dies nur Vermutungen, die uns vielleicht die Entstehung kugeliger Cönobien, welche zu den Urformen der Metazoen hinüberführen, verständlicher machen. Freilich kann man dagegen einwenden, daß wir im Verwandtschafts- kreis der Volvocinen gestielte, festsitzende Formen nicht kennen, sowie, daß in dieser Gruppe freischwimmende, einfacher organisierte Cönobien zu beobachten sind. Immerhin begegnet die Vorstellung, daß der Übergang von einzelligen Anthophysa. Mesozoen. 458 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Formen zu kolonialen Verbänden bei freischwimmender Lebensweise erworben wurde, gewissen Schwierigkeiten, zu deren Eliminierung die hier entwickelte Vermutung eingeführt wurde. Überhaupt werden wir nicht daran denken dürfen, in den jetzt lebenden Flagellaten direkte Stammformen der Metazoen erblicken zu können. Es weisen die aus dieser Gruppe hier hervorgehobenen Beispiele nur entfernt den Weg, auf dem wir uns den Übergang von Protozoen zu Metazoen vermittelt zu denken haben. Wir sehen in verschiedenen Gruppen der Flagellaten Zellvereinigungen, sog. Cönobien, entstehen, welche dem Bau des typischen Blastulastadiums der Metazoen mehr oder weniger nahekommen. Diesen Zwischenformen wäre auch die von Haeckel beschriebene und von Parona in den Salinen von Cagliari wiedergefundene Magosphaera zuzurech- nen, eine rätselhafte Form, nach Bau und Entwicklungsweise noch ungenügend erkannt. Überhaupt wäre hier zu erwähnen, daß man eine ganze Reihe von Wesen kennt, welche nach einer oder der anderen Richtung als Zwischenformen zwischen Protozoen und Metazoen gelten. Man hat diese noch wenig bekannten und ungemein verschiedenartigen Formen in der Sammelgruppe der Mesozoa vereinigt. Kaum zu definieren und abzugrenzen umfaßt diese Gruppe Wesen, welche im allgemeinen über das Blastulastadium hinausgehen, ohne jedoch das typische Gastrulastadium zu erreichen. Als die bestbekannten unter ihnen kön- nen die in der Niere der Tintenfische schmarotzenden Dicyemiden gelten, denen sich die Orthonectiden, Parasiten in Schlangensternen und Nemertinen, anschlie- ßen. Derartige, durch Parasitismus rückgebildete, niederstehende Formen sind im allgemeinen schwierig zu deuten. Andere den Mesozoen zugerechnete Wesen (Trichoplax, Salinella usw.) sind in ihrem Zeugungskreis ungenügend erkannt und vielleicht nur als Entwicklungsformen von Cölenteraten usw. zu erfassen. Die ganze Gruppe der Mesozoa ist eine Verlegenheitsgründung der Zoologie. Sie wird bei dem Suchen nach der hypothetischen Stammform der Metazoen nur mit Vorsicht zu verwerten sein. II. Über die Archigastrula. Gewisse Formen der Cölenteraten, welche in den Verwandtschaftskreis der Hydra gehören, gehen im ausgebildeten Zustande nur wenig über das Gastrula- stadium, den zweischichtigen in der Ontogenie der Metazoen erscheinenden Keim hinaus. Ihr Körper ist schlauchförmig, die innere Höhle ist als verdauende Kavität zu betrachten. Die Wand des Schlauches besteht aus zwei Zellschich- ten, den beiden primären Keimblättern (Ectoderm und Entoderm), zwischen denen sich als Rest der primären Leibeshöhle (Blastocöl) eine homogene La- melle (die sog. Stützlamelle) erhalten hat. Der Mund dieser Formen ist dem Urmund des Gastrulastadiums gleichzusetzen. Es stellen solche Formen den ursprünglichsten Typus aller Metazoen dar. ; Bezüglich der Frage, wie wir uns solche zweischichtigen Wesen (Diplobla- stica) von den volvoxähnlichen, dem Stadium der einschichtigen Keimblase Die Mesozoen. Die Archigastrula 459 (Blastula) entsprechenden Urformen abzuleiten haben, sehen wir uns vor die Schwierigkeit gestellt, daß die Umbildungen, durch welche in der Ontogenie verschiedener Metazoen das zweischichtige Stadium (Gastrula) aus’dem Bla- stulastadium hervorgeht, sehr mannigfaltige sind. Das Gastrulastadium wird auf sehr verschiedenen Wegen erreicht. Man könnte daran denken, daß jene ursprünglichen Cölenteraten, welche wie Hydra im ausgebildeten Zustande dem Gastrulastadium nahestehen, auch in ihrer Entwicklungsweise den ursprüng- lichsten Modus bewahrt haben. Indes ist diese Schlußfolgerung in keiner Weise zwingend. Auch diese ursprünglichen Wesen haben eine über unendlich schei- nende Zeiträumesich erstreckendeStam- mesgeschichte hinter sich und es ist die Möglichkeit im Auge zu behalten, daß in dieser Zeit ihre Ontogenie sekundären Veränderungen unterworfen wurde. Wir stehen sonach auf einem etwas unsicheren Boden, wenn wir Haeckel folgend einen Einstülpungsvorgang als jenen Umwandlungsprozeß betrachten, durch welchen die hypothetischen Fig.6. Sogenannte Archigastrula oder Invaginations- Stammformen der Metazoen ausvolvox- a“ ns Be 7 ee ähnlichen Blastaeaden in die zweischich- Ektoderm, en EN ee tise Form der Gastraeaden überge- führt wurden. Man könnte zugunsten dieser Auffassung anführen, daß die ontogenetische Form der Einstülpungs- oder Invaginationsgastrula, welche dann mit Haeckel als Archigastrula (Fig. 6) zu bezeichnen wäre, sich in verschie- denen Stämmen des Tierreiches und häufig bei Formen findet, die im allgemei- nen als ursprüngliche betrachtet werden. Wir finden sie im ganzen ziemlich selten bei Cölenteraten, bei denen im allgemeinen die Prozesse multipolarer Einwanderung und ähnliche überwiegen, dagegen erkennen wir sie in der Ent- wicklungsweise von Balanoglossus, Phoronis, Sagitta, bei den Echinodermen, den Brachiopoden und bei Amphioxus. Auch viele Würmer (Nemertinen und Anneliden) und Mollusken lassen sie mehr oder weniger deutlich erkennen. Es ist auch im Auge zu behalten, daß weitverbreitete Formen der Bildung des in- neren Keimblattes sich unschwer als durch bestimmte Ursachen erzeugte Modifikationen eines Einstülpungsvorganges erfassen lassen. Dahin gehören: die ungemein häufig zu beobachtende Form der Epibolie oder Umwachsung, welche durch Anhäufung größerer Nahrungsdottermassen in der vegetativen Keimeshälfte zu erklären ist, und die Form der polaren Einwucherung, bei welcher zum Zwecke einer Beschleunigung des Entwicklungsvorganges rasch aufeinanderfolgende Zellteilungen eingeführt wurden, welche den epithe- Die Ein- stülpungsgastrula als Urform. Andere Vor- stellungen bezüg- lich der Phylo- genie des zwei- schichtigen Zustandes. 460 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen lialen Zusammenhang der ins Innere gelangenden Keimesschicht frühzeitig lockern. Im einzelnen entwerfen wir uns folgendes Bild von den stammesgeschicht- lichen Vorgängen, welche den Übergang von dem einschichtigen Zustand der Blastaeaden zu der zweischichtigen Form vermittelten. Wenn wir freischwim- mende Blastulastadien von Cölenteraten z. B. von Actinien, Scyphomedusen oder von Aequorea betrachten, so sehen wir, daß sie zunächst die Kugelgestalt aufgeben und eine in der Richtung der Primärachse längsgestreckte, ovoide oder elliptische Gestalt annehmen. Die Einstülpung kommt an dem beim Schwimmen nach hinten gerichteten Pole zur Entwicklung, und zwar in der Weise, daß sich zunächst daselbst eine Abflachung der Körperoberfläche eta- bliert, welche später zu einer seichten Grube oder Delle wird, um schließlich durch zunehmende Vertiefung der Einbuchtung zur Ausbildung des Urdarms zu führen. Der Pol, an welchem diese Vorgänge sich abspielen, entspricht dem vegetativen Pole der primären Eiachse (Fig. 1v) und der Furchungsstadien, wäh- rend der animale Pol der Primärachse beim Schwimmen nach vorne gerichtet ist. Die Schwimmbewegung dieser pelagischen Jugendformen entspricht durch- aus der früher für Volvox (S. 456) geschilderten Lokomotionsweise. Es sind schraubende Umdrehungen des Körpers, durch Geißelbewegung erzeugt, ver- mittels welcher das kleine Wesen, den animalen Pol voraus, durchs Wasser be- fördert wird. Fügt man dem Wasser, in welchem diese Larven schwimmen, Karminkörnchen hinzu, so erkennt man, daß diese in der vorderen Körperhälfte durch die Geißelbewegung in tangentialer Richtung fortgeschleudert werden, während am hinteren Körperende der Druck des in den beim Vorwärtsschwim- men erzeugten leeren Raum nachstürzenden Wassers eine Ansammlung dieser Partikelchen erzeugt. Hier war sonach der Punkt gegeben, welcher für die Nah- rungsaufnahme am günstigsten war. Während die Zellen der vorderen Körper- hälfte sich allmählich mehr den animalen Funktionen der Bewegung und Reiz- perzeption anbequemten, wurden die hinten gelegenen Zellen, reichlich mit Nah- rung versehen, zu verdauenden Elementen. Der ursprünglich ganz flache, all- mählich sich vertiefende Urdarm war seiner primären Bedeutung nach ein Fang- raum für Nahrungspartikelchen. Wir haben die Frage nach der Ableitung der ursprünglichsten, dem Gastru- lastadium in der Ontogenie der Metazoen entsprechenden Stammformen, der Gastraeaden, hier in etwas dogmatischer Weise behandelt. Nur kurz und ohne kritische Bemerkungen sei hier noch einiger abweichender Vorstellungsweisen gedacht, die uns auf diesem dunklen Gebiete, in welchem wir den ontogeneti- schen Befunden nur in tastenden Versuchen folgen, weniger gut gestützt er- scheinen. Metschnikoff geht bei Aufstellung seiner Phagocytella- oder Par- enchymellahypothese ebenfalls von einer volvoxähnlichen, blastulaartigen Stammform aus. Nach ihm waren es vereinzelte, an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche gelegene, mit der Fähigkeit intrazellulärer Verdauung be- gabte Zellindividuen (Phagocyten), welche amöboid in die Innengallerte des Cönobiums gelangend daselbst zunächst einem mesenchymartigen Füllgewebe Zur Phylogenie der zweischichtigen Stammform 461 den Ursprung gaben. Die Zellen dieses Gewebes sollten sich später um eine zen- trale verdauende Kavität epithelartig angeordnet haben. Diese Vorstellungs- weise wurde von Goette unter Bezugnahme auf die Verhältnisse von V olvox dahin modifiziert, daß die ins Blastocöl einwandernden Zellen, welche zur Aus- bildung des inneren Keimblattes (des Entoderms) hinüberführten, ursprünglich als Keimzellen fungierten (vgl. Fig. 3 gon). Bütschli geht bei der Begründung seiner Placulatheorie von einer freischwimmenden, flachen, goniumähnlichen Zellplatte aus, welche durch Querteilung der Zellen zweischichtig geworden, eine Differenzierung dieser beiden Schichten in eine ernährende und eine be- wegende resp. schützende Lage erfahren habe. Durch allmähliche Einkrümmung dieser Platte wäre sodann die ernährende Schicht in das Innere der nun kuge- ligen, zweischichtigen Kolonie gelangt. III. Zur Frage nach der genetischen Einheitlichkeit des Metazoenstammes. Die erste bezüglich der weiteren stammesgeschichtlichen Gliederung des Metazoenreiches uns entgegentretende Frage geht dahin, ob wir es von einer einheitlichen Wurzel ableiten können, ob die Gruppe der Metazoen, wie man das zu bezeichnen pflegt, monophyletischen Ursprungs ist, oder ob sie aus mehr- fachen Ursprüngen, differenten Gruppen der Flagellaten entsprossen, polyphy- letisch entstanden ist. Während im allgemeinen gegen die Annahme der genetischen Zusammen- gehörigkeit der Metazoen keine wesentlichen Einwände erhoben wurden, ist die Gruppe der Schwämme (Spongien oder Poriferen) bis in die neueste Zeit diesbezüglich der Gegenstand zweifelnder Erwägungen. Diese festsitzenden, ruhiger vegetativer Lebensweise zugewandten Meerestiere sind durch den Be- sitz der sog. Kragengeißelzellen ausgezeichnet, welche, mit einem den Geißel- ursprung umgebenden Plasmasaum versehen und mit der Fähigkeit intrazellu- lärer Verdauung begabt, die innere gastrale Kavität dieser Tiere auskleiden (Fig. 7 bei en). Durch dieses Merkmal erscheinen die Spongien mit einer ganz be- stimmten Gruppe der Flagellaten, mit der Sippe der Choanoflagellaten, ver- knüpft, welche einen ganz ähnlichen Typus zellulärer Differenzierung erkennen lassen (Fig. 8). Da bei den übrigen Metazoen, von spärlichen Ausnahmen abge- sehen, Hinweise dieser Art vermißt werden, so würden wir zur Annahme ge- drängt, daß die Spongien sich unabhängig von dem Hauptstamme der Metazoen aus einer Choanoflagellatenkolonie herausgebildet haben. Dieser Annahme stehen Merkmale gegenüber, welche die Spongien mit den übrigen Metazoen verbinden, zunächst Merkmale histologischer Art. Schon Köl- liker hat auf das Vorkommen wahrer Epithelien (Fig. 7en und ek) in dieser Gruppe hingewiesen, undeine genauere histologische Analyse ihrer Bindesubstan- zen wurde vonF.E. Schulze gegeben. Maas hat erwiesen, daß die Vorgänge der Eireifung, der Befruchtung und der Kernteilung in den ersten Furchungsstadien durchaus und in allen sekundären Merkmalen mit dem Bilde übereinstimmen, das wir uns von diesen Vorgängen bei den Metazoen entwerfen. Esstimmen auch die männlichen Keimzellen der Spongien inihremBau mit denen derMetazoenüberein. Die Stellung der Spongien, Fig.7. Körperschichten einer Spongie (Sycon raphanus). ez Schicht der Fig.8. Ein Kragengeißelzellen, e2 oberflächliches Plattenepithel, mittlere Bindegewebs- Choanoflagellate, schicht, darin » Bindegewebszellen, o junge Eizellen, s% Kalknadeln. Nach F. E.ScuuLze aus HATsCHEKS Lehrbuch. a BEN N x > == SS un = ei Se N RR LER BE an EAN I G . > nr, 27 S LET a; SEE = ee & Ne > Fig.9. Jugendstadium (sog. Olynthus) eines Kalkschwammes Fig. 10. Nach F. E. ScHuLzE Codosiga botrytis. Nach Bürscaui. 4 Amphiblastula, 3 Gastrula von (Sycandra raphanus). #0 Wandporen, os Osculum. Sycandra raphanus. Nach F. E. SCHULZE aus HATSCHEKS Lehrbuch. Die Stellung der Spongien 463 Bei Betrachtung der ursprünglichsten Spongienform, des Olynthus (Fig. 9), Zurückführung liegt es ungemein nahe, die hier im Inneren vorhandene Höhle dem Gastral- nn raum der übrigen Metazoen gleichzusetzen. Diese Homologie rücken wir in den (astrula. Vordergrund unserer ganzen morphologischen Betrachtung des Spongienkör- pers. Wir werden dann die Wandschichten des Spongienkörpers so zu deuten haben, daß wir in der äußeren Dermalschicht (Plattenepithel + Mesenchym Fig. 7 ek und m) das Ectoderm, in der Kragenzellenschicht (en) das Entoderm der Spongien erblicken. Die hier entwickelte Auffassung erscheint durch den Umstand gestützt, daß wir in der Ontogenie der Schwämme ein auf den frei umherschwärmenden Zustand (Fig. I0 A) folgendes echtes Gastrulastadium (Fig. IOB) erkennen, welches mit dem Urmunde an eine Unterlage festgeheftet den Übergang in die Form des jungen Olynthus vermittelt. Die hier kurz gekennzeichnete Auffassung des Spongienkörpers wird nicht von allen Forschern geteilt. Die Ursachen, welche eine Zahl von modernen Untersuchern bewegen, einen abweichenden Standpunkt einzunehmen, finden sich in der Ontogenie vieler Schwämme, in der bei vielen Formen (aber nicht bei Oscarella und bei den Plakinen) zu beobachtenden merkwürdigen Inversion der Keimblätter, welche Vorgänge nach unserer Vorstellungsweise auf adaptive Ver- änderung des Entwicklungsganges, auf sog. Cänogenese, zurückzuführen wären. Immerhin erscheinen die aus dem Auftreten eines an die Planularve der Cni- darier erinnernden Pseudogastrulastadiums mit invers gelagerten Keimesschich- ten sich ergebenden Schwierigkeiten der Deutung so erheblich, daß manche For- scher den Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, um in der Frage der Stellung der Spongien ein abschließendes Urteil zu gewinnen. Vosmaer, einer der gründlichsten Kenner dieser Gruppe, sagt in bezug auf diese Fragen: ‚‚Wij weten het niet.‘‘ Es kann daher auch unser Versuch, die Spongien auf das Schema der Gastrula zurückzuführen und sie auf diesem Wege der allgemeinen Wurzel des Metazoenstammes anzugliedern, nur den Wert eines subjektiven Bekenntnisses für sich in Anspruch nehmen. Es seien zum Schlusse noch einige spärliche Angaben über das Vorkommen Kragenzellen kragenzellähnlicher Bildungen in den übrigen Gruppen der Metazoen zusammen- Be gestellt, Vorkommnisse, die vielleicht zur Stütze unserer Anschauungsweise herangezogen werden können. Hjalmar The&el hat in einer bewunderungs- würdigen Untersuchung über die Entwicklung eines kleinen Seeigels, Echino- cyamus pusillus, mitgeteilt, daß die Geißelzellen, welche die Wimperschnüre der Pluteuslarve dieser Form zusammensetzen, an ihrer freien Fläche eine den Geißel- ansatz umgebende kragenähnliche Bildung erkennen lassen. K. Camillo Schneider bildet in seinem Lehrbuch der vergleichenden Histologie eine mit Kragen versehene Zelle aus dem Mitteldarmepithel der Süßwassermuschel Ano- donta ab. Er erwähnt das Vorkommen von Kragenzellen im Entoderm von Amphioxus. Außerdem sind die neuerdings von Goodrich an den Nephridien der Anneliden und den Nierenkanälchen von Amphioxus erkannten Soleno- cyten als echte Kragenzellen in Anspruch zu nehmen. Ferner verweist M. Hei- denhain auf die Übereinstimmung, welche die Schwanzmanschette unreifer Die Archhydra als Stammform der Nesseltiere, 464 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Spermatozoen mit den Kragengeißelzellen der Spongien darbietet. Wenngleich diesen zerstreuten Vorkommnissen vielleicht kein allzugroßer Wert in der Rich- tung phylogenetischer Ableitungen beizumessen ist, so durften sie doch in die- sem Zusammenhange nicht mit Stillschweigen übergangen werden. IV. Zur speziellen Phylogenie der Cölenteraten. Die Spongien stehen zu den übrigen Cölenteraten in keinen näheren ver- wandtschaftlichen Beziehungen. Sie haben mit ihnen, wie mit allen Metazoen, nur das Stadium der Gastrula gemein. Nach Ausschluß dieser Gruppe verbleiben im Kreise der Cölenteraten (Pflanzentiere): die Nesseltiere (Cnidarien) und die Kamm- oder Rippenquallen (Ctenophoren). Wie die Spongien durch ihre Kragengeißelzellen, so sind die Nesseltiere durch das histologische Merkmal der Nesselzellen (Cnidoblasten, Nematoblasten) gekennzeichnet. Wir werden an der genetischen Einheit dieses Stammes nicht zweifeln können. Die verschiedenartigen Gestalten der Nesseltiere lassen sich auf zwei Grundtypen zurückführen: den des festsitzenden, vielfach durch Knospung sich vermehrenden und auf dieser Grundlage stockbildenden Polypen und den der freischwimmenden, geschlechtlich sich vermehrenden, höher organi- sierten Meduse. Meist ist der Bau dieser Formen ein streng radiär-symmetrischer und zwar herrscht vielfach vierstrahlige Radiärsymmetrie. Wir werden in die- ser Gruppierung der Organe um eine Hauptachse einen Hinweis darauf erblik- ken, daß die Stammform der Nesseltiere eine festsitzende Lebensweise hatte. Für uns ist die gemeinsame Stammform sämtlicher Nesseltiere ein hydra- ähnliches Wesen. Haeckel hat für diese hypothetische Ahnenform den Namen Archhydra eingeführt. Sie ist als eine mit dem aboralen Pole festgeheftete Ga- strula zu betrachten, welche in der Umgebung des Urmundes als Ausstülpungen der Körperwand radiär gestellte Fangarme zur Entwicklung brachte. Ursprüng- lich war diese Stammform, wie derzeit noch Hydra, zu geschlechtlicher Fort- pflanzung befähigt. Außerdem kam ihr die Fähigkeit zur Vermehrung durch Knospung zu. Im Anschlusse an die durch die letztgenannten Vorgänge ver- mittelte Stockbildung entwickelte sich ein Polymorphismus der Individuen, indem einzelne, nur mehr zu Knospungsvorgängen befähigt, die Gestalt der sessilen Polypenform bewahrten, während andere, vom Stocke sich loslösend, zu geschlechtlicher Vermehrung bestimmt, als Medusen eine freischwimmende Lebensweise annahmen. Die Meduse ist offenbar ein freischwimmender Polyp. Wir haben im 2. Bande dieses Werkes (S. 201) eingehender dargestellt, wie die Form der craspedoten Meduse (der Saumqualle) von dem Ausgangszustande des sessilen Hydropolypen abzuleiten ist, und wir sind in diesen Auseinanderset- zungen den Ausführungen der Brüder Hertwig gefolgt. Die höhere Entwick- lungsstufe der Meduse ist als Anpassung an die freischwimmende Lebensweise zu deuten und aus dieser Quelle herzuleiten. Von den drei Sippen der Cnidarien, welche wir als Hydrozoen, Scyphozoen und Anthozoen unterscheiden, stehen die Hydrozoen offenbar der hypotheti- schen Stammform, der Archhydra, am nächsten. Die Scyphozoen und Antho- Die Archhydra. Ectocarpen und Entocarpen 465 zoen entfernen sich von diesem primitiven Urtypus durch den komplizierteren Bau ihrer Polypenform, durch den Besitz eines ectodermalen Schlundrohres (Stomodaeum) und durch die Entwicklung von Septen der Magenwand, in denen die Geschlechtsprodukte zur Ausbildung kommen. Nach letzterem Merk- male könnten wir die beiden letzteren Gruppen, die sich offenbar ziemlich nahe stehen, den Brüdern Hertwig folgend, als Entocarpen zusammenfassen und ihnen die Hydrozoen, deren Keimesprodukte im Bereiche des äußeren Keim- blattes zur Entwicklung gelangen, als Ectocarpen gegenüberstellen. Während bei den Ectocarpen sich zwischen die beiden primären Keimesschichten nur eine homogene Stützlamelle einschiebt, tritt bei den Entocarpen vielfach an die Stelle der letzteren eine mesenchymatische Zwischenschicht. Dieses Meso- derm ist der zellenführenden Gallerte der Rippenquallen und dem larvalen Mesoblast der Trochophora zu vergleichen. Über die Herleitung der Ctenophoren sind derzeit noch die Ansichten sehr Die Ableitung geteilt. Wir vermissen bei ihnen (mit der einzigen Ausnahme von Euchlora a rubra) die für die Cnidarien typischen Nesselzellen, während ihre Fangfäden mit klebrigen Greifzellen besetzt sind (Chun). Trotzdem werden wir immer ver- sucht sein, ihren Ursprung in der Gruppe der Nesseltiere zu suchen, und zwar bei den Entocarpen. Nach den Feststellungen Garbes ist es nicht zu bezwei- feln, daß die Keimzellen der Ctenophoren, die sich an den acht Rippengefäßen vorfinden, vom ersten Momente ihrer Sonderung an der entodermalen Aus- kleidung des Gastrokanalsystems zugehören, und diese Angaben wurden neuer- dings von Mortensen für die eigenartige sedentäre Ctenophore Tjalfiella be- stätigt. Überhaupt nähern sich die Rippenquallen durch den Besitz eines ecto- dermalen Schlundes sowie durch das Vorhandensein einer mesenchymatischen Zwischenschicht durchaus den Entocarpen. Aus diesem Grunde halten wir alle Versuche, die Ctenophoren mit den Hy- dromedusen in nähere Beziehung zu bringen, für verfehlt. Noch neuerdings ist eine von Davydoff in der Sundasee gefundene Form, Hydroctena Salenskii, als eine vermittelnde Zwischenform zwischen Hydroidmedusen und Ctenophoren in Anspruch genommen worden. Es kommt ihr aber keineswegs diese Bedeu- tung zu. Es handelt sich um eine Narkomeduse, welche, der Gattung Solmun- della nahestehend, zwei auf die Exumbralseite gerückte, in Tentakeltaschen zu- rückziehbare, nicht verästelte, mit Nesselzellen besetzte Tentakel und am Schei- telpole eine rätselhafte Einziehung besitzt. Ihre pelagische Lebensweise, ihre Fortbewegung durch Wimperapparate verleihen den Ctenophoren einen eigenartigen Larvencharakter. Wir möchten für die Ableitung der Ctenophoren am ehesten freischwimmende Anthozoen- larven in Anspruch nehmen. Gewisse bewimperte Actinienlarven, welche noch vor erfolgter Festsetzung das ectodermale Schlundrohr sowie die radiären Gastralsepten zur Entwicklung bringen, sehen einer kleinen Rippenqualle ähn- lich, besonders, wenn durch die Wirkung der Septen meridionale, längsverlau- fende Einziehungen der Oberfläche erzeugt werden, zwischen denen vorsprin- gende Wülste uns die Wimperrippen vortäuschen. Es ist unsere Überzeugung, K.d.G.IIL.ıv.Bd4 Abstammungslehre etc. 30 466 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen daß der eigentümliche lokomotorische Apparat der Kammauallen, der in acht meridionalen Reihen von Wimperplättchen gegeben ist, sich nur durch höhere Differenzierung aus einem ursprünglich vorhandenen allgemeinen Wimperkleide hervorgebildet haben kann, nicht aus Nesselwülsten oder ähnlichem. (Fig.11.) Wenn wir so die Ctenophoren durch eine Art von Neotänie aus höher dif- ferenzierten Anthozoenlarven hervorgehen lassen, so würden wir gewisse Züge ihres Baues von der festsitzenden Form ihrer Anthozoenahnen, welche durch vorzeitige Entwicklung (precocious segregation) im Larvenstadium ausgebildet wurden, herzuleiten haben. Man könnte nach dieser Richtung in Anspruch neh- men: das Vorhandensein zweier als Fangapparate dienender Tentakel und die Hinweise, die in ihrem Bau und vor allem in ihren Jugendzuständen auf eine ihnen zukommende, ursprüngliche, tetramerale Radiärsymmetrie gegeben sind. Wir würden im weiteren Verlaufe dieser Vermutungen vor die Frage gestellt sein, ob die Erwerbung eines ectodermalen Schlundrohres, beweglicher Ten- takel und radiärer Gastralsepten nicht vielleicht schon im freischwimmenden Zustande der Anthozoenahnen erfolgt sei, und in der Tat hat Goette das Vor- handensein eines derartigen, pelagischen, in die Stammesgeschichte der Ento- carpen eingeschobenen und als Scyphula bezeichneten Stadiums angenommen. In diesem Falle müßte die Trennung der Cnidarien in die beiden als Ectocarpen und Entocarpen bezeichneten Stämme schon vor erfolgter Festsetzung, vor Ausbildung der Polypenform erfolgt sein. Obgleich es schwer ist, in dieser Frage das Für und Wider gehörig abzuschätzen, so will es uns doch wahrscheinlicher dünken, daß man an der Form einer festsitzenden Archhydra als gemeinsamer Stammform aller Nesseltiere festzuhalten habe. V. Zur Frage nach der Herleitung und der genetischen Einheitlichkeit des Bilaterienstammes. ee Se Bei Behandlung der Frage, von welcher Stammform die große Gruppe der zur Trochophora. Bilaterien, welche sämtliche Metazoen nach Ausschluß der Cölenteraten um- faßt, abzuleiten seien, sehen wir uns vor allem auf die Ctenophoren verwiesen. Die Lehre, daß wir in ctenophorenähnlichen Wesen die Urform der Bilaterien zu erblicken haben, zuerst von Lang und Selenka unter besonderer Berück- sichtigung der Ableitung der Turbellarien (Strudelwürmer) entwickelt, wurde später von zahlreichen Forschern akzeptiert, unter denen Hatschek und Thiele genannt seien. Vor allem hat Hatschek die Ableitung der für die Protostomia (Zygoneura) typischen Trochophoraform von Ctenophoren ein- gehender begründet. Diese Ansicht hat in neueren entwicklungsgeschichtlichen Ergebnissen eine auffallende Unterstützung gewonnen. Bei dem Versuche, die Form der Trochophora (Fig. 12) von Ctenophoren abzuleiten, werden wir vor allem das apikale Sinnesorgan der Rippenquallen (Fig. IIs) mit der sog. Scheitelplatte der Trochophora (Fig. 12 sp) homologi- sieren. Vom Darm der Trochophora ist das ectodermale Stomodaeum (st) auf den Schlund (sog. Magen) der Ctenophoren zu beziehen, während der Mittel- darm der Trochophora dem zentralen Teil des Gastrokanalsystems der Rippen- Phylogenie der Ctenophoren. Ihre Beziehungen zur Trochophora 467 quallen gleichzusetzen ist. Das Mesoderm der Ctenophoren findet sein Homo- logon in dem sog. larvalen Mesoblast der Trochophora, welche Mesenchymbil- dungen in beiden Gruppen ectodermalen Ursprung haben. Die Wimperreifen der Trochophora sind in noch nicht ganz klar zu durchschauender Weise von dem in den acht Rippen gegebenen Lokomotionsapparat der Ctenophoren ab- zuleiten. Der Umstand, daß diese Wimperstreifen bei den Rippenquallen meri- dionalen Verlauf haben, während der lokomotorische Apparat der Trochophora / 7 ! J We ----------- —1---—- I | Y | j j \ I | HN | (8 Fig. ıı. Schematische Abbildung einer Ctenophore. A Seiten- ansicht, 3 Ansicht vom Scheitelpole.. a—a Hauptachse, &—2 und c—c Nebenachsen, »2 Mund, s apicales Sinnesorgan, # Fangfäden, (die Troche) der äquatorialen Ebene parallel laufen, bildet für diese Ableitung keine besondere Schwierigkeit; denn wir sehen vielfach, so an der Metamorphose der Auricularia in die tönnchenförmige Holothurienlarve, daß longitudinale Wimperbänder leicht in transversal verlaufende umgeformt werden können. Die Ctenophorenreminiszenzen in der Entwicklung der Trochophora sind zunächst in einer auffälligen vierstrahligen Radiärsymmetrie der Entwicklungs- stadien der Anneliden und Mollusken zu erkennen. Wir müssen hier nämlich bemerken, daß der disymmetrische Körperbau der Rippenquallen und die in den Wimperrippen sich kundgebende Octomerie (Fig. ııB) von einer vier- strahlig radiärsymmetrischen Grundlage ausgegangen ist. Das gibt uns eine gewisse Berechtigung, die Spuren vierstrahliger Symmetrie in der Anneliden- entwicklung als Reminiszenzen an den Bau der Ctenophorenahnen in Anspruch zu nehmen. Wir können auf diese Spuren hier nicht näher eingehen. Wir müs- sen es uns versagen, die hochinteressanten Vorgänge der Zellgruppierung, welche im Embryo der Anneliden und Mollusken den Aufbau des Trochophorastadiums vorbereiten, näher zu schildern. Die Arbeiten über Cell-Lineage enthalten die bedeutendste Förderung, welche die Embryologie der Wirbellosen in der neue- ren Zeit erfahren hat. Hier nur kurz folgendes: der Embryo der Anneliden und 30* Ctenophoren- Reminiszenzen in der Tornaria. 468 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Mollusken ist aus Zellquartetten aufgebaut. Die Anlage des Prototrochs (Fig. 12 pt) entwickelt sich aus vier radiär gestellten Zellgruppen, welche sich erst sekun- där zum äquatorialen Wimperreifen zusammenschließen. In der merkwürdigen Konfiguration des sog. Kreuzes, welche an der Episphäre der Anneliden-Trocho- | Fig. ı2. Schematische Abbildung der Trocho- q@ phoralarve eines Annelids. A von links ge- f / sehen, 3 von der Bauchseite, C vom B j Scheitel. a«—a’ Hauptachse, ax After, d dorsal, /links, »2 Mund, zs Mittel- darm(Mesenteron), »»/postoraler Wimperkranz (Metatroch), ntbewimperteBauchfurche : (sog. Neurotrochoid), ‚IM fr Enddarm (Procto- daeum), // praeo- v raler Wimper- kranz (Proto- r troch), ” rechts, p s& Scheitelplat- te, s? Vorder- 7 darm (Stomo- daeum), v ven- trale Seite. Ge 7 mW SSSSSS & 2%, n m anna EEE ut a na je +r,,, >> z£. I G PERF II RS En e= phora zur Ausbil- 7 dien zu beobach- dans kommt, ee re ee - tendeSpaltungder kennen wir vier von 78 Kreuzarme mit der der Scheitelplattera- Entwicklungderacht diärauf dieobenerwähn- ten Gruppen von Trocho- blasten hinziehende Zellstrei- fen, und man möchte wohl ver- gischen Ergebnisse ist die Zu- sucht sein, die in späteren Sta- rückführung derTrochophora auf Ctenophorenahnen auf eine solidere Basis gestellt worden. Es haben sich auch im Bau der ausgebildeten Trochophoralarve in der Gruppierung der larvalen Muskein und des subepithelialen Nervenplexus Reminiszenzen an Ctenophoren- ahnen erhalten. Besonders aber deutet das Vorkommen von acht von der Scheitelplatte in meridionaler Richtung ausstrahlenden Nerven auf derartige Ahnenformen. Wenn sonach gewisse in der Entwicklung der Trochophora gegebene Hin- weise den Gedanken zu stützen scheinen, daß jene große Gruppe der Bilaterien, welche in den Verwandtschaftskreis der Trochophora gehören und welche wir unter dem Namen der Protostomia zusammenfassen, von Ctenophorenahnen abzuleiten sei, so ist darauf hinzuweisen, daß es auch in der zweiten Gruppe der Bilaterien, der der Deuterostomia, nicht an gewissen suggestiven Momenten st Rippen der Ctenopho- ren in Beziehung zu set- zen. Durch diese embryolo- Protostomia und Deuterostomia Die Stellung der Tentaculata 469 fehlt, welche nach der gleichen Richtung zielen. Vor allem hat die als Tornaria bezeichnete Larve von Balanoglossus eine auch bei den Echinodermenlarven zu erkennende Scheitelplatte, welche wir der Scheitelplatte der Trochophora und dem apikalen Sinneszentrum der Ctenophoren homolog setzen möchten. Von dieser Scheitelplatte ziehen bei der Tornaria vier meridional verlaufende Wimperschnüre aus. Die Entwicklung der Tornaria hat erkennen lassen, daß ihr Enterocöl, welches wir dem Gastrovascularsystem der Ctenophoren gleich- setzen möchten, ein Divertikel bildet, welches seiner Lage nach dem Trichter- gefäß der Rippenquallen entspricht. Dagegen kann das larvale Mesenchym der Tornaria nicht dem Mesoderm der Ctenophoren gleichgesetzt werden, da es bei der ersteren Form, wie auch bei den Echinodermen, entodermalen Ur- sprungs ist. Wir sehen uns in weiterer Verfolgung der hier angedeuteten Hinweise VOr Protostomia und die Frage gestellt, ob und inwieweit es möglich sei, den ganzen Stamm der "ton Bilaterien als genetische Einheit zu begreifen und von einer ctenophorenähnlichen Stammform abzuleiten. Die Trennung der Bilaterien in zwei große Gruppen, welche wir mit Grobben als Protostomia und Deuterostomia bezeichnen, legt den Gedanken an eine diphyletische Ableitung der Bilaterien nahe. In der Tat haben Hatschek, Goette, K.C. Schneider u. a. die Ansicht zu begründen versucht, daß die hier in Frage kommenden Gruppen der Bilaterien getrennten Ursprunges seien. Gegen diese Ansicht spricht vielleicht der Umstand, daß wir Die Stellung der in der Gruppe der Tentaculata, unter welchem Namen die Phoronoidea, Bryo- er zoa und Brachiopoda zusammengefaßt werden, Formen kennen, welche die Kluft zwischen den Gruppen der Protostomia und Deuterostomia einigermaßen überbrücken. Nach dem Schicksale ihres Urmundes (Blastoporus), welcher von hinten nach vorne sich schließend sich als Schlundpforte erhält, sind die Ten- taculata unzweifelhafte Protostomia. Sie stehen dieser Gruppe auch durch den Bau ihrer Larvenformen nahe. Man hat wohl mit Recht die als Actinotrocha bezeichnete Phoronislarve, wie auch die Larven der stelmatopoden Bryozoen und der Brachiopoden als umgewandelte Trochophoren in Anspruch genom- men. Sie schließen sich auch durch den Besitz eines wohlentwickelten paa- rigen Nephridiums den Protostomia an, während wir in den tieferstehenden Typen der Deuterostomia (Enteropneusten, Echinodermen) alles, was als Proto- nephridium oder Nephridium gedeutet werden könnte, völlig vermissen. Denn der Rückenporus der Echinodermenlarven oder die Kragenporen der Entero- pneusten sind wohl nicht in die Kategorie dieser Bildungen zu rechnen. Nicht jeder Cölomporus kann als Nephridium anerkannt werden. Anderseits läßt die Gruppe der Tentakulaten unzweifelhafte Beziehungen zu den Deuterostomia, speziell zu der Gruppe der Pierobranchia, welche man den Enteropneusten zurechnet, erkennen. In dem Besitz eines dreiteiligen Cö- loms, welches sich in Epistomhöhle, Lophophorhöhle und Rumpfhöhle gliedert, in dem Vorhandensein eines auf Lophophorarme erhobenen Tentakelkranzes schließen sie sich an Rhabdopleura und Cephalodiscus an. Erst neuerdings hat Braem in bedeutungsvoller Weise auf die nahen Beziehungen hingewiesen, Entwicklung der Bilateralität. a) bei den Protostomia. 470 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen welche die von Schepotieff beschriebenen Cephalodiscuslarven zu den Larven stelmatopoder Bryozoen aufweisen. An der näheren Verwandtschaft der Tenta- kulaten und der Pterobranchier kann nicht mehr gezweifelt werden. Diese Schwierigkeiten in der systematischen Einordnung der Tentakulata, welche zum Teil den Protostomia und nach anderer Hinsicht den Deuterostomia nahestehen, möchten vielleicht das Ergebnis zeitigen, daß die Merkmale, auf welche die Trennung dieser beiden großen Stämme der Bilaterien begründet wurde, nicht stichhaltig sind. Es sind dies: I. das verschiedene Verhalten des Blastoporus, welcher bei den Protostomia zur Mundöffnung, bei den Deutero- stomia zur Afteröffnung wird, 2. der verschiedene Charakter der Larvenformen: Trochophora bei den Protostomia, Tornaria und Echinodermenlarven bei den Deuterostomia, 3. die verschiedene Art der Mesodermbildung: Urmesoderm- zellen bei den Protostomia und Enterocölbildung bei den Deuterostomia. Da aber doch im großen und ganzen die Auseinanderhaltung dieser beiden großen Stämme des Bilaterienreiches wohl begründet zu sein scheint, so werden wir viel- leicht die Tentakulata als einen Rest ursprünglicher Formen zu erfassen haben, welche der gemeinsamen Wurzel beider Stämme nahestehen, wie sehr auch ihre sedentären Lebensgewohnheiten das ursprüngliche Bild ihrer Organisation ver- wischt haben mögen. Die vorstehenden, etwas speziellen Erörterungen mögen dazu dienen, zu begründen, warum uns eine einheitliche Zusammenfassung des Bilaterienstammes denkbar und möglich erscheint. VI. Die Entstehung der Bilateralsymmetrie. Wenn wir die Bilaterien von einer radiär-symmetrischen resp. disymmetri- schen ctenophorenartigen Stammform herleiten, so sehen wir uns vor die Frage gestellt, in welcher Weise der Übergang von radiärer Symmetrie zur Bilateralität vermittelt wurde. Wir werden uns vorzustellen haben, daß irgendein Meridian- kreis des radiär-symmetrischen Gebildes gegenüber den anderen auf eine Weise derart gekennzeichnet wurde, daß wir seine eine Hälfte als Bauchseite, die gegenüberliegende als Rückenseite erkennen. Die Bauchseite der Bilaterien ist durch die Lage der Mundöffnung gekennzeichnet. Während in der Gastrula und bei den von ihr sich ableitenden radiärsymmetrischen Formen der Cölen- teraten der Mund (resp. der Urmund oder Blastoporus, Fig. 2 bp) an dem hin- teren Ende (dem vegetativen Pole) der Hauptachse gelegen ist, finden wir bei den Bilaterien den Mund mehr oder weniger weit längs der Bauchseite, nach vorne verschoben, und der Scheitelplatte (Gehirnanlage), welche uns das Vor- derende der Körperlängsachse kennzeichnet, genähert. Die Frage, in welcher Weise der Mund der Bilaterien auf den Urmund des Gastrulastadiums zu beziehen sei, führt uns zur Behandlung der embryologi- schen Charakteristik der beiden als Protostomia und Deuterostomia unterschie- denen Stämme der Bilaterien.‘ In der Gruppe der Protostomia wandert der Urmund des Gastrulastadiums (der Blastoporus) allmählich nach der Ventral- seite und längs derselben nach vorne (Fig. 13). Gleichzeitig verengt er sich mehr und mehr durch eine Verwachsung seiner Ränder, welche von hinten Entwicklung der Bilateralität bei den Protostomia 471 nach vorne fortschreitet (Fig. 13 C und D). Diese Verwachsung vollzieht sich in der Weise, daß eine ventral-median gelegene Verwachsungsnaht (Gastrula- raphe gr in Fig. 13D) zur Ausbildung kommt. Nur der vorderste nun schon sehr verkleinerte Urmundrest (m) erhält sich und tritt in Beziehung zum de- finitiven Mund des jungen bilateralsymmetrischen Tieres. Da gleichzeitig durch Einwachsen der ectodermalen Ränder des Urmundrestes der Vorderdarm (Stomodaeum) gebildet wird, so erhält sich der Blastoporusrest an der Über- gangsstelle von Stomodaeum und Mitteldarm als sog. Schlundpforte. Hier muß pp III PL; 6p Fig.ı3. Vier Entwicklungsstadien einer Anneliden-Trochophora, schematisch zur Darstellung des Verschlusses und der Verlagerung des Urmundes (Blastoporus). Ansicht von der Ventralseite. 55 Urmund der Gastrula (Blastoporus), gr Gastrularaphe, d.i. Verwachsungsnaht der Blastoporuslippen, »» Lage der definitiven Mundöffnung, sö Scheitel- platte mit Wimperschopf, #2 praeoraler Wimperkranz oder Prototroch. Vgl. Fig. 12 2. aber erwähnt werden, daß der definitive After am hinteren Ende der Gastrula- raphe gebildet wird. Die Gastrularaphe kennzeichnet uns die ganze zwischen Mund und After sich erstreckende ventrale Mittellinie des späteren Wesens. Am exaktesten werden wir die Vorgänge derart schildern, daß wir sagen: der Blastoporus wird bei den Protostomia nach der Ventralseite verlagert. Er ver- schließt sich schlitzförmig, doch in der Weise, daß sein Vorderende als Schlund- pforte, sein Hinterende als After (richtiger als Übergangsstelle von Mitteldarm und Enddarm) erhalten bleibt. Diese schlitzförmige Art des Urmundverschlusses, dessen Enden als Mund und After erhalten bleiben, findet möglicherweise ihre erste Vorstufe in gewis- sen Verhältnissen der Anthozoen unter den Cölenteraten. Bei diesen Polypen gewinnt der Mund vielfach eine langgestreckte oder doch ovale Form. Er wird in einen Schlitz umgewandelt, dessen beide Enden in stark bewimperte Schlund- rinnen überleiten. Man hat beobachtet, daß längs der einen Schlundrinne eine einströmende, längs der gegenüberliegenden eine ausströmende Wasserbewegung zu erkennen ist. Mund und After der Bilaterien würden sonach auf die beiden Schlundrinnen dieser Formen, resp. auf ähnliche Einrichtungen an ihren Cteno- phorenahnen zu beziehen sein (vgl. die Figg. I6A S. 475 und Fig. 22). In der Gruppe der Deuterostomia, für welche die Entwicklung der Echino- dermenlarven uns das Schulbeispiel liefert, sind die Schicksale des Urmundes wesentlich andere. Hier erfährt der Blastoporus (Fig. I4A bp) keine Lagever- änderung. Allmählich sich verengend wird er zum After (Fig. 14B an) der Larve umgewandelt. Die Bauchseite des Körpers wird dadurch determiniert, daß der Urdarm (ud) sich einkrümmt und mit seinem Vorderende die Haut der b) bei den Deuterostomia 472 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Larve berührt. An dieser Berührungsstelle wird dann der Mund (m) gebildet. Der definitive Mund ist hier sonach eine Neubildung, welche zum Urmund (Blastoporus) in keinerlei Beziehung steht. Er entwickelt sich an einer vom vegetativen Pole entfernten Stelle selbständig und sein Auftreten sowie die ven- trale Einkrümmung des Darmkanals bestimmen die Bauchseite. Phylogenetisch sind diese Vor- gänge schwer vorstellbar. Es ist nicht leicht zu verstehen, auf welche Weise irgend- eine Stamnm- form der Deu- terostomia dazu gekommensein soll, "an leiner von dem die Nahrungsauf- Fig. 14. Veränderungen des Darmkanals und Bildung des Mundes bei den Echinodermen- nahme besor- larven. A Gastrulastadium, 3 späteres sog. Prismenstadium. Die Bilder stellen Median- d Blast schnitte in der Ansicht von links dar. az After, 55 Blastoporus, ec Ektoderm, ez Ento- genden asto- derm, / primäre Leibeshöhle (Blastocöl), 2° Intestinum, = Mundbucht, »»g Magen, orus entfern- oe Oesophagus, sö Scheitelplatte, #2 Urdarm. Schema im Anschlusse an HERMANN SCHMIDT. pP A ten Stelle einen neuen Mund zu entwickeln, worauf dem Urmund nur mehr die Funktion der Ausfuhr der Verdauungsrückstände verblieb. Wir wissen allerdings, daß der Darmkanal der Tiere die Fähigkeit besitzt, unter Umständen durch Verlötung mit der Körperwand sekundäre Öffnungen zu gewinnen. Die Entstehung der Kiemenspalten bei den Vertebraten ist das schönste Beispiel hierfür und wir kennen solche Darmporen in den verschiedensten Gruppen und auch schon bei den Cölenteraten. Aber die Vorstellung, daß ein solcher sekundär entstandener Darmporus in einen Mund verwandelt worden sei, enthält die An- nahme eines schwer verständlich zu machenden Funktionswechsels. Wir werden die Möglichkeit ins Auge fassen müssen, daß in die Entwicklung der Deutero- stomia ‚eine sekundär erworbene Modifikation der Ontogenese aufgenommen wurde und daß uns bezüglich der Vorgänge der Mundbildung und der Ausbil- dung der Bilateralität die betreffenden Stadien der Protostomia das richtigere Abbild der ihnen entsprechenden stammesgeschichtlichen Ereignisse liefern. Wir schließen uns diesbezüglich an D. Rosa an, welcher es ausgesprochen hat, daß die Vorgänge der Mundbildung bei den Echinodermenlarven von denen abzuleiten seien, die wir in der Entwicklung der Trochophora beobachten. Schließlich muß uns der Gedanke, daß sämtliche Bilaterien von einer einheit- lichen Wurzel herzuleiten seien (ein Gedanke, den wir oben unter Hinweis auf die Stellung der Tentakulaten zu stützen versuchten), dazu führen, anzunehmen, daß entweder in der Gruppe der Protostomia oder in der der Deuterostomia Entwicklung der Bilateralität der Deuterostomia und Protostomia 473 die Vorgänge der Mundbildung cänogenetisch abgeändert seien, Die oben be- rührten Schwierigkeiten, sich das Verhalten der Deuterostomia phylogenetisch zu verdeutlichen, legen den Gedanken nahe, daß in diesen Dingen die Entwick- lungsweise der Protostomia die ursprünglichere sei. Da die erste Entstehung der bilateralen Symmetrie für unsere ganze Auf- Näheres zur Ent- fassung der Bilaterien von grundlegender Bedeutung ist, sei es gestattet, hierbei Ya. noch etwas zu verweilen und im Anschlusse an Hatschek die betreffenden der Trochophora. Vorgänge, wie sie in der Entwicklung der Trochophora zu beobachten sind, schärfer ins Auge zu fassen. „Der bilaterale Bau‘, sagt Hatschek, ‚be- ruht auf dem Gegensatz von Bauchseite und Rückenseite, und dieser Gegensatz kommt dadurch zustande, daß der Mund sich nicht am Gegenpole, sondern auf der Bauchseite befindet, wohin er durch eine sekundäre Verschiebung gelangt ist. Eine solche Lageverände- A rung kann auf verschiedene Ss Weise zustande gekommen sein; es könnte eine Lagever- änderung der ganzen oralen °7\ Körperhälfte stattgefunden haben, also eine ‚„Knickung en 3e o der Hauptachse eingetreten Fig.1ı5. Schema der Umwandlung einer radiärsymmetrischen Urform A sein. — oder es könnte der in den bilateralen Typus (nach HAtscHek). Die radiär gebaute Form u könnte verändert worden sein entweder (3) durch Veränderung des Fall sein, daß nur der Mund gesamten Gegenfeldes oder (C) durch bloße Verschiebung der Mund- DIR ScHhiind eine Werschie- region. s Scheitelpol, aeg äquatoriale Zone, o Mundöffnung. bung erlitten, ohne daß die Lage aller anderen Organe in gleichem Maße beein- flußt wäre, es könnten z. B. die meridionalen Organe ihre Lage zumeist unver- ändert beibehalten haben. Ich neige mich mehr der letzteren Auffassung zu, während ich in früheren Schriften die erstere vertrat‘ (vgl. Fig. 15). Die ontogenetischen Untersuchungen der neueren Zeit haben im Sinne der ersteren Alternative entschieden. Ohne auf das Detail der Cell-Lineage-For- schung näher einzugehen, sei nur erwähnt, daß die vier Gruppen der Stomato- blasten (Abkömmlinge des dritten Quartetts), welche uns die oralen Enden der Radien kennzeichnen, mit dem Munde ventralwärts verschoben werden, sowie daß die ganze Lageveränderung des Urmundes auf ein stärkeres Aus- wachsen des dorsalen d-Quadranten (speziell der Abkömmlinge des ersten So- matoblasten 2d, welche die sog. somatische Platte liefern) zurückzuführen ist. Es erfahren sämtliche Organe der hinteren Körperhälfte eine Verlagerung nach der Ventralseite. Erwähnung verdient, daß Lang und Goette die bilaterale Grundform der Protostomia von der radiären Gestalt ihrer Stammform auf einem anderen Wege ableiten, als wir dieses hier im Anschlusse an Hatschek und gestützt auf gewisse embryologische Daten getan haben. Es haben hier — wenigstens so- weit Lang in Frage kommt — die aberranten Ctenophorengenera: Coeloplana und Ctenoplana, welche den Übergang zu den Turbellarien vermitteln sollten, eine gewisse die Vorstellungen beeinflussende Rolle gespielt. Nach diesen An- T\ Funktioneller Ursprung der Bilateralität. 474 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen schauungen sollsich der Gegensatz von Bauch- und Rückenseite auf den Gegen- satz von oraler und aboraler Körperhälfte der Gastrulalarve zurückführen lassen. Dann entspricht der Rand eines scheibenförmig abgeplatteten Turbellars der äquatorialen Zone des Gastrulastadiums (aeg in Fig. 15). Die Stammform der Bilaterien ist durch eine Verkürzung der Hauptachse aus der Gastrulaform resp. aus der ctenophorenähnlichen Stammform hervorgegangen. Der Urmund lag dann ursprünglich in der Mitte der zur Ventralseite umgewandelten Hypo- sphäre (der oralen Körperhälfte des radiärsymmetrischen Ausgangsstadiums), während die Scheitelplatte (Fig.15s) in der Mitte des Rückens lag. Die Primär- achse des Gastrulastadiums erhält sich als Dorsoventralachse des Bilateriums. Erst sekundär werden Mund und Scheitelplatte gegen das vordere Körperende verlagert. Die Tatsachen der Ontogenie in den verschiedenen Gruppen der Pro- tostomia sprechen nicht zugunsten dieser Auffassung. Sie zeigen, daß die Primär- achse des Gastrulastadiums der Lage nach mit der späteren Körperlängsachse des Bilateriums zusammenfällt. Wir haben noch die Frage zu erörtern, welche Ursachen wir für die Ent- stehung der Bilateralsymmetrie in Anspruch nehmen können. Die Larvenfor- men, auf die wir uns hier hauptsächlich bezogen haben (Trochophora, Tornaria, Echinodermenlarven), sind pelagisch lebende Wesen. Kann Bilateralität bei freischwimmender Lebensweise erworben sein? Unter den Ctenophoren zeigt die eigenartige Thoe paradoxa, daß unter Umständen ein bilateralsymmetrischer Körperbau bei pelagischen Formen auftreten kann. Im allgemeinen ist man geneigt — und diesen Standpunkt hat Haeckel vor allem vertreten —, anzu- nehmen, daß eine kriechende Lebensweise den Übergang zur Bilateralität ver- mittelt habe. Man könnte wohl in der ventralen Flimmerrinne der Trocho- phora, im sog. Neurotrochoid Eisigs (Fig. 12 nt), den Rest einer derartigen flim- mernden Kriechsohle vermuten, wie sie auch in der Gruppe der den Rotiferen nahestehenden Gastrotrichen auftritt, und es läge die Versuchung nahe, den Fuß der Mollusken auf eine Bildung dieser Art zu beziehen. In dem Gedanken, daß kriechende Urformen den Übergang von radiärer Symmetrie zur Bilate- ralität vermittelt haben, liegt vielleicht die hauptsächlichste Schwierigkeit gegen die Annahme, daß uns die oben erwähnten Larvenformen ein entferntes Abbild der hypothetischen Stammform der Bilaterien vermitteln. Diese Annahme, welche in der von Hatschek eingehend begründeten Trochophoratheorie ihren hauptsächlichsten Ausdruck gefunden hat, ist aber von anderen Seiten so viel- fach gestützt, daß wir sie nicht ohne weiteres verlassen möchten. Wir möchten glauben, daß die bilaterale Symmetrie bei pelagischer Lebensweise erworben wurde, vielleicht im Anschlusse an Änderungen des Wimperapparates, welche eine günstigere Form der Bewegungsweise, eine erfolgreichere Art der Nahrungs- beschaffung ermöglichten. Der Übergang zur kriechenden Lebensweise ist bei freischwimmenden bewimperten Formen leicht vorzustellen, wenn sie mit einem allgemeinen, gleichmäßigen Wimperkleide versehen sind. Schwieriger gestaltet sich die Sache, wenn wir uns die betreffende Form mit spezialisierten Wimper- apparaten versehen denken, welche ctenophorenartig aus Wimperrippen oder Die Sphenula, eine hypothetische Stammform der Bilaterien 475 Wimperbändern bestehen. Derartige Einrichtungen scheinen zurAnnahme einer kriechenden Bewegungsweise weniger geeignet. Und gerade auf solche Formen werden wir rekurrieren müssen, wenn wir die Bilaterien von Ctenophoren ab- zuleiten versuchen. Es sei vielleicht gestattet, in Form einer ideellen Konstruktion ein Bild Schematische jener hypothetischen Urform zu entwerfen, welche von ctenophorenähnlichen nenn Stammformen ausgehend den Übergang zur Wurzel des Bilaterienstammes ver- mittelte. Diese Zwischenform soll als Sphenula (Fig. 16) bezeichnet werden, in Erinnerung daran, daß Haeckel die Gestalt eines Keiles als promor- phologischeGrundform des Bilaterienkörpers betrachtete. Wir haben bei der Konstruktion dieser Form gewisse Züge der Tornaria (En- teropneustenlarve), an- dere der Entwicklung der Trochophora ent- lehnt. Die Körperge- Fig. 16. Hypothetische Stammform der Bilaterien (sog. Sphenula). Konstruiertes 5 . _ Schema. dv seitliche Urdarmdivertikel (Gonoenterocölsäcke), = Mund, staltistovoid. Der vor ms Mesenchymzellen, sd Scheitelplatte, vw Wimperbänder. dere Körperpol ist von der Scheitelplatte (sp) eingenommen, von welcher vier Wimperbänder (w) in radiärer Richtung ausstrahlen. Diese radiären Wimperstreifen sind in den longitudinalen Teilen der Wimperschnur der Tornaria erhalten; in den Ent- wicklungsstadien der Trochophora erkennen wir ihre Spur in der hier auf- tretenden Figur des sog. Kreuzes. Eine diesem lokomotorischen Apparat inne- wohnende Tendenz zu transversaler Umordnung der Wimperbänder führte zu den Ringbildungen der Trochophora hinüber. Der Darmkanal noch ohne After und Proctodaeum besteht aus dem ectodermalen Vorderdarm (Sto- modaeum) und dem entodermalen Mitteldarm (Mesenteron), an welchem zwei seitliche Divertikel (dv) als Reste eines ursprünglich vorhandenen Gastrovascu- larsystems die Geschlechtsprodukte zur Ausbildung bringen (Gonoenterocöl- säcke). Würden diese Divertikel sich vom Mesenteron abtrennen und selbstän- dige Cölomodukte (Geschlechtsausführungsgänge) gewinnen, so würden sie zu dem Cölom (sekundäre Leibeshöhle) der Bilaterien werden. Der Mund (m) ist nach der Ventralseite verschoben, langgestreckt und in seiner hantelförmigen Gestalt wird die Differenzierung seiner Enden in Mund- und Afteröffnung an- gedeutet. Der Raum zwischen Körperwand und Darmwand (primäre Leibes- höhle = Blastocöl) ist von Mesenchym (ms) erfüllt, welches, wie bei den Cteno- phoren ectodermalen Ursprungs ist. Diese Sphenula steht der von Hatschek als Vorstufe der Trochophora unterschiedenen Protrochula ziemlich nahe, von der sie sich durch einen andersartigen Verlauf der Wimperreifen, durch die Ver- Ableitung der Anneliden. Die Turbellarien- theorie. 476 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen hältnisse des Gonoenterocöls und durch das Fehlen der Protonephridien unter- scheidet. Wir finden von der Sphenula ausgehend leicht den Übergang zu tur- bellarienähnlichen Formen, sowie auch zu den Vorstufen der Trochophora. Anderseits dürfte es keinen Schwierigkeiten unterliegen, an sie die primitivsten Formen der Deuterostomia, die uns in der Tornaria und ähnlichen Larvenfor- men entgegentreten, anzuschließen. Was die Protonephridien (Urniere der Trochophora) anbelangt, so werden wir sie vielleicht mit Lang auf durchbohrte Hautdrüsenzellen zurückführen dürfen, welche, sich kanalartig verlängernd, in das Körperinnere, in das Mesenchym, gelangen. VI. Zur Trochophoratheorie. Wenn wir uns der Besprechung der stammesgeschichtlichen Gliederung, des verwandtschaftlichen Zusammenhangs der zahlreichen verschiedenartigen Stämme der Metazoen zuwenden, so sei es gestattet, zunächst, auf den Ver- wandtschaftskreis der Würmer beschränkt, die Frage zu behandeln, wie sich der höchstentwickelte Wurmtypus, der der metamer gegliederten Anneliden (Ringelwürmer) von einfacheren Formen der Scoleciden ableiten läßt. Die Frage gewinnt an Bedeutung, wenn wir uns des Umstandes erinnern, daß wir mit großer Wahrscheinlichkeit den formenreichen Stamm der Arthropoden von An- neliden abzuleiten haben und mit einigen Zweifeln die Wurzel für die Herleitung der Mollusken auch in dieser Wurmgruppe suchen. Zwei Wege führen uns von ctenophorenähnlichen Stammformen oder von einer hypothetischen Urform der Bilaterien, die vielleicht dem konstruierten Schema der Sphenula (Fig. 16) ähnlich war, zu den höheren, gegliederten Typen der Würmer. Der eine führt über die Turbellarien, über Wesen, welche wie die von Lang untersuchte Gunda (Procerodes) segmentata oder wie viele Schnur- würmer (Nemertinen) Vorstufen metamerer Segmentierung anzudeuten schei- nen, zu den echten Anneliden. Der andere, durch den Bau der als Trochophora benannten Larvenformen polychäter Anneliden vorgezeichnet, führt über die Rotatorien unter Vermittlung von Zwischenformen, wie Dinophilus und die Jugendstadien von Ophryotrocha zu dem gleichen Endziele. Beide Wege, durch geistvolle Betrachtungen verschiedener Forscher in ihren Einzelheiten beschrie- ben, haben zur Aufstellung zweier Theorien der Annelidenableitung geführt, die wir kurz als ‚Turbellarientheorie‘‘ und als ‚„Trochophoratheorie‘‘ bezeichnen wollen. Die Turbellarien haben zweifelsohne in ihrem Bau ungemein ursprüngliche Züge bewahrt. Wir würden nach dieser Richtung das allgemeine Wimperkleid anführen, wenn uns nicht die Überlegung, daß den Ctenophoren bereits ein spezialisierter Wimperapparat zukommt, die Vorstellung nahe rücken würde, daß die allgemeine Bewimperung der Strudelwürmer (Turbellarien) durch eine sekundäre Rückkehr zu ursprünglichen Formen der Lokomotion erworben wurde. Höchst altertümliche Züge weist der Darm der Turbellarien auf. Afterlos, eines Proctodaeums (Enddarms) entbehrend, zeigt er in der wechselnden Lage des Mundes, der bald mehr nach vorne gerückt, in anderen Formen in der Körper- Die Theorie der Ableitung der Anneliden von Turbellarien 477 mitte oder dem hinteren Körperende genähert ist, ein wenig fixiertes Verhalten. Die weitverbreiteteUmbildung des Mitteldarms in ein System ramifizierter Diver- tikel erinnert an das Gastrovascularsystem der Cölenteraten. Wir fügen noch hin- zu, daß ein echtes Cölom diesen Formen durchwegs fehlt, und daß wohlausgebil- dete Genitalfollikel, in denen man den Ersatz eines Cöloms (einer sekundären Lei- beshöhle) bei ihnen zu erblicken glaubte, bei manchen Formen kaum zu erkennen sind. Die Ansicht, daß die Anneliden von solchen ursprünglichen Wurmformen herzuleiten seien, vor allem von Lang, von Ed. Meyerund Rakovitza, sowie von Goette vertreten, stützt sich auf Ähnlichkeiten im Bau des Nervensystems, welches in manchen Fällen bei den Turbellarien der Gestalt einer gegliederten Bauchganglienkette nahe kommt, sie stützt sich auf die Möglichkeit, das Nephri- dialsystem der Anneliden von den Exkretionsorganen der Turbellarien abzu- leiten, und vor allem wird sie durch die Pseudometamerie gestützt, welche bei manchen Formen in der Anordnung der beiden genannten Organsysteme, in dem Vorhandensein multipler, paarig angeordneter Darmdivertikel, in der bei den Nemertinen erkennbarenregelmäßigenWiederholungderGenitalfollikelzum Aus- druck kommt und vielleicht zur echten Metamerie der Anneliden hinüberleitete. Es ist nicht zu leugnen, daß der Übergang von Turbellarien zu den Anneliden auf diesem Wege vielleicht besser vermittelt erscheint als bei den Annahmen der Trochophoratheorie und daß diese ganze, hier nur flüchtig gekennzeichnete An- schauungsweise viel Bestechendes für sich hat. Sie erscheint uns aber noch in keiner Weise zwingend. Schwierigkeiten erwachsen der Turbellarientheorie aus der Herbeiziehung der Nemertinen, deren systematische Stellung derzeit noch durchaus ungeklärt ist. Läßt man die Nemertinen aus dem ganzen Kreise dieser Betrachtungen fort, so verbleibt zwischen den Turbellarien und den An- neliden eine ziemliche Lücke; zieht man sie herbei, so erwachsen aus dem Vor- kommen eines Blutgefäßsystems bei den Nemertinen für diese Theorie gewisse Einwände, die nicht leicht zu beheben sind, auf die wir aber hier nur andeutend, nicht ausführlich eingehen. Demgegenüber erscheint die Trochophoratheorie vielleicht etwas besser ge- Die Trocho- stützt. Diese Theorie, von Hatschek durch eingehende Untersuchungen be- raus gründet und nach allen Richtungen durchdacht, wird von einer ganzen Anzahl von Forschern, unter denen wir Bütschli, Semper, Balfour, Kleinenberg, Haeckelund Eisig nennen, als Grundlage ihrer Vorstellungen von dem gene- tischen Zusammenhang der verschiedensten Stämme der Metazoen angenom- men. Sie gründet sich auf die Vorstellung, daß eine weitverbreitete, wohlcharak- terisierte, als Trochophora (Fig. 17) benannte Larvenform das Abbild einer hy- pothetischen Stammform der Bilaterien wiedergebe und daß in der Scoleciden- gruppe der Rotatorien Formen vorliegen, welche im ausgebildeten, geschlechts- reifen Zustande das Bild dieser Stammform bewahrt haben. Lang hat versucht, der Trochophoratheorie dadurch ihr Hauptargument zu entziehen, daß er in den Rotatorien nur neotänisch zur Geschlechtsreife gelangte Larvenformen er- kennen wollte. Für Lang sind alle trochophoraähnlichen Larven sowie auch die unter den gleichen Gesichtspunkten zu betrachtenden Rotatorien nur An- Die Cormen- theorie. 478 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen passungsformen an die pelagische Lebensweise. Im Wimperapparat der Rota- torien liege ein entschiedener Larvencharakter vor, ein sekundär erworbenes Merkmal adaptiver Natur. Die Frage nach der Auffassung und Stellung der Rotatorien ist derzeit schwer zu entscheiden. Strenggenommen sind wir nur dann berechtigt eine Gruppe für neotänisch, für geschlechtsreife Larvenformen zu erklären, wenn einzelne Glieder derselben, wie dies bei dem Molche Amblystoma der Fall ist, unter Umständen ihre Metamorphose zu höheren Entwicklungszu- ständenvollziehen. Wenn es auch zuzugeben ist, daß Dinophilus undOphryotrocha wahrscheinlich unter diesem Gesichtspunkte zu betrachten sind, so sind wir doch nicht berechtigt, diese Betrachtungsweise auf die Rotatorien auszudeh- nen. Dieser Ausweg könnte als zulässig erscheinen, wenn die Rotatorien eine Gruppe darstellten, die im System isoliert dasteht. Es ist aber darauf hinzu- weisen, daß die Rädertierchen durch vermittelnde Formen (Gastrotrichen, Echinoderen, Desmoscoleciden) an die Nematoden angeschlossen erscheinen, und man wird sich wohl kaum dazu entschließen können, diesen ganzen Ver- wandtschaftskreis auf dem Wege der Neotänie aus trochophoraähnlichen Lar venformen hervorgegangen zu betrachten. Eine Reihe von Einwänden gegen die Trochophoratheorie, welche Lang in durchdachter Weise entwickelt hat, erwachsen ihr aus der Verquickung mit der Cormentheorie. Die letztere bezieht sich auf die Entstehung des geglieder- ten Wurmrumpfes aus der Trochophoralarve. Sie faßt diese Entstehung als einen fortgesetzten Knospungsprozeß auf (vgl. Fig. 18) und betrachtet die ein- zelnen Körperglieder (Metameren) des Annelids als unvollständig gesonderte Individuen. Der ganze gegliederte Körper wird dann als ein Tierstock (Cormus) von linear aufgereihten Individuen gedeutet. In der Tat, wenn man die be- treffenden Entwicklungsstadien des vieluntersuchten Polygordius betrachtet, so gewinnt man den Eindruck, daß der gegliederte Wurmrumpf nach Art einer Knospe aus dem Larvenkörper hervorwächst. Indessen krankt diese ganze Auf- fassungsweise an gewissen Schwierigkeiten, die in ganz ähnlicher Weise bei der Betrachtung des gegliederten Bandwurmkörpers (der sog. Bandwurmstrobila) wiederkehren. Wir empfinden die Unmöglichkeit, den Individualitätsbegriff in irgendeiner Weise scharf zu definieren und Kennzeichen anzugeben, durch welche ein unvollkommen gesondertes Individuum von einer beliebigen Organgruppe unterschieden werden kann. Aus dieser Ursache und weil der gegliederte, aus Segmenten bestehende Rumpf in der Mitte des Larvenkörpers zwischen dem pri- mären Kopfabschnitt und dem Endstück (Telson oder Pygidium) eingeschaltet wird, wobei die neu auftretenden Segmente nicht die Organisation der genannten Primärstücke aufweisen, sondern von dieser erheblich abweichen, hat man sich neuerdings vielfach von der Cormentheorie abgewandt und nach anderen Er- klärungsversuchen für das Auftreten metamerer Segmentierung umgeschen, auf die wir unten in einem besonderen Kapitel zurückkommen. Es wurde aber von Eisig mit Recht darauf hingewiesen, daß die Cormentheorie kein integrierender Bestandteil der Trochophoratheorie sei. Man kann an dem Grundgedanken der Trochophoralehre festhaltend in trochophoraähnlichen Wesen, in gewissen Ro- Die Trochophoratheorie 479 tatorienformen Erinnerungen an die Stammform der Anneliden erblicken, und trotzdem an der 1890 von uns angedeuteten und von Ed. Meyer eingehend be- gründeten Auffassung festhalten, daß die metamere Segmentierung des Rump- fes durch Längsstreckung und durch eine die Rumpforgane in ihrer Lage be- einflussende Änderung in der Bewegungsweise, durch eine Ausbildung starrer Körperzonen, die durch Regionen größerer Beweglichkeit getrennt sind, zu er- klären sei. Es ist nur vielleicht zuzugeben, daß diese Entstehungsform geglie- derter Würmer aus unsegmentierten Vorfahren bei der Annahme der Turbel- larien-Nemertinen-Theorie besser durch Zwischenformen belegt zu sein scheint, als bei der Trochophoratheorie. Indessen werden wir bei der Lückenhaftigkeit unserer Kenntnisse, bei der Möglichkeit des Verschwindens vermittelnder Zwischenformen auf diesen Punkt vielleicht kein allzu großes Gewicht legen dürfen. Eisig macht mit Recht darauf aufmerksam, daß das weitverbreitete Vor- kommen der Trochophora oder ihr ähnlicher Larvenformen in den verschieden- sten Stämmen der tierischen Reihe zu den wesentlichsten Stützen der Trocho- phoratheorie zählt. Wenn wir in den Merkmalen dieses Entwicklungszustandes nur adaptive Anpassungscharaktere an die pelagische Lebensweise erblicken, so ist nicht zu verstehen, wie sie mit solcher Konstanz in den verschiedensten Stämmen des Metazoenreiches wiederkehren können. Vielleicht wird man zur Stützung der Trochophoratheorie auch die Ergebnisse der neueren Cell-Lineage- Forschung heranziehen dürfen, welche gerade in der Entwicklungsweise der Trochophoralarven die deutlichsten Hinweise auf das Vorhandensein cteno- phorenähnlicher Stammformen enthüllt hat. Im ganzen können nach unserem Ermessen die Annahmen der Trocho- phoratheorie als wohlbegründete gelten. Wir werden in diesem Falle die Tur- bellarien als einen frühzeitig selbständig gewordenen Zweig dieser Reihe zu be- trachten haben. Diese Formen finden ihren Anschluß an das von Hatschek als Vorstufe der Trochophora gekennzeichnete, afterlose Stadium der Protro- chula. Auf die ungemein zweifelhafte Stellung der Schnurwürmer (Nemertinen) einzugehen, liegt uns ferne. Gewisse Merkmale in der Entwicklung des jungen im Pilidium sich ausbildenden Wurmes deuten vielleicht darauf hin, daß den Nemertinen ein echtes, im ausgebildeten Zustande verschwindendes Cölom zu- kommt. Die typische als Trochophora bezeichnete Larvenform der Anneliden Schilderung der (Fig. 17) hat eiförmige Gestalt. Die Längsachse des Körpers wird zur späteren "Prem Längsachse des Annelids. Wir können sonach an der Trochophora bereits einen vorderen und einen hinteren Körperpol unterscheiden. Der vordere ist durch die als Anlage des Gehirns (Oberschlundganglions) zu deutende, vielfach mit einem Wimperschopf versehene Scheitelplatte (sp) gekennzeichnet, während der After (an) den hinteren Pol einnimmt. Durch einen queren Wimperreifen (präoraler Wimperkranz oder Prototroch ft) wird der Körper in eine vordere Episphäre und eine hintere Hyposphäre geteilt. Das Wesen ist bilateralsymmetrisch. Der hinter dem Prototroch gelegene Mund () kennzeichnet die Ventralseite. Der 480 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Darm gliedert sich in Stomodaeum (st), Mesenteron (ms) und Proctodaeum (pr), von denen nur das Mesenteron (Mitteldarm) aus dem Urdarm der Gastrula- larve entsteht, während Vorderdarm und Enddarm sekundär hinzugebildete ektodermale Abschnitte sind. Der Mitteldarm zerfällt in einen vorderen er- aA Fig. 17. Schematische Abbildung der Trochophora- 7 larve eines Annelids. A von links gesehen, 3 von der Bauchseite, C vom Scheitel. «—a’ Haupt- achse, ar After, d dorsal, Z/ links, »2 Mund, ms Mitteldarm (Mesenteron), 2? post- BD oraler Wimperkranz (Metatroch), nt bewimperte Bauchfurche (sog, Neurotrochoid), #7 Enddarm (Proctodaeum), //praeora- ler Wimperkranz (Pro- totroch), ” rechts, d sd Scheitelplatte, s? Vorderdarm ji (Stomodaeum), | x 7 ZITISIIOIIE v ventrale Seite. TZDLTANEDSSSIIUUN N S Su 007 Z > ISIN WILTTIPRCLOITE. 007 a = es SÄrın N* N \ N N w —_ # L222 5 ' U 72:2 77-7 77 weiterten Magen- abschnitt und in ein verengtes In- testinum, welches in den Enddarm über- geht. Außer dem Proto- troch finden wir noch einen Nicht selten wird der After hinter dem Munde den Körper | von einem als Paratroch be- umziehenden Wimperreifen (post- 7 hannten Wimperreifen umzogen. oraler Wimperkranz oder Meta- Das Mesoderm der Trochophora besteht zunächst wie bei den Ctenophoren aus einem den Raum zwischen Haut und Darmwand (die primäre Leibeshöhle) erfüllenden Mesenchym von ektodermaler Herkunft. Außerdem finden wir die Anlagen des Cöloms (der sekundären Leibeshöhle) in paarigen von Urmesoderm- zellen teloblastisch gebildeten Mesodermstreifen vor. Der Exkretionsapparat ist durch ein Paaran der Ventralseite mündender, nach innen blind geschlossener be- wimperter Kanälchen vertreten (Urniere, Protonephridium, Fig. 18KN). Ausder Trochophora (Fig. I8A) selbst geht eigentlich nur der vorderste oder Kopfab- schnitt und der als Telson bezeichnete, aftertragende Endabschnitt des ausge- bildeten Ringelwurmes hervor, welche in ihrem Bau von der Trochophora stam- mende Scolecidencharaktere bewahren, während der gegliederte Rumpfabschnitt von einer vor dem Telson gelegenen queren Wucherungs- oder Wachstumszone troch mt), welcher ineinevomMunde 745 zum After ziehen- de ventrale Flim- merrinne (Neurotro- choid nt) übergeht. Bau der Trochophora 481 hinzugebildet wird (vgl. Fig. ISA—C). Das Entstehen und Auswachsen dieses Rumpfabschnittes ist nicht auf gleichmäßige, interstitielle Zellvermehrung zu- rückzuführen. Die hier in Frage kommenden Wachstumsprozesse haben ter- minalen oder teloblastischen Charakter. Sie erfolgen durch fortgesetzten Zell- nachschubvonderschonerwähnten, demhinteren Körperendegenäherten Wuche- rungszone aus. Es handelt sich sonach beidem Auswachsen der Rumpfre- gion nicht um indieserRegion Pon gleichmäßig erteilte ‚Zell- vermehrung, sondern um A eine besondere ihrem hinteren Ende (der er- wähnten Wu- cherungszone) innewohnende Wachstums- energie. Diese teloblastische Wachstums- form kommt vielleichtschon den Nemerti- Den. zu. Sie ist für alle Formen Fig. 18. Larvenstadien von Polygordius. A Trochophorastadium, Sö Scheitelplatte mit miıt metamerer Augenfleck, rw praeoraler Wimperkranz, O Mund, Pow postoraler Wimperkranz, 4 After, ! Ms Mesodermstreifen, XN Kopfniere (Protonephridium). — 3 Späteres Stadium sog. Körpergliede- wMetatrochophora. — C Älteres Stadium mit wurmförmig gestrecktem und gegliedertem _ Rumpf. #4%% hinterer Wimperkranz, Af Augenfleck, 7 Fühler. Nach HATSCHEK aus zEunS charakte GROBBENS Lehrbuch. ristisch. An dem Auswachsen der Rumpfregion sind die beiden Mesodermstreifen (Fig. 19) in hervorragender Weise beteiligt; sie liefern das typische Organ der Rumpfsegmente: die paarigen Cölomsäcke (Anlage der sekundären Leibes- höhle). In der Entstehung der Mesodermstreifen tritt die teloblastische Wachstumsform besonders klar zutage. Wir finden an ihrem hinteren Ende zwei große, paarige Urmesodermzellen (Polzellen der Mesodermstreifen ms), von denen durch fortgesetzte Zellknospung die Zellen der Mesodermstreifen gebildet werden. Während diese Streifen auf dem geschilderten Wege in die Länge auswachsen, gliedern sie sich durch quere Abtrennung in eine Anzahl Or RR Er rprdrerererarPEE BEHEESEEE nA N; ; N D RN RN N NN Ms - K.d.G.IILıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 31 482 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen hintereinander gelegener Zellkomplexe, in denen wir die mesodermalen Urseg- mente des Annelids erkennen. Durch das Auftreten eines Hohlraums in diesen Zellkomplexen und durch epithelartige Gruppierung ihrer Zellen in den Wän- den dieser Hohlräume werden die Ursegmente zu den Anlagen der Cölomsäcke (der sekundären Leibeshöhlenabschnitte) umgebildet. Wir haben im 2. Bande dieses Werkes auf S. 239ff. eingehender dargestellt, in welcher Weise diese u HTTTHNN gg, 4, u T SIIANIIIKI arererrerekeen 7 RERFRFELLLILLLISITII did Fig. 19. Entwicklung der Mesodermstreifen und Abgliederung der Coelomsäcke in einer Annelidentrochophora Vgl. Fig. 183. A Ansicht von der Ventralseite, 3 Querschnitt in der Höhe der Linie a—d in Fig. A. c Coelom- säckchen, » Mund, 25 Urmesodermzellen (sog. Polzellen der Mesodermstreifen), 22 postoraler Wimperkranz (Metatroch), »7 ventrale Wimperfurche (Neurotrochoid), 5# praeoraler Wimperkranz (Prototroch), sZ Scheitelplatte, en Entoderm, Z primäre Leibeshöhle, u querdurchschnittene Nervenwülste (Anlage der Bauchganglienkette). Cölomsäcke, den Darm des Wurmes seitlich umwachsend und durch Berührung mesenterienbildend, in das Leibeshöhlensystem des ausgebildeten Annelids übergeführt werden. VIII. Theorie des Mesoderms. Die Bilaterien sind den Cölenteraten gegenüber durch die höhere Ausbil- dung einer mittleren Körperschicht (des Mesoderms) gekennzeichnet, welche, gewissen Funktionen (Bildung der Muskulatur, der Geschlechtsorgane, des Blutgefäßsystems, der Exkretionsorgane und des Stützgewebes) gewidmet, die beiden primären Keimblätter wesentlich entlastet. Nach Abspaltung des Meso- derms verbleibt dem inneren Keimblatt (Entoderm) die Aufgabe, den Mittel- darm mit seinen drüsigen Anhangsorganen zu bilden, während das äußere Keim- blatt (Ektoderm) die oberflächlichste Hautschicht (Epidermis), das Nerven- system und die wesentlichsten Teile der Sinnesapparate, sowie die als Stomo- daeum und Proctodaeum bezeichneten Darmausgänge produziert. Die Frage nach dem Ursprung des Mesoderms hat die Forschertätigkeit der mit entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen beschäftigten Biologen seit langem in Anspruch genommen. Was wir als mittleres Keimblatt der Metazoen bezeichnen, ist kein einheitlicher Begriff im Sinne gemeinsamer genetischer Ab- Entwicklung der Mesodermstreifen. Mesenchym 483 stammung. Es entsteht in den verschiedenen Stämmen des Tierreichs auf ver- Mesenchym. schiedene Weise und tritt uns in verschiedenen Gestalten entgegen. Es ist ein besonderes Verdienst der Brüder Hertwig, in ihrer grundlegenden ‚Cölom- theorie‘ schärfer als dies bisher geschehen war, die Auseinanderhaltung zweier Erscheinungsformen des mittleren Keimblattes, die wir als Mesenchym und als Cölomanlage bezeichnen, betont zu haben. Das Mesenchym ist eine Gewebs- schicht bindegewebiger Art, welche in der primären Leibeshöhle, in dem zwi- schen Körperepithel und primärer Darmwand sich ausdehnenden Rest der Fur- chungshöhle (des Blastocöls), durch amöboide Einwanderung vereinzelter Zellen zur Ausbildung kommt. Es ist ein Füllgewebe. Ohne ihm zukommende eigene Gestalt erfüllt es alle Zwischenräume zwischen den Organen des sich höher dif- ferenzierenden Körpers der Bilaterien, die es zu verbinden und zu stützen be- rufen ist. Höhere Formen histologischer Differenzierung gewinnend, liefert es die verschiedenen Arten von Stützsubstanzen und mesenchymatisch erzeugte Muskulatur. Flüssigkeitserfüllte Lücken im Mesenchym (Schizocöl) können als erste Vorstufen des Blutgefäßsystems betrachtet werden. Im Cölom tritt uns ein mesodermales Produkt von bestimmter Gestalt ent- Cölom. gegen. Es ist gewissermaßen ein selbständiges Organgebilde, zu höherer Dif- ferenzierung befähigt. In der Form paariger Säcke erscheinend zeigt es seine Zellen epithelartig (als Cölothel) zum Aufbau seiner Wandungen verwendet. Es steht bei jenen Bilaterien, welche sich über die Entwicklungsstufe der Sco- leciden erheben, vielfach in inniger Beziehung zur Ausbildung der Stammes- muskulatur und der Geschlechtsorgane. In vielen Stämmen des Tierreiches ver- liert das Cölom die ihm ursprünglich zukommende Gestalt und scharfe Begren- zung. Es kann durch Lockerung seines Zellgefüges mesenchymatisch umgebil- det werden. Derartiges Mesenchym würden wir als sekundäres Mesenchym zu bezeichnen haben. Als ein solches ist beispielsweise die parenchymatöse Innen- masse der Turbellarien zu betrachten, bei denen sich nur die Gonadensäcke als Cölomrest erhalten haben. Ihm hätten wir als primäres Mesenchym jene mittlere Körperschicht gegen- überzustellen, welche in den ersten auf das Gastrulastadium folgenden Stufen der Ontogenese von einem der beiden primären Keimblätter (Ektoderm oder Entoderm) durch amöboide Zellauswanderung gebildet wird. Das primäre Mesenchym kann ektodermalen Ursprungs sein. Es wird dann als Ektomeso- derm oder bei den Larvenformen vom Trochophoratypus als larvaler Mesoblast bezeichnet und gehört zur embryologischen Charakteristik der Protostomia. Schon in der Sippe der Korallentiere (der Anthozoen) als mächtige Bindege- websschicht erscheinend und im Körper der Rippenquallen zu hoher histologi- scher Vollendung gelangend, spielt es in der Entwicklung der Larvenformen der Protostomia die Rolle eines von ihren Cölenteratenahnen übernommenen Überrestes von mehr untergeordneter, provisorischer Bedeutung. Es ist eine beachtenswerte Tatsache, daß im ganzen Kreise der Deutero- stomia ein Ektomesoderm, ein larvaler Mesoblast ektodermalen Ursprungs, durchweg zu fehlen scheint. Sporadische Angaben, daß in der Entwicklung der 31° Die Enterocöl- theorie. Die Gonocöl- theorie. 484 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Echinodermen auch das Ektoderm an der Produktion von Mesenchymzellen be- teiligt sei, scheinen wenig sichergestellt. Wir wissen mit Sicherheit, daß der orößte Teil und wahrscheinlich alles primäre Mesenchym in der Tornaria und den Echinodermenlarven durch Auswanderung vom Urdarm oder von den Cö- lomwänden gebildet wird. Wir begegnen hier einem primären Mesenchym ento- dermalen Ursprungs. Tritt uns sonach jener Komplex, den wir in den verschiedenen Stämmen der Bilaterien mit dem Namen Mesenchym belegen, als ein Sammelbegriff für Bildungen verschiedener Herkunft entgegen: als ein Ektomesoderm bei den Ctenophoren und den Larven der Protostomia, als entodermales Mesenchym der Larven der Deuterostomia und als sekundäres, durch Auflösung der Cölom- anlage entstandenes Mesenchym (als ein Mesenchym mesodermalen Ursprungs) in der späteren Entwicklung zahlreicher Bilaterien verschiedener Stämme, so besonders bei den Mollusken, so werden wir bei der Betrachtung der Entste- hungsweise der Cölomanlage erst recht eigentlich in den Kreis der das Meso- derm betreffenden Fragen eingeführt. Die Cölomanlage gilt gegenüber dem Mesenchym, das man in theoretischen Betrachtungen häufig mehr oder weniger vernachlässigt hat, als eigentliches Mesoderm, als Mesoderm im engeren Sinne des Wortes. Die Vorstellungen, welche von verschiedenen Forschern bezüglich der Her- leitung dieses embryonalen Primärorgans entworfen wurden, gehen nach drei verschiedenen Richtungen, welche in der Aufstellung der Enterocöltheorie, der Gonocöltheorie und der Nephrocöltheorie ihren Ausdruck finden. Sie seien hier in kurzem gekennzeichnet. Die Enterocöltheorie betrachtet die paarigen Cölomsäcke der Bila- terien als selbständig gewordene Urdarmdivertikel. Sie knüpft an die Verhält- nisse der Cölenteraten an, deren Urdarm vielfach Hohlauswüchse in die peri- pherischen Leibesteile entsendend ein Gastrovascularsystem entwickelt. Der Umstand, daß derartige periphere Magentaschen im Kreise der Entocarpen die Keimesprodukte bergen, würde dann die bei den Bilaterien zu beobachtende Entstehung der Gonaden in der Cölomwand als eine uralte, vererbte Beziehung erkennen lassen. Die Enterocöltheorie wird durch die Entstehungsweise des Cöloms im ganzen Kreise der Deuterostomia auf das beste gestützt. Weniger leicht gliedern sich die Verhältnisse der Entstehung des Mesoderms, wie wir sie an den Embryonen der Protostomia beobachten, dieser Vorstellungsweise ein. Hier sehen wir meist zwei Urmesodermzellen entstehen, welche durch telo- blastische Vorgänge der Zellknospung zunächst zwei solide Mesodermstreifen produzieren. Wenn wir die Vorstellungen der Enterocöltheorie auf diese Fälle anwenden wollen, so sehen wir uns genötigt, die paarigen Mesodermstreifen als anfänglich solide Urdarmdivertikel zu erfassen. Ihre Entstehungsweise aus Ur- mesodermzellen in dem wenigzelligen Keim der Protostomia wird durch vor- zeitige Sonderung (precocious segregation) erklärt. Gerade an diesen letzteren Modus der Mesodermbildung knüpfen die Vor- stellungen der Gonocöltheorie an. Die Vertreter dieser Lehre erblicken in Theorien zur phylogenetischen Herleitung des Cöloms 485 den beiden Urmesodermzellen zunächst Urgenitalzellen. Für sie sind die Meso- dermstreifen anfänglich paarige Gonaden, deren Zellen ursprünglich wohl alle die Bedeutung von Keimzellen hatten, während später nur ein Teil von ihnen dieser Funktion getreu blieb, indes die übrigen — einen Genitalfollikel bildend — sich histologisch weiter differenzierten und andere Funktionen übernahmen. Was wir bei den Bilaterien als sekundäre Leibeshöhle bezeichnen, ist zunächst nichts weiter als ein vergrößertes sackförmiges Geschlechtsorgan, dessen Wände zum Teil nach verschiedenen Richtungen in Anspruch genommen wurden. Mit Urdarmdivertikeln hat das Cölom nach den Vorstellungen dieser Theorie seinem Ursprunge nach nichts zu tun. Die innige Beziehung, welche im Kreise der Mollusken zwischen der Cölom- Die Nephrocöl- anlage und der Anlage der hier häufig sackförmig erweiterten definitiven Niere zz besteht, sowie die Beobachtung, daß vielfach dem Cölomepithel exkretorische Funktion zukommt, hat zur Aufstellung der Nephrocöltheorie geführt. Nach dieser Anschauungsweise hätten wir das Cölom der Bilaterien von er- weiterten Nierenkanälchen, etwa den Hauptstämmen des Exkretionssystems der Scoleciden vergleichbar, herzuleiten. Diese letztere Annahme scheint im allgemeinen durch entwicklungsgeschichtliche Tatsachen am wenigsten ge- stützt und wir glauben sie in unseren folgenden Betrachtungen vernachlässigen zu dürfen. Die Frage, ob es möglich sei, zwischen den Annahmen der Enterocöltheorie und der Gonocöltheorie eine Entscheidung in dem Sinne zu treffen, daß wir uns der einen oder der anderen von beiden als ausschließlicher Erklärung der Vor- gänge der Mesodermbildung zuwenden, hängt natürlich auf das innigste mit der Frage nach der Einheitlichkeit des Bilaterienstammes im allgemeinen zu- sammen. Theoretiker, welche den Bilaterien einen diphyletischen Ursprung zu- schreiben, werden vielleicht geneigt sein, dem Mesoderm der beiden von ihnen auseinandergehaltenen Stämme eine verschiedene Herkunft zuzuschreiben. Wir haben oben die Gründe angegeben, welche uns zu der Vermutung berechtigen, eine einheitliche Wurzel des Bilaterienstammes anzunehmen. Es ist nicht zu leugnen, daß die Ausführungen der Gonocöltheorie viel Be- stechendes für sich haben. Man könnte z. B. zu ihren Gunsten die merkwürdi- gen und nicht genügend beachteten Feststellungen heranziehen, welche Willey bezüglich der Geschlechtsorgane von Ctenoplana machen konnte. Bei dieser eigenartigen Ctenophore fand Willey die männlichen Keimesprodukte dem Entoderm anliegend, aber mit besonderer follikularer Hülle umgeben und durch selbständige Cölomodukte sich nach außen entleerend. Wir wissen dieses Ver- halten, von dem übrigens der Weg zum Cölom der höheren Formen noch ein weiter ist, derzeit nicht zu deuten. Die Annahmen der Enterocöltheorie sind für die ganze formenreiche Gruppe der Deuterostomia durchaus zutreffend. Wir sehen hier die Cölomsäcke nach Art eines Gastrovascularsystems als Urdarmdivertikel entstehen. Diese Bildungsweise erkennen wir an den Embryonen der Chaetognathen (Sagiita), wir finden sie bei den Enteropneusten, den Echinodermen und bei Amphioxus. 486 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Die Entwicklung des Mesoderms der Vertebraten ist, wie O, Hertwig zuerst an den Embryonen von Triton nachgewiesen hat, auf diesen Bildungsmodus zurückzuführen. Die embryologischen Tatsachen in dieser ganzen Reihe von Formen sprechen durchaus zugunsten der Enterocöltheorie. Man wird wohl kaum der Vorstellung Raum geben können, daß hier ein cänogenetisch ver- änderter Bildungsmodus, eine sekundär abgeänderte Bildungsweise des Meso- derms vorliegt. Wir beachten, daß die Deuterostomia weit an die gemeinsame Wurzel des Bilaterienstammes hinabreichen, daß sie in der Larvenform der Tornaria einen nahen Anschluß an ctenophorenähnliche Urwesen erkennen lassen. DieUrmesoderm- Alles hängt davon ab, ob es möglich ist, die zweite Art der Mesodermbil- ‚en 28 “om dung, die Entstehung von Mesodermstreifen aus paarigen Urmesodermzellen, stammend. als Enterocölbildung zu begreifen. Die beiden Urmesodermzellen gehören ur- sprünglich dem Blastoporusrande an. Sie liegen an der Stelle, an welcher die beiden primären Keimblätter ineinander übergehen. Man hat es lange als zwei- felhaft betrachtet, ob sie mit größerer Berechtigung dem Ektoderm oder dem Entoderm des Keimes zuzurechnen seien, und noch vor kurzem hat ein hoch- angesehener Theoretiker in seinen neueren systematischen Versuchen dem Meso- derm der Protostomia ektodermalen Ursprung zuerkannt. Wenn man die Frage dadurch eliminiert, daß man die Urkeimzellen aus dem ganzen Gefüge der Keimblätter ausgeschaltet als eine Bildung sui generis betrachtet, so kann doch diese Anschauungsweise auf die beiden Urmesodermzellen der Protosto- mia keine Anwendung finden. Sie sind nicht einfach als Urkeimzellen zu be- trachten. Sie sind Zellen der sog. „Keimbahn‘‘, aber wir wissen, daß der Weg der Keimbahn vielfach über ein bestimmtes Keimblatt führt, und wir werden sofort gewisse neuere Ergebnisse embryologischerForschung namhaft zu machen haben, welche dartun, daß den Urmesodermzellen streng somatische ‚Gene‘ von ganz bestimmter Bedeutung beigemengt sind. Wir sehen jetzt bezüglich der Frage nach der Herkunft der Urmesoderm- zellen der Protostomia viel klarer, als noch vor wenigen Jahren. Die überein- stimmenden Bemühungen verschiedener Forscher auf dem Gebiete der Cell- Lineage-Untersuchungen haben dargetan, daß die beiden Urmesodermzellen durch Teilung aus einer Zelle hervorgehen, welche wir als die Zelle 4d bezeich- nen. Sie gehört dem vierten Zellquartette an, welches in seinen drei übrigen Gliedern Entomeren, d.h. Zellen der Urdarmanlage enthält. Ja noch mehr: man hat vielfach beobachtet, daß die beiden Urmesodermzellen, bevor sie sich zur Mesodermstreifenbildung anschicken, durch Zellknospung einige kleine Zellen (sog. Enteroblasten) produzieren, welche sich an dem Aufbau des Intestinums, des hinteren Abschnittes des Mesenterons, beteiligen. Diese Beobachtungen, die als sichergestellt gelten können, lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Urmesodermzellen der Protostomia dem inneren Keimblatte zuzurech- nen sind, dem sie sich auch in ihrem ganzen Habitus, in ihrer feineren Struktur nähern. Aus der Tatsache, daß die beiden Urmesodermzellen durch gewisse Ab- Beziehungen zwischen teloblastischer Mesodermbildung und Enterocölbildung 487 kömmlinge sich an dem Aufbau der Darmwand beteiligen, erwächst vielleicht eine Stütze für die Enterocöltheorie, für jene Auffassung, welche in den Mesodermstreifen der Protostomia ein umgewandeltes Urdarmdivertikel er- blickt. Sie läßt uns zum wenigsten die innige Beziehung erkennen, in der die Mesodermanlage dieser Formen zur Anlage des Darmkanals steht. Wir wer- den auf Grund dieser Beobachtungen vielleicht nicht mit Unrecht den Schluß ziehen dürfen, daß das Cölom sämtlicher Bilaterien in der Form paariger Urdarmdivertikel seinen Ursprung genommen hat (vgl. Fig. 16 dv). Es würden in diesem Falle die beiden Urmesodermzellen der Protostomia als Urdarmdiver- tikel zu betrachten sein, welche durch Verlegung der Sonderungsprozesse in früheste Stadien der Embryogenese zunächst nur durch je eine Zelle repräsen- tiert erscheinen. Derartige Prozesse der Sonderung stehen im Kreise der em- bryologischen Erscheinungen nicht ganz isoliert da. In manchen Fällen ist der Urdarm im Momente der Gastrulation nur durch verhältnismäßig wenige Ento- dermzellen vertreten. Es kommen z. B. dem Gastrulastadium der Euphausiden nach Taube nur zwei Entodermzellen zu. Im großen und ganzen verhält sich die Entwicklung solider Mesodermstreifen zur Ausbildung echter Enterocöl- säcke ungefähr so, wie der Modus polarer Einwucherung des Entoderms zur typischen Invaginationsgastrula. Bei allen diesen Überlegungen, bei dem Suchen nach dem primären Modus Mesodermbil- der Mesodermbildung im Kreise der Bilaterien spielt natürlich unsere Auffas- ae sung der mesodermalen Bildungen in der Gruppe der niederen Würmer (der Scoleciden) eine bedeutende Rolle. Ohne auf dieses wenig geklärte Gebiet näher einzugehen, sei uns gestattet, in der Form kurzer Feststellungen den derzeitigen Stand unseres Wissens zu kennzeichnen. Die Turbellarien zeigen in der Art der Entwicklung ihrer mittleren Körperschicht die nächsten Beziehungen zu den Anneliden. Wir wissen durch die Untersuchungen von F. M. Surface an der Polyclade Planocera inquilina, daß das ganze mesodermale Parenchym dieser Form durch Auflösung zweier Mesodermstreifen gebildet wird, welche ihrer- seits von paarigen Urmesodermzellen abstammen. Der larvale Mesoblast (das von den Ctenophoren übernommene Ektomesoderm) spielt im Aufbau dieser Form eine verschwindende Rolle. Er erhält sich vielleicht in gewissen meso- dermalen Bildungen (Bindegewebe und Muskulatur) des Pharynx. Seiner Ge- nese nach ist dieser larvale Mesoblast, wie bei den Anneliden und Mollusken auf vier Zellen des ektodermalen dritten Zellquartetts zurückzuführen. Die bei- den Urmesodermzellen entstammen, wie bei den Anneliden, der früher erwähn- ten Zelle 4d. Sie spalten auch hier vor Entwicklung der Mesodermstreifen einige kleine Enteroblasten ab, welche sich an dem Aufbau der Darmwand be- teiligen. Es ist leicht zu erkennen, daß diese Feststellungen, welche eine bis ins einzelne gehende Übereinstimmung mit den Bildungsvorgängen im Embryo der Anneliden erkennen lassen, für unsere ganze Auffassung des Turbellarienkörpers von einschneidender Bedeutung sind. Die Strudelwürmer erscheinen uns nun als Cölomaten, welche ähnlich wie die Mollusken das typische Gefüge ihrer Cölomanlage, zum größten Teil verloren haben. Das Körperparenchym der Tur- 488 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen bellarien ist ein sekundäres Mesenchym. Es wäre zu erwägen, ob ihnen nicht vielleicht auch der Enddarm und die Afteröffnung durch sekundäre Rückbil- dung in Verlust geraten sind, ob wir nicht überhaupt jene Merkmale, die uns an ihnen alsursprünglich anmuten, auf Rückbildungsvorgänge'zu beziehen haben. Den Turbellarien scheinen die inbezug auf die Genese des mittleren Keim- blattes weniger genau studierten Nemertinen nach dieser Hinsicht nahezu- stehen. Was wir bei den Nematoden als Mesodermstreifen bezeichnen, ent- stammt nach H. Müller einer dreifachen Quelle (den Zellen m und u, der Zelle D und den sog. Bauchzellen). Es ist nicht leicht, die Furchungsbilder der Nema- toden auf die der Anneliden zu beziehen. Es scheint aber, als wenn in dem ganzen Mesoderm der Nematoden ein larvaler Mesoblast, ein ektodermales Meso- derm vorläge. Dann würden wir in der Sackgonade dieser Formen das Homo- logon der Cölomanlage zu erblicken haben. Noch weniger sind die Mesoderm- bildungsvorgänge der Rotatorien geklärt. Hier entstammen die Myoblasten, welche die Körpermuskulatur liefern, dem Ektoderm (Zelinka). Sie sind so- nach, wie auch vielleicht die Protonephridien (die Exkretionsorgane dieser For- men) dem larvalen, ektodermalen Mesoblast zuzurechnen. Dagegen soll die Gonade hier entodermalen Ursprungs sein. Wir sind vielleicht berechtigt, aus diesen spezielleren Feststellungen eine Bestätigung der Trochophoratheorie herauszulesen. Die Turbellarien ver- lieren durch die Annäherung, die sie an die Entwicklungsweise der Anneliden erkennen lassen, etwas von ihrem ursprünglichen Gepräge. Jene Forscher, welche die Turbellarien direkt von Ctenophoren herzuleiten versuchen, werden zu bedenken haben, daß das Körperparenchym der Strudelwürmer nicht als dem mesenchymatischen Gallertgewebe der Rippenquallen homolog er- achtet werden darf. IX. Ursprung der Metamerie. Der Bau meta- Was die Anneliden unter sämtlichen Würmern auszeichnet, ist die meta- mer gesbederter mere Segmentierung ihres Körpers (genauer gesprochen: ihres Rumpfabschnit- tes), welche gewöhnlich schon äußerlich als Ringelung der Oberfläche zu be- merken ist (Fig. 20). Eine genauere Untersuchung läßt erkennen, daß es sich hierbei nicht bloß um eine äußere Gliederung des Körpers handelt, sondern daß an ihr sämtliche innere Organe mehr oder weniger teilnehmen. Wir haben zwei voneinander unabhängige Erscheinungen zu unterscheiden: I. eine Ver- vielfältigung gewisser Organe oder Organgruppen, welche im gegliederten Körper paarweise, serial angeordnet aufeinanderfolgen. Hiervon werden vorzugsweise die Organe des Cölomkomplexes betroffen. In jedem Körper- segment findet sich ein Paar von Cölomsäcken eventuell mit Gonaden, ein Paar von Ausführungsgängen (Cölomodukten) und von Nephridien. Aber auch äußere Anhangsgebilde, wie die Parapodien (Fußstummel) der Ringelwürmer, zeigen die gleiche multiple Art der Wiederholung. 2. Jene Organe, welche den ganzen Wurmkörper kontinuierlich durchziehen, passen sich dem Gesetz seg- mentaler Anordnung insofern an, als an ihnen Strecken intensiverer plastischer Ausbildung mit verbindenden, an Differenzierung ärmeren Zwischenstrecken Über metamere Segmentierung im allgemeinen 489 abwechseln. So schwillt beispielsweise die Bauchganglienkette in jedem Rumpf- segment zu einem paarigen Ganglienknoten an, von welchem die peripheren Nerven des betreffenden Segmentes ausstrahlen, während die zwischen zwei aufeinander folgenden Ganglienpaaren verbindend eingeschal- teten Strecken des Bauchmarkstranges, die sogenannten Connec- tive, des Ganglienbelages und der Nervenwurzeln entbehren. Zu jenen kontinuierlichen Organgebilden, welche in dieser Weise an der segmentalen Gliederung partizipieren, rechnen wir die Haut und den Hautmuskelschlauch, das Nervensystem, das Blutgefäß- system und den Darmkanal. Wenn schon durch die vorstehende Überlegung der Ge- danke nahegelegt wird, daß in der metameren Wiederholung der Cölomsäcke, welche vielleicht im Sinne der Gonoeöltheorie (S. 484) ursprünglich den Wert von Gonadenbesitzen, der eigent- liche Ursprung der Körpergliederung zu suchen sei, so wird diese Auffassung durch die Erscheinungen der Ontogenese weiterhin gestützt. Das erste, was wir von segmentaler Anordnung am Embryo gegliederter Formen erkennen, ist das seriale Auftreten der Cölomsäcke, im speziellen Fall der Anneliden: die Gliede- rung der beiden Mesodermstreifen in hintereinander folgende paarige Abschnitte (Fig. 19). Erst sekundär passen sich die kontinuierlichen Organanlagen (Darm, Nervensystem usw.) dem metameren Typus an. Das Auftreten neuer Körpersegmente erfolgt bei den Anne- liden nach einem opisthoserialen Typus. Von einer am hinteren Körperende gelegenen Knospungs- oder Wucherungszone werden stets neue Körpersegmente zu den schon vorhandenen hinzuge- bildet. Eswirdsonach das vorderste Rumpfmetamer das älteste, das in der Reihe am weitesten nach hinten gelegene das jüngste sein (Gesetz von Milne-Edwards, vgl. S. 482). Metamere Anordnungoder Segmentierung istindertierischen Reihe ungemein verbreitet. Wir finden sie bei den Anneliden, bei den Arthropoden und bei sämtlichen Vertebraten. Während die Körpergliederung der Arthropoden sich äußerlich dokumentiert, ist die Segmentierung des Vertebratenkörpers eineinnere, an der Körperoberfläche wenig bemerkbare. Es hängt dies mit der ver- schiedenen Art der Ausbildung des Skelettsystems in beidenGrup- Fig. 20. Abbildung des jungen Poly- gordius. G Gehirn, Wg Wimpergrube. F Tentakell, O Mund, D Darm, A After. Nach Har- SCHEK aus GROB- BENS Lehrbuch. pen zusammen. Schließlich ist zu bemerken, daß wir die Teilung des Bandwurm- körpers in besondere Abschnitte (Proglottiden) auch unter dem Gesichtspunkte der Metamerie zu betrachten haben, und daßan den Armen der Echinodermen eine regelmäßige Wiederholung von Organen zu bemerken ist, welche wir der Me- tamerie im weiteren Sinne zurechnen können. Metamerie ist sonach kein Merk- mal monophyletischen Ursprungs. Sie kann in den verschiedensten Stämmen des Tierreichesund vielleicht auf verschiedener Grundlage, aus differenten Ursachen, Vorkommen der Metamerie. Multiples Auf- treten der Or- gane. 490 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen erworben worden sein. Es ist z. B. nicht ausgeschlossen, daß essich bei der Band- wurmstrobila tatsächlich im Sinne der Cormentheorie um einen unvollständig durchgeführten Querteilungsprozeß, um eine Art von ungeschlechtlicher Ver- mehrung handelt, während wir vielleicht für die Anneliden uns einer anderen Er- klärungsweise zuwenden dürfen. Unter der Annahme, daß Metamerie in verschie- denen Stämmen des Tierreichs selbständig erworben sein kann, verlieren alle jene Argumente ihren Wert, welche man aus der Metamerie des Wirbeltierkörpers zugunsten einer Ableitung dieser Formen von Anneliden entnommen hat. Wir wollen hier nicht das ganze umfangreiche Gebiet des Auftretens der Metamerie in den verschiedensten Stämmen des Tierreiches behandeln. Es wird ge- nügen, wenn wir unsere Betrachtungen auf die Anneliden beschränken. Es wird nicht schwer sein, die hier sich ergebenden Gesichtspunkte entsprechend auf andere Formen anzuwenden. Alles in allem genommen handelt es sich bei der Metamerie um das multiple Auftreten gewisser Organe in serialer Anord- nung. Die Vervielfältigung gleichwertiger Teile gehört zu den unerklärten Ge- heimnissen der Natur. Wir sind nicht erstaunt, Bildungen wie Haare oder Federn in großer Zahl auftreten zu sehen. Das scheint uns zu den all- gemeinen Fähigkeiten des Hautsystems der betreffenden Gruppe zu gehören. Rätselhafter ist die Vervielfältigung bestimmt gelagerter Organbildungen. Wir können als festgestellt betrachten, daß den Echinodermen ursprünglich nur ein Steinkanal resp. ein Hydroporus in einem bestimmten Interradius ge- legen zukam. Bei Rhizocrinus finden wir fünf Steinkanäle mit entsprechenden Kelchporen in allen fünf Interradien, bei Bathycrinus steigt ihre Gesamtzahl auf 15 (drei in jedem Interradius), während bei Antedon die Zahl der Steinkanäle und in noch höherem Maße die der Kelchporen durch weitere Vervielfältigung bedeutend vermehrt wird. Übrigens kann auch die Pentamerie der Echino- dermen im allgemeinen als ein hierher zu ziehendes Beispiel betrachtet werden. Die Ergebnisse der Paläontologie berechtigen uns zur Annahme, daß den ur- sprünglichsten Echinodermen — ähnlich wie der Gattung Rhabdopleura — zu- nächst nur zwei Arme zukamen; später gesellte sich ein dritter unpaarer hin- zu, während die Fünfzahl durch dichotomische Spaltung der paarigen Arme erzielt wurde. Welcher geheimnisvolle Bildungstrieb ist hier am Werke? Welche Kräfte bedingen die Vervielfältigung des Gleichartigen und seine regelmäßige Anordnung? Wir sehen uns auf das Auftreten überzähliger Zehen und Finger, auf die Verdoppelung des Eidechsenschwanzes bei Regenerationsprozessen und ähnliche Erscheinungen verwiesen. Während bei radiärsymmetrischen Formen die vervielfältigten Organe im Umkreise der Hauptachse angeordnet werden (Cyclomerie), erfahren sie bei segmentaler Gliederung des Körpers seriale An- reihung (Metamerie). Die Entstehung der Körpersegmente im Embryo geglie- derter Formen ist eine Erscheinung, die in gewisser Hinsicht an Prozesse der Regeneration und an die ihnen ungemein nahestehenden Vorgänge ungeschlecht- licher Fortpflanzung erinnert, und dieser Umstand hat die Auffassung der Metamerie lange und wesentlich beeinflußt. Die Versuche, das ursprüngliche Wesen der Metamerie aufzuklären, die Theorien der metameren Segmentierung. Die Cormentheorie 491 Faktoren nachzuweisen, welche bei ungegliederten Stammformen den Übergang zu segmentaler Organgruppierung vermittelten, sind mannigfaltige und haben den Geist zahlreicher Forscher beschäftigt. Wir heben von ihnen drei heraus, welche gegründeten Anspruch auf Berücksichtigung besitzen. Es sind dies: 1. die Cormentheorie (Gegenbaur, Haeckel, Hatschek); 2. die Ab- leitung der Metamerie von der Cyclomerie der Anthozoen (Sedgwick); 3. die Ableitung der Metamerie von der Pseudometamerie niederstehen- Proz der Formen unter dem umordnenden Einfluß der Lokomotions- a weise (Korschelt und Heider, Ed. Meyer, Racovitza, Bilate, Lang). Die Cormentheorie betrachtet den gegliederten Körper segmentierter Formen als eine lineare Kolonie unvollständig ent- wickelter Individuen. Wir kennen derartige als vorübergehende Entwicklungsstadien vorkommende Individuenketten. Durch mul- tiple Querteilungsvorgänge werden die langgestreckten Formen der Turbellariengattung Microstoma (Fig. 2I) in eine Reihe hinter- einanderfolgender Würmchen aufgelöst, welche nach erfolgter Ver- vollkommnung sich voneinander lösen und selbständig werden. Ähnliches beobachten wir im Generationswechsel gewisser Anne- liden (Syllideen der Gattung Autolytus und Myrianida), bei denen die Jugendstadien der Geschlechtsgeneration in kettenartiger An- gi sr. Schema einanderreihung erzeugt werden. Nach dieser Auffassung wäre a der gegliederte Rumpf segmentierter Formen eine Reihe von un- teilung entstan- vollkommen entwickelten Einzelwesen, welche, auf ungeschlecht- I rain lichem Wege entstanden, zeitlebens miteinander in kolonialem ee Verbande vereinigt bleiben. Diese Anschauungsweise knüpft an w Wimper- die Vorstellungen einer früheren Zeitperiode an, in der man unter dem Eindrucke der von Steenstrup begründeten Lehre vom Generations- wechsel nur allzu bestrebt war, die verschiedensten Wachstums- und Um- bildungsvorgänge auf Prozesse ungeschlechtlicher Vermehrung (auf Knospung oder Teilung) zurückzuführen. Eine besondere Schwäche aller dieser Vorstel- lungsweisen lag in der Unmöglichkeit, den Begriff des morphologischen Indi- viduums irgendwie klar zu präzisieren und die Merkmale anzugeben, nach denen wir ein nicht zur vollständigen Sonderung gelangendes Individuum von einer etwas selbständiger gewordenen Körperregion oder von einem Organkomplex zu unterscheiden vermögen. Es wiederholen sich hier dieselben Schwierigkeiten, denen wir auch bei der Analyse des Siphonophorenstockes be- gegnen, wo es ebenso unmöglich ist, in exakter Weise zwischen Individuen und Organen von größerer Selbständigkeit eine Grenze zu ziehen, z. B. bei Entscheidung der Frage, ob die apikale Luftflasche als eine umgewandelte Meduse zu betrachten sei, ob mannigfaltige tasterartige Anhänge des Stockes als rudimentäre Polypen oder Magenschläuche oder nur einfach als tentakel- artige Bildungen zu erfassen seien usw. Wenn, wie dies bei den Bandwürmern vorkommt, die Glieder der Kette sich schließlich abtrennen und zu selbstän- Die Cormen- theorie. 492 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen digem Umherkriechen befähigt erscheinen, so gewinnt die Annahme, daß sie als Individuen zu betrachten seien, etwas an Wahrscheinlichkeit, obgleich unter Umständen — wie uns dies der Hectocotylus der Cephalopoden dartut — auch bloße Organe eine zeitweilige Selbständigkeit gewinnen können. Aber auch dieses aus der vorübergehenden Isolierung der Teile entlehnte Argument findet auf die Metamerenkette der Anneliden keine Anwendung. Hier trennen sich aller- dings zur Zeit der Geschlechtsreife manchmal größere Partien des Körpers ab, um — wie dies beim bekannten Palolowurm (Eunice viridis der Südsee) der Fall ist — als kopflose Teilstücke umherzuschwimmen, aber einzelne Meta- meren gelangen niemals zur Selbständigkeit, auch nicht — wie Lang dargetan hat — bei Ctenodrilus, wo sich anscheinend ein derartiges Verhalten beob- achten läßt. Wenn so zunächst die Frage, ob es sich bei den Ringeln der Anneliden um ungeschlechtlich (durch Querteilung) erzeugte Individuen handelt, direkt kaum lösbar erscheint und diese Annahme eines soliden Fundamentes entbehrt, so werden wir zu untersuchen haben, ob etwa die Art, wie die Metameren im Em- bryo entwickelt werden, mit Knospungsvorgängen oder mit irgendwelchen Vor- gängen ungeschlechtlicher Vermehrung besondere Übereinstimmung zeigt. Es soll nun nicht geleugnet werden, daß die Metamerenbildung der Anneliden mit der Entstehung der Knospen am Salpen- und Pyrosomenstolo eine gewisse Ähn- lichkeit hat und daß vor allem die oben erwähnten Vorgänge querer Durch- schnürung bei Microstoma, bei Ctenodrilus, bei Nais usw. als Analogie heran- zuziehen sind; doch ergeben sich bei eingehenderer Durchführung dieses Ver- gleiches erhebliche Schwierigkeiten, auf welche Lang in durchdachter Weise hingewiesen hat. Sie sind zunächst darin zu suchen, daß bei den Anneliden die Körpersegmente nicht endständig hinzugebildet werden, sondern daß sie in den Körper der Trochophora zwischen Anfang und Endstück eingeschoben werden. Der gegliederte Rumpf der Anneliden ist zwischen primärem Kopfabschnitt und Pygidium (Endabschnitt) eingeschoben (vgl. Fig. 18 S. 481 und 20 S. 489). Während diese beiden terminalen Abschnitte des Annelids sozusagen zeitlebens Scolecidencharakter bewahren, wie sich aus dem Fehlen eigener Cölomsäcke und aus dem Verhalten ihrer Leibeshöhle ergibt, zeigen die interkalierten Rumpf- segmente eine von jenen verschiedene Organisation. Das Rumpfmetamer ist durch das Vorhandensein von paarigen Cölomsäcken, von Nephridien und Gona- den, von einem Ganglienpaar der Bauchganglienkette gekennzeichnet. Die Ver- schiedenheit in der Organisation der Rumpfsegmente gegenüber der Trocho- phora gehört zu den größten Schwierigkeiten, welche sich der Durchführung der Cormentheorie entgegenstellen. Nach dieser Theorie hätten wir anzuneh- men, daß es sich um einen ungeschlechtlichen Vermehrungsvorgang handelt, bei welchem neuerzeugte Individuen anderer Art in die Mitte des Mutterkörpers eingeschaltet werden — eine Vorstellungsweise, die offenbar den Charakter des Gekünstelten an sich trägt. Weitere Schwierigkeiten erwachsen dieser Theorie aus gewissen von Cori und Morgan beobachteten Abnormitäten, die in ähn- licher, aber vielleicht nicht direkt vergleichbarer Weise auch an den Bandwür- Die Cormentheorie. Ableitung der Metamerie von der Cyclomerie 493 mern auftreten können. Es handelt sich um Unstimmigkeiten in der Segmen- tierung der beiden Körperhälften, um ungleiche Segmentzahlen an der rechten und linken Seite, welche im weiteren Verlaufe zu einer spiraligen Ringelung führen können. Derartige Ungleichheiten in der Zahl der Thoraxsegmente der rechten und linken Körperseite kommen bei gewissen Sabelliden so häufig vor, daß sie fast der Norm anzugehören scheinen (De Saint- Joseph). Der Indi- vidualitätsbegriff der Metameren verflüchtigt sich uns unter den Eindrücken dieser Erscheinungen. In der Tat hat die Cormentheorie — ‚l’agonisante th&o- rie des colonies animales‘‘, wie sie Racovitza nennt, — unter dem Gewichte dieser und anderer Einwendungen an Ansehen verloren und die Forscher sahen sich veranlaßt, nach anderen Erklärungsmöglichkeiten auszuschauen. Die Ableitung der Metamerie gegliederter Formen von der Ableitung der Cyclomerie der Anthozoen von Adam Sedgwick in seiner Schrift „On mens vn the origin of metameric segmentation‘‘ 1884 begründet und unter dem Ein- | flusse der Cölomtheorie der Brüder Hertwig entstanden, sowie auf Beob- achtungen über die Entwicklungsweise von Amphioxus und Peripatus gestützt, „besticht‘‘ — nach Lang — ‚‚durch die einfachen Mittel, durch welche sie die Erklärung herbeizuführen sucht.‘“ Sie hat ‚namentlich im englischen Sprach- gebiet viel Anklang gefunden‘. Sedgwick versucht es, den Körper bilateralsymmetrisch gegliederter Formen direkt ohne vermittelnde Zwischenstadien von korallenähnlichen For- men, von Anthozoen, herzuleiten unter der Annahme, daß der Mund (M in Fig. 22A) eine erhebliche Längsstreckung erfahren hat, wodurch die Medianebene des Bilateriums (Fig. 22B) gekennzeichnet wurde. Während der Mund schlitz- förmig durch das Auftreten einer medianen Verwachsungsnaht geschlossen wird, erhalten sich seine beiden Enden (resp. die Mundwinkel) als Mund (m) und After (an) der bilateralsymmetrischen Stammform. Der eine Mundwinkel kenn- zeichnet nun das Vorderende, der andere das Hinterende des Körpers. Die Ven- tralseite des Bilateriums entspricht ihrer Lage nach der Mundscheibe des Ko- rallentieres. Durch die Längsstreckung, welche Mund und Schlund durchmach- ten, erfahren die radiären Magensepten (Fig. 22A s) der Anthozoen eine Lage- veränderung, durch welche sie senkrecht zur Medianebene orientiert wurden. Gleichzeitig war ihre Anordnung eine derart regelmäßige, daß jedem Septum der rechten Körperseite ein entsprechendes der linken gegenübergestellt war. Diese Septenpaare wurden zu den transversalen Dissepimenten (ds), welche im Rumpf gegliederter Formen die Cölomabschnitte voneinander scheiden. Die Cölomsäcke selbst werden hier im Sinne der Enterocöltheorie als vom Ur- darm abgeschnürte Magentaschen gedeutet. Hierbei kommt auch die Gonocöl- theorie insofern zu ihrem Rechte, als ja schon bei den Anthozoen die Keimes- produkte in der Wand der Magentaschen gebildet wurden. Nichts hindert uns, den zur Abschnürung kommenden Cölomdivertikeln von Anfang an die Rolle . von Gonadensäcken zuzuerkennen. Wir stehen hier vor einer Verquickung von Enterocöl- und Gonocöltheorie, die vielleicht in ihren Grundzügen durchaus annehmbar gefunden werden wird. Die Ableitung der Metamerie von der Pseudo- metamerie. 494 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Wir übergehen weitere auf dieser Grundannahme aufgebaute und vielleicht etwas gewagte Konsequenzen: die Zurückführung des Zentralnervensystems der Anneliden auf einen den gestreckten Mund ringförmig umziehenden Nerven- plexus, den Vergleich paariger Extremitäten gegliederter Formen mit den radiär gestellten Anthozoententakeln, den Versuch, die Nephridien der Anneliden auf Poren zu beziehen, welche von den Magentaschen der Anthozoen nach außen führen und ähnliches. Es ist nicht zu leugnen, daß in diesem Gebäude von Spekulationen manches enthalten ist, was ungemeinsympathisch berührt, und wir haben in den vorher- „E& gehenden Auseinandersetzungen mehr- fach auf diese Gedankengänge Bezug ge- nommen. Wir erwähnen diesbezüglich: die Zurückführung von Mund und After der Bilaterien auf erhalten gebliebene Mundwinkel, durch deren Auseinander- rücken die Medianebene determiniert wird, die Herleitung des Cöloms vom Fig. 22. Schemen zur Verdeutlichung der Ansichten Gastrokanalsystem cölenteratenartiger von SEDGWICcK bezüglich der Herleitung einer bilateralen i E R £ gegliederten Form von einer radiärsymmetrischn Urformen im allgemeinen, sowie die Be- Grundform. A Ansicht eines Anthozoons von der „: Mundseite gesehen. M Mund, s radiäre Septen des ziehungen der Gonaden zur Wand dieser Magenraums. 3 Ansicht einer bilateral-symmetrischen Magentaschen. Wenn wir auch der An- Form von der Ventralseite gesehen. vorn, % hinten, » Mund, ar After, ds quere Dissepimente zwischen nahme derartiger allgemeinerer Zusam- den einzelnen Körpersegmenten. ® 5 ö 5 menhänge eine gewisse Berechtigung zuerkennen, so möchten wir doch auf die direkte Zurückführung der Metamerie auf die Cyclomerie der Cölenteraten kein Gewicht legen. Die vorliegende Theo- rie vernachlässigt allzusehr die vermittelnden wurmartigen (scolecidenähnlichen) Zwischenformen, welche zwischen Cölenteraten und gegliederten Formen ein- zuschieben sind; sie rechnet nicht mit dem Gegensatz, welcher den primären Kopf sowie das Pygidium der Anneliden von dem metamer gegliederten Rumpf trennt. Nach den Annahmen dieser Theorie müßte den genannten Endabschnit- ten des Körpers eine unpaare Magentasche (ein unpaares Cölomdivertikel) und vielleicht auch je eine unpaare Extremitätenanlage zuerkannt werden. Über- haupt steht die ganze Annahme der direkten Herleitung gegliederter Formen von Anthozoenahnen auf schwachen Füßen. Die Ableitung der Metamerie von der Pseudometamerie tie- ferstehender Formen unter dem umordnenden Einfluß der Lebensweise kann als diejenige Vorstellungsweise gelten, welche die fraglichen Erscheinungen auf die ungezwungenste Weise erklärt. Wir haben diesbezüglich 1890 an die Cormentheorie anknüpfend geschrieben: ‚Aber es läßt sich auch — und, wie uns scheint, mit ebensoviel Berechtigung — eine andere Ansicht verteidigen, welche von der Annahme ausgeht, daß durch terminales Längenwachstum zu- nächst eine ungegliederte langgestreckte Stammform erreicht wurde, worauf der Gesamtkörper durch eine Umordnung der einzelnen Organe gleichzeitig in Ableitung der Metamerie von der Pseudometamerie 405 eine größere Anzahl von Segmenten zerfällt wurde. Diese Annahme stützt sich auf den Gedanken, daß bei der seitlich schlängelnden Bewegung des Körpers und bei der durch die zunehmende Differenzierung bedingten Starrheit der Ge- webe die Ausbildung alternierender Regionen größerer und geringerer Beweg- lichkeit von beträchtlichem Vorteil für das Individuum war und eine weitere Längenausdehnung des Körpers ermöglichte. Es würde dann die erste Ursache für das Auftreten der metameren Gliederung in der Bewegungsweise und in mechanischen Verhältnissen zu suchen sein. Allerdings wird diese letztere An- nahme durch die Entwicklungsgeschichte in keiner Weise gestützt.‘ Wenn die Entwicklungsgeschichte, was in dem vorliegenden Falle kaum zu erwarten war, keine Stütze für diese Ansicht liefert, so erwachsen dieser sichere Grundlagen aus der vergleichenden Betrachtung verschiedener tierischer For- men. Es ist ja ein allgemein angewandtes Prinzip, daß wir mit der Erklärung des Auftretens irgendeiner morphologischen Bildung beschäftigt, nach Formen ausschauen, bei denen die betreffende Bildung gewisserm aßennur in ihren Vor- stufen angedeutet ist. So haben wir z. B. — Leuckart folgend — die Cölom- säcke der Bilaterien an das Gastrovascularsystem der Cölenteraten angeknüpft. Wir kennen nun eine ganze Reihe von Formen, welche ohne eigentliche meta- mere Segmentierung zu besitzen, gewissermaßen erste Versuche einer solchen er- kennen lassen. Plate führt nach dieser Richtung an: ‚die Rotatorien, die Tur- bellarienform Gunda segmentata, die Cestoden, die Nemertinen, die Soleno- gastren und dieChitonen‘ und wir fügen aus dem Kreise der Deuterostomia hinzu: „Dalanoglossus‘‘. Natürlich ist diese Vorstufe metamerer Segmentierung, diese Pseudometamerie, bei so verschiedenartigen Formen in verschiedener Weise ausgedrückt. Wenn sie bei den Rotatorien und noch mehr bei den ihnen nahe stehenden Echinodermenhauptsächlich in einer Gliederungdes äußeren Skelettes und der sie bewegenden Muskel zum Ausdruck kommt, so erstreckt sie sich bei den Nemertinen und bei Balanoglossus auf die inneren Organe. Die Pseudo- metamerie mancher Nemertinen ist hauptsächlich durch das Vorhandensein regelmäßig sich wiederholender Seitentaschen des Mitteldarms und durch die Lage mit diesen alternierender multipler Gonadensäckchen ausgedrückt. Doch machen sich auch an dem Nervensystem, Blutgefäßsystem, sowie an den Ex- kretionsorganen Spuren solcher regelmäßiger Gliederung bemerkbar. Bei Bala- noglossus drückt sich die Pseudometamerie aus: in dem Vorhandensein querer Drüsenwülste der Haut, in der Anordnung der Blutgefäße, der Kiementaschen, der Genitalsäckchen und der Leberdivertikel. Das Rumpfcölom von Balano- glossus — und dies ist für die Unterscheidung der Pseudometamerie von echter Metamerie wichtig — ist ungegliedert und dementsprechend ist auch das Sy- stem der Körperlängsmuskeln nicht in den Kreis metamerer Abgliederung ein- bezogen. Wir würden vielleicht auch hier in der Anordnung der Gonaden — wie diesauch Eduard Meyer und Lang wollen — das erste auslösende Mo- ment für die Entstehung der Metamerie zu suchen haben. Wie jene Stammformen aussahen, welche bei den Anneliden den Übergang von der ungegliederten Trochophora zu segmentierten Formen vermittelten, Die Anneliden als Stammform der Arthropoden. Asia K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen davon könnten uns vielleicht polytroche Annelidenlarven, wie sie Korschelt eingehender beschrieben hat, oder Formen wie Ophryotrocha eine gewisse Vor- stellung erwecken. Dagegen möchte die Metamerie des Wirbeltierrumpfes in der Pseudometamerie von Balanoglossus ihre erste entfernte Vorstufe besitzen. X. Phylogenie der Arthropoden. Die formenreiche Gruppe der Gliederfüßer oder Arthropoden kann mit hoher Wahrscheinlichkeit von Anneliden abgeleitet werden. Die Übereinstim- mung beider Gruppen bezieht sich auf alle wesentlichen Merkmale ihres Baues, während die hervortretenden Differenzen sich durch Spezialisierung, durch Höherentwicklung gewisser, schon bei den Anneliden angedeuteter Bildungen erklären lassen. Wir heben als übereinstimmende Züge der Organisation her- vor: die metamere Segmentierung des Körpers, die Identität in den relativen Lagebeziehungen aller wichtigeren Organe (ventral gelegenes Bauchmark, dorsal vom Darmkanal das Rückengefäß als zentraler Teil des propulsatorischen Appa- rates), die weitgehende Übereinstimmung im Bau des Zentralnervensystems (Oberschlundganglion, Schlundkommissuren und gegliederte Bauchganglien- kette) und das Vorkommen von Nephridien im Kreise der Arthropoden. Es sei hinzugefügt, daß neuere Untersuchungen in der Eifurchung gewisser Crusta- ceen (der Lepaden) eine entfernte Übereinstimmung mit dem charakteristischen Furchungstypus der Anneliden erkennen lassen. Wir haben im zweiten der vier biologischen Bände dieses Werkes ausführ- licher geschildert, welche Momente beider Trennung beider Gruppen, beider Her- vorbildung der Arthropoden aus einfacher organisierten Annelidenahnen in Frage kommen. Hier seinurfolgendes kurz erwähnt: diehomonomeSegmentierung wird durch eine Heteronomie gewisser Segmentgruppen ersetzt. Sie ermöglicht die Unterscheidung differenter Körperregionen, welche als Kopf, Thorax und Abdo- men oder sonstwie bezeichnet werden. Die stärkere Cuticularisierung der Haut, die Verfestigung der Körperoberfläche führte zur Entwicklung gegliederter Extremitäten, die, ventralwärts verlagert, zu selbständigerer Bewegung befähigt wurden, und zur Auflösung des einheitlichen Hautmuskelschlauches, welcher durch ein System besonderer die einzelnen Körperringel bewegender Muskel- gruppen ersetzt wurde. Hiermit ging Hand in Hand die Lockerung des Gefüges der Cölomwände, welche sich zu einem sekundären Mesenchym umgestalteten. Lückenräume in diesem die Organe verbindenden Mesenchym lassen die defini- tive Leibeshöhle der Arthropoden als ein Schizocöl entstehen, während das Blut, das rückgebildete, nicht mehr geschlossene Bahnen aufweisende Zirku- lationssystem verlassend, streckenweise die erwähnten Mesenchymlücken als Wege seines Umlaufes benützt. Die Nephridien, wo sie etwa sich noch erhalten haben, sind regelmäßig durch ein Endsäckchen gegen das Schizocöl abgeschlos- sen. Die Geschlechtsprodukte werden durch eigene, mit den Gonaden zusam- menhängende Ausführungsgänge nach außen entleert. Wenn wir so ganz im allgemeinen in der Gruppe der Anneliden die Stamm- formen der Arthropoden zu suchen haben, so sind wir doch nicht in der Lage, Ableitung der Arthropoden von Anneliden 497 eine bestimmte Familie polychäter Anneliden anzugeben, von denen wir die Urarthropoden herzuleiten hätten oder irgendwie genauer den Punkt zu be- stimmen, an welchem der Zweig der Arthropoden die Stammreihe der Anneliden verlassen hat. Möglicherweise ist kein Vertreter jener Annelidengruppe, welche den Arthropoden den Ursprung gegeben hat, in unserer jetzigen Lebewelt er- halten. Die Arthropoden sind ja an sich ein ungemein alter Stamm der tieri- schen Reihe und wir finden in den ältesten uns bekannt gewordenen fossilien- führenden Schichten bereits Reste von Trilobiten vor. Nach unserer Vorstel- lungsweise waren es jedenfalls Formen mit zahlreichen Körpersegmenten, welche den Übergang von Anneliden zu Arthropoden vermittelten. Nur zur Verdeutlichung unserer Anschauungen — nicht im Sinne einer bestimmten phy- logenetischen Hypothese — sei es gesagt, daß die Entstehung der Arthropoden sich vielleicht auf ähnlichem Wege vollzogen haben mag, wie wenn wir den Ver- such machen wollten, eine primäre Phyllopodenform, wie Branchipus, mit pela- gisch lebenden Anneliden der Gattung Tomopteris in Vergleich zu setzen. Die Zeiten sind vorüber, in denen man den Anregungen Fritz Müllers folgend in der oligomeren Naupliuslarve der Crustaceen die Stammform der Arthro- poden erblickte. Wenngleich diese Anschauungsweise bis in die neuere Zeit noch vereinzelte Vertreter gefunden hat, wenngleich gewisse Formen unter den Rotatorien, wie die Gattung Pedalion und die rätselhafte von Schmarda begründete Gattung Hexarthra mit beborsteten Anhängen in dem Sinne einer Zurückführung der Crustaceen auf rotatorienähnliche Formen suggestiv wirken, so halten wir doch alle Versuche, den Nauplius der Crustaceen zur Tro- chophora in Beziehung zu bringen, für verfehlt. Wir betrachten den Nauplius als eine sekundär in den Entwicklungskreis der Crustaceen eingeschobene, aus einer geringen Zahl von Metameren bestehende Larvenform mit frühzeitiger Ausbildung typischer Krebsmerkmale. Es ist das Verdienst Hatscheks, in Würdigung jener Übereinstimmungen, welche schon Cuvier und von Baer zur Vereinigung der Anneliden und Arthropoden in eine gemeinsame Gruppe der Articulaten veranlaßte, darauf hingewiesen zu haben, daß die Crustaceen durch Vermittlung phyllopodenähnlicher Vorfahren am natürlichsten von An- neliden abzuleiten seien. Man kann sich eine hypothetische Stammgruppe der Arthropoden denken, welche von Anneliden ausgehend die allgemeineren Merk- male der Arthropodenorganisation entwickelt hatte, und diese mit dem Namen der Protostraken belegen. Sie stand in der homonomen Körpersegmentierung noch den Anneliden nahe, von denen sie sich durch ausgiebigere Chitinisierung der Haut, durch Auflösung des Hautmuskelschlauches, durch das Vorhandensein eines Pseudocöls und durch Endsäckchen an den allen Segmenten zukommenden Nephridien unterschied. Von dieser Stammgruppe hätten wir durch Vermitt- lung von Urphyllopoden die Crustaceen, durch Vermittlung der Paläostraken die Gruppe der spinnenähnlichen Tiere (Arachnomorpha), sowie durch Vermitt- lung von Peripatus die Antennaten (Myriopoden und Insekten) abzuleiten. Wir haben hier kurz drei Reihen gekennzeichnet, in welche der gestalten- reiche Stamm der Arthropoden zerfällt, und gehen über zur Behandlung der K.d.G.Ill.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 32 Die Nauplius- theorie. Monophyletische oder polyphyle- tische Ableitung der Arthropoden 498 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Frage, ob dieser Stamm überhaupt als genetische Einheit im Sinne einer Ab- leitung von einer hypothetischen Protostrakengruppe zu erfassen sei. Dies- bezüglich hat schon 1883 im 13. Bande der Zeitschrift ‚Kosmos‘ ein kenntnis- reicher Anonymus begründete Zweifel geäußert, denen sich auch Kingsley, Oudemans, Fernald, Haeckel und Packard angeschlossen haben. Auch v. Kennelsowie Plate wären in diesem Zusammenhange zu nennen. Es han- delt sich hierbei wesentlich um die Bewertung von Peripatus, jener eigenartigen Form, welche an der Wurzel des Antennatenstammes stehend Merkmale der Anneliden mit echten Arthropodencharakteren vereinigt. Es liegt der Gedanke nahe, jene Arthropoden, welche mit Antennen versehen durch Tracheen at- men, jenen ganzen in der Reihe der Tausendfüßer und Insekten gegebenen For- menkreis durch Vermittlung von Peripatus als selbständigen Zweig von den Anneliden abzuleiten. Ohne Zweifel ist Peripatus unter allen Arthropoden die annelidenähnlichste Form. Als typisches Landtier hat er verhältnismäßig we- nige Beziehungen zu den ursprünglichsten Formen der Crustaceenreihe. Wir würden sonach zu der Annahme geführt, daß zum mindesten zwei selbständige Stämme der Arthropoden unabhängig voneinander aus Anneliden hervorgegan- gen seien: die kiemenatmenden Krebse einerseits und die Antennaten ander- seits. Als dritte Reihe von verhältnismäßig selbständigem Charakter käme die der spinnenähnlichen Formen (Reihe der Arachnomorpha) in Betracht, auf deren Stellung wir noch zurückkommen. Wenn wir diesen drei Reihen eine größere Selbständigkeit zuschreiben, so kann es sich nur um die Frage handeln, ob sie an ihrer Wurzel zusammenhängen — eine Frage, die nur vermutungsweise zu beantworten ist. Wenn wir geneigt sind, allen Arthropoden eine als Protostraken bezeichnete gemeinsame Stamm- gruppe zuzuerkennen, so bestimmen uns hierbei weniger Merkmale des äußeren Körperhabitus, der frühzeitig, differenten Bedingungen der Lebensweise sich an- passend, nach verschiedenen Richtungen modifiziert wurde. Vielmehr sind es Übereinstimmungen der inneren Anatomie und der Entwicklungsgeschichte, welche die Zusammenfassung der Arthropoden als gemeinsamen Stamm rechtfer- tigen. Wir haben oben die anatomischen Merkmale genannt, welche den Stamm der Arthropoden gemeinsam kennzeichnen. Hier sseierwähnt, daß Peripatusin den Verhältnissen seines Cölom- und Blutgefäßsystems, in der Art der Ausbildung seiner Nephridien mit den Crustaceen übereinstimmt. Noch mehr sind gewisse Tatsachen der Embryologie geeignet, die ganze Gruppe der Arthropoden als eine einheitliche zu kennzeichnen. Typisch für diese Gruppe ist das Vorkommen zentrolecitaler Eier, der superfizielle Charakter der Furchung, die Entwicklung des Embryos in der Form eines Keimstreifs, der den dorsal gelegenen Dotter- sack seitlich umwachsend bei allen Arthropoden in der gleichen Weise die An- lage des Rückengefäßes zur Entwicklung bringt. Wenn es auch nicht geleugnet werden soll, daß den Embryonen der einzelnen Gruppen gewisse spezifische Merkmale anhängen, daß der Beobachter leicht an gewissen oft mehr zu fühlen- den als scharf zu präzisierenden Merkmalen Unterschiede zwischen Krebs-, Spin- nen- und Insektenembryonen erkennt, so sind doch die Übereinstimmungen in Die genetische Einheitlichkeit des Arthropodenstammes 499 derembryonalen Entwicklungsweise dieser Gruppen sogroß, daß mansieschwer- lich aus konvergenter Züchtung zu erklären vermögen wird. Diese Züge deuten auf einen gemeinsamen Ursprung der vielen verschiedenartigen Stämme der Ar- thropoden. Im übrigen nähern sich die beiden hier einander gegenübergestellten Anschauungsweisen in nicht unbeträchtlichem Maße. Es wird von der Bewer- tung der angeführten Merkmale abhängen, ob man, an der Einheit des Arthro- podenstammes festhaltend, die drei getrennt verlaufenden Stämme dieser Gruppe mit gemeinsamer Wurzel von einer uns nicht näher bekannten Anne- lidengruppe ableitet oder ob man sie mit gesondertem Ursprung aus der Klasse der Ringelwürmer hervorgehen läßt. Man müßte dann annehmen, daß drei ver- schiedene Familien der Anneliden ähnliche Wege der Weiterentwicklung ein- geschlagen haben. Da uns die spezielleren Formen der Anneliden, welche zur Ausbildung des Arthropodenstammes hinüberführten, unbekannt sind, so dürfte es schwer fallen, zwischen den beiden gekennzeichneten Varianten zu ent- scheiden. Wenn wir die Reihe der Crustaceen einerseits durch Vermittlung hypothe- tischer Urphyllopoden von einer annelidenähnlichen Protostrakengruppe ab- leiten und wenn anderseits die Reihe der Antennaten (der mit Antennen ver- sehenen, durch Tracheen atmenden Myriopoden und Insekten) durch Vermitt- lung von Peripatus an die gleiche Urgruppe (der Protostraken) angeschlossen erscheint, so ist die Frage, an welchem Punkte die dritte Reihe, die der Arach- nomorpha oder Chelicerata, welche alle spinnenähnlichen Formen umfaßt, sich abzweigte, größeren Zweifeln unterworfen. Das Fehlen der Antennen kenn- zeichnet die Formen dieser Reihe, welche in ihren ursprünglicheren Gliedern kiemenatmende Meerestiere, in ihren abgeleiteteren Gruppen Landformen ent- hält, die durch Fächerlungen oder Tracheen atmen. Die Gruppe der spinnen- ähnlichen Tiere umfaßt zahlreiche in ihrer körperlichen Ausrüstung ziemlich weit auseinandergehende Untergruppen. Alles wird davon abhängen, welche von diesen Untergruppen wir als die ursprünglichste betrachten. Wir werden dann nach Anknüpfungspunkten für die ganze Reihe suchen können. Manche dieser Gruppen, ‚wie z. B. die der Milben, tragen offenkundig den Charakter sekundärer durch Rückbildung zu erklärender Vereinfachung ansich. Eine viel- fach verbreitete Anschauungsweise, der noch Haeckel in seiner „Systemati- schen Phylogenie‘‘ Ausdruck gegeben hat, sucht durch Vermittlung der Solz- fugidae, denen wir die in den Steppen Südrußlands vorkommende Gattung Ga- leodes, sowie die Solpugen Afrikas zurechnen, den Anknüpfungspunkt an ur- sprüngliche Insektenformen zu gewinnen. Vor allem wirkt bei diesen Formen die scheinbare Gliederung des Körpers in drei Regionen: Kopf, Thorax und Abdomen, nach dieser Richtung suggestiv. Bei dem Versuche, die Spinnen den Antennaten zu nähern, spielen hauptsächlich zwei Merkmale anatomischer Art eine gewisse Rolle: das Vorkommen verästelter Tracheen und der Besitz von Malpighischen Gefäßen, röhrenförmige Darmanhänge, welche als Exkretions- organe fungieren. Beide Merkmale sind etwas anfechtbarer Art. Tracheenähn- liche Einrichtungen der Luftatmung können ganz wohl in verschiedenen Grup- 32* Die Ableitung der spinnenähn- lichen Formen. Skorpione und Limulus. 500 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen pen der Arthropoden selbständig erworben worden sein. Die Untersuchungen von James H. Stoller haben uns bei den Landasseln der Gattungen Porcellio, Armadillidium und Cylisticus in den Kiemenblättchen Organe der Luftatmung kennen gelehrt, die wir durchaus als Tracheen in Anspruch nehmen können. In der Gruppe dieser auf dem Lande lebenden Crustaceen sind sonach Tracheen jedenfalls als selbständige Erwerbung aufgetreten. Gegen eine Homologisierung der Malpighischen Gefäße der Insekten mit ähnlichen Darmanhängen bei den Spinnen ergeben sich Einwände aus der Entwicklungsweise dieser Organe. Wäh- rend die Malpighischen Schläuche der Insekten dem ektodermalen Enddarm angehören, sind die Exkretionsorgane der Skorpione aller Wahrscheinlichkeit nach entodermalen Ursprungs. Auch hier zeigt ein Vergleich mit gewissen Vor- kommanissen bei Crustaceen, daß Exkretionsschläuche als Darmdivertikel mehr- fach als selbständige voneinander unabhängige Erwerbungen gewonnen werden können. Den Tracheen der Spinnen fehlt überdies nicht selten der für die In- sektentracheen so ungemein charakteristische Spiralfaden. Es sind sonach die beiden erwähnten Merkmale nicht zur Statuierung eines genetischen Zusam- menhanges der Spinnen mit den Insekten zu verwenden. Dann verlieren aber auch die aus der regionären Gliederung der Solifugen entnommenen Argumente für einen solchen Zusammenhang an Wert. Im allgemeinen wird man wohl die Gruppe der Skorpione als diejenige be- zeichnen dürfen, welche unter allen auf dem Lande lebenden Gruppen der spin- nenähnlichen Tiere die ursprünglichsten Merkmale bewahrt hat. Bei ihnen hat die abdominale Körperregion die Selbständigkeit der einzelnen Segmente be- wahrt. Wir begegnen keinen Schwierigkeiten bei dem Versuche, die übrigen Gruppen der Spinnen von skorpionähnlichen Formen abzuleiten, wobei wir eine Tendenz zu fortschreitender Konzentration, zur Vereinigung und Ver- schmelzung von Segmentgruppen heranzuziehen haben. Vergleichende Unter- suchungen haben die größte Übereinstimmung zwischen dem Körperbau der Skorpione und den Xiphosuren ergeben, welche letztere Gruppe in unserer Lebewelt durch die Gattung Limulus vertreten ist. Die Spinnen gewinnen auf diesem Wege den Anschluß an die vorweltliche Gruppe der Paläostraken, zu denen wir die erwähnten Xiphosuren, die Gigantostraken und die Trilobiten rechnen. Als im Meere lebende, crustaceenähnliche Formen waren die Paläo- straken mit Organen der Wasseratmung, mit Kiemen, versehen. Die Zurück- führung der Fächerlungen der Skorpione auf die in entsprechender Lagerung sich findenden Kiemenbücher von Limulus ist durch Tatsachen der Ontogenie gut gestützt. Wir würden sonach bei den landlebenden Formen der Chelicera- tenreihe die Fächerlungen als die ursprünglichste Einrichtung der Luftatmung in Anspruch zu nehmen haben. Aus ihnen hat sich bei den Spinnen durch fort- gesetzte Divertikelbildung das Tracheensystem entwickelt, welches sonach mit dem der Insekten nicht in Homologie gesetzt werden darf. Wenngleich Jawo- rowskiund der neueste Untersucher der Atmungswerkzeuge der Spinnen, Bela Haller, zuabweichenden Resultaten gelangt sind, so scheint uns doch die hier kurz gekennzeichnete Theorie der Ableitung der Skorpione und Spinnen von Ableitung der spinnenähnlichen Tiere 501 Limulus und durch seine Vermittlung von ursprünglicheren Paläostraken als im ganzen gut begründet. Unter den Paläostraken weisen die in Hinsicht auf ihre Stellung so viel diskutierten Trilobiten ursprüngliche Merkmale auf. In dem Besitz spaltförmiger Extremitäten und langer geißelförmiger Antennen schließen sie sich den Crustaceen an. Wenn wir auch nicht geneigt sind, sie direkt mit jetztlebenden Phyllopoden, etwa der Gattung Apus, in Beziehung zu setzen, so halten wir doch den Zusammenhang der Trilobiten mit Urphyllopo- den, der hypothetischen Stammgruppe der Crustaceenreihe, für wahrscheinlich. Danach ergibt sich folgendes Bild für die Phylogenie der Chelicerata. Von Ur- phyllopoden ausgehend entwickelte sich die Gruppe der kiemenatmenden Paläo- straken (Trilobiten, Gigantostraken und Xiphosuren), von welcher sich ein Zweig durch Anpassung an das Landleben zu Skorpionen differenzierte, von denen die übrigen Sippen der spinnenähnlichen Formen abzuleiten sind. Wenn wir die Arthropoden als genetische Einheit erfassen, so erhebt sich Vergleich der die Frage, ob es möglich ist, die verschiedenen Körpersegmente und ihre Ann mene ir hänge in den verschiedenen Klassen der Arthropoden aufeinander zu beziehen. a Es wird sich hier vorzugsweise um die Kopfanhänge handeln, welche als Fühler oder als Mundwerkzeuge zur Verwendung kommen. Zu dieser Frage haben sich in letzter Zeit Goodrich, E.Ray Lankester und G. H. Carpenter ge- äußert. Bei Behandlung dieser Frage, zu der wir vielleicht nach dem derzeitigen Stande unserer Kenntnisse nicht genügend vorbereitet sind, werden zunächst Beobachtungen über die primäre Segmentierung des Keimstreifs herbeizuziehen sein, welche uns lehren, daß gelegentlich Segmente zur Anlage kommen, welche im ausgebildeten Zustande als besondere Körperabschnitte nicht zu erkennen sind, so z. B. das frühzeitig verschwindende zwischen Antenne und Mandibel der Insekten gelegene Vorkiefersegment (prämandibulares Segment). Es wer- den aber auch die Verhältnisse der Innervation der einzelnen Anhänge, ihre Be- ziehungen zu bestimmten Gehirnabschnitten, sowie der Aufbau und die Ent- wicklung dieses Abschnittes des Zentralnervensystems zu beachten sein. Bei den Anneliden, von denen wir bei unseren Betrachtungen auszugehen haben, findet sich als vorderster Körperabschnitt der präoral gelagerte pri- märe Kopf, den wir den echten Rumpfmetameren als eine Bildung sui generis gegenüberstellen. Von den Autoren als Kopflappen oder als Prostomium be- zeichnet, trägt dieser Abschnitt die Augen und andere Sinnesapparate, sowie als Fühler (Antennen und Palpen) zu bezeichnende Anhänge. Er enthält das Oberschlundganglion. Auf den Kopflappen folgt bei den Anneliden als erstes Rumpfmetamer das sog. Buccalsegment, welches den übrigen Rumpfsegmenten im Baue gleichend häufig durch den Besitz besonderer Anhänge (Fühlercirren, Cirritentaculares) ausgezeichnet ist und nur selten echte Parapodien trägt. Wir erörtern hier nicht die Frage, ob das Buccalsegment der Anneliden selbst ein durch Verwachsung verschiedenartiger Teile entstandener Körperabschnitt ist, ob es durch Vereinigung eines Metastomiums mit einem Rumpfmetamer entstan- den zu denken ist, und noch weniger sind wir in der Lage, die Frage zu behan- deln, welche Zusammensetzung diesem Körperabschnitte in der Gruppe der Gehirn- abschnitte. 502 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen hypothetischen Annelidenahnen der Arthropoden zukam. Für uns mag es hier genügen, das Buccalsegment der polychäten Anneliden als eine Einheit, als das vorderste in der Reihe der echten Rumpfmetameren zu erfassen. Der Mund der Anneliden liegt an der Grenze zwischen Kopflappen und Buccalsegment (Mundsegment). Bei den Arthropoden ändern sich die relativen Lagebeziehungen des Mundes und der vordersten mit Anhängen versehenen Metameren des Keimstreifs. Man könnte sagen: der Mund rückt in der Median- linie des Keimstreifs nach hinten, oder man könnte das Verhältnis vielleicht besser so ausdrücken, daß man annimmt, die ersten postoralen Körperabschnitte mit ihren Anhängen (Fühlern) rücken zu beiden Seiten des Mundes nach vorne, und so kommt es, daß die Antennen, welche durchwegs bei den Arthropoden postoral angelegt werden, später an das Vorderende des Kopfes gelangen. Mit den entsprechenden Anhängen bewegen sich auch die ihnen zugehörigen Gang- lien der Bauchganglienkette längs der Schlundkommissuren nach vorne und werden dem Gehirn als sekundäre Gehirnabschnitte angegliedert. Die Anlage des Gehirns im engeren Sinne (des primären Hirns oder Proto- cerebrums) wird im Keimstreifen der Arthropoden in der Form der sog. Kopf- lappen oder Scheitellappen gebildet. Diese vor dem Munde gelegenen Bildungen sind meist ungemein umfangreich, weil in ihnen auch die Anlagen der Facetten- augen gegeben sind. Es ist nun hervorzuheben, daß an dieser präoralen Region des Keimstreifs, welche wir (mit einigen Zweifeln) dem Kopflappen der Anneliden gleichsetzen, niemals ihnen eigentümliche Anhänge gebildet werden. Man muß es aussprechen, daß den Arthropoden alle Anhänge, welche man auf die Antennen der Anneliden beziehen könnte, durchwegs fehlen. Die Körper- anhänge der Arthropoden sind ihrem Ursprunge nach sämtlich postorale Bil- dungen. Nur vermutungsweise darf man es äußern, daß gewisse bei ursprüng- lichen Krebsen als Frontalorgane benannte und als Sinnesapparate gedeutete Bildungen, die sich auch bei Peripatus erkennen lassen, auf Fühleranhänge der Anneliden zu beziehen sind. Das Gehirn der Insekten läßt stets drei Abschnitte erkennen, welche von Viallanes als Protocerebrum, Deutocerebrum und Tritocerebrum bezeichnet wurden. Von ihnen wird das Protocerebrum in den Scheitellappen angelegt. Es liefert die Augennerven und (bei den Krebsen) die Nerven zu den Frontal- organen. Das Deutocerebrum und Tritocerebrum sind ursprünglich postorale Ganglien des Schlundringes. Das Deutocerebrum läßt den Antennennerven ent- springen, während das Tritocerebrum das Ganglion des verschwindenden Vor- kiefersegmentes repräsentiert. Auf dieses folgen in der Reihe das Ganglienpaar des Mandibularsegmentes, die der Maxillarsegmente usw. Ob wir die Scheitellappen im Keimstreif der Arthropoden dem Kopflappen der Anneliden gleichsetzen dürfen, wonach das Protocerebrum der Arthro- poden dem Gehirn der Ringelwürmer zu homologisieren wäre, ist zweifelhaft. Goodrich faßt auch diese Körperregion als ein sekundär vor den Mund ge- ratenes Rumpfmetamer auf, während das Prostomium (der Kopflappen) der Anneliden bei den Arthropoden reduziert und kaum auffindbar wäre. Die Frage Vergleichendes zur Segmentierung des Arthropodenkopfes 503 nach der Deutung dieses Abschnittes hängt auf das innigste mit der Frage nach dem Vorkommen sog. Kopfhöhlen zusammen, welche die Cölomsäcke dieses Abschnittes repräsentieren sollten. Bei den Insekten nicht immer deutlich treten sie bei den Arachniden besonders gut entwickelt auf. Was uns bestimmt, die Region der Kopflappen der Arthropoden dem Prostomium der Anneliden gleichzusetzen, ist die Beobachtung Brauers, nach welcher die Kopfhöhlen der Skorpione durch sekundäres Auswachsen der Cölomsäcke des nächstfolgen- den Segmentes (des der Cheliceren) entstehen. Es kommen sonach dieser Region keine ihr eigentümlichen Mesodermsomite zu. Übereinstimmende Angaben wur- den von Kingsley und Kishinouye für Limulus gemacht. Wenn wir sonach die präoralen Kopflappen des Arthropodenkeimstreifs der primären Kopfregion der Anneliden (dem sog. Prostomium oder Kopflappen der Ringelwürmer) gleichsetzen, so ergibt sich die Homologie der vordersten Rumpf- metamere in den verschiedenen Arthropodengruppen in einfacher Weise. Wir werden die Reihenfolge der hinter dem Munde angelegten Segmente in den ein- zelnen Gruppen der Gliederfüßer festzustellen und die an ihnen sich findenden Anhänge zu notieren haben. Besondere Beachtung werden wir jenen Segmenten zuteil werden lassen, welche im Embryo angelegt, später rückgebildet werden. Wir haben diesbezüglich auf das Vorkommen eines Vorkiefersegmentes im In- sektenembryo bereits oben hingewiesen. Da dieses provisorische Segment zwi- schen dem der Antenne und dem der Mandibel angelegt wird, so entspricht es jenem Metamer, welches bei den Crustaceen die zweite Antenne trägt. Ihm ent- spricht in beiden Fällen jener sekundäre Hirnabschnitt, welchen wir als Trito- cerebrum bezeichnen. Der Vergleich der vordersten Körpersegmente von Peripatus mit denen der Myriopoden und Insekten unterliegt noch einigen Schwierigkeiten. Goodrich rechnet die Antennen von Peripatus dem Protocerebrum zu. Da die Antennen der Insekten vom Deutocerebrum innerviert werden, so wird er zu dem viel- leicht für viele etwas befremdenden Schlusse geführt, daß die Fühler von Peri- patus denen der Insekten nicht homolog gesetzt werden können. Man wird sich wohl nicht leicht zu dieser Annahme entschließen können; es mag geratener erscheinen, die Entscheidung dieser Frage der Zukunft anheimzustellen und ihre Beantwortung von einer Revision der betreffenden Körperregion an Ony- chophorenembryonen zu erwarten. Einigen Zweifeln ist vielleicht noch die Stellung der Cheliceren bei den Spin- nen unterworfen. Es sind dies die vordersten Gliedmaßen in der Reihenfolge bei Spinnen und Skorpionen. Vor dem Munde gelegen erinnern sie in ihrer Ge- stalt mehr an Mundwerkzeuge als an Fühler, und man möchte wohl geneigt sein, ein vor ihnen gelegenes, rückgebildetes Antennensegment anzunehmen. In der Tat glaubte Jaworowski derartige Antennenanlagen bei Spinnenembryonen gefunden zu haben. Indes hat Brauer sich am Embryo des Skorpions auf das bestimmteste überzeugt, daß sich hier zwischen dem Kopflappen und dem Seg- ment der Cheliceren kein Segment einschiebt. Auch Julius Wagner stimmt nach seinen an einer Milbe (Ixodes calcaratus) gemachten Beobachtungen hier- Allgemeine Charakteristik der Mollusken. 504 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen mit durchaus überein. Dagegen glaubt dieser Untersucher zwischen den Cheli- ceren und dem nachfolgenden Extremitätenpaar (Maxillarpalpen) ein verschwin- dendes Extremitätenrudiment (an das Vorkiefersegment der Insekten erinnernd) annehmen zu dürfen. Wir wollen diese letztere Angabe, welche an den Skor- pionen nicht bestätigt wurde, noch dahingestellt sein lassen. Nach allem kön- nen wir annehmen, daß bei den Arachniden vor den Cheliceren kein Extremi- tätenpaar auftritt, und dann müssen die Cheliceren der Lage nach den Antennen der Insekten gleichgesetzt werden. Wir stellen unsere Ansichten bezüglich der Homologisierung der vordersten Körpersegmente in den verschiedenen Gruppen der Arthropoden in der Form einer in Anlehnung an Goodrich entworfenen Tabelle zusammen, welche nach dem Gesagten vielleicht nur als ein provisorisches Produkt zu erfassen und mit einiger Vorsicht aufzunehmen ist. Dies Gebiet erfordertnoch gründliche Durch- arbeitung. Annelida Peripatus| Insecta | Arachnida |Crustacea |Nervensystem Kopflappen | > | | en | ? 'Kopflappen;, Kopflappen | Kopflappen | Protocerebrum I. Rumpfsegment | Antennen | Antennen Cheliceren ı. Antenne | Deutocerebrum | (Buccalsegment) (Kieferfühler) ' I. Rumpfsegment Kiefer Vorkiefer- |Maxillarpalpen| 2. Antenne | Tritocerebrum | segment | (Kiefertaster) Mandibeln | ı. Ganglienpaar | IlI. Rumpfsegment | Oralpapillen; Mandibeln | ı. Beinpaar I. Maxille » IV.Rumpfsegment||ı. Beinpaar | ı. Maxille | 2. Beinpaar . Ganglienpaar V.Rumpfsegment| 2. Beinpaar | 2. Maxille | 3. Beinpaar 2. Maxille | 3. Ganglienpaar l XI. Phylogenie der Mollusken, Nur mit berechtigten Zweifeln behandeln wir die Frage nach der phylo- genetischen Herleitung des Molluskenstammes, eine Frage, welche von den ver- schiedensten Autoren, wie Plate, Thiele, Pelseneer, Grobben und neuer- dings von Naef und Nierstraß eingehende und gründliche Beleuchtung er- fahren hat. An der Einheitlichkeit des Molluskenstammes werden wir nicht zweifeln. Wie verschiedenartig auch die Formen erscheinen, die wir in der Gruppe der Weichtiere zusammenfassen, sie lassen doch sämtlich einen einheit- lichen Bauplan erkennen. Anscheinend ohne jede Spur von metamerer Segmen- tierung sind es Formen, welche eine als Schizocöl zu betrachtende Leibeshöhle und dementsprechend ein unvollkommenes, offenes Blutgefäßsystem besitzen. Ihre sekundäre Leibeshöhle (Cölom) ist in dem Pericardialsäckchen und in dem System der Gonaden und Nieren — welche embryologisch aus einer einheit- lichen Anlage hervorgehen — zu erblicken. Der Besitz glatter, wenig regel- mäßig angeordneter Körpermuskulatur, das Vorhandensein eines mit ventraler Kriechsohle versehenen Fußes, einer dorsalen Schale, welche meist den Ein- Allgemeine Charakteristik der Mollusken 505 geweidesack aufnimmt, einer Mantelhöhle, in der die Organe des ‚‚pallialen Kom- plexes“ (After, Nierenpapillen und Kiemen) gelegen sind, gehört zur allgemeinen Charakteristik dieses Stammes. Wir erwähnen noch den typischen Bau des gangliösen Nervensystems, dessen Zentren durch Kommissuren und Connective zu einer Einheit verbunden werden, sowie die Schlundbewaffnung, welche durch das Vorhandensein eines muskulösen, zungenähnlichen, mit chitinöser Radula bewehrten Wulstes gekennzeichnet ist. Wir heben nur die wichtigsten Merk- male heraus, welche in allen Stämmen der Weichtiere mehr oder minder deut- lich wiederkehrend uns gestatten, diesen Typus, den schon Cuvier und Karl Ernst von Baer als selbständigen Zweig (Embranchement) der Metazoenreihe erkannten, als systematische Einheit zu erfassen. In dieser Vorstellungsweise stört uns nicht, daß einzelne der angeführten Merkmale in gewissen Mollusken- gruppen fehlen. Die Abwesenheit der Radula im Zweige der Lamellibranchiaten (Klappmuscheln), bei denen wir auch den Kopf als gesonderte Körperregion vermissen und ein abgesetzter Eingeweidesack nicht zu beobachten ist, lassen sich als durch die Lebensweise, durch den eigenartigen Schalenbau bedingte Abänderungen der gemeinsamen Grundform verstehen. Überhaupt kommt den Mollusken eine ungemein biegsame Natur, eine bemerkenswerte Plastizität der Ausbildung zu. Es ist erstaunlich, wie ihr Körper, den verschiedensten Lebens- gewohnheiten sich anpassend, in einzelnen Fällen (so z.B. in dem Fall der rätselhaften Rhodope Veranii) sich so weit von dem gemeinsamen Typus ent- fernt, daß man Mühe hat, in den betreffenden Formen überhaupt noch Mol- lusken zu erkennen. Bei Behandlung der Frage nach der Phylogenie der Mollusken wird es vor allem darauf ankommen, unter den verschiedenen Klassen und Ordnungen die- ser Gruppe diejenige zu bezeichnen, welche in ihrer Organisation den ursprüng- lichsten Typus, die primären Züge des Bauplans, bewahrt hat. Die Stämme der Schnecken (Gastropoda), der Solenoconchen (Dentalium), der Klappmuscheln (Lamellibranchiaten) und der Tintenfische (Cephalopoden) repräsentieren eben- soviele Entwicklungsreihen, welche frühzeitig von gemeinsamer Urform aus- gehend selbständige Wege eingeschlagen haben. Unter ihnen reichen die Ga- stropoden mit Vertretern aus der Gruppe der Rhipidoglossen nahe an die ge- meinsame Stammform heran. Im allgemeinen wird wohl mit Recht angenom- men, daß eine Reihe von Formen, welche als besondere Klasse unter dem Na- men Amphineura zusammengefaßt werden, bei aller Mannigfaltigkeit und Eigen- art doch nach vielen Richtungen die ursprünglichsten Merkmale bewahrt hat. Wir erwähnen als solche den Bau des Nervensystems, welches strangförmig, noch nicht oder nur wenig gangliös differenziert ist, den Besitz cuticularer Stachelbildungen der Haut, die primitiven Züge im Bau ihrer Geschlechtsorgane, welche bei den Solenogastren noch durch Vermittlung des Pericards und zweier gewundener vielleicht der Niere der übrigen Mollusken zu homologisierenden Gänge ihre Keimprodukte entleeren. Wir behandeln hier nicht eingehend die schwierige Frage, welche unter den verschiedenen Formen der Amphineuren dem Urtypus am nächsten steht. Nierstraß hat das Für und Wider dieser Die Amphi- neuren als Ur- formen. 506 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Frage mit kritischem Blicke erörtert. Im allgemeinen wird man vielleicht an- nehmen dürfen, daß die Chitonen im Gesamthabitus der Urform näher stehen, daß die wurmförmigen Solenogastren mit rückgebildetem Fuße und spaltförmig verengter Mantelhöhle sich von diesem Typus durch Umbildungen, von denen uns die Käferschneckengattung Chitonellus (Cryptoplax) ein annäherndes Bild entwirft, entfernt haben, wenn sie auch in anderen Zügen, so vor allem in den Beziehungen ihrer Gonaden zum Pericard, ursprünglichere Merkmale als die Chitonen erkennen lassen. Es ist nicht zu leugnen, daß die Amphineuren das Bild der Urform der Weichtiere nur in modifizierter Weise erhalten haben, daß sie als Formen zu betrachten sind, welche durch Anpassung an besondere Lebens- gewohnheiten einseitig spezialisiert sind. Die Käferschnecken (Chitonen), nach Art der Napfschnecken in der Gezeitenzone lebend, an Strandfelsen sich ansau- gend und bei drohender Gefahr sich asselartig einrollend, erscheinen nicht weniger eigenartig, als die wurmförmigen Solenogastren, welche im Schlamm oder Sand des Grundes wühlen oder halbparasitisch Zweige von Korallen oder Hydroiden ringelnd umklammern. Die Anerkennung dieses verändernden Einflusses der Le- bensweise darf uns nicht hindern, die ursprünglichen Züge im Bau dieser Formen anzuerkennen. Naef hat vor kurzem den Versuch gemacht, Überlegungen der angedeuteten Art folgend, bei der Konstruktion des Urmollusks die Amphi- neuren als sekundär modifizierte Formen vollständig aus dem Kreise der Be- trachtungen auszuschalten und sich auf höher spezialisierte Molluskenformen, auf Cephalopoden und Entwicklungszustände von Gastropoden zu stützen. Es ist dies im allgemeinen ein gefährlicher, nur mit Vorsicht zu betretender Weg. Wenn es auch bei Beurteilung einer bestimmten Form oft schwierig ist, sekun- däre Adaptionen von primitiven Merkmalen zu trennen, so ist doch nicht zu vergessen, daß solche primitive Züge auch sich erhalten haben können bei Wesen, deren Gestalt durch verändernden Einfluß der Lebensweise modifiziert wurde. Wir wissen nichts von der Lebensweise des Urmollusks. Wenn Naef mit Rücksicht auf die Veligerlarve und auf die Cephalopoden eine schwimmende Urform zugrunde legt, so ist dagegen zu bedenken, daß die Entwicklung eines Fußes sowie einer Schale uns durch die Annahme einer kriechenden Stammform verständlicher wird. In der Tat hat man sich meist bei der Ableitung der Mollus- ken auf kriechende Ausgangsformen (auf Turbellarien oder Anneliden) bezogen. Man könnte noch weiter gehen. Bei dem unsicheren Tasten auf dem Gebiete der Phylogenie der Mollusken wandelt einen manchmal die Versuchung an, sich die Stammform dieser Gruppe als einen spirorbisartigen Röhrenwurm vor- zustellen, welcher unter Verlust der metameren Gliederung sekundär zu krie- chender Lebensweise übergegangen ist. Ein solcher Übergang von festsitzender zu kriechender Lebensweise ist bei Röhrenwürmern selten, doch nicht ganz un- erhört. Während die meisten Formen aus der Gruppe der Serpuliden ihre wurm- ähnlich gewundenen Kalkröhren an Steinen oder Austernschalen befestigen, lebt die Gattung Ditrupa mit gestreckter an beiden Enden offener Röhre frei im Sande. Langerhans konnte beobachten, daß Ditrupa arietina umherkriecht, indem sie jenen Kopffortsatz, der den Röhrendeckel trägt, verschiebt, den Deckel Die Amphineuren. Beziehungen der Mollusken zu den Würmern 507 irgendwo festklemmt und dann den Körper nachzieht. Diese Bewegungsweise muß stark an die der Zahnschnecken (Dentalien, aus der Gruppe der Soleno- conchen) erinnern. Von einer anderen Familie aus der vielgestaltigen Gruppe der Röhrenwürmer berichtet Ehlers: „Die Pectinarien bauen sich Häuser, in- dem sie Sandkörnchen zu Röhren zusammenkitten und kriechen damit herum, wie die Schnecke mit ihrem Hause, im weichen Schlammboden Furchen ziehend, die an die Spuren erinnern, welche die Wege der kriechenden Muscheln zurück- lassen.‘“ Um auf die Amphineuren zurückzukommen, sei erwähnt, daß primitive Merkmale ganz wohl bei einseitiger Spezialisierung erhalten bleiben können. Um ein Beispiel aus einer anderen Gruppe des Tierreiches heranzuzichen, sei erwähnt, daß Amphioxus zweifelsohne nach gewissen Richtungen sekundär mo- difiziert ist, wie sich besonders aus der schollenartigen Asymmetrie seiner Ju- gendformen ergibt. Diese Überlegung führt uns aber nicht dazu, die zahlreichen primitiven Züge im Bau dieser Form, welche sie als ein ‚‚Urwirbeltier‘‘ kenn- zeichnen, geringer zu bewerten. Bezüglich der Herleitung der Mollusken sehen wir uns auf den vielgestal- Beziehungen der tigen Kreis der Würmer und wurmähnlichen Formen verwiesen, und in der Tat "nu den hat man an den verschiedensten Stellen dieses Formenkreises Anknüpfungs- punkte zu finden geglaubt. Wenn wir nach dieser Richtung nur in tastenden Versuchen vorzugehen berechtigt sind, so liegt das daran, daß wir in diesem ganzen Kreise selbst die geringsten Spuren jener Organe vermissen, durch welche die Mollusken gekennzeichnet sind. Wir kennen keinen Wurm mit einem Fuß oder etwas Ähnlichem, mit Mantelhöhle, keinen Wurm, der uns deutliche Hinweise auf die Entwicklung der Molluskenschale brächte. Bezüg- lich des Fußes könnte man mit einigem Anschein von Berechtigung auf die bewimperte ventrale Kriechsohle der Gastrotrichen verweisen, welche sich in ähnlicher Ausbildung auch bei Dinophilus sowie bei Annelidenlarven und ur- sprünglichen Anneliden (Protodrilus) findet. Wenn wir von dieser Andeutung absehen, so erkennen wir im ganzen Kreise der Würmer keine Bildung, die als erster Vorläufer der oben genannten, für die Mollusken charakteristischen Or- gane gedeutet werden könnte. Es ist bei dieser Sachlage erklärlich,daß sich die Ableitungsversuche nach verschiedenen Richtungen bewegen; doch sei hier von einer Aufzählung und Erörterung aller dieser Versuche Abstand genom- men. Wir gehen nicht näher ein auf den Gedanken, die Mollusken mit Brachio- poden, mit Chaetognathen oder mit den in ihrer Stellung noch so wenig präzisier- ten Gordiiden in Beziehung zu bringen. Die Entwicklungsgeschichte der Mol- lusken liefert uns ein Mittel, den Kreis von Formen einzuengen, welche hinsicht- lich der Ableitung dieses Stammes allein in Frage kommen können. Die Entwicklung der Mollusken hat nahe Beziehungen zu der der Anne- Entwicklung der liden, ja sie ist in den ersten Stadien in beiden Gruppen nahezu identisch. Die a Übereinstimmung in allen Details ist eine so große, daß es unmöglich ist, sie auf anderem Wege als dem einer nahen verwandtschaftlichen Beziehung beider Gruppen zu erklären. Zunächst ist hervorzuheben, daß den Mollusken ein Vergleich mit den Turbellarien. 508 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen wohlcharakterisiertes Trochophorastadium eigen ist. Hierunter ist — wie Naef mit Recht hervorhebt — nicht das Veligerstadium der Mollusken zu verstehen, Wir müssen als Trochophora der Mollusken jene Vorstufen bezeichnen, welche noch vor Entwicklung des Fußes auftreten und allmählich zur Veligerform hin- überführen. Die Veligerlarve ist ein junges Mollusk mit allen Merkmalen eines solchen, welches durch den Besitz eines präoralen Wimperreifens und einer Urniere Larvencharaktere bewahrt hat. Außer dem Trochophorastadium ist den Mollusken und Anneliden gemein- sam: der gleiche, ungemein charakteristische Furchungstypus, den wir als Spi- raltypus der Furchung benennen. Er führt im weiteren Verlaufe zu einer höchst gesetzmäßigen Anordnung der Furchungszellen, zu gewissen Konfigurationen und Anlagengruppen, die in beiden Typen in übereinstimmender Weise wieder- kehren. Wir werden die Mollusken nur von Wurmformen ableiten können, bei denen dieser eigenartige Spiraltypus der Furchung beobachtet ist. Es sind dies die Gruppen der Turbellarien, der Nemertinen und der Anneliden. Andere Wurmformen kommen nach dem jetzigen Stande unserer Erkenntnis nicht in Frage. Auch von diesen drei Gruppen scheiden wohl die Nemertinen aus dem Kreise unserer Betrachtungen aus. In der Tat haben sich die Versuche einer phylogenetischen Herleitung der Mollusken vorzugsweise nach zwei Richtungen bewegt, die dahin tendieren, die Weichtiere an Turbellarien oder an Anneliden anzuschließen. Wir nehmen hier die Ergebnisse der neueren „Cell-Lineage‘‘-Forschung kurz vorweg. Wenngleich den Turbellarien derselbe Spiraltypus der Zellklüftung zukommt wie den Anneliden und Mollusken, so ist doch zu erkennen, daß in Hinsicht auf die Furchungsbilder die beiden letzteren Gruppen einander näher- stehen. Wir vermissen bei den Turbellarien die ungemein typische Figur des Kreuzes in der Episphäre, wie denn auch bei diesen Formen die in der Äquato- rialzone gelegenen vier Gruppen von Trochoblasten nicht als differente Partien des Furchungsbildes zum Ausdruck kommen. Das erklärt sich aus dem Um- stande, daß den Turbellarien ein typisch entwickeltes Trochophorastadıum fehlt, daß sie auf der Vorstufe der Protrochula stehen bleiben. Als allgemeines Resultat der ontogenetischen Überprüfung der hier in Rede stehenden Gruppen können wir aussprechen, daß Mollusken und Anneliden die größte Übereinstim- mung hinsichtlich ihres Entwicklungsverlaufes erkennen lassen, daß aber auch die Turbellarien diesem Entwicklungstypus einigermaßen nahestehen. Wenn wir zur Behandlung der Frage übergehen, welche der beiden ange- deuteten Hypothesen (die der Turbellarienabstammung oder die der Anneliden- abstammung der Mollusken) nach dem Bau der ausgebildeten Formen besser begründet erscheint, so liegt es auf der Hand, daß es bei dem Vergleich von Tur- bellarien und Mollusken sich nur um allgemeine Züge der Übereinstimmung handeln kann. Als solche Momente allgemeinerer Art, welche entfernt an Mol- lusken erinnern, wären zu erwähnen: der verbreiterte Körperumriß der Turbel- larien, das Kriechen auf bewimperter Ventralfläche, der parenchymatöse Cha- rakter ihres Körperinneren. Die meisten Anknüpfungspunkte ergeben sich aus Vergleich der Mollusken mit Turbellarien und Anneliden 509 einem Vergleich des Nervensystems der Platoden mit dem ursprünglicher Mol- lusken (der Amphineuren). Wir finden in beiden Gruppen vier durch Querana- stomosen miteinander verbundene Längsstränge des Zentralnervensystems, von denen zwei medianwärts, zwei mehr an den Seiten des Körpers verlaufen. In der Tat hat, soviel wir sehen, gerade diese Übereinstimmung der Turbella- rienhypothese die meisten Freunde zugeführt. In allen übrigen Verhältnissen innerer Organisation sind die beiden Gruppen einander so unähnlich, wie nur möglich, und es erfordert eine ganze Reihe gewagter Annahmen, um von Tur- bellarien die Brücke zu einem hypothetischen Urmollusk irgendwelcher Art zu gewinnen. Wir vermissen bei den Turbellarien Enddarm und Afteröffnung und ihr Exkretionssystem läßt sich nicht auf das der Mollusken beziehen. Überhaupt ist der ganze zusammenhängende Organkomplex, welcher bei den Mollusken Gonade, Herz, Pericard und Niere umfaßt, bei den Turbellarien auch nicht an- deutungsweise zu erkennen. Wir vermissen bei den Turbellarien ein Blutgefäß- system und ein echtes Cölom und ihre Geschlechtsorgane sind von denen der Mollusken weit verschieden. An diesem Punkte findet sich die hauptsächlichste Schwäche für die Annahme einer Turbellarienableitung der Mollusken. Daher ergehen sich die Autoren, wenn sie an diesem Punkt ihrer Auseinandersetzungen angelangt sind, in gewissen allgemeineren Behauptungen. Wir erfahren, daß wohl zunächst Kiemen zur Ausbildung gekommen sein möchten, und daß im An- schlusse daran das Blutgefäßsystem sich entwickelt habe, während Pericard und Niere durch Umbildung eines Teils der Geschlechtsausführungsgänge ent- standen zu denken seien usw. Diese Auseinandersetzungen einer früheren Zeit- periode können uns nicht befriedigen. Es sind Gedanken, aus dem Wunsche entsprungen, die Turbellarien den Mollusken zu nähern, wenig durch Tatsachen unterstützt. Auch die Herleitung der Molluskenschale stößt bei der Annahme der Turbellarienabstammung auf ziemliche Schwierigkeiten, die wir hier nicht näher betrachten. Demgegenüber ist in neuerer Zeit die Annelidenhypothese mehr in den Vor- dergrund gerückt; vor allem hat Pelseneer sich in diesem Sinne ausgesprochen und speziell auf die Gruppe der Euniciden vielleicht in etwas einseitiger Weise hingewiesen. Auch in Naef ist der Annelidenhypothese ein Verteidiger ent- standen. Habituell sind natürlich Ringelwürmer und Mollusken sehr verschie- den. Die Anneliden gegliedert, typische Cölomtiere mit geschlossenem Blut- gefäßsystem, die Mollusken ohne Körpersegmentierung, parenchymatöseSchizo- cölier mit offenem Zirkulationssystem und einem durch Ausbildung des Schizo- cöls verdrängten Cölom. Indes zeigt der Vergleich mit den Arthropoden, daß aus den Anneliden Formen hervorgehen können, in denen das Cölom und Zir- kulationssystem in der angedeuteten Richtung modifiziert wird. Es ist nicht zu leugnen, daß wir das Blutgefäßsystem der Mollusken ganz wohl von dem der Anneliden abzuleiten imstande sind und wir haben im zweiten Bande dieses Werkes versucht, die anatomische Eigentümlichkeit der Muscheln, bei denen der Darm das Herz durchbohrt, aus einem Vergleich mit dem Blutgefäßsystem der Anneliden zu erklären. Die Entwicklung von Herz, Pericard und Niere der Ableitung der Mollusken von Anneliden. 5Io K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Mollusken läßt sich leicht verstehen, wenn wir Anneliden als Stammformen dieser Gruppe ansehen, und so wird jener Punkt, den wir als Schwäche der Turbel- larienableitung bezeichneten, zur Stütze der Annelidenhypothese. Auch einer Ableitung des Nervensystems der Mollusken von dem der Anneliden stehen vielleicht keine unüberwindlichen Schwierigkeiten im Wege, wenngleich wir nicht verkennen, daß der Weg, den wir hier zu gehen haben, für uns noch im Dunkeln liegt. Der unklarste Punkt in der Ableitung des Zentralnervensystems der Mollusken ist für uns die Frage nach der Entstehung der Pleurovisceral- schlinge. Vielfach wird sie als ein sekundär hinzugebildeter Teil des ganzen Systems betrachtet, während Naef in ihr einen Abschnitt der Bauchganglien- kette erblickt. Zur Stütze der Annelidenableitung mag es auch dienen, daß wir in dieser Gruppe schalenbildende Formen kennen und daß die Hautstacheln der Amphineuren an die Borsten der Anneliden erinnern. Pelseneer führt gewisse Übereinstimmungen zwischen Anneliden und Mol- lusken an, deren Wert von Plate vielleicht mit Unrecht bestritten wurde. Wir heben hervor: die Übereinstimmung, welche zwischen der Buccalschlinge der Mollusken mit dem stomatogastrischen Nervensystem mancher Anneliden zu erkennen ist und das Vorhandensein eines ventralen Kiefersackes, welcher an die Radulatasche erinnernd bei Euniciden eine der Radula entfernt ähnliche Schlundbewaffnung birgt. Es ist zu erwähnen, daß ein ähnlicher ventraler mus- kulöser Schlundanhang auch bei ursprünglichen Annelidenformen, so bei Proto- drilus und Dinophilus — hier allerdings unbewaffnet — vorgefunden wird. Daß bei den Mollusken das System des Cöloms — welches hier durch die Höhlen der Geschlechtsorgane, des Pericards und der Nieren vertreten wird — reduziert ist, während an seiner Stelle ein bindegewebiges Mesenchym mit um- fangreichen Lückenräumen (Schizocöl) zwischen den einzelnen Organen sich ausbreitet, kann für die Annahme einer Herleitung von Anneliden keine ernsthafte Schwierigkeit bedeuten; denn wir sehen ähnliche Umbildungen auch in der Gruppe der Arthropoden — dort ebenfalls im Anschlusse an die Ausbildung eines cuticularen Außenskelettes vor sich gehen, ja in der Gruppe der Anneliden selbst liefern uns die Hirudineen ein Beispiel von mesenchyma- tischer Umbildung der Cölomwände. Ernstere Schwierigkeiten erwachsen der Annelidenhypothese aus dem Gesamthabitus der Mollusken, aus ihrem verkürz- ten gedrängten Körperbau sowie aus dem Fehlen metamerer Segmentierung. Man muß sich fragen: finden sich Spuren segmentaler Körpergliederung im Kreise der Mollusken, und kann es angenommen werden, daß die Metamerie des Annelidenkörpers sekundär vollständig rückgebildet wird ? Was den ersteren Punkt betrifft, so wurde vielfach auf die Verhältnisse bei der Cephalopodengattung Nautilus verwiesen, welche Form in dem Besitz von zwei Kiemenpaaren, von vier Vorhöfen des Herzens und vier Nieren das Vorhandensein von zwei aufeinanderfolgenden Rumpfmetameren andeutet. Erst vor kurzem hat W. Marchand geltend gemacht, daß man diese Erschei- nung kaum auf andere Weise zu erklären imstande ist. Den Anschein von Meta- merie, welcher bei den Chitonen aus dem regelmäßigen Aufeinanderfolgen ter- Hypothese der Annelidenabstammung der Mollusken SIRT galer Skelettplatten, aus der Vermehrung der Kiemenbäumchen, aus den Quer- anastomosen zwischen den Längsnervensträngen sich ergibt, möchten wir wie ähnliche Erscheinungen an den Gonaden und dem Nervensystem der Soleno- gastren, nicht als eine Spur verschwindender echter Segmentierung, sondern eher als einen aus Anpassung an die besondere Lebensweise hervorgegangenen Fall von sog. ‚„Pseudometamerie‘‘ betrachten. Da man die Vorkommnisse bei Nautilus schließlich doch auch durch eine merkwürdige Verdopplung bestimmter Organe erklären kann, so muß man sagen, daß weder im Körperbau, noch in der Ontogenie der Mollusken deutliche unzweifelhafte Spuren zu erkennen sind, welche auf eine ehemalige Segmentierung ihrer Ahnenformen hinweisen. Man muß aber anderseits geltend machen, daß bei Anneliden, bei festsit- zenden, röhrenbildenden oder in Steinlöchern, im Schlamme halbsedentär leben- den Formen eine gewisse Tendenz zu erkennen ist, die Metamerie rückzubilden. Weitgehend ist diese Rückbildung durchgeführt in jener Annelidengruppe, welche man früher unter dem Namen der Gephyreen oder Brückentiere zusam- menfaßte. Wenn hier bei den borstentragenden Echiuroiden die metamere Glie- derung wenigstens in den Jugendstadien zur Anlage kommt, so ist sie bei den Sipunculoiden so vollständig rückgebildet, daß bei vielen Forschern die Neigung bestand, diese letztere Gruppe als primär unsegmentiert zu betrachten, resp. als oligomere Formen, welche am besten mit den Tentaculaten und Pterobran- chiern in der Gruppe der Prosopygia zu vereinigen wären. Die Stellung der Sipunculoidea, ihre Zurückführung auf Anneliden, wurde erst durch die Unter- suchungen von Gerould begründet, welcher in der Entwicklung von Phas colosoma Spuren metamerer Gliederung erkennen konnte. Wenn sonach bei gewissen Anneliden die Metamerie fast völlig in Verlust geraten kann, so werden wir aus ihrem Fehlen bei den Mollusken keinen Gegen- grund gegen die Annahme einer Abstammung dieser Gruppe von Ringelwür- mern erblicken können. Noch sind wir nicht imstande, diese Spur anders als ahnungsweise zu verfolgen. Was wir aussagen können, ist nur, daß die entwick- lungsgeschichtlichen und anatomischen Tatsachen mehr für eine Herleitung der Mollusken von Anneliden sprechen als von Turbellarien. XII. Zur Phylogenie der Deuterostomia. Bei Betrachtung der Deuterostomia sehen wir uns in ein neues Reich ver- setzt. Es ist, wie wenn wir einen neuen Kontinent beträten. Um diese Gruppe vorurteilslos zu beurteilen, müssen wir Denkgewohnheiten, Erinnerungen an alles, was sich uns bei dem Studium der Würmer, der Arthropoden und Mollus- ken eingeprägt hat, tunlichst ausschalten. In der Tat haben die wiederholten und an verschiedenen Punkten dieser Reihe einsetzenden Versuche, Gesichts- punkte, die aus dem Kreise der Trochophoratiere stammen, zur Beurteilung der Deuterostomia heranzuziehen, nicht selten Verwirrung hervorgerufen. Wir müssen als solche falsche Tendenzen bezeichnen: alle Versuche, die Organisation der Vertebraten auf die der Anneliden zu beziehen, das Suchen nach einem pri- mären Mund der Vertebraten, das Forschen nach einem Chordarudiment bei Charakteristik der Deuterosto- mia, 342 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen Anneliden und bei Insektenembryonen, den Wunsch, in der Entwicklung der Bauchganglienkette dieser Formen etwas der Einstülpung eines Medullarrohres Vergleichbares aufzufinden, die Bezeichnung der Eichel- und Kragenporen von Balanoglossus oder des Hydroporus der Echinodermenlarven mit dem Namen „Nephridien‘‘, das Bestreben, die Tornaria auf eine echte Trochophora zurück- zuführen, wonach sich ergeben müßte, daß das Chordarudiment und die Kiemen- spalten von Balanoglossus als dem Vorderdarm entstammend ektodermalen Ursprungs sind, das Suchen nach den Urzellen des Mesoderms in der Entwick- lung der Echinodermen und von Amphioxus — und ähnliches. Alle derartigen Erinnerungen an die Trochophora werden wir nach Tunlichkeit zu vermeiden suchen. Wenn wir auch der Ansicht sind, daß die Protostomia und die Deutero- stomia an ihrer Wurzel zusammenhängen, daß gewisse Beziehungen zwischen den Larvenformen der Enteropneusten und Echinodermen und denen der Wür- mer und Mollusken bestehen, so wird es doch zur Klärung beitragen, wenn wir den Stamm der Deuterostomia als ein Reich für sich betrachten, das nur in ent- fernten Anklängen an jenen dunklen Zusammenhang mit den übrigen Stämmen der Metazoen erinnert. Wie selbständig die Gruppe der Deuterostomia vor uns steht, ergibt sich bei einem Vergleich der wohlbekannten Züge der Echinodermenentwicklung mit der einer Anneliden- oder Molluskentrochophora. Wir vermissen in der Furchung der Echinodermen durchaus alles, was an den Spiraltypus erinnert. Der Furchungsmodus der Echinodermen ist ein radiärsymmetrischer und neigt bei den Chordaten zu frühzeitiger Ausbildung der Bilateralsymmetrie. Der Blastoporus erhältsich als After der Larve. Der Mund wird entfernt davon, unab- hängig vom Urmund entwickelt. Sekundäre ektodermale Einbuchtungen (Stomo- daeum und Proctodaeum) nehmen an der Ausbildung des Darmkanals keinen oder nur einen ganz geringen Anteil. Der Darm der Deuterostomia ist im allge- meinen eine entodermale Bildung und die Abgrenzung desselben gegen eine even- tuell vorhandene Mundbuchtresp. Afterbucht wird undeutlich. Das Mesenchym der Larven ist entodermalen Ursprungs. Wir wissen nichts von dem Vorhanden- sein eines Ektomesoderms oder ‚larvalen Mesoblasts‘ in der Entwicklung dieser Gruppe. Die Deuterostomia sind Enterocölia und dies ist eines der hervorragend- sten Merkmale in ihrer embryologischen Charakteristik. Die Cölomsäcke wer- den hier durch Abfaltung vom Urdarm gebildet. Die Scheitelplatte ist meist undeutlich und spielt in der späteren Entwicklung der Deuterostomia keines- wegs jene wichtige Rolle, die ihr als Gehirnanlage in dem Bildungsgange der Trochophoratiere zukommt. Wir finden keine Spur einer larvalen Urniere. Wir haben hier nur wie mit Streiflichtern jene Punkte herausgehoben, die zur ent- wicklungsgeschichtlichen Kennzeichnung der ganzen Gruppe dienen. Wir rechnen zur Gruppe der Deuterostomia: die pelagischen Chaetogna- then (Sagitta), die Enteropneusta (Balanoglossus), die Echinodermen und die Chordatiere (Ascidien, Amphioxus und die Vertebraten). An die Enteropneu- sten schließt sich die kleine aber hochwichtige Sippe der Pierobranchia (Rhab- dopleura und Cephalodiscus) an und durch ihre Vermittlung werden — wie Allgemeine Charakteristik der Deuterostomia 513 Braem neuerdings in bedeutungsvoller Weise hervorgehoben hat — die Ten- taculata (Phoronis, Bryozoa, Brachiopoda) dem Verwandtschaftskreise dieser Formen genähert. Die Deuterostomia sind nicht bloß entwicklungsgeschichtlich als genetische und systematische Einheit gekennzeichnet. Es fehlt auch nicht an übereinstim- menden Zügen in der Anatomie der ausgebildeten Formen. Wir heben als solche hervor: I. die geringe Neigung zur Ausbildung der gangliösen Form des Nerven- systems, wie es uns bei Anneliden und Mollusken entgegentritt. Das Nerven- system der Deuterostomia, das bei vielen ursprünglichen Formen dieser Gruppe den Zusammenhang mit dem Ektoderm zeitlebens bewahrt, konzentriert sich in der Gestalt von Strängen oder Röhren. Wir begegnen einem röhrenförmigen Nervensystem, das wir bei den Protostomia durchweg vermissen: im Kragen- mark von Balanoglossus, in den versenkten Nervensträngen der Ophiuriden, Echiniden und Holothurien und im Rückenmark der Chordaten; 2. die geringe Neigung zu mesenchymatischer Umbildung der Cölomwände und zur Rückbil- dung des Blutgefäßsystems. Parenchymatöse Formen und Schizocölier, wie sie uns unter den Protostomia in der Gruppe der Hirudineen, der Arthropoden und Mollusken begegnen, finden sich kaum bei den Deuterostomia. Als typische Enterocölier zeigen sie meist ein umfangreiches Cölom, in welchem der Darm an Mesenterien befestigt erscheint, und ein geschlossenes Blutgefäßsystem; 3. eine im allgemeinen geringere Neigung zur Ausbildung äußerer cuticularer Skelettbildungen. Als solche sind die Wohnröhren der Pterobranchier zu be- trachten, während bei den Echinodermen und Chordaten innere, verkalkte, mesenchymatische Skelettbildungen maßgebend werden; 4. ein merkwürdiges, noch wenig geklärtes Zurücktreten des Nephridialsystems in mehreren Klassen dieser Gruppe. Wir finden bei den Enteropneusten, den Pterobranchiern und den Echinodermen keine Bildung, die wir mit Sicherheit oder mit einigem Grad von Berechtigung den Nephridien der Protostomia vergleichen können. Da- gegen treten uns in dieser Formenreihe Cölomporen eigener Art entgegen (Hy- droporus der Echinodermenlarven und der Tornaria, Eichel- und Kragenporen der Enteropneusten), von denen sich vielleicht in den Jugendzuständen von Amphioxus gewisse Spuren erhalten haben (Hatscheksche Grube). Den näch- sten Anschluß an die Verhältnisse der Protostomia zeigen bezüglich ihres Ex- kretionssystems: Amphioxus und die Vertebraten. Die von Boveriund Weiß bei Amphioxus entdeckten Nierenkanälchen, an denen Goodrich die Soleno- cyten nachwies, dürften jedenfalls in irgendeiner für uns noch nicht genauer zu durchschauenden Weise mit dem System der Vor- und Urniere der Verte- braten in Beziehung zu setzen sein. Wenn wir die Gruppe der Tentaculata, welche in eigentümlicher Weise Merkmale der Protostomia und Deuterostomia vereinigt, aus dem Kreise un- serer Betrachtungen ausscheiden und uns den Deuterostomia im eigentlichen Sinne zuwenden, so werden wir in den Stämmen der Echinodermen und Chor- daten artenreiche, zu höherer Entwicklung befähigte und zum Teil hochspeziali- sierte Formengruppen der hier in Frage kommenden Reihe erblicken. Ihre Phy- K.d.G.IH.ıv,Bd 4 Abstammungslehre etc. 33 Die ursprüngli- chen Formen unter den Deute- rostomia. 514 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen logenie soll uns noch später beschäftigen. Als ursprünglichere, der Wurzel des Stammes näherstehende Typen treten uns die Chaetognathen, die Entero- pneusten und die Pterobranchia entgegen. Es ist nicht leicht, aus diesen spär- lichen Resten, aus diesen Trümmern eines an vorweltlichen Formen offenbar reichen morphologischen Aufbaues, auf die Organisation dergemeinsamenStamm- form der ganzen Gruppe zu schließen. Die Gruppe der Pfeilwürmer (Chaeto- gnathen), zu denen wir die Gattungen Sagitta, Spadella u. a. rechnen, hoch- pelagische Formen, fischähnlich mit horizontalen Flossensäumen sich bewegend, lassen in ihrer direkten Entwicklungsweise nichts von jenen typischen Larven- formen erkennen, die uns bei phylogenetischen Untersuchungen vielfach leiten. Sie repräsentieren offenbar einen nach bestimmter Richtung einseitig modi- fizierten Seitenzweig des ganzen Stammes. Anderseits erscheinen auch die Enteropneusten und die Pterobranchia offenbar durch ihre festsitzende Lebens- weise metamorphosiert. Dies gilt von den Pterobranchia in hohem Grade. Röhrenbildend, tubicol lassen sie in der dorsalen Einkrümmung ihres Darmes, in der Annäherung des Afters an die Mundöffnung, in dem Besitz einer bewim- perten Tentakelkrone, in der Fähigkeit zu ungeschlechtlicher Vermehrung durch Knospung alle jene Merkmale erkennen, die wir als Folgezustände seden- tärer Lebensweise aufzufassen gewohnt sind. Sie können das Bild des ursprüng- lichen Zustandes nur in abgeänderter Form erhalten haben. Bei den Entero- pneusten (Balanoglossus) geht vielleicht die Modifikation nach der gleichen Rich- tung nicht ganz so weit. Immerhin mag auch hier der Aufenthalt in selbstge- grabenen, mit Schleim austapezierten Löchern im Sande der Gezeitenzone die Regionenbildung des Körpers, die Entwicklung eines in Eichel und Kragen ge- gebenen, schwellbaren Lokomotionsapparates in bestimmter Weise beeinflußt haben. Trotzdem wird man sich vielleicht der Ansicht zuneigen dürfen, daß Balanoglossus unter allen Formen der Deuterostomia den frei umherkriechen- den Stammformen der ganzen Gruppe noch verhältnismäßig am nächsten steht. Wir werden bei der Betrachtung der Phylogenie der Deuterostomia die Tornaria und die aus ihrer Metamorphose hervorgehenden Jugendstadien der Entero- pneusten in den Vordergrund zu rücken haben. Der Tornaria stehen die Echino- dermenlarven ungemein nahe, und eine aus der Betrachtung der Echinodermen- larven abstrahierte Ausgangsform für die Phylogenie dieser Gruppe, die hypo- thetische Dipleurula, kann als das wenig modifizierte Abbild eines jungen, eben aus der Metamorphose hervorgegangenen Balanoglossus gelten. Das gemeinsame Merkmal aller dieser ursprünglicheren Formen aus der Reihe der Deuterostomia ist gegeben in einer Gliederung des Körpers in drei aufeinander folgende Regionen, denen ebensoviele Cölomcompartimente ent- sprechen. Sie treten uns an Balanoglossus als Eichel-, Kragen- und Rumpf- region entgegen, und die gleiche Körpergliederung erkennen wir an den Piero- branchia, sowie bei den Tentakulaten, bei denen die betreffenden Abschnitte als Epistom, Lophophor und Rumpf bezeichnet werden. Auch der Körper der fischähnlichen Chaetognathen weist drei durch besondere Cölomsackpaare ge- kennzeichnete Regionen: Kopf-, Rumpf- und Schwanzregion, auf. Wir werden Die ursprünglichen Formen im Kreise der Deuterostomia 515 sehen, daß auch die als Ausgangsform der Echinodermen zu betrachtende Di- pleurula drei Cölomsackpaare enthält, die wir hier als Axocöl, Hydrocöl und So- matocöl unterscheiden. Vielfach hat man in diesem Vorkommen von aufein- ander folgenden Cölomsackpaaren einen Fall von echter Metamerie erblickt und Bütschli hat die hier in Betracht kommenden Formgruppen als Oligomera, andere als Trimera zusammengefaßt. Es muß aber streng genommen noch als fraglich erscheinen, ob es sich hier wirklich um echte Metamerie handelt, ob nicht vielmehr eine regionäre Teilung des Körpers vorliegt, die von echter Meta- merie zu trennen ist. Bei Balanoglossus sind die drei Regionen: Eichel, Kragen und Rumpf funktionell und ihrem Bau nach ziemlich voneinander verschieden. Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß das Cölom der vordersten Körper- region sich manchmal in seiner Entwicklungsweise von dem der folgenden Regionen unterscheidet. Bei Balanoglossus wird das Eichelcölom als unpaares Säckchen vom Urdarm abgeschnürt, während Kragen- und Rumpfcölom paarig angelegt werden, und Spuren dieser Entwicklungsweise haben sich auch in den Echinodermenlarven und in der Art der Bildung der ‚vorderen Entodermsäck- chen‘ von Amphioxus erhalten. Zugunsten jener Auffassung, welche die Tri- merie ursprünglicher Deuterostomiaformen als echte Metamerie in Anspruch nimmt, könnte angeführt werden: das Vorkommen von Cölomporen in den bei- den vorderen Segmenten (Eichelporen und Kragenporen) bei Balanoglossus und das Vorkommen von paarigen Geschlechtsausführungsgängen (Cölomoducten) in den beiden hinteren Körpersegmenten der Chaetognathen. Solche Wieder- holung bestimmter ausleitender Öffnungen oder Gänge an hintereinander fol- genden Cölomsackpaaren scheint auf Metamerie hinzuweisen. Es ist auch an- zuerkennen, daß in dem jungen Balanoglossus die drei Körperregionen einander ähnlicher sind, als in der erwachsenen Form. Wir wollen die Zweifel, die uns bei der Behandlung der hier vorliegenden Frage beschleichen, nur angedeutet haben, ohne uns für die eine oder andere Auffassung bestimmt zu entscheiden. Wenn wir den Versuch machen würden, die gemeinsamen Züge im Bau ursprünglicher Deuterostomia zusammenzufassen und alle jene Merkmale eli- minierend, welche als speziellere Anpassungen an die Lebensführung der be- treffenden Formen zu betrachten sind, gewissermaßen nur den eisernen Bestand an Organbildungen dieser Gruppe festzulegen, so würden wir zu einer Aufstel- lung gelangen, welche der im nächsten Abschnitte als hypothetische Stamm- form der Echinodermen geschilderten Dipleurula ungemein ähnlich ist. Wir verweisen diesbezüglich auf das folgende. Von der Dipleurula würden wir in dunklere Gebiete der Stammesgeschichte nach rückwärts schreitend durch Ver- mittlung der jüngeren Tornarien oder eines unserer hypothetischen Sphenula ähnlichen Wesens (S. 475) den Anschluß an ctenophorenähnliche Urformen zu gewinnen suchen. Quellen zur Er- forschung der Phylogenie der Echinodermen, 516 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen XIII. Zur Phylogenie der Echinodermen. Wenn wir zur Behandlung des schwierigen Kapitels der Phylogenie der Echinodermen übergehen, so sei es gestattet, dies Gebiet in etwas dogmatischer Weise zu behandeln. Es sei vorausgeschickt, daß die Vorstellungen, welche wir uns im Anschlusse an bewährte Autoren, wie Lang und Bather, gebildet haben, sich auf eine genaue Betrachtung der Vorgänge stützen, die in der Meta- morphose der Echinodermenlarven zu beobachten sind. In der Tat kann man aussprechen, daß die im folgenden entwickelten Hypothesen kaum etwas an- deres sind, als eine Umschreibung, eine Paraphrasierung der Tatsachen der Echinodermenmetamorphose. Die Fiktion einer bilateralsymmetrischen Ur- form, die wir als Dipleurula bezeichnen, stellt kaum etwas anderes dar als eine Echinodermenlarve — etwa eine Bipinnaria — unter Weglassung der auf lappige Fortsätze erhobenen Züge der Wimperschnur. Auch die Umwandlungen, welche wir unsere Dipleurula durchmachen lassen, sind den Umformungen, welche die Echinodermenlarven während ihrer Metamorphose erleiden, nachgeschrieben. Bei Betrachtung der speziellen Phylogenie der Echinodermen ist das schätz- bare Material, das uns die Paläontologie dieser Gruppe liefert, nicht zu ver- gessen. Sie lehrt uns in der Gruppe der Amphorideen mannigfaltige Reste ur- sprünglichster Formen erkennen, bei denen die Pentamerie des Echinodermen- körpers noch kaum zum Ausdruck kommt, sie liefert Hinweise auf die Ablei- tung der formenreichen Gruppe der Crinoideen von blastoideenähnlichen We- sen, während in der Klasse der Edrioasteroidea möglicherweise Formen vor- liegen, welche die Kluft zwischen Pelmatozoen und Eleutherozoen überbrücken. Vielfach ist das Gebiet dieser Zusammenhänge für uns noch ein dunkles. Neue Funde werden die Lücken ergänzen oder unsere Aufmerksamkeit nach anderer Richtung leiten. Erst vor kurzem hat J. Wanner aus den Perm- schichten der Insel Timor eine Form beschrieben, die in merkwürdiger Weise zwischen Blastoideen und Echinoiden zu vermitteln scheint. Wenn uns die Paläontologie eine Vorstellung von der unendlichen Mannig- faltigkeit vorweltlicher Formen ermöglicht, wenn sie uns über die Beziehungen aufklärt, welche zwischen den einzelnen Klassen der Echinodermen bestehen, so sehen wir uns bei der Frage nach der Herleitung des Stammes als Ganzes doch mehr auf die Tatsachen der Ontogenie verwiesen. Hier wird es bei der großen Mannigfaltigkeit der Larventypen, bei den verschiedenen Wegen, die sie in ihrer Metamorphose einschlagen, von Wichtigkeit sein, die Vorfrage zu entscheiden, in welcher Gruppe sich möglicherweise die ursprünglichsten Züge der Entwicklung erhalten haben könnten. Wir neigen nicht zu der vielfach vertretenen Anschauung, daß uns die Holothurien das am wenigsten getrübte Bild ursprünglicher Zustände enthüllen, eine Anschauung, die noch Semon bei der Aufstellung seiner Pentactaeatheorie undauch Haeckel, derihm nachfolgte, bis zu einem gewissen Grade beeinflußte. Wir stimmen durchaus mit Lang überein, wenn er sagt: „Da ein großer Überblick über die Erscheinungen im Tierreich den radiären Körperbau als eine Folge der festsitzenden Allgemeines zur Phylogenie der Echinodermen. Die Dipleurula 517 Lebensweise erscheinen läßt, so müssen wir annehmen, daß aus der freibeweglichen, bilateralen Stammform das radiäre Echinoderm in An- passung an eine neu erworbene, nämlich eben die festsitzende Lebensweise, her- vorging.‘ „Es müssen also alle Echinodermen einmal festsitzende Tiere gewesen sein.“ „Wenn wir ermitteln wollen, wie im speziellen die Festheftung er- folgte, so scheint es uns unvermeidlich, daß wir uns behufs Beantwortung dieser speziellen Fragenotwendigerweise an die Crinoiden wenden müs- sen. Es sind dies die einzigen Echinodermen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach die festsitzende Lebensweise nie mehr aufgegeben haben.‘ Nach diesen Gesichtspunkten wird uns die von Bury und Seeliger genauer erforschte Ent- wicklungsweise von Antedon, sowie der Bau ihrer pentacrinoiden Jugendzu- stände die wertvollsten Hinweise auf die Phylogenie der Stachelhäuter liefern. Von den Eleutherozoa scheinen die Asteriden in ihrer Entwicklungsgeschichte die ursprünglichsten Züge erhalten zu haben. Versuchen wir es, uns ein Bild der freilebenden, bilateralsymmetrischen Stammform der Echinodermen, welche wir im Anschlusse an Semon als Di- pleurula bezeichnen und von der uns ein verschiedenartig gestaltetes Abbild in den Larven der jetzt lebenden Stachelhäuter vorliegt, zu entwerfen. Es han- delt sich um ein kleines, wurmförmiges, kriechendes Wesen von ovoidem Kör- perumriß (Fig. 23 A) mit verschmälertem vorderen, keulig verdicktem hinteren Körperende. Die Bauchseite war ursprünglich wohl flach, mit einer Neigung zu konkaver Einbuchtung. Ob wir dieser Form eine allseitig gleichmäßige Bewim- perung zuzuschreiben haben, oder ob sie — wie dies Caswell Grave annimmt — mit fünf zirkulären Wimpergürteln versehen war, sei noch dahingestellt. Mit Rücksicht auf die Jugendzustände von Balanoglossus wird man annehmen dürfen, daß bei dem Übergang von der pelagischen zur kriechenden Lebens- weise die Wimperbänder durch ein allgemeines Flimmerkleid ersetzt wurden, so daß wir der Dipleurula vielleicht allgemeine Körperbewimperung zuschreiben dürfen. Das vordere Körperende war durch ein Sinnesorgan mit Wimperschopf (Scheitelplatte sp) und durch ein mit diesem in Verbindung stehendes Nerven- zentrum gekennzeichnet. Der Mund (m) befand sich an der Bauchseite an der Grenze von erster und zweiter Körperregion. Der Darmkanal, fast vollständig entodermalen Ursprungs, war ventralwärts eingekrümmt, hufeisenförmig mit an der Bauchseite nach vorne verlagertem After (an). Dieser Umstand deutet vielleicht darauf hin, daß wir uns die Dipleurula als eine tubicole Form vorzu- stellen haben. Der Darm zerfällt in drei Abschnitte, welche als Oesophagus, Magen und Intestinum bezeichnet werden. Von diesen verläuft der letzte Ab- schnitt entsprechend der Verlagerung des Afters an der Bauchseite von hinten nach vorn. Der Darm wird im Cölom durch ein dorsoventrales Mesenterium festgehalten. Der Körper zerfällt in drei Körperregionen, denen ebensoviele Cölomsack- paare entsprechen. Die vorderste Region kann als Präoralregion oder Kopf- Bau der Dipleurula. 518 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen lappen bezeichnet werden. Sie entbehrt des Darmkanals. Ihre beiden Cölom- säcke, von uns als Axocöl (ax) bezeichnet, öffneten sich dorsalwärts mit paarigen Porenkanälen (und Hydroporen po) nach außen. Diese Region ist der Eichel- region von Balanoglossus gleichzusetzen; ihre Cölompforten entsprechen den Eichelporen dieser Form. Die zweite zirkumösophageale Körperregion enthält ein Cölomsackpaar, welches den Oesophagus umfassend dessen dorsales und ventrales Mesenterium zur Entwicklung bringt. Es entspricht dem Kragen- cölom von Balanoglossus und wird bei den Echinodermen als Hydrocöl (Ay) bezeichnet. Besondere Kragenporen fehlen der Dipleurula; dagegen steht das Hydrocöl durch nach vorne verlaufende Verbindungskanäle (st) mit dem Axo- cöl in Kommunikation. Diese Verbindungsgänge, aus deren linkem der Stein- kanal der ausgebildeten Form hervorgeht, münden in das Axocöl nahe an der Stelle, an welcher aus diesem der zum Hydroporus führende Porenkanal ent- springt. Es ist auf diese Weise für das Hydrocöl durch Vermittlung des Axocöls die Kommunikation mit dem umgebenden Medium hergestellt. Die umfang- reichste Leibeshöhle findet sich in der dritten Körperregion: der Rumpfregion. Ihr Cölomsackpaar, zu den Seiten des Magens gelegen, und ein dorsoventrales, in der Medianebene sich ausbreitendes Mesenterium bildend, soll als Somatocöl (rs, Is) bezeichnet werden. Es entbehrt der Kommunikation mit der Körper- oberfläche. Die Gonaden, als lokale Verdickungen seiner Wand entstehend, ge- winnen frühzeitig selbständige Ausführungsgänge. Die primäre Leibeshöhle ist mit Mesenchym entodermaler Abstammung erfüllt, das zur Entwicklung von Kalknetzen befähigt erscheint. Das Nervensystem der Dipleurula besteht aus dem oben erwähnten apikalen Zentrum, von welchem zwei ventrale Längs- stämme, den Oesophagus als Schlundcommissur umziehend und hinter dem Munde sich zu einem ventralen Längsstamme vereinigend, ausgehen. Wir werden vermutungsweise und unter der Annahme tubicoler Lebens- weise der Dipleurula ein Paar tentakeltragender Lophophorarme zuschreiben dürfen, welche hier, wie bei Rhabdopleura, von der Kragenregion ausgehen. Da aber diese Annahme zunächst in unseren Ausführungen keine Rolle spielt, so werden wir sie vorläufig vernachlässigen. Wir wollen aber auf diesen Punkt noch zurückkommen. Festsetzung. Bei dem Übergange zur sedentären Lebensweise erfolgte die Festheftung der Dipleurula mit dem vorderen Körperende — nicht direkt mit der Scheitel- platte, sondern durch Vermittlung einer in ihrer Nähe ventralwärts gelegenen drüsigen Anheftungsgrube. Der Kopflappen wird jetzt zum Stiel der festsitzen- den Form, während sich der hintere Körperabschnitt etwas von der Unterlage abhob. Bei dem stielförmigen Auswachsen des Kopflappens wird das Axocöl entsprechend gestreckt (Fig. 23B). Aus ihm, und zwar aus dem linken Axocöl- säckchen, geht der Axialsinus (ax’) und die Ampulle (ax’’) unter der Madre- porenplatte der ausgebildeten Form hervor. Baur Die nächsten Schritte in der Umbildung der festgehefteten Dipleurula sind 9 durch eine merkwürdige Abweichung von der bisher festgehaltenen bilateral- symmetrischen Bildungsweise gekennzeichnet. Zunächst rückt der Mund Festsetzung der Dipleurula und Verlagerung des Mundes 519 (Fig. 23B m) an die linke Körperseite. Man hat, um diese Neigung zu asymme- trischer Entwicklung zu erklären, angenommen, daß die Festsetzung der Di- pleurula mit einem an der rechten Seite (etwa rechts vorne) gelegenen Anhef- tungspunkte erfolgte. Doch finden sich für diese Annahme in der Entwicklung Fig. 23. Schemen zur Verdeutlichung der Phylogenie der Echinodermen. A Dipleurula. 3—D verschiedene Stadien der Festsetzung, sämtlich von links gesehen. ax After, ax Axocöl, ar’ Axialsinus, ar’ Ampulle unter der Madre- porenplatte, A hinten, Ay Hydrocöl, Z/s linkes Somatocöl (in D actinaler Cölomsack),, 2 Mund, 7z5 Mesen- terium, 20 Primärporus der Madreporenplatte (Rückenporus), 7s rechtes Somatocöl (in D abactinaler Cölom- sack), sÖ Scheitelplatte, s? Steinkanal, v vorne, v—% primäre Längsachse, z, 2, 3,4, 5 die Anlagen der fünf Radiärkanäle des Ambulacralsystems. Im Anschlusse an BATHER. von Antedon keine Grundlagen. Man wird sich, um die sofort näher zu kenn- zeichnende Asymmetrie der Entwicklung zu erklären, mit der allgemeinen An- deutung zufrieden geben müssen, daß bei tubicolen Formen nicht selten die Tendenz zu asymmetrischer Körperentwicklung beobachtet wird. Sie ist z. B. an dem Querschnitt von Phoronis in der ungleichen Ausbildung der Fiedern des Hautmuskelschlauches gut zu erkennen. Auch bei Rhabdopleura soll eine schwache Verlagerung des Mundes nach links zu bemerken sein. Vielleicht darf man hier auch die Asymmetrie des jugendlichen im Sande bohrenden Amphi- oxus zum Vergleiche heranziehen. Während der Mund nach links verlagert wird, buchtet er das linke Hydro- 520 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen cöl(Fig.23BundC%y) hufeisenförmig ein. Es wird auf diese Weise die Umwach- sung des Oesophagus durch das linke Hydrocöl angebahnt, welches sich ring- förmig schließend den Hydrocircus, den Ringkanal des Ambulacralgefäß- systems, zur Ausbildung bringt. Durch fünf Buchten dieser Anlage kommt die erste Andeutung der Pentamerie der Echinodermen zum Ausdruck. Die fünf Divertikel liefern zunächst den ambulacralen Innenraum der fünf Primärten- takel und im weiteren Verlaufe die ambulacralen Längsstämme der fünf Arme. Es geht somit fast das ganze ambulacrale Gefäßsystem des Echinoderms aus dem linken Hydrocöl der Dipleurula hervor. Gleichzeitig erkennen wir, daß die nächste Umgebung des nach links verlagerten Mundes gewissermaßen das Bildungszentrum für die Entwicklung des fünfstrahligen Echinodermenkörpers darstellt. Von hier gehen orientierende Wirkungen aus, denen sich im weiteren Verlaufe die übrigen Organsysteme unterordnen. Überhaupt nehmen in der Entwicklung des Echinoderms die Organe der linken Körperseite erheblicheren Anteil als die der rechten. Das Axocöl und Hydrocöl der rechten Körperseite wird rückgebildet und bei den Eleutherozoa nimmt auch im Verlaufe der spä- teren Entwicklung das rechte Somatocöl an der Ausbildung der definitiven Leibeshöhle geringeren Anteil als das linke. Entwicklung des Betrachten wir den circumoralen Organkomplex, der uns in diesem Sta- jungen Echino- ,. . - 5 = 5 3 es. dıum gewissermaßen die Anlage des jungen Echinoderms repräsentiert, genauer, so finden wir, daß von den fünf radiären Anlagen des Ambulacralsystems zwei der Rückenseite und zwei der Bauchseite angehören, während ein unpaarer Radius nach hinten sieht, und zwar entwickeln sich die Radien I und 2 an der Dorsalseite, die Radien 4 und 5 an der Ventralseite, der unpaare hintere Ra- dius führt nach unserer Bezeichnungsweise die Zahl 3. Noch ist die hufeisen- förmige Anlage des ambulacralen Gefäßringes nicht geschlossen. Sie ist geöff- net in jenem nach vorne gerichteten Interradius, welcher zwischen den Anlagen 5 und I eingeschoben ist. In diesem ausgezeichneten Interradius vollzieht sich später der Verschluß des Hydrocircus und in ihn kommen auch sowohl der Steinkanal und der Hydroporus als auch die Afteröffnung zu liegen. Dies ein- fache, primäre Verhalten ist aber nur in der Ontogenie der Crinoidenform An- tedon zu erkennen, während bei den Fleutherozoa durch sekundäre Verschie- bungen die Verschlußstelle des Hydrocircus, der After und die Madreporen- platte nach verschiedenen Richtungen auseinanderrücken. Die Anlage des jun- gen Echinoderms ist eine bilateralsymmetrische. Wir werden eine Ebene, welche durch den vorderen Interradius 5—I und durch den unpaaren nach hinten gerichteten Arm 3 gelegt wird, als ‚Medianebene des Echinoderms“ bezeich- nen. Da die ganze Anlage des jungen Strahltieres sich an der linken Körperseite der Larve entwickelt, so steht die Medianebene des Echinoderms auf der Median- ebene der Larve senkrecht. Beide Ebenen schneiden sich in einer Linie, welche der ursprünglichen Körperlängsachse der Larve entspricht (v—h in Fig. 23C). Die nächsten Umwandlungsvorgänge betreffen die Gruppierung der übri- gen Organe der Larve um den durch Entwicklung des Hydrocölkomplexes ge- gebenen Mittelpunkt. Der Darmkanal verliert seine Gliederung in Oesophagus, Entwicklung des jungen Echinoderms BT Magen und Intestinum. Schon in der Larve ventralwärts eingekrümmt wird er nun im gleichen Sinne noch stärker gebogen. Er vollführt nun eine den Mund im Sinne des Uhrzeigers umkreisende vollständige Zirkeltour (Fig. 23C), wo- durch der After in den Interradius 5—ıI gerückt wird. Da uns die Lage des Mundes die aktinale (oder Bauch-) Seite des ausgebildeten Echinoderms kenn- zeichnet, so verstehen wir, daß das dorsoventrale Mesenterium, welches den Darm in der Larve fixierte, im ausgebildeten Strahltier eine horizontale Lage einnehmen muß. In der Tat ist die Leibeshöhle des Echinoderms ursprünglich durch ein horizontales auf die Körperlängsachse senkrecht stehendes Mesen- terium (Fig. 23 D ms) in zwei Abteilungen geschieden. Von diesen geht die aktinale aus dem linken Somatocölsack (ls), die abaktinale aus dem rechten Somatocölsack (rs) der Larve hervor. Im Umkreise dieser beiden Cölomsäcke werden die primären Platten des Echinodermenskeletts zur Entwicklung ge- bracht, und zwar entwickeln sich die in der Umgebung des Mundes auftretenden Oralplatten sowie die Terminalplatten des Armskeletts im Umkreise des ur- sprünglich linken Somatocölsackes, während das typische Skelett des Kelches, aus einem Centrodorsale, aus Basal- und Radialplatten bestehend, im Umkreise des ursprünglich rechts gelegenen Somatocölsackes gebildet werden. In ähn- licher Weise wie das linke Hydrocöl durch die Verlagerung des Mundes nach links zu einem den Oesophagus umkreisenden Hufeisen umgebildet wurde, so werden nun auch die beiden Somatocölsäcke halbmondförmig (ls und rs in Fig. 23B) eingekrümmt. Wir betrachten hier nur ein wenig die dadurch ent- stehenden Veränderungen des ursprünglich linken Somatocöls, welches zu dem aktinalen Leibeshöhlensack der ausgebildeten Form wird. Würden die beiden Hörner des Halbmondes den Oesophagus soweit umwachsen, daß sie vollständig aufeinander treffen würden, so müßte durch ihr Zusammentreffen ein im Interradius 5—I gelegenes Mesenterium gebildet werden. Dies Zusam- mentreffen wird bei den Asteriden dadurch verhindert, daß sich zwischen beide Hörner des linken Somatocöls die Anlage des Axialsinus (das linke Axocöl) ein- schiebt. Bei den Holothurien kommt aber tatsächlich das erwähnte Mesente- rium zustande. Es bildet den vordersten Abschnitt des dorsalen Mesenteriums, welches den Steinkanal und den Genitalausführungsgang in sich aufnimmt. Während bei den Crinoiden das ursprünglich rechte Somatocöl (rs), die abaktinale Abteilung der Leibeshöhle, an Größe die aktinale (ls in Fig. 23D) übertrifft, wird es im Kreise der Eleutherozoa mehr und mehr rückgebildet. Hier geht der größte Teil der Leibeshöhle aus dem aktinal gelegenen Cölomsack (dem ursprünglich linken Somatocöl) hervor. Während der abaktinale Cölom- sack mehr zusammenschrumpft, wird das horizontale Mesenterium in die Nähe des aboralen Körperpoles verlagert. Seine Insertionsstelle ist durch die Lage des die Genitalrhachis bergenden aboralen Gefäßringes gekennzeichnet. Die weiteren Umlagerungen, durch welche die definitiven Beziehungen des jungen Echinodermenkörpers zum Anheftungsstiel entwickelt werden, könnten wir uns am einfachsten so vorstellen, wie dies in unserer Fig. 23C und D zum Aus- druck gebracht ist. Es erfolgt eine Drehung des früheren Hinterendes der Larve Die Entwicklung der Pentamerie. 522 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen um 90°, wobei die ursprüngliche Körperlängsachse (Fig. 23C, v—h) als Dre- hungsachse fungiert. Durch eine solche Drehung würde der Mund in eine api- kale Lage, dem Anheftungspol gegenüber verlagert werden und es wäre auch leicht zu verstehen, wie nun der Axialsinus in die Körperachse verlagert wird. Alles, was ursprünglich links gelegen war, rückt nun nach oben, was früher rechts war, nach unten. Der linke Somatocölsack ist nun zum Cölom der aktinalen (oralen) Körperhälfte geworden, während sich der ursprünglich rechte Somato- cölsack in das Cölom der abaktinalen Seite umwandelt. Das beide trennende, ursprünglich dorsoventrale Mesenterium ist nun zu einer horizontalen Scheide- wand (ms) geworden. In Wirklichkeit sind, wie aus einer Betrachtung der An- tedonentwicklung hervorgeht, die hier in Frage kommenden Umlagerungen komplizierterer Art als wir dies hier im Sinne vereinfachter Darstellung ange- nommen haben. Wir konnten unsere Vorstellungen von der Phylogenie der Echinodermen hier nur in Form einer rohen Skizze vorführen — ein Versuch, der im ein- zelnen vielleicht Korrekturen unterliegen dürfte. Vieles ist für uns noch dunkel, so z. B. wie es zu erklären ist, daß vielfach Madreporenplatte und After nicht demselben Interradius angehören und ob in diesem Falle, wie wir mit Ludwig annehmen möchten, die Lage des Afters die ursprüngliche Medianebene des Echinoderms kennzeichnet. Wir wollen unsere Darstellung nur durch die Erörterung zweier Punkte vervollständigen. Wir haben angenommen, daß die Anlage des jungen Echinoderms von An- fang an eine fünfstrahlige war. Diese Annahme ist dahin zu korrigieren, daß die Pentamerie der Echinodermen sich allmählich herausgebildet hat zu einer Zeit, nachdem die Festsetzung, die Verlagerung des Mundes nach oben und alle diese Lageverschiebungen, von denen wir uns ein Bild zu entwerfen versuchten, bereits erfolgt waren. Die Paläontologie lehrt uns in der Gruppe der Cystideen eine Reihe von Formen kennen, die nur ein einziges Armpaar besaßen, sie macht es wahrscheinlich, daß dann zunächst ein unpaarer Arm (im Radius 3) entwickelt wurde, während später die paarigen Arme durch dichotomische Spaltung von der Dreizahl der Arme zur Fünfzahl hinüberführten. Wir müssen annehmen, daß die ursprünglichsten Formen festsitzender Echinodermen rhabdopleuraähn- lich nur mit einem einzigen Paare von gefiederten Lophophorarmen versehen waren. Wie entwickelte sich nun der dritte unpaare Arm? Es ist nicht leicht, sich davon eine Vorstellung zu bilden; aber vielleicht liefern uns die Brachio- poden hier ein erwünschtes Vergleichsmaterial, das wenigstens im Sinne einer Analogie heranzuziehen ist. Was man bei den Brachiopoden als die kleinen, spiralig eingerollten, inneren Arme bezeichnet, ist eigentlich nur ein unpaares Gebilde, ein dritter Lophophorarm. Wir geben nach Morse zwei Bilder aus der Entwicklung des Lophophors von Terebratulina, aus denen zu ersehen ist, daß hier ursprünglich auch nur, wie bei Phoronis oder Rhabdopleura, zwei Lophophorarme (Fig. 24A) vorhanden sind, welche je eine Doppelreihe von Tentakeln tragen, während ein dritter unpaarer Arm (Fig. 24B b) ebenfalls durch eine solche Doppelreihe gekennzeichnet, später hinzugebildet wird. Es Die Pentamerie der Echinodermen und die Ableitung ihres Nervensystems seS handelt sich im wesentlichen um eine fortgesetzte Faltenbildung an einer ur- sprünglich einheitlichen Tentakelkrone. Noch ein Wort zur Phylogenie des Nervensystems. Dasselbe besteht bei Ursprung des den Echinodermen aus fünf radialen Längssträngen, welche um den Mund durch N ersystems. einen fünfeckigen circumoralen Nervenring zusammenhängen. Nach unserer Auffassung ist dieser circumorale Nervenring das ursprünglichste Gebilde an Fig. 25. Schema der Ableitung des fünfstrahligen Nervensystems des Echinodermen von einer bila- teral-symmetrischen Grundform. Fig. 24. Zwei Entwicklungsstadien des Lophophors von Terebratulina septen- »ı Mund, sö Gehirn (entspricht trionalis. @ äußere, 5 innere Arme, d Darmkanal, e Epistom, / Leberanhänge, der Scheitelplatte der Dipleurula), m Mund. Nach Morse. 1—5 die fünf radiären Armnerven. dem ganzen System. Er ist aus der Schlundcommissur hervorgegangen, welche in der Dipleurula das Gehirn (Fig. 25 sp) mit dem ventralen Bauchstrang in Verbindung setzte. Es wird für uns nicht schwer sein, die Stelle an dem circumoralen Ring zu bestimmen, an welcher sich das Gehirn der Dipleurula einfügte. Es muß im Interradius 5—I gelegen haben. Denn dieser Interradius vermittelt den Zusammenhang mit dem Kopfende der Larve, aus welchem der Anheftungsstiel hervorgeht. Wir glauben nicht, daß der ambulacrale Nerven- strang des Radius 3 dem ursprünglichen ventralen Längsstrang der Dipleurula entspricht. Aber er nimmt im Bilde (Fig. 25) eine ähnliche Lage ein. Die am- bulacralen Längsstränge I, 2 und 4, 5 sind als sekundäre Auswüchse, aus der Schlundcommissur hervorgegangen, zu denken. Wir werden aber vielleicht richtiger anzunehmen haben, daß Verdichtungen in einem überall vorhandenen subcutanen Nervenplexus sich sekundär an diecircumorale Anlage angegliedert haben. Die hier entwickelten Vorstellungen sind durch gewisse entwicklungs- geschichtliche Angaben, durch Hinweise auf das Vorhandensein eines larvalen Nervensystems gestützt. XIV. Zur Phylogenie der Chordaten. Die Phylogenie des höchstentwickelten Stammes der tierischen Reihe, der Chordaten, soll hier nur flüchtig behandelt werden. Die wichtigste der in Be- tracht kommenden Fragen, jene Frage, welche unter allen Problemen phylo- genetischer Art unser Interesse am meisten fesselt, die Frage nach dem Ursprung Merkmale der Chordaten. 524 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen der Wirbeltiere, fällt nicht in den Kreis der Themen, die diesem Kapitel zur Behandlung zugewiesen sind. Für uns kommen nur jene Chordatenformen in Betracht, welche, an der Wurzel des Vertebratenstammes stehend, als Vorläufer der Wirbeltiere zu betrachten sind. Wir rechnen zu den Chordaten alle jene Formen, welche in ihrer Entwicklung den als Rückensaite (Chorda dorsalis) bezeichneten, ungegliederten, axialen Skelettstab erkennen lassen. Sie gruppieren sich in drei Abteilungen, welche als Tunicata (Manteltiere), Acrania (Schädellose mit Amphioxus) und Vertebrata (Wirbeltiere) bezeichnet werden. Von diesen drei Gruppen können die beiden ersten (Tunicaten und Acrania) noch mit einiger Berechtigung zu den Wirbellosen (Everte- braten) gezogen werden. Es wird sich für uns nur darum handeln, diese beiden Gruppen in ihrer verwandtschaftlichen Stellung einigermaßen zu kenn- zeichnen. Daß der Stamm der Chordaten als genetische Einheit zu betrachten ist, kann kaum einem Zweifel unterworfen sein. Folgende sind die hervorragendsten Merkmale im Bau dieser Formen: der Körper ist bilateralsymmetrisch, inner- lich metamer gegliedert. Die Körpersegmente werden, dem Milne-Edwards- schen Gesetze (S.489) entsprechend, von eineram hinteren Körperende gelegenen Knospungszone hinzugebildet. Die Körperlängsachse wird von einem inneren Achsenskelette eingenommen, welches ursprünglich als ungegliederte Chorda angelegt, bei den Vertebraten durch die gegliederte Wirbelsäule ersetzt wird. Der zentrale Teil des Nervensystems findet sich dorsalwärts in Röhren- form entwickelt (Neuralrohr, Medullarrohr). Der Darmkanal ist in seinem vor- deren Abschnitte von seitlichen Kiemenspalten durchbrochen. Der After liegt nicht terminal, sondern an der Ventralseite derart, daß eine postanale, des Darms entbehrende Schwanzregion zur Entwicklung kommt. Die Leibeshöhle, ein echtes Enterocöl, zerfällt in zwei Abschnitte: das ungegliederte einheitliche Splanchnocöl, welches den Darmkanal an einem dorsalen Mesenterium befestigt in sich birgt, und das in Segmente (Urwirbel) gegliederte Myocöl, welches die Stammesmuskulatur zur Entwicklung bringt. Der Bewegungsapparat ist ur- sprünglich durch einen unpaaren Flossensaum repräsentiert. Erst sekundär werden paarige Extremitäten, vielleicht aus seitlichen Hautsäumen entwickelt, hinzugebildet. Die ursprünglichste Form der Lokomotion ist eine Schwimm- bewegung unter seitlicher Krümmung des ganzen Körpers, wobei die um- säumte Schwanzregion das wichtigste Bewegungsorgan darstellt. Als be- wegender Muskel dient hierbei der Seitenrumpfmuskel. Paarig entwik- kelt, die Seiten des Körpers einnehmend, ist er segmental gegliedert und entsteht aus dem visceralen Blatte der entsprechenden Cölomsäcke (der Urwirbel). Es ist ein geschlossenes Blutgefäßsystem vorhanden, dessen zentraler Teil, das ursprünglich venöse Herz, ventralwärts vom Darm, an der hinteren Grenze des respiratorischen Darmabschnittes entwickelt wird. Embryologisch sind die Chordaten durch folgende Merkmale gekennzeich- net: der Blastoporus nimmt eine dorsale Lage ein. Er schließt sich von vorn nach hinten längs einer dorsomedian verlaufenden Verwachsungsnaht (Gastrularaphe). Charakteristik der Chordaten. Die Annelidentheorie 525 Sein hinterster, längere Zeit geöffnet bleibender Abschnitt weist Beziehungen zur bleibenden Afteröffnung auf. Das Neuralrohr wird durch rinnenförmige Einstülpung des Ektoderms angelegt; die Chorda dorsalis entsteht durch Falten- bildung oder als längsverlaufende Leiste der dorsalen Urdarmwand. Zu beiden Seiten dieser Anlage wird das gegliederte Cölom durch Ausbildung paariger Ur- darmdivertikel zur Entwicklung gebracht. Überhaupt ist im Embryo der Chor- daten die dorsale Region die Ursprungsstätte aller wichtigeren Organbildungen. Von den anatomischen Merkmalen, die wir zur Kennzeichnung des Chor- datenstammes herangezogen haben, hat sich bei den Tunicaten nur einiges er- halten. Ursprünglich festsitzend und nur in gewissen Vertretern sekundär zur freischwimmenden Bewegungsweise übergehend weisen sie inihrem Bau Reduk- tionen auf, die als Folge sedentärer Lebensweise zu betrachten sind. Das innere Achsenskelett ist meist verschwunden. Wir finden keine metamereGliederung des Körpers und kein Cölom. Das Blutgefäßsystem ist durch ein System wandungs- loser Bindegewebslücken ersetzt. Wir müssen auf die Entwicklung der Tunicaten, auf ihre kaulquappenähnlichen freischwimmenden Jugendzustände zurückgrei- fen und sie mit den Jugendformen von Amphioxus in Parallele setzen, wenn wir uns von den ursprünglichsten Formen derChordaten ein Bild entwerfen wollen. Wir sehen uns dann bezüglich der ersten Herleitung der Chordaten auf dieEn- teropneusten verwiesen. Unter allen wurmähnlichen Wesen ist Balanoglossus die einzige Form, die hinsichtlich der Frage, in welcher Weise die Chordaten an die Wirbellosen anzuschließen seien, in Berücksichtigung gezogen werden kann. Das Problem der Verknüpfung des Chordatenstammes mit Wirbellosen er- heischt die Behandlung der Vorfrage.nach der Stellung von Amphioxus in der in Rede stehenden Reihe. Die Einordnung von Amphioxus hat im Laufe der Zeit, den verschiedenen Vorstellungen entsprechend, die man sich bezüglich der Ableitung der Wirbeltiere gebildet hatte, mannigfaltige Behandlung erfahren. Es ist nicht unsere Absicht, das bunte Bild dieser Vorstellungen hier in extenso zu entrollen. Ansichten wie die von Patten, welcher die Wirbeltiere mit Li- mulus und den Formen der Arachnidenreihe zu verknüpfen suchte, und die ihr nahestehenden Aufstellungen von Gaskell, welcher in crustaceenähnlichen Formen den Ausgangspunkt für die Herleitung der ammocötesartigen Urformen der Vertebraten erblickte, können aus dem Kreise unserer Betrachtungen aus- scheiden. Mit Aufwand von Phantasie und Gelehrsamkeit entworfen, entbehren sie strengerer morphologischer Begründung. Mehr Beachtung hat der Versuch, die Vertebraten von annelidenähnlichen Stammformen abzuleiten, gefunden. In ihren ersten Anfängen auf Semper und Dohrn zurückgehend, hat die „An- nelidentheorie‘‘ bis auf unsere Zeiten eine Reihe der namhaftesten Morphologen zu ihren Anhängern zählen können. Sie findet ihre hauptsächlichste Stütze in der angenommenen Homologie der ursprünglich segmental angeordneten, mit Wimpertrichtern in die Leibeshöhle sich öffnenden Urnierenkanälchen der Se- lachierembryonen mit den Segmentalorganen (Nephridien) der Anneliden. Es waren die verschiedensten Hilfshypothesen erforderlich, um die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der Annahme einer Ableitung der Vertebraten von anne- Bau der Tuni- caten. Die Anneliden- theorie. Stellung von Amphioxus. 526 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen lidenähnlichen Vorfahren in den Wegstellten. Während man die Chorda allenfalls als einen umgewandelten, in seiner Funktion veränderten Nebendarm auffassen konnte, so war es nicht leicht, bei den Anneliden Anknüpfungspunkte für die Entstehung der Kiemenspalten zu gewinnen. Die größten Schwierigkeiten er- wuchsen aus dem Vergleiche des Nervensystems beider Gruppen. Wenn man annahm, daß die Dorsalseite der Vertebraten der Bauchseite der Anneliden ent- spräche und daß das Zentralnervensystem der Wirbeltiere aus der Bauchgang- lienkette der Anneliden hervorgegangen sei, so stand man vor der Frage, welcher Teil im Nervensystem der Vertebraten der Schlundcommissur der Ringelwürmer gleichzusetzen sei. Es führte diese Schwierigkeit zu der Annahme, daß die Verte- braten ursprünglich einen das Nervensystem durchbohrenden Schlund, einen primären, an der Dorsalseite geöffneten Mund besessen hätten, während der blei- bende Mund der Wirbeltiere als eine umgewandelte Kiemenspalte zu deuten sei. DasSuchennachSpuren desverloren gegangenen primären MundesderWirbeltiere hat die Umdeutung der verschiedensten Organe in der betreffenden Region zur Folge gehabt, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu führen. Man hat in der Hypophyseundähnlichem den RestdesprimärenSchlundeszuerblicken versucht. Bei dem Bestreben, die Selachierembryonen mit Anneliden zu verknüpfen, war Amphioxus eine Verlegenheit für die betreffenden Forscher. Dieses von vielen Seiten als ‚Urwirbeltier‘‘ in Anspruch genommene Wesen bot keine sehr erheblichen Annelidenähnlichkeiten dar, besonders zu einer Zeit, da man von seinen Nierenkanälchen noch keine Ahnung hatte. Wenn man Amphioxus als eine Form mit ursprünglichen Charakteren auffaßte, als eine untere Stufe in der Entwicklungsreihe der Wirbeltiere, so sah man sich von dem Weg zu den Anne- liden abgedrängt und genötigt, nach anderen Richtungen auszuschauen. Für die Vertreter der Annelidentheorie war Amphioxus ein Wesen, dessen verein- fachter Bau auf degenerativen Ursachen, auf sekundären Rückbildungen in- folge seiner halbsedentären Lebensweise beruht. Amphioxus war für sie ein „verlorener Sohn der Wirbeltiere‘‘, ein degenerierter Fisch, der, im Sande boh- rend, die höher entwickelten Merkmale dieses Stammes eingebüßt hatte. Er teilte dieses Schicksal mit densedentären Tunicaten und mit den halbparasitären Cyclostomen. Man hatte auf diese Weise aus dem Kreise der Betrachtungen alle Formen ausgeschaltet, welche über die Organisation der ursprünglichsten Glieder der Chordatenreihe Aufschluß zu geben imstande sind. Was Amphioxus anbetrifft, so ist nicht zu leugnen, daß er nach gewissen Richtungen einseitig spezialisiert ist. Wir werden die eigenartige Asymmetrie seines Körperbaues aus seiner Lebensweise zu erklären haben. Anderseits sind zahlreiche, vielleicht die meisten seiner Merkmale offenbar primitiver Natur. Nichts berechtigt uns, anzunehmen, daß er von Formen abstammt, welche ein wohlentwickeltes Gehirn, paarige Augen und Gehörorgane, sowie eine Schädel- kapsel besessen haben. Oder daß paarige Extremitäten vorhanden waren, die infolge der Lebensweise in Verlust geraten sind. Wenn Amphioxus ein rückge- bildetes Fischchen sein soll, so muß man sich fragen: wie kam es zu dem eigen- artigen Bau seines Kiemengerüstes, zu den durch das Einwachsen von Zungen- Einwände gegen die Annelidentheorie 527 bogen U-förmig umgestalteten Kiemenspalten, zur Bildung von Synaptikeln und zu allen jenen Eigentümlichkeiten, welche bis ins Detail mit den entspre- chenden Bildungen am Kiemenkorbe von Balanoglossus übereinstimmen? Man wird das einschichtige Körperepithel von Amphioxus nicht leicht von den ge- schichteten Epithelien der Fische ableiten können und noch schwieriger wird es sein, den ganzen Schichtenbau dieser Form von den Verhältnissen der Fische aus zu erklären. Wie kommt Amphioxus zu jener fortgesetzten Faltung epithelialer Lamellen, welche durch Stützmembranen voneinander getrennt sind, wie zu jenen Zügen der Organisation, die direkt etwas Cölenteratenmäßiges an sich haben? Es ist nicht möglich, diese Merkmale durch sekundäre Ver- einfachung, durch Rückbildungsvorgänge zu erklären, ebensowenig wie man etwa die Embryonalentwicklung dieser Form durch Dotterverlust aus einer Entwicklungsweise, wie sie die Cyclostomen aufweisen, hervorgegangen erklären kann. Wir werden uns der Tatsache nicht verschließen können, daß Amphioxus in vieler Hinsicht, sowohl in bezug auf seinen Bau als auch auf seine Ontogenie primäre Züge bewahrt hat. Gegen die ‚‚Annelidentheorie‘‘ erheben sich auch Bedenken von seiten der Entwicklungsgeschichte. Wir vertreten den Standpunkt, daß uns bei dem Auf- suchen verwandtschaftlicher Beziehungen der Tiere Merkmale der Embryo- logie ebenso sicher leiten wie solche der vergleichenden Anatomie. Die Anne- liden sind durch eine bestimmte Art der Entwicklung gekennzeichnet, von der wir bei den Chordaten nichts erkennen. Wir finden bei den letzteren keinen Hinweis auf ein Trochophorastadium, keine Erinnerung an den Spiraltypus der Furchung, keine Urmesodermzellen, die zur Ausbildung von Mesodermstreifen Veranlassung geben. Der Blastoporus, welcher bei den Anneliden sich als Schlundpforte erhält, hat bei den Chordaten Beziehungen zum After. Die Kluft, welche Protostomia und Deuterostomia voneinander scheidet, tut sich zwischen beiden Gruppen auf. Wir haben im vorhergehenden nur angedeutet, nicht eingehender begrün- det, daß wir in Amphioxus eine Form erblicken, welche uns in vielen Zügen ein Bild der hypothetischen Ahnenformen der Wirbeltiere bewahrt hat. Amphi- oxus steht zwischen Balanoglossus und Ammocötes (den Larven der Neun- augen, welche unter allen Vertebraten am meisten primitive Merkmale bewahrt haben) in der Mitte. Die metamere Segmentierung der Vertebraten ist aus der Pseudometamerie der Enteropneusten hervorgegangen. Von jenen Zwischenstufen, welche zwischen Balanoglossus und den ur- sprünglichsten Vertebraten vermitteln und von deren Organisation uns Am- phioxus ein ungefähres Bild entrollt, sind auch die Tunicaten abzuleiten. Sie repräsentieren einen durch sedentäre Lebensweise modifizierten Seitenzweig der Reihe. Strenggenommen müssen wir anerkennen, daß wir keine sichere Kunde darüber haben, von welchem Punkte der Reihe dieser Seitenzweig ent- sprossen ist. Vor allem sind wir im unklaren darüber, ob die freischwimmenden Stammformen der Tunicaten metamere Körpergliederung besaßen oder nicht. Weder im Bau noch in der Entwicklung der Tunicaten finden wir eine Spur von Beziehungen von Amphioxus zu Balanoglossus. 528 K. HEIDER: Phylogenie der Wirbellosen metamerer Segmentierung. Es wäre denkbar, daß sie von Formen abstammen, welche wie Balanoglossus nur Pseudometamerie besaßen. Immerhin scheinen uns die Tunicaten ihrem ganzen Bau nach der Organisationsstufe von Amphi- oxus nahezustehen, und das führt uns zu der Vermutung, daß sie von metamer gegliederten Formen abstammen. Vor allem sind es Übereinstimmungen im typischen Wimperapparat des respiratorischen Darmabschnittes: das Vorhan- densein längsverlaufender Rinnen (Hypobranchial- und Epibranchialrinne), welche durch paarige Flimmerbogen vorne ineinander übergehen, ferner der Besitz eines inneren Tentakelkranzes an der Grenze von Stomodaeum und Me- senteron, durch welche die näheren Beziehungen der Tunicaten zu Amphioxus sich ausdrücken. Die larvenähnlichen Appendicularien möchten wir nicht als Stammformen der Tunicaten in Anspruch nehmen. Wir betrachten sie als neo- tänische Formen. Die scharfe Scheidung in Kopf- und Schwanzregion, der Bau des tönnchenförmigen Kopfes, dessen Pharynx die charakteristischen Flimmer- rinnen aufweist, der Besitz des Cellulosemantels sind Merkmale, welche uns darauf verweisen, daß die Appendicularien von festsitzenden, ascidienähnlichen Stammformen abzuleiten sind. Nur mit einigen Worten seien die Beziehungen von Amphioxus zu Balano- glossus gekennzeichnet. Bei einem Vergleiche beider Formen muß die Überein- stimmung im Bau der Kiemenregion in den Vordergrund gerückt werden. Sie bezieht sich auf die ursprünglich hufeisenförmige Gestalt der Kiemenspalten, auf die regelmäßige Aufeinanderfolge von primären und sekundären Kiemen- bogen (sog. Zungenbogen), auf ihre Verbindung durch Synaptikel, auf die ganze Konfiguration des visceralen Skelettsystems. Diese Übereinstimmung in allen Details ist eine so weitgehende, daß wir in ihr den Ausdruck verwandtschaft- licher Beziehungen erkennen. Als unterstützende Momente sind des weiteren heranzuziehen: das Vorhandensein eines dorsalen Längsnervenstranges bei Ba- lanoglossus, welcher im Bereiche der Kragenregion als sog. Kragenmark röhren- förmig versenkt ist und das Vorhandensein eines in die Eichel hineinragenden Chordarudiments. Als ein solches wurde der sog. Eicheldarm gedeutet, ein ento- dermales Darmdivertikel, welches mit verengtem Lumen in der histologischen Beschaffenheit seiner Zellen an Chordagewebe erinnert. Es setzt sich dies Rudi- ment bei manchen Enteropneusten in eine dorsale, der Kragenregion angehörige Darmrinne fort. Wirerwähnen noch das Auftreten dessog. chondroiden Gewebes, das an das Knorpelgewebe der Vertebraten erinnert. Die Kluft, welche zwischen Balanoglossus und Amphioxus besteht, ist natürlich eine bedeutende; aber durch Vermittlung dieser Form werden die Chordaten dem Verwandtschafts- kreise der Pierobranchia und Echinodermen entfernt angeschlossen. Es sind eigentlich nur dunkle Ahnungen, die wir von der Phylogenie der Chordaten besitzen. Mit Vorsicht verwerten wir die Daten, welche sich aus der Betrachtung dreier Formen ergeben, die Hinweise auf ebensoviele Stufen der phylogenetischen Reihe bewahrt haben: Balanoglossus, Amphioxus und Ammocötes. Der mittleren dieser drei Stufen war der Punkt genähert, an welchem sich die Tunicaten als Seitenzweig der Reihe abgegliedert haben. Literatur. BATESON, W. The Ancestry of the Chordata. Qu. Journ. Micr. Sc. 26 Bd. 1886. BATHER, F.A. The Echinoderma in: E. RAY LANKESTER, A Treatise on Zoology. Part. II. London 1900. BRAEM, F. Pterobranchier und Bryozoen. Zool. Anz. 38. Bd. ıgı1ı. BÜTSCHLI, ©. Über eine Hypothese bezüglich der phylogenetischen Herkunft des Blutgefäß- systems eines Teils der Metazoen. Morph. Jahrb. 8. Bd. 1833. — , Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Leipzig. I. Teil 1910, II. Teil 1912. CARPENTER, G. H. On the relationsship between the classes of the Arthropoda. Proc. 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Boas, Unsere Einsicht in die Phylogenie der Tiere beruht in erster Linie auf den Schlüssen, die wir aus einer Betrachtung möglichst vieler Daten des Baues der Tiere auf ihren verschiedenen Lebensstufen ziehen können. Kraft der Verer- bung sind die Tiere durchweg derart gestempelt, daß, wenn sämtliche Tierfor- men, die überhaupt gelebt haben, noch lebendig und zugänglich vorhanden wären, die phylogenetische Verknüpfung derselben sich durch das Studium des Baues unmittelbar ergeben würde. Da das Material uns aber nur teilweise überliefert, d.h. von dem ganzen überhaupt vorhanden gewesenen Formenreichtum nur ein Bruchteil übrig ge- blieben ist, resp. in fossilen Überresten übermittelt wurde, stellt sich die Sache anders. An einigen Punkten kann das vorhandene Material ausreichen, um völlig gesicherte Schlüsse zu erlauben, Schlüsse, die so gut fundiert sind wie die besten unserer Wissenschaft. An anderen Punkten ist die Lage schon etwas weniger sicher; an anderen wieder können wir uns nur mit aller Reserve oder gar nicht aussprechen. An manchen Punkten, wo wir Formen gegenüberstehen, die durch weite unüberbrückteAbstände getrennt sind — weil zahlreiche zwischenstehende Formen uns fehlen — können aber trotzdem relativ sichere Schlüsse gezogen werden, da in einigen Punkten besonders charakteristische gemeinsame Züge gefunden werden, die auf den Zusammenhang bestimmt hinweisen. In solchen Fällen, wo der Zusammenhang auf eine geringe Anzahl von Übereinstimmun- gen begründet wird, muß allerdings mit großer Vorsicht vorgegangen werden, indem man darauf Rücksicht nehmen muß, daß eine Ähnlichkeit manchmal lediglich als Analogie zu beurteilen ist, d. h. daß der betreffende Charakter zwei- mal unabhängig entstanden ist. Es ist hier die Aufgabe des wissenschaftlichen Taktgefühls zu entscheiden; das Resultat hängt von der Erfahrung und Um- sicht desForschers ab, auch eventuell von seiner besonderen Veranlagung in dieser Richtung. Ein sehr verbreitetes Dogma sieht in den Daten der Ontogenese besonders wertvolle Stützen für die Erkenntnis der Phylogenese, und zwar der- art, daß die Ontogenese eine Wiederholung der Phylogenese sein soll: das sog. „biogenetische Grundgesetz‘, nach welchem die Phylogenie direkt aus der Onto- genie sollte herausgelesen werden können. Dem ‚,Gesetz‘‘ mußte allerdings so- gleich die Beschränkung zugefügt werden, daß mannigfache „zenogenetische‘“ Allgemeines. Ontogenese. Paläontologie 531 Änderungen im Laufe der Zeiten das Wiederholungsbild getrübt haben; mit anderen Worten: das ‚Gesetz‘ ist kein Gesetz; eine wirkliche Wiederholung der Phylogenese während der Ontogenese gibt es nicht. Wenn das „biogene- tische Gesetz‘‘ überhaupt einen Wahrheitskern enthalten sollte, müßte die phylogenetische Entwicklung derartig verlaufen sein, daß immer zu den alten Stadien ein neues hinzugefügt wurde; unter dieser Voraussetzung würde in der Tat eine Wiederholung der früheren phylogenetischen Endstadien wäh- rend der individuellen Entwicklung gefunden werden können. Derart ist aber die phylogenetische Entwicklung offenbar meistens nicht verlaufen, son- dern vielmehr in der Weise, daß im Laufe der Zeiten sämtliche Charaktere der Tiere, diejenigen des jugendlichen Alters ebenso wie die des reiferen, dem Gesetze der Umwandlung unterworfen wurden, wobei bald der eine, bald der andere Charakter, bald die eine, bald die andere Lebensstufe mehr der Um- änderung unterlag oder sich nur wenig veränderte. Das Ei, die Furchung, die Gastrulabildung, die späteren Fötalstufen, die Larvenformen, alles ist ebenso- wohl wie die Charaktere der späteren Lebensstufen in Fluß und Umänderung gewesen. Und es läßt sich nicht einmal festhalten, daß die embryonalen Charak- tere der Tiere im allgemeinen konservativer — und damit für die Erkenntnis eines ursprünglichen Zusammenhanges wertvoller — sind als die des ausgebil- deten Tieres. Sie sind vielmehr ganz ebenso wie die Charaktere des ausgebil- deten Tieres der Änderung unterworfen; wenn zwei verwandte Gruppen ver- glichen werden, findet man, daß manchmal ihre embryonalen oder jugendlichen Charaktere mehr auseinandergehen, manchmal wiederum die erwachsenen Tiere sich stärker unterscheiden. Die Charaktere der frühen Lebensstufen haben also für die phylogenetische Auffassung keinen größeren, sondern ganz denselben Wert wie die des reifen Tieres; sie stellen ein mit letzteren ebenbür- tiges Material dar. Die Daten, welche das paläontologische Material liefert, bilden eine Be- reicherung der von dem rezenten Material gelieferten Daten und können in vie- len Fällen Lücken desselben in wertvollster Weise ausfüllen. Es muß aber da- vor gewarnt werden, den Wert dieses Materials zu überschätzen. Einerseits repräsentiert es, selbst wo es am besten erhalten angetroffen wird, doch immer- hin nur Bruchstücke des Tieres; anderseits, was uns von der ausgestorbenen Organismenwelt überliefert wurde, sind nur Fragmente der ganzen Formen- reihe. Wir dürfen deshalb z. B. aus dem Zeitpunkt der geologischen Entwick- lung, auf welchem eine Form scheinbar auftritt, nicht zu weitgehende Schlüsse ziehen; es ist sehr wohl möglich, daß dieselbe bereits früher vorhanden war, daß aber aus jenen früheren Zeiten uns bisher keine Nachricht von ihr überliefert wurde. Die phylogenetischen Beziehungen der Formen müssen durchweg aus einem Vergleich ihres Baues erschlossen werden; erst nachher ist zu unter- suchen, wie die Ergebnisse zu den zeitlichen Daten passen; letztere können nur selten eine Entscheidung bringen. Die nebenstehende Darstellung der Phylogenie der Wirbeltiere ist nach den im vorhergehenden entwickelten Prinzipien ausgearbeitet. 34” Paläontologie Vergleich mit niederen Tieren. 'Tunikaten. Borstenwürmer. 532 J.E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere Schema l. Vögel Säugetiere T: Ableitung der Wirbeltiere von niederen Formen. Von welcher Abteilung der „Wirbellosen“ die Wirbeltiere abzuleiten sind, läßt sich zur- zeit nicht mit Sicherheit feststellen. Kephibien Als vor einer Reihe von Jahren der Nach- weis geführt wurde, daß die Tunikaten im Besitz einer Chorda und in der Anlage und Lungenfische der Lagerung des Nervensystems — also in Beöchenfische Charakteren ersten Ranges — mitden Wirbel- Be tieren übereinstimmen, konnte man eine Zeit- Ganoiden lang denken, daß jetzt die ersehnte Verknüp- | fung der Wirbeltiere mit den Wirbellosen ge- funden wäre. Es ergab sich aber bald, daß die Selachier unter den Wirbellosen in der Tat ganz isoliert Cyclostomen dastehende Abteilung der Tunikaten die ge- rt suchte Anknüpfung nicht herstellen könnte; 7 was man gefunden hatte, war eben nur, daß Tunikaten | Amphioxus die Tunikaten ähnlich wie der Amphioxus un- oe an . . . . . Ina ter den niedrig stehenden Wirbeltieren einzu- reihen sind — ob man die derart erweiterte Abteilung als ‚,Wirbel‘tiere bezeichnen will, En Borstenwürmer pleibt dabei gleichgültig. Mit anderen Worten: N Ir die Tunikaten hatten durch jene Untersuchun- x gen ihren Platz gefunden, die Wirbeltiere stan- den aber als Ganzes ebenso isoliert wie vorher. Einen Schritt weiter in bezug auf die Ableitung der Wirbeltiere sind wir in späteren Jahren durch eine Entdeckung Goodrichs gekommen. Goodrich hat gefunden, daß die Exkretionsorgane von Amphioxus in der überraschend- sten Weise mit den Exkretionsorganen gewisser Borstenwürmer übereinstim- men. Bei manchen Borstenwürmern sind die in der Mehrzahl vorhandenen Fx- kretionsorgane (Fig. 1) Röhren, die sich am Ende etwas verästeln können und hier mit feinen Röhrchen besetzt sind, die an ihrem distalen Ende durch je eine große Zelle geschlossen sind, von welcher eine lange Geißel in die Lichtung des Exkretionsorgans hineinragt: sog. Solenozyten. Diese Exkretionsorgane sind äußerst charakteristisch; zwar kann man sagen, daß die Exkretionsorgane der Plattwürmer einigermaßen ähnlich sind, identisch sind sie aber auf keinen Fall. Das einzige Tier, das genau dieselbe Art der Exkretionsorgane besitzt, ist Amphioxus (Fig. 2). Auch bei diesem sind die in Mehrzahl vorhandenen Ex- kretionsorgane am Ende etwas verästelt und mit genau denselben Solenozyten ausgestattet. Die Übereinstimmung mit den Borstenwürmern ist so groß, daß der Ge- danke an bloße Analogie entschieden von der Hand gewiesen werden muß. Ableitung der Wirbeltiere von niederen Formen 533 Fig. 2. A Exkretionsorgan von Amphioxus. o äußere Öffnung, s Solenozyten. 3 Ende eines Ästchens, stärker vergrößert. Nach GooprIcH (wenig schematisiert). Einer Ableitung des Amphioxus — und da- mit der Wirbeltiere — von denBorstenwür- mern steht aber namentlich die verschie- dene Lage des Zentralnervensystems im Wege. Bei den Borstenwürmern (Fig. 3 C) liegt dasselbe mit Ausnahme des vordersten Ganglienpaares ventral (Bauchmark), bei den Wirbeltieren dagegen dorsal im Ver- ee Rn hältniszum Darmkanal. Man hat daran ge- B Ende eines Ästchens desselben, stärker ver- dacht. daß die Ventralseite der Borsten- größert. Nach GoopkIcH (wenig schematisiert). 2 R . b würmer möglicherweise der Dorsalseite der Wirbeltiere entsprechen könnte; dann würde aber die Deutung des vordersten Ganglienpaares der Borstenwürmer Schwierigkeiten machen. Nun findet sich aber bei den in vielen Stücken den Ringelwürmern ver- Nemertinen. wandten Nemertinen neben zwei dem Bauchmark der Ringelwürmer ent- NE nn a Asa se ern ron nen nme Ay Mm Fig. 3. Schemata zur Erläuterung der mutmaßlichen Ableitung des Nervensystems der Wirbeltiere von einem Nervensystem, wie das bei den Nemertinen vorhandene; die Hauptfiguren stellen Profiliguren dar, Umrisse mit ein- gezeichneten Hauptstämmen; rechts Querschnitte, in welche auch noch der Darmkanal eingetragen ist. 4 Nemer- tine. 2 Wirbeltier. C Borstenwurm. a After, d dorsaler Längsstamm (in 3 Rückenmark), g Gehim, »z Mund, s seitliche Nervenstämme (in 3 Nervi vagi, in C' Bauchnervenstämme). Amphioxus 534 J.E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere sprechenden, seitlichen Nervenstämmen, noch ein unpaarer, dorsaler Nerven- stamm, welcher mit den Gehirnganglien in Verbindung steht (Fig. 3B). Es er- wächst danach die Möglichkeit, daß die Wirbeltiere von einer Form abstammen, die zwischen den Ringelwürmern und den Nemertinen mitten inne stand. Wir haben uns diese Form als mit einem dorsalen und zwei seitlichen oder ventralen Nervenstämmen wie die Nemertinen und mit solenozytentragenden Exkre- tionsorganen wie die Anneliden ausgestattet vorzustellen. Während bei den Ringelwürmern der dorsale Nervenstamm zugrunde ging, hat sich derselbe bei den Wirbeltieren mächtig entwickelt, dagegen wurden bei diesen die ven- tralen Stämme rückgebildet (sie sind möglicherweise durch den Nervus vagus vertreten). Von einer solchen Form wären die Wirbeltiere zwar ohne besondere Schwierigkeit abzuleiten; der Abstand ist aber ein sehr großer; die Neu- und Umbildung, die eine solche Form hätte durchlaufen müssen, um ein Wirbel- tier zu werden, wäre sehr ansehnlich gewesen. Die Ableitung der Wirbeltiere von niederen Formen ist somit keine sichere, ihre Ahnenreihe jedenfalls auf weite Strecken unbekannt, es handelt sich ohne Zweifel um eine lange Reihe ausgestorbener Formen. Da es Tiere gewesen sind, die nicht versteinerungsfähig waren, werden wir auch von der Paläontologie nichts zu erwarten haben. 2. Amphioxus. Als ursprünglichstes Wirbeltier wird allgemein der Amphioxus aufgefaßt. In manchen Beziehungen hat Amphioxus in der Tat zweifellos ursprüng- lichere Charaktere als irgend ein anderes Wirbeltier bewahrt. Ursprünglich ist offenbar die Art der Furchung, der Blastula- und Gastrulabildung, die sich den primitivsten Entwicklungsformen niederer Tiere anschließt, während dieselbe sich bei den übrigen Wirbeltieren weit davon entfernt hat. Auch die Ausbildung des fast allein aus der Chorda gebildeten Skeletts, ohne Spur von Knorpel, ist zweifellos ein primitiver Charakter. Dasselbe gilt von der wie bei den Wirbellosen einschichtigen Epidermis, von den bereits oben erwähnten Exkretionsorganen und dem Blutgefäßsystem, an dem noch kein ventrales Herz wie bei den übrigen Wirbeltieren ausgebildet ist, was an die Verhältnisse der Anneliden erinnert. Daß der Amphioxus das Ei als eine sehr wenig entwickelte, mit ihrem Wimper- besatz umherschwimmende Larve verläßt, kann ebenfalls nur als ein primitiver Charakter aufgefaßt werden. Auch für verschiedene andere Charaktere ist wenig- stens die Möglichkeit gegeben, daß sie ursprüngliche Zustände repräsentieren. Anderseits ist aber Amphioxus offenbar eine in manchen Punkten stark modifizierte Form, die keineswegs einfach als Urwirbeltier bezeichnet werden kann. Unter den hierher gehörenden Charakteren ist in erster Linie die Peri- branchialhöhle zu nennen, die keinesfalls einem Urwirbeltier angehört, weiter die hiermit zusammenhängende Rückbildung der Leibeshöhle und die eigen- artigen Verhältnisse der Geschlechtsorgane. Auch das Verhalten des vorderen Abschnittes des Zentralnervensystems macht nicht den Eindruck von etwas Ursprünglichem, sondern zeigt eher die Merkmale der Rückbildung. Ob das Amphioxus. Cyclostomen 535 Fehlen der gewöhnlichen Wirbeltieraugen und -gehörorgane ein ursprünglicher Charakter ist, dürfte auch sehr fraglich sein. Von wichtigen Charakteren, in denen Amphioxus Anschlüsse an andere Wirbeltiere darbietet, sind hervorzuheben: die Lage und Ausbildung des Rük- kenmarks, das Vorhandensein einer Chorda, die Ausbildung der Muskulatur in Myomeren wie bei den Fischen, das Vorhandensein von Mundhöhlen-Kiemen- spalten, die Anordnung des Gefäßsystems. Anmerkung. Die Tunikaten sind, ebenso wie Amphioxus, nicht Ur- Tunikaten. wirbeltiere, sondern von solchen ableitbar. Die Umbildung, die sie erfahren £ rl rm ch Fig. 4. Längsschnitt des vorderen Teiles von Ammocoetes, Schema. 5 Kiemen- blätter, c% Chorda, e Endostyl, g Ge- hirn, # Kiemenöff- nung, 2 Mundöf- nung, 2% Mund- höhle, » Eingang zum Riechorgan, rl Rückenleiste, rm Rückenmark, sp Speiseröhre, #h Schilddrüse, w Wimperbogen. mhw b e ih k e b sh haben, ist aber vielgrößer als die des Amphioxus. In einigen gewichtigen Punkten schließen sie sich dem Amphioxus speziell an; zu diesen gehören: die Embryonal- entwicklung mancher Formen, die mit der des Amphioxus eng übereinstimmt, die schwache Ausbildung des Skeletts, der Endostyl, die Wimperbogen im vorderen Teil der Mundhöhle und die Rückenleiste.!) Der Peribranchialraum der Tuni- katen dagegen kann nach seiner Entstehung nur ein Analogon der Peribranchial- höhle von Amphioxussein. Überhaupt haben die Tunikaten Wege eingeschlagen, die von Amphioxus weit weggeführt haben (vgl. übrigens den Abschnitt über die Phylogenie der Wirbellosen). 3. Cyclostomen. Von den übrigen Wirbeltieren stehen die Cyclostomen in gewissen Punkten Cyclostomen. dem Amphioxus und den hypothetischen Urwirbeltieren am nächsten. Die Ab- teilung bietet aber die große Schwierigkeit, daß die geringe Anzahl Formen, aus denen sie besteht, alle einer eigenartigen Lebensweise angepaßt sind, die höchst- wahrscheinlich manche Punkte des Baues stark beeinflußt hat, so daß wir manch- mal unsicher sein müssen, ob ein Charakter, dem wir gegenüberstehen, als pri- mitiv oder als durch Rückbildung entstanden aufzufassen ist. Immerhin haben sie in verschiedenen Punkten Züge bewahrt, die zweifellos oder mindestens höchst wahrscheinlich ursprünglicher sind als was wir sonst bei den Wirbel- tieren mit Ausnahme des Amphioxus finden. Ein sehr interessanter Charakter, der mit Entschiedenheit auf Amphioxus Eudostyl. und die Tunikaten, und damit auf die Urwirbeltiere zurückweist, ist die Ein- ı) Die Rückenleiste entspricht der Rückenfurche von Amphioxus. Kopfskelett. 536 J.E.V.BoAs: Phylogenie der Wirbeltiere richtung der Mundhöhle beim Ammocoetes, der Larve des Neunauges (Petro- myzon); sie hat bei den übrigen Cranioten!) kein Gegenstück. Bei Ammocoeles (Fig. 4) ist in der Mundhöhle ein ähnlicher Endostyl wie bei Amphioxus und den Tunikaten vorhanden, eine offene ventrale Längsrinne, die sich vorn in diesel- ben zwei seitlichen Wimperbögen fortsetzt, wie sie bei jenen vorkommen; die Wimperbögen setzen sich an ihrem dorsalen Ende wie bei den Tunikaten in eine Rückenleiste fort und der ganze Apparat arbeitet in derselben Weise wie bei Amphioxus und den Tunikaten. m m! 7 u 7) b Fig. 5. Kopf- und Kiemenskelett von Petromyzon. 5 Wirbelbogen, 50 Kiemenbogen, ck Chorda, # großer unpaarer Knorpel unterhalb der Mundhöhle, »z, 2" Knorpel oberhalb der Mundhöhle, o Ohrkapsel, ö Kiemenöffnung, » Riech- kapsel, s Gehirnschädel. Nach K. PARKER. Als primitiv beurteilen wir auch die Entwicklung des Kopf- und des Kie- menskeletts. Allerdings ist der Kopf derartig an die Saugfunktion angepaßt, daß wir die Verhältnisse mit einiger Vorsicht beurteilen müssen; wir müssen mit sekundären Umbildungen und Vereinfachungen rechnen. Trotzdem dürfen wir mit einiger Bestimmtheit den Zustand des Schädels als ursprünglich auf- fassen. Derselbe besteht bei den Cyclostomen lediglich aus dem sog. ‚‚Palaeo- cranium‘‘, d. h. der hinter den Ohrkapseln gelegene Teil des Schädels existiert bei den Cyclostomen überhaupt noch nicht; bei sämtlichen später zu behandeln- den Wirbeltieren ist derselbe vorhanden, wahrscheinlich entstanden aus den vordersten Teilen des Rückgrats, die sich dem Palaeocranium angeschlossen ha- ben. Dazu kommt, daß das Palaeocranium der Cyclostomen nur äußerst be- scheiden entwickelt ist; es besteht eigentlich nur aus den Ohrkapseln und zwei Knorpelbalken, die den Boden des Hirnschädels bilden, während eine obere und seitliche knorpelige Schädelwand noch wenig entwickelt ist oder fehlt. An diesen sehr primitiven Schädel fügt sich vorn eine selbständige Riechkapsel an, dazu ferner in der Umgebung der Mundhöhle und der Mund&ffnung verschiedene größere und kleinere Knorpelstücke, die teilweise mit dem Schädel zusammen- hängen, teilweise von ihm getrennt sind. Endlich findet sich bei Petromyzon ein korbähnliches zusammenhängendes Kiemenskelett, das die Region der Kie- mentaschen stützt. Man hat den Eindruck, daß die Skelettstücke sich in ähn- licher Weise etwa wie die Knorpel der Cephalopoden überall da gebildet haben, ı) Hierunter versteht man sämtliche Wirbeltiere mit Ausschluß von Amphiorus (und den Tunikaten). Cyclostomen 537 wo für sie Verwendung war — wie wir uns eben ein Skelett wie das des Wirbel- tierkopfes in seinem Entstehen zu denken haben. Auch die sehr bescheidene Entwicklung des Rumpfschwanzskeletts mit einer zylindrischen Chorda Choraa. und äußerst schwacher Ausbildung der Bogenelemente ist wahrscheinlich als primitiv anzusprechen. Als ursprünglicher Charakter dürfte auch die Ausbildung der Muskula- Andere tur aufzufassen sein. Die Muskelsegmente oder Myomeren erstrecken sich — "*"**ere- ähnlich wie bei Amphioxus — fast bis an das vorderste Ende des ganzen Kör- pers und sind sowohl dorsal wie ventral auch in der Kiemenregion unverändert oder wenig verändert, während die Muskulatur anderer Wirbeltiere in dieser Region ganz umgeändert wurde. Inwieweit das Fehlen von Gliedmaßen als ursprünglicher Charakter oder als Rückbildung zu beurteilen ist, dürfte schwierig zu entscheiden sein. Für erstere Auffassung spricht es, daß auch nicht das geringste Anzeichen auf ein früheres Vorhandensein von Gliedmaßen hindeutet; es wäre aber freilich denkbar, daß etwaige früher vorhandene Spuren im Laufe der Zeit völlig verschwunden sind. Ursprünglich ist auch der knorpelige Charakter des Skeletts, was aber ebenso den Selachiern zukommt. Dasselbe gilt auch für die Kiementaschen. Das Fehlen von aus Dentin und Schmelz bestehenden Zähnen, Organen, die den meisten anderen Wirbeltieren zukommen, kann ursprünglich sein, kann aber auch auf sekundärem Verlust beruhen. Die Leber bietet wenigstens bei Myxine ursprünglichere Verhältnisse als bei anderen Wirbeltieren mit Ausnahme von Amphioxus, indem sie mehr als sonst den Charakter einer gewöhnlichen verzweigten tubulösen Drüse bewahrt hat, im Gegensatz zu der eigenartigen Entwicklung, die der Leber anderer Wir- beltiere zukommt. Ursprünglich ist es auch, daß die Furchung bei Neunaugen eine totale ist, ein Charakter, den dieselben aber mit manchen anderen Wirbeltieren teilen. Schließlich ist hervorzuheben, daß trotz der primitiven Stellung der Cyclo- stomen im Vergleich zu anderen Wirbeltieren der Abstand derselben von Am- phioxus dennoch ein sehr großer ist; die phylogenetische Umbildung, welche die Cyclostomen von den Urwirbeltieren trennt, ist eine sehr eingreifende ge- wesen. Die Epidermis ist mehrschichtig geworden, das Gefäßsystem ist mit einem aus Vorhof und Herzkammer zusammengesetzten Herzen ausgestattet worden, die Harnorgane haben denselben Typus wie bei den Wirbeltieren im all- gemeinen angenommen (wenn sie überhaupt von den Amphioxus-Nephridien abzuleiten sind, ist ihre Umgestaltung jedenfalls eine sehr große gewesen); das Zentralnervensystem hat ein Gehirn ausgebildet, das denselben Typus wie bei den Wirbeltieren im allgemeinen besitzt; es sind die typischen und sehr charak- teristischen Wirbeltieraugen und -Gehörorgane ausgebildet; es ist ein knorpe- liges Skelett entstanden usw. Fossile Formen, die sich den jetztlebenden Cyclostomen enger anschließen, Fossile Formen. sind bis jetzt unbekannt, was bei dem Umstand, daß es sich um Formen mit Selachier und Cyclostomen. 538 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere spärlichem und wenig festem Innenskelett und mit durchaus weicher Haut han- delt, nicht überraschen kann. Die ältesten Fische, aus dem Silur und Devon, sind die Placodermen!) oder Agnathen. Essindgliedmaßenlose Formen ohne Unterkiefer; von innerem Skelett ist nichts gefunden worden, es ist zweifellos äußerst bescheiden gewesen. Dagegen ist die Haut mit sehr verschiedenartigen, kleinen oder großen festen Schuppen oder Platten ausgestattet, welche die Körperoberfläche ganz oder nur partiell überdecken und sich wahrscheinlich denen der Selachier an- reihen lassen (für einige wird allerdings angegeben, daß die Platten aus Knochen- gewebe bestehen). Der Schwanz läßt sich nach seiner Form auch manchmal mit dem der Selachier vergleichen. Möglicherweise haben wir in den Placodermen (oder in einigen dersel- ben) mit Formen zu tun, die ihre nächste Verwandtschaft mit den rezenten Cyclostomen haben; die Agnathie, die Gliedmaßenlosigkeit und die schwache Ausbildung des inneren Skelettes könnten dafür sprechen. Daß sie im Gegensatz zu den Cyclostomen eine gepanzerte Haut haben, widerspricht dieser Auffassung nicht; verwandte Formen weichen hierin sehr häufig voneinander ab. Auch der Schwanz läßt sich unschwer in den der Cyclostomen umbilden. Die ganze Be- trachtung ist aber durchaus hypothetisch und die Begründung kann natürlich nicht als eine genügende gelten. Es ist leider mit diesen alten Formen wie mit so vielen anderen fossilen Überresten sehr wenig anzufangen. 4. Selachier. In der natürlichen Reihenfolge folgen nach den Cyclostomen die Selachier. Ein Vergleich beider Gruppen führt zu dem Resultat, daß in manchen Punkten die Cyclostomen als die primitiveren anerkannt werden müssen, während in an- deren der Preis der Ursprünglichkeit wahrscheinlich den Selachiern zukommt; von einer direkten Ableitung der einen dieser Gruppen von der anderen kann nicht die Rede sein (vgl. das Schema S. 532). Im Vergleich mit allen später ab- zuhandelnden Gruppen stehen die Selachier entschieden als die ursprünglicheren da, und zwar als eine Abteilung, von welcher sich die folgenden Gruppen ohne gar zu große Schwierigkeit ableiten lassen: die Selachier sind das erste Glied einer bis auf Säugetiere und Vögel führenden Reihe. Unter den Selachiern neh- men die Haie die ursprünglichste Stelle ein, während die Rochen und Chimären, jede für sich, in manchen Punkten abgeändert sind. Unter den jetztlebenden Haien nehmen wieder die Notidaniden (Heptanchus usw.) die tiefste Stelle ein. Weniger ursprünglich als die Cyclostomen sind die Selachier I. in bezug auf die Mundhöhle, die nie eine solche Ausbildung wie bei Ammocoetes (vgl. S. 535) aufweist, 2. auf die Ausbildung der Muskulatur der Kiemenregion und 3. auf das Schädel- und Kiemenskelett (vgl. unten). Mit den Cyclostomen stimmen die Selachier speziell überein I. in dem Be- sitz eines ausschließlich knorpeligen Skeletts, 2. in dem völligen Mangel von Knochengewebe im ganzen Körper und 3. im Charakter der Kiementaschen ı) Vgl. z.B. Zittel, Grundzüge der Paläontologie 2. Aufl. ıgı1, S. 25ff. Cyclostomen. Selachier 539 als getrennter Kammern, die nicht von einem gemeinsamen Kiemendeckel über- deckt sind. In diesen Beziehungen stehen die Cyclostomen und Selachier ein- ander nahe und erscheinen den Zuständen der übrigen Fische und sämtlicher ‚höherer Vertebraten gegenüber als ursprünglich. Weiter nehmen die Selachier, im Verhältnis zu den Befunden bei den fol- genden Gruppen, in den nachstehenden Punkten eine ursprüngliche Stelle ein. Zunächst sind die Charaktere des Schädels und der Viszeralbogen zu Schäden. nennen. Im Vergleich mit dem der Cyclostomen hat das Kopfkiemenskelett der Selachier einen großen Fortschritt gemacht: Aus dem Ohrknorpel, den Basal- knorpeln, der Riechkapsel und wahrscheinlich noch einigen anderen selbstän- digen Knorpeln des vorderen Kopfendes der Cyclostomen hat sich eine ansehn- liche, zusammenhängende, das Gehirn fast lückenlos umgebende Knorpelkapsel gebildet, mit welcher hinten noch ein vorderster Abschnitt des Rückgrates ver- wachsen ist, aus dem eine Anzahl Nerven heraustreten, die bei den Cyclostomen noch Rückenmarksnerven waren. Aus dem Kiemenkorb der Cyclostomen haben sich die gegliederten Kiemenbogen und der Zungenbeinbogen sowie aus dessen | ventralem unpaarem Teil die Reihe der Copulae, weiter auch noch die kleinen Spritzlochknorpel entwickelt; aus den Knorpeln in der Umgebung der Mundhöhle entstanden die Lippenknorpel und der Kieferbogen!) der Selachier. Im Ver- gleich mit der sozusagen losen Form des ganzen Kopfskelettes bei den Cyclo- stomen tritt das Kopfkiemenskelett der Selachier in fester Form auf. Und diese Form ist derart, daß sich von derselben die entsprechenden Teile der folgenden Gruppen durch Umbildung und Reduktion ungezwungen ableiten lassen. Auch das Skelett sowohl der unpaaren wie der paarigen Flossen bietet im Flossen. Vergleich mit dem der folgenden Gruppen primitive Verhältnisse dar. Die un- paaren Flossen sind bei den Cyclostomen nur durch eine Reihe von Knorpel- stäben gestützt, die auch bei den Selachiern vorhanden sind; bei letzteren ist aber der Distalrand der Flossen durch sog. Hornfäden gestützt, die einen Neu- erwerb der Selachier darstellen. Die paarigen Flossen, die Gliedmaßen, haben ein ähnliches Skelett, auf welches wir später zurückkommen werden (S. 548). Das Gehörorgan steht zeitlebens durch einen offenen Ductus endolym- Gehörorgan. phaticus mit der Außenwelt in Verbindung. Man findet diesen Charakter, der sonst beikeinem Wirbeltier (auch nicht bei den Cyclostomen) vorhanden ist, mit großer Beständigkeit bei sämtlichen Selachiern. Wir haben es wahrscheinlich hier mit etwas Ursprünglichem zu tun, wenn auch die Möglichkeit nicht absolut ab- gewiesen werden kann, daß es sich hier um eine Entwicklungshemmung, ein Stehenbleiben auf einer embryonalen Entwicklungsstufe, einen ‚„neotenischen‘“ Charakter handelt. Für letztere Ansicht liegen aber keine triftigen Gründe vor. Das Herz und Arteriensystem bieten auch Verhältnisse dar, die im Ver- Gefäßsystem. ı) Die Kieferbogen der Selachier — manchmal auch die Lippenknorpel — werden be- kanntlich allgemein mit den Kiemen- und Hyoidbogen zusammen als Viszeralbogen be- zeichnet, was eine Homologie mit Teilen des Kiemenkorbes der Cyclostomen voraussetzt. Hyoid- und Kiemenbogen gehören zweifellos zusammen; dagegen ist solches für den Kieferbogen wenigstens zweifelhaft; die oben gegebene Deutung ist jedenfalls in Erwägung zu ziehen. Hautzähne. Schwanz. Geschlechts- organe. Unter- abteilungen. HaieundRochen. 540 J. E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere gleich mitden entsprechenden Zuständen derfolgenden Gruppen deutlich primitiv sind. Das Herzbesitzteinengroßen zylindrischen Conus arteriosus mit zahlreichen Klappen, wie wir ihn sonst allein bei den Ganoiden (und in modifiziertem Zu- stande bei den Lungenfischen und Amphibien) finden. Bezüglich des Arterien- systems ist besonders als primitiver Charakter hervorzuheben, daß vom Zungen- beinbogen eineabführende Kiemenarterie entsteht, die mit den von den Kiemen- bogen kommenden sich zur Aorta vereinigt, während bei allen später zu be- handelnden Fischen sowie auch bei den Amphibien die Aorta allein aus den ab- führenden Arterien der vier Kiemenbogen gebildet wird — was offenbar im Ver- gleich mit dem Verhältnis der Selachier als abgeleiteter Zustand aufzufassen ist. Ein ursprünglicher Charakter ist auch die weite Verbreitung eines die ganze Haut bedeckenden Besatzes von Hautzähnen, während bei den später abzu- handelnden Gruppen die Hautzähne entweder spärlich vorhanden oder gänz- lich rückgebildet sind. Hierher ist auch zu rechnen die hervortretende Heterozerkie mancher Selachier, die nur bei einigen Ganoiden in ähnlicher Weise erhalten ist. Die Geschlechtsorgane finden wir bei den Selachiern in der für die große Mehrzahl der späterabzuhandelnden Wirbeltiere charakteristischen Form: die weiblichen Geschlechtsorgane als zwei Ovarien und zwei mit offenen Abdo- minaltrichtern!) ausgestattete Müllersche Gänge; die männlichen als zwei Hoden, die durch feine Querkanälchen mit der Niere (dem Mesonephros) in Verbindung stehen und deren Samen durch letztere ausgeleitet wird. Wie das Verhältnis dieses Apparates zu dem der Cyclostomen aufzufassen ist, kann nicht festge- stellt werden; bei den Cyclostomen gelangen die reifen Geschlechtsstoffe zwar auch in die Leibeshöhle, Müllersche Gänge fehlen aber, und Eier und Samen verlassen durch zwei einfache Löcher die Leibeshöhle. Es ist unsicher, ob diese ganze Einrichtung eine primitive oder — wie die einigermaßen ähnliche der Lachse — durch Reduktion des gewöhnlichen Typus entstanden ist. Das im vorhergehenden Erwähnte kann kurz dahin zusammengefaßt wer- den, daß die Selachier sich in einer Reihe von Punkten ursprünglicher erweisen als alle Fische mit Ausnahme der Cyclostomen, denen sie sich in gewissen Punk- ten speziell anschließen, während sie sich in anderen von denselben entfernt haben und weniger ursprüngliche Charaktere aufweisen. Bezüglich der drei Unterabteilungen, in welche die Selachier geteilt werden, ist folgendes zu bemerken. Die Haie sind dieursprünglichsten. Von ihnen lassen sich leichtdieRochen ableiten: sie sind im Gegensatz zu den Haien ausgeprägte Bodenformen mit pflasterförmigen Zähnen, mit deren Hilfe sie Schalentiere zermalmen; der Kör- per hat sich abgeplattet, die Brustflossen haben eine exzessive Größe erreicht und sich mit dem Kopfrande verbunden; indem diese Flossen die Bewegung des Tieres übernahmen, wurde der Schwanz rückgebildet. Auch im Skelett haben sich mehrfache Änderungen ausgebildet. Die Verbindung mit den Haien wird ı) Von untergeordneter Bedeutung ist es, daß die zwei Abdominaltrichter bei den Sela- chiern sich zu einem vereinigt haben. Selachier 541 durch eine Reihe von Zwischenformen vermittelt: 1. Rhina (Squatina), bei wel- cher die Brustflossen noch vom Kopf frei sind und deren Schwanz kräftig ist; 2. Formen wie Torpedo, Rhinobatus usw., bei denen die Brustflossen zwar dem Kopfe angewachsen sind, deren Schwanz aber noch kräftig ist. Das Verhältnis der Chimären zu den Haien ist nicht ganz so einfach. Chimären. Im ganzen sind sie im Verhältnis zu den Haien als abgeleitet, sekundär modi- fiziert aufzufassen. Einige der Unterschiede bieten dadurch ein besonderes Inter- esse dar, weil sie auf die nächstfolgende Abteilung, die Ganoiden, hinweisen. Das gilt in erster Linie von dem Charakter des Kiemenapparates: es hat sich ein Kiemendeckel ausgebildet, der sämtliche Kiemenöffnungen überdeckt, und der freie Saum der die Kiemenblätter tragenden Scheidewände ist dem- entsprechend rückgebildet, so daß die Enden der Kiemenblätter frei hervor- ragen — ähnlich wie bei den folgenden Fischgruppen. Sehr bemerkenswert ist es auch, daß die Harn- und Geschlechtsgänge ebenso wie bei den Ga- noiden mit gemeinsamer Öffnung dicht hinter dem Anus ausmünden, während sie sich bei den übrigen Selachiern in den Enddarm öffnen. Das Becken ist in zwei paarige Stücke geteilt, ebenfalls in Gegensatz zu den anderen Selachiern, wohl aber in Übereinstimmung mit den Ganoiden. Dagegen sind die Charak- tere des mit dem Schädel verwachsenen oberen Abschnittes des Kieferbogens und der Bezahnung (wenige, große Zähne) Einrichtungen spezieller Natur, die nicht auf die Ganoiden hinweisen; von einer direkten Ableitung der Ganoiden von den Chimären kann demgemäß keine Rede sein, aber wohl von einer Ab- leitung der Ganoiden von Formen, die den Chimären nicht allzu fern standen, die aber noch mit zahlreichen kleinen Zähnen und mit einem freien Kieferbogen ausgestattet waren. Von Interesse ist das Rückgrat der Chimären, welches sich dadurch aus- zeichnet, daß die Chorda zylindrisch ist und daß keine Wirbelkörper ausgebildet sind — während bei allen anderen rezenten Selachiern die Chorda mit Einschnü- rungen versehen ist und Wirbelkörper vorhanden sind, wenn auch in sehr ver- schiedenem Ausbildungsgrade. Es ist vorderhand nicht mit Sicherheit zu ent- scheiden, ob dieser Charakter der Chimären ein ursprünglicher ist, in welchem Falle sie von ausgestorbenen Haien mit ähnlichem Rückgrat abzuleiten wären, oder ob der Charakter ein ‚‚neotenischer‘ ist, in welchem Falle ihre Chorda se- kundär auf einer Embryonalstufe stehen geblieben und die Gruppe von Sela- chiern mit Chordaeinschnürungen abzuleiten wäre. Wir werden später, bei den Lungenfischen, diese Frage wieder besprechen. Die Selachier haben zahlreiche Fossilien geliefert, die durch fast alle For- Fossile mationen, schon vom Silur an, gefunden werden. Manche der fossilen Formen Bi schließen sich den jetztlebenden eng an; andere dagegen sind von abweichen- dem Bau. Eine Anzahl der fossilen haiähnlichen Formen weichen dadurch von den jetztlebenden ab, daß sie mit einer zylindrischen Chorda wie die Chimären ausgestattet waren (vgl. unten). Ganoiden und Selachier. Knochen. Schwimmblase. Kiemenapparat. 542 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere 5. Ganoiden. Diese Abteilung fassen wir hier in weitestem Sinne auf, einschließlich der sog. Crossopterygier (Polypterus usw.). Die Ganoiden leiten sich von den Selachiern ab. In manchen Punkten haben sie Charaktere der Selachier bewahrt: den charakteristischen Spiraldarm, den Conus arteriosus. Das Urogenitalsystem hat gewöhnlich in der Hauptsache dasselbe Gepräge wie bei den Selachiern; die starke Heterozerkie mancher Ga- noiden ist ebenfalls von den Selachiern ererbt. — Unter den Selachiern bieten die Chimären — vgl. oben — in mehreren Beziehungen die engsten Anschlüsse dar; ich nenne hier die Anwesenheit eines Kiemendeckels und die Trennung der Urogenitalöffnung von dem After, die bei den Ganoiden ähnlich wie bei den Chimären gefunden wird. Andererseits haben die Ganoiden aber wichtige Neuerwerbungen aufzuwei- sen. Vor allem finden wir hier zum erstenmal Knochengewebe. Zu demknor- peligen Skelett der Cyclostomen und Selachier haben sich knöcherne Platten gesellt, zum Teil in engem Anschluß an das knorpelige Skelett, zum Teil unab- hängig von demselben. Ein Teil des Knochengewebes ist in der Form dünnerer oder dickerer Platten als Verstärkungen der Haut entwickelt (Schuppen usw.). Bei einigen Ganoiden — Knorpelganoiden, z. B. Stör — ist das knorpelige Ske- lett noch überaus mächtig; bei anderen — Knochenganoiden — dagegen sind die knöchernen Teile im Übergewicht. Knöcherne Teile sind in reicher Fülle vor allen Dingen im Kopfskelett ausgebildet, indem z. B. der Schädel von zahl- reichen Knochenplatten umgeben wurde und überhaupt Knochenplatten über- all, wo größere Festigkeit vonnöten war, sich ausgebildet haben. Speziell zu nen- nen ist ein doppeltes Knochenpaar am oberen Mundrande, das Zwischen- und Oberkieferbein, die scheinbar hier ganz unabhängig entstanden sind (bei den Selachiern scheint nichts Bezügliches vorhanden zu sein). Neu sind auch die charakteristischen Knochenstrahlen, welche die Hornfäden als Stützgebilde der Flossen abgelöst haben. Ein neuer Erwerb, von welchem man bei den Selachiern noch keine Spur findet, ist die Schwimmblase, eine Ausstülpung des vorderen Teils des Darm- kanals, die bei einigen nur als hydrostatischer Apparat, bei anderen auch als Lunge fungiert; letzteres dürfte das ursprünglichere sein (vgl. die Lungenfische). Neu ist weiter die Ausbildung blindsackartiger Ausstülpungen am Darm, die sog. Pförtneranhänge (Appendices pyloricae), die nichts Entsprechendes bei den Selachiern haben. Im Anschluß an die Verhältnisse der Chimären ist die Entwicklung des Kiemenapparates weiterauf demfrüher eingeschlagenen Wegfortgeschritten. Der Kiemendeckel ist mächtiger geworden und wird von Knochenplatten ge- stützt; die kiementragenden Scheidewände sind schmäler geworden und die Spitzen der Kiemen ragen über den Rand derselben hinaus. Hier haben wir somit sowohl einen Anschluß wie eine Weiterbildung. — Das Spritzloch der Selachier kann noch vorhanden sein oder fehlen. Ganoiden. Knochenfische 543 Von Interesse für die Phylogenie ist auch die totale, inäquale Eifurchung. Bei derselben zerfällt das Ei in vollkommen getrennte Furchungskugeln von ungleicher Größe, was ebenso bei den Chimären, nicht aber bei den meisten anderen Selachiern der Fall ist, bei welchen nur ein Teil des Eies in Furchungs- kugeln zerlegt wird, der Hauptteil dagegen ungefurcht bleibt (partielle Fur- chung). Allerdings findet sich eine totale, inäquale Furchung nach Dean auch bei Cestracion (einem Haie). Wahrscheinlich haben wir uns die Sache derart vorzustellen, daß bei den ältesten Haien eine totale Furchung ähnlich wie bei den Cyclostomen stattfand, und daß die Chimäroiden von denselben die totale Furchung geerbt haben, die sich weiter auf Ganoiden und Lungenfische über- trug, während sie bei den meisten jetztlebenden Haien in die partielle Furchung überging. Unter den Ganoiden zeichnen sich die Störe und Löffelstöre (Knorpelgano- iden) durch die Mächtigkeit des knorpeligen Anteils ihres Skeletts, durch die zylindrische Chorda und das Fehlen völlig ausgebildeter Wirbel aus; die Oto- lithen sind wie bei den Selachiern Ballen feiner Kristalle. In diesen Punkten dürften diese Gruppen eine ursprünglichere Stellung einnehmen als die übrigen jetztlebenden Ganoiden: Polypterus, Calamoichthys, Lepidosteus und Amia (Knochenganoiden), die alle ein überwiegend knöchernes Skelett, ein in Wirbel geteiltes Rückgrat, eine perlschnurförmige oder ganz rückgebildete Chorda und porzellanartige Gehörsteine besitzen. Die Ganoiden sind bekanntlich eine Abteilung, die in der Jetztzeit spärlich entwickelt ist, in der Vorzeit dagegen durch zahlreiche Formen repräsentiert war. Man hat eine große Zahl verschiedener Familien oder gar ‚Ordnungen‘ unterschieden. Die Phylogenese dieser Unterabteilungen klarzustellen, ist zur- zeit kaum möglich, würde uns auch zu sehr in Einzelheiten führen. Manche der betreffenden ausgestorbenen Formen haben eine zylindrische Chorda wie die jetztlebenden Knorpelganoiden, andere mehr oder weniger ausgebildete Wir- belkörper. Sie sind meistens deutlich heterozerk wie die jetzigen Knorpel- ganoiden und der Lepidosteus. Über die paarigen Flossen vgl. unten bei den Lungenfischen. 6. Knochenfische. Die Knochenfische leiten sich von den Ganoiden ab, und zwar ist der Über- gang von den Ganoiden, speziell von den Knochenganoiden, zu den Knochen- fischen ein derartig allmählicher, daß eine Grenze zwischen beiden Ordnungen schwierig zu ziehen ist. Mit den Ganoiden stimmen die Knochenfische in folgenden Punkten über- ein: das Skelett besteht aus Knorpel und Knochen, es sind Zwischen- und Ober- kieferknochen, Knochenstrahlen, Knochenschuppen, Schwimmblase, Pförtner- anhänge, ein von Knochenplatten gestützter Kiemendeckel usw. vorhanden, überhaupt ist die Übereinstimmung mit den Ganoiden sehr groß, besonders mit den Knochenganoiden, mit denen sie speziell durch die perlschnurförmige Chorda, das Überwiegen der Knochensubstanz über den Knorpel, die porzellanartigen Otolithen übereinstimmen. Totale Eifurchung. Knorpel- und Knochen- ganoiden. Ganoiden der Vorzeit. Knochenfische und Ganoiden J.E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere 544 In manchen Beziehungen haben die Knochenfische sich aber in eigenartiger Weise weiter entwickelt. Der Conus arteriosus ist gewöhnlich bis zur Unkennt- (& A In ee € >» | | | Y 4 | \ J A Ni \ N j \N j f / \ ur 1 II Id Al . Ih h | d ii \ 8 \\ 4 \ \ / ! IN EZ AM k \ u A Io od 0 | Fig. 6. Eileiter, Harnleiter, Enddarm usw. von verschiedenen Fischen. Die oberen drei Figuren stellen die Ver- A Selachier, 3 Ganoiden, C Knochenfische. a After, hältnisse beim Weibchen, die unteren beim Männchen dar. d Enddarm, e Eileiter, £ Geschlechtsöffnung, % Harnleiter, » Müllerscher Gang, ev Eierstock, s Samenleiter, Zr Trichter, z Harnleiteröffnung, #g Urogenitalöffnung. lichkeit rückgebildet; nur bei einer kleinen Anzahl von Knochenfischen ist noch ein deutlicher Rest des Conus vorhanden, wie er andererseits bei dem Ganoiden Amia schon stark verkürztist. Dafür ist das Anfangstück des Kiemenarterien- Knochenfische. Lungenfische 545 stammes bei den Knochenfischen zwiebelartig angeschwollen, was ebenfalls bei Amia schon angedeutet ist. — Die Spiralfalte des Darmes ist bei den Knochenfischen durchweg geschwunden; nur bei ganz wenigen Knochen- fischen ist eine niedrige Spiralfalte übriggeblieben (Chirocentrus aus der Heringsgruppe). — Die Heterozerkie der Selachier und Ganoiden ist — ebenso wie bei einigen der Knochenganoiden — scheinbar in Wegfall gekom- men: äußerlich ist das Schwanzende symmetrisch, indem das aufgebogene Rückgratende entweder ganz verkürzt oder, wo es etwas länger ist, von den Strahlen der Schwanzflosse umfaßt und verdeckt wird. Auch in bezug auf die- sen Charakter finden sich schöne Übergänge von den Ganoiden: bei einigen Knochenfischen (z. B. Lachs) ist die aufgebogene Rückgratpartie noch ansehn- lich, bei anderen kleiner, bei manchen ganz klein, resp. kaum nachweisbar. — Die weiblichen Geschlechtsorgane sind nicht allein von denen der Ga- noiden, sondern überhaupt von dem gewöhnlichen Wirbeltiertypus ganz ab- weichend: Müllersche Gänge fehlen stets, und gewöhnlich sind die Eierstöcke zu Hohlorganen umgebildet, die sich direkt in Ausführungsgänge fortsetzen, die mit gemeinsamer Öffnung hinter dem After ausmünden. Auch die männ- lichen Geschlechtsorgane münden in ähnlicher Weise und haben sich ganz von den Nieren emanzipiert. — Abweichend von den Ganoiden ist es auch, daß die Eifurchung partiell ist — analog derjenigen der Selachier. Die Knochenfische sind eine relativ einförmige Abteilung, die eine große Anzahl Formen umfaßt. Sie kann in zwei Unterabteilungen geteilt werden: die Physostomen, deren Schwimmblase mit einem ‚„Luftgang‘‘ versehen ist, und die Physoclisten, denen ein Luftgang abgeht. Zu den Physostomen gehören die ursprünglichsten unter den Knochenfischen, z. B. die Formen, die mit einer Spiralfalte und mit deutlichem Conus ausgestattet sind und bei denen die Hete- rozerkie am deutlichsten bewahrt ist. Geologisch treten die Knochenfische erst im Lias auf, während die Ganoiden bereits aus dem Devon, Selachier schon aus dem Silur bekannt sind. 7. Lungenfische. Die nächsten Verwandten der Lungenfische unter den jetztlebenden Tieren Lungenfische und sind von den im vorhergehenden erwähnten Formen die Chimären und die ei Knorpelganoiden. Mit diesen beiden Abteilungen stimmen die Lungenfische in folgenden Punk- ten überein: die Chorda ist zylindrisch*, Wirbelkörper sind nicht ausgebildet“, die Otolithensind weich, dashäutige Labyrinthistnurdurch einebindegewebige Mem- bran von der Schädelhöhle abgegrenzt”; es findet sich eine Spiralfalte im Darm; desgleichen sind Kiemendeckel*und Conus arteriosus vorhanden; die Hoden ste- hen zu den Nieren in demselben Verhältnis wie bei den genannten Abteilungen; die Eifurchung ist total. Die mit einem Sternchen bezeichneten Charaktere sind solche, die beianderen rezenten Selachiern außer den Chimären nicht vorkommen. Mit den Knorpelganoiden stimmen die Lungenfische noch außerdem in folgenden Punkten überein, in denen sie aber von den Chimären abweichen: K.d.G.IH.ıv,Bd4 Abstammungslehre etc. . 35 546 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere das Skelett ist teilweise verknöchert, es sind echte Knochenschuppen und knöcherne Flossenstrahlen, weiter dieselbe Lunge (Schwimmblase) wie bei den Ganoiden vorhanden; die Mündung des Labyrinths auf der Oberfläche der Haut mittels des Ductus endolymphaticus fehlt, die charakteristischen Be- gattungswerkzeuge aller Selachier fehlen gleichfalls. Anderseits stimmen die Lungenfische mit den Chimären überein, weichen aber von den Knorpelganoiden ab in folgenden Punkten: dasOhrlabyrinth ist dem von Chimaera (und anderen Selachiern) in einem augenfälligen Punkte sehr ähnlich.!) Die Spiralfalte des Darmes ist der von Chimaera (und gewissen anderen Selachiern) ähnlicher als der der Ganoiden. Von den Kiemengefäßen ist zu erwähnen, daß die abführenden Kiemenarterien sich ähnlicher denen der Selachier verhalten (zwei, nicht eine, von jedem Kiemenbogen). Die Müllerschen Gänge sind nicht wie bei den Ganoiden der Leibeswand sozusagen angeklebt, sondern verlaufen freier wie bei Chimaera und anderen Selachiern. Nach.alledem dürfte es kaum zweifelhaft sein, daß die Stellung, die den Lun- genfischen in unserem Schema III (S. 548) angewiesen wurde, die richtige ist: die Lungenfische, wie wir sie in den jetztlebenden Formen, Ceratodus, Protopterus, Lepidosiren kennen, entstammen einer Form 2 (Schema III), die zwischen den Chimäroiden und den Knorpelganoiden mitten inne oder wohl den Knorpel- ganoiden etwas näher stand als den Chimären. Diese Form hatte bereits wie die Knorpelganoiden Knochen, Schuppen, Flossenstrahlen und Schwimmblase?) erworben, Begattungsorgane und den offenen Ductus endolymphaticus verloren, in verschiedenen Punkten aber Charaktere der Chimären bewahrt. Nur ein Punkt bietet eine gewisse Schwierigkeit in bezug auf die gewählte Stellung dar. Bei den Chi- Schema Il. R ä rennen mären sowohl wie bei den (keine Kloake, Knochen und Knorpelganoiden findet Schwimmblase v . . Schwimmblase vorhanden) sich keine Kloake: an der Unterseite des Körpers Chimäroiden (keine Kloake, ist zunächst ein After und \ ren dicht hinter demselben eine \ xeine Schwimmblase) i R \ Urogenitalöffnung vor- Luasamllselie \ Haie (Kloake, handen. Bei den Lungen- (Kloake, Knochen N N keine Knochen, 3 2 und Schwimmblase IN \ keine Schwimmblase) fischen und bei allen Se- 'orhanden) N : ; ass SUN lachiern mit Ausnahme der N Chimären ist dagegen eine & (Kloake, : a Kloake vorhanden, in wel- keine Sehwimmblase) “che die Urogenitalgänge See einmünden. Man könnte, (Kloake, keine Knochen, keine Schwimmblase) bei einseitiger Beachtung ı) Es handelt sich um den sog. Recessus utriculi, der bei den Lungenfischen ebenso wie bei den Selachiern mit dem Sacculus in offener Verbindung steht, was bei den Ganoiden und Knochenfischen Nicht der Fall ist. 2) Eine Schwimmblase ist bei den Selachiern noch nicht entwickelt. Lungenfische 547 dieses einen Charakters, versucht sein, die Lungenfische von Selachiern abzulei- ten, die tiefer als die Chimäroiden standen und noch mit Kloake ausgestattet waren, etwa von dem durch a gekennzeichneten Punkte im Schema II. Eine solche Annahme würde aber zuUlngereimtheiten führen: für die zahlreichen Über- einstimmungen mit den Knorpelganoiden, vor allen Dingen die Ausbildung eines knöchernen Skelettes, das Vorhandensein von Knochenstrahlen, von Schuppen und von einer Schwimmblase, würde keine S Erklärung möglich sein und man wäre zu N der Annahme gezwungen, daß dieser ganze un Charakterenkomplex zweimal unabhängig entstanden ist, nämlich sowohl bei den Lungenfischen als auch bei den Knorpel- ganoiden — wovon selbstverständlich nicht die Rede sein kann. Das Schema II kann somit nicht als richtig anerkannt werden. Die direktere Ableitung der Lungen- fische von den Selachiern findet aber nicht einmal in dem Vorhandensein einer Kloake bei beiden eine unbedingte Stütze, denn die Kloake der Selachier und der Lungenfische ist keineswegs identisch. Bei den Sela- chiern münden die Harn- und Geschlechts- gsanpe, direkt, in die Kloake. Bei den Lungenfischen ist dagegen die dorsale Kloakenwand in ein Blindsäckchen aus- Fig.7. Kloake (resp. Enddarm) verschiedener Fische der Länge nach durchschnitten. ASelachier, 3 Spa- gestülpt, in welches die Harn- und Ge- tularia (Ganoide). C’Ceratodus. a After, d Enddarm, Schleehtseanve einmünden, Und ebenso wie u 2 Leibeauznu, zu See Se wir uns mit größter Leichtigkeit vorstellen können, daß ein Zustand wie der der Knorpelganoiden und Chimären sich aus dem der Selachier entwickelt hat, bietet es auch keine Schwierigkeit. dar, den Zustand der Lungenfische aus dem der Chimären und Knorpelganoiden abzuleiten. Der Unterschied zwischen dem kloakenlosen Zustand der Chimären und dem Zustand der Lungen- fische ist eben nicht so sehr groß. Wir müssen uns also vorstellen, daß die Kloake der Lungenfische aus einem Zustand wie der der Chimären neu ent- standen ist. Somit halten wir daran fest, daß die Lungenfische von einer Form abstam- men, die auf dem Wege zwischen den Chimäroiden und den Knorpelganoiden stand (z in Schema II]). Ein Charakter, den wir noch betrachten müssen, ist das Gliedmaßen- Gliedmaten der skelett. Um denselben richtig zu würdigen, müssen wir aber etwas weiter < ausholen. Die Gliedmaßen oder die paarigen Flossen der Fische, Brust- und Bauch- flosse, schließen sich durchweg in ihrem Bau aufs engste an die unpaaren A 35 548 J.E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere Flossen an, was ja auch in der Trivialbezeichnung zum Ausdrucke gekommen ist. Beides sind Hautfalten, von stab- und fadenförmigen Skeletteilen ge- stützt, die durchweg in den paarigen und den unpaaren Flossen bei dem- selben Tier denselben Charakter haben: wenn das Skelett der unpaaren Flossen Schema Ill. Vivipare Säugetiere (Wirbel, totale Furchung, 0 Kloake) Monotremen (Wirbel, (Wirbel, Vög el partielle Furchung, partielle Furchung, + Kloake) -- Kloake) (Wirbel, Reptilien partielle Furchung, + Kloake) | | (Wirbel, Amphibien Knochenfische (Wirbel, totale Furchung, partielle Furchung, + Kloake) 0 Kloake) Knochenganoiden (Wirbel, (Zylindr. Chorda, Lun gen fische totale Furchung, totale Furchung, 0 Kloake) + Kloake) Knorpelganoiden (Zylindr. Chorda, totale Furchung, 0 Kloake) F4 (Zylindr. Chorda, Chimaera Rochen (mit Wirbeln, totale Furchung, S | partielle Furchung, 0 Kloake) ER {+ Kloake) Unbekannte Chimäroiden Haie (mit Wirbeln, gew. part. Furchung, + Kloake) Haiähnliche Selachier wahrscheinlich mit zylindrischer Chorda, wirbellos, mit totaler Furchung, + Kloake. wie bei denSelachiern aus knorpeligenStäben und Hornfäden besteht, istauch das der paarigen Flossen aus knorpeligen Stäben und Hornfäden zusammengesetzt; bestehen die unpaaren aus knorpelig präformierten Knochen und knöchernen Strahlen, dann haben auch die paarigen dieselbe Zusammensetzung. Die paarigen Flossen haben wir uns ursprünglich (Fig. 8A) als wagrechte Hautfalten in der Nähe der Ventralfläche vorzustellen. Das Skelett derselben ist wahrscheinlich ein ähnliches gewesen wie dasjenige der Rückenflosse man- cher Haie: eine Reihe gegliederter Knorpelstäbe, sog. Radien, erstreckte sich von der Basis aus, wo sie in die Körperwand eingefügt waren, in die Flosse hin- ein, jedoch nicht bis zu deren Rand; die Randpartie war von Hornfäden ge- Lungenfische 549 stützt. Die nächste phylogenetische Stufe besteht darin (ähnlich wie wir es häufig bei der Rückenflosse finden), daß die basalen Abschnitte der Knorpel. stäbe sich zu einer Anzahl größerer Knor- pelstücke (B: a, b,c,s) vereinigt haben, die zusammen einen breiten Stamm bilden, der die übriggebliebenen Teile der Radien in einseitig gefiederter Anordnung trägt. Am vordersten Ende des genannten Stam- mes hat sich ein besonders starkes Knor- -pelstück entwickelt, dassich in die Leibes- wand hinein erstreckt und von dem übrigen Flossenskelett abgegliedert hat; nament- lich an der Brustflosse hat sich das be- treffende Stück stark entwickelt und weit hinauf ausgedehnt, während das entspre- chende Stück der Bauchflosse vorderhand eine bescheidenere Größe bewahrt. Ge- wöhnlich verwachsen die beiden genann- ten großen Knorpelstücke mit den entspre- chenden der anderen Körperseite zu einem unpaaren Knorpelbogen, resp. einer Knor- ( pelplatte: dem Schultergürtel, resp. dem Becken. In der letztbeschriebenen Gestalt be- gegnen wir dem Gliedmaßenskelett bei den Selachiern. Allgemein finden wir noch bei denselben, daß der innere Rand der Gliedmaßenplatte sich von der Rumpf- wand teilweise abgelöst hat; dementspre- chend haben sich die hinteren Radien um die Spitze des Knorpelstammes herum be- wegt, so daß die Fiederung an der Spitze zweireihig ist (C). Montdiesemiskelett der Selachier Ist 8. 41 Hypothetisches” Ausgangsstadiun” der wesentlich durch Rückbildung das Glied- rare Fualloss © BL EIER maßenskelett der Ganoiden und Knochen- entstanden durch Verschmelzung der proximalen 0 5 e Teile der Radien, s Schultergürtel, » Radien. fische abzuleiten. Nur bei den Lungen- fischen hat die Entwicklung eine andere Bahn eingeschlagen. Das Maßgebende dabei dürfte sein, daß sich die Gliedmaßen mehr vom Körper abgelöst haben, so daß sie nur an einem begrenzten Punkt, an der Stelle, wo Schultergürtel und Becken mit dem übrigen Gliedmaßenskelett zu- sammenhängen, noch mit dem Körper in Verbindung bleiben. An der somit ab- gelösten Gliedmaße hat sich der Stamm verlängert und reicher gegliedert. Die Überwanderung der Radien hat sich dementsprechend fortgesetzt, so daß auch Q a NE iS N N AN \ N N N 550 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere die Hinterrandpartie der Gliedmaße mit Radien voll besetzt wurde, wenn auch in geringerer Zahl als die Vorderrandpartie, ebenso wie auch die Hinterrand- partie schmäler blieb. Entsprechend der verwandtschaftlichen Stellung, die wir oben für die Lungenfische dargelegt haben, ist also das Gliedmaßenskelett derselben nicht, wie man vielfach anzunehmen geneigt war, ein ursprüngliches, von dem sich das der Selachier durch Rückbildung entwickelte, vielmehr ist es selbst von dem der Selachier abzuleiten. Von geringerem Interesse für unsere Zwecke sind die Eobräktere der Zähne (wenige, große Zähne) und das hiermit zusammenhängende Verwachsen des Gaumenknorpels mit dem Schädel. Ähnliche Verhältnisse (d. h. große Zähne, die sich aber ganz abweichend verhalten, und festgewachsener Gaumenknorpel) findet man auch bei den Chimären. In beiden Fällen sind es Erwerbungen, die weder bei der Form z unseres Schemas (III) noch bei den „unbekannten Chi- märoiden‘‘ desselben Schemas vorhanden gewesen sein können, da die Ga- noiden normale Zähne und einen freien Gaumenknorpel besitzen; beide Charak- tere sind somit unabhängig bei den Chimärenahnen und den Lungenfischen ent- standen. Welche fossilen Fische den Dipnoen zuzurechnen sind, ist sehr unsicher. Unter den nach Gliedmaßenform und Bezahnung hierher gerechneten gibt es eine sehr alte, devonische, Gruppe, die Dipteriden, die heterozerk sind (während die jetztlebenden Dipnoen diphyzerk sind). Da die Diphyzerkie der jetzigen Lungenfische offenbar eine sekundär erworbene ist, sind derartige heterozerke Formen unter den älteren Lungenfischen zu erwarten. 8. Amphibien. Be nlbien Mit den Amphibien begeben wir uns in den Kreis der Landwirbeltiere. und Fische. I), der Tat ist es die Anpassung an das Leben auf dem Lande, welche den Tie- ren in erster Linie ihren Stempel aufgedrückt und die Unterschiede zwischen ihrer Gesamtheit und den Fischen verursacht hat. Unter den Fischen gibt es allerdings einzelne Formen, die das Wasser verlassen können und sich bis zu einem gewissen Grade dem Leben auf dem Lande angepaßt haben; die An- passung ist aber sehr beschränkt geblieben und hat nicht zu einer um- fassenden Entwicklungsreihe geführt. Erst mit Erreichung des Typus der Am- phibien wurde eine solide Grundlage für einen Landwirbeltiertypus ge- wonnen. Unter den Landwirbeltieren sind die Amphibien offenbar diejenigen, die den Fischen am nächsten stehen. Die Punkte, die in erster Linie hierauf hinweisen, sind folgende: ı. Ebenso wie bei den Fischen fehlen die allen übrigen terrestren Wirbeltieren so charakteristischen Embryonalhüllen, weshalb die Amphibien auch manchmal mit den Fischen zusammen als Anamnia zusammengestellt werden, in Gegensatz zu den Amnioten, die sämtliche übrige terrestre Wirbeltiere umfassen. 2. Die Niere der Amphibien ist dieselbe wie die der Fische, der ‚Mesonephros‘‘, während diese Niere zwar bei den übrigen terrestren Wirbeltieren im Embryonalzustande vor- Lungenfische. Amphibien 55I handen ist, später aber rückgebildet und von einer neuen Niere ersetzt wird. 3. Die Amphibien durchlaufen einen Larvenzustand, in welchem sie durch Kie- men atmen (vgl. unten) und eine ähnliche Anordnung des Gefäßsystems und des Viszeralskeletts (Kiemenbogen) besitzen wie die Fische. 4. Die Herzkammer ist der der Fische ähnlich (ungeteilt, spongiös). 5. Die beiden vordersten Hals- wirbel sind nicht in der eigenartigen Weise ausgebildet wie bei den übrigen terrestren Wirbeltieren, sondern sind einfach wie bei den Fischen, usw. Innerhalb der Fische müssen wir natürlich die nächsten Verwandten der Am- phibien unter den mit Knochen versehenen Gruppen suchen: also unter den Ganoiden, Knochenfischen und Lungenfischen. Von den Knochenfischen können wir aber gleich absehen: die Amphibien bieten in der Hauptsache dieselben Ver- hältnisse des Urogenitalsystems dar wie Selachier, Ganoiden und Lungenfische — die hierin wie oben erwähnt ganz von den Knochenfischen verschieden sind — sie besitzen einen wohlentwickelten Herzkegel wie diese Gruppen, ebenfalls abweichend von den Knochenfischen. Abweichend von den Knochenfischen ist auch die totale inäquale Furchung der Eier, welche die Amphibien mit den Ganoiden und Lungenfischen teilen. Die Wahl steht somit ausschließlich zwischen Ganoiden und Lungenfischen. Von diesen dürften die Lungenfische diejenige Gruppe sein, von der die Amphi- bien abzuleiten sind. Allerdings Lungenfische, die in gewissen Beziehungen von den jetztlebenden abwichen, namentlich in bezug auf die Bezahnung, die bei den jetzigen Lungenfischen derartig entwickelt ist, daß sie in dieser Form abso- lut nicht bei den Amphibienahnen ausgebildet gewesen sein kann. Bei den Ahnen der Amphibien müssen vielmehr zahlreiche, einfache Zähne vorhanden gewesen sein. Die Charaktere der Lungenfische, die für eine Ableitung der Amphibien speziell von ihnen sprechen, sind folgende: I. Das Gehirn. Namentlich ist die Ausbildung des Vorderhirns der Lungenfische charakteristisch, indem dasselbe in Gegensatz zu dem Verhalten bei allen anderen Fischen in zwei Hemisphären ähnlich wie bei den terrestren Wirbeltieren abgeteilt ist; auch ist das Pallium desselben von ansehnlicher Dicke, während es bei den Ganoiden eine ganz dünne Schicht bildet. 2. Der Herzkegel, der im Gegensatz zu dem einfachen Herz- kegel anderer Fische spiralig gewunden und innerlich mit einer spiraligen, aus einer besonders entwickelten Klappenreihe entstandenen Längsfalte ausgestat- tet ist. Ganz ähnliche Verhältnisse finden wir bei den Amphibien wieder. 3. Die Larven von Protopterus und Lepidosiren (dem afrikanischen und amerikani- schen Lungenfisch), die den Larven der Amphibien sehr ähnlich sind, nament- lich auch mit denselben äußeren Kiemen — bei den Lungenfischen am oberen Ende der Kiemenbogen I—4, bei den Amphibien nur am oberen Ende der drei ersten Kiemenbogen — ausgestattet sind; hinten an der Unterseite des Kopfes finden sich auch bei den Lungenfischlarven dieselben Klebeapparate, die für die jungen Amphibienlarven charakteristisch sind. 4. Das Vorhandensein einer Kloake bei den Lungenfischen spricht ebenfalls für eine Ableitung der Amphi- bien von denselben und nicht von den Ganoiden, die keine Kloake haben. Nächste Ver- wandte der Am- phibien. 552 J. E.V. BoAs: Phylogenie der Wirbeltiere Wir gelangen also zu dem Schluß, daß die Amphibien von Lungenfischen abstammen. In der Tat läßt sich ein Typus wie der der Amphibien ohne gar zu große Schwierigkeit von einer Form ableiten, die in der Hauptsache aussah etwa wie Ceratodus, jedoch mit zahlreichen Zähnen versehen war, und wahr- scheinlich auch sonst noch sich in mancher anderer Beziehung von den rezenten Lungenfischen unterschied. Eine respiratorische Lunge mit ähnlicher Gefäßverbin- dung wie bei den Amphibien istschon vorhanden; die Au- Bere Gestalt der Gliedmaßen ist eine derartige, daß sie sehr wohl den Ausgangspunkt für Amphibiengliedmaßen abge- ben könnte, und das Ske- lett der Ceratodus- Glied- maßen scheint mehr als sonst das Skelett von Fischglied- maßen die Grundlage für ein Gliedmaßenskelett wie das der Amphibien abgeben zu können. Wie das Skelett der Am- phibiengliedmaßen — und da- mit der Gliedmaßen der ter- restren Wirbeltiere überhaupt Fig.9. A Schema des Skeletts der Vordergliedmaße von Ceratodus. —; Mon dem des Ceratodus derartig gezeichnet, daß man die Ableitung der Vordergliedmaße der sich ableiten läßt. ist nicht ’ terrestren Wirbeltiere von einem ähnlichen Skelett, wesentlich durch Unterdrückung einer Anzahl der Radien, verstehen kann. Die beiden mitBestimmtheit zu entschei- terrestren zurückbleibenden Teile sind stärker ausgezogen und mit & 5 Bezeichnung wie in 2 versehen. 3 Schema des Skeletts der Vorder- den; mehrere Lösungen sind gliedmaße der terrestrenWirbeltiere. 7 Humerus, $£ Radius, U Ulna, ao]i a & r Radiale, 2 Indermedium, z Ulnare, ce Centrale, c,—c, Carpale ı—s, möglich; in den nebenstehen mm, Metacarpale ı—5. ı—5 die Phalangen der Finger (Zehen) den Figuren ist eine Lösung Te graphisch dargestellt. eelune 5 Im Vergleich mit den Lungenfischen und mit den Fischen überhaupt ist es den Fischen. eine mächtige Umgestaltung, welche die Organisation der Amphibien erfahren hat. In erster Linie ist zu nennen die schon oben berührte Umbildung der Brust- und Bauchflossen zu wirklichen Gliedmaßen, mehrgliedrigen gelenkigen Stützwerkzeugen, die geeignet sind, den Körper fortzutragen, die mit einem mehrspaltigen Endabschnitt ausgestattet sind, der nicht nur eine Stützfläche abgeben kann, sondern auch zum Anklammern geeignet ist, während die übrige Gliedmaße als zweigliedriger Schaft fungiert — ein Typus, dem die größten Möglichkeiten weiterer Entwicklung innewohnen. Mit der genannten Ausbil- dung der Gliedmaßen hängt auch die Neugestaltung des Beckens zusammen; dieses bei den Fischen stets sehr unansehnliche Skelettstück ist bei den Amphi- Amphibien 553 bien zu einem großen knorpelig-knöchernen Bogen geworden, der den hintersten Teil der Leibeshöhle umgreift und mit seinen Enden der Wirbelsäule angeheftet ist, so daß die Hintergliedmaßen einen festen Stützpunkt für das Vorwärts- schieben des Körpers erhalten haben. — Ein anderer Hauptpunkt ist die Rück- bildung der Kiemen bei den ausgebildeten Amphibien und die hiermit zusam- menhängende Umbildung des Arteriensystems und des ganzen Kreislaufes, die zunächst zu Kreislaufsverhältnissen geführt hat, die recht unvollkommen sind. Mit der Rückbildung der Kiemen hängt auch die Rückbildung der Kiemenbogen zusammen. Sehr charakteristisch ist weiter die Ausbildung einer den ganzen Körper überdeckenden wenn auch meist dünnen Hornschicht — eine An- passung an das Leben auf dem Lande. Unter demselben Gesichtswinkel ist die Ausbildung beweglicher Augenlider und des hiermit in Verbindung stehen- den Tränenapparates zu betrachten: sie stehen im Zusammenhang mit dem Leben auf dem Lande, bei welchem die Augenvorderfläche Feuchtigkeit und Schutz braucht. — Charakteristisch ist auch die Ausbildung einer luftge- füllten, nach außen durch ein dünnes Trommelfell geschlossenen Paukenhöhle, in welcher ein Gehörknöchelchen angebracht ist — eine den Fischen durch- aus fremde Einrichtung, wenn auch allerdings die Paukenhöhle als Spritzloch bereits bei den Fischen vorhanden ist. Geologisch traten die Amphibien bereits in der Kohlenformation auf, vor Amphibien der allen übrigen terrestren Wirbeltieren. Die ältesten Amphibien gehören den zz Stegocephalen an, einer großen Abteilung, deren Mitglieder habituell am meisten an die jetztlebenden Urodelen (Salamander) erinnern, mit kräftigem Schwanz und kleinen Gliedmaßen; sie lebten in der Kohlen-, Perm- und Trias- formation. Von den Stegocephalen besitzen einige ähnlich wie die Lungenfische eine zylindrische Chorda; jeder Wirbel besteht bei solchen aus mehreren ge- trennten Knochenstücken, zwischen denen die Chorda eingeschlossen liegt. Bei anderen sind dagegen die Wirbel sanduhrförmig wie bei manchen Fischen (die Chorda also perlschnurförmig), oder sie haben noch andere Formen. Weiter ist von Interesse, daß an den Kopfknochen mancher Stegocephalen ähnliche „schleimkanäle‘ (Seitenlinienäste) wie bei den Fischen gefunden werden. Manche Stegocephalen besaßen einen ähnlichen Schuppenbesatz (besonders an der Bauchseite) wie die Fische, was sonst bei den Amphibien nicht der Fall ist (nur die Cöcilien können stellenweise Schuppen besitzen). Die Schläfenregion ist ähnlich wie bei den Lungenfischen von einem knöchernen Dach überwölbt (vgl. unten S. 554). Nach diesen Befunden erscheinen die Stegocephalen als die ursprünglichsten aller Amphibien, was auch zu ihrer Erscheinungszeit stimmt. Von den Stegocephalen sind die jetztlebenden Urodelen oder Schwanz- Urodelen. lurche (Salamander) unschwer abzuleiten. Die äußere Gestalt ist im allgemeinen die gleiche; in manchen Punkten haben aber Um- und Rückbildungen stattge- funden. Unter den Urodelen bieten die Perennibranchiaten (Kiemenlurche) ein besonderes Interesse dar. Es sind Formen, die lebenslänglich den Kiemen- apparat bewahren und demnach bei oberflächlicher Betrachtung als Zwischen- formen zwischen Fischen und Amphibien imponieren könnten. Eine nähere Be- AÄAnuren. Gymnophionen. 554 J. E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere trachtung zeigt jedoch, daß wir es mit Formen zu tun haben, die sich aus dem gewöhnlichen Urodelentypus entwickelt haben. Bei einigen Salamanderarten kommt esnämlich vor, entweder in seltenen Fällen (Triton) oder häufiger (Axo- lotl), daß einige Exemplare die volle Größe und Geschlechtsreife erreichen, ohne die LarvengestaltaufzugebenunddieKiemenrückzubilden. Siebewahren dann die Larvenform das ganze Leben über, während die normale Entwicklung es mit sich bringt, daß Kiemenatmung und Larvengestalt frühzeitigrückgebildetwerden und das ausmetamorphosierte Tier heranwächst und geschlechtsreif wird. Bei den Sea Kiemenlurchen, die sich im Bau durchweg wie die Kiemenlurche geschlechtsreif gewordenen Salamanderlarven ver- | halten, ist nun das, was bei jenen gelegentlich ge- Urodelen schieht, zu einer konstanten Einrichtung geworden: die Perennibranchiaten sind Salamander, die aus- Anuren Gymnophionen k ö 2 Ss 7 nahmslos die Larvengestalt zeitlebens beibehalten. IN . .. 1 . er SE — Von Urodelen sind nur spärliche fossile Überreste Stegocephalen gefunden, die ersten aus der Kreideformation. Auch die Anuren (Frösche und Kröten) sind von den Stegocephalen ab- leitbar. In einigen Punkten bieten sie scheinbar ursprünglichere Charaktere dar als die Urodelen: die wohl ausgebildete Paukenhöhle, die dem Spritzloch der Fische entspricht, ist bei manchen Anuren bestehen geblieben, während sie bei den Urodelen stets verloren gegangen ist; auch ist der Schädel der Anuren dem der Stegocephalen etwas ähnlicher als der Schädel der Urodelen. In anderen Beziehungen sind dagegen die Anuren stärker umgebildet; besonders ist dabei die Anpassung derselben an die springende Lebensweise maßgebend gewesen: die mächtige Ausbildung der Hinterbeine, die eigentümliche Umgestaltung des Beckens, die Rückbildung des Schwanzes, die Verkürzung des Körpers ist alles daraus ableitbar. Auch die Metamorphose hat neue Wege eingeschlagen: Zuerst erscheint eine Larve von ähnlicher Gestalt wie die der Urodelen, die sich aber schnellstark umbildet; erst aus dieser umgebildeten Larvengestalt (Kaulquappe) geht die Gestalt desfertigen Tieres hervor. — Auch die Anuren sind fossil spärlich vertreten; die ältesten gefundenen Überreste entstammen der Juraformation. Endlich die Gymnophionen (Cöcilien, Blindwühlen). Es sind wurmför- mige, gliedmaßen- und schwanzlose Formen, die in der Erde hausen. In einigen Punkten bietet diese Abteilung Charaktere dar, die ursprünglicher erscheinen als diejenigen, welche wir bei anderen jetztlebenden Amphibien finden: alle vier Paar Kiemenbogen bleiben zeitlebens bestehen, wenn auch der letztenur in rudi- mentärem Zustande (sonst bleiben höchstens nur der erste und zweite); dieWirbel sind bikonkav (während die Urodelen und Anuren ‚,Vollwirbel‘ haben); der Schä- del besitzt ebenso wie bei den Stegocephalen eine knöcherne Überdachung der Schläfenregion, derart, daß ein überdachter Raum jederseits gebildet wird, wäh- rend solches bei anderen jetzigen Amphibien völlig fehlt.*) Auch die Gymnophio- nen lassen sich ungezwungen von den Stegocephalen ableiten (vgl. Schema IV). ı) Bei einzelnen Anuren kann jedoch eine ähnliche Überdachung vorkommen, die aber wahrscheinlich bei diesen sekundär erworben ist. Amphibien. Reptilien 555 9. Reptilien. Mit den Reptilien hat die Entwicklung der terrestren Wirbeltiere auf dem Wege der Anpassung an das Landleben einen großen Schritt vorwärts gemacht; dazu kommt noch, daß die Reptilien eine Gruppe sind, die auch in manch anderer Beziehung tiefeingreifende Umänderungen aufweist. Dabei ist aber der Anschluß an den Ausgangspunkt, die Amphibien, durchaus klar und zweifellos. Die bessere Anpassung an das Landleben spricht sich in folgenden Punkten aus: Die Hornschicht der Haut ist dicker und fester, weitaus stärker ausgebildet als bei den Amphibien und stellt einen ausgezeichneten Schutz gegen Austrock- nung dar; dementsprechend sind die Hautdrüsen stark rückgebildet. Die Glied- maßen sind vollkommener ausgebildet, mit eigentümlichen, bei den Amphibien noch fehlenden festen hornigen Schutzhüllen der Zehenspitzen, den Krallen, ausgestattet, die noch dazu geeignet sind, beim Anklammern dem Tiere nütz- lich zu sein und besonders, wenn es sich um das Klettern auf Bäumen handelt, von Bedeutung werden. Das Becken verbindet sich mit zwei oder mehreren Wirbeln (bei den Amphibien meist nur mit einem), was der stärkeren Beanspru- chung des Beckens entspricht. Das Herz und das übrige Gefäßsystem ist vollkom- mener den Anforderungen der Lungenatmung angepaßt; bei den Krokodilen ist das Herz sogar wie bei den Vögeln und Säugetieren vollständig in eine linke und rechte Hälfte geteilt. Die Lungen sind komplizierter geworden. Besonders hervorzuheben ist, daß daskiementragende Larvenstadium verloren gegangen ist: auch die Jugendzustände haben sich von dem Wasser unabhängig gemacht. — Ferner sind gewisse Charaktere des Skeletts auf Rechnung des Landlebens zu setzen. Dazu gehört die Ausbildung eines Halswirbelabschnittes, die Voraus- setzung für eine freiere, den Landtieren bequeme Beweglichkeit des Kopfes, die den Wassertieren bei der Ortsbewegung hinderlich sein würde. Auch die inter- essante Ausbildung der beiden ersten Halswirbel als Atlas und Epistropheus, wodurch der Kopf drehbar wird, hängt hiermit zusammen, möglicherweise auch die Vereinigung der beiden Hinterhaupts-Gelenkhöcker der Amphibien zu dem einzigen der Reptilien. — In der Ohrsphäre hat eine weitere Vervollkomm- nung in Form der Ausbildung einer Fenestra rotunda stattgefunden, was wahr- scheinlich ebenfalls mit dem Landleben in Zusammenhang zu setzen ist. — Auch die Kalkschale des Reptilieneies ist als eine Anpassung an das Leben auf dem Lande aufzufassen. Für die folgenden neuen Charaktere der Reptilien ist dagegen ein Zusam- menhang mit dem Leben auf dem Lande zweifelhaft oder sogar unwahrschein- lich. Das gilt für die wunderbare Umbildung des Exkretionssystems, dessen Besonderheit darin besteht, daß die von den Fischen und Amphibien ererbte Niere (Mesonephros) nur im Embryonalzustande als Niere fungiert, später rück- gebildet wird und nurnoch beim Männchen als Samenausfuhrweg erhalten bleibt, während gleichzeitig eine neue Nieresich herausbildet (Metanephros), dienachher als Exkretionsorgan fungiert. — Die Entwicklung der Eier ist von der der Amphibien sehr abweichend: die Furchung der großen Eier ist eine partielle Reptilien und Amphibien. Anpassung an das Landleben. Reptilien und Stegocephalen. Cotylosaurier. 556 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere und, was wichtiger ist: es bilden sich am Körper des Embryossog. Embryonal- hüllen, große provisorische Organe, die den Amphibien und Fischen ganz fremd sind. Wenn wir fragen, von welcher Amphibienabteilung die Reptilien abzuleiten sind, kann es nicht zweifelhaft sein, daß es die Stegocephalen sind, worauf die Verhältnisse des Schädelbaues und des Schultergürtels (einschließlich des Vorderbrustbeins) deutlich hinweisen (Fig. 10—13). Von Interesse ist auch das Vorhandensein eines Sklerotikalrings im Auge der Stegocephalen, den wir ebenso bei vielen Reptilien (nicht aber bei den Urodelen und Anuren) finden, und einer großen Parietalöffnung, die auf das Vor- handensein eines wohlentwickel- ten Scheitelau- ges wie das der jetztlebenden Saurierhinweist. Vgl. auch unten die bei Bespre- chung der Co- Fig. 10. Schädel eines Stegocephalen, von Fig. ır. Schädel von Seymouria (einem Co- tylosaurier ge- oben gesehen. / Frontale, /# Parietalöf- tylosaurier). f Frontale, /5 Parietalöfnun, machten Bemer- nung, 5 Parietale. o Augenhöhle, 5% Parietale. Die durch punk- Nach JAEKEL. tierte Linien angegebenen Suturen sind mut- ku ngen. maßlich. Nach Bkoır1. Di Repti- lien treten zuerst im Oberen Karbon auf; in der Trias hat man eine überaus reiche Entwicklung zahlreicher verschiedener Unterabteilungen!), von denen einige nachher allmählich ausstarben, andere dagegen sich in die jetztleben- den fortsetzten; in der Jetztzeit ist die Abteilung, wenn auch keineswegs schwach, so doch bei weitem nicht so reich und mannigfach wie in gewissen früheren Perioden vertreten. Von den Reptilien sind die Cotylosaurier (Cope) diejenigen, die sich den Stegocephalen am engsten anschließen. Charakteristisch ist die große Ähnlich- keit in den dorsalen Partien des Schädels: bei den Stegocephalen ist die Schlä- fenregion des Schädels durch eine große zusammenhängende knöcherne Platte, die aus mehreren Knochen gebildet ist, überdeckt, derart, daß jederseits neben dem Schädel ein überdachter Raum gebildet wird. Dasselbe ist bei den Cotylosauriern der Fall, und dazu sind noch fast dieselben Knochenstücke in beiden Fällen vorhanden; überhaupt hat bei beiden Abteilungen der Schädel von oben gesehen so sehr das gleiche Aussehen, daß es manchmal bei Betrach- tung der Oberseite allein schwierig ist, zu entscheiden, ob ein Stegocephale oder ein Cotylosaurier vorliegt. Bereits bei den Lungenfischen finden wir diese cha- ı) Die Unterabteilungen der Reptilien nehmen wir hier ähnlich wie Broili in Zittel, Grundzüge der Paläontologie 2. Aufl., II, Vertebrata, ıgrı. Reptilien: Cotylosaurier. Pelycosaurier 557 rakteristische Überdachung sehr deutlich, man kann sagen, bei Ceratodus ganz wie bei den Stegocephalen. Auch das Becken (Fig. 14) der Cotylosaurier stimmt mit dem mancher Stegocephalen merkwürdig überein: Scham- und Sitz- bein bilden eine zusammenhängende Platte mit einem unansehnlichen Loch (Foramen obturatorium, Fig. 14D, o). Im Schultergürtel findet sich ebenso wie bei den Stegocephalen (Fig. 12) neben der Clavicula (Schlüsselbein) noch ein zweiter Deckknochen, ein Cleithrum (vgl. Fig. 13). Auch die Wirbel sind von Interesse; sie sind bei den Coty- losauriern ebenso wie bei gewis- sen Stegocephalen tief amphicöl. Überhaupt sind der Anknüp- fungspunkte so viele, daß eine Ableitung von den Stegocepha- len sich ganz von selbst ergibt. Die Cotylosaurier gehören auch cle Seen Fig. ı2. Schema des Schultergürtels eines Stegocephalen. e/ Clavicula, cZe Cleithrum, co Coracoid, ed Vorderbrustbein, zu denjenigen Reptilien, die g Gelenkfläche, se Scapula. ebenso wie die Stegocephalen mit einem großen Scheitelloch versehen sind (Parietalauge). Die Auffassung der Cotylosaurier als älteste Reptilien wird weiter durch ihr geologisches Auftreten bestärkt: sie erscheinen schon im Obersten Karbon und im Perm. Fig. 13. Schultergürtel eines Pelycosauriers, Schema. c/ Clavicula, In denselben alten Schich- (von denenAbdrückeim Gesteinvorliegen). /Afhyosaur. Schildkröten. . ” > . Plestosaur. Je szde DieVögel desfolgenden geologischen Ab er nal schnittes, der Kreideformation, dieOdontor- nithes, Zahnvögel, sind, soweit sie bekannt sind, bereitsrecht stark verändert; siebesit- zenzwarnoch Zähne, undeinigeArtenhaben Cotylosauria auch ähnliche Wirbel wie Archaeopteryx; imübrigen verhalten siesichaberderHaupt- sache nach wie die jetztlebenden Vögel. Die Vögel der Tertiärformation schließen sich bereits ganz eng an die jetzt- lebenden Vögel an. Letztere bilden eine enge Gemeinschaft, innerhalb welcher es bis jetzt nicht gelungen ist, die phylogenetischen Beziehungen klar darzu- legen. Am ursprünglichsten verhalten sich in gewissen Beziehungen die Straußen- vögel und die Tinamus (Pampashühner); die erstere der genannten beiden Ab- teilungen bietet freilich in einem Hauptmerkmal, der Flugunfähigkeit und der daraus sich ableitenden Reduktion des Brustbeins usw., Verhältnisse dar, die nichts weniger als ursprünglich sind. So sehen wir, daß die Vögel sich aus Reptilien entwickelten, die sich nur auf den Hinterfüßen bewegten, während ihre vorderen Extremitäten verkürzt waren; diese unansehnlichen Vordergliedmaßen bildeten sich zu den glänzenden Flugwerkzeugen der Vögel um, ohne daß die Hintergliedmaßen etwas an Leistungsfähigkeit einbüßten, indem sie weiter zum Laufen, Hüpfen, Astumfas- sen, Schwimmen usw. vorzüglich geeignet blieben. Der auf diese Weise ent- standene neue Typus spaltet sich in zahllose Formen, die im ganzen wenig von- einander abweichen; unter denselben gibt es dann wieder einige, die bei starker Vergrößerung des Körpers oder aus anderen Ursachen das Flugvermögen wie- der einbüßten, wobei dann die Vordergliedmaßen rückgebildet werden (gewisse Zahnvögel, alle Straußenvögel, Dronte, Geiervogel usw.) und Geschöpfe ent- stehen, die wieder ähnlich wie ihre Reptilvorfahren in ihrer Bewegung be- schränkt sind. Pelycosaurıia Stegocephalen 574 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere ıı. Säugetiere. Säugetiere Ebenso wie die Vögel stammen auch die Säugetiere von den Reptilien; das Vorhandensein von Embryonalhüllen, die Excretionsorgane (Metanephros), Atlas und Epistropheus usw. sind hierfür sichere Beweise. und Reptilien. Fig. 28. Schädel von Nythosaurus, einem Cyno- donten. az Angulare, ar Articulare, @ Dentale, m Maxillare, sa Supra-Angulare. Nach Broom. Ableitung von den Therapsiden Fig. 29. Schädel von Diademodon (einem Cynodonten) von der Unterseite. co Hinterhaupts - Gelenkhöcker, 2 Zwischenkiefer, »2 Maxillare, z innere Nasenlöcher, 2 Gaumenbein, 27 Flügelbein, g Quadratbein, v Vomer. Nach Warson. Fig. 282. Schädel von Alopecodon, einem Therocephalen. an Angulare, ar Articulare, d Dentale, s@ Supra-Angulare. Die Reptilienabteilung, von welcher die Säugetiere abzuleiten sind, ist die der oben kurz erwähnten Therapsiden. Mit den Säugetieren stimmen sie im all- gemeinen in folgendem überein: es ist nur eine große Schläfenöffnung vor- handen, die unten von einem starken Jochbogen begrenzt ist; allgemein ist am Dentale des Unterkiefers ein großer Proc. coronoideus (aufsteigender Fort- satz) vorhanden; wenn Zähne vorhanden sind, kann man ebenso wie beiden Säuge- tieren Schneide-, Eck- und Backenzähne unterscheiden. IndenFingernundZehen ist die Phalangenzahl nicht die bei den Reptilien gewöhnliche, nämlich 2, 3, 4, 5, 3 (4), sondern 2, 3, 3, 3, 3 wie bei den Säugetieren. Besonders eng schließen sich die Säugetiere an die Cynodon- ten: die Cynodonten haben denselben „sekundären Gaumen‘ wie die Säuge- tiere; das bei den Säugetieren fehlende Quadratbein ist ein rudimentäres Gebil- de, dasalseineunansehnliche Platte zwischen dem Schuppenbein und dem Ge- lenkende des Unterkiefers liegt; es sind am Hinterhaupt zwei Gelenkhöcker vorhanden; das Parietalloch ist meist klein oder fehlt; am Unterkiefer hat das Dentale ganz das Übergewicht gewonnen, das Angulare und Supraangulare, die bei den Säugetieren fehlen, sind klein geworden; das Schulterblatt hat einen Fortsatz, der dem Akromion der Säugetiere entspricht. Auch das Becken ist sehr Säugetiere. Monotremen 575 säugetierähnlich; der Schultergürtel schließt sich eng an den der Kloakentiere (vgl. unten). — Die Anomodontia bilden eine in einigen Stücken (Zahnlosig- keit) spezialisierte Gruppe, die in gewissen Punkten ursprünglichere Reptilcha- raktere bewahrthat(Gaumen mehr rreptilartig, ein Hinterhauptsgelenkhöcker).!) Der Anschluß der Cynodonten an die Säugetiere ist ein außerordentlich inniger, so daß man sogar die Frage aufwerfen könnte, ob wir es nicht hier bereits mit wirklichen Säugetieren zu tun haben. Es ist aber darauf zu er- widern, daß wir bei den Cynodonten noch ein = Quadratbein finden; 4 -ar am Vorderrand der Au- an | en ee ee Präfrontale wie einLa- 4 krymale vorhanden (bei den Säugetieren nur das eine), am Hinterrande der Augenhöhle ein Postfrontale, das den Säugetieren abgeht; im Unterkiefer sind meh- Fig. 31. Rechte Beckenhältte. A Procolophon, ein Cotylosaurier, 3 Oudeno- don, ein Anomodontier, C Diademodon, ein Cynodontier. Nach Broom. rere Knochen vorhan- den, bei den Säugetieren nur einer. Übrigens ist die Frage, ob wir diese Tiere den Säugetieren oder den Reptilien einverleiben sollen, natürlich eine durchaus gleichgültige; daß sie sich einerseits zweifellosen Reptilien, anderseits den Säugetieren eng anschließen, ist die Hauptsache. Unter den jetztlebenden Säugetieren sind es die Kloakentiere (Mono- xioakentiere. tremen), die am meisten Reptilienmerkmale bewahrt haben; solche sind: I. Sielegen Eier, die denen der Reptilien ähnlich sind, während die Säugetiere sonst lebendig gebären. 2. Sie haben eine wohlentwickelte Kloake wie die Reptilien, was sonst bei den Säugetieren nie der Fall ist. 3. Es sind bei ihnen gesonderte Halsrippen vorhanden, was wir sonst nicht bei den Säugetieren finden. 4. Es ist wie bei den Reptilien ein hinterer Schläfenbogen am Schädel vorhanden; derselbe ist besonders bei Ornithorhynchus leicht nach- weisbar (Fig. 33), ist aber auch bei Echidna vorhanden. 5. Im Schultergürtel ist ein wohlentwickeltes, das Brustbein erreichendes Coracoid vorhanden, das ähnlich wie bei den Cynodonten in zwei Stücke geteilt ist — während bei anderen Säugetieren das Coracoid zwar aus denselben zwei Stücken besteht, aber durchaus rückgebildet und vom Brustbein weit entfernt ist. 6. Es verhält sich das Schulterblatt ähnlich wie bei den Theriodonten, während das Schulter- ı) Zu den Therapsiden gehört auch die recht unvollständig bekannte Abteilung der Therocephalen aus dem Perm, die mit einer ähnlichen Bezahnung wie die Cynodonten aus’ gestattet waren, von diesen aber durch den Besitz nur eines Hinterhauptsgelenkhöckers und eines großen Parietalloches abwichen ebenso wie durch das Abhandensein eines sekundären Gaumens, Die Anzahl der Phalangen ist unsicher, wahrscheinlich aber dieselbe wie bei den Cynodonten und Anomodonten, Vivipare Säugetiere. 576 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere blatt anderer Säugetiere sich wesentlich abweichend gestaltet, wenn es auch von dem der Monotremen ableitbar ist. 7. Es ist ein Episternum ähnlich wie bei den Reptilien vorhanden, das bei allen anderen Säugetieren spurlos fehlt. 8. Der Steigbügel im Ohr ist ähnlich wie der entsprechende Teil bei den Reptilien nicht durchbohrt. 9. Die Sclera des Auges enthält eine knorpelige Schicht wie bei allen niederen Wirbeltieren im Gegensatz zu den übrigen Säuge- tieren, wo eine solche ganz fehlt. 10. Der Urogenitalapparat schließt sich Fig. 32. Schädel von Diademodon (einem Cynodonten) von Fig. 33. ‚Hinterhaupt von Ormnithorhynchus hinten gesehen. co Gelenkhöcker, %ö hintere Schläfen- (einem Kloakentier) Ron hinten gesehen. öffnung, %s hinterer Schläfenbogen, vs vorderer Schläfen- co Gelenkhöcker, %ö hintere Schläfenöff- bogen. Nach Watson. nung, As hinterer Schläfenbogen, O Schädel- öffnung. Original. durchweg weit enger an den der Reptilien an als dies mit dem anderer Säugetiere der Fall ist. 11. Die Körpertemperatur ist nicht so hoch wie bei den anderen Säuge- tieren. Der Anschluß der Monotremen an die Reptilien ist überhaupt ein so inniger, daß ähnlich wie für die Cynodonten die Re 3, ink Shersirel, AGnleche.di Reptilienzugchörigkeit bezweifelt werden e Coracoid, c’ er Schulterblatt. konnte, wir auch hier fragen können, ob denn die Monotremen nicht Reptilien sind. Die Frage ist an und für sich gleichgültig. Wenn wir sie den Säugetieren zu- rechnen, können dafür solche eminente Säugetiercharaktere wie die Behaa- rung, das Vorhandensein von Talg- und Schweißdrüsen, von Milchdrüsen, eines langen gegliederten Brustbeines, das Fehlen eines Quadratbeins, das Vorhanden- sein von drei Gehörknöchelchen, eines Ohrknorpels, eines röhrenförmigen Penis usw. angeführt werden. Die Monotremen der Jetztzeit besitzen neben den vielen ursprünglichen Charakteren auch manche, in denen sie ursprüngliche Züge wieder verloren haben. Dazu gehört ihre Zahnlosigkeit; bei dereinen Hauptform (Echidna) fehlen Zähne völlig, bei der anderen (Ornithorhynchus) sind solche nur in der Jugend vorhanden. Alle übrigen Säugetiere, die viviparen Säugetiere, schließen sich eng aneinander im Gegensatz zu den Monotremen, von denen sie leicht ableitbar sind, wenn auch der Abstand keineswegs unbedeutend ist; Zwischenformen sind nicht bekannt. Die viviparen Säuger sind also von zahntragenden, wahr- scheinlich mit äußeren Ohren ausgestatteten Monotremen abzuleiten. Vivipare Säugetiere 577 Die viviparen Säugetiere teilt man weiter in aplazentale (Beuteltiere) und plazentale Säugetiere; letztere Abteilung umfaßt die ganze Säugetierwelt mit Ausnahme der Beuteltiere und Monotremen. In einzelnen Punkten machen die Beuteltiere einen etwas ursprünglicheren Eindruck als die Plazentalen, nament- lich durch das Fehlen einer engeren Verbindung zwischen Mutter und Frucht — die übrigens bei einzelnen Formen gefunden wird; auch im Baue der weib- lichen Geschlechtsorgane bieten sie ursprünglichere Charaktere dar; im großen und ganzen sind sie aber nicht ursprünglicher als die niederen ‚Plazentalen. Bezüglich der geologischen Urkunden ist es sehr bedauerlich, daß die ältesten Säugetierüberreste, aus dem Trias, lediglich isolierte Zähne und Kieferstücke sind, mit denen nichts Sicheres anzufangen ist; es ist durch dieselben das Vorhandensein von Säugetieren in jener Formation zu kon- statieren, weiter nichts: es können Monotremen sein, es könnten aber auch Beuteltiere oder plazentale Säugetiere sein. Die viviparen Säugetiere werden bekanntlich in eine große Anzahl Ord- nungen eingeteilt, die größtenteils sehr natürliche Abteilungen darstellen, deren Verhalten zueinander aber leider in vieler Hinsicht noch nicht genügend geklärt ist, wenn man sich auch gewisse begründete Vorstellungen über ihren geneti- schen Zusammenhang machen kann. In dem beistehenden ‚Stammbaum‘ (Schema VII) ist der mutmaßliche Zusammenhang der wichtigsten Säuge- SChHemarvıl tierabteilungen dargestellt mit Ausschluß „„.Celaceen der meisten nur in fossilem Zustande be- Pinnipedien kannten Abteilungen. Von einer unbe- Primaten losen EWR > 2 : IE, Artiodactylen kannten Form x stammen einerseits die NER nigeCreg Wonten | „„Perissodachylen Beuteltiere, anderseits die Insektivoren, a 2 Eljanıen x Edentaten ——Insectrvoren“-.., welch letztere Abteilung nach der allge- Beuteltiere | Sirenen meinen Auffassung den Ausgangspunkt = sämtlicher übriger plazentaler Säugetierab- teilungen abgegeben hat, und zwar derart, daß viele derselben direkt von den Insektivoren stammen, während andere von Abteilungen abzuleiten sind, die ihrerseits von den Insektivoren herstammen., Von einem Nachweis bestimmterer Anknüpfung an bestimmte Insektivoren ist dabei nicht die Rede; die Spuren weisen aber entschieden auf die Insektivorenabteilung zurück. Die ursprüngliche Stellung der Insektivoren ist auch dadurch weiter sichergestellt, daß sie in mehreren Beziehungen einen näheren Anschluß an die Beuteltiere darbieten als andere plazentale Säugetiere. Die phylogenetischen Beziehungen sämtlicher Säugetierabteilungen durch- zugehen würde uns zu weit führen, auch sind diese Beziehungen noch, wie schon bemerkt, vielfach recht wenig geklärt. Wir begnügen uns deshalb mit einer Auswahl von solchen Gruppen, deren Phylogenie besonders klar vorliegt. Als erstes Beispiel wählen wir die Beuteltiere. Beuteltiere. Als Ausgangsgruppe, von welcher sich wenigstens die große Mehrzahl der Beuteltiere ungezwungen ableiten läßt, sind dieBeutelratten, Didelphyiden, Monotremen K.d.G.II.ıv, Bd4 Abstammungslehre etc. 37 578 J. E.V. BoAs: Phylogenie der Wirbeltiere aufzufassen, mit der Gebißformel DEN) 7 7 = c 7 b}) undmitHinterfüßen (Fig. 35 A), deren krallenloser Dau- men sehr wohlent- wickelt und oppo- nierbar ist, während die anderen Zehen gleichartig ent- wickelt sind. Von den DBeutelratten sind die Beutel- Fig. 35. Skelett des rechten Hinterfußes, A von Didelphys, 3 von Phalangista, marder, Dasyuri- C von Känguruh. 1—;z die fünf Zehen. A Original, 3, C nach FLower. den abzuleiten, ’ deren Schneidezähne auf - rückgebildet sind und deren Hinterdaumen rudi- mentär ist oder fehlt, während sie sonst den Didelphyiden nahestehen. Von den Beutelratten sind weiter die Kletterbeutler, Phalangisten, ableitbar, deren Hinterdaumen wohlentwickelt ist, die aber von den Beutelratten dadurch abweichen, daß die Zehen 2 und 3 des Hinter- fußes schwächer sind als 4 und 5 .und eng aneinander geschlossen sind Schema VIE (Syndaktylie; die beiden Zehen werden speziell als Putzwerkzeuge verwendet) (Fig. 35 B); Macropodiden | weiter sind die Vorderzähne an Zahl ver- Phascolomys Phascolarctus ringert und im Unterkiefer ist ein Paar be- Em sonders langer Vorderzähne vorhanden. Von Phalangistiden den kletternden Phalangiste sind die Kän- | guruhs, Macropodiden, abzuleiten, springende Perameliden Formen mit stark verlängerten Hinterbeinen, deren Füße (C) eine weitere Entwicklung der Dasyuriden Phalangistenfüße darstellen: der Daumen fehlt, die Putzzehen 2—3 sind ganz dünn Didelphyiden geworden und erscheinen als unansehnliche | Anhängsel des Fußes, der somit nur aus zwei Notoryctes in normaler Weise funktionierenden Zehen be- # steht, von denen weiter die eine, Nr. 4, über- x wiegend entwickelt wird. Die Zähne schließen sich an die der Phalangisten. — Von letzteren sind auch noch der bären- ähnliche, kletternde Phascolarctus und der plumpe, grabende Wombat ab- I) Die Zahlen der Säugetierzähne werden durch „Gebiß-Formeln“ angegeben, in denen z. B. i Schneidezähne, c Eckzähne, 5 Backenzähne bedeuten: 2 i gibt an, daß oben 5, unten 4 Schneidezähne auf jeder Seite vorhanden sind, usw. Beuteltiere,. Carnivoren 579 zuleiten. — Schwieriger ist die Beurteilung der Perameliden, deren Zähne sich etwa wie bei Didelphys verhalten, während die Hinterfüße mit Putzzehen ausgestattet sind; demnach sollte die Gruppe auf dem Wege zwischen Didel- phys und den Phalangisten stehen. In mehreren Beziehungen bietet sie aber Eigentümliches dar: sie hat eine Plazenta, der Ohrknorpel und der Vorderfuß sind eigenartig; wahrscheinlich ist dann die phylogenetische Stellung der Pera- meliden die in unserem Schema angegebene. — Schwierig istesauch, die Stellung der vor wenigen Jahren entdeckten grabenden, maulwurfähnlichen Gattung Notoryctes festzustellen, die durch den Besitz einer Kralle am Hinterdaumen von allen anderen bekannten Beuteltieren abweicht und in diesem Punkte, wie es scheint, einen ursprünglicheren Charakter darbietet als irgendein anderes Beuteltier; an ein sekundäres Auftreten einer Kralle an dem krallenlosen Beuteltierdaumen kann man nicht wohl denken. — Wir übergehen einige andere jetzt lebende Beuteltiere und sämtliche ausgestorbene Formen, die bisher keinen wesentlichen Beitrag zur Auffassung der Gruppe abgegeben haben. Als weiteres Beispiel phylogenetischen Zusammenhanges wählen wir das Camivoren. Verhalten derAbteilungen, die als Carnivoren im weitesten Sinne zusammen- gefaßt werden können: die ausgestorbenen Creodonten, die echten Carni- voren(s#s.)Lund-dieBinnipedier. Die Carnivoren s.s. bilden eine ungemein abgerundete natürliche Ab- teilung, die in einer Anzahl Unterabteilungen in reicher Abstufung ausgebildet ist. Die Carnivoren s. s. werden u. a. durch folgendes charakterisiert: I. In erster Linie durch das Gebiß mit der eigenartigen Ausbildung des vierten oberen und des fünften unteren Backenzahns als ‚Reißzahn‘‘, während die vor und hinter demselben sitzenden Zähne als zusammengedrückte dreieckige ‚Lücken- zähne‘ resp. als „Höckerzähne“ ausgebildet sind; man kann sagen, daß jeder Zahn des Raubtiergebisses seinen Typus hat, der fast immer unschwer nach- weisbar ist. 2. Die Verschmelzung von Radiale, Intermedium und Zentrale im Carpus zu einem Knochen. 3. Das allgemeine Vorhandensein des sog. Körb- chens am Hinterrand des Ohrknorpels (am äußeren Ohr als eine kleine Tasche zu sehen). Die Carnivoren s. s. zerfallen in zwei große natürliche Unterabtei- lungen: die Canidomorphen (umfassend die Hunde, Bären, Halbbären und Canidomorphen Marder) und die Felidomorphen (Viverren, Katzen, Hyänen), die z. B. darin . unterschieden sind, daß die letzteren Cowpersche Drüsen und eine zweikamme- rige Bulla (die knöcherne Hülle der Paukenhöhle) besitzen, während bei der ersteren Abteilung Cowpersche Drüsen fehlen und die Bulla einkammerig ist; bei den Felidomorphen ist das Muschelbein (Maxilloturbinale) sehr einfach, und wenn man von vorn in die Nasenhöhle sieht, bemerkt man oberhalb des Muschelbeins die hinteren Nasenmuscheln (Ethmoturbinalien), während bei den Canidomorphen das Maxilloturbinale vielfach verästelt ist und die Ethmo- turbinalien in der Vorderansicht verdeckt. Beide Abteilungen stammen offen- bar von gemeinschaftlichen Urcarnivoren. Diejenige Gruppe, welche die ältesten, ursprünglichsten Canidomorphen Caniden. enthält, ist die der Caniden. Unter ihnen nehmen die jetztlebenden Hunde- 37* Ursiden. Marder. 580 J. E.V. BoAs: Phylogenie der Wirbeltiere arten der Gattung Canis eine sehr ursprüngliche Stellung ein; ihre paläonto- logischen Restereichen bis auf das Obermiozän zurück. In bezug auf das Gebiß ist zu bemerken, daß die Gattung Canis die den Plazentalen typische Anzahl von Zähnen besitzt mit der Ausnahme, daß der letzte Backenzahn im Oberkiefer fehlt; das Gebiß kann in einem einfachen Schema folgendermaßen ausgedrückt werden: 2 I 1273556 EB I 2: 304507 Schneidez. Eickz. Backenzähne. . (Die mit Fettschrift hervorgehobenen Zähne sind die Reißzähne.) Zu dem vollständigen plazentalen Gebiß gehört aber noch der obere Bak- kenzahn Nr. 7, den wir in der Tat auch bei einer alten Form, aus dem Oligozän, Amphicyon, nachweisen können, dessen Gebiß das folgende war: 152,3 I 12703,4. 550677, 1253 I 1:2, 30.49590% Diese Form hatte somit drei Höckerzähne im Oberkiefer. Sowohl Vorder- wie Hinterfuß waren fünfzehig (bei Canis ist der Hinterfuß vierzehig) und kürzer als bei den jetztlebenden Hunden. Bei den ältesten Caniden, die wir kennen, Cynodictis, aus dem Obereozän, ist der obere Backenzahn Nr. 7 nicht vorhan- den; wir müssen somit voraussetzen, daß von den ältesten Hunden noch For- men unbekannt geblieben sind, die das volle typische Gebiß besaßen. Der Cyno- dictis, der fünfzehige Füße besaß, erinnerte übrigens im Zahnbau und auch sonst vielfach an die Viverriden, hat offenbar der gemeinschaftlichen Stammform der Canidomorphen und der Felidomorphen nahegestanden. Von kurzfüßigen Caniden sind wieder die Halbbären, Procyoniden, die zuerst im Unteren Miozän erscheinen, und die Bären, Ursiden, die erst aus dem Obermiozän bekannt sind, abzuleiten. Letztere Abteilung bildet eine inter- essante Umbildung des Canidentypus. Unter den alten Caniden gibt es eine Anzahl, die nicht so einseitig wie die jetztlebenden Hunde als Läufer ausgebil- det waren, die mehr kurzfüßig und halbwegs Sohlengänger waren. Von solchen Caniden müssen wir uns die Ursiden abgeleitet vorstellen und zwar durch all- mähliche Anpassung an das Leben als Pflanzenfresser: das Gebiß ist dem- entsprechend umgebildet worden unter einseitiger mächtiger Ausbildung des höckerigen Abschnittes der Zahnreihe, während der sägeartige Teil in gleichem Maße rückgebildet wurde — ohne daß übrigens das ursprüngliche Gepräge der Zähne ganz verloren ging. Gleichzeitig wurde der Körper wie bei so manchen anderen Pflanzenfressern groß, plump, schwerfällig, und die Tiere wurden Sohlen- gänger mit großer schwieliger Sohle. Eine Zwischenform zwischen den rezenten Bärenarten (Ursus) und den Hunden stellt die pliozäne Gattung H yaenarctus dar, bei welcher die Ausbildung der Höckerzähne, wenn auch viel stärker als bei den Hunden, doch lange nicht so gewaltig ist wie bei Ursus. Von den Caniden sind auch die Marder, Musteliden, abzuleiten, und zwar unter einseitiger Ausbildung des Sägeabschnittes der Zahnreihe. Die ältesten Musteliden haben noch dieselbe Zahnformel wie Canis oder es fehlt ihnen nur Carnivoren 581 der letzte Unterkieferhöckerzahn (Nr. 7); bei den späteren ist aber auch der hintere Oberkieferhöckerzahn der Hunde (Nr. 6) verloren gegangen, so daß nur noch ein Höckerzahn (resp. Nr. 5, oben, und 6, unten) übrig geblieben, von denen namentlich der untere sehr klein ist. Überhaupt stellen die Marder einen ausgeprägten, gewandten, blutgierigen Fleischfressertypus dar, wenn sie auch manchmal etwas Pflanzenkost verzehren können. Ähnlich wie von den Caniden eine Pflanzenfressergruppe sich entwickelt hat (die Bären), hat sich auch von den Mardern eine solche abgezweigt, die Dachse. Sehr interessant ist es, zu beobachten, wie dasim Höckerabschnitt rückgebildete Gebiß der Marder sich hier den Bedürfnissen des Pflanzenfressers angepaßt hat: die verloren gegangenen Zähne können allerdings nicht wieder erscheinen, wasaber an Höckerzähnenübrig geblieben war, hatsich außerordentlich ausgebildet, namentlich der Höckerzahn im Oberkiefer und der Höckerteil des unteren Reißzahnes, während gleichzeitig der Sägeabschnitt der Zahnreihe etwas zurücktritt; der Dachs ist übrigens nicht dermaßen einseitig als Pflanzenfresser gestempelt wie der Bär. — Eine andere Ab- zweigung von der Mardergruppe sind die Ottern. Im Gebiß haben sich diese Fischfresser wenig von dem Mardertypus entfernt; dagegen sind die Füße wesentlich umgeändert, der Schwanz, der bei der Bewegung im Wasser tätig ist, ist kräftiger geworden, wie bei anderen Wassertieren sind die äußeren Ohren klein, der Gehörgangknorpel dagegen verlängert worden. Auch unter den ech- ten Mardern gibt es Formen (Nörz), die viel schwimmen, ohne jedoch wie die Ottern stark dadurch verändert zu sein. Unter den jetztlebenden Felidomorphen sind die Viverriden diejeni- Viverriden gen, die am meisten von den ursprünglichen Charakteren bewahrt haben, z. B. im Gebiß, in welchem dieselben Zähne wie bei den Hunden mit Ausnahme des letzten Unterkieferhöckerzahns bewahrt sind, während das Gebiß bei den jetzt- lebenden Katzen stark an Zahl reduziert ist. Bei letzterer Gruppe ist es sehr interessant, die allmähliche Reduktion der Backenzahnreihe durch die Zeiten zu verfolgen. Bei der ältesten Katzenform Palaeoprionodon (Oligozän) sind dieselben Backenzähne vorhanden wie bei den Viverren. Bei der miozänen Gat- tung Proaelurus ist von den Backenzähnen des Palaeoprionodon Nr. 6 im Ober- kiefer weggefallen, der schon bei diesem klein war, und Nr. 6 im Unterkiefer ist kleiner geworden, die schneidenden Teile der Reißzähne sind dagegen stärker ge- worden. Bei dem obermiozänen Pseu- F N £ Schema IX. daelurus ist weiter Nr. 6 im Öber- Backenzähne kiefer und Nr. Toben und unten wegge- Rene Puh) fallen. Bei den jetztlebenden Katzen Palaeoprionodon — 5 6 3.25% Oligozän Gattung Felis, ist noch Nr. 2 ID near ER AO Eigissn Unterkiefer weggefallen, Nr. 5 im 7 2374,5,0 Oberkiefer, der einzige übriggeblie- Pseudaelurus —z Obermiozän bene Höckerzahn, ist rudimentär ge- 5 2 : e Al worden; am Unterkieferreißzahn ist a 345 Oben jede Spur des Höckerabschnittes Ten (2)3 #5 en schwunden. Endlich beim Luchs 345 Creodonten. Flossenfüßler. >82 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere (Lynx) kann noch der kleine Nr. 2 des Oberkiefers fehlen. Noch stärker ist die Reduktion bei den einem anderen Ast des Felidenstammbaums angehörigen Machaerodontinen, die ebenfalls von Palaeoprionodon ableitbar sind, aber einen selbständigen Ast repräsentieren; die stärkste Reduktion zeigt hier eine schon im Oberoligozän auftretende Gattung, Eusmilus, deren Backenzahnreihe — ist, also, von dem rudimentären Nr. 5 abgesehen, nur oben und unten aus einem Sägezahn und dem Reißzahn besteht, die dafür um so besser ausgebildet sind. Ähnlich verhält sich auch der pleistozäne Smilodon. Die oben behandelten Carnivoren s. s., die sich durch einen stark ausge- prägten, festen gemeinsamen Typus auszeichnen, treten mit ihren ältesten Re- präsentanten erst im Obereozän auf, und erhalten allmählich eine reichere Ent- wicklung. Vor denselben, im Unter- und Mitteleozän, lebte eine andere Gruppe, die Creodonten, die in vielen Stücken mit den echten Carnivoren überein- stimmen. Sie unterscheiden sich dadurch, daß das Radiale, Intermedium und Zentrale getrennt bleiben; statt der Bulla ist meist nur ein ringförmiges Tym- panikum vorhanden; die Endphalangen sind meistens stumpf, nicht wie bei den echten Carnivoren seitlich zusammengedrückt. Die Bezahnung — die vollständig sein kann — hat nicht die feste Ausprägung wie bei den echten Carnivoren: die Zahnformen sind zwar ähnlich wie bei den Carnivoren, es kommen in der Bak- kenzahnreihe sowohl Säge- wie Reiß- und Höckerzähne vor, in Gestalten, die denen der echten Raubtiere sehr nahe kommen; an den Stellen, wo sich bei den echten Carnivoren Höckerzähne finden, können aber Zähne von Reißzahntypus vorhanden sein, so daß eine Reihe von ‚Reißzähnen‘“ entwickelt sein kann, und der Zahn Nr. 5 des Unterkiefers — der Reißzahn der echten Carnivoren — ist meistens kleiner als die folgenden. Die Creodonten, die zahlreiche kleinere und größere Formen umfassen, bilden ganz augenscheinlich den Ausgangspunkt der echten Carnivoren; die Grenze beider Abteilungen ist recht verwischt; gewisse Formen werden von einigen den Creodonten, von anderen den Raubtieren über- wiesen. Wir haben uns also vorzustellen, daß von der mehr unbestimmten Be- zahnung der Creodonten das in fester Form gegossene — wenn auch natürlich umbildungsfähige — Gebiß der echten Carnivoren entstanden ist bei gleich- zeitiger Ausbildung des typischen Raubtiercarpus, der typischen Endphalangen usw. Die Creodonten starben im Oligozän aus. Von den Carnivoren s. s. sind, wie jetzt allgemein anerkannt, die Flossen- füßler, Pinnipedier, abzuleiten. Sie stimmen mit den echten Carnivoren überein: in der Verschmelzung des Radiale, des Intermedium und des Zentrale zu einem Knochen; speziell mit den Canidomorphen in der starken Ausbildung des Maxilloturbinale und dem Aus- schluß der Ethmoturbinalien von der Nasenöffnung, in der einkammerigen Bulla und dem Fehlen der Cowperschen Drüsen. Während die Ableitung der Pinnipedier von den Canidomorphen als ausgemacht betrachtet werden kann, ist es weniger sicher, von welcher Abteilung der Canidomorphen sie abstammen. Es scheint uns am wahrscheinlichsten, daß sie der bereits am meisten dem Was- Carnivoren. Creodonten. Flossenfüßler 583 serleben angepaßten Abteilung, den Ottern (Lutriden), entstammen, mit denen sie in dem Besitz gelappter Nieren (der allerdings auch den Bären zukommt) und eines von allen vier geraden Augenmuskeln abgespalteten Augenlidmuskels (Musculus palpebralis) übereinstimmen; die Ohrregion des Schädels der Ottern bietet auch Anschlüsse an die entsprechende Region der ursprünglichen Pinni- pedierabteilung, der Ohrenrobben; im Becken von Lutra (Pubis schräg nach Fig. 36. Becken von: 4 Löwe, 3 Otter, C Walroß, D Phoca. :Z Ilium, zs Ischium, o Foramen obturatorium, £ Pubis, s vorderes, s’ hinteres Ende der Symphyse. Original. hinten gerichtet, Symphyse kurz, usw.) sind auffällige Ähnlichkeiten mit dem Robbenbecken bemerkbar (Fig. 36). Aber namentlich der erwähnte Charakter des Musculus palpebralis ist von großem Interesse; dieser Charakter findet sich sonst nur noch bei den Walen, aber bei keinen Carnivoren außer den Ottern; daß derselbe bei den Flossenfüßlern und bei den Ottern unabhängig entstan- den sein sollte, ist sehr unwahrscheinlich. Die Pinnipedier haben sich in manchen Beziehungen von dem echten Raub- tiertypus stark entfernt. Die Bezahnung hat sich derartig geändert, daß sämt- liche Backenzähne gleichartig geworden sind, entweder sind sie den Sägezähnen (Lückenzähnen) der Raubtiere ähnlich oder einfach kegelförmig. Die Glied- maßen sind dem Wasserleben entsprechend stark umgebildet. Die äußeren Ohren sind rückgebildet und der knorpelige Gehörgang stärker entwickelt — eine Umgestaltung, die bereits bei den Ottern ihren Anfang genommen hat. Der Tränennasengang und das Tränenbein fehlen und die Tränendrüse ist klein. Von den drei natürlichen Abteilungen der Robben: Ohrenrobben, Walrosse, Seehunde s. s., steht die erstgenannte in den meisten Stücken den Carnivoren am nächsten. Den Ohrenrobben nahe verwandt sind die Walrosse, die zwar in einigen Stücken den echten Carnivoren näher stehen als die Ohrenrobben, in den meisten Richtungen sich jedoch weiter von ihnen entfernt haben. Die See- 584 J-E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere Schema X. hunde, Phociden, haben sich im ganzen weiter ee von den Carnivoren entfernt als die Ohren- robben, können jedoch nichteinfach vonsolchen Ohrenrobben wie die jetztlebenden abgeleitet werden, da sie in gewissen Stücken ursprüng- lichere Charaktere bewahrt haben; es hat z.B. Trichechus Ur-Pomipedien Lynx Enhyarıs z Dtra Fels Meles der Ohrknorpel der Phociden (obgleich die dael: = . - & ee Pet MuskklidenT/rsus äußeren Ohren weggefallen sind) ein entschie- IRA wo = F > VElererden Procyonzden Cam; den ursprünglicheres Gepräge als der der Ohren- er) Ser bb 4 Wal Ur-Fehdomorphen Camden mt? TObDENn un alrosse. Tollst. Gebiss Ur-Carniıvoren (S. S.) Die Robben sind zuerst aus dem oberen Miozän bekannt, in welcher Formation sowohl Otarien wie Phociden gefunden wurden. Leider sind die paläontologischen Daten bis jetzt recht wertlos. Wale. Die Wale, Cetaceen, bilden eine in der Jetztzeit sehr isoliert dastehende Abteilung, die sich dem Leben im Meere eng angepaßt hat und stark umgebildet worden ist. Die Abteilung zerfällt inzwei Gruppen, die Zahnwale und die Barten- wale, von denen die erste in gewissen Merkmalen, wie z. B. der Bezahnung, den, übrigen Säugetieren näher steht, während die zweite in anderer Hinsicht mehr von dem Ursprünglichen bewahrt haben: sie haben zwei Nasenlöcher (bei den Zahnwalen sind diese zu einem vereinigt), die Nasenbeine sind relativ wohl- entwickelt, Nasenmuschel und Riechnerven vorhanden, die Tränenbeine selb- ständig geblieben; der ganze Schädel ist trotz aller Umbildung doch mehr säuge- tierartig als der der Zahnwale. Beide Abteilungen entstammen, nach ihrem Bau zu schließen, einer gemeinsamen Ausgangsform, die sich bereits weit von den übrigen Säugetieren entfernt hatte. Zeuglodonten. Sehr interessant gestaltet sich nach den neueren Funden die Phylogenese der Wale. Die ältesten bekannten Wale sind die Zeuglodonten aus dem Eo- zän. Sie stehen den Landsäugetieren weitaus näher als die jetztlebenden Wale.) Die äußeren Nasenöffnungen, die bei letzteren sehr weit nach hinten liegen, sind bei den Zeuglodonten viel weiter vorne gelagert und die Nasenbeine sind gutentwickelte Knochen. Die Zwischenkieferbeine, die bei den jetztlebenden Walen stets zahnlos sind und einen ganz unbedeutenden Teil des Kieferrandes ausmachen, nehmen einen ansehnlichen Teil des letzteren ein und sind zahn- tragend; die Scheit@lbeine, die bei den jetztlebenden Formen überhaupt nicht (Zahnwale) oder nur in geringer Ausdehnung (Bartenwale) oben auf dem Kopfe zusammenstoßen, grenzen ähnlich wie bei anderen Säugetieren in größerer Aus- dehnung aneinander; es ist ein bei den rezenten Formen gänzlich fehlender Scheitelkamm vorhanden; der Jochbogen verhält sich ähnlich wie bei anderen Säugetieren; überhaupt hat man den Eindruck beim Betrachten des Zeuglo- dontenschädels, daß man einem Säugetierschädel gegenübersteht, während die Schädel der jetztlebenden Wale ganz fremdartig erscheinen. Die größere Ähn- ı) Vgl. die Schädelfiguren in Boas, Lehrbuch der Zoologie. Flossenfüßler. Wale 585 lichkeit mit den übrigen Säugetieren spricht sich auch in der Bezahnung aus: es sind Zähne in begrenzter Zahl vorhanden, von denen die Schneidezähne, der Eckzahn und der vorderste Backenzahn kegelförmig sind, während die meisten Backenzähne zusammengedrückte Sägezähne sind ähnlich denen der Seehunde. Die Zahnformel ist si, zrund ea, - Backenzähne. Die Halswirbel sind viel länger als bei den lebenden Walen und nicht verwachsen. Die Gliedmaßen- knochen sind leider zum größten Teil unbekannt. Die nächste bekannte Stufe der phylogeneti- Schema XI. schen Entwicklung der Wale sind die Squalodon- Zahnwale ten, die schon aus dem Oligozän bekannt sind, aber auch im Miozän und Pliozän auftreten. Die Bezah- 2% nung schließt sich, was die Zahnformen betrifft, ee an die der Zeuglodonten an: vorn kegelförmige, IS hinten komprimierte Zähne, die Zahl ist aber schon | größer geworden (zwischen IO und 20 jederseits). Auch in mehreren anderen Beziehungen haben die Squalodonten Charaktere der Zeuglodonten bewahrt, im ganzen machen sie aber einen weit mehr wal- artigen Eindruck. Von Formen, die zwischen Zeuglodonten und Squalodonten gestanden haben, sind wahrscheinlich die in mancher Hinsicht ursprünglicheren Bartenwale, von den Squalodonten selbst die Zahnwale abzuleiten; sowohl Zahn- wie Bartenwale sind schon aus dem Miozän bekannt. Bartenwale Zeuglodonten Unsicherer ist es, von welcher Abteilung der Säugetiere die Wale abzuleiten sind. Eine gründliche Bearbeitung dieser Frage steht noch aus. Es scheint uns aber gar nicht ausgeschlossen, daß die Wale von den Pinnipedien abstammen. Gemeinschaftlich sind: I. die verzweigte Niere, 2. der von den vier geraden Augenmuskeln abgespaltete Musculus palpebralis, der außer bei den Walen und den Robben nur noch bei den Ottern vorkommt, 3. die Form der Backenzähne (bei den alten Walen dieselbe wie bei manchen Robben). Das ist natürlich zu wenig, um eine Ableitung zu begründen — wenn auch namentlich der Augen- muskelcharakter schwer wiegt —, aber es genügt, um zu zeigen, daß man den Gedanken an eine Ableitung von den Pinnipedien nicht einfach von der Hand weisen kann. Der Hinweis, daß der Schwanz der Pinnipedien stark rückgebildet ist und daß daher von ihm aus der mächtige Schwanz der Wale nicht abgeleitet werden kann, genügt nicht, um den Gedanken an eine Verwandtschaft der Wale mit den Pinnipedien auszuschließen: der Schwanz der Säugetiere ist überhaupt ein rück- gebildetes Organ, das aber alle Materialien enthält, die bei einer stärkeren Aus- bildung notwendig sind: Knochen, Muskeln usw., und wir sehen denn auch wie- derholt, daß er sich bei verschiedenen Gruppen zu einer ansehnlicheren Ausge- staltung hinaufschwingt; und der Pinnipedierschwanz ist nicht derartig rück- gebildet, daß eine solche Entwicklung ausgeschlossen wäre.') ı) Gewöhnlicher ist es übrigens, daß man die Wale von den Creodonten oder noch von anderen ausgestorbenen Gruppen ableitet. Squalodonten. Ableitung der Wale. Sirenen. 586 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere Bezüglich der dritten Ordnung von Meeressäugetieren, der Seekühe oder Sirenen, herrscht noch Unklarheit, von welchen Landsäugetieren die- selbe abzuleiten ist; gewöhnlich spricht man von einer Verwandtschaft mit „Huftieren‘. Mit denschon behandelten Meeressäugetieren haben die Seekühe jedenfalls nichts zu tun. Während sich also vorläufig über die Herleitung der Gruppe nichts Siche- res sagen läßt, sind wir über ihre allmähliche paläontologische Entwicklung Fig. 37. Linke Beckenhälfte verschiedener Seekühe. A Eotherium (unteres Mitteleozän), 3 Eosiren (oberes Mittel- eozän), CC Halitherium (Oligozän,, D Metaxytherium (Miozän),, Z, # Dugong (rezent.. 4A Hüftpfanne, /Z Ilium, IS Ischium, © Foramen obturatorium, ? Pubis. Nach Aßer. ganz wohl unterrichtet. Bei den jetzigen Sirenen fehlen Hintergliedmaßen; das Becken ist beim Dugong auf einen stabförmigen Knochen jederseits rückgebil- det (ein rudimentäres Femur kann bisweilen vorhanden sein), beim Manat ist das Becken sogar noch weiter rückgebildet. Betrachten wir aber die fossilen Sirenen, so wird das Bild ein anderes. Bei den ältesten bekannten Formen, Eotherium, aus dem unteren Mitteleozän, war ein Becken vorhanden, das sich dem gewöhnlichen Typus des Säugetierbeckens eng anschließt (Fig. 37 A, vgl. Fig. 36 A) und mit einer wohlentwickelten Gelenkpfanne versehen war, so daß wir bestimmt sagen können, daß funktionierende Hintergliedmaßen vorhanden waren; das Tier hat also wie die Landsäugetiere vier Gliedmaßen besessen. Bei der Gattung Eosiren aus dem oberen Mitteleozän ist das Becken bereits deutlich in Rückbildung: die ventrale Begrenzung des Foramen obturatorium ist wegge- fallen, so daß jede Beckenhälfte wie ein starker Stab erscheint, an dem das Schambein als ein kurzer Fortsatz hervorragt; die Gelenkpfanne ist kleiner ge- worden. Weiter ist die Rückbildung bei Halitherium aus dem Oligozän gegan- gen; die Beckenhälfte ist schmächtiger geworden, der Schambeinfortsatz kür- zer, von den Hintergliedmaßen war nur noch ein unten zugespitztes Femur vor- handen. Bei dem miozänen Metaxytherium ist der Schambeinfortsatz ganz klein, die Gelenkpfanne stark rückgebildet; und endlich bei dem jetztlebenden Sirenen. Elefanten 587 Dugong fehlt der Scham- beinfortsatz völlig und die Gelenkpfanne ist entweder winzig klein oder fehlt. Wie man sieht, entspricht die Reihenfolge der Beckenfor- men genau der Aufeinander- folge der Formationen. Von anderen innerhalb der jetztlebenden Säuge- tiere isoliert dastehenden Formen erwähnen wir noch die Elefanten. DieGruppe zeichnet sich in der Jetzt- zeit bekanntlich aus u.a. durch die Rückbildung sämtlicher Schneidezähne mit Ausnahme eines Paares im Zwischenkiefer, die zu großen Stoßzähnen geworden sind; weiter durch die eigenartige Ausbildung der Backenzähne, deren Krone in eine Reihe quergestellter Platten zerlegt ist, die durch Zement zu- sammengehalten werden; außer- dem haben die Backenzähne noch die Besonderheit, daß sie einernach dem anderen erscheinen, so daß gleichzeitig in jeder Kieferhälfte stets nur I, höchstens 2 Zähne auf einmal in Funktion sind. Der älteste bekannte Elefant ist der oligozäne Palaeomaslodon.!) Diese Gattung besitzt bereits die eigenartige Schädelform (Fig. 38 A) der jetztlebenden Elefanten, aller- dings weniger durch Lufthöhlen auf- gedunsen und mit mehr normalem Unterkiefer; die Nasenöffnung ist ı) Es erscheint uns bislang nicht ei - ; Ds Fig. 38. Schädel verschiedener Mitglieder der Proboscidea (Ele- sicher, daß das Moeritherium, welches als fanten). A Palaeomastodon. Nach Anprews. 2 Mastodon primitiver Elefant aufgefaßt wurde, mit den angustidens. Nach Gaupey. C Elephas indicus. Original. Elefanten zusammengehört D Dinotherium giganteum. Nach GAuprY. Elefanten. 588 J- E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere bereits stark nach hinten gerückt, wenn auch nicht so weit wie bei der Gattung Elephas, wo sie über dem Auge gelegen ist. Bei Palaeomastodon ist die Zahl der Schneidezähne schon stark reduziert, esistaber doch immerhin außer dem oberen Schneidezahnpaare noch ein Paar Schneidezähne im Unterkiefer vorhanden, und die Schneidezähne sind alle auf der Außenseite mit Schmelz versehen, während die jetztlebenden Elefanten schmelzlose Schneidezähne besitzen (nur an dem jungen Zahn ist an der Spitze etwas Schmelz vorhanden). Weiter hat Pa- laeomastodongleichzeitig6 Backzähne im Oberkiefer und 5 im Unterkiefer (Fig. 39 A), und dieselben haben ein ganz anderes Aussehen als beim Ele- fanten, indem sie mehr an Schweine- zähne alsanElefantenzähne erinnern: essind höckerige Zähne, die vorderen sehr einfach, mit einem oder wenigen Höckern, die hinteren mit mehr Hök- kern, die einigermaßen regelmäßig auf jedem Zahne in drei Querreihen stehen. Von Palaeomastodon ist die Entwicklung nach zwei Richtungen gegangen. Einerseits entstand aus demselben oder aus einer ähnlichen Gattung das Dinotherium (Obermio- END zän und Unterpliozän), Fig. 38D, bei Fig. 39. Backenzähne verschiedener elefantenariger Welchem die oberen Schneidezähne Tiere von der Kaufäche gesehen. Alle stark verkleinert. ; r ; A Palaeomastodon, Unterkiefer. Nach Anpxews. 3 Ma- weggefallen sind, während dieunteren © Mastodon (Stegodon) Chi Zwischenform zwischen den neigezähne, die bei Palaeomasto- Mastodonten und Elephas. Oberkieferzahn. Nach Crier. donschaufelförmigsindundwagerecht D Derselbe, Unterkieferzahn. Nach Cuier. sitzen, senkrecht nach untengerichtet sind. Beim Dinotherium ist eine ähnliche Backenzahnreihe wie beim Palaeo- mastodon vorhanden; an den Zähnen sind die Höcker zu niedrigen Querjochen verschmolzen (2—3 an jedem Zahn). Anderseits entstand aus Palaeomastodon die Gattung Mastodon (Miozän — Pliozän — Pleistozän). Bei den Mastodonten (Fig. 38 B, 39 B—D) hat sich die Bezahnung in der Richtung nach den echten Elefanten hin modifiziert: es sind nie mehr als drei Backenzähne auf einmal im Gebrauch; die Backenzähne sind mit einer größeren Anzahl von Querjochen versehen, von denen ein jedes aus mehr oder weniger verschmol- zenen Höckern sich zusammensetzt; die Stoßzähne des Zwischenkiefers sind verlängert, länger als die des Unterkiefers, die fehlen können. Die älteren For- men der Gattung stehen dem Palaeomastodon näher als die jüngeren (Schädel wenig aufgedunsen, Schneidezähne sowohl in Zwischen- wie in Unterkiefer vor- handen, mit Schmelz versehen, Backenzähne mit einer geringen Anzahl nicht sehr hoher Querjoche). Unter den jüngeren Mastodonten finden wir Formen, Elefanten. Artiodactylen. 589 bei denen der Schädel aufgetrieben ist, die schmelzlosen Schneidezähne nur im Zwischenkiefer vorhanden sind, die Backenzähne zahlreiche Querjoche be- sitzen, deren Täler teilweise mit Zement ausgefüllt sind. Mit der Gattung Ele- phas, die vom Pliozän ab zunächst noch neben den Mastodonten auftritt, ist die Reihe abgeschlossen. Die Paarhufer oder Artiodactylen bilden eine große Abteilung, die in Artiodactylen. der Jetztzeit durch die reich verzweigte Unterabteilung der Wiederkäuer (Ruminantia) und weiter durch die Schweine und Flußpferde vertreten ist. Von diesen sind die letzteren, die Nichtwiederkäuer (Nonruminantia), augen- scheinlich durchweg die ursprünglichsten, während die Wiederkäuer mit ihrem komplizierten Magen, mit den verschmolzenen Mittelfußknochen und mit ihren reduzierten oberen Vorderzähnen als die weniger ursprünglichen erscheinen. Die ältesten bekannten Artiodactylen sind denn auch Nichtwiederkäuer; schon aus dem unteren Eozän sind solche bekannt, und im mittleren Eozän sind sie noch die einzigen Artiodactylen; erst gegen Ende des Eozäns erscheinen die ältesten, den Nonruminantia nahestehenden Wiederkäuer. Die Nonruminantia sind, wenn wir sowohl auf die fossilen wie auf die rezen- Nonruminantia. ten Formen Rücksicht nehmen, eine große, reiche Abteilung. Sie haben durch- gängig ein vollständiges Gebiß = i - C s b). Im Oberkiefer sind stets Schneide- zähne vorhanden. An den Vorder- wie an den Hinterfüßen sind die Mittelfuß- knochen Nr. 3 und 4 getrennt und die seitlichen (Nr. 2 und 5) sind fast immer vollständig und wohlentwickelt; bei einigen der alten Formen ist sogar ein großes Rudiment des ersten Mittelfußknochens vorhanden. Der Mittelfuß ist durch- gängig kurz. Die Backenzähne sind bald ‚„‚bunodont‘, höckerig, bald ‚‚seleno- dont‘‘, mit halbmondförmigen Längskämmen versehen, bald nehmen sie eine Zwischenform ein. Letzteres gilt für die Gattung Dichobune, den ältesten be- kannten Artiodactylen aus dem untersten Eozän (und später). Der Typus der Nonruminantia ist übrigens in der Jetztzeit sehr gut durch die Schweine repräsentiert, die zwar in einigen Stücken — z. B. durch ihr bunodontes Ge- bıB — von den ältesten Formen abweichen, aber doch im ganzen den ursprüng- lichen Typus noch bewahrt haben. Von den Nonruminantia stammen die Wiederkäuerab. Der Magen, der Wiederkäuer. sich bereits bei den Nonruminantia kompliziert, hat einen zusammengesetzten Bau erhalten; die Beine haben sich ansehnlich verlängert (was bei den Non- ruminantien nur ausnahmsweise der Fall war) und die langen Mittelfußknochen Nr. 3 und 4 sind fast stets zu einem einzigen Knochen verschmolzen, während gleichzeitig die Mittelfußknochen 2 und 5 rückgebildet und unvollständig wur- den. Der untere Teil der Fibula ist ein besonderer, abgetrennter Knochen (Mal- leolare). Die Zitzen sitzen zwischen den Hinterbeinen, nicht auf der ganzen Unterseite. Die Wiederkäuer zerfallen in zwei natürliche Abteilungen, Tylopoda (Ka- Kamele und andere mele) und Pecora (Traguliden, Hirsche, Hohlhörner). Die jetztlebenden Tylo- wiederkäuer. 590 J- E.V. BoAS: Phylogenie der Wirbeltiere poden sind in gewissen Beziehungen eigenartig umgebildet, namentlich was die Zehen Nr. 3 und 4 betrifft. Während sie bei den Pecora denen der Nonruminan- tia gleichen und dieselbe charakteristische Form besitzen wie zZ. B. bei den Schweinen, sind sie bei den Kamelen, unter gleichzeitiger übermäßiger Ausbil- dung der zugehörigen Zehenballen, stark rückgebildet; ihre Klauen haben die für die Artiodactylen so charakteristische Form — nach einer Seite abgeplattet, nach der anderen Seite konvex — verloren und sind mehr krallenartig gewor- den. Die Zehen Nr. 2 und 5 fehlen spurlos, während sie bei den Pecora meist vorhanden sind. Für die Kamele charakteristisch ist ferner die Lage der Ver- tebralarterie, die mehr nach dem Wirbelkanal hin gelagert ist als bei den übrigen Säugetieren. Eigenartig ist auch die ovale Form der Blutkörperchen. Während die Kamele sich in den genannten Charakteren weniger primitiv gestalten als die Pecora, ist in mehreren anderen Beziehungen das Gegen- teil der Fall: Der Magen hat in mehrfacher Beziehung primitive Züge bewahrt; im Carpus sind Carpale 2 und 3 getrennt, ebenso im Tarsus Zentrale und Cuboideum (bei den Pecora sind diese Knochen verwachsen); die Mittel- fußknochen 3 und 4 sind unten weiter hinauf getrennt als bei den Pecora; im Zwischenkiefer sind die äußeren Vorderzähne vorhanden (bei den Pecora fehlen sie stets), die Eckzähne des Unterkiefers haben Eckzahnform (nicht Schneidezahnform wie bei den Pecora); die Placenta ist diffus wie bei den Schweinen, usw. Eine Betrachtung der voranstehenden Angaben Schema XII. R führt uns zu dem Stammbaum Schema XII. Pecora Sowohl die Pecora wie die jetzigen Tylopoden ee Mlopeden stammen von einem Urwiederkäuer, der die Cha- zZ . . . . . . . - ne ıı raktere, die wir bei jeder Abteilung als primitiv | erkannten, vereinigte; von jener Urform weichen die Urwiederkä “ : lan mehr, die Tylopoden weniger ab. Auf der Linie zwischen diesem Urwieder- Nonruminantia Käuer und den jetzigen Kamelen müssen sich (wenn unsere Betrachtungen richtig sind) For- men befunden haben, deren Füße z. B. dem gewöhnlichen Artiodac- tylenfuß — der auch bei jenem Urwiederkäuer vorhanden gewesen sein muß — ähnlicher waren. Die bei den jetztlebenden Tylopoden etwas reduzierte Zahnformel muß bei jenen älteren Formen vollständiger gewesen sein usw. Die paläontologischen Tatsachen entsprechen aufs glänzendste diesen Voraussetzungen. Entwicklung Das älteste Glied der Tylopodenreihe ist die obereozäne Gattung Protv- der Kamele. TEST = . : Et : 3 6 lopus, von derGröße eines Hasen, mit vollständigem Gebiß: —i -c — Sul b, ? 12,2 Sn 125407 mit vier Zehen, von welchen allerdings die Zehen 2 und 5 bereits stark rückge- bildet sind; die Mittelfußknochen 3 und 4 sind nicht miteinander verwachsen und die Zehen denen der Pecora ähnlich; die Augenhöhle ist hinten offen, nicht wie bei den jetztlebenden Tylopoden nach hinten ringförmig geschlossen. Wäh- Artiodactylen: Tylopoden 591 rend die Zugehörigkeit des Protylopus zur Tylopodenreihe vielleicht nicht über jeden Zweifelerhaben erscheint, gehört dagegen die oligozäne Gattung Poöbrothe- rium (von Schafsgröße), Fig. 40A und Fig. 41A, ganz zweifellos zu den Kamelen. Bei dieser Gattung ist die Bezahnung noch dieselbe wie bei Protylopus, mit einer Fig. 41. Rechter Hinterfuß, Avon Poebrotherium, 2 von Camelus. Fig. 40. Schädel verschiedener Mitglieder der Kamel- a Astragalus, e Centrale, ca Cal- familie. A Po&brotherium. Nach Wortmann. 2 Proto- caneus, cz Cuboideum, 72;, 72; labis, Nach Core. C Procamelus. Nach Core. D Camelus. drittes und viertes Metatarsale, Original. ce Eckzahn; die vor demselben sitzenden Zähne 3; 4 dritte und vierte Zehe. sind die Schneidezähne. r—7 die sieben Backenzähne. 4 nach Cop, 2 Original. fast gänzlich geschlossenen vollständigen Zahnreihe; die Augenhöhle ist hinten offen. Von den Zehen Nr. 2 und 5 sind aber nur Rudimente der Mittelfußknochen vorhanden; die Zehen Nr. 3 und 4 verhalten sich dagegen wie bei Protylopus und den Nonruminantia: die Mittelfußknochen sind nicht verwachsen und könnten gegen einander etwas bewegt werden, wenn sie auch in ihrer größten Ausdehnung dicht beisammen liegen, nur unten (vgl. die jetztlebenden Kamele) auseinander- weichend (bei Protylopus weiter nach oben getrennt); die Zehen selbst sind denen der Hirsche viel ähnlicher als denen der jetztlebenden Kamele: die End- phalangen sind lang, an der lateralen (d. h. von der Mittellinie des Fußes abge- 592 J. E.V. BoAs: Phylogenie der Wirbeltiere kehrten) Fläche gewölbt, an der medialen ganz abgeplattet; das Tier ist offen- bar — ebenso wie auch Protylopus — in derselben Weise wie die Hirsche und andere Pecora aufgetreten, nicht wie die jetzigen Kamele, hat also nicht die großen Zehenballen derletzteren besessen. Die Form des Schädels ist weit hirsch- ähnlicher als bei den jetztlebenden Tylopoden; wenn man den Schädel von oben betrachtet, sieht man bei den Hirschen und bei Pocbrotherium den unteren Augenhöhlenrand, während derselbe bei den jetzigen Tylopoden von dem obe- ren Rand überdeckt wird; das Nasenbein hat nicht die hintere Verbreiterung wie bei den jetztlebenden Tylopoden usw., deren Schädel sich übrigens der Poe- brotheriumschädel in manchen Punkten eng anschließt. Auch die Lage der Vertebralarterie war bereits wie bei den jetzigen Tylopoden. Im Poebrotherium haben wir also fast alles, was wir von einem ursprüng- lichen Tylopoden erwarten können. Mit den folgenden Formen nähern wir uns immer mehr den jetztlebenden Formen. Bei dem altmiozänen Gomphotherium ist die Zahnformel noch vollständig, der Abstand des vordersten Backenzahns (oben und unten) von den Nachbarzähnen aber vergrößert; die Mittelfußkno- chen liegen enger beisammen, sind aber noch immer getrennt und die Zehen verhalten sich ungefähr wie bei Poebrotherium. Die Augenhöhle ist hier wie bei allen folgenden Formen hinten geschlossen. Bei der Gattung Protolabis (Fig. 40B) aus dem mittleren Miozän war zwar auch noch die volle Bezahnung vor- handen, der äußere Schneidezahn (7?) im Zwischenkiefer ist aber eckzahnähn- lich wie bei den jetztlebenden Tylopoden und die Form des Schädels durchaus kamelähnlich (Füße unbekannt). Dem Protolabis schließt sich die jungmiozäne Gattung Procamelus eng an; bei letzterer gehen aber dem erwachsenen Tiere dıe Zwischenkieferzähne z! und :?ab, während die übrigen Zähne alle erhalten sind; die Metacarpalia 3 und 4 vereinigten sich beim alten Tiere und die Metatarsalia 3 und 4 waren früh verwachsen. Die Form der Phalangen steht zwischen der von Poöbrotherium und der der jetztlebenden Kamele, und der Procamelus ist offenbar bereits wie letztere auf großen Zehenballen aufgetre- ten. Eine weitere Entwicklung finden wir bei der spätmiozänen und pliozänen Gattung Pliauchenia, in deren Gebiß dieselben Zähne wie bei Procamelus, außerdern aber noch der zweite Backenzahn im Unterkiefer weggefallen sind; die großen Mittelfußknochen verwachsen völlig, die Gattung schließt sich sonst an Procamelus. Im Pleistozän und in der Jetztzeit treten zahlreiche Tylopoden auf, die sämtlich verwachsene Mittelfußknochen besitzen und Zehengänger sind, und deren Zahnformel mehr rückgebildet ist als bei den bereits erwähnten. Die stärkste Reduktion findet man bei der pleistozänen (jetzt wieder ausgestorbenen) Gattung Eschatius, die ungefähr gleichzeitig war mit der ältesten Art der noch lebenden Gattung Camelus; bei Eschatius waren nur vier Backenzähne jeder- seits oben und unten vorhanden. Vgl. übrigens das folgende Schema: Artiodactylen: Tylopoden, Pecora 593 Schema XII. Oligozän Poöbrotherium Malz 3 ! 23.2567 Altmiozän Gomßhotherium )» ı23 ı 1234567 Een | Procamelus 3 2 23 AuSOAR Jungmiozän | 203 I NO An 07 und pliozän | Du Wenin a | 123 I I Zr AU 50T Camelus mas en 7 | 10283 I I AS Pleistozän ee Ber I SEES 60T und Jetztzeit | Barse Ana 67 . Eschatius N rs 10253 I AO, Wie man sieht, entspricht der geologische Fund der aus dem Bau zu er- schließenden Entwicklung in vollkommener Weise. So übersichtlich wie die Tylopodenentwicklung gestaltet sich die der Pe- Pecora. cora bisher noch nicht. Die zahlreichen jetzigen Pecora können in drei natür- liche Abteilungen gesondert werden: die Traguliden, die Hirsche und die Hohlhörner.!) Die erstgenannte Abteilung zeichnet sich von den übrigen da- Traguliden. durch aus, daß die Mittelfußknochen Nr. 3 und 4 spät oder gar nicht verwach- sen und daß die Mittelfußknochen 2 und 5 vollständig sind, während sie bei allen übrigen jetztlebenden Pecora mehr oder weniger rückgebildet sind. In den mei- sten Punkten des Baues schließen sich die Traguliden aber eng an die übrigen Pecora an, z. B. auch im Bau des Magens; auch ist der Zwischenkiefer wie bei sämtlichen anderen Pecora zahnlos. In einigen Punkten sind sie sogar weniger ursprünglich als die übrigen Pecora: das Tarsale Nr.2 + 3 ist z. B. mit dem Mit- telfußknochen Nr. 3 verwachsen; der Mittelmagen ist rudimentär, usw. Die Charaktere des Mittelfußes, besonders der Mittelfußknochen 2 und 5, sind aber ursprünglich. Die jetztlebenden Traguliden sind wahrscheinlich die modifizierten Über- bleibsel einer kleinen Wiederkäuergruppe, die im Oligozän durch die Gattung Lophiomeryx repräsentiert ist, welche dieselbe Fußform wie die jetztlebenden Traguliden hatte (Mittelfußknochen alle getrennt und alle vollständig), die aber im Unterkiefer noch den bei allen jetztlebenden Pecora fehlenden vordersten Backenzahn besaß und bei welcher das Tarsale 2-+ 3 frei ist. Beide letztere Charaktere findet man noch bei der ebenfalls oligozänen Gattung Gelocus, bei welcher aber die großen Mittelfußknochen am Hinterfuß verschmelzen können (am Vorderfuß sind sie getrennt) und die Mittelfußknochen 2 und 5 in der Mitte rückgebildet sind, so daß sie in je ein oberes und unteres Stück geteilt sind. Von Gelocus oder einer ähnlichen Form leiten sich die Hirsche ab. Der Hirsche erste Backenzahn im Unterkiefer fehlt. Die Mittelfußknochen Nr. 3 und 4 sind völlig verwachsen. Am Hinterfuß ist das obere Ende der Mittelfußknochen 2 und 5 mit den großen Mittelfußknochen 3 und 4 verschmolzen und das untere ı) Wir sehen von den Giraffen und von der Gattung Moschus ab, deren Stellung zweifelhaft ist. K.d.G.II.ıv, Bd 4 Abstammungslehre etc. 38 Hohlhörner. 594 J.E.V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere Ende spurlos verschwunden; am Vorderfuß ist bei einigen Hirschen (plesio- metacarpe Hirsche, z. B. Dam- und Rothirsch) das obere, bei anderen (tele- metacarpe Hirsche, z. B. Reh, Elch) das untere Ende der fraglichen Mittelfuß- knochen vorhanden. Am Kopfe hat sich beim Männchen ein Geweih ent- wickelt, ein Paar verknöcherter Auswüchse, die mit gewöhnlicher behaarter Haut bedeckt sind, die bekanntlich am größten Teil der Oberfläche abgerieben wird, so daß die nackte Knochenoberfläche übrig bleibt. A B Bei den plesiom eta- carpen Hirschen hat der distale Teil des von der Klaue umschlossenen Zehenballens seinen ur- sprünglichen weichen Charakter eingebüßt, den er bei den telemetacarpen ebenso wie bei denSchwei- nen noch bewahrt hat. Ebenso wie die plesiome- tacarpen Hirsche verhal- ten sich in bezug auf den Zehenballen die Hohlhör- ner, die ebenfalls plesio- metacarp sind. Wahr- scheinlich sind die Hohl- hörner von den plesiome- tacarpen Hirschen abzu- Fig. 42. Vorderfuß von: 4 Tragulus, 3 Gelocus (restauriert), C telemeta- leiten. Die Abreibung der carper Hirsch (Elch), D plesiometacarper Hirsch (Dam). »z,, 2,, m, m, Mittelfußknochen Nr. 2, 3, 4, 5; 2x, oberes, >2x%, unteres Ende des Mittel- Haut des Hornes hat auf- fußknochens Nr. 2; Dean 2, 3 4 5 die Zehen gehört, die Hornschicht hat sich verdickt, die Be- haarung ist weggefallen. Bei einem der jetzt lebenden Hohlhörner, der Anti- locapra, ist nicht nur die Verästelung des Hornes, sondern auch die Behaarung teilweise bewahrt; auch bei anderen Hohlhörnern können wenigstens in der Nähe des unteren Randes des Hornes noch Haare gebildet werden, die in der dicken Hornschicht eingebettet liegen. Die Gruppe, zu welcher Antilocapra ge- hört, war schon im Mittelmiozän durch die im Gehörn den Hirschen sehr ähn- liche Gattung Merycodus vertreten, deren Hörner mehrgablig sind; nach der Beschaffenheit der Knochenoberfläche des Gehörns ist es wahrscheinlich, daß dieselbe mit Haut bekleidet war. Bei Merycodus sind die lateralen Zehen (die bei Antilocapra weggefallen sind) vorhanden wie bei den Hirschen und den meisten Hohlhörnern. Die Verwandtschaftsbeziehungen der Pecora gestalten sich demnach wie folgt (Schema XIV): I x || |; m? ”25\|| /l 2 il Artiodactylen: Pecora. Perissodactylen: Pferde 595 Ebenso wie die Artiodactylen Schema XIV. bilden die Perissodactylen, wenn Hohlhörner wirausgestorbeneundrezenteFormen berücksichtigen, eine reiche, in viele Unterabteilungen gegliederte Grup- pe, aus welcher wir hier nur eine, ö 5 Telemetakarpe Hirsche die Pferdegruppe, herausgreifen, deren Phylogenese zu den best- eh Urhirsche (mit sowohl oberen | als unteren Rudi- Antilocapriden Plesiometakarpe Hirsche bekannten gehört. Diensjetztlebenden- Pferde- | Bienen ger Blue h \ f eealsene fußknochen 2 und 5 arten, die unter sich wenig ver- der Vorderfüße) schieden sind, bilden einen in meh- Tragulus reren Stücken sehr speziell ausgebil- En deten Säugetiertypus. Bei allen Lophiomeryx Perissodactylen ist der Fuß einigermaßen symmetrisch; die Symmetrieebene des Fußes geht mitten durch die Zehe Nr.3, die— bald mehr, bald weniger — stärker ist als die übrigen. Bei den jetzigen Pferden ist das Übergewicht dieser Zehe über die anderen so groß, daß sie allein übrig geblieben ist, während die anderen Zehen verloren gingen; nur die Mittelfußknochen Nr. 2 und 4 sind noch als ‚‚Griffelbeine‘“ vorhanden, während die zugehörigen Zehen fehlen. Die Zehe Nr. 3 und deren Mittelfußbein ist mächtig entwickelt, kräftig, dazu von ansehnlicher Länge wie auch das übrige Gliedmaßenskelett; die Tiere sind Läufer ersten Ranges. Eine andere Eigenart der jetzigen Pferde liegt im Bau der Backenzähne. Von den sieben typischen Backenzähnen ist der vorderste, der „Wolfszahn‘, rückgebildet (ganz klein oder nicht vorhanden), während die übrigen sechs in jeder Kieferhälfte ungefähr von gleicher Größe und mächtig entwickelt sind, mit sehr hoher Krone (vgl. Fig. 45 B) und kurzen Wurzeln; die Krone istin einestarke Zementschicht eingebettet, die alle Vertiefungen ausfüllt. Die Abnutzungs- fläche der Oberkieferzähne kann folgendermaßen beschrieben werden (vgl. Fig. 43 D): der größte Teil der Fläche wird von vier schmelzumgrenzten Dentin- halbmonden eingenommen, zwei lateralen und zwei medialen, die mit ihren Hörnern zusammenhängen und zwei Zementhalbmonde einschließen; von den zwei medialen Dentinhalbmonden entspringt ein größerer breiterer vorderer und ein kürzerer hinterer Fortsatz, beide halbinselartig. Für die jetzigen Pferde charakteristisch ist auch die Rückbildung der Ulna, die teilweise nur noch durch ein Band vertreten ist. Weiter ist zu bemerken, daß die Augenhöhlen nach hinten ringförmig abgegrenzt sind. Ganz anders verhalten sich die älteren Pferde. Die ältesten der Pferde- gruppe sicher angehörenden Formen sind die eozänen Gattungen Pachyno- lophus, Orohippus usw. Bei diesen sind hinten drei (Nr. 2, 3, 4), vorn sogar vier Zehen (Nr. 2, 3, 4, 5) vorhanden, von denen Nr. 3 allerdings stärker, aber nicht viel stärker als Nr. 2 und 4 ist, während Nr. 5 wieder schwächer ist; die Verhält- nisse sind etwa wie bei den jetztlebenden Tapiren, die Füße sind aber schlanker 332 Perissodactylen. Pferde. 596 J. E. V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere als bei diesen. Auch die Bezahnung ist von der der jetztlebenden Pferde sehr verschieden. Der vorderste Backenzahn ist nicht so rückgebildet wie beim Pferd. Von den folgenden sechs beim Pferde gleichgroßen Backenzähnen sind die Fig. 43. Kaufläche von Oberkieferzähnen verschiedener Formen der Pferdegruppe. A Mesohippus, 3 Anchitherium, C Protohippus, D Equus. @ und 5 vorderer und hinterer lateraler Halbmond, c und e mediale Halbmonde des Pferdes und die entsprechenden Teile der Kaufläche bei den anderen, d£ Fortsatz von c, / Fortsatz von e. g Höcker bei A und 2 isoliert, mit 5 und e verschmolzen bei C und D; weiß gehalten ebenso wie die Brücke, die sich bei C und D zwischen e und e gebildet hat. Dentinflächen übrigens senkrecht schraffiert, Schmelz schwarz, Zement punktiert. A nach Osborn, ZB nach GAupry, C nach MATTHEW & GIDLEY. ZII III JH ZII Pachynolophus. Mesohippus. Anchitherium. Hipparion. Eguus. Fig. 44. Vorderfüße verschiedener Pferdeformen. ZZ, ZZ, IV, V zweite bis fünfte Zehe (Vin 3—D fünftes Metacarpale, /Z7 und /F in # zweites und viertes Metacarpale). Nach Core, MaArsn, Scott und GAuDRY. ersten — wie wir sehr allgemein bei den Huftieren finden — kleiner als die hin- teren; und statt der mächtig hohen Krone haben sie eine ganz niedrige, die nicht in Zement eingebettet ist, deren Falten vielmehr frei hervortreten. An den Oberkieferzähnen (vgl. Fig. 43A) finden wir zwei den lateralen Halb- monden entsprechende kurze Falten, die sich einigermaßen ähnlich wie die des Pferdes verhalten. Statt der medialen Halbmonde und der lappenförmigen Fort- sätze derselben finden wir aber zwei schräge Querfalten, die nicht miteinander zusammenhängen und nur an ihren vorderen Enden (oder gar nicht) mit den äußeren Halbmonden verbunden sind. Das ganze Zahnmuster ist dem des Rhinozeros recht ähnlich. — Die Ulna ist vollständig und kräftig entwickelt; der Ring um das Auge ist hinten unterbrochen. — Im Gegensatz zu den jetzigen Perissodactylen: Pferde 597 Pferden waren jene alten Formen von sehr bescheidener Größe, etwa von der Größe eines Fuchses. Bei der Gattung Mesohippus (Fig. 45 und Fig. 43 A) aus dem Oligozän und Untermiozän finden wir im Vorderfuß nur noch drei Zehen, indem die Zehe Nr. 5 verschwunden ist, wobei jedoch die proximaleHälfte desMetacarpaleV noch übrig blieb. Von den drei Ze- henist Nr.3stärker,Nr. 2 und 4 etwas schwä- cher geworden. Das Muster der Reibfläche der Backenzähne ist ungefähr dasselbe wie bei Pachynolophus, auch sind die Kronen sehr niedrig wie bei die- sem; es sind aber die sechs großen Backen- zähne alle ungefähr von gleicher Größe. Die Ulna ist etwas schwä- cher geworden. Der Ring um das Auge ist ebenso wie bei Pachy- nolophus hinten offen. Die Größe der Tiere ist noch unbedeutend, et- wa wie die eines ge- wöhnlichen Jagdhun- d wi an Fig. 45. A Schädel von Mesohippus; die Wurzeln der Backenzähne treten an es. — ie man sie t, einigen Stellen hervor. 3 Schädel von Equus; Teile der Kiefer weggenommen, ist die Entwicklung et- daß man die Zähne in ihrer ganzen Länge sieht. r—y7 die sieben Backenzähne. 4A nach Ossorn, 2 Original. was nach den jetzigen Pferden hin fortgeschritten; es gilt dies von der Zahl der Vorderzehen, von der Stärke der mittleren Zehe, der Ulna, der vorderen Backenzähne. Eng an Meso- hippus schließt sich die miozäne Gattung Anchitherium. Das Metacarpale V ist ganz klein geworden, die Zehe Nr. 3 und das entsprechende Mittelfußbein sind stärker und die Zehen 2 und 4 schwächer als bei Mesohippus geworden. In bezug auf die Bezahnung, die Ausbildung der Ulna und die Begrenzung der Augenhöhle sind die Verhältnisse wesentlich dieselben wie bei Mesohippus. Bei gewissen mit dem Anchitherium nahe verwandten miozänen Formen (Altippus, Hypohippus, Parahippus) waren die Zahnkronen, die übrigens denen von Anchitherium ähnlich sind, etwas erhöht und bei einer dieser Formen war die Augenhöhle hinten geschlossen wie beim Pferd. Hieran schließen sich die Gattungen aus dem Obermiozän und Pliozän: Merychippus, Protohippus und Hipparion, die bereits den jetzigen Pferden Primaten. Halbaffen. Affen. 598 J.E. V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere recht ähnlich sind. Die seitlichen Zehen und Mittelfußknochen sind ganz dünn und schwach geworden, die Zehe und der Mittelfußknochen Nr. 3 dagegen sehr stark, nur wenig schwächer als beim Pferd. Die Zahnkronen sind höher geworden, wenn auch nicht so hoch wie beim Pferd, das Zahnmuster ist an- nähernd dasselbe wie bei diesem, indem die Querjoche sich miteinander und mit den anderen Teilen des Zahnes inniger verbunden haben. Der Wolfszahn ist kleiner, die Ulna unten verdünnt worden. Die Augenhöhle ist von einem vollständigen Ring umschlossen. Die Größe der Tiere ist bedeutender, wenn auch wesentlich geringer als die der jetzigen Pferde. Endlich im oberen Pliozän tritt die in der Jetztzeit die Gruppe allein ver- tretende Gattung Equus auf, diesich imganzen engan Hipparion usw. anschließt, bei welcher aber die seitlichen Zehen ganz geschwunden sind — in ganz seltenen Fällen können diese Zehen noch als ,,Abnormitäten‘‘ erscheinen —; die Backen- zähne sind mächtig hoch geworden, die Ulna ist rückgebildet. Wir sind damit zu unserem Ausgangspunkt zurückgekommen. Als letztes Beispiel der Säugetierphylogenese besprechen wir diePrimaten und die mit ihnen verwandten Halbaffen, Prosimiae. Auch hier liegen die Verhältnisse im ganzen sehr klar. Den Ausgangspunkt bilden die Prosimier, die gewissen Insektivoren recht nahestehen und wahrscheinlich von dieser Abteilung auch abzuleiten sind. Für die Prosimier sowohl wie für die Primaten charakteristisch ist in erster Linie die Anpassung an das Leben auf den Bäumen und die hiermit in Zusam- menhang stehende Ausbildung des Daumens sowohl am Vorder- wieam Hinter- fuß: derselbe ist von den anderen Zehen abgerückt und ihnen opponierbar, so daß der Fuß als Greifwerkzeug zum Umfassen von Ästen usw. verwandt wer- den kann; dem entspricht auch, daß die meisten Krallen zu platten Nägeln geworden sind, was beim Einbiegen der Zehenspitzen gegen die Fußfläche zweckmäßiger ist. Die Prosimier, deren Habitus noch häufig sehr an den ‚„‚ge- wöhnlichen‘‘ Säugetiertypus erinnert ( einige von ihnen tragen denn auch den Namen ‚„Fuchsaffen‘), treten schon im Eozän auf. Von denselben leiten sich die Affen ab. Allerdings sind keine der jetzt- lebenden Halbaffen als direkter Ausgangspunkt verwertbar. Die Gattung Lemur, die unter den jetztlebenden Formen wohl in den mei- sten Beziehungen dem Ausgangspunkt der Primaten am nächsten steht, hat z. B. im Zahnbau eigenartige Charaktere angenommen, die bei den Vorfahren der Affen jedenfalls nicht vorhanden gewesen sind: der Eckzahn des Unterkie- fers ist nach vorn gerichtet und den ebenfalls nach vorn gerichteten Schneide- zähnen ähnlich, usw. Bei gewissen ausgestorbenen Formen — Adapiden — aus dem Eozän waren die Schneidezähne jedoch meißelförmig und senkrecht gestellt und die Eckzähnet) von gewöhnlicher Form wie bei den Affen. Von sol- chen Formen dürften die Primaten abzuleiten sein. 1) Auch bei der rezenten Gattung Tarsius haben die Eckzähne gewöhnliche Eckzahn- form, dieselbe kann aber wegen anderer Charaktere keine Ausgangsform der Primaten sein. Perissodactylen: Pferde. Primaten 599 Im Vergleich zu den Prosimiern finden wir bei den Primaten den Schädel, namentlich dessen vordersten Teil, verkürzt, und die Augenhöhle, die bei jenen bereits von einem knöchernen Ring umgeben war, ist nach hinten von einer knöchernen Platte umschlossen, so daß das Auge in einer vollständigen knöcher- nen Kapsel ruht. Die Unterkieferhälften sind verschmolzen (bei den Prosimiern meist getrennt). Das Zungenbein ist dadurch charakteristisch, daß die vor- deren Hörner teilweise rückgebildet sind, so daß es nicht wie bei den Pro- simiern und den meisten anderen Säugetieren dem Schädel angeheftet ist. Der Uterus ist ‚einfach‘, d. h. seine beiden Hälften sind vollständie verschmol- zen, während er bei den Prosimiern, wie bei den meisten Säugetieren, zweihörnig ist; die bauchständigen Zitzen, die bei einigen Prosimiern (außer den bruststän- digen) vorhanden sind, fehlen stets. Die Primaten haben sich somit in vielen Stücken von dem Ausgangspunkt, den Prosimiern, wesentlich entfernt; eigent- liche Zwischenformen sind bisher nicht nachgewiesen, der Anschluß ist aber ein ganz zweifelloser. Die Primaten zerfallen in drei natürliche Abteilungen: Westaffen (Pla- westafen. tyrrhinen), Ostaffen (Catarrhinen), Menschen. Von diesen sind die West- affen im ganzen die ursprünglichsten und stehen demgemäß den Prosimiern am nächsten: Die gegenseitige Lage der Nasenöffnungen (großer Abstand zwi- schen denselben) entspricht der der Prosimier; es fehlt (ebenfalls ein ursprüng- licher Zug) der knöcherne Gehörgang, der bei den übrigen Primaten vorhanden ist; in der Scheidewand zwischen Augenhöhle und Schläfengrube ist ein kleines Loch vorhanden — ein Überrest der großen Öffnung der Prosimier; ebenso wie bei den meisten Prosimiern sind drei Prämolaren vorhanden; der Blinddarm ist wie bei den Prosimiern größer als bei den übrigen Primaten. Innerhalb der Westaffen dürfte Cebus diejenige Gattung sein, die das ursprünglichste Gepräge bewahrt hat, während Formen wie Ateles, Mycetes usw. eine speziellere Ent- wicklung erfahren haben. Auch die kleinen Hapale- Arten sind keineswegs ursprüngliche Formen, sondern von dem Grundstock der Westaffen durch solche Formen wie Chrysothrix abzuleiten: die betreffenden Tierchen sind wieder mehr eichhörnchenartig geworden; die bereits bei den Prosimiern ausgebildeten Nägel haben sich wieder zusammengebogen und gekrümmt, sind krallenartig gewor- den und werden wohl ähnlich wie die Eichhörnchenkrallen beim Klettern ver- wendet; die Bezahnung ist wenig ursprünglich, indem von den bei allen anderen Primaten vorhandenen drei Molaren einer verschwunden ist. Von einer Form, die jedenfalls den jetzigen Westaffen nicht fern stand, Ostafen. wahrscheinlich sogar dieser Abteilung angehört hat, leiten sich die Ost- affen ab, die in zwei Unterabteilungen zerfallen, die Cynomorphen (Hunds- affen) und die Anthropomorphen (Menschenaffen), von denen erstere die ursprünglichere ist. Bei den Ostaffen hat sich der Abstand zwischen den äuße- ren Nasenlöchern bis auf einen schmalen Hautstreifen verkleinert; es hat sich ein knöcherner Gehörgang ausgebildet; das Loch in der Scheidewand zwischen Augenhöhle und Schläfengrube hatsich geschlossen; von dendrei Praemolaren der Westaffen ist einer verloren gegangen; der Blinddarm ist ganz kurz geworden. Cynomorphen. Anthro- pomorphen. 600 J. E.V. Boas: Phylogenie der Wirbeltiere DieCynomorphensind den Westaffen ähnlicher als die Anthropomor- phen: es ist gewöhnlich ein Schwanz vorhanden, die Vordergliedmaßen sind wie bei den meisten Westaffen kürzer als die Hintergliedmaßen, das Kreuzbein besteht aus drei Wirbeln, der erste Unterkiefermolar hat wie bei den Westaffen nur vier Höcker. Es ist offenbar, daß dieCynomorphen dem Ausgangspunkt am näch- sten stehen. Die Cynomorphen sind wie die meisten Affen ausgeprägt baumlebende Tiere, die sich laufend oder kletternd auf dem Baume bewegen. Auf der Erde be- wegen sie sich sehr gut, indem die ganze untere Fläche des Vorder- sowie des Hin- terfußes die Erde berührt. Einige Formen sind mehr Erdbewohner geworden; besonders ist das mit den Pavianen der Fall, die ihre Nahrung auf dem Boden suchen (Knollengewächse, Kräuter usw.) und nur ungern einen Baum besteigen; auch ihre Physiognomie ist entsprechend „‚tierischer‘‘ geworden mit hervor- tretender, zum ‚„Schnüffeln‘‘ wohl geeigneter Schnauze. Von Formen, die den jetzigen baumlebenden Cynomorphen nahe stan- den, sind die in der Jetztzeit durch die Gibbons, den Orang, Schimpanse und Gorilla vertretenen Anthropomorphen abzuleiten. Für die Anthropomorphen ist zunächst die Art der Bewegung charakteri- stisch: die Vordergliedmaßen, die bei den Cynomorphen wie gewöhnlich bei den Säugetieren etwas kürzer sind als die Hintergliedmaßen, sind hier stark ver- längert und ermöglichen es den Tieren, die sich mit virtuoser Gewandtheit in den Baumkronen bewegen, mit den Armen an einem Ast hängend den Körper in starke pendelförmige Schwingungen zu versetzen und sich dann nach einem anderen manchmal weit entfernten Ast zu werfen, fast als ob sie flögen. Dabei sind sie auch imstande, sich, wenn auch nicht sehr gut, auf der Erde zu bewegen, jedoch den exzessiv entwickelten Vordergliedmaßen entsprechend in anderer Weise als die Hundsaffen, nämlich mit dem Rumpf in halb aufrechter Stellung, indem die Hintergliedmaßen einigermaßen in gewöhnlicher Art die Erde berühren, während die Vordergliedmaßen sich nicht mit der Unterseite, sondern mit einem kleinen Teil der Rückseite der eingekrümmten Finger auf die Erde stützen — wenn nicht, wie es bisweilen geschieht, die Bewegung allein auf den Hintergliedmaßen stattfindet. Im Körperbau haben sich zahlreiche Eigentümlichkeiten ausgebildet, die wohl teilweise der veränderten Bewegungsweise entsprechen, zum großen Teil aber hiervon unabhängig entstanden sind. Der Schwanz ist verloren gegangen, die charakteristischen Gesäßschwielen der Hundsaffen sind rückgebildet (Gib- bons) oder gänzlich verloren gegangen. Ungemein charakteristisch sind die Um- bildungen der Wirbelsäule. Während die Hundsaffen, wie die meisten Säugetiere, einen „antiklinen‘“ Wirbel besitzen, auf welchen Wirbel folgen, deren Dornfort- sätze sich nach vorn neigen, sind bei den Anthropomorphen sämtliche Brust- und Lendenwirbel mit nach hinten geneigten Dornfortsätzen versehen und einen antiklinen Wirbel gibt es nicht; dersog. Proc. accessorius (Anapophyse) der Lenden- und hinteren Brustwirbel, der bei den Hundsaffen stark entwickelt ist, fehlt fast völlig bei den Anthropomorphen, bei denen auch die Lendenwirbel- Primaten 601 querfortsätze, die bei den Hundsaffen vom Wirbelkörper entspringen, auf den Bogen hinaufgerückt sind. Diesen Unterschieden im Baue entspricht es, daß die Biegungsfähigkeit der Lendenwirbelsäule namentlich nach vorn bei den Anthro- pomorphen weitaus größer ist als bei den Hundsaffen; wahrscheinlich ist das- selbe auch mit der Seitenbiegung der Fall. Das Kreuzbein besteht, statt aus drei, aus vier (Gibbone) oder’ fünf‘ > ver- schmolzenen Wir- beine Mund. ‚das Darmbein, das bei den Gibbons noch dem der Hundsaf- fen ähnlich ist, hat IKHIBE 4 üb . Fig. 46. Erster linker Unterkiefermolar (vergrößert). A von einem cynomorphen Ost- SIC ei en UDFI- afen, 2 vom Schimpansen, C vom Menschen. ea vorderer, em mittlerer, e5 hinterer gen stark verbrei- äußerer Höcker, za vorderer, 25 hinterer innerer Höcker. Original, tert; beideCharak- tere entsprechen der stärkeren Be- anspruchung der Hüftmuskulatur bei der halb auf- rechten Bewegung en unter Köchler Obeliicfermolur (vbrelähere Al van eine ernennen de auf der Erde. Der afen, 3 vom Schimpansen, C vom Menschen, ea vorderer, e5 hinterer äußerer Höcker, Brustkasten, er za vorderer, 25 hinterer innerer Höcker. Original. bei den Hundsaffen wie bei anderen auf allen Vieren herumlaufenden Säugetieren seitlich zwischen den nach unten gerichteten Vordergliedmaßen zusammen- gedrückt ist, ist breiter und platter geworden, das Brustbein dementsprechend ebenfalls breiter als beiden Hundsaffen. An dem kurzen Blinddarm hatsich ein sog. Wurmfortsatz ausgebildet — ein etwas rätselhaftes Gebilde, das gemeinig- lich, aber mit Unrecht, als ein rudimentäres Organ aufgefaßt wird; es ist im Gegenteil ein Neuerwerb der Anthropomorphen. Auch die Zahnkronen haben sich geändert. Am ersten Unterkiefermolar sind z. B. statt der vier Höcker der Hundsaffen fünf vorhanden (Fig. 46); am ersten Oberkiefermolar hängt der vordere innere Höcker mit dem hinteren äußeren Höcker durch einen schrägen Wulst zusammen (Fig. 47), usw. Von den Anthropomorphen sind wieder die Menschen abzuleiten. Die Menschen. Bewegung in den Bäumen ist in der Hauptsache aufgegeben, und die Bewegung auf der Erde auf den Hintergliedmaßen, die bei den Anthropomorphen gelegent- lich stattfindet, ist der überwiegende Charakter geworden, indem gleichzeitig die Vordergliedmaßen als Greifwerkzeuge ersten Ranges weiter fungieren; ihre Rolle als Stützen beim Gange haben sie aufgegeben, sie sind auch etwas (nicht sehr viel) kürzer geworden, während die Hintergliedmaßen in Anpassung an das Gehen sich ganz mächtig entwickelt haben und nicht mehr zum Greifen ver- wandt werden, womit zusammenhängt, daß der immer noch sehr große Daumen 602 J. E. V.Boas: Phylogenie der Wirbeltiere sich den übrigen Zehen dicht angelegt hat (der Abstand zwischen ihm und den anderen Zehen ist übrigens noch immer größer als zwischen letzteren unter sich). Der Körper hat sich gerade aufgerichtet, so daß seine Achse in der Ver- längerung der Hintergliedmaßen liegt. Daß der Mensch gerade von den anthropomorphen Affen abzuleiten ist, ae nicht zweifelhaft sein. In allen Punkten, in welchen die Anthropomorphen von den Hundsaffen abweichen, stimmt der Mensch mit ersteren überein: Schwanz- mangel, Fehlen der Gesäßschwielen, Kreuzbein (5 Wirbel), breites Brustbein, Fehlen eines antiklinen Wirbels und des Processus accessorius, Hinaufrücken der Lendenwirbelquerfortsätze auf den Bogen, Vorhandensein eines Wurmfortsatzes. Auch dieoben erwähnten besonderen Charaktere derZähneder Anthropomorphen finden wir ganz ebenso beim Menschen wieder (Fig. 46—47). Auch im Bau des Ohrknorpels und des äußeren Ohres findet man engere Anknüpfungen zwischen Anthropomorphen und Mensch als zwischen letzterem und den Hundsaffen. Die neuerdings angestellten Serum-Proben weisen nach gleicher Richtung. Wir erwähnen nur eine derselben. Wenn man Blut von einem Säugetier in die Adern eines anderen hineinspritzt, werden im allgemeinen die fremden Blut- körperchen aufgelöst und durch die Nieren wird der fremde Blutfarbstoff aus- geschieden. Wenn aber die zwei Arten, deren Blut derart gemischt wird, einander sehr nahe stehen, erhält man ganz andere Resultate: die Blutkörperchen bleiben dann in dem fremden Organismus bestehen; so verhalten sich z. B. Pferd und Esel, Hase und Kaninchen zueinander. Ebenso werden im menschlichen Blut die Blutkörperchen der Anthropomorphen nicht aufgelöst, dagegen die sämtlicher anderer Affen; umgekehrt erhalten sich auch die menschlichen Blutkörperchen, wenn sie in die Adern des Schimpansen eingespritzt werden. Unter den jetzigen Anthropomorphen stehen die Gibbons dem Menschen am wenigsten nahe. Bei diesen stark behaarten Formen sind noch kleine Gesäß- schwielen, ein schmales Becken, ein weniger flacher Brustkasten, ein schmäleres Schulterblatt, ein einfacheres Gehirn vorhanden; die Querfortsätze der Lenden- wirbel sind zwar etwas gegen die Bogen zu verschoben aber nicht auf sie hinauf- gerückt. Näher stehen dem Menschen die großen Formen: Orang, Schimpanse, Gorilla; bei ihnen fehlen die Gesäßschwielen völlig, die Behaarung ist spärlicher, das Becken breit, der Brustkasten abgeplattet, das Schulterblatt dem des Menschen ähnlicher, die Querfortsätze ganz auf den Bogen hinaufgerückt. Das Gehirn ist auch dem des Menschen in der Ausbildung der Windungen ähnlicher, wenn auch weniger kompliziert. Unter den genannten drei Arten dürfte der Orang dem Menschen ferner stehen als die beiden anderen; ich erwähne z. B., daß Schimpanse und Gorilla eine Axillardrüse (ein milchdrüsenähnliches Kon- glomerat von Schweißdrüsen in der Achselhöhle) besitzen, die sonst allein beim Menschen vorhanden ist, während sie beim Orang (sowohl wie bei den Gibbons) fehlt; auch scheinen sich die Lendenwirbel nicht so eng an die des Menschen an- zuschließen wie die des Schimpansen. Von einer Art, die dem Schimpansen und dem Gorilla ganz nahe stand, dürfte der Mensch ungezwungen ableitbar sein. Es ist üblich, den Ursprung des N 0 Primaten: Menschen 603 Menschen etwas mehr ins unbekannte Dunkle zurückzuschieben. Dies ist aber durchaus überflüssig; der Anschluß an die genannten Arten ist ein so inniger und die Unterschiede sind derartig, daß eine Ableitung des Menschen von einer dem Schimpansen oder dem Gorilla sehr ähnlichen Art ganz wahrscheinlich ist. Daß der Schimpansen-Gorilla-Typus noch unter den lebenden Primaten ver- treten ist, widerspricht selbstverständlich nicht einer Ableitung des Menschen von demselben. Im Vergleich mit einer solchen baumbewohnenden Schema XV. Ahnenform hat sich der Mensch allerdings in manchen Menschen Beziehungen stark verändert. Bezüglich der Umände- rung der Gliedmaßen sei auf die obenstehenden Bemer- Schimpansen -Gruppe kungen (S.601—602) hingewiesen. Neben den hiermitin eu Verbindung stehenden Eigentümlichkeiten ist beson- ders die für eine so große Tierform verhältnismäßig a! immense Größe des Gehirns (große Tiere haben durch- weg verhältnismäßig kleine Gehirne) und die hiermit F x E Paviane zusammenhängende Anderung des Schädels hervorzu- m heben. Das Gehirn ist in seinem Bau wenig von dem pDendrobate Hundsaffen der genannten Affen verschieden; das Gewicht ist aber 3-, 4malso groß wie das des größten Affengehirns. Westaffen Der das Gehirn umschließende Teil des Schädels wird dadurch so umfangreich, daß an seiner Oberfläche für den Ursprung der von ihm entspringenden Muskeln genügend Platz ist, so daß die Kämme, die der Schädel des Schimpansen und des Gorilla trägt, wegfallen konnten. Rückgebildet sind weiter beim Menschen die großen Luftsäcke, die bei jenen Affen vom Larynx ausgehen; nur ein bescheidener Überrest ist davon beim Menschen bestehen geblieben. Alle diese Unterschiede sind aber derart, daß wir uns ohne die geringste Schwierigkeit den Menschen von dem Schimpansen- Gorilla-Typus entstanden vorstellen können. Der Abstand wird noch etwas geringer, wenn wir die genannten Affen, anstatt mit Europäern, mit Negern oder Australiern vergleichen, die ihnen in verschiedenen Punkten näher stehen; noch mehr, wenn wir gewisse ausgestorbene Menschenformen, den Neander- talmenschen und den Pithecanthropus zum Vergleich heranziehen; bei dem Neandertaler, von welchem jetzt eine ganze Anzahl Exemplare aus der Qua- ternärzeit vorliegen, war z. B. die Stirn niedriger als bei den tiefststehenden jetzt- lebenden Menschen; und beim Pithecanthropus, von welchem bislang nur sehr spärliche Überreste vorliegen, war die Stirn kaum höher als beim Schimpansen. Auch in anderen Punkten, z. B. im Unterkiefer, der bei den jetzigen Menschen im Gegensatz zu den Affen durch das sog. Kinn ausgezeichnet ist, bilden die Ne- andertaler eine Zwischenstufe: das Kinn ist bei jenen alten Menschen gar nicht hervortretend. | Was wir von fossilen Primaten kennen, ist abgesehen vom Neandertaler und Pithecanthropus im ganzen wenig wertvoll und für die Phylogenie bislang von geringer Bedeutung gewesen. Prosimier Menschen der Vorzeit. Literatur. ABEL, O., Die Sirenen d. mediterranen Tertiärbildungen Österreichs. Abhandl. d. K.K. Geol. Reichsanstalt ı9. Bd. 1902—04. 2. Heft. S. 1—223. —, Die Stammesgeschichte d. Meeressäugetiere (Meereskunde, I. Jahrg. 4. Heft. 1907). ANDREWS, Ch. W., A Descriptive Catalogue of the Tertiary Vertebrata of the Faylım, Egypt. London 1906 (Brit. Mus., Nat. Hist.). (Moeritherium, Palaeomastodon, Eotherium, Zeuglo- donten [Prozeuglodon)]). BAUR, G., Ü. d. Abstammung d. amnioten Wirbeltiere. Biol. Centr. 7. Bd. 1887. S. 481—93. BinG, R., u. R. BURCHARDT, Das Zentralnervensystem v. Ceratodus. Anat. Anzeiger 25. Bd. 1904. S. 588—99. Boas, J. E. 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Alpen (florengeschichtlich) 212. Alpschoß 333. Alsophila, mesozoisch 422. alternative Vererbung ı2. Altippus 597. Alton E. d’ 337. altozeanisches Florenreich 262. Ameghino C. 340. — F. 340. Ammocoetes 535. Ammoniten 314, 321, 331. Amphibien 550. —, fossile 343. Amphibiolithen 314. Amphibiolithus 388. Amphicyon 5380. Amphigenes ı71. Amphimutationen 138. Amphineura 3os. Amphioxus 525, 534. Amsterdam-Inseln 263. analog, Analogie 58, 108. Analyse, ethologische 361. analytisches System 102. Anchitherium 597. Andersson G. 209. andines Gebiet 261. Andrews C. W. 377. Andrias Scheuchzeri 316. Aneimites fertilis 410, 423. Angerer L. 306. Angiospermen 446. —, Auftreten und Ableitung 431, 432. Anneliden, Ableitung derselben 476. — , Ableitung der Metamerie 488. —, als Stammform der Arthropoden 496. —, als Stammform der Mollusken 509. —, Larvenform derselben 479. Anpassung, aktive 34. —, indirekte 33. —, zweckmäßige 26. Anpassungsreihen 334. Anomiten 331. Anomodontia 564, 575- Ansiedlung der Pflanzen 221. Anatomie, vergleichende, als Grundlage der Paläontologie 358. antarktische Region 287. antarktisches Südamerika 262. Anthophysa 457. Anthracotherium 353. Anthropomorphen 399, 600. Antilocapra 394: Antwerpen, Entdeckung der dortigen Fossil- funde 368. Anuren 554. Aphyllae 169. Araucarieae, mesozoische 429, 430. Archaeoceten 390. Archaeoßteryx 343, 366, 393, 573- Archhydra 464. Archigastrula 458. Architypen 161. Arctogaea 273. Areale der Pflanzen 219. Areschoug 209. Aristoteles 313. arktische Fauna 281. arktisches Gebiet 2354. Art, Definition derselben ı19. —, elementare 137, 139. Artanpassung 35. Artbastarde 3. —, fruchtbare ıı. Namen- und Sachregister 607 Artbegriff 3. Artbildung durch Bastardierung zo. Arten, kleine 9. Arten fossiler Tiere, Zahl derselben 365. Artenreichtum 93. Arthropoden, fossile 334. —, Phylogenie derselben 496. Artiodactylen 589. Artmerkmale, morphologische 148. —, physiologische 148. Artzelle 74. Assoziationen 246. Asterocalamites 404, 405, 415: Asterochlaena 413. Asterozoen 330. Ateles 599. atlantische Provinz (Europa) 255. atlantisches Nordamerika 258. Augustus, paläontologische Sammlung des- selben 377. Auinger M. 332. Austern, fossile 333. austral-antarktisches Südamerika 262. australisches Florenreich 262. australisches Gebiet 262. Autochthonie der Kohle 402. Autorname 97. Avicenna 313 B. Baer C.E. v. 48, 99. Bären 580. Baiera 429. Baillon H. 172. Balaenopteridae 390. Balanoglossus 314, 527. Barrande ]J. 334. Bartenwale 390, 584. Bary de ı71ı. Basiliskensage 307. Bastarde 8. —, Erblichkeit bei denselben ı2. —, reziproke 135. Bastardierung, Einfluß derselben auf die Artbildung go. Bateson 22. Bather A. 330. Bathybenthal 293, 296. Bathypelagial 293, 298. Bauer G. (Agricola) 313. Bauhin ]J. 370. Baur G. 45, 342. Becanus G. 306. Beck G. y. 212. Belemniten 314, 333- Belemnoziphius 381, 382. Bennettiteae 426, 432. Bennettites 427. Benthal 293. Bentham G. 172. Berardius 389. Beringer ]J. B. 314. Bernstein 364. Bernsteininsekten 364. Berry 421, 423. Bertrand P. 411. Beutelmarder 5378. Beutelratten 335, 577. Beuteltiere 354, 577. Bilateralität, Entwicklung derselben 470. Bilaterienstamm, Herleitung derselben 466. biochemische Verwandtschaftsreaktion ı51. biogenetisches Grundgesetz 64. Biogeographie 83, 176. biologische Isolierung 47. biologische Rassen 158. biologische Spezies 155. biometrische Schule 20. bionto-physiologische Pflanzengeographie 195. Biostratigraphie 352, 362. Biotyp 137, 139. bipolare Verbreitung der Meerestiere 301. Bivalven, fossile 333. Blätter, fossile 347- Blastocöl 453. Blastoderm 457. blastogene Umformungen 76. Blastoideen 330. Blastoporus 454. Blastovariation 137. Blastula 453. Blendlinge 8. Blindwühlen 3354. Blüten der Angiospermen 447. Blüten der Dennettiteae 426. Blumenbach J. F. 320. Blutsverwandtschaft 56. Blytt 210. Boccaccio G. 304. bodenstete Pflanzen 237. bodenvage Pflanzen 237. Bodenverhältnisse (als pflanzengeographischer Faktor) 236. Böden, Einteilung derseiben nach Ramann 239. Bölsche 393. Boll, Liasschiefer daselbst 370. Bollstaedt A. v. 313. Bommer 420. Bonifaziuspfennige 329. boreales Florenreich 2354. Borstenwürmer, Beziehungen zu den Wirbel- tlerenl.%32. Bothrodendron 405, 407- Botryoßterideae 411. Botryoßteris antiqua 411. Brachiopoden 331. Branco W. 351. Brauer 106, 116. 608 Namen- und Sachregister Braun A. 169. Braunalgen 442. Breyn J. Ph. 330. Briquet 212. Brockmann-Jerosch 213, 434- Brongniart A. 319, 325, 334- — A. Th. 169, 347; 396. — Ch. 334. Brontosaurus 393. Broom R. 342. Brown R. 190. Bryozo£n, fossile 331. Bucciniten 314. Buch. v.46,7331. Bütschli 461. Buffon 317. Bumpus yo. Burckhardt ı21. Byron 4. Bus B. du 381. Burmeister 116. C. cänogenetisch 73. Calamites 405, 406, 415. Calamopitys 413. Callibteridium 415. Callipteris 410, 415. Camptoßteris 422, 423. Candolle A. de 192, 205, 228. — P. de 169, 192. Camelus 392. Camper P. 370. Caniden 579. Canidomorphen 379. Capellini C. G. 382. Carinifex 351. Carnegie 377. Carnivoren 579. Carpenter 328. Castle 36. Catarrhinen 599. Cautley 339. Cebus 599. Cephalopoden 305. —, fossile 331. Ceratodus 546, 552. Cetaceen 584. —, fossile 390. Chamaephyten Igg. Charakterpflanzen 177. Charaktertiere 177. Chevauchements des specialisations 354. Chimären 541. Chlorophyceae 443. Chordaten, Phylogenie derselben 523. Choripetalae 170. chorographische Systematik 219. Christ 209. Chrysothrix 399. Cladophlebis 421, 423, 424- Cladotheca 424. Cladoxyleae 413. Classis 99. Claus 116, 123. Cnidarien 464. Coalballs 400. Cöcilien 554. Cölenteraten 464. —, fossile 329. Cölom 475, 483. Cölomaten (Bilaterien) 466. Cohn E- 171. Colonna F. 316, 331. Compsognathus 392. Coniferengebiet 255. Conioßteris 421. Conostoma 412, 423. Cope E.D. 339, 341. Coquand 333. Cordaitales 405, 413. Cordaiteae, mesozoische 428. Cormentheorie 478, 491. Cormophyta 170, 441, 444- Corynepteris 411. Cotteau G. 330. Cotylosaurier 556. Crampton go. Crania 331. Credner H. 343. Creodonten 532. Crossopterygier 542. Crossotheca 410. Crustaceen 498. —, fossile 334. Ctenophoren 465. Cupressineae, fossile 431. Cuvier 4, 99, 319, 334- Cyatheaceae, mesozoische und paläozoische 421. Cycadocephalus 427. Cycadofilices 405, 409, 410, 412, 413, 414, 428. —, mesozoische 420, 425. Cycadoidea 427. Cycadophyten, mesozoische 426. Cycadoxylon 413. Cyclomerie 490, 493: Cyclostigma 405. Cyclostomen 535. Cynodictis 530. Cynodontia 564, 574- Cynomorphen 599, 6o0- D. Dachse 581. Dadoxylon 415. D’Alton 337. Namen- und Sachregister Dammerde 238. Darwin 2,.311, 352. Darwins Selektionslehre 36. Dasyuriden 578. Davidson Th. 331. De Bary ı7ı. De Candolle siehe Candolle de Defrance 321. Degression 126. Delametherie 336. Denburgh, van 45. Denkmünzen der Schöpfung 319. Dermatoporus 457. Desmarest A. E. 334. Desor E. 330. Deszendenz, monophyletische 735. —, polyphyletische 735. Deszendenztheorie ı. — , Bedeutung derselben für die Biogeographie 182. Devonflora 404. De'Vries’21, rır, 132. Deuterostomia 469, 511. Dialypetaleae 170, 451. Dickenwachstum bei Kryptogamen 409. Dicksoniaceae, mesozoische 421. Dicynodontia 364. Didelphyiden 377. Didelphys 335. Dikotyledonen 450. Dikotyledonenblätter, fossile 347. Diluvianer 316. Dimorphismus 29. Dinosaurier 393, 561. Dinotherium 305, 588. Dioplodon 381, 382. Dibleurula 317. Diplolabis gı1, 412, 424. Dißteridinae, mesozoische 422 Discina 331. Discolithen 328. disjunkte Sippen 220. diskontinuierliche Variation 2ı. diskontinuierliche Verbreitung 183. Divergenzprinzip 126, 131. Divisio 99 Döderlein 94, 122. Delle Ea34r, 354, 357, 301. Dollosches Gesetz 3357. Dolomitknollen 400. dominant 12. Donnerkeile 333. Douvill& 333. Drachensagen 303, 308. Drouin 370. Drude 170, 192. Dryas-Flora 434. Ducrotay de Blainville 333, 337. Dyer ih. 193. K.d.G.IIl.IV, Bd 4 Abstammungslehre etc. 609 E. Eaton G. F. 393, 394- Eboracia lobifolia 421. Echinodermen, fossile 329. —, Phylogenie derselben 516. Echinoidea 330. Ectocarpen 465. Edwards H.M 329. Ehrenberg 328. Eichler 170. Eimer 48. Einhorn 307, 378. Eiszeit, Bedeutung derselben für die Ver- breitung der Pflanzen 217. —, Bedeutung derselben für die Verbreitung der Tiere 285. —, permische 418, 419. —, tertiäre 434. Ektoderm 4354. Ektomesoderm 483. Elefanten 587. Elefantenzähne, fossile 373. Elementarart 21, 137, 139. Elfenbein, fossiles 373. Elephas mnaidriensis 304. Elephas primigenius 321. Empedocles 2, 304. Endlicher 169. Engler 170, 171, 192. Enterocöltheorie 484. Entocarpen 465. Entoderm 454. Entomolithen 314, 329. Entomolithus 388 Entwicklung der Angiospermenblüte 447. Entwicklung der Pflanzenwelt 441. Entwicklung der Tierwelt 453. entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeogra- phie 205. Entwicklungszentrum 178. Eosiren 586. Eotherium 586. Epharmonie 197. Epharmose 197. epigenetische Deszendenzlehre 76. Equisetites 405, 420 Eqguisetum, fossil 405, 406. Erbeinheiten 25. Erblichkeit bei Bastarden ı2. Erölichkeit erworbener Eigenschaften 30, 77: Erdrevolutionen 324. Erhaltungszustand der fossilen Reste 358, 364. Erhart B. 333. Ernährungsmodifikationen 17. erworbene Eigenschaften, Erblichkeit der- selben 30, 77. Eschatius 592 ethologische Analyse 361. 610 Ettingshausen C. v. 347. Eupelagial 298. Euthallophyta ı71, 442. eurytop 220. IR Expeditionen zum Sammeln von Fossilien 376. F. Fährtensandsteine 366. Färbung, sympathische 38. Falconer 339. Familia 99: Farlow 123. Farne, mesozoische 420. —, paläozoische 411. Faujas de Saint-Fond 321, 371. Fauna Afrikas 273. — Asiens 281. Australiens 266. Europas 281. der Großen Antillen 272. Madagaskars 275. der Mittelmeerländer 282. Neuseelands 268. Nordamerikas 281. Polynesiens 268. — Südamerikas 269. Felidomorphen 579. Feuchtigkeit (als Faktor) 228. Figurensteine 314. Eische 537. —, fossile 344. Fischer 171. Flagellaten 454. Fleming 330. Flora-Änderung im Karbon 4135. Flerengebiete, Übersicht derselben 254. florengeschichtliche Pflanzengeographie 207. Florenreiche, Übersicht derselben 254. Flossenfüßler 582. Flower W.H. 389. floristische Pflanzengeographie 190. floristisch-geographische Pflanzengeographie 191. hp hreipsnumische Pflanzengeo- graphie 191. floristisch-systematische IQI. Flugsaurier 563. Fluktuation 137, 138. fluktuierende Variabilität 18, 19. Flußpferde 588. Foraminiferen 328, 345. Forma 135. Formationen, pflanzengeographische 246. —, Übersicht derselben 249. —, Veränderungen derselben 203, 242. formationsbiologische Pflanzengeographie 201. pflanzengeographischer Pflanzengeographie Namen- und Sachregister Formenkette ı41. Formenkreis 134. Formverwandtschaft 56. fossile Pflanzen, Allgemeines 397. —, Deutung 396. —, Erhaltungsweisen 390, 399, 400. —, Untersuchungsmethoden 398. fossile Tierarten, Zahl derselben 365. fossile Tiere, Entdeckung und Fundstellen 367. —, Erhaltungszustand 358, 364. —, Rekonstruktion 359, 378. —, Systematik und Phylogenie 388. — , wissenschaftliche Bearbeitung 380. —, Zerrbilder in der Populärliteratur 393. fossile Tierreste, gewerbsmäßige Ausbeutung von Lagern solcher 373. — ın Landablagerungen 365. Fossilfunde, Entdeckung solcher 367. Fossilwerdung der Tierleichen 358. Eraas E. 342, 351, 377: — 0. 332, 351, 371. Fracastoro H. 313, 315. Freicine 371. Krie A343: Friedenthal 1350. Frösche 554. Fürbringer ı10, 114. funktionelles Wachstum 78. funktionslose Organe 56. Funktionswechsel 66. Furchenwale 390. G. Gärtner 8. Galapagos-Inseln 262. Galilei 317. Galton 19. Ganoiden 342. Gastropoden, fossile 333. Gastrula 453. Gattungsbastarde ıo. Gaudry A. 336. Gelocus 393. gemäßigte Zonen, Formationen derselben 251. geminate Spezies 46. | Gene 25. Generationswechsel (bei Pflanzen) 445. Genotypus ı3, 137, 139. Genus gg. Geobios 184. Geoffroy St. Hilaire ı, 28, 352. geographische Isolierung 83 | Geologie, Bedeutung derselben für die Bio- geographie 133 —, Einfluß derselben auf die Paläontologie 318. Gervais P. 338. Gesner RK. 314. Gewohnheitsrassen 155. Geyer G. 383. Namen- und Sachregister Gibbon 600. Giebel 338. Giganten 303. Ginkgoales, fossile 414, 429 Glazialflora, tertiäre 434 Glazialperiode 217. — , siehe auch unter Eiszeit. Gleicheniaceae, mesozoische 420. Glossopetren 314, 344: Glossopteris-Flora 413. Godin 371. Goeppert H.R. 347. Goethern, 28, 337, 352. Goette 461, 466. Goldfuß 330, 338. Goldschmidt 135. Gomphotherium 392. Gonoeöltheorie 484. Gordon 411. Gorilla 600. Gothan 416, 417, 429, 430, 433. Gradmann 212. Graptolithen 314. Graptolithus 388. Gras A. 330. Gray A. 123. Grisebach 192, 205. Grönlandswal 391. Grundgesetz, biogenetisches 64. Gulick 36, 46. Guericke O. 307, 360. Guettard 317, 328, 330. Gwynne-Vaughan 424. Gymnophionen 554. Gymnospermae 170, 446. Gymnospermen, mesozoische 420 H. Haberer K.A. 310, 311. Haberfelner L. 376. Haeckel 65, 99, 107, 459: Haie 3540. Haifischzähne 313, 344- Haime ]. 329. Halbaffen 598. Halbbären 580. Halbrasse 139. Halitherium 338, 586. Halle 398, 419, 424. Hallier 170, 432, 451. halophile Formationen 249, 251. Handlirsch A. 334. Hapale 599. Hartmann M. 456. Hartteile der Organismen, Erhaltungsfähigkeit derselben 364. Hatschek 466, 473, 477- Hatteria 558. Hauer Fr. v. 387. Hauff B. 374. Hausmannia 422. Heer ©. 347. ' Hekistothermen 228. Heliciten 328. Helmintholithen 314, 328, 329. Helmintholithus 388. Hemikryptophyten 199. Heincke 128. Herbart 8. Hertwig O. 464. — R. 464. Heterangium 410, 413. Heterogenesis 21. Heterosporie bei Calamites 406. heterozygot 13. Hexakorallen 329. Hilgendorf 127, 351. Hipparion 597. Hirsche 593. historische Erklärung 57, 59. Hochseepelagıal 298. Höhlenbär 308, 309, 321, 352, 366. Höhlenlöwe 321. Eloernes_ R. 332. MM. 387: Hofmann 370. Hofmeister W. 170. Hohlhörner 593, 594- Holarktıs 254. holarktische Region 28o. Holzmaden, Liasschiefer daselbst 370. homo diluvii testis 316. 317. homolog, Homologie 58, 108. Homophylie 67. homozygot 13. Hooker J. D. 172, 207. Huftiere 589, 595. —, fossile 353: Humboldt A. v. 187. Humusgesteine go1ı. Hundsaffen 399 Hutton J. 318. Huxley Th. 339, 341, 344 Hyaena fossilis 321. Hyaenarctus 580. Hyatt A. 331 hydatophile Formationen 249, 232. Hydatophyten 228. Hydrobios 184. Hydroctenia 465. Hydromegathermen 228. hydrophile Formationen 249, 252. Hydrophyten 228. Hydropterideae, mesozoische 426. hygrophile Formationen 250, 253. Hygrophyten ı82, 228. Aymenophyllaceae, Lias 420. 2 39" 612 Hyperoodon 389. Hypohippus 597. Hysterophyta 169. I. iberische Provinz 257. Ibn Sina 313, 315 Ichthyosaurier 360. Ichthyosaurus 374. Ichthyolithus 388. Idiomutationen 138 indirekte Anpassung 33. indo-malaiische Region 276. Induktion, parallele 32. Induktion, somatische 32, 79. Insektenabdrücke im Bernstein 364. Insekten, fossile 334, 364. Interglazialperiode 212, 218. intermediäre Vererbung 13. Intuskrustate 400. Irreversibilität der Entwicklung 357. Jsoötes, fossil 407, 409. Isolationstheorie 43 Isolierung, biologische 47. Isolierung, geographische 83 isolierte Arten 220. Isothermen 227. Jaeger G. 338. Jeffrey 429, 430 Johannsen 20, 139. Jordan, 41 95, 120, 143. Jost 117. Juan Fernandez 262. Jussieu 168. K. Kälte, Verhalten der Pflanzen gegen dieselbe 227. Kälteaberrationen 28. Känguruh 3578. Känguruhfuß, Entstehung desselben 334. Känozoikum 433. kalte Zonen, Formationen derselben 2;1. Kamele 589. Kammerer 29. Karbon, Flora 405. —, Pflanzengeographie 416, 417. Kataklysmenlehre 4, 324. Katakomben von Maastricht 370. Katastrophentheorie 324, 350. Kategorien des Systems 94. Kategorien, systematische, selben 109. Kategorien, systematische, Qualität derselben 115. Katzensteine 333. Merkmale der- Namen- und Sachregister Kaup J. J. 338, 349. Kaustobiolithe go1. Keimesvariation 24, 76. Keimfähigkeit, Dauer derselben 223. Keimplasma 24. Keimzellen 24 Keller 145. Kerguelen 262. Kerner a70, 212. Kidston 399, 410, 412, 424. Kiemenlurche 553. King W. 331. Kircher A..304, 384. Klaproth 311. Klebs 122. Klein]. Ih,"330. Kletterbeutler 578. Klimadifferenzierung im Mesozoikum 433 Kloakentiere 575. Klukia 423- Knight Ch. 379. Knochenfische 543. Knochenganoiden 543. Knorpelganoiden 3543. Knorr G.W. 317. Koadaptation 39. Köhlreuter 8. Kogia 339. kohärente Arten 220. Kohle, Entstehung goı. —, karbonische go1ı. —, tertiäre 401. Kohlengruben als Fossilquellen 372. Kohlenlager, Aufbau und Entstehung 402, 403 Kölliker 21. kombinierte Merkmale, Methode der k...n M. 130. kombiniertes System 102. Kompromißprinzip 132. Konspezies 134. Konstanz der Arten 323. Kontinuität des Keimplasmas 24 konvergente Züchtung 78. Konvergenzprinzip 126, 131 Kopalharz mit Insekteneinschlüssen 364 Koprolithen 53. Korallen 329. Korallenriffe, Fauna derselben 294, 329. Kormophyten 441, 444. — , Entwicklung derselben 445- — , Herkunft derselben 444. Korrelation der Organe 30, 53 ı Korrelationsgesetz Cuviers 335. Korschinsky 21. Kowalevsky W. 352, 357, 380. Kröten 534. Krokodile 562 Kryptogamen mit Dickenwachstum 409. ' Kryptophyten 199. Namen- und Sachregister 613 Kümmelsteine 328. Lophiomeryx 393. künstliches System ıoo. Lotsy ı71. Kulturrasse 140. Luchs 581. Kupfergruben als Fossilquellen 372. Lückenhaftigkeit der paläontologischen Über- Kyklopensage 303. lieferung 327, 352, 366. Lügensteine 315. L. Lungenfische 3545. Lacertilier 558. Lusus naturae 313. Laelaps 393. Lutriden 583. Lagenostoma 409, 428. Lycopodiales, karbonische 407. Lagerpflanzen 442. Lycopodites 407. Lamarck ı, 5, 106, 331, 352. Lyell 5, 350. Lamarckismus 37. Lyginopteris 409, 414. Lamettrie de 58. Lamiodonten 344. Landablagerungen, Fossilreste in denselben M. 365 Maastrichter Katakomben 370. Landfauna 266. Machaerodontiden 382. Lang 473, 477- Macropodiden 578. Lapides figurati 314. | madagassisches Gebiet 260 Lapides frumentarii 328. Magnus A. 313. Latreille 99. — W. ı51. Lawley R. 382 makaronesisches Übergangsgebiet 256. Lebensform 197, 199, 247. Mammont 311. Leibniz 307, 314. Mammut 306, 311, 320, 352, 367 —, Entdeckung desselben 367. Mammutknochen 378. Leidy J. 339, 382. Leitfossilien 318, 322, 350. Lemur 398. Mammutzähne, Abbau derselben 373. Lemuria 278. Marattiaceae, mesozoische 425. Lenticuliten 328. —, paläozoische gı1. Leonhard C. v. 308 Marchal 155. Lepidocarpon 409. Marder 580. Lepidodendron 405, 407 marine Biogeographie 184. — wortheni 417. marine Fauna 2$%g. Lepidosiren 546, 551. Markgraf 376. Leuckart R. 330. Marriam 131. Liasschiefer Schwabens 370, 374. Marsh ©. Ch. 339, 341, 3706. Licht (als pflanzengeographischer Faktor) 231. | Martius 192. Licht, Bedeutung desselben für dıe Verbrei- | Masofuera 262. tung der Meerestiere 2gı. Mastodon 588. Lichtgenuß 232. Mastodonsaurus 392. Ligula bei fossilen Zycopodiales und /soötes | Mastodonzähne 373. 497. Moatonieae, fossile 420, 421. ligurisch -tyrrhenische Provinz 257. Matthew W.D. 340. Liliensteine 329. Mazurier 305. Limulus 5oo. Mechanik, teleologische 35. Lindley J. 172. Mediterrangebiet 256. 4 Lindwurmsagen 303, 308. Medullosa 410, 413. Lingua 331. Meeresfauna 289. Linie (reine) 20, 141. Meeresströmungen, Bedeutung derselben für Linne 3,97, 166, 323. die Verbreitung der Meerestiere 290. Einoßteris 410, 415. Megaloxylon 413. Lionardo da Vinci 313, 315. Megatherium 352. Linsensteine 328. megatherme hygrophile Formationen 250. Liptobiolithe go1ı. Megistothermen 228. litorales Benthal 293 Mendel 12. litorales Pelagial 298. Menschen 601. Löffelstöre 343. Menschenaffen 599 Lonchopteris 410, 415, 416. Merian 306. 614 Merostomata, fossile 334. Merycodus 594. Meryhippus 397. Mesenchym 483. —, primäres 483. —, sekundäres 483. Mesenteron 475- Mesoderm 465, 482. Mesohippus 597. Mesophyten 228. Mesoplodon 3832, 389: mesotherme hygrophile Formationen 250. Mesothermen 228. Mesozoa 458. Mesozoikum, Flora 419, 432. —, Klimadifferenzierung 433. Metamerie, Ursprung derselben 488. Metaxytherium 5336. Metazoen 443. —, Ableitung von einer Flagellatenkolonie 453. — genetische Einheitlichkeit derselben 461. metroklin 14. Metschnikoff 460 Meyer H.v. 333, 341. Miadesmia 409. Migrationstheorie 42. Mikrothermen 228. Mimikry 38, 40. Minus-Varianten 19. Miller ]. S. 330. Millericrinus 312. Missing lınk 366. mittelamerikanisches Xerophytengebiet 261. mitteleuropäisches Gebiet 255 Mittelrasse 139. Modifikation 136 Möbius 92. Moeritherium 537. Mollusken, fossile 331 —, Phylogenie derselben 504. Molluskoideen 331. Molukkenkrebse 334. Monochlamydeae 170, 449- Monocotyledones 170. Monohybriden zı Monokotyledonen 450. monophyletische Deszendenz 75. monophyletische Entwicklung zoen 461. monophyletische Entwicklung der Pflanzen- welt 441. Monotremen 575. Monsungebiet 260. Montmartre-Säugetiere 325. morphologische Artmerkmale 148. — Periode der Paläontologie 349. Mosasaurier 560 Mosasaurus Hofmanni 371. Much R. 307. der Meta- | Namen- und Sachregister Müller Fr. 65. — ]J. 330, 344- Münster 330. Münzensteine 328. Munsterus S 308. Murray 168. Museen 373. Musteliden 580. Mutation 21, III, 137. Mutationstheorie 21. Miycetes 599. Myzophyta 171, 442. Myxothallophyta 171. N. Naegeli 48, 75, 113, 136. Nathorst 209, 398, 425, 426, 428, 430, 431, 433, 434- natürliches System 100 Naturspiele 313. Naupliustheorie 497. Neanderthalmensch 603. nearktische Region 28o. Nehring 211. Nekton 298, 299. Nemertinen, Beziehungen derselben zu den Wirbeltieren 533. Neo-Darwinianer 77. Neogaea 269. Neo-Lamarckisten 77. Nephrocöltheorie 485. Nervensystem der Echinodermen 523. Nesseltiere 464. Neumayr M. 93, 325, 331, 388. Neuropteris 410, 413, 415, 423 Neurotrochoid 474- neuseeländisches Gebiet 262. Nilsson 22. nördliches extratropisches Florenreich 254. Nomenklatur regeln) 94- Nomenklatur, quaternäre 143. Nomenklatur, ternäre 143. Nonruminantia 589. | Nopcsa F. v. 342. nordafrikanisch-indisches Wüstengebiet 239. norddeutsches Tiefland (florengeschichtlich) ZH Nothosauriden 560. Notogaea 266. Notoryctes 579 Nummi lapidei 328. Nummuliten 323. Nuttall 152. O. Odontopteris 415. Oeder 168 Ökologie 194, 198. | ökologische Merkmale 154. Namen- und Sachregister 615 ökologische Pflanzengeographie 198. Palaeotaxus 431. ökologisch-physiologische Pflanzengeographie | Palaeotherium 324. 197- paläotropisches Florenreich 259. Ohrenrobben 533. Paläozoologie 303, 364. Oken 5, 123. —, siehe auch unter ‚fossile Tiere‘, Oliver 409, 412. —, Einfluß derselben auf die Systematik 388. Oltmanns 171. —, Geschichte derselben 303. Olynthus 463. —, Quellenmaterial derselben 364 Onychiopsis 421, 422. paläozoologische Systematik 390. Orang 600. palingenetisch 73. Orbicula 331. Pander Chr. 337, 344. Orbigny A.d’4, 324, 328. Panzeralgen 442. Ordo 99. Panzerfische 344. Organısmen (als pflanzengeographische Parahippus 397. Faktoren) 241. Parallelinduktion 32. orientalische Region 276. parasitische Rückbildung 71. Ornithischia 362. Parasuchia 363. Ornitholithen 314. Parenchymellahypothese 460 Ornitholithus 338. Pariser Becken, Fauna desselben 319, 325. Orohippus 395. Parkinson J. 321. Orthoceratiten 321. Patriocetus 390. Orthogenesis 42, 48. patroklin 14. Osborn H. F. 340, 353. Pauly 28, 35. Osmundaceae, karbonische 411. pazifisches Nordamerika 258. —, mesozoische 424. Pecopteris Pluckeneti 410. Osmundites 424. | Pecora 589, 593. Ostaffen 599. Pectunculussand von Antwerpen 381. ostchinesisches Übergangsgebiet 261. Pelagial 293, 297. Östraziten 314. Pelmatozoän 330. oszillierende Variabilität 18. | Pelourde grı. Ottern 531, 583. Pelycosaurier 557. Owen R. 338, 341, 381. Pentacrinus 330. ozeanisches Florenreich 263. Pentamerie der Echinodermen 322. Perameliden 578. BR: Perennibranchiaten 553. Pachynolophus 595. Periode, sensible 33. paläarktische Region 280. Perissodactylen 595. Paläichthyologie 344. ı Permflora 417. Paläobiologie 361. ı Permokarbonische Eiszeit 418, 419. Paläobotanik 396, 346. Personalanpassung 35. Persoon 168. Deters.R. 342. Petersberg bei Maastricht, Schreibkreide des- —, siehe auch unter ‚fossile Pflanzen“. —, Geschichte derselben 346. Palaeomastodon 537. Paläontologenschulen 337. | selben 370. Paläontologie 303. Petrefakten 314. —, als Zweig der Geologie 319. Petrefaktenkunde 326. —, Bedeutung derselben für die Abstammungs- | Petrefaktensammler, berufsmäßige 376. lehre 349. | Pferde 595 - —, Bedeutung derselben für die Biogeographie | Pflanzenformationen, Übersicht derselben 249. 183. | —, Veränderungen derselben 203, 242. paläontologische Publikationen 385. ı Pflanzenformen 246. — —., populäre 3g1- | Pflanzengeographie 187. paläontologische Sammelexpeditionen 376. — im Karbon 416. — Sammlungen 377. pflanzengeographische Faktoren 222. — Stammbäume 55. — Formationen 246. — Überlieferung, Lückenhaftigkeit derselben | — Gliederung der Erde 2354. 3270352, 306. | Pflanzenreich, Ursprung desselben 441. — Urkunden 52. | Pflanzentiere 464. Palaeoprionodon 581. ı Pflanzenvereine 198. 616 Namen- und Sachregister Pflanzenwelt, Entwicklung derselben 441. Pflüger 35. Phaciten 328. phänologische Beobachtungen 226. Phänotypus 13. Phaeophyta 171, 442. Phagocytellahypothese 460 Phalangisten 578. Phanerophyten 199. phyletische Präformation 75. phylogenetische Beweise 352. — Pflanzengeographie 213. — Systematik 3gı. — — (im Verhältnis zur Florengeschichte) 206. phylogenetische Systeme 439. Phylogenie 5ı, 106. — der Kormophyten 444. — der Pflanzen 439. — der Pilze 443. — der Tiere 453, 530. — der Wirbellosen 453. — der Wirbeltiere 530. Physeter 339. Physeteridae 339- physikalisch-physiologische Pflanzen- geographie 195- physiognomische Grundgestalten 246. physiological species 155. physiologische Artmerkmale 148. — Erklärung der Organisation 56. — Pflanzengeographie 194. Physostoma 412. Phytographie 167. Phytolithus 383. Pickering 192. Pıkermi, Entdeckung -der dortigen Fossilfund- stelle 368. Pilsbry 102. Pilzblumen 444. Pilze 443. Pinakodendron 407. Pinnipedier 582. Pithecanthropus 603 Placodermen 338. Placulatheorie 461. Plankton 298, 300 Planorbis steinheimensis 351. Plate ı20, 166. Plater F. 305. Plattenkalke Bayerns 363, 369, 374.- Platyrrhinen 5399. Plesiosaurier 360. Pleuromeia 417, 420. Pleurotomen des Wiener Beckens 332. Pliauchenia 392. Plinius 308, 314 Pluralvariation 140. Plus-Varianten 19. Poöbrotherium zg1. Poll ıo0. Polyhybriden 51. polyphyletische Deszendenz 735. — Entwicklung der Metazoen 461. — — der Pflanzenwelt 441. Polypodiaceae, mesozoische 422. pontische Provinz 256. Popularisierung der Paläozoologie 391. Population 20. PotoniE H. 348, 401, 402, 409. Pottwale 389. Pottwalzähne 314. Präformation, phyletische 75 Präzipitinreaktion 132. praktisches System 100. prıimäres Mesenchym 483. Primaten 598. Primoftlices gı1, 412, 413. Prioritätsgesetz 97. Proaelurus 5331. Procamelus 392. Procyoniden 580. Progression, Prinzip der P. 48, 75 Prorozibhius 382 Prosimiae 398 Protocetus atavus 366, 391. Protohippus 597. Protolabis 392. Protoßhyta 169. Protopityeae 413. Protoplasma 16. Protoßteris 421. Protoßterus 546, 551. Protostomia 469 Prototroch 468. | Protozo@n 453. | Protrochula 475. | Protyloßus 390. | Pseudaelurus 580. ı Pseudanthienlehre 448 Pseudobornia 404: Pseudometamerie 494. | Pseudopus Pallasi 308. | Psygmophyllum 405, 413, 414. Pteranodon 327, 393- Pteridotheca 422. Pteridosbermae 409- | Pterodaciylus 392, 393- | Pterosaurier 363. Q. Quenstedt 309, 330, 331, 375- | Quetelet 19 R. Radiolarien 328. Rädersteine 329. | Ramann, Einteilung der Böden 238 Raritäten-Kabinette 377. BR Namen- und Sachregister Rasse 140. Raunkiaer 199. Bay I 3, =2ı. Regeneration, zweckmäßige 27. Regionen, tiergeographische 177, 266. Regression 20 Reiche, pflanzengeographische 177. — , tiergeographische 266. Reichenbach H. G. L. 172. Reid C. und E. 434. Reihen, paläontologische 354. Reihen der Dikotyledonen 451. reine Linien 20. rekonstruierte Landschaftsbilder 392. Rekonstruktionen fossiler Tiere 359, 378, 392. Renault 348, 397. Renier 399. Reptilien 355. — , Entstehung derselben 343. —, fossile 341. Retrogression 126. Revolutionstheorie 324. rezessiv 12. reziproke Bastarde ı3. Rhamphorhynchus 392, 393- Rhinoceros antiguitatis 321. Rhinostodes 33ı, 382. Rhodophyta ı71, 442. Rhynchocephalen 337. Richardson 318. Richter 423. Riese Antigonus 369. Riesenfaultier 337. Riesenknochen 305, 368. Riesenmolch von Öningen 317. Riesensagen 303. Riese von Krems 305, 368. Riese von Luzern 305, 368. Rippenquallen 465. Rochen 540. Roemer 168. Rosen F. ı71ı. Rotalgen 442 Rottotliegendes 372. Roux 33. Rückbildung, parasitische 71. Rütimeyer L. 339. Rudisten 333. Rufordia 423. Ruminantia 339. Sachs ]J. 171. Säugetiere 574. Sagenoßteris 426. Salamander 353. Salısbury 412. Sammelexpeditionen, paläontologische 376. Sammlungen, paläontologische 377. 617 Sammlungen, regionale, von Fossilien 379. | Sandberger F. 333. St. Paul 263. | Sandwich -Inseln 261 Sapropelite 401. Sargassosee 298 sarmatische Provinz 256. Saurier 309, 558. Saurischia 362. Sauropterygia 360. Scaldicetus 389. Scheiner 16 Schenk A. 346. Scheuchzer 316. Schieferöl 370. Schildkröten 5365 Schimpanse 600. Schimper W. Ph. 346. Schizaeaceae, mesozoische 423. Schizaeopsis 423. Schizaeopteris mesozoica 424 Schizophyta 171, 442. Schlangensterne 330. Schlangenzungen 344. Schleimpilze 442. Schlosser M. 311, 339. Schloßsteine 333. | Schlotheim 321, 322, 347; 396. ı Schnabelwale 389. Schnecken, fossile 333. | Schneckensande von Steinheim 351. | Scholastiker 313. | Schouw ıgı. | Schreckfarben 39. Schreibkreide des Petersberges bei Maastricht 379. Schröder 32. Schröter J S. 320. Schultes 168. Schulz A. 212. Schwachrassen 139. Schwämme (Spongien) 463. Schwalbensteine 344. Schwalbenzungen 344. | Schwanzlurche 553. Schweine 389. | Schwendener S. 171. | Scilla A. 316. | Scott 412, 413, 428, 435. | Scyphula 466. Sectio 99. Sedgwick 493. Seehunde 5833. Seeigel 329, 330. Seekühe 386. Seelilien 329, 330. Seesterne 330. Segmentierung 488. sekundäres Mesenchym 483. ‚618 Selachier 538. Selaginellites 407- Selektionslehre Darwins 36. Selektionswert 39. Selenka 43. Semon 33. Senefelder 369. Senftenbergia elegans 423. sensible Periode 33. Sepienschnäbel 321. Seward 420, 421, 423, 429. Sharpe ı1o. Sigillaria 405, 407, 408. Silurflora 404. single Variations 18. Singularvariation 140. Sintflut 316. Sirenen 586. skandinavische Flora, Entwicklung derselben 209. Skorpione 500. Smilodon 582. Smith W. 318, 322, 349. Smithsche Schichttabelle 319. Smith-Woodward A. 345. Sollas 329. Solms-Laubach 348, 423. Solnhofener Plattenkalke 363, 369. Soma 24. Somation 136. somatische Induktion 32, 79. somatische Umbildung 28. somatische Zellen 24. somatogene Umformungen 77. Sommerform 29. sonorische Region 282. Spalten ı2. Spaltpflanzen 442. Species gg. Spencer 37. Spezialisationskreuzungen 3354. Sphenodon 358. Sphenophyllum 404, 405, 406, 407. Sphenoßteris Höninghausi 410, 413 Sphenula 475. Spielart 125. Spinnen, fossile 334. Spongien 328, 461. —, fossile 345. sports 21. Sprengel A. 347. Sproßpflanzen 441, 444. sprungweise Variation 21. Squalodonten 585. Squalodontidae 390. Stachyolaxus 431. "Stämme des Pflanzenreiches 171. Stammbäume 82, 106, 439. Stammbäume des Menschengeschlechtes 356. | Namen- und Sachregister Stammesgeschichte 106. Standfuß 9, 134. Steenstrap 209, 491. Stegocephalen 343, 553, 556. Steinheim, Valvatenreihe von St. 351. stenotop 220. Steppenperiode in Mitteleuropa 211. Sternberg Ch. H. 376. — K.M. Graf 347, 396. Stigmaria 408. Stigmaria-Bank 402. Stigmariopsis 408. Störe 543. Stomodaeum 466. Stratigraphie 319. stratigraphische Periode der Paläontologie 349. Strobiluslehre 449. Stürtz B. 375. Stufenreihen 354. subarktisches Gebiet 255. subatlantische Provinz 255. Subspezies 133. subtropische Zonen, Förmationen derselben 249. subxerophile Formationen 250, 253. Subxerophyten 229. Succus lapidescens 314. ' südamerikanisches Florenreich 261. südatlantische Inseln 260. südjapanisches Übergangsgebiet 261. , südwestliches Kapland 260. | sueß E. 307, 331, 387. superfizielles Pelagial 293, 298. sympathische Färbung 38. Sympetalae 170, 451. synthetisches System 102. System, analytisches 102. kombiniertes 102. — , künstliches 100, 166. morphologisches 166. —-, natürliches 100, 166. —, phylogenetisches 166, 439. —, praktisches 100, 166. ı —, synthetisches 102. wissenschaftliches 100, 166. Systema naturae 97. Systematik g2, 165 \ —, Unterschied der zoologischen und der pa- läozoologischen 390. systematische Kategorien 98. — —, Merkmale derselben 109. — —., Qualität derselben ı15. systematisch entwicklungsgeschichtliche Pflanzengeographie 218. | System der Pflanzen 165, 439. | System der Tiere 92, 453, 530. F Taeniopteris 425. Taxaceae, fossile 431. Namen- und Sachregister Taxodieae, fossile 430, 431. Tazzelwurmsage 308. teleologische Mechanik 35. Teleosauren 563. Temperatur, Bedeutung derselben für die Verbreitung der Meerestiere 2go. temperiertes Ostasien 258. Tendaguru-Expedition 377. Tentaculata 469. Terebratula 331. Tertiär, Eiszeit 434. Tertiärflora 213, 433. Tetrabelodon 334. Tetrakorallen 329. Teufelsfinger 333. Thallodea 171. Thallophyllodea 170. Thallophyten 171, 441. Thaumatopteris 422, 423. Therapsiden 564, 574. Theriodontia 364. thermische Vegetationskonstanten 226. Therocephalen 575. Therophyten 199. Thinnfeldia 425. Thinopus antiquus 365. Thiselton-Dyer 193. Thomas 421, 424. Thyrsopteris 421, 422. Tieghem P. van ı7o0. Tiergeographie 264 tiergeographische Reiche 266. Tierwelt, Entwicklung derselben 433. Tilesius 328. Titanen 305. Todites williamsoni 424. Tornaria 469 Totenkopfmuschel 331. Totliegendes 372 Tower 23, 29, 49. Townsend 318 Traguliden 593. transgressive Variabilität 122. Traquair R H. 344. Trıbus 99. Trilobiten 317, 334 Tristan da Cunha 263. Trochiten 329. Trochophora 466, 479. Trochophoratheorie 476 tropisches Amerika 261. tropische Zone, Formationen derselben 249. Türkis, künstlicher 373. Tunieaten’ 525, 532, 535. Turbellarien 476, 508. Turbellarientheorie 476. Tylopoda 589. Typus 99. 619 U. | Überflutungen, periodische, in vorhistorischer KZeit)3ry. Übergangsformen 81, 366. Unger ]J. 205, 347. Unicornu fossile (verum) 307, 360. units 25. Unterart 133. Unveränderlichkeit der Arten 323. Urodelen 553. Ursiden 380. Ursprung der Kormophyten 444. Ursprung der Metazoen 453. Ursprung des Pflanzenreiches 441. Ursus spelaeus 321. Urvogel 366, 374. Urwale 390. Urzeugung 75. V. Valentini 307. Valvatenreihe von Steinheim 351. Van Tieghem ı7o0. Variabilität, fluktuierende ı8, 19. —, oszillierende 18. —, transgressive 122. Variation 124. —, bestimmte 17. —, diskontinuierliche 21. —, individuelle 17. —, sprungweise 21. — , unbestimmte 17. Variations, single 18. Varietät 6, 125. Varietas gg. vegetationsbiologische Pflanzengeographie 201. Vegetationsformation 246. Vegetationskonstanten, thermische 226. Verbreitung, aktive 179. Verbreitung, diskontinuierliche 183. —, passive 179. — , Schranken derselben ı81. Verbreitungsgebiete der Meerestiere 292. Verbreitungsmittel der Pflanzen 179, 223. — der Tiere ı79. Verbreitungsschranken 181. Vererbung, alternative, bei Varietäten ı2. —, intermediäre, bei Arten 13. vergleichende Anatomie als Grundlage der Paläontologie 358. Verwandtschaftsreaktion, biochemische 1351. vikariierende Arten 44. Vinci, Lionardo da V. 313, 315. Virtus formativa 313. Vis plastica 313. Viverriden 581. vivipare Säugetiere 576. Vögel 566. — , fossile 343. 620 Vogelzungen 344. Volta 344. Volvox 455. vorderindisches Gebiet 260. iVries.H.de>1, 711, 132. W. Wärme (als pflanzengeographischer Faktor) 226. Wagner A. 368. — M 43, 46, 182. Wahlenberg 190. Walch J. E. I. 317. Walchia 429. Wale 584. —, fossile 338, 390. Walrosse 583. Walther J. 363. Wanderpflanzen 220. Warming E. 172, 198. Weber 211, 434- Weichselia mantelli 420, 425. Weismann 24, 30. Weldon 40. Weltrichia 427. Werner A.G 318. Westaffen 599. Wettstein 100, 170, 171, 432. Wiederkäuer 589 Wieland 426, 427, 428. Wielandiella 427, 428, 432. Wiesner 232. Willdenow 168, 188. Williamson 328, 397. Williamsonia 427. Wind (als pflanzengeographischer Faktor) 233. Winter G. 171. Winterform 29. Wirbellose, Phylogenie derselben 453. Wirbeltiere, Ableitung derselben 532. Namen- und Sachregister Wirbeltiere, fossile 335. — , Phylogenie derselben 530. Wirfelsteine 312. wissenschaftliches System ıoo. Wombat 578. Woodward 123, 316, 334. Wuchsformen 247. X. Xenophanes 315. xerophile Formationen 251, 254. Xerophyten 182, 229. Xerothermen 228. xerothermische Periode 212. Z. Zahntürkise von Simorre 373. Zahnwale 390, 584. Zechstein 372. Zeiller 420, 423. zentralasiatisches Gebiet 257. zentral-undsüdamerikanischesFlorenreich 261. Zeuglodonten 3584. Zielstrebigkeit des Organismus 48. Ziphius 381, 382, 389. ZittelR Ar v. 321, 3206,2329, 34%: Zoolithen 314. Zoolithus 388 Zuchtwahl, künstliche 18. —, natürliche 19. Züchtung, konvergente 78. Zungensteine 344- zweckmäßige Anpassung 26 | zweckmäßige Regeneration 27. Zwergelefanten 304. Zwischenformen 366. Zygophyta 171, 442. Zygopterideae 411. Druckfehlerberichtigung. Seite 5o lies d) Einfluß der Bastardierung usw. anstatt c) Einfluß der Bastardierung usw. ” 59 „ ’ 79 „> lehre. 12 83 » a) Morphologische Beweise statt I Morphologische Beweise. b) Systematik und Abstammungslehre anstatt d) Systematik und Abstammungs- c) Biogeographie anstatt III. Biogeographie, Druck von B.G. Teubner in Dresden. FE IS Es Du Na Er NR a R b Ne ar x "un ” un 22 I en y ie a TE 2 Te RES 2 I 4 ag 2 PUITER Te er eo SR 4 ‘ x - he sp yruack u > u: z K Ne vet, De Re 1a 3 N 2 ee E - RETTEN & ur : 25 3 male Fa \- y8 = = EN z ai e DREH r Br en Se 4 } f\ + E BT BECHBT E Erz a 23 r En Gt BES VER ENR ER KANN 1a ENT TRATEN EEE Bere RZ Rue AN { & REISE € ? ACHTE BR H n Hay % Pi? Ep Karo RR . 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