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ALLGEMEINE

PHYSIOLOGIE.

EIN GIIUNDRIS8 DER LEHRE VOM LEBEN

VON

MAX VERWORN,

DK. MED. ET PHIL.,

A. O. PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER MEDICINISCUEN FACULTÄT

DER UNIVERSITÄT JENA.

MIT 285 ABBILDUNGEN.

ZWEITJi;, NEU BEARBEITETE AUFLAGE.

JENA,

VERLAG VON GUSTAV FISCHER.

1897.

DEM ANDENKEN

AN

JOHANNES MÜLLER

DEN MEISTER DER PHYSIOLOGIE

WIDMET DIESE BLÄTTER

EIN PHYSIOLOGE.

Digitized by the Internet Archive

in 2010 with funding from Columbia University Libraries

http://www.archive.org/details/allgemeinephysioOOverw

Vorwort zur I. Aufläse.

Di

Der Elementarbestandtheil aller lebendiseD Substanz und das Substrat aller elementaivn Lebenserscheinungen ist die Zelle. Wenn daher die Physiologie in der ErkJänmg der Lehtnserst-hei- nungen ihre Aufgabe sieht, so kann das liegt auf der Hand die allgemeine Physiologe nur eine CellularphTsiologie sein.

'ie Entwicklung der modernen Physiologie ist an einem Punkte angelangt, wo ihre Probleme mehr und mehr beginnen, mit Entschiaien- heit eine Verfolgung in der Zelle zu fordern. Immer deutlicher zeigt sich uns in der physiologischen Forschung die Thatsache. dass die allgemeinen Probleme des Lebens bereits in der Zelle enthalten sind, dem elementaren Substrat, das allem Leben auf der Erdobeiiläche zii Grunde liegt. Dieser umstand ei-weckte in mir die Absieht, die allgemeinen Probleme und Thatsachen, Theorieen und Hypothesen vom Wesen des Lebens, die bisher nie eine ausführlichere Zusammenfassung erfahren hatten, nach cellularphysiologischen Gesichtspunkten in ein- heitlicher Weise zu bearbeiten . um so den Gnmdriss eines Gebietes zu entwerfen, in das sämmtliche Zweige der speciellen Physiologie ein- münden. Ich habe daher im vorliegenden Buche den Vei-sueh ge- macht, die allgemeine Physiologie als allgemeine Cellular- physiologie zu behandeln.

Indem ich dieses Unteniehmen dem Andenken Johannes Müller's widmete, wollte ich nicht bloss dem Danke Ausdruck geben, den wir alle dem Wirken itnseres erhabenen Meisters in der Physiologie schuldig sind, ich wollte vor Allem den Standpimkt damit andeuten, den ich stets in meiner Forschung mit Energie zu vertreten bestrebt war. das ist der vergleichend-physiologische Standpimkt Joh-VXNts Müller's. Die vergleichende Behandlungsweise physiologischer Pi-obleme, welche die Forschung unseres Meisters so ausserordentlich fruchthir gestaltete, ist leider nach seinem Tode der Physiologie, als sie sich mehr und mehr in die speciellen Probleme des menschlichen Köi-pei-s vertiefte, abhanden gekommen. Allein jetzt, wo sich immer mehr zeigt, dass der L'mfang des gebräuchlichen Arbeitsmaterials zu eng wird für die Austiehnung, welche die physiologischen Piobleme auch auf diesen Gebieten anzu- nehmen beginnen, verlangt die Physiologie wieder dringender nach einer vergleichenden Behandlung, um schiefen und falschen Yenillgemeine- rungen aus dem Wege zu gehen imd sich fieier weiter zu entwickeln.

YJ Vorwort.

Aus diesem Grunde scheint es mir unerlässlieh, auf die Forschungs- weise Johannes Müller's zurückzugreifen, und aus diesem Grunde widmete ich die folgenden Blätter den Manen des grossen Physiologen.

Der Plan des vorliegenden Buches nahm zuerst festere Gestalt an auf einer Studienreise, die ich im Jahre 1890 zum Zwecke ver- gleichend-physiologischer Untersuchungen nach verschiedenen Punkten des Mittelmeeres und des rothen Meeres unternahm. Meine Uuiversitäts- vorlesungen in Jena l)oten mir nach meiner Rückkehr Gelegenheit, das Material zum ersten Male im Zusammenhang darzustellen. Trotzdem hlieb mir die Hauptmasse der Arbeit noch übrig, als ich im Sommer 1892 mit dem Manuskript des Buches begann. Obwohl ich mich seit nahezu zehu Jahren vorwiegend mit den Problemen der allgemeinen Physiologie beschäftigt und mich in einer Reihe von Arbeiten bemüht habe, Beiträge zur Lösung allgemein-physiologischer Fragen zu liefern, so war doch mit dem Zusammenschatfen, Nachprüfen, Auswählen, Ver- vollständigen und Anordnen des vielfach sehr zerstreuten Materials eine so grosse Arbeit verbunden, dass das Buch nur langsam vorwärts rückte. Dabei waren die Empfindungen, die mich während der Abfassung der ein- zelnen Abschnitte begleiteten, sehr wechselnd. Vielfach stellten sich Momente der Sorge ein, ob der Erfolg im Einzelnen der Begeisterung und Liebe, mit der das Ganze unternommen war, entsprechen würde. Allein hier kann nur die Kritik der Fachgenossen die Entscheidung treffen. Es liegt auf der Hand, dass ein Buch, welches ein bisher nie einheitlich behandeltes Material zum ersten Male unter bestimmten Ge- sichtspunkten zu einem eigenen Gebiete zusammenfasst, nicht gleich bei seinem ersten Erscheinen etwas Vollkommenes bieten kann. Ich gebe mich daher nicht der Illusion hin, dass mir das auch nur annähernd gelungen sei. Vielmehr bin ich fest überzeugt, dass sich hier und dort mancherlei Fehler und Irrthümer eingeschlichen haben, die ich meine Fachgenossen freundlichst zu verbessern bitte.

Eine besondere Genugthuung aber hat es mir gewährt, dass einer meiner amerikanischen Fachgenossen, Prof. Fkederic S. Lee aus New- York, in einem Vortrage auf der Versammlung amerikanischer Natur- forscher und Aerzte gleichzeitig mit mir dies(^lben Ideen über die Forde- rungen der modernen Physiologie entwickelt hat, wie sie im ersten Kapitel dieses Buches von mir ausführlich begründet und bereits an anderen Orten, hauptsächlich aber in einem Artikel des „Monist" (Chicago) ausgesprochen worden sind.

Bei der Darstellung des Stoffes wurde hauptsächlich Werth auf eine leichtverständliche und nicht allzu ermüdende Sprache gelegt. Diese Forderung tritt immer auf, wenn man die in einem Buche nieder- gelegten Ideen einem weiteren Leserkreise zugänglich machen will. Das war hier der Fall. Ich wollte ein Buch schreiben , das sich zwar zu- nächst an meine engeren Fachgenossen wendet und ihnen neben einigen neuen Thatsachen und Ideen vor Allem eine Zusammenfassung des bisher zerstreuten Materials bieten sollte, aber zugleich ein Buch, das jedem naturwissenschaftlich gebildeten Leser, der sich für den Gegen- stand interessirt, sei er Arzt oder Philosoph, sei er Botaniker oder Zoolog, einen Ueberblick über die Probleme und Thatsachen, Theorieen und Hypothesen des Lebens geben sollte, ein Buch schliesslich, das den Studenten der Medicin und Naturwissenschaft in das Wesen der allgemeinen Physiologie einführen und ihm die für sein Studium wich- tigen theoretischen Vorstellungen dieses Gebietes liefern sollte. Es

Vorwort. VH

war si'liwieiiK , iHcser vielseitigen Absicht geivcht /ii werden und nui' dann niüglich, wenn eine Sprache zur Verwendung kam, die jedem Gehihleten verständlich ist. In wie weit es mir gelungen ist, meine Absicht zu erreichen und für so verschiedene Ansprüche etwas Biauch- bares zu liefern, kann nur das Urtheil des Lesers entscheiden, den ich um eine nachsiclitige Kritik ersuche.

Schliesslich fühle ich micli verpflichtet, allen meinen Freunih'ii, die au der Entstehung, Entwicklung und Vollendung meines i'lanes einen regen Antheil genommen haben, sowie besonders Herrn Gustav Fischer, der mir bei dem Verlage und der Ausstattung des Buches mit grosser Liberalität entgegengekommen ist, meinen verbindlichsten Dank zu sagen.

London, den 4. November 1894.

Der Verfasser.

Vorwort zur II. Auflage.

Indem ich die zweite Auflage der Oeffentlichkeit übergebe, drängt es mich vor Allem, meinen wärmsten Dank auszusprechen für die ülier- aus günstige Aufnahme, welche das Buch bei seinem Erscheinen von Seiten der Leser und speciell von Seiten der Kritik gefunden hat. Besonders bin ich auf das Freudigste überrascht gewesen durch die Wahrnehmung, dass dieallgemeinePhysiologie nicht bloss in den Kreisen der theoretischen Naturforschung, sondern grade auch in den Kreisen der praktischen Medicin das lebhafteste Interesse und die reichste Anerkennung geerntet hat, wie mir nicht nur die zahlreichen brieflichen und mündlichen Zustimmungen, sondern vor Allem die Kritik der Fachzeitschriften des In- und Auslandes gezeigt haben. Ich erblicke darin mit grosser Genugthuung ein Zeichen, dass die praktische Medicin unserer Zeit die eminente Bedeutung richtig er- kannt hat, welche die allgemein-physiologischen Erfahrungen über das Leben der Zelle für das Verständniss der physiologischen und patho- logischen Erscheinungen im Zellenstaat des menschlichen Körpers be- sitzen. In dieser Ansicht werde ich um so mehr bestärkt, als ich mit besonderer Freude constatireu kann, dass die Zahl der cellularphysio- logischen Arbeiten sich in den letzten Jahren ungewöhnlich gesteigert hat. Ich bin daher bemüht gewesen, in der zweiten Auflage die wich- tigeren unter den neuen Erscheinungen zu berücksichtigen. Leider habe ich dabei in Rücksicht auf den Umfang des Buches manches Neue kürzer behandeln müssen, als es mir lieb war, und manches Alte einschränken müssen, was in der ersten Auflage einen breiteren Raum einnahm , aber ich glaube dennoch durch Einfügung einer beträcht- lichen Zahl neuer Figuren und Ersetzung mangelhafter durch bessere die lebendige Anschauung wesentlich erleichtert zu haben. Im übrigen gebe ich mich auch bei dieser zweiten Auflage nicht der Illusion hin, dass sie frei wäre von Fehlern und Mängeln; aber ich denke, dass jeder objective Kritiker die grossen Schwierigkeiten bei der Behandlung

YIIX Vorwort.

eines so ausgedehnten Materials anerkennen und die Irrtliümer nach- sichtig beurtlieilen wird. Für den freundlichen Hinweis auf einzelne Mängel und Irrthümer in der ersten Auflage bin ich meinen Kritikern aufrichtig zu Dank verpHichtet. Ich habe mich bemüht, dieselben, so- weit es sich um thatsächliche Fehler handelte, in dieser Auflage zu berichtigen, und soweit dabei Auffassungs- oder Standpunkts-Differenzen zu Grunde lagen, dieselben nach bestem Wissen und Gewissen zu würdigen.

Eine Englische sowie eine Italienische Uebersetzung der „allgemeinen Physiologie" sind im Erscheinen begriffen. Eine Russische Ausgabe ist bereits vor längerer Zeit erschienen, doch sehe ich mich leider genöthigt, die Verantwortung für die letztere durchaus ab- zulehnen, da dieselbe gänzlich ohne mein Vorwissen publicirt worden und bisher weder meinem Herrn Verleger noch mir zu Gesicht ge- kommen ist.

Schliesslich möchte ich nicht unterlassen, Herrn Dr. Gustav Fischer auch für seine liebenswürdige Mühe wegen der zweiten Auf- lage meinen wärmsten Dank zu sagen.

Jena, physiologisches Institut der Universität im Juni 1897.

Der Verfasser.

Inhaltsverzeicliiiiss.

Erstes Capitel: Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung 1

I. I) as Pro bluiu der ]'liy siologie '•)

II. Die Entwicklungsgeschichte der ]) hy si ologiscli(!ii

Forschung . . . 7

A. Die älteste Zeit. ß. Das Zeitalter Galen's. C. Das Zeit- alter Harvey's. D. Das Zeitalter Haller's. E. Das Zeitalter Johannes Müller's. III. Die Methodik der physiologischen Forschung 29

A. Das bisherige Ergebniss der physiologisclien Forschung.

B. Das Verhältniss der Psychologie zur Physiologie. 1. Die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens. 2. Korperwelt und Psyche. 3. Psychomonismus. C. Der Vitalismus. D. Cellularphysiologie.

Zweites Capitel: Von der lebendigen Substanz 57

I. Die Zusammensetzung der lebendigen Substanz .... 58 A. Die Individualisation der lebendigen Substanz. 1. Die Zelle als Elementarorganismus. 2. Allgemeine und specielle Zellbe- standtheile. 3. Mehrkernige Zellen und Syncytien. B. Die morphologische Beschaffenheit der lebendigen Substanz. 1. Form und Grösse der Zelle. 2. Das Protoplasma, a. Die geformten Bestandtheile des Protoplasmas, b. Die Grundsubstanz des Proto- plasmas. 3. Der Zellkern oder Nucleus. a. Die Gestalt des Zell- kerns, b. Die Substanz des Zellkerns, c. Die Structur des Zell- kerns. — C. Die physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. 1. Die Consistenz der lebendigen Substanz. 2. Das specifische Gewicht der lebendigen Substanz. 3. Die optischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. D. Die chemischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. 1. Die organischen Ele- mente. 2. Die chemischen Verbindungen der Zelle, a. Die Ei- weisskörper. b. Die Kohlehydrate, c. Die Fette, d. Die an- organischen Bestandtheile der lebendigen Substanz, e. Die Ver- theilung der Stoffe auf Protoplasma und Kern.

II. Lebendige und leblose Substanz 121

A. Organismen und anorganische Körper. 1. Morphotische Unter- schiede. 2. Genetische Unterschiede. 3. Physikalische Unter- schiede. 4. Chemische Unterschiede. B. Lebendige und leb- lose Organismen. 1. Leben und Scheintod. 2. Leben und Tod.

Drittes Capitel: Von den elementaren Lebenserscheiuungen 141

I. Die Erscheinungen des Stoffwechsels 143

A. Die Aufnahme von Stoffen. 1. Die Nahrungsstofte. 2. Der Modus der Nahrungsaufnahme von Seiten der Zelle. B. Die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe. 2. Extracellulare und intracellulare Verdauung. 2. Die Fermente und ihre Wirkungs- weise. 3. Assimilation und Dissimilation, a. Assimilation, b. Dissi- milation. — C. Die Abgal)e von Stoffen. 1. Der Modus der Stoff- abgabe von Seiten der Zelle. 2. Secret- und Excretstoffe. a. Se-

crete. b. Excrete.

**

X Inhaltsverzeichniss.

Seite

II. Die Erscheinungen des Formwechsels 183

A. Die phylogenetische Entwicklungsreihe. 1. Die Vererbung. 2. Die Anpassung. B. Die outogenetische Entwicklungsreihe.

1. Wachsthuni und Fortpflanzung. 2. Die Formen der Zell- theiliing. a. Die dii-ecte Zelltheilung. b. Die indirecte Zell- theilung. 3. Die Befruchtung. 4. Die Entwicklung des vielzelligen Organismus.

111. Die Erscheinungen des Kraftwechsels 213

A. Die Formen der Energie. B. Die Einfuhr von Energie in den Organismus. 1. Zufuhr chemischer Energie. 2. Zufuhr von Licht und Wärme. C. Die Energieproduction des Organis- mus. 1. Die Productiou mechanischer Energie, a. Passive Be- wegungen, b. Bewegungen durch Quellung der Zellwände, c. Be- wegungen durch Veränderung des Zellturgors. d. Bewegungen durch Veränderung des specifischen Gewichts, e. Bewegungen durch Secretion. f. Bewegungen durch Wachsthum. g. Be- wegungen durch Contraction und Expansion. Die amoeboide Be- wegung. Die Muskelbewegung. Die Flimmerbewegung. 2. Die Prodiiction von Licht. 3. Die Production von Wärme. 4. Die Prodüction von Elektricität.

Viertes Capitel: Von den allgemeinen Lebensbedingungen 276

I. Die jetzigen Lebensbedingungen auf der Erdoberfläche 278 A. Die allgemeinen äusseren Lebensbedingungen. 1. Die Nahrung.

2. Das Wasser. 3. Der Sauerstoff. 4. Die Temperatur. 5. Der Druck. B. Die allgemeinen inneren Lebensbedingungen.

11. Die Herkunft des Lebens auf der Erde 301

A. Die Theorieen über die Herkunft des Lebens auf der Erde.

1. Die Lehre von der Urzeugung. 2. Die Theorie von den Kosmozoen. 3. Preyer's Theorie von der Continuität des Lebens. 4. Pflüger's Vorstellung. B. Kritisches. 1. Ewigkeit oder Ent- stehung der lebendigen Substanz. 2. Die Descendenz der leben- digen Substanz.

in. Die Geschichte des Todes 324

A. Die Erscheinungen der Nekrobiose. 1, Histolytische Processe.

2. Metamorphotische Processe. B. Die Ursachen des Todes. 1. Aeussere und innere Todesursachen. 2. Die Frage nach der körperlichen Unsterblichkeit.

Fünftes Capitel; Von den Reizen nnd ihren Wirkungen 351

l. Das Wesen der Pieizung 352

A. Das A'erhältniss der Reize zu den Lebensbedingungen. 1. Die Reizqualitäten. 2. Die Reiziutensität. 3. Die trophischeu Reize. B. Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz. 1. Der Begi-iff der Reizbarkeit und die Art der Reizwirkungen. 2. Die Dauer der Reizwirkungen. 3. Die Reizleitung.

IL Die Reizerscheinungen der Zelle 369

A. Die Wirkungen der verschiedenen Reizqualitäten. 1. Die Wirkungen chemischer Reize, a. Erregungserscheinungen, b. Lähmungserscheinungeu. 2. Die Wirkungen mechanischer Reize, a. Erregungserscheinungen, b. Lähmungserscheinungen. 3. Die Wirkungen thermischer Reize, a. Erregungserscheinungen, b. Lähmungserscheinungen. 4. Die Wirkungen photischer Reize, a. Erregungserscheinungen, b. Lähmungserscheinungen. 5. Die Wirkungen elektrischer Reize, a. Erregungserscheinungen, b. Lähmungserscheinungen. B. Die bewegungsrichtenden Wir- kungen einseitiger Reizung. 1. Die Chemotaxis. 2. Die Baro- taxis. 3. Die Phototaxis. 4. Die Thennotaxis. 5. Die Galvano- taxis. — C. Die Erscheinungen der Ueberreizung. 1. Ermüdung und Erschöpfung. 2. Erregung und Lähmung. 3. Tod durch Ueberreizung.

Sechstes Capitel: Vom Mechanismus des Lebens 481

I. DerLebens Vorgang 482

A. Der Stoffwechsel der Biogene. 1. Die Biogene. 2. Der Bio- tonus. — B. Die Wirkung der Reize auf den Stoffwechsel der Biogene. 1. Die Veränderung des Biotonus bei totaler Reizung

Inhaltsverzeichniss. \ [

Suito

2. Die IntiTfcicnz von Ktnzwiikiingcn. 3. Die polarn VeräniloniiiR tlt's Biotoniis uiul (lur Meiluiuisinus der Axeueinstollung bei ein- seitiger Kei/img.

II. Die Mechanik des Zelllebens 510

A. Die Rolle von Kern nnd Protoplasnia im l^elien der Zelle.

1. Die Theorie von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle.

2. Kern und Protoi)lasma als Glieder in der Stoffwechselkette der Zelle. B. Ableitung der elementaren Lebenserscheinungen aus dem Stoffwechsel der Zelle. 1. Die Stoffwcchselmechanik der Zelle, a. Stoffwechselschema der Zelle, b. Mechanik der Aufnahme und Abgabe von Stoffen. 2. Die Formwechselmechaiiik der Zelle, a. Das Wachsthum als Grunderscheinung des Form- wechsels, b. Entwicklungsmechanik, c. Structur uiul Flüssigkeit. d. Vererbungsmechanik. 3. Die Knergiewechsel- Mechanik der Zelle, a. Der Fnergiekreislauf in der organischen Welt. b. Das Princip des chemischen Energiewechsels in der Zelle, c. Die Quelle der Muskelkraft, d. Theorie der Gontractions- und Ex- pansions-Bewegungen.

111. Die Verfassungsverhältnisse des Z ellenstaates .... bl5 A. Selbständigkeit und Abhängigkeit der Zellen. B. Diffe- renzirung und Arbcitstheiluug der Zellen. G. Gentralisation der Verwaltung.

Sachverzeichnis s .593

Erstes Capitel.

Von den Zielen und Wegen der physiologischen

Forschung.

I. Das Problem der Physiologie.

n. Die Entwicklungsgeschichte dei' physiologischen Forschung.

A. Die älteste Zeit.

B. Das Zeitalter Galen's.

C. Das Zeitalter Harvey's.

D. Das Zeitalter Haller' s.

E. Das Zeitalter Johannes Müller' s.

in. Die Methodik der physiologischen Forschung.

A. Das bisherige Ergebniss der physiologischen Forschung.

B. Das Verhältniss der Psychologie zur Physiologie.

1. Die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens.

2. Körperwelt und Psyche.

3. Psychomonimus.

C. Der Vitalismus.

D. Cellularphysiologie.

Was die Menschheit von jedem Einzelgebiet des gesammten Culturlebens verlangt, ist ein von höher gelegenem Standpunkt aus gewonnener Ueberblick über seine Ziele und Erfolge, gewissermassen eine Landkarte, die jeden Augenblick zur Orientierung dienen, die mit den Landkarten anderer Gebiete harmonisch zu einem grossen Gesammtbilde, zu einer Weltauffassung vereinigt werden kann.

Vor Allem berechtigt ist diese Forderung gegenüber den Natur- wissenschaften, deren enorme Entwicklung das Culturleben unseres Jahrhunderts so mächtig beeinflusst hat.

Zwei gewaltige Bedürfnisse der Menschheit sind es, zu deren Be- friedigung beizutragen Zweck der Naturforschung ist: ein p r a k t i s c h e s,

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 1

2 . Erstes Capitel.

das Streben nach zweckmässiger und angenehmer Ausgestaltung der äusserlichen Lebensverhältnisse die hohe Entwicklung der modernen Technik und Medizin legt Zeugniss ab für die Leistungsfähigkeit der Naturforschung in dieser Hinsicht , und ein theoretisches, das mit der Höhe der Cultur gesteigerte CausalitätsbedürfnisSj das Streben nach einer harmonischen Welt- und Lebensauffassung. Beide sind mächtig, wenn auch verschieden, je nach der Persönlichkeit des einzelnen Menschen. Die Menschheit darf von der Naturwissenschaft verlangen, dass sie diesen Zweck nie aus dem Auge verliert und dass sie ihre Stellung zu den übrigen Seiten des menschlichen Lebens nicht verkennt, eine Gefahr, die bei der ungeheuren Ausdehnung, die auch die speciellsten Specialgebiete innerhalb der Naturwissenschaften angenommen haben, grade jetzt bedenklich wächst.

Einseitige Specialforschung verfällt stets in diesen Fehler. Sie führt weit ab in unfruchtbare Gefilde, verliert selbst die Fühlung mit den Nachbargebieten mehr und mehr und wird schliesslich unfähig, an den allgemeinen Aufgaben der Wissenschaft mitzuarbeiten. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass es verkehrt wäre, die Special- forschung überhaupt zu verwerfen. Gesunde Specialforschung ist grade ein Hauptfactor für den Fortschritt der Wissenschaft, denn ohne Specialuntersuchungen gewinnt man keine allgemeineren Erkenntnisse. Aber es ist ein Unterschied , ob man specielle Untersuchungen aus- führt, um dadurch ein Problem lösen zu helfen, das einem praktischen oder theoretischen Bedürfniss des Lebens entgegenkommt, oder ob man Specialarbeiten macht, die einem der Zufall oder irgend welcher äusserliche Umstand in die Hände spielt, um zu sehen, ob und was dabei herauskommen wird. Das erste ist wahre Forschung, das zweite lediglich Zeitvertreib. Die einseitige Specialforschung trägt keinem der grossen Bedürfnisse des Menschen Kechnung und bringt die Wissenschaft schliesslich auf den wenig neideswerthen Standpunkt des Famulus Wagner.

Es ist unbedingtes Erforderniss für den Fortschritt einer Wissen- schaft, dass die Specialarbeit das allgemeine Ziel, die grosse Aufgabe fest im Auge behält, damit eine planmässige, methodische Forschung entsteht. Das ist nur möglich, wenn der Forscher von einem höheren Standpunkt einen Ueberblick über das Gebiet besitzt, eine Landkarte, auf welcher die kleinen, unbedeutenden Gegenstände verschwinden, auf der in grossen Zügen nur die wichtigen und bedeutungsvollen Thatsachen, Anschauungen, Probleme scharf zu einem Gesammtbilde zusammentreten.

Eine solche Uebersicht über die Ziele und Wege und Errungen- schaften braucht aber nicht allein der einzelne Forscher, eine solche Uebersicht, nicht eine Summe von zusammenhangslosen Einzelthatsachen, verlangt jeder Gebildete, um für sich aus der Wissenschaft heraus- zufinden, was er für die praktischen oder theoretischen Bedürfnisse seines Lebens verwerthen kann, denn die Wissenschaft ist dem Leben dienstbar, nicht das Leben der Wissenschaft.

Von den Zielen und Wegen der iihysiologischen Forschung. 3

I. Das Problem der Pliysiologie.

Das graue griechische Alterthum verband mit dem Worte „(fiaig'' den Begriff aller lebendigen Natur, eine Bedeutung, die in reinster Form noch in den Gesängen Homer's zum Ausdruck kommt. Allein der mit dem Worte verknüpfte Begriff hat seitdem mannigfache Wandlungen erfahren. Schon frühzeitig wurde die ursprüngliche Bedeutung verallgemeinert, und bereits die Blüthezeit griechischer Bildung bezeichnete die Jonischen Philosophen, die ältesten Natur- forscher Griechenlands als „yta/oJloyot", indem sie den Begi-iff (puoig auf die gesammte Natur übertrug. Später, mit der Lostrennung der Physik als eigener Wissenschaft im jetzigen' Sinne, ist der Begriff Avieder enger gefasst worden, aber in anderer Weise, indem er speciell auf die unbelebte Natur beschränkt wurde, so dass er jetzt grade die entgegengesetzte Bedeutung trägt wie ursprünglich.

Fasst man den Begriff (fcaig in seiner eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung, so bringt der Name „Physiologie" das Wesen der Wissenschaft, die er bezeichnet, völlig zutreffend zum Ausdruck, und es ist nicht nöthig, ihn durch das neuere Wort „Biologie" zu er- setzen, mit dem heute sehr verschiedenartige Vorstellungen verbunden werden.

Die Physiologie ist demnach die Lehre von den Erscheinungen der lebendigen Natur, und somit ist ihre Aufgabe „die Erforschung des Lebens".

Trotz der scheinbaren Einfachheit dieser Aufgabe arbeitet die Wissenschaft schon Jahrhunderte lang an ihrem Problem. Indessen bedarf es nur einer oberflächlichen Ueberlegung, um sich die Schwierigkeiten klar zu machen , die darin enthalten sind. Es ist nur nöthig, die Ausdrücke „Leben" vmd „Erforschen", die in dieser Verbindung zunächst als leere Worte erscheinen, mit Vorstellungsinhalt zu füllen.

Fassen wir zunächst das Object der Physiologie ins Auge, das „Leben". Der Unbefangene knüpft gewöhnlich an dieses Wort eine Summe von Vorstellungen, die sich auf Erscheinungen secundärer Xatur beziehen, weil er nur an die im täglichen Leben ihm fortwährend bemerkbaren weiteren Folgen der primitiven Lebenserscheinungen denkt. Ihm ist der Begriff Leben gefüllt mit verschiedenen Be- schäftigungen, mit Arbeiten, mit Vergnügen, mit Gehen, Fahren, Lesen, Sprechen, Essen, Trinken u. s. w. , von denen je nach Beruf und Individualität des Einzelnen die eine oder andere Thätigkeit als wesentlicher Theil seines Lebens in den Vordergrund tritt: dem einen ist das Leben nur Arbeit, dem andern ein einziges Bacchanal. Aber die ganze Fülle der verschiedenartigen Beschäftigungen des täglichen Lebens sind nur Corabinationen einiger weniger primitiver Lebens- erscheinungen. Verfolgen wir daher die Entwicklung des Begriffs Leben bis in die graue Urzeit zurück, wo der Mensch noch nichts ahnte von allen jenen Beschäftigungen, welche die hochentwickelte Cultur im Gefolge hat, wo er noch nicht das Feuer kannte, ja wo er noch nicht die primitivsten Werkzeuge zu machen verstand, so kommen

1*

4 Erstes Capitel.

wir zu der Vorstellung, dass der Begriff des Lebens aus der Zusammen- fassung einer Reihe von einfachen Erscheinungen entsprang, die der Urmensch aus Selbstbeobachtung fand, vor allem solcher Erscheinungen, die mit augenfälligen Bewegungen verbunden sind, wie die Orts- bewegung, das Athmen, die Ernährung, der Herzschlag und andere mehr. In der That ist es auch nicht schwer, die verwickelten Be- schäftigungen unseres heutigen Lebens in ihre primitiven Bestandtheile zu zerlegen, und zu erkennen, dass die ganze Mannigfaltigkeit sich aufbaut auf der verschiedenen Zusammensetzung einer geringen Zahl von elementaren Lebenserscheinungen, wie Ernährung und Athmung, Wachsthum und Fortpflanzung, Bewegung und Wärmebildung etc. Wenn wir den Begriff Leben in dieser Weise als eine Summe ge- wisser einfacher Erscheinungen fassen, Avürde die Physiologie also die Aufgabe haben, diese einfachen Lebenserscheinungen festzustellen, zu untersuchen und zu erklären.

Wir müssen uns indessen erinnern, dass wir uns hierbei gemäss der Entwicklung des Lebensbegriffs nur auf die Lebenserscheinungen beim Menschen beschränkt haben , dass aber das Gebiet des Lebens ein weit grösseres ist. Thiere und Pflanzen zeigen ebenfalls Lebens- erscheinungen, und es fragt sich, ob sich hier die Lebenserscheinungen überall ebenso verhalten wie beim Menschen, oder ob etwa einige fehlen, andere neu hinzukommen oder abweichen. Es müssen also alle lebendigen Organismen in den Kreis der physiologischen Forschung hineingezogen werden, und die Blume und der Wurm muss ebensogut ihr Object sein wie der Mensch. Es ist daher die erste Pflicht der Physiologie, das Gebiet des Lebendigen abzustecken und festzustellen, was lebendig, was nicht lebendig ist. Allein schon dieses Unternehmen ist schwieriger als es scheint.

Der Inhalt des Begriffs „Leben" ist nicht zu allen Zeiten der- selbe gewesen. Er hat sich wesentlich im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechts verändert. Schon früh ist der Begriff vom Men- schen, an dem er gebildet war, übertragen worden auf andere Dinge. Die Urvölker haben den Begriff viel weiter gefasst wie wir, sie nannten lebendig, was wir jetzt nicht mehr als belebt betrachten. Gestirne und Feuer, Wind und Welle waren für sie belebte und beseelte Wesen und wurden in anthropomorpher Weise personilicirt. Den Rest davon finden wir noch in der Mythologie der klassischen Völker und unseres eigenen Volkes. Im Laufe der Zeiten hat man zwar immer schärfer unterschieden zwischen lebendig und leblos, aber noch heute kann man beobachten, dass ein Kind eine Dampfmaschine für ein lebendiges Thier hält. Das Kind richtet sich dabei, mehr oder weniger bewusst, nach demselben Kriterium wie die Urvölker, die das flackernde Feuer und die wogende Welle für belebt hielten, nach dem Kriterium der Bewegung. Die Bewegung ist in der That von allen Lebenserschei- nungen diejenige, welche am meisten den Eindruck des Lebendigen hervorruft.

Doch das sind Urvölker und Kinder, wird man sagen. Der in der Erfahrung des Lebens geschulte Culturmensch wird im gegebenen Fall stets mit Leichtigkeit entscheiden, ob lebendig oder ob leblos. Indessen auch das trifft durchaus nicht immer zu. Sind trockene Samenkörner lebendig oder leblos? Ist eine Linse, die Jahre lang unverändert im Küchenschrank gelogen hat, lel^endig? Die Naturfoi-scher sind selbst nicht immer in dieser Frage einig gewesen. Lebenserscheinungen zeigt

Vun den Zielen und Wcf^eu der i)liysiologischen Forschung. 5

sie nicht, aber sie kann jeden Augenblick dazu veranlaabt werden, wenn sie in feuchte Erde gesteckt wird. Dann keimt sie und ent- wickelt sich zur Pflanze.

Viel schwieriger wird aber noch die Entscheidung, ob lebendig oder ob leblos, wenn es sich um Objecte handelt, die man nicht täglich im Leben zu sehen gewöhnt ist, z. B, um gewisse mikroskopische Dinge. Es bedarf häutig einer tagelangen Beobachtung und sehr ein- gehender Untersuchungen, um zu entscheiden, ob in einer Flüssigkeit gewisse Körper, die man bei mikroskopischer Beobachtung findet, leben oder nicht. Entnehmen wir einer Flasche Weissbier einen Tropfen des Bodensatzes und betrachten wir ihn unter dem Mikroskop, so werden wir linden, dass in der Flüssigkeit eine Unzahl kleiner, blasser Kügel- chen enthalten ist, häufig zu zweien und dreien aneinanderhängend, die, solange man sie auch beobachtet, in vollkommener Ruhe verharren und keine Spur v'on Bewegungen oder sonstigen Veränderungen zeigen. Ganz ähnliche kleine Kügelchen beobachten wir unter dem Mikroskop in einem Tropfen Milch. Beide Arten von Kügelchen sind nur bei starken Vergrösserungen von einander zu unterscheiden. Bei der geduldigsten und andauerndsten Beobachtung unter dem Mikroskop lässt sich an beiden keine Andeutung von Lebenserscheinungen er- kennen, und doch sind beide Objecte so grundverschieden, wie ein lebendiger Organismus von einer leblosen Substanz; denn die Kügel- chen aus der Bierhefe sind sogenannte Hefezellen (Saccharo- myces cerevisiae), die Gähruugserreger des Bieres, vollständig entwickelte, einzellige, lebendige Organismen; die Kügelchen aus der Milch dagegen sind leblose Fetttrö pfchen, die durch ihre massen- hafte Anwesenheit der Milch infolge ihrer allseitigen Reflexion des Lichtes die weisse Farbe geben. Als Gegenstück zu diesen beiden Präparaten können wir ein drittes machen. In der Leibeshöhle des Frosches liegen zu beiden Seiten der Wirbelsäule zwischen den seit- lichen Fortsätzen der Wirbel kleine, weissgelb erscheinende Klümp- chen. Nehmen wir mit dem Messer aus einem solchen Gebilde etwas von seinem Inhalt heraus, thun es mit einem Wassertropfen auf einen Objectträger und bedecken das Ganze mit einem Deckgläschen, so sehen wir bei starker Vergrösserung mit dem Mikroskop eine grosse Menge kleiner Körnchen und kurzer Stäbchen von verschiedener Grösse, die sich rastlos in zitternder und tanzender Bewegung ergehen, die kleineren sehr lebhaft, die grösseren langsamer. Jeder Unbefangene, der vor die drei Präparate gestellt und gefragt wird, w^elches von den drei Objecten er für lebendig hält und welches für leblos, bezeichnet unfehlbar die Hefezellen und Fetttröpfchen für leblos, die tanzenden Körnchen dagegen für lebendig, und doch sind letztere nichts weiter, als kleine Kalkkrystä liehen, so leicht, dass sie durch äusserst feine Bewegungen der Wassertheilchen, wie sie in jeder Flüssigkeit vorhanden sind, passiv in zitternde Bewegung versetzt Averden. Das Symptom der Bewegung, die man auf eine innere Ursache zurück- zuführen geneigt ist, weil man keinen äusseren Anlass sieht, verführt hier zur Annahme des Lebens, und solche Beispiele lassen sich in unbegrenzter Zahl finden.

Es ist also unter Umständen durchaus nicht leicht. Lebendiges von Leblosem zu unterscheiden, und es ist demnach klar, dass es d i e erste Pflicht der Physiologie sein muss, die Kriterien für eine solche Unterscheidung aufzusuchen, d. h. ihr

6 Erstes Capitel.

Forschungsobject, das Leben, gegenüber der leblosen Natur begrifflich zu begrenzen.

Nicht minder gross sind die Schwierigkeiten, auf die wir stossen, wenn wir uns den zweiten Begriff ansehen, der in der Aufgabe der Physiologie steckt, das „Erforschen". Was heisst Erforschen oder Erklären?

Es scheint, als ob sich der Culturmensch in einem grossen Be- dürfnisse wesentlich von den Urvölkern unterscheidet, das ist in dem Bedürfniss, nach dem Grunde der Erscheinungen zu suchen, kurz in dem „Causalitätsbedürfniss". Das Bedürfniss, bei allen Dingen zu fragen „warum?", aus reinem Wissensdrang, ohne damit einen praktischen Zweck zu verbinden, ein Bedürfniss, dessen Entstehung und Entwicklung wir noch heute bei Kindern in einem bestimmten Alter genau beobachten und verfolgen können, scheint eine Erwerbung der Culturentwicklung zu sein. Haben wir für eine Erscheinung die Ursache gefunden, so ist das Causalitätsbedürfniss in diesem Punkte befriedigt, wir haben die Erscheinung erforscht, erklärt. Das gilt für die Forschung auf allen Gebieten der Wissenschaft, für die Geschichts- forschung und für die Sprachforschung in gleicher Weise wie für die Naturforschung, soweit die Wissenschaften sich überhaupt über die Entwicklungsstufe des blossen Sammeins von Thatsachen erhoben haben. Aber was wir gewonnen haben, indem wir für eine Erschei- nung die nächstliegende Ursache fanden, ist nur eine relative Be- friedigung des Causalitätsbedürfnisses , denn die Ursache ist selbst wieder eine Erscheinung, die erklärt werden muss u. s. f. So setzen wir nach und nach durch systematische Forschung die Einzelerschei- nungen eines Gebietes und die Erscheinungsreihen grosser Gebiete mit einander in causalen Zusammenhang und führen immer grössere Gebiete auf ihre Ursachen zurück. Schliesslich entsteht aber die Frage, wieweit diese Zurückführung gelingt. Giebt es eine letzte Ursache für die Erscheinungen, oder geht die Zurückführung in's Grenzenlose fort?

Die Forschungen auf allen Gebieten der leblosen Natur, besonders in der Physik und Chemie, haben zu dem Ergebnisse geführt, dass sich alle Erscheinungen, die bisher bekannt geworden sind und unter- sucht wurden, in letzter Instanz zurückführen lassen auf eine einzige gemeinsame Ursache, auf die Bewegung kleinster körperlicher Ele- mente. Man stellt sich vor, dass die gesammte Körperwelt aus einzelnen, untheilbaren , äusserst kleinen Elementartheilchen , den Atomen, bestehe, und dass die verschiedene Bewegung der Atome, welche den ganzen Weltraum erfüllen, die gewaltige Summe der Er- scheinungen in der Natur erzeuge.

Hat die Physiologie die Aufgabe, das Zustandekommen der Lebens- erscheinungen zu erklären, d. h. ihre Ursachen zu erforschen, so fragt es sich daher, ob in der lebendigen Natur ebenfalls alle Erscheinungen auf diese eine Ursache zurückgeführt werden können, oder ob es noth- wendig wird, zur Erklärung gewisser Lebenserscheinungen zu einem anderen Princip Zuflucht zu nehmen. In der Beantwortung dieser Frage liegt nächst der Begrenzung des Forschungs- objects die Hauptaufgabe der Physiologie.

Von den Zielen nnd Wc<?cn der physiologischen Forschung. 7

Seit Alterslier hat man die grosse Kluft gefühlt, die zwischen zwei Gruppen von Lebenserscheinungen besteht, zwischen den körperlichen und den geistigen. Die Frage ist daher eine doppelte, denn sollten sich die körperlichen Lebenserscheinungen wirklich auf dieselben elemen- taren Ursachen zurückführen lassen wie die P^rscheinungen der leblosen Körperwelt, so brauchte das darum noch nicht für die psychischen Erscheinungen zu gelten. In jedem Falle werden Avir uns erst über die Beziehungen zwischen den psychischen und den körperlichen Er- scheinungen auseinanderzvisetzen haben. Lassen sich die psychischen Erscheinungen nicht auf dieselbe letzte Ursache zurückführen, Avie die Erscheinungen der Körperwelt, so müssen wir nach einer anderen Er- klärung suchen, und da wird die wichtige Frage entstehen, ob sie überhaupt erklärbar sind. Aber gesetzt auch, dass sie sich mit den Flrscheinungen der Körperwelt in Causalzusammenhang bringen lassen, so bleibt immer noch die Frage zu beantworten, was schliesslich Atome seien. Auch hier wäre zu erwägen, ob dies Problem überhaupt lösbar ist, und endlich, wenn es lösbar wäre, würde dann unser Causalitäts- bedürfniss befriedigt sein?

Eine Fülle von Fragen also ist es, auf welche die Erforschung des Lebens stösst, von Fragen, die bis in die dunkelsten Tiefen menschlicher Erkenntnissfähigkeit hinabführen.

IL Die EntwicklungsgescMchte der physiologischen

Forschung 0.

Einen Blick auf die bisherige Entwicklungsgeschichte der physio- logischen Forschung zu werfen, ist ebenso unterhaltend wie wichtig für die Beurtheilung des jetzigen Standes und der ferneren Wege, welche die Physiologie zur Erreichung ihres eben festgestellten Zieles einzuschlagen hat.

A. Die älteste Zeit.

Die ersten Spuren naiver physiologischer Vorstellungen verlieren sich in dem undurchdringlichen Dunkel der vorgeschichtlichen Zeiten. Sie finden aber einen uns überlieferten Ausdruck in der Mythologie der alten Culturvölker. Diese führt uns einen Zustand vor Augen, wo sich alles Wissen, alle Vorstellungsbildung um die Verehrung höherer Wesen gruppirte. Der primitive Cultus und das damit zu- sammenhängende Wissen der alten Völker kann als ein untrennbares Ganzes betrachtet werden, aus dem im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende allmählich theologische, philosophische, naturwissenschaft- liche und medizinische Ideencomplexe langsam als selbstständige Ge- biete auskrystallisirten.

Die Vorstellungen vom Leben waren sehr naiv und roh. Alles, was sich bewegte, war lebendig und wurde als beseelt gedacht. Das

^) Der Darstellung der früheren Entwicklungsepochen der Physiologie Ist zu Grunde gelegt K. Sprkngel: „Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arznei- kunde", undH. Haeser: „Lehrbuch der Geschichte der Medicin". Einen kurzen Abriss der Geschichte der Physiologie im Anschluss an das letztere Buch giebt auch Pkeyer in seinen „Elementen der allgemeinen Physiologie'"'.

8 Erstes Capitel.

Charakteristikum der Bewegung war für das Leben ausschlaggebend. Wind und Wasser, Feuer und Sterne Avurden personificirt. Die Meteorite, welche sich durch die Luft bewegten, die „Bätylien" wurden von den Phöniciern für beseelte Steine gehalten und als heilwirkend betrachtet, und Susrütas, der Verfasser der Ayur Veda, des ältesten indischen Werkes der Heilkunde, stellte noch den unbeweglichen, d. h. leblosen, alle beweglichen als lebendige Körper gegenüber. Die Heilkunde, Avelche fast ausschliesslich Arzneimittellehre war und in uralter Zeit besonders in den Zauberländern am Pontus blühte, wo Hekate verehrt wurde, war roh empirisch, mit Magie und Geheim- lehren verquickt und entbehrte noch der ersten Spur einer physio- logischen Grundlage.

Nur eine Gruppe von Erscheinungen fand in dieser frühesten Zeit bereits eingehende Beachtung, jene Erscheinungen, welche dem Menschen am unmittelbarsten sein Leben offenbaren, die höheren psychischen Erscheinungen. Schon im ältesten Aegypten, wahrschein- lich unter indischem Einfluss, entwickelte sich eine Seelenlehre, die den Dualismus von Körper und Seele zur Grundlage hatte und in der Idee von der Wanderung der Seele nach dem Tode des Körpers in andere Körper ihren Gipfelpunkt erreichte. Die Vorstellung davon ist später durch die griechischen Philosophen, besonders Pythagoras, auch nach Griechenland verpflanzt worden. Ueberhaupt hat von den ältesten Zeiten an die Beschäftigung mit den Erscheinungen des Seelenlebens immer einen besonderen Reiz für Priester und Philo- sophen, die frühesten Träger theoretischen Wissens, gehabt, und wir linden im Alterthum von allen Gebieten der Forschung gerade die Psychologie am meisten bearbeitet.

Während die physiologischen Vorstellungen von Seiten des medi- zinischen Ideencomplexes bis lange nach Hippokrates kaum die ge- ringste Beeinflussung erfuhren , w'urden sie dagegen durch das erste Aufblühen der Philosophie als eigener, von der Priesterlehre un- abhängiger Disciplin in Griechenland in bedeutsamer Weise bereichert. Die ältesten griechischen Philosophen, sowohl die jonischen ..Physio- logen"; als auch die Eleaten, wie auch die Atomisten und die einzeln- stehenden Denker jener Zeit waren, da ihr Ziel in der Entwicklung einer Kosmologie bestand, gezwungen, auch über die Entstehung der lebendigen Natur nachzudenken, und man mag über die ungebundene Art und Weise des Speculirens dieser ältesten Denker urtheilen wie man will, immer wird es eine der überraschendsten Thatsachen bleiben, wie richtige Vorstellungen sie bereits über manche Erscheinungen des Lebens gehabt haben. Es ist ganz merkwürdig, bei vielen dieser alten Philosophen Ideen zu begegnen, die nach mehr als zwei Jahr- tausenden wieder ganz modern und zu den wichtigsten Grundlagen der heutigen Wissenschaft vom Leben geworden sind. Besonders gilt das von den Gedanken über die Entstehung und Entwicklung der Organismenwelt. Bei Anaximander (geb. um 620 v. Chr.) flndet sich schon der Gedanke der Abstammung des Menschen von thierähnlichen Vorfahren, die ursprünglich im Wasser lebten, in klarer Form aus- gesprochen , und Heraklit (um 500 v. Chr.) hat bereits eine Vor- stellung von der Bedeutung des „Kampfes um's Dasein" (Igig). Am deutlichsten aber und am überraschendsten ist die Theorie des Empedokles (geb. 504 v. Chr.) über die Entstehung der Lebewesen. Es entstanden nach ihm zuerst die Pflanzen, dann die niederen Thiere,

A'oii ileii Zicku tmd Wigun der pliysiologischeu Foisclmug. 9

aus denen die hüheren und zuletzt dio Menschen .sieh durch Vervoll- kommnung" entwiekelten. Das wirksame Prineip für diese VervoU- kommnuny; sah er darin, dass die unzweckmässig gebauten im Kampf des Lebens zu Grunde gingen , während die lebensfähigen sich fort- pflanzten. Es hat beinahe zwei und ein halbes Jahrtausend gedauert, bis dieser einfache, von Empedokles bereits klar ausgesprochene Ge- danke der Descendenz untl der natürlichen Selection der Organismen von Darwin empirisch begründet und als natürliche Erklärung lür die sonst so wunderbare Mannigfaltigkeit der organischen Formen hin- gestellt worden ist.

Auch eine Anzahl von mehr oder weniger richtigen Vorstellungen über einzelne specielle physiologische Erscheinungen finden >ich bei den älteren griechischen Philosophen. Aber diese zerstreuten Wahr- heiten sind mit soviel abenteuerlichen und rein willkürlich bildeten Ideen vermischt, dass sie den Werth, den sie zu haben scheinen, durch die übrige Gesellschaft, in der sie sich befinden, wieder einbüssen. Ein zusammenhängendes , systematisches Nachdenken oder Beobachten der Lebenserscheinungen ist vor Aristoteles nicht zu finden.

Von Seiten der praktischen Medizin erfuhr die Erforschung des Lebens selbst dann noch keine bedeutende Forderung, als durch HiPPOKRATES (4(30 377 v. Chr.) die bisherige kritiklose Arzneikunde auf eine gesundere Grundlage gesetzt wurde.

Erst unter den Nachfolgern des Hifpokrates sehen wir wahr- scheinlich unter dem Einfluss der Philosophie Plato's eine physio- logische Lehre auftauchen, die, bald weiter ausgebildet, die ganzen medizinischen Vorstellungen jener Zeit beherrschte. Das ist die Lehre vom Lebensgeist (nveri^ia), in deren Grundgedanken man bereits den ersten Keim einer fundamentalen physiologischen \\'ahrheit finden kann. Die Leiire vom Lebensgeist sagt, dass das nv£cf.ia, ein äusserst feines materielles Agens, von den Lungen des Menschen angezogen werde, dass es von den Lungen in das Blut übergehe und durch das Blut im Körper vertheilt werde. Auf der Wirkung des nveif.ice im Körper beruhen die sämmtlichen Lebenserscheinungen. Diese Con- ception, die freilich mit allerlei absurdem Beiwerk geschmückt ist, er- innert lebhaft an unsere modernen Vorstellungen von der Rolle des Sauerstoffs im Organismus.

B. Das Zeitalter Galen's.

Li der älteren Pneumalehre der Hippokratiker, die besonders in der alexandrinischen Schule eine Fortbildung durch Herophilus (um 300 V. Chr.) fand, sowie durch Erasistratus (gest. 280 v. Chr.), der bereits ein 7iv£i\ua Lit)Tr/.6v im Herzen und ein nveZfict il'vxrAov im Gehirn unterschied, liegt die erste Andeutung eines Erklärungs- versuchs der Lebenserscheinungen. P's geht daraus hervor, dass das Problem der Physiologie, die Lebenserscheinungen zu erklären, schon mehr oder weniger deutlich zum Bewusstsein zu kommen be- gann. Bisher waren nur gelegentlich einzelne physiologische That- sachen beobachtet oder physiologische Fragen behandelt worden. Je deutlicher jetzt das Problem der Physiologie sich zu gestalten anfing, um so mehr begann auch die Behandlung physiologischer Fragen den Charakter wissenschaftlicher Forschung anzunehmen.

IQ Erstes Capitel.

Die Vorbedingungen dazu schaffte Aristoteles (384 322), der grosse Polyhistor des Alterthums, der ein unermessliches Thatsachen- material in seinem Kopfe zusammenfasste. Die Bedeutung des Ari- stoteles für die Physiologie liegt nicht in der Erklärung der Lebenserscheinungen diese ist vielmehr oft unkritisch und tritt auch nicht in den Vordergrund seiner Thätigkeit , sondern in der Sammlung und Beobachtung einer grossen Menge physiologischer Erscheinungen, unter denen sich neben vielen ausgezeichneten und scharfsinnigen Untersuchungen allerdings auch manche irrthümliche Beobachtung findet, wie z. ß. die Entstehung von Aalen und Fröschen durch Urzeugung aus Schlamm. Aber diese Anhäufung des Beobachtungs- materials ist die Grundlage für die neue Entwicklungsphase, in welche die Geschichte der Physiologie nach Aristoteles tritt, und die charakterisirt ist durch die klare Erkenntniss des physiologischen Problems und seiner unermesslichen Bedeutung für die praktische Medizin.

Nachdem Aristoteles durch sein systematisirendes Wirken für die Naturwissenschaft eine breite empirische Basis geschaffen hatte, gewann auch die Pneumalehre unter den späteren Pneuraatikern, be- sonders durch Athenaeus und Aretaeus (beide um 50 n. Chr.), eine Aveitere Ausbreitung. Es liegt in der Natur der Pneumalehre, dass sie nothwendig zu dem Streben führen musste, die Erscheinungen des Lebens unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen und zu erklären, und so finden wir denn in der That gerade in dieser Zeit zum ersten Male eine klare, bewusste Erkenntniss des physiologischen Problems und eine methodische Zusammenfassung der physiologischen Erscheinungen. Der Mann, welcher das Wesen und die Bedeutung der Physiologie zum ersten Male deutlich erkannte, war Galenus (131 bis ca. 200 n. Chr.). Galen sah ein, dass eine praktische Medizin nicht gedeihen könne, wenn sie sich nicht auf der genauesten Kenntniss der normalen Lebenserscheinungen des menschlichen Körpers aufbaut. Die Erforschung der Lebensfunctionen des Körpers sei die erste Vorbedingung einer Heilkunde. Dieser praktische Zweck war es, welcher zum ersten Hebel für die Entwicklung der Physiologie wurde, und bis in das 18. Jahrhundert ist Physiologie fast ausschliess- lich zu diesem Zwecke getrieben worden. Ferner erkannte Galen zuerst klar die Bedeutung der anatomischen Kenntniss des Körpers für das Verständniss der Funktionen seiner Theile und legte grossen Werth auf die Zergliederung von Thieren, von denen er besonders Affen und Schweine secirte. Endlich wusste Galen bereits den Werth des Experiments an Thieren für die Erforschung physiologischer Er- scheinungen zu würdigen und führte selbst Vivisectionen an Affen und Schweinen aus, wenn auch die experimentelle Methode unter ihm noch nicht jene exacte Form annahm und jene grundlegende Be- deutung erlangte, die ihr erst viele Jahrhunderte später Harvey zu geben verstand.

Es ist bei aller Anerkennung seiner unsterblichen Verdienste Galen mehrfach zum Vorwurf gemacht worden, dass er sich nicht damit begnügt hat, physiologische Thatsachen zu sammeln, Beobach- tungen zu machen, Experimente anzustellen, sondern dass er das leb- hafte Bedürfniss empfand, das gesammelte Material zu einem ge- schlossenen und umfassenden System der Physiologie zu vereinigen, wobei er der Hypothese und philosophischen Speculation einen Platz

Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschuno'. J \

einräumte, den eine exacte Untersuchung hätte ausfüllen sollen. Es kann nichts ung:erecliter sein, als dieser Vorwurf, Hätte Galen sich begnügt, unzusanimenhängende physiologische Thatsachen zu con- statiren , so wäre die Physiologie und damit die ganze Medizin durch ihn um keinen Schritt weiter gebracht worden, als sie bereits Aristoteles geführt hatte. Die grösste Bedeutung Galen's liegt 'gerade in der Vereinigung der physiologischen Einzelkenntnisse zu einem zusammenhängenden System. Erst im Zusammenhange mit anderen Tiiatsachen gewinnt die einzelne Beobachtung Werth , und erst der Ueberblick über den Zusammenhang der Thatsachen ermöglicht ein methodisches Weiterforschen. Dass bei diesem ersten Versuche, das physiologische Beobachtungsmaterial zu einem einheitlichen Bilde vom Leben des menschlichen Körpers zu gestalten, die Hypothese, ja sogar manche kühne Hypothese hier und dort eine Zuflucht bieten musste, liegt in der Natur der Sache. Der einzige Fehler, an dem das System des Galen leidet, ist nicht der zusammenhaltende Kitt philosophischer Speculation an sich, sondern der eigenthümliche Dualismus, zu dem sich Galen verleiten liess, indem er einerseits der aus seiner exacten wissenschaftlichen Forschung sich ergebenden strengen Noth wendig- keit der Erscheinungen und andererseits der aus der Aristotelischen Philosophie übernommenen Teleologie gleichzeitig eine Stelle bei der Erklärung der Lebenserscheinungen einzuräumen bestrebt war. Indessen man wird bei gerechter Würdigung der damaligen Zeit, wo die Aristotelischen Ideen bereits angefangen hatten, ihre mehr als tausendjährige Weltherrschaft anzutreten, dem Galen kaum einen Vorwurf daraus machen können, um so weniger, wenn man daran denkt, dass die teleologische Vorstellung von einem Endzweck aller Erscheinungen noch heutzutage hier und dort in der modernen Naturforschung umgeht, ganz abgesehen von der Philosophie.

Das System Galen's basirt auf der Pneumalehre. Die Ursache aller Lebenserscheinungen des menschlichen Körpers, welcher sich aus den vier Grundsäften des Blutes, des Schleimes, der gelben und der schwarzen Galle zusammensetzt, sind die drei verschiedenen Formen des Pneuma, von denen das nrEci.ia ilwyjxov im Gehirn und den Nerven, das 7vvei(.ia Cwti'aov im Herzen und das n:vEVf.ia (pvor/.bv in der Leber seinen Sitz hat. Diese drei Formen des Pneuma, die fortwährend durch die Aufnahme des nvetf-ta tcoxiv.ov aus der Luft regenerirt werden müssen, sind die Ursachen, welche die Functionen der betreffenden Organe unterhalten. Es giebt eine grosse Zahl von Functionen des Körpers, aber sie lassen sich je nach der entsprechenden Form des Pneuma in drei Gruppen theilen , deren jede durch eine dem betreffenden Pneuma entsprechende Kraft {divaiAig) ausgeübt wird. Die psychischen Functionen umfassen Denken, Empfinden und willkürliche Bewegung, die sphygmi sehen Funktionen Herz- schlag, Puls und Wärmebiidung , die physischen endlich die Er- nährung, das Wachsthum, die Secretion, die Fortpflanzung vmd die dazu in Beziehung stehenden Thätigkeiten. In der Leber wird das Blut gebildet. Hier entspringen die Venen, Durch diese gelangt das Blut in die rechte Herzkammer, wo die brauchbaren Theile von den unbrauchbaren gesondert werden, indem die ersteren in die linke Herzkammer transportirt , während die letzteren durch die Lungen- arterie zu den Lungen geführt werden. In den Lungen werden sie

12 Erstes Capitel.

durch das Piieuma wieder regenerirt und brauchbar gemacht. Es ist merkwürdig, mit welcher divinatorischen Gabe Galen auf einen ße- standtheil der Luft als das Pneuma hingewiesen hat, dessen Natur er noch nicht ahnen konnte. Galen spricht nämlich ganz deutlich die Vermuthung aus, dass es einmal gelingen würde, denjenigen Bestand- theil in der Luft zu isoliren , welcher das Pneuma bilde. Mehr als ein und ein halbes Jahrtausend hat es gedauert, ehe Galen's Ver- muthung durch Priestley's und Lavoisier's Entdeckung des Sauer- stoffs bestätigt wurde. Das durch die Aufnahme des Pneuma in den Lungen wieder regenerirte Blut fliesst dann durch die Lungenvenen ins linke Herz, von wo es mit dem übrigen brauchbaren Blut vereinigt durch die Aorta und ihre Verzweigungen im ganzen Körper umher- getragen wird. Die Anschauungen Galen's über das Nervensystem sind ebenso interessant. Im Gehirn und Rückenmark liegt der Ur- sprung der Emplindungs- und Bewegungsthätigkeit der Nerven. Die bewegenden Nerven treten in Wirksamkeit, indem sie wie Stricke an den beweglichen Organen ziehen. Li der speciellen Nervenphysiologie untersuchte Galen experimentell die Wii'kung des Nervus vagus und der Zwischenrippennerven auf die Athmung und Herzthätigkeit, und machte Rückenmarksdurchschneidungen der Quere und Länge nach, Versuche, welche beweisen, wie tief er bereits in das Verständniss der Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Organen des Körpers ein- gedrungen sein musste.

Galen's physiologisches System war für die damalige Zeit ein monumentales Werk, und es ist sicherlich nicht allein dem Untergang der alten Cultur und der gänzlichen Unfruchtbarkeit des Mittelalters auf wissenschaftlichem Gebiet zuzuschreiben , dass die Anschauungen Galen's dreizehn Jahrhunderte als unantastbarer Codex der Medizin bestehen blieben. Im ganzen Mittelalter that die physiologische For- schung nicht einen Schritt in der Entwicklung vorwärts. Die Araber, welche die antike Cultur übernommen hatten, waren zwar als Aerzte bedeutend , aber ein selbständiges Forschen , ein philosophisches Denken verbot ihnen allein schon der Islam. Selbst Avicenna (Lbn Sina) (980 1037), der bedeutendste unter den arabischen Aerzten, der auch philosophische Neigungen verrieth, leistete nichts Selb- ständiges. Sein System war mit geringen Aenderungen das des Galen, dessen Ruhm er durch sein eigenes gewaltiges Ansehen in der ganzen damaligen Culturwelt verdunkelte. Auch die zahlreichen berühmten medizinischen Schulen, die um diese Zeit in Italien, Frankreich und Spanien entstanden, zogen zwar viele tüchtige Aerzte heran, führten aber die GALEN'schen Ideen um keinen Schritt weiter, abgesehen da- von, dass hier und dort eine vereinzelte physiologische Beobachtung gemacht wurde. Dieser Zustand der Stagnation dauerte bis ins 16. Jahrhundert hinein.

C. Das Zeitalter Harveys.

Der Anfang einer selbständigen Fortentwicklung der Physiologie ist erst im 16. Jahrhundert zu finden. Einer der ersten, die das GALEN'sche System verliessen, war Paracelsus (1493 1541), der selbst ein vollständiges System der Natur entwickelte. Zwar war sein System mit theosophischen Ideen durchdrungen, ein Zug, der bei seinen Nachfolgern noch stärker hervortrat und sie ganz der Mystik

Von den Zielen und Wegen der physiolof^isclien Forsclinnj^. 13

in die Arme trieb; aber es enthielt doch vieh; originelle, wenn auch häulig absurde Ideen. Paracelsus macht mit Bewusstsein gegen die bisherigen gedankenlosen Nachbeter des Galen 'sehen Systems und dessen Auswüchse, die sich im Mittelalter entwickelt hatten, Front, und das war in der damaligen Zeit ein wichtiger Fortschritt. Die Grundlage seines Systems ist der Gedanke von der Finheit der Natur. Die Natur stellt ein einheitliches Ganzes vor, den Makrokosmos. Im Menschen als Mittelpunkt der Natur sind alle einzelnen Formen des Naturseins enthalten. Der Mensch ist daher als ein Mikrokosmos zu betrachten. Dabei darf aber die Natur nicht als ein Fertiges, sondern als ein ewig Werdendes angesehen werden. Die specielleren Seiten seines Systems sind ziemlich willkürlich und haben keine Bedeutung, wie überhaupt ja dieser erste Anfang eines selbständigen Forschens noch ziemlich unbeholfen war. Vor Allem fehlte ihm eine gediegene empirische und experimentelle Grundlage.

Zur selben Zeit begann auch in Frankreich und in Italien eine freiere Richtung von den Medizinschulen auszugehen. Bereits Fernelius (1497 1558) hat, obwohl er noch ganz auf dem Boden des GALEN'schen Systems steht, manche neue Gedanken. Er trennt von den verschiedenen Formen des „Spiritus" des GALEN'schen 7ivEuf.ia, die anima. Erstere bestehen aus der feinsten materiellen Substanz, letztere dagegen ist die Seele, die nur in ihren Wirkungen zu er- kennen ist. Ferner vertritt er die Vorstellung, dass die Erscheinungen im Organismus in letzter Instanz von bestimmten geheimnissvollen Ursachen bedingt werden.

Einen höheren Aufschwung nahm die speciell physiologische For- schung erst im Anschluss an die grossen anatomischen Entdeckungen in den Schulen Frankreichs und Italiens, wo durch Vesalius, Eustachio, Faloppia und Andere die anatomische Kenntniss des menschlichen Körpers auf eine ganz neue, gewissenhaft empirische Grundlage gesetzt wurde. Besonders waren es die Untersuchungen über den anatomischen Bau des Herzens und den Verlauf der Gefässe, welche äusserst fruchtbar für die Physiologie wurden. Die Lehre vom Blut- kreislauf, wie sie Galen begründet hatte, erfuhr dadurch wesentliche Aenderungen. Serveto (1511 1553) widerlegte zuerst die GALEN'sche Vorstellung, dass das Blut aus der rechten Herzkammer direct in die linke gelange, durch den Hinweis auf die Undurchgängigkeit der Scheidewand. Seine Nachfolger Colombo (gest. 1559) und Cesalpino (1519 1603) fügten dieser Thatsache noch neue über die Circulation des Blutes in den Lungen hinzu, und Argentieri (1513 1572), der die Lehre von den Spiritus animales bekämpfte und den glücklichen Gedanken hatte, an ihre Stelle die Wärme als Ursache der Lebens- erscheinungen zu setzen, betonte, dass die Ernährung des ganzen Körpers allein durch das Blut besorgt wei'de. Durch diese speciellen Forschungen auf dem Gebiet der Blutphysiologie wurde der Weg geebnet zu der grössten Entdeckung dieses Zeitraumes, zu der Ent- deckung des Blutkreislaufs durch Harvey (1578—1657). Der wichtige Punkt in Haüvey's Entdeckung liegt darin, dass er zuerst den Zusammenhang der Arterien und Venen durch das Capillarsystem und den Uebertritt des Blutes aus den Arterien durch die Capillaren in die Venenstämme und von hier ins Herz feststellte und so die That- sache begründete, dass alles Blut durch das Herz strömt und in einem geschlossenen Kreise im ganzen Körper circnlirt. Hieran fügte

14 Erstes Capitel.

er noch eine grosse Zahl specieller Thatsachen, den Mechanismus des Kreislaufs betreffend, die alle und darin liegt die grosse Bedeutung von Harvey's Arbeiten auf scharfer Beobachtung und exacter experimenteller Grundlage beruhten. Hakvey hat durch seine Ent- deckung, dem exacten Zuge seiner Zeit folgend, der auch einen CoPERNicus, einen Galilei, einen Bacon, einen Descartes hervorrief, die experimentelle Methode, nachdem sie in dreizehn Jahrhunderten völlig in Vergessenheit gerathen war, in der Physiologie aufs glänzendste wieder zu Ehren gebracht. Der gewissenhafte Forschergeist Harvey's, verbunden mit der grossen logischen Schärfe seines Verstandes, sind es, welche seine Persönlichkeit charakterisiren und ihn als den ersten wirklichen Physiologen nach der langen Nacht des Mittelalters erscheinen lassen. Uebrigens steht seiner Lehre vom Blutkreislauf eine zweite Lehre „de generatione animalium" ebenbürtig zur Seite, in welcher er einen Satz begründete, der später eine ungeheure Be- deutung in der Wissenschaft vom Leben gewonnen hat und in den verschiedenen Fassungen, die er in neuerer Zeit annahm, die ganzen modernen physiologischen Anschauungen von der Fortpflanzung der Organismen beherrscht, den Satz „omne vivum ex ovo".

Unter den Vertretern der grossen theosophischen Schule, welche Paracelsus hervorrief, hat nur Einer Bedeutung in der Geschichte der Physiologie erlangt, van Helmont (1577 lö44), und zwar dadurch, dass er trotz der Mystik, welche die ganze theosophische Richtung charakterisirt, auch wirklich genaue Beobachtungen gemacht hat. Auf dem Boden der PARACELSUs'schen Lehre von der All -Einheit der Natur und dem ewigen Werden derselben fussend, stellt er sich alle Naturkörper vor als zusammengesetzt aus der Materie und dem „Arche us" (Kraft). Nur in dieser Verbindung existiren die Dinge und leben. Alle Dinge sind in Folge dessen lebendig. Nur giebt es verschiedene Grade des Lebens, und die sogenannten leblosen Körper befinden sich nur auf der untersten Stufe des Lebens. Von den speciellen physiologischen Vorstellungen van Helmont's ist besonders interessant seine chemische Lehre von den Fermenten. Er verwirft die Idee Galen's, dass die Verdauung im Magen durch die Wärme geschehe, und setzt an ihre Stelle die richtige Vorstellung, dass das an die Magensäure gebundene „Ferment um" die Verdauung bewirke.

Einen grossen Einfluss gewannen auf die weitere Entwicklung der Physiologie die philosophischen Systeme des Bacon von Verulam (1561 1626) und des Descartes (1596 1650). Die monistische Philosophie Bacon's, welche durch die energische Betonung der inductiven Forschungsmethode zur Grundlage der ganzen modernen Naturwissenschaft wurde, gab auch auf physiologischem Gebiete zu der grossen Fülle von neuen exacten Beobachtungen Anlass, die, auf empirisch - experimentellem Boden erwachsen , seitdem ununterbrochen unsere Kenntnisse von den Lebenserscheinungen bereichert haben. Die Philosophie des Descartes, zwar rein dualistisch, gewann ihrerseits doch durch die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, die ihren Aus- gangspunkt bildete, grosse Bedeutung für die Sinnesphysiologie und Erkenntnisstheorie. Descartes war der erste, welcher den Satz auf- stellte, dass das Einzige in der W^elt, von dem wir sichere Kenntniss haben, die subjective psychische Empfindung sei. Unsere Psyche, unsere Empfindung, unser Denken muss daher ein für allemal der feste Punkt sein, auf den sich eine Weltanschauung stützt. Erst auf

Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forseluing. 15

dieser Grundlage lässt sich weiter bauen. „Cogito ergo suni." Die sinnliche Wahrnehmung dagegen giebt uns keinen Aufschluss über die Dinge, denn sie ist trügerisch, und die Dinge, d. h. die Körper sind in Wirklichkeit ganz anders, als sie uns durch unsere Sinnesorgane erscheinen. Diese Sätze von unberechenbarer Tragweite sind so bestimmt und klar ausgesprochen und begründet, und geben eine so ausgezeichnete Grundlage für ein philosophisches System, dass man sich wundern muss, wie Descartes, trotzdem in die grösste Inconsequenz verfallend, weiterhin zu einem vollendeten Dualismus von Körper und Seele gelangen konnte. Man könnte fjist verführt werden, zu denken, dass ein so klarer und folgerichtiger Denker, wie Descartes, im Stillen für sich die letzte Consequenz selbst zog und, nur dem Drucke der damaligen kirchlichen Verhältnisse Rechnung tragend, aus praktischen Rücksichten dem Gedankengange seiner Philosophie diese unerwartete Wendung gab, indem er es jedem vorurtheilsfreien Denker selbst über- lassen wollte, die offen zu Tage liegende Inconsequenz zu bemerken und den Schlussstein selbst in consequenter Weise auf das Gebäude zu setzen. Von der weitgehendsten physiologischen Bedeutung ist bei seinem Dualismus aber wieder die klare Einsicht, dass sich alle Thiere, sowie der Körper des Menschen vollkommen Avie kunstvoll gebaute Maschinen verhalten, dass sie sich bewegen nach rein mechanischen Gesetzen. Dann freilich tritt der Dualismus wieder störend hervor, indem Descartes den Anstoss für alle Bewegungen in die Seele verlegt, welche von der Zirbeldrüse aus, wo sie als dem einzigen unpaarigen Organ des Gehirns ihren Sitz haben soll, die einzelnen Theile des Körpers regiere. Indessen sind nicht blos die allgemein philosophischen Vorstellungen des Descartes von grosser Bedeutung für die Physiologie geworden, sondern der geniale Denker hat auch eine Reihe von sehr wichtigen, speciell physiologischen Beobachtungen gemacht, welche besonders die Lehre von den Sinnesorganen, die physiologische Optik und Akustik um einen bedeutenden Schritt gefördert haben.

Der DESCARTEs'sche Gedanke, dass der Körper des Menschen in Bezug auf seine Lebensverrichtungen als eine complicirte Maschine aufzufassen sei, wurde besonders fruchtbar für die Physiologie in der genialen Anwendung, welche er durch Borelli (1608 1679) in der Lehre von der thierischen Bewegung fand. Borelli unternahm es zum ersten Male, die Bewegungen und Leistungen der organischen Bewegungsapparate auf rein physikalische Gesetze zurückzuführen und schut so die Grundlage unserer heutigen Bewegungsmechanik der Thiere, Der grosse Erfolg dieses Unternehmens fand darin seinen Ausdruck, dass die Lehren Borelli's Ausgangspunkt einer eigenen Schule wurden, der iatromec hanischen (iatrophysischen oder iatromathematischen) Schule, welche eine bedeutende Rolle in der weiteren Entwicklung der Physiologie gespielt hat, indem sie darauf ausging, auch andere Lebenserscheinungen des Thierkörpers aus rein physikalischen Gesetzen zu erklären. Zugleich wairden unter den Nachfolgern Borelli's einige, besonders Glisson, die Vorläufer der späteren Muskelirritabilitätslehre, indem sie die Contractilität als eine der Muskelsubstanz selbst innewohnende Fähigkeit hinstellten.

Fast gleichzeitig mit der Begründung der iatrophysikalischen Schule sehen war eine andere, eine Zeit lang mit ihr parallel laufende Richtung entstehen, die iatrochem ische. Ihr Begründer

16 Erstes Capitel.

war Sylvius (1614 1672). Unbefriedigt durch die Einseitigkeit der latrophysiker, aber ohne die Bedeutung ihres Princips zu verkennen, betonte Sylvius neben dem physikalischen Erklärungsprincip der Lebenserscheinungen auch das chemische und bearbeitete, diesem Princip folgend, hauptsächlich die Physiologie der Verdauung und Athmung, indem er die van HELMONT'sche Lehre von den Fermenten weiterführte. In der Lehre von der Athmung äusserte auch Mayow (1645 1679) sehr treffende Gedanken über die Analogie der Athmung mit der Verbrennung.

Eine bedeutsame Unterstützung, deren Werth für die physio- logische Forschung aber bis auf den heutigen Tag noch nicht voll- kommen ausgenutzt worden ist, erfuhr die Physiologie in jener Zeit durch die Erfindung zusammengesetzter Mikroskope und die sich daran knüpfenden mikroskopischen Entdeckungen von Leeuwenhoek (1632—1723), Malpighi (1628-1694) und Swammerdamm (1637—1685). Vor Allem war es die Physiologie der Zeugung und Entwicklung, welche dadurch um ein bedeutendes Stück weitergeführt wurde. Freilich verleiteten gerade auf diesem Gebiet die ersten mikroskopischen Entdeckungen noch zu manchem verzeihlichen Irrthum. Als man z. B. anfing, Infusionen von Wasser auf fäulnissfähige Stoffe zu machen und das massenhafte Auftreten von Infusorien darin be- obachtete, glaubte man hier, dem Satze Harvey's „omne vivum ex ovo'' entgegen, eine Urzeugung, d. h. eine Entstehung aus leblosen Stoffen, vor sich zu haben, wie sie früher sogar für höhere Thiere von Aristoteles angenommen war. Andererseits aber wurde gerade der ÜARVEY'sche Satz wieder Ausgangspunkt für wichtige Entdeckungen, indem Malpighi die Entwicklung der Eier unter dem Mikroskope verfolgte, während Leeuwenhoek's Schüler Ludwig van Hammen die Spermatozoon entdeckte, deren Bedeutung Leeuwenhoek alsbald erkannte.

Durch diese und eine grosse Zahl von speciellen physiologischen Entdeckungen, die alle auf dem Grunde streng wissenschaftlicher Untersuchung gediehen, bekommt die Zeit des 17. und 18. Jahr- hunderts mit dem Auftreten Harvey's den Charakter des Aufblühens exacter Forschung in der Physiologie, wie ja der Zug der exacten Methode alle Wissenschaften jenes Zeitraums belebend und befruchtend durchweht. Daneben aber finden sich , wie sich das mehrfach in der Geschichte der Wissenschaften wiederholt, als Reaction gegen einseitig übertriebene Specialforschung Systeme, die gerade in das andere Extrem verfallen, die jeder exacten Grundlage entbehren und auf reiner Speculation beruhen. Zwar wusste Boekhaave (1668 1738) der ein eklectischcs System aus den verschiedenen Lehrmeinungen seiner Zeit zusammenstellte und als Quelle aller Lebenserscheinungen ein „principium nervosum" in Gestalt einer sehr dünnen Flüssigkeit annahm, durch Vorsicht diesem Vorwurf noch zu entgehen, um so mehr aber trifi't derselbe die Systeme von Hoffmann (1660 1742) und von Stahl (1660—1734). Das „mechanisch-dynamische System" Hoffmann's ist rein teleologisch und entstand unter dem Einfluss der Leibxi i'z'schen Philosophie. Als letzte Ursache aller Lebenserscheinungen •sieht Hoffmann den Aether an, dessen Bewegung einerseits zwar nach mechanischen Gesetzen erfolgt, andererseits aber ihren unmittelbaren Antrieb durch die jeder Aethermonade innewohnende Vorstellung ihres eigenen Daseinszweckes erhält. Noch mehr auf speculativen

Von den Zielen und Wegen der physiologischen rorschuug. 17

Füssen steht aber das „animistische System" Stahl's, welches die Leliren IIoffmann's befehdete. Stahl's System liegt ein Dualismus von Körper und Seele zu Grunde, nach Avelchem der Körper in seinen Verrichtungen zwar mechanischen Gesetzen folgt, aber erst durch die „anima", über deren Natur sich Stahl nur ganz unklar und widersprechend äussert, belebt und vor Fäulniss und Zerfall be- wahrt wird. Trotz der haltlosen Speculationen und vielen Wider- sprüche gewann der „Animismus" doch zahlreiche Anhänger, was, wie gesagt, nur aus dem Bedürfniss nach einer Sichtung der zahllosen Einzelthatsachen und einer zusammenhängenden Auffassung der Lebenserscheinungen gegenüber den vielen speciellen Untersuchungen zu erklären ist.

D. Das Zeitalter Haller s.

Dem Bedürfniss nach einer einheitlichen Zusammenfassung des gesammten Gebietes entsprach in wirklich wissenschaftlicher Weise erst Haller (1708 1777), von dessen Auftreten daher gleich wie einst von dem Galen's und später Harvey's eine neue Epoche in der Entwicklung der physiologischen Forschung datirt. Hatte Galen die praktische Bedeutung der Physiologie zuerst erkannt und die Kennt- niss der Lebenserscheinungen zur Grundlage für die praktische Medizin gemacht, hatte Harvey durch Einführung der exact experimentellen Forschung der Physiologie die fruchtbringende Methode geschaffen, deren Anwendung im 16. und 17. Jahrhundert die ungeheure Menge von Einzelentdeckungen hervorrief, so fasste Haller zum ersten Male das ganze gewaltig angewachsene Material von Thatsachen und Theo- rieen in seinen „Elementa physiologiae corporis humani" zu einem Ganzen zusammen und schuf aus der Physiologie eine selbständige Wissenschaft, die nicht bloss praktische Zwecke im Interesse der Heil- kunde, sondern auch für sich rein theoretische Ziele verfolgte.

In dieser That Haller's liegt seine grosse Bedeutung für den Fortschritt in der Entwicklung der Physiologie. Eine Zusammenfassung eines grossen Thatsachenmaterials zu einem geschlossenen und über- sichtlichen Ganzen wirkt immer anregend und befruchtend für die weitere Forschung, und so erklärt sich die ungeheure Autorität und der gewaltige Einfluss, den Haller auf die Entwicklung der physiologischen Forschung gewonnen hat. Seine eigenen physiologischen Untersuchungen dagegen sind zwar sehr gewissenhaft und exact, wie z. B. die Untersuchungen über die Athembewegungen und zur Irri- tabilitätslehre , enthalten aber nicht gerade epochemachende Ent- deckungen und haben sogar zum Theil das Unglück gehabt, in der weiteren Entwicklung der Physiologie eine verhängnissvolle Rolle zu spielen. Das gilt besonders von zwei Lehren, welche Haller vertrat, von der sogenannten Präformationstheorie und der Irritabilitätslehre,

Die Präformation sichre (Einschachtelungstheorie) entstand im Anschluss an die mikroskopischen Beobachtungen, welche im 17. Jahrhundert über die Entwicklung des Eies gemacht wurden. Da man sah, wie sich aus einem einfachen kleinen Ei nach und nach durch allmähliches Ausbilden eines Organs nach dem andern ein vollständiges Thier entwickelte, so entstand die Vorstellung, dass alle im Laufe der Entwicklung auftretenden Organe, kurz das ganze Thier, bereits als solches im Ei präformirt oder eingeschachtelt sei

Verworn, AUgemeiue Physiologie. 2. Aufl. 2

18 Erstes Capitel.

und sich nur durch zunehmendes Wachsthum und Auseinanderfaltung den Augen sichtbar mache^ dass also das Ei, oder wie Andere meinten, das Spermatozoon des Menschen bereits ein fertig gebildeter, kleiner Homunculus sei. Die nothwendige Consequenz dieser Vorstellung war die Annahme, dass bereits bei Erschaffung der Welt in dem Ei eines jeden Thieres sämmtliche kommenden Generationen fertig vorgebildet enthalten gewesen wären. Das Widersinnige dieser Auffassung führte einen jungen Arzt, Caspar Friedrich Wolff (1733 1794) zu einer neuen Lehre, welche er der Einschachtelungstheorie gegenüberstellte. Die „Theoria generationis" Wolff's, die später die Grundlage für unsere ganzen modernen Vorstellungen von der Entwicklung der Organismen geworden ist, bestritt die Einschachtelung und setzte an ihre Stelle die „Epigenesis" , welche ausdrückt, dass alle Organe des Körpers bei der Entwicklung nach einander gebidlet werden, dass sie also als völlig neue Theile entstehen und vorher im Ei nie in dieser Form vorhanden gewesen sind. Haller konnte sich mit der Idee der Epigenesis nicht befreunden und trat ihr energisch ent- gegen, indem er mit seiner ganzen Autorität das Präformationsdogma stützte und so den Fortschritt in der Lehre von der thierischen Ent- wicklung um mehr als ein halbes Jahrhundert verzögerte.

In etwas anderer Weise wirkte auf den Entwicklungsgang der Physiologie die Haller'scIic Irritabilitätslehre ein. Die be- treffenden Untersuchungen Haller's waren sehr exact und förderten durch experimentelle Behandlung die Frage von der Irritabilität um ein Bedeutendes, aber sie wurden von den Nachfolgern Haller's in mehrfacher Weise falsch verstanden und weitergeführt und bildeten so den wesentlichsten Ausgangspunkt für eine Lehre, welche die ganze Physiologie bis zur Mitte unseres Jahrhunderts befangen hielt und noch jetzt in verschiedenartiger Form hier und dort wieder auftaucht, d. i. die Lehre von der „Lebenskraft". Die Thatsache der Irritabilität oder directen Reizbarkeit der Muskeln war schon von den älteren latro- physikern, besonders von Glisson (1597 1677) betont worden. Haller bemächtigte sich der Irritabilitätsfrage wieder und führte den Experi- mentalbeweis dafür, dass die Muskelfaser unabhängig vom Nerven- einfluss die Fähigkeit, sich auf Reizung zu contrahiren, besitze, eine Eigenschaft, die er als Irritabilität scharf von der den Nerven zukommenden Sensibilität unterschied. Durch diese scharfe Unter- scheidung wurde ein Gegensatz zwischen Nerven- und Muskelerregung statuirt, welcher der Wirklichkeit nicht ganz entsprach und in vielen von den Nachfolgern und Anhängern Haller's das Bedürfniss erweckte, die Irritabilität als ein einheitliches Phänomen nachzuweisen.

Am erfolgTeichsten versuchte das der geniale aber liederliche Eng- länder John Brown (1735 1788). Brown kannte überhaupt nur eine einzige dem Nerven- und Muskelsystem, das er sich als ein einheitliches Ganzes dachte, gemeinsame Erregbarkeit. Die Fähigkeit, durch Reize erregt zu werden, komme der ganzen lebendigen Natur zu und sei gerade die Grundeigenschaft, wodurch sich die lebendigen Wesen, Thiere und Pflanzen, von den leblosen unterscheiden. Ueber das Wesen der Erregbarkeit äussert sich Brown ebensowenig wie alle anderen Physiologen, welche die Irritabilität behandelten.

Die Hoffnungen der latromechaniker und latrochemiker, die Lebenserscheinungen ohne Rest in Physik und Chemie auflösen zu können, waren nicht in Erfüllung gegangen. In der Irritabilität hatte

Von den Zielen und Wegen der pliysiologischen Forschung. 19

Dian eine Erscheinung, die, wie man glaubte, alle Organismen allen leblosen Körpern gegenüber auszeichnete und die doch einer physi- kalisch-chemischen Erklärung zu spotten schien. In Verbindung nn't den noch immer nicht überwundenen dynamischen Systemen Hofp- mann's und Stahl's wurde daher der unerklärte Begriff' der Erregbar- keit Ausgangspunkt für den Vitalismus oder die Lehre von der Lebenskraft, die in ihrer vollendetsten P^'orm einen scharfen Dualismus zwischen lebendiger und lebloser Natur zum Ausdruck brachte. Diese Lehre trat zuerst in Frankreich, besonders in der Schule von Montpellier, später auch in Deutschland auf, und ihre un- klaren Vorstellungen von der Lebenskraft beherrschten bald die ganze Physiologie. In Frankreich wurde der Vitalismus begründet durch BoRDEU (1722 1776), weiter ausgebildet durch Barthez (1734— 1806) und Chaussier (1746 1828), und am schärfsten formulirt von Louis Dumas (1765 1813). Die Vitalisten verwarfen bald die mechanischen und chemischen Erklärungen der Lebenserscheinungen meiir oder weniger radical und führten eine über allen waltende „force hyper- mecanique" als Erklärungsprincip ein, die unbekannt und unerforsch- lich sei. Während alle Erscheinungen an den leblosen Körpern zurückzuführen seien auf die Wirksamkeit chemischer und physika- lischer Kräfte, herrsche in den lebendigen Organismen eine besondere Kraft, deren Thätigkeit die sämmtlichen Lebenserscheinungen hervor- bringe. In Deutschland entwickelte sich der Vitalismus nicht zu dieser Klarheit. Sein Begründer Reil (1759—1813) sprach zwar abweichend von den französischen Vitalisten in seiner Abhandlung „über die Lebens- kraft" ziemlich deutlich die Ansicht aus, dass auch die Erscheinungen in den lebendigen Organismen chemisch -physikalischer Natur seien, nur walteten hier Gesetze, welche ausschliesslich in den Organismen durch die eigenthümliche Form und Mischung der lebendigen Substanz bedingt seien. Indessen die späteren Vitalisten erklärten den Begriff der Lebenskraft überhaupt nicht mehr und benutzten die völlig mystische Lebenskraft, von der sie besondere Arten unterschieden, als bequeme Erklärung für die verschiedensten Lebenserscheinungen, wie z. B. den „nisus formativus" als Erklärung für die Formentwicklung der Organismen. Dass aus dem Ei eines Huhnes sich immer wieder ein Huhn und nie ein anderes Thier entwickelt, dass die Nachkommen eines Hundes immer wieder Hunde werden, erklärte sich einfach aus dem specifischen „nisus formativus", aus dem eigenthümlichen „Bil- dungstrieb" des betreffenden Thieres. Man begnügte sich für eine Erklärung mit dem blossen Wort „Bildungstrieb", „Lebenskraft" etc. und verstand darunter eine nur allein den Organismen zukommende mystische Kraft. So war es leicht, die complicirtesten Lebenserschei- nungen zu „erklären".

Doch fehlte es daneben nicht an Forschern, welche sich mit dieser Art von Erklärung nicht begnügten und unbekümmert um die Lebens- kraft in der chemisch-physikalischen Erklärung der Lebens- erscheinungen fortfuhren. Mächtige Anregung dazu gaben die neuen Entdeckungen Galvani's (1737 1798), welcher bewies, dass vom lebenden Thierkörper, besonders von den Nerven Elektricität erzeugt w^erde. Diese Thatsache wurde freilich in ihrem Werthe sehr bald tiberschätzt, und unter dem Bann der damaligen Naturphilosophie entwickelte sich besonders in Folge der Untersuchungen Ritter's (1776—1810), zum Theil auch Alexander von Humboldt's (1769—1859)

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20 Erstes Capitel.

und Anderer, welche die Versuche Galvani's fortsetzten, die noch später sehr beliebte Vorstellung, dass der galvanische Strom die Ursache sämmtlicher Lebenserscheinungen sei, ja sogar, dass sich aus der galvanischen Polarität überhaupt alle Erscheinungen der gesammten Natur erklären Hessen.

Auch die grossen chemischen Entdeckungen des vorigen Jahr- hunderts beeinflussten die Entwicklung der Physiologie. Besonders wurde die Pflanzenphysiologie durch Ingenhouss (1780 1799) ge- fördert, der die Lehre von dem Kohlensäure-Verbrauch der Pflanzen entwickelte. Die für die Physiologie so ungeheuer wichtige Entdeckung des Sauerstoffs durch Priestley (1733—1804) und Lavoisibr (1743 bis 1794) endlich trug ihre ersten Früchte, als Girtanner (1760 1800) zeigte, dass das venöse Blut in den Lungen Sauerstoff aus der ein- geathmeten Luft aufnehme. Durch diese Entdeckung wurde die alte Pneumalehre, welche einst Jahrhunderte hindurch die physiologischen Vorstellungen beherrscht hatte, in moderner Form zu ihrem Recht gebracht und gleichzeitig die geniale Idee Mayow's, der die Athmung mit einem Verbrennungsprocess verglichen hatte, zum Range einer fundamentalen Thatsache in der Physiologie erhoben.

Neben den physikalischen und chemischen Entdeckungen jener Zeit führten auch die anatomischen zu wichtigen physiologischen Ergebnissen, unter denen das von Charles Bell (1774 1842) er- schlossene, von Johannes Müller später experimentell bewiesene Fundamentalgesetz der speciellen Nervenphysiologie, welches besagt, dass die hinteren Ursprungsfasern der Rückenmarksnerven sensibel (centripetalleitend), die vorderen dagegen motorisch (centrifugalleitend) sind, den ersten Rang einnimmt.

Auf dem Gebiete der mikroskopischen Forschung schliesslich erwarb sich Spallanzani (1729—1799) und später besonders Treviranus das Verdienst, durch zweckmässig angeordnete Versuchsreihen die Lehre von der Urzeugung der Infusionsthierchen aus fauligen Aufgüssen experimentell widerlegt und gezeigt zu haben, dass sich auch diese niedrigsten aller lebendigen Wesen nur aus Keimen entwickeln, die überall in der Luft und im Wasser zu finden sind, so dass also der HARVEY'sche Satz: „omne vivum ex ovo" auch hier keine Ausnahme erleidet.

Die meisten von allen diesen exacten Untersuchungen lieferte England und Frankreich, während in Deutschland zu jener Zeit die Naturphilosophie durch ihren maasslosen Drang nach reiner Speculation auf naturwissenschaftlichem Gebiet selbst die bedeutendsten Geister, wie Oken, mit sich fortriss.

E. Das Zeitalter Johannes Müller's.

Johannes Müller^) (1801 1858) ist eine jener monumentalen Gestalten, wie sie die Geschichte jeder Wissenschaft nur einmal her- vorbringt. Dem Gebiete, auf dem sie wirken, geben sie ein voll- kommen verändertes Antlitz, und alle spätere Entwicklung ruht auf ihren Schultern.

^) Die hervorragendste Würdigung Johannes Müller's findet sich in der Ge- dächtnissrede, welche Du Bois-Kevmund auf Johannes Müller hielt.

Von den Zielen uiul Wegen der physiologischen Forschung. 21

Johannes Müller war, wie die Forscher seiner Zeit, Vitalist, aber sein Vitalisnuis hatte eine sehr glückliche Form. Die Lebens- kraft war ihm zwar eine Kraft, die etwas ganz Anderes ist als die Kräfte der leblosen Natur, aber er stellte sich vor, dass ihr Walten streng nach physikalisch-chemischen Gesetzen erfolge, so dass Müller's ganzes Streben dahin ging, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären. Dabei umfasste er das ganze Gebiet der Lebenserscheinungen gleichmässig, vernachlässigte keine und schuf auf allen Einzelgebieten durch eigene, immer originelle Untersuchungen die Grundlage, auf der Avir weiter arbeiten. Stets hielt er bei seinen Arbeiten den Blick auf das Ganze gerichtet; nie stellte er Specialuntersuchungen an, die ihm nicht helfen sollten, irgend ein grosses allgemeines Problem zu lösen. Das Geniale an ihm, und das, Avas gerade in der neueren Physiologie so sehr vermisst wird, war aber die Art und Weise, wie er die Probleme anfasste. Er kannte nicht „eine" physiologische Methode, er benutzte jede Methode, jede Behandlungsweise, die gerade augenblicklich das Problem erforderte, das er mit kecker Hand ergriff. Physikalische und chemische, anatomische und 'zoologische, mikro- skopische und embryologische Kenntnisse und Methoden standen ihm gleichmässig zur Verfügung, und alle benutzte er seiner jcAveiligen Absicht gemäss.

Die Naturphilosophie, welche zur Zeit Johannes Müller's unter dem Einfluss der ScHELLiNo'schen und HEOEL'schen Ideen ihre üppig- sten Blüthen trieb und mit ihrer zügellosen, jeder thatsächlichen Grundlage entbehrenden Speculation die Naturforschung bedrohte, konnte auf den streng kritischen Geist Johannes Müller's nur die segensreichste Wirkung ausüben. Er erkannte in dem himmelstürmen- den Drang der Naturphilosophen den berechtigten Keim und gestaltete unter diesem Einfluss seine eigene Forschungsweise zu dem Typus einer echt philosophischen Naturforschung, welche, die grossen Probleme und das Ziel der Wissenschaft immer im Auge be- haltend, mit kritischem Blick die speciellen Methoden und Fragen stets nur als Mittel zum Zwecke betrachtet, als Mittel, zu einer har- monischen Auffassung der Natur zu gelangen. Dieser philosophischen Auffassung der Naturforschung, die Johannes Müller bereits in seiner Habilitationsrede: „Von dem Bedürfniss der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung" energisch hervorgehoben hat, ist er sein ganzes Leben hindurch unerschüttert treu geblieben, und es ist gewiss eine merkwürdige Erscheinung, dass bei aller einmüthigen Bewunderung, mit der man zu der Gestalt Johannes Müller's auf- blickt, in der neueren Physiologie gerade dieses Moment nicht selten ganz vernachlässigt worden ist. Das hat sich unter Anderem besonders bemerkbar gemacht auf zwei Gebieten, für die Johannes Müller von Jugend auf das lebhafteste Interesse gehabt, in der Psychologie und der vergleichenden Physiologie.

Die Psychologie wird von der heutigen Physiologie fast mit einer gewissen Aengstlichkeit gemieden, die in einem eigenthümlichen Gegensatz zu der Auffassung Johannes Müller's steht, der gerade die Physiologie als allein berufen ansah, in der Psychologie auf empirischem Wege einen Fortschritt zu erzielen, und der bereits bei seiner Doctorprüfung die These vertheidigte: „Psychologus nemo nisi Physiologus." Es ist Avahr: keinesfalls ist die Psychologie eine Wissen- schaft, die ohne Weiteres als Theilgebiet der Physiologie betrachtet

22 Erstes Capitel.

werden darf; aber die Erfahrungen der Physiologie auf dem Gebiete des Nervensystems und der Sinnesorgane sind doch von so grund- legender Bedeutung für die Psychologie, dass man sagen muss, die Physiologie ist mehr als irgend eine andere Naturwissenschaft berufen, mit der Psychologie in Beziehung zu treten. Mit welchem Erfolg die Physiologie psychologische Probleme zu fördern im Stande ist, zeigen grade Müller's eigene Arbeiten am deutlichsten; es hat wohl kaum je eine physiologische Entdeckung eine grössere, leider immer noch nicht allgemein gewürdigte Tragweite für die ganze Psychologie und Erkenntnisstheorie gehabt, als die Lehre von der specifischen Energie der Sinnesnerven oder Sinnesorgane. Diese Lehre sagt, dass die verschiedensten Reize, welcher Art sie auch sein mögen, auf das- selbe Sinnesorgan, z. B. das Auge, angewandt, immer nur ein und dieselbe Art der Empfindung hervorzurufen im Stande sind, und zwar die Empfindung, welche durch das betreffende Sinnesorgan bei Ein- wirkung seines natürlichen Reizes, in unserem Falle also des Lichtes, vermittelt wird. Umgekehrt ruft ein und derselbe Reiz, auf ver- schiedene Sinnesorgane applicirt, ganz verschiedenartige Empfindungen hervor, je nach der Beschaffenheit des Organs, auf das er einwirkt. In diesem Satze ist die fundamentale Thatsache begründet, dass die Aussenwelt in Wirklichkeit gar nicht das ist, als was sie uns durch die Brille unserer Sinnesorgane wahrgenommen erscheint, und dass wir auf dem Wege unserer Sinnesorgane überhaupt nicht zu einer adaequaten Erkenntniss der Welt gelangen können. Ausser diesem fundamentalen Satz hat aber Müller noch eine ganze Reihe anderer wichtiger psychologischer Thatsachen gefunden, die er in seinen Ar- beiten „zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere", „über die phantastischen Gesichtserscheinungen" und in dem Buche „Vom Seelenleben" seines Handbuchs der Physiologie niedergelegt hat.

Mit der vergleichenden Physiologie hat Müller eine ganz neue Wissenschaft begründet, angeregt durch die Ideen seines Lehrers Rudolph:, die dieser in den Worten zusammenfasste : „Die vergleichende Anatomie ist die sicherste Stütze der Physiologie, ja ohne dieselbe wäre kaum eine Physiologie denkbar." Müller vertrat sein ganzes Leben hindurch den Standpunkt, es könne „die Physiologie nur eine ver- gleichende sein", und es giebt unter der schier erdrückenden Zahl seiner physiologischen Arbeiten wenige, in denen das vergleichend - physio- logische Princip nicht mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck käme,

Zusammengefasst hat Müller die Ergebnisse seiner eigenen Unter- suchungen sowohl wie überhaupt alles physiologische Wissen seiner Zeit in seinem „Handbuch der Physiologie". Dieses „Handbuch der Physiologie" steht noch heute unübertroffen da in der wahrhaft philo- sophischen Art und Weise, wie hier der ganze, durch die zahllosen speciellen Untersuchungen ins Unermessliche angewachsene Stoff zum ersten Male gesichtet und zu einem grossen einheitlichen Bilde von dem Getriebe im lebendigen Organismus ver- einigt worden ist. Das Handbuch ist in dieser Beziehung bis heute nicht nur unübertroffen, ja es ist sogar unerreicht. Zwar sind viele von den Einzelheiten desselben nach heutigen Vorstellungen nicht mehr ganz richtig, zwar haben neuere, mit vollkommenerer Technik aus- geführte Arbeiten einzelne Gebiete gewaltig erweitert und umgestaltet, zwar sind manche selbst von den allgemein - physiologischen Vor-

Von ileu Ziukui iiud Wegen der i)liysi(jlogisclien Fnrschiuig. 23

Stellungen jMCllkr's, wii; die Vorstellung von der Lciljonskral't, von der neueren Physiologie vollstilndig fallen gelassen worden; soviel aber steht fest, dass von allen den zahllosi^n Handbüchern, welche seit Johannes Müller entstanden sind, in Bezug auf die Behandlungsweise des Stoffes kein einziges das Handbuch des grossen Meisters erreicht hat. Die meisten der nt!ueren Handbücher, Lehrbücher, Grundrisse etc. nehmen sich, obwohl sie fast ausschliesslich für den Gebrauch des Studenten berechnet sind, nicht einmal die Mühe, die Ziele, das Problem, den Zweck der physiologischen Forschung auch nur kurz anzudeuten, geschweige denn dem Stoffe im Ganzen eine philosophische Behandlung im Sinne Johannes Müller's angedeihen zu lassen, ein Mangel, der gerade vom denkenden, nicht bloss blind auswendig ler- nenden Studenten als grosser Nachtheil empfunden werden muss. Nur sehr wenige Lehrbücher, wie z. B. die ausgezeichneten „Vorlesungen über Physiologie" von Brücke, machen darin eine Ausnahme.

Die unermüdliche physiologische Thätigkeit Johannes Müller's, die ihm den Ruhm, bei weitem der grösste Physiologe aller Zeiten zu sein, eintrug, hinderte ihn nicht, namentlich in seinen späteren Lebens- jahren sich der Morphologie, speciell der Zoologie, vergleichenden Ana- tomie und Palaeontologie mit gleichem Eifer hinzugeben und sich hier wieder den Namen des grössten Morphologen seiner Zeit zu erwerben. So vielseitig und umfassend Avar der gewaltige Mann, dass er zwei mächtige Gebiete, deren jedes jetzt kaum Einer allein zu übersehen im Stande ist, in allen ihren einzelnen Theilen durch eigene grund- legende Arbeiten vollständig beherrschte.

Dass ein so ungeheures Reich nach dem Tode seines Beherrschers nicht mehr einheitlich zusammenhalten konnte, nimmt kein Wunder. Wie das Weltreich Alexander's nach dessen Tode, zerfiel es in viele kleine Territorien, deren jedes von seinem eigenen Herrscher regiert Avurde, und es dürfte auch schwerlich bei dem jetzigen Umfange der Wissenschaft sich je wieder ein Sterblicher finden, der, selbst wenn er mit der übermenschlichen Arbeitskraft Johannes Müller's begabt wäre, das ganze, einst von diesem gegründete Reich in allen seinen Theilen gleichmässig zu beherrschen im Stande wäre.

Die Morphologie war schon lange vor Johannes Müller selbst- ständig gewesen. Die Physiologie theilte sich bald nach seinem Tode in eine ausschliesslich chemische und eine rein physika- lische Richtung.

Die chemische Richtung leitet sich her von Wöhler (1800 bis 1882) und Liebig (1803—1873). Durch die epochemachende Synthese eines in der Natur nur von Organismen producirten Körpers, des Harnstoffs, aus rein anorganischen Stoffen, versetzte Wühler im Jahre 1828 der Lehre von der Lebenskraft bereits eine unheil- bare Todes wunde. Man hatte geglaubt , die Stoffe , welche der Organismus producirt, entständen nur durch die Thätigkeit der Lebenskraft: hier war zum ersten Male ein sehr charakteristisches Stoffproduct des Thierkörpers im chemischen Laboratorium auf künst- lichem Wege dargestellt worden, und bald folgten dieser Synthese andere nach. Der Begründer der neueren Anschauungen vom Stoff- wechsel der Organismen wurde Justus v. Liebig, und in neuester Zeit haben besonders Voit, Pflüger, Zuntz und Andere die Stoff- wechsellehre, wenn auch nicht übereinstimmend, weitergeführt. Die physiologische Chemie gestaltete sich mehr und mehr zu einer

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Erstes Capitel.

eigenen Wissenschaft, besonders als Mulder und Lehmann zuerst eine Zusammenfassung des Gebietes gaben und vor Allem, als Kühne durch seine originellen Methoden und Untersuchungen namentlich über die physiologisch-chemischen Verhältnisse der P^iweisskörper neues Licht zu verbreiten wusste und seine Auffassung der physiologischen Chemie in seinem Lehrbuch zum Ausdruck brachte. Schliesslich löste sich in neuester Zeit die physiologische Chemie unter den Arbeiten von Hoppe-

Fig. 1. / LuDwiü's Kymographion. Der eine Schenkel des Manometer- rohrs wird bei A in eine Arterie eingebunden , so dass die Blut- druckschwankiingen sich auf die Quecksilbersäule fortpflanzen und den im anderen Schenkel auf dem Quecksilber befindlichen Schwim- mer mit seinem Schreibhebel in Bewegung setzen. Der Schreib- hebel schreibt seine Schwankungen aufdie Trommele auf, welche durch ein Uhrwerk B in constanter Ro- tation erhalten wird. Aus Brücke.

II Pulscurve von einem Ka- ninchen. Die kleinen Erhebungen sind die Blutdruckschwankungen des Pulses, die grossen Wellen- linien die Schwankungen, welche der Blutdruck durch die Athmung erfährt.

Seyler, Hammarsten, Bunge, Halliburton, Baumann, Kossel. und Anderen nicht zum Vortheil der Physiologie als selbständige Wissen- schaft ganz von der Physiologie los.

Die physikalische Richtung begründeten E. H, Weber (1795—1878), Volkmann (1801—1877), Ludwig (1816—1895), Helm- HOLTZ (1821—1894), Du Bois-Reymond (1818—1896), Marey u. A. Vor Allem schuf Ludwig eine für die Untersuchung der rein physikalischen Leistungen des Thierkörpers äusserst werthvolle Methode von der weitest-

Von den Zilien und Wcj;cn dvr ])liysiologischcn Forscliung. 25

tragenden Bedeutung, indem er die rliytlnnischen Druckschwunkungen des Pulses durch mechanische Uebertragung auf einen ])e\veglichen Sehreibhebel sich selbst auf eine glatte, mit gleichmässiger Ge- schwindigkeit bewegte Papierfläche aufzeichnen Hess (Fig. 1). Diese „gra])hische Methode" erwies sich als so ungemein fruchtbar, dass sie in der Folge die weiteste Verwendung in der Physiologie fand. So wurde sie unter Anderem für die graphische Darstellung der Muskelzuckung, der Athembewegungen , des Herzschlages etc. ver- wendet. In Frankreich war es Marey, der die graj)hische Methode zu ungeahnter Vollkommenheit ausbildete, so dass sie jetzt als wichtigstes Forschungsmittel dient bei allen Untersuchungen, in denen es sich um makroskopische Bewegungserscheinungen handelt. Neben der graphi- schen war es noch eine andere Methodik, welche für die physika- lische Seite der Physiologie fundamentale Bedeutung erlangte, die umfangreiche, geistvolle, durch E. Du Bois-Keymond's classische Unter- suchungen über die allgemeine Muskel- und Nervenphysik geschaffene Technik der galvanischen Reizung. Du Bois-Reymond hat durch die Ausbildung dieser Technik den galvanischen Strom zu einem so bequem anwendbaren, fein abstufbaren und leicht localisirbarcn Reiz für Nerven und Muskeln gestaltet, wie es keiner der anderen Reize ist, so dass jetzt überall, wo es sich um Reizungsversuche handelt, der galvanische Reiz immer die erste Stelle einnimmt. Die weiteste Anwendbarkeit verdankte schliesslich diese geniale physikalische Methodik der Ausbildung der vivisectorischen Technik von Seiten der grossen französischen Physiologen Magendie (1783 1855) und Claude Bernard ( 1 813 1878). Claude Bernard führte die operative Physiologie zu ihrer höchsten Blüthe, ohne dabei in Einseitigkeit zu verfallen. Er war ein philosophischer Forscher, der die allgemeinen Probleme des Lebens bei seinen Untersuchungen im Auge hatte. Kein Wunder, wenn man daher die ganze französische Physiologie von heute als Claude Bernard's Schule betrachten muss.

Neben der chemischen und physikalischen Richtung in der Physio- logie traten nach Johannes Mltller's Tode die übrigen Seiten etwas mehr in den Hintergrund oder wurden ganz vernachlässigt.

Die psychologische Forschung wurde besonders durch die Physiologie der Sinnesorgane, in der die genialen Untersuchungen von Helmholtz und Hering zu den wichtigsten Ergebnissen führten, sowie durch die Physiologie des Centralnervensystems der höheren Wirbelthiere gefördert, welche durch die epochemachenden Arbeiten von Flourens (1794 1864), Hitzig, Munk, Goltz, Horsley und An- deren ausgebaut wurde. Der Versuch Preyer's, die psychischen Er- scheinungen des Menschen in ihrer Entwicklung während der ersten Lebensjahre zu verfolgen, ist leider bisher vereinzelt geblieben.

Den allgemeinen Fragen der Physiologie wurde Anfangs nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die „allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens" von Lotze (1851) war zwar rein speculativ und behandelte die physiologischen Fragen vom Standpunkt des Philo- sophen, aber sie hätte dennoch der experimentellen Physiologie jener Zeit in wichtigen Fragen manche werthvolle Anregung bieten müssen, wenn das Interesse für allgemeine Probleme in der exacten Wissen- schaft grösser gewesen wäre. Die ausgezeichneten Arbeiten von Charles Robin: „Chimie anatomique et physiologique" (1853) und „Anatomie et physiologie cellulaires" (1873) sind, obwohl sie schon

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einen zusammenhängenden Abriss der Anatomie und Physiologie der Zelle boten, leider ebenfalls von physiologischer Seite nur wenig ge- würdigt worden. Auch die cellularpathologischen Untersuchungen und Ideen Rudolf Virchow's („Cellularpathologie" 1858), welche die Vor- stellungen der ganzen Medizin von Grund aus umwälzten, haben, trotz- dem sie die enorm praktische Bedeutung allgemein-physiologischer Untersuchungen an der Zelle auf das Augenfälligste zeigten, doch bis vor ganz kurzer Zeit auf die Entwicklung der Physiologie kaum den geringsten Einfluss gehabt, weil die Physiologie durch Fragen speciellerer Art captivirt war. Mehr Aufmerksamkeit erregten dagegen die „Legons sur les phenomenes de la vie communs aux animaux et vegetaux" Claude Beknard's (1878), die eine Reihe von allgemeinen Lebensfragen in classischer Form, wenn auch etwas ungleichmässig, behandelten. Gleichmässiger suchte Pkeyer die Fragen der allgemeinen Physiologie zu erörtern in seinen „Elementen der allgemeinen Physiologie" (1888), die sich aber leider mit einem schematischen Abriss des Gebietes be- gnügten. Schliesslich lieferten die Untersuchungen der Histologen und Zoologen manchen Beitrag zur Physiologie der Zelle, und besonders wurde die Physiologie der Fortpflanzung, Befruchtung, Entwicklung und Vererbung in unserer Zeit von dieser Seite ganz der eigentlichen Physiologie abgenommen und mit grossem Erfolg zu einem selbständigen Gebiet ausgebaut. „Die Zelle und die Gewebe" von O. Hertwig (1892), die „Gesammelten Abhandlungen über Entwicklungsmechanik" von W. Roux (1895), sowie „La structure du protoplasme et les theories sur l'heredite etc." von Yves Delage (1895) liefern Zusammenfassungen der grossen Leistungen auf diesem Gebiet.

Die vergleichende Methode wurde seit Johannes Müller in der Physiologie nicht mehr angewandt, man müsste denn die wenigen Arbeiten, welche hin und wieder an anderen Versuchsthieren als dem üblichen Hund , Kaninchen oder Frosch ausgeführt wurden , als ver- gleichende betrachten.

Unabhängig von der übrigen Physiologie entwickelte sich indessen die Pflanzen Physiologie zu einer selbständigen blühenden Wissen- schaft, ja die ausgezeichneten Arbeiten von Hofmeister, Nägeli, Sachs, Pfeffer, Strasburger, Berthold u. A. haben sie in neuerer Zeit zu dem vollkommensten Zweige der Physiologie überhaupt gemacht. Es liegt dies einerseits in dem Umstand, dass alle Lebensverhältnisse in der Pflanze bedeutend einfacher und übersichtlicher sind, als im thieri- schen Organismus, andererseits aber auch darin, dass sich die Pflanzen- physiologie gewisse Erfahrungen der Naturwissenschaft zu Nutze ge- macht hat, die in der Thierphysiologie theils wenig, theils überhaupt noch nicht Verwendung gefunden haben.

Es sind besonders drei der grössten Entdeckungen dieses Jahr- hunderts, von deren weiterer Auswerthung die Physiologie noch grosse Erfolge erwarten darf.

Die eine dieser gewaltigen Entdeckungen ist das bereits von Robert Mayer (1814 1878) mit Bestimmtheit ausgesprochene, von Helmholtz in umfassendster Weise begründete Gesetz von der Erhaltung der Energie. Die modernen chemischen Untersuchungen hatten bereits zur Erkenntniss des Gesetzes von der Erhaltung des Stoffes geführt, indem sie zeigten, dass die Stoffmenge, die Menge der Atome in der Welt eine constante sei, dass durch kein Mittel in der Welt das kleinste Atom vernichtet oder neugebildet werden könne.

Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forscliung. 27

Das Gesetz von der Erlialtung der Elnergie wies die gleiche Constanz für die Summe der Kraft im Weltall nach. Kraft oder „Energie'" kann ebensowenig vernichtet oder neugebildet werden wie Materie, und wo uns Energie zu verschwinden oder zu entstehen scheint, da geht sie in \\'irklichkeit nur aus einer Form in eine andere über. Unter den Kräften, die wir kennen, unterscheiden sich zwei Moditicationen : Lebendige Kraft oder kin etisc he Energie, insofern die Kraft in Action ist, d. h. Bewegung erzeugt, und Spannkraft oder potentielle Energie, insofern sie latent ist, aber unter bestimmten Bedingungen in Action treten kann. So geht z. B. die Spannkraft, w^elche einst aus Umformung der lebendigen Energie der Sonnen- strahlen durch die Thätigkeit der Pflanzen zur Steinkohlenzeit ge- bildet und als chemische Affinität in Form gewaltiger Kohlenlager aufgespeichert worden ist, beim Verbrennen der Kohle in Wärme über. Die Wärme ihrerseits wird durch die Dampfmaschinen, die mit Kohle geheizt werden , wieder in die Energieform der mechanischen Arbeit umgesetzt, und diese kann von einer Dynamomaschine in Elektricität verwandelt werden, um schliesslich zur Erzeugung elektrischen Lichtes zu dienen. So machen wir täglich das erstaunliche Experiment, dass wir die lebendige Kraft des Sonnenstrahls, der einst in der Stein- kohlenzeit von der Pflanze zur Aufspeicherung von Kohlenstoff" ver- braucht wairde, nach vielen Millionen von Jahren jetzt wieder in die ursprüngliche Energieform des Lichtes zurückverwandeln und unsere Nächte mit dem Glänze der Sonne erhellen, die in unvordenklicher Zeit schon einmal die Erdoberfläche beschien. (Vergl. Buxge.)

Die Anwendung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie auf die Energetik der Organismen ist zwar von Robert Mayer schon ver- sucht und später noch mehrfach in Angriff" genommen worden, auch ist sogar durch die calorimetrischen Untersuchungen von Düloxg, Helmholtz, Rosenthal, Rübner und Anderen der experimentelle Nach- weis erbracht worden, dass das Gesetz von der Erhaltung der Energie in der lebendigen Natur ebensowohl Gültigkeit besitzt wie in der leb- losen ; aber über das Energiegetriebe bei den einzelnen Leistungen des Körpers, über die Umformungen, welche die Energie auf ihrem Wege durch die lebendige Substanz erfährt, sind unsere Kenntnisse noch immer äusserst spärlich. Verhältnissmässig am weitesten vorgeschritten ist hier die Pflanzenphysiologie, die besonders den ausgezeichneten Untersuchungen Pfeffer's über die Energetik der Pflanzenzelle wichtige Aufschlüsse und Wegweisungen verdankt. Auf dem Gebiet der Ener- getik der lebendigen Substanz bleibt der Zukunft noch ein weites Feld voller dankbarer Arbeit.

Die zweite der grossen Entdeckungen, die hauptsächlich der Pflanzenphysiologie zu ihren bedeutendsten Erfolgen verhelfen hat, die aber in der Thierphysiologie überhaupt noch nicht ausgenutzt worden ist, war die Entdeckung vom Aufbau der Organismen aus Zellen. Die Keime der Zellentheorie erwuchsen aus dem Boden der Botanik. Die Mikroskopiker des 17. und 18. Jahrhunderts, l)esonders Malpighi, Treviranüs, Mohl, Meyen, fanden bereits, dass die Pflanzen aus kleinen mikroskopischen Kammern oder Zellen und langgestreckten Röhren aufgebaut sind, die einen flüssigen Inhalt besitzen. Die lang- gestreckten Röhren erwiesen sich alsbald als Gebilde, die aus Zellen- reihen hervorgehen, indem die Querwände sich auflösen. Brown fand dann einen festeren Zellkern als ein sehr verbreitetes Gebilde in dem

28 Erstes Capitel.

flüssigen Zelleninhalt; aber erst Schleiden brachte die Vorstellung zur allgemeinen Geltung, dass alle Pflanzen aus Zellen zusammengesetzt sind, und unterschied im Inhalt der Zelle als wesentliche Bestandtheile neben dem Zellsaft und dem Zellkern noch den dickflüssigen und beweglichen Pflanzenschleim, der dann von Mohl als Protoplasma bezeichnet wurde. Inzwischen war auch im Thierreiche die weite Verbreitung von Zellen erkannt worden, und Schwann begründete bald nach Schleiden die Zellentheorie auch für das Thierreich, indem er zeigte, dass die Thiere aus Zellen oder Zellproducten zusammen- gesetzt sind und in ihrer Entwicklung aus Stadien hervorgehen, die nur wenige gleichartige Zellen enthalten. Später stellte die Ent- wicklungsgeschichte fest, dass überhaupt alle Organismen aus einer einzigen Zelle, der Eizelle, sich entwickeln zu einem grossen, gewal- tigen Zellenstaat, in dem die verschiedenen Theile, Gewebe, Organe aus ganz specifischen Zellenformen bestehen. Obwohl mit dieser Er- kenntniss die Thatsache gegeben war, dass die Zelle das Element des lebendigen Organismus ist, der Ort, wo sich die Lebensvorgänge ab- spielen, ist doch die Zelle in der Physiologie, abgesehen von der Pflanzenphysiologie und der Entwicklungsgeschichte, bisher noch nicht zum Gegenstand des Studiums gemacht worden, und wir werden als- bald sehen, dass gerade in dieser Richtung ein wesentlicher Fortschritt der künftigen Physiologie zu erwarten ist.

Die dritte Entdeckung endlich, welche in der Physiologie bisher noch keine Früchte gezeitigt hat, ist die Entdeckung derDescen- denz in der Organismenwelt. Von Lamarck bereits in ihren Umrissen skizzirt, von Darwin durch das Princip der Selection fest begründet, hat die Descendenzlehre auf morphologischem Gebiete schon längst den gewaltigsten Umschwung in der ganzen Forschung herbei- geführt und vor Allem der modernen Morphologie ihr charakteristisches Gepräge aufgedrückt. Die Descendenzlehre zeigt, dass die mannig- faltigen Formen der Organismen sämmtlich unter einander durch Ab- stammung in verwandtschaftlichen Beziehungen stehen, und zwar in der Weise, dass alle in letzter Instanz von den einfachsten Organismen, die je existirt haben, direct abstammen. Die Selectionstheorie giebt den Grund für die ungeheure Mannigfaltigkeit der Formen in der durch den Kampf ums Dasein bedingten natürlichen Auslese, welche bewirkt, dass unter jeder Generation im Kampf ums Dasein immer nur diejenigen Individuen am Leben bleiben, die den jeweiligen äusseren Verhältnissen am besten entsprechen, d. h. am zweck- mässigsten angepasst, also am lebensfähigsten sind. So hat die uralte Idee des Empedokles von der Descendenz und der allmählichen Ver- änderung der Organismenwelt durch Selection nach mehr als zwei- tausendjähriger Vergessenheit durch die DARwiN'sche empirisch-natur- wissenschaftliche Begründung in unserm Jahrhundert ihre Auferstehung gefeiert. Während die Entwicklungsgeschichte, so weit sie die Form- entwicklung der Organismen betriff"t, durch die mächtige Anregung, die sie in Folge der DARWiN'schen Lehre besonders von Seiten Haeckel's und seiner Schüler erfuhr, zu einer ungeahnten Blüthe gelangte, hat die Physiologie sich bisher der Entwicklungsidee noch nicht bemäch- tigt. Die Entwicklung der Lebenserscheinungen, die Entstehung und Ausbildung der vielen Functionen, welche die einzelnen Theile des lebendigen Körpers versehen, ist bisher noch nahezu eine terra in- cognita. Nur Ein physiologisches Problem der EntAvicklungslehre ist

Voll den Ziek-n uiiil Wogen der physiologischen Forscliung. 29

in den letzten Decennien, und zwar auch dieses fast ausschliesslich von zoologischer Seite, ung-emein lel)haft erörtert Avord(3n, das Problem der Vererbung. Dennoch ist man auch hier an einem Punkte an- gelangt, wo nur die experimentelle Physiologie einen neuen Fortschritt herbeizuführen im Stande ist.

III. Die Methodik der physiologischen Forschung.

Wir haben das Problem der Physiologie, ihre Aufgabe, die Lebeus- erscheinungen zu erklären, kennen gelernt; wir haljeu ferner in grossen Zügen gesehen, Avie sicli die physiologische Forschung im Laufe der Geschichte entwickelt hat: jetzt, nachdem wir beim nugenlilicklichen Stande der Physiologie angelangt sind, entsteht uns die Pflicht, einer- seits rückschauend auf die Entwicklung der Wissenschaft das Facit zu ziehen, uns zu vergegenwärtigen, was die Physiologie bisher in der Richtung auf das angegebene Ziel hin geleistet hat, und andrer- seits vorwärts blickend zu prüfen , welchen weiteren Weg Avir zu wählen haben, um schliesslich zu unserem Ziele zu kommen.

A. Das bisherige Ergebniss der physiologischen Forschung.

Was haben wir bisher erreicht? Unser Ziel ist, die Lebens- erscheinungen zu erklären , d. h. ihre elementaren Ursachen aufzu- suchen, sie in causalen Zusammenhang mit einander zu setzen, zu sehen, ob ihre elementaren Ursachen dieselben sind, wie die der Er- scheinungen in der anorganischen Natur. Was haben wir in dieser Richtung bisher erreicht?

Die Antwort darauf fällt wenig ermuthigend aus. Wir haben, w^enn wir genau die einzelnen Gebiete der Physiologie durchmustern, bisher eigentlich nichts kennen gelernt, als die groben mechanischen und chemischen Leistungen des Wirbelthier- Körpers. Die Ursachen, auf denen diese Leistungen beruhen, sind uns bisher noch zum grössten Theil völlige Räthsel.

Wir wissen, dass die Athmung beruht auf den Gesetzen der Aerodynamik, indem durch rhythmische Verminderung und Erhöhung des Luftdrucks in den Lungen in Folge der Contraction und Expansion der Athemmuskeln die Luft in die Lungen passiv ein- und ausströmt, wobei ihr durch die rothen Blutkörperchen des Blutes der Sauerstoff entzogen und chemisch an die Substanz der Blutkörperchen gebunden wird. Wie aber die Contraction der Athemmuskeln zu Stande kommt, welche Vorgänge die als Contraction und Expansion bezeichnete Formveränderung und Kraftleistung in der einzelnen Muskelzelle herbeiführen, davon haben Avir kaum eine Vorstellung.

Wir wissen ferner, dass die Circulation des Blutstromes in unserem Körper erfolgt nach den Gesetzen der Hydrodynamik, dass sie bedingt ist durch die rhythmischen SchAvankungen der Druck- differenzen innerhalb des Gefässsystems, Avelche durch die Contraction und Expansion des Herzmuskels herbeigeführt Averden. Hier haben ■wir wieder genau dasselbe Problem; denn wie die rhythmischen Con- tractionen des Herzmuskels zu Stande kommen, deren Ursachen, AA'ie Engelmann neuerdings bcAviesen hat, in der lebendigen Substanz der

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Muskelzellen selbst gelegen sind; darüber hat uns die Physiologie erst wenig berichtet.

Wir wissen weiter, dass die Verdauung der aufgenommenen Nahrung stattfindet streng nach chemischen Gesetzen, indem die von den Drüsenzellen des Verdauungskanals secernirten chemischen Stoffe die Nahrung chemisch umsetzen, genau so wie wir das mit Hülfe dieser Verdauungssecrete auch ausserhalb des Körpers im Reagenzglase nach- ahmen können. Wie aber die Drüsenzelle dazu kommt, gerade ihr specifisches Secret zu secerniren , warum die Speicheldrüsenzelle nur Ptyalin, die Magendrüsenzelle nur Pepsin producirt, obwohl beiden durch das Blut die gleiche Nahrung zugeführt wird, das lässt die physiologische Chemie vorläufig noch unerklärt.

Wir wissen weiter, dass bei der Resorption die durch die Verdauungssäfte chemisch veränderten Nahrungsstoffe durch die Zellen der Darmwand in den Körper aufgenommen werden, dass ferner ein grosser Theil des aufgenommenen Fettes, nachdem es zu mikro- skopisch kleinen Kügelchen zertheilt ist, nur durch die eigene Thätig- keit der Darmepithelzellen in ihren Protoplasmakörper hineingezogen wird, während dieselben Zellen andere Körperchen von gleicher mikroskopischer Grösse, wie z. B. Farbstoff körnchen , nicht in sich aufnehmen. Wie dieses „Auswahlvermögen" der Darmepithelzelle aber mechanisch zu erklären sei, hat uns die Physiologie bisher nicht gelehrt.

Wir haben ferner gesehen,- wie sich bei der Entwicklung des menschlichen Körpers die früher so wunderbare Aufeinanderfolge ganz bestimmter Formenstadien bis zum fertigen Menschen hinauf auf Grund des „biogenetischen Grundgesetzes" in natürlicher Weise verstehen lässt. Wie aber bei dieser Entwicklung von den aus der Theilung desselben Eies hervorgehenden Zellen die einen zu Drüsen-, die anderen zu Nerven-, die dritten zu Oberhautzellen u. s. w. werden, ist vorläufig noch eine vielumstrittene Frage.

Wir haben erkannt, dass die Bewegungen der Skelettknochen, der Arme, der Beine, der Gelenke u. s. w. nach rein mechanisch mathematischen Principien, speciell nach dem Gesetz der Hebel- wirkung erfolgen. Was aber die Bewegung der Skelettknochen be- wirkt, d. h, die Thätigkeit der Skelettmuskeln, ist wieder dasselbe Räthsel, auf das wir schon mehrmals gestossen sind: die Contraction der Muskelzelle.

Wir wissen auf Grund des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, dass die vom lebendigen Körper producirte Wärme und Elektricität aus den chemischen Veränderungen stammt, welche die aufgenommene Nahrung in den Geweben des Körpers durchmacht. Mit welchen chemischen Processen aber die Zellen der einzelnen Gewebe an dieser gesammten Wärme- und Elektricitätsproduction betheiligt sind, das ist unserer Kenntniss fast gänzlich verborgen.

Wir wissen endlich, dass die höheren Sinnesorgane des Menschen nach dem Princip physikalischer Apparate construirt sind, das Auge beispielsweise nach dem Princip einer Camera obscura, so dass nach den Gesetzen der Lichtbrechung im Hintergrund des Auges ein verkleinertes, umgekehrtes Bild von den Dingen der Aussenwelt entsteht. Was aber dabei in den Zellen der Netzhaut vorgeht und wie von hier aus durch Vermittelung des Sehnerven die Ganglienzellen

Von den Zielen und Wegen der pliysiologischen Forseliiing. 3X

in unserem Gehirn veranlasst werden, in uns die Vorstellung^ des be- treffenden Bildes zu erzeugen, das bleibt noch immer ein Käthsel.

Wir könnten diese Aufzählung noch lange fortsetzen, aber das bisher Gesagte genügt schon, um eine allgemeine Erscheinung daraus zu erkennen. Üeberall, auf allen einzelnen Gebieten der Physiologie, wo wir uns auch umblicken mögen : sobald wir die groben Leistungen des Körpers etwas tiefer verfolgen, bis da, wo sie der Thätig- keit der einzelnen Zellen entspringen, immer stossen Avir auf ungelöste Käthsel. Ja, wer pessimistisch ist, könnte verführt werden, mit Bunge ') zu behaupten : „alle Vorgänge in unserem Organismus, die sich mechanistisch erklären lassen, sind ebensowenig Lebenserschei- nungen, Avio die Bewegung der Blätter und Zweige am Baume, der vom Sturme gerüttelt wird, oder wie die Bewegung des Blüthenstaubes, den der Wind hinüberwellt von der männlichen Pappel zur weiblichen." Verzweifelt man aber so an der chemisch -physikalischen Erklärung der Lebenserscheinungen, so bleibt nichts Anderes übrig, als seine Zuflucht wieder zu der längst begrabenen Lebenskraft zu nehmen. In der That hat sich in neuester Zeit wieder an verschiedenen Orten das alte Gespenst der Lebenskraft gezeigt. So ist es neuerdings bei Hanstein, bei Kernek, bei Bunge, bei Rindfleisch und anderen Naturforschern gesehen worden.

Noch viel mehr wird man jedoch geneigt sein , zu verzweifeln, wenn man das Gebiet der psychischen Erscheinungen mit heranziehen will. Zwar hat die Gehirnphysiologie und die Physiologie der Sinnes- organe manche Aufklärung gegeben über die materiellen Verhältnisse, mit welchen wir uns die Existenz gewisser psychischer Processe ver- bunden denken, dennoch aber bleibt das uralte Räthsel von den cau- salen Beziehungen zwischen Körper und Geist und das Bedürfniss nach seiner Lösung, das schon im frühsten Alterthum der denkende Verstand so intensiv gefühlt hat, wie es scheint, für die Naturwissen- schaft unberührt bestehen.

Bei diesem Stande der Dinge drängt sich dem verzweifelnden Geiste des Forschers immer ungestümer und hartnäckiger die Frage auf: sind unserer Erkenntniss der Lebenserscheinungen Grenzen ge- zogen, und wo liegen diese Grenzen, oder sind wir auf einem falschen Wege, war unsere Fragestellung an die Natur fehlerhaft, so dass wir ihre Antwort nicht verstanden?

B. Das Verhällniss der Psychologie zur Physiologie.

1. Die Frage nach den Grenzen des Natur erkennens.

Sind wir auf dem Punkte angelangt, wo an uns die Frage heran- tritt : giebt es Grenzen in unserer Naturerkenntniss, und wo liegen sie, eine Frage, die grade in unserem, auf die Erfolge der Naturwissen- schaften so stolzen Zeitalter, bereits wiederholt aufgetaucht und in ver- schiedenartiger Weise behandelt worden ist, so knüpfen wir den Faden unserer Betrachtung am zAveckmässigsten an die bekannte Rede E. du Bois-Reymond's „über die Grenzen des Naturerkennens" -) an, in

^) G. Bunge: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie." II. Auflage. Leipzig 1889.

2) E. Dd Bois-Reymond : „Ueber die Grenzen des Naturerkennens." In: Reden^ erste Folge. Leipzig 1886.

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welcher der vor Kurzem verstorbene Meister der Sprache unter den deutschen Naturforschern das Thema in seiner unvergleichlich künst- lerischen Weise behandelt hat.

Da bei dem leider so weit verbreiteten Mangel philosophischer Betrachtungsweise in der heutigen Naturforschung nicht selten die merkwürdigsten Vorstellungen über die Grundlagen der Naturerkennt- niss angetroffen werden, ein Umstand, welcher der speculativen Philo- sophie leider in diesem Punkte die Berechtigung verleiht, mit Ge- ringschcätzung auf ihre Nebenbuhlerin in der Erkenntniss der Wahr- heit, die Naturforschung, herab zu blicken, so ist es nothwendig, auf die diesbezüglichen Fragen etwas genauer einzugehen und zunächst den Grenzen der Erkenntniss nicht bloss in der organischen, sondern in der gesammten Natur nachzuforschen.

Die moderne Naturforschung, vor Allem die Physik und Chemie, die in dieser Hinsicht das Banner der Erkenntniss voranträgt, sucht alle Erscheinungen der Kürperwelt auf Bewegung von Atomen zurück- zuführen. Demgemäss definirt Du Bois - Reymond , um einen festen Punkt zu gewinnen, auf dem er seine Betrachtung aufbaut, die Naturerkenntniss folgendermaassen : „Naturerkennen genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hülfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome." In der That hat die neuere Naturforschung in groben Um- rissen bereits zu zeigen vermocht, wie sich die Naturerscheinungen aus bestimmten Bewegungen von Atomen herleiten lassen. Wir wissen, dass in allen Körpern die Atome in Bewegung sind, in gasförmigen in sehr lebhafter, in flüssigen in langsamerer, in festen in noch geringerer Bewegung; wir wissen, dass Licht, Wärme, Elektricität auf der regelmässigen, ungeheuer schnellen Schwingung von Atomen beruht, und dass der Schall nur durch bestimmte Schwingungsformen der Atome entsteht; wir wissen schliesslich, dass auch die chemischen Veränderungen der Körper durch die eigen thümliche Bewegung und Umlagerung der Atome bedingt sind.

Einer Fiction von Laplace folgend, der sich einen bis zum höchsten Grade vervollkommneten Menschengeist vorstellt, welcher eine solche Kenntniss von den Bewegungen der Atome besässe, wie wir sie in der Astronomie von der Bewegung der Gestirne annähernd besitzen, fährt nun Du Bois-Reymond fort: „Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegung von Atomen aufgelöst, die durch deren constante Centralkräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. Der Zustand der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zustandes während des vorigen und als unmittelbare Ursache ihres Zustandes während des folgenden Zeitdifferentiales, Gesetz und Zufall wären nur noch andere Namen für mechanische Nothwendigkeit. Ja, es lässt eine Stufe der Naturerkenntniss sich denken, auf welcher der ganze Weltvorgang durch Eine mathematische Formel vorgestellt würde, durch Ein unermessliches System simultaner Differentialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäbe."

Von den Zielen nnd Wegen der i)liysiologischen Forscimng. 33

Von einem solchen „LAPLACE'sclien Geist", der bis zu dieser Erkenntnis» zu dringen vermöchte, ist nun zwar, das ist nicht zu verschweigen, der menschliche Geist nur „ein schwaches Abbild"; immerhin aber ist er von ihm „nur gradweise verschieden", und wir können in den Leistungen des Laplace 'sehen Geistes das Ideal er- blicken, dem die Entwicklung des menschlichen Geistes immer mehr und mehr sich nähert. Stellen wir uns also einmal vor, wir hätten dieses Ideal erreicht und wären im Besitze der „Weltformel". Was wäre dann gewonnen?

Um eine bestimmte Naturerscheinung zu erklären, brauchten wir dann nur in die Weltformel bestimmte, aus der Beobachtung sich ergebende Werthe einzusetzen , und wir würden durch Rechnung die betreffende Erscheinung als nothwendige Consequenz unserer bekannten Beobachtungen nachweisen können. Durch dieses Spiel würde unser Causalitätsbedürfniss vielleicht eine Weile gefesselt werden, bald aber würde es von Neuem sich frei machen und uns mit lauter und lauter werdender Stimme zurufen: gut, wir können jetzt alle Erscheinungen der Körperwelt in ihrem causalen Zusammenhang untereinander ver- stehen, wir können sie als ganz bestimmte Bewegungen von Atomen erklären; aber Avas ist denn nun ein Atom? Hier stehen wir nach Du Bois- Reymoxd's Auffassung bereits an der einen Grenze des Naturerkennens.

Was ein Atom ist, d. h. was mit Kraft begabte Materie ist, darüber klärt uns die Weltformel nicht auf. Und fragen wir uns, wie Avir zu dem Begriff des Atoms kommen, so finden wir, dass wir es uns nur als einen aus fortgesetzter Theilung eines Körpers hervor- gegangenen , äusserst kleinen , nicht weiter theilbaren Elementartheil des Körpers vorstellen, aber indem wir uns einen Körper immer Aveiter und Aveiter getheilt denken bis in seine Atome, erhalten Avir doch durch die Theilung nichts Anderes als Körper. Auch die Atome sind immer noch Körper und haben deren allgemeine Eigenschaften. Wir können daher nicht erwarten, durch die Theilung etAvas zu erhalten, das uns über das Wesen des Körpers aufklärt. Wenn Avir eine unbekannte Erscheinung aus der BcAvegung von Atomen erklären, so zerlegen Avir sie eben nur in eine Summe von unbekannten Theilerscheinungen. Was ein Atom ist, erfahren Avir auf keine Weise, denn das Atom hat immer nur die Eigenschaften, die wir ihm selbst beilegen auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung dessen, was uns die grossen Körper zeigen, d. h. es ist hart, undurchdringlich, geformt, bewegt u. s. w. Ueber das Wesen der kraftbegabten Materie, d. h. dessen, Avoraus die Körper- welt besteht, erlangen Avir nicht die geringste Aufklärung. Unser Causalitätsbedürfniss bleibt also in diesem Punkte unbefriedigt, und Avir befinden uns im Verfolg dieser Auffassungsweise an der ersten Grenze unserer Erkenntniss.

Aber diese Grenze ist nicht die einzige. Stellen wir uns Avieder vor, Avir hätten, Avie Du Bois-Reymond sich ausdrückt, „astronomische Kenntniss" der Körperwelt, d. h. Avir hätten dieselbe mathematisch genaue Kenntniss von den Bewegungen der Atome, wie wir sie von den Bewegungen der Himmelskörper haben, so würden wir damit zwar alle Erscheinungen der KörperAvelt verstehen, aber wir würden nicht begreifen, wie Bewusstsein entsteht, Avie überhaupt eine psychische Erscheinung, und sei sie die allereinfachste , zu Staude

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 3

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kommt. Hätten wir z. B. „astronomische Kenntniss" unseres Gehirns, so wüsstcn wir die Lage und die Bewegung jedes einzelnen Atoms in jedem Augenblicke; wir könnten auch genau verfolgen, mit welchen materiellen Veränderungen, mit welchen Umlagerungen und Bewegungen der Atome die einzelnen psychischen Erscheinungen untrennbar ver- bunden wären, und „es wäre", wie Du Bois-Reymond sagt, „grenzenlos interessant, wenn wir, so mit geistigem Auge in uns hinein blickend, die zu einem Rechenexem}3el gehörige Hirnmechanik sich abspielen sähen, wie die Mechanik einer Rechenmaschine; oder wenn Avir auch nur wüssten, welcher Tanz von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-, Phosphor- und anderen Atomen der Seligkeit musikalischen Empfindens, welcher Wirbel solcher Atome dem Gipfel sinnlichen Geniessens, welcher Molekularsturm dem wüthenden Schmerz beim Misshandeln des "Nervus trigeminus entspricht."

Dies Alles könnten wir bei „astronomischer Kenntniss" des Gehirns wissen. Wir könnten uns so durch Selbstbeobachtung überzeugen, dass Bewusstsein mit Bewegung von Atomen untrennbar verbunden ist. Was uns aber bei alledem immer verschlossen bleibt, das ist die Art und Weise, wie Bewusstsein entsteht, wie die einfachste psychische Erscheinung zu S t a n de k o m m t. Würden wir die Be- wegung der einzelnen Atome im Gehirn auch noch so genau verfolgen, wir würden immer nur Bewegung, Zusammenstösse und wieder Be- wegung von Atomen sehen. So ist es offenbar, dass wir das Bewusstsein, die psychischen Erscheinungen aus Bewegungen von Atomen, also mechanisch zu erklären unmöglich im Stande sind, und wir befinden uns an einer zweiten Grenze des Naturerkennens , die nicht minder unübersteiglich erscheint, wie die Grenze, welche sich der Erkenntniss von Materie und Kraft in den Weg stellt.

Wie aber verhielte sich die zweite Grenze des Naturerkennens, wenn wir die erste als überschritten, wenn wir das Räthsel von Materie und Kraft gelöst dächten? Wäre sie dann auch noch unübersteiglich, oder wäre sie damit auch zugleich überschritten? Man kann sich offenbar vorstellen, dass das Bewusstsein oder vielmehr die einfachste P^orm der Psyche bereits zum Wesen eines Atoms gehöre, dass es also mit der Erkenntniss des Wesens der Materie gleichfalls erkannt wäre. Diese Vorstellung wäre in der That die einzige, welche eine monistische Naturforschung, die alle Erscheinungen aus Einem Princip zu erklären sucht, allein annehmen könnte, und welche besonders Haeckel, der energische Vorkämpfer des Monismus unter den Naturforschern, immer vertreten hat. Du Bois-Reymond selbst streift diese Möglichkeit nur kurz, indem er sagt: „Schliesslich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen seien, d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zu Grunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt. Freilich ist diese Vorstellung die einfachste, und nach bekannten Forschungs- grundsätzen bis zu ihrer Widerlegung der vorzuziehen, wonach, wie vorhin gesagt wurde, die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, dass wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müssig." Du Bois-Reymond entschliesst sich daher, „gegenüber dem Räthsel, was Materie und Kraft seien und Avie sie zu denken vermögen," zu völliger Entsagung und ruft der Naturforschung nicht

Von den Zielen und We^ani der iiliysiolo>^isc-lien Forschung. 35

nur ein augenblickliches „Ignoramus" zu, sondern für alle Zeiten ein apodiktisches 1 g n o r a b i m u s ".

2. Kör per weit und Psyche.

Wir sind der Betrachtung Du Bois-]{evmünd'8 so ausführlich gefolgt, um uns zu überzeugen, dass sich uns auf dem Wege der Erkenntniss, den seine Betrachtung voraussetzt, den er als Ausgangs- punkt benutzt, sehr bald Grenzen entgegenstellen, die uns die Welt als unbegreiflich erscheinen lassen. Dem unermüdlich weiter denkenden Verstände, dem die ewige Entsagung schwer fällt, muss hier die P^rage aufstossen, ob dieser Weg der Erkenntniss der rechte war, ob die vorausgesetzte Dehnition des Naturerkennens, nach welcher Erkennen Auflösen in Mechanik von Atomen ist, eine richtige, ja überhaupt eine berechtigte ist. Prüfen wir also zunächst diese Grundlage unserer Betrachtung und fragen wir uns, was Erkennen sei.

Wir wollen zu diesem Zweck den Begriff „Erkennen" in seinem Aveitesten Umfange, in seiner allgemeinsten Form fassen. Was der Begriff dann noch immer unbedingt fordert, ein Moment, ohne das der Begriff Erkennen überhaupt nicht bestehen kann , i s t d i e V o r - aussetzung, dass etwas existirt. Machen wir diese Voraus- setzung, haben wir etwas Reelles, etwas Wirkliches, einen festen Punkt, so ist Erkennen nur das causale Zurückführen aller Er- scheinungen auf diese W^irklichkeit. An der Befriedigung unseres Causalitätsbedürfnisses haben wir einen Maassstab für das Erkennen, und unser Causalitätstrieb müsste befriedigt sein, wenn wir sämmtliche Erscheinungen zu diesem einen Wirklichen in causale Beziehung ge- setzt hätten.

Indessen hier könnte schon ein Einwand gemacht werden. Ge- setzt nämlich den Fall, es w^äre uns gelungen, die ganze Fülle der Erscheinungen zurückzuführen auf das eine Wirkliche, das in den verschiedenen philosophischen Systemen unter den verschiedensten Namen erscheint als Gott, als Ding an sich, als Unbewusstes u. s. w. - die Namen sind völlig gleichgültig und werthlos , so entsteht die Frage, ob denn dann unser Causalitätstrieb befriedigt wäre, ob er uns nicht vielmehr noch weiter zu der Frage veranlasste: was ist schliess- lich dasjenige, was ist, was existirt, was wirklich ist, das Unbewusste, das Ding an sich, Gott oder wie wir es nennen wollen? Und hier wäre dann wieder eine Grenze des Erkennens. Aber, machen wir uns das klar, diese Grenze wäre ein logischer Fehler, ein falscher Schluss von uns. Zwar ist es sehr wohl möglich, dass unser Causa- litätsbedürfniss , das im Laufe der Entwicklung durch fortwährendes Zurückführen von Wirkung auf Ursache entstand und sich befestigte, gewissermaassen dem Trägheitsgesetz folgend, noch eine Weile fort- fahren würde , uns die Frage vorzulegen : warum ?, aber es liegt auf der Hand , dass wir uns dann eines Denkfehlers schuldig machten, denn wären alle Erscheinungen auf das zurückgeführt, was allein existirt, so wäre es ein vollendeter Widerspruch, dies Existirende noch erkennen zu wollen durch etwas, was nicht existirt. \A'ir würden also durch das Beharrungsvermögen unseres Causalitäts- triebes nach einer Form des Trägheitsgesetzes nur eine Strecke weit über unser Ziel, die Erkenntniss der W'elt, hinaus gehen wollen, ohne es zu merken, würden aber im Moment, wo wir es ein-

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sehen, stehen bleiben und uns bei'uhigen. Der Einwand, dass wir hier auf eine Grenze gestossen wären, ist also nur ein scheinbarer und würde die absurde Forderung enthalten, dass wir nach voll- kommener Erkenntniss der Welt die Welt noch weiter er- kennen sollten.

Wir setzen uns also vor, wir wollen alle Erscheinungen zurück- führen auf das, was wirklich ist, auf das Reelle. Dann fragt es sich zuerst, was ist denn wirklich, was ist das Reelle?

Hier stossen wir auf einen, besonders in der Naturforschung weit verbreiteten Irrthum, der als ein Erbstück aus uralter Zeit noch immer getreulich mitgeschleppt wird, als ein Erbstück aus den Kinderjahren des unbeholfen um sich tastenden Menschengeistes. Wir stossen auf den Irrthum , dass die K ö r p e r w e 1 1 , das unabhängig von unserer Psyche ausser uns existirende Reelle ist, dass wir alle Erscheinungen demnach auf die Gesetze dieser Körperwelt zurückführen müssten. Obwohl in der eben verfolgten Betrachtung Du Bois-Reymond's bereits ganz deutlich die Unmöglichkeit dieses Unternehmens dargethan ist, giebt es dennoch eine grosse Menge von Naturforschern wir brauchen unter denen, welche sich nach Du Bois-Reymond mit den Schranken der menschlichen Erkenntniss beschäftigt haben, nur den genialen Botaniker Nägeli ^) zu nennen , welche es für möglich halten, dass auch die psychischen Erscheinungen sich auf die Vorgänge der Körper- welt zurückführen lassen. Es ist also in keinem Falle überflüssig, uns klar zu machen, was denn eigentlich die Körperwelt ist.

In der That erscheinen uns auf den ersten Blick die Körper als reelle Objecte ausserhalb unserer Psyche. Ja, der Zweifel an der Existenz einer Körperwelt ausserhalb unserer Psyche wird Einem, der nicht darüber nachgedacht hat, sogar absurd erscheinen: Ein Körper, beispielsweise ein Stein, ein Baum, ein Mensch, den war ansehen, ist wirklich vorhanden, und es kann Niemand leugnen wollen, dass er existirt; wir sehen ihn ja, und alle Anderen, die dabei sind , sehen ihn auch und sagen , er ist da. Gewiss ! Zweifellos existirt er in Wirklichkeit, aber er existirt nicht ausserhalb unserer Psyche. Wenn wir genau prüfen, wie wir dazu gelangen, zu sagen, es existirt ein Körper dort ausserhalb uns, werden wir uns nicht schwer überzeugen, dass das, was wir als Körper ausserhalb unserer Psyche zu sehen oder zu fühlen glauben, in Wirklichkeit etwas ganz Anderes ist.

Führen wir diese Prüfung aus. Wir haben unsere Kenntniss der Körperwelt aus der sinnlichen Wahrnehmung geschöpft. Die Frage, was uns diese geben kann und wirklich giebt, ist also eine sinnes- physiologische. Nun zeigt uns die Sinnesphysiologie, dass Alles, was durch das Thor unserer Sinne seinen Eingang hält, uns einzig und allein Empfindungen und immer nur Empfindungen liefert. Die mannigfachen Eigenschaften, welche das Gesammtbild eines Körpers ausmachen, sind ebenso viele verschiedene Empfindungen von uns. Ein Stück Gold erscheint uns als Körper; was aber diesen Körper macht, ist nur die Summe der Empfindungen: gelb, hart, schwer, kalt u. s. w. Menschen mit angeborenem Defect der Sinne, denen

^) C. V. Nägeli: „Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss." Im Tageblatt der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München 1877.

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eine bestimmte Gruppe von Emptindungen nicht vermittelt wird, etwa Blindgeborene, haben daher eine durchaus andere Vorstellung von der Körperwelt als normale Menschen. Das geht am deutlichsten aus den interessanten Fällen hervor, in denen Blindgeborene, die sich ihre Körperwelt nur durch den Tast-, Gehör-, Geruch-, Geschmacksinn u. s.w. construirt haben , durch Operation sehend gemacht worden sind. Werden solchen Menschen die Gegenstande, die sie oft in Händen gehabt haben, zum ersten Male vor die Augen gebracht, ohne dass sie dieselben mit anderen Sinnen, etwa durch Betasten, untersuchen dürfen, so erkennen sie dieselben nicht, eine Kugel erscheint ihnen als etwas durchaus Neues und erst, wenn sie dieselbe betasten, stellen sie zu ihrer eignen U^berraschung die Identität mit der ihnen be- kannten Tastvorstellung der Kugel fest und sagen, es ist eine Kugel. Von diesem Moment an beginnt ihnen eine neue Welt zu entstehen. So ist also die Körperwelt vollkommen abhängig von der Entwicklung unserer Sinnesorgane, und Thieren mit anders ausgebildeten Sinnes- organen muss die Körperwelt in dem Maasse anders erscheinen, als ihnen andere Empfindungen durch die Sinne zugeführt werden. Ja, mit unserem Tode, mit dem Zerfall der Sinne und des Nervensystems verschwindet die Körperwelt in der bisherigen Form vollständig.

Diese Thatsachen sind von weittragender Bedeutung. Sie zeigen uns, dass das, Avas uns als Kör per weit er- scheint, in Wirklichkeit unsere eigene Empfindung oder Vorstellung, unsere eigene Psyche ist. Wenn ich einen Körper ansehe oder sonstwie sinnlich wahrnehme, so habe ich in Wirklichkeit gar nicht einen Körper ausser mir, sondern nur eine Reihe von Empfindungen in meiner Psyche. Mehr weiss ich von ihm nicht. Alles andere wäre Hypothese.

Es ist nothwendig, dass Avir uns an diese fundamentale Wahr- heit gewöhnen, dass wir den Irrthum von der Existenz der Körper- welt ausserhalb unserer Psyche fallen lassen. Damit uns diese Vorstellung geläufig wird, wollen wir uns mit ihren Consequenzen vertraut machen.

Zunächst entsteht nämlich die Frage: wenn die Körperwelt nur meine eigene Empfindung oder, da es sich um Emptindungscomplexe handelt, besser meine eigene Vorstellung ist, was ist dann ausserhalb meiner Psyche dasjenige, was in mir durch Vermittelung der Sinne diese Vorstellung erzeugt, mit anderen Worten, was ist dann die Aussenwelt in Wahrheit? Ich muss doch annehmen, dass ein Grund, eine Ursache dafür existirt, w^eshalb in mir die Vorstellung der Körper- welt entsteht. Aber diese Frage enthält wieder einen Fehler, Die Naturwissenschaft hat bekanntlich gezeigt, dass jede Erscheinung in der Körperwelt ihre Ursache hat in einer anderen körperlichen Er- scheinung. Das ist nur der Ausdruck für das Gesetz von Wirkung und Ursache, d, h, von der Causalität. Nun ist aber jede körperliche Erscheinung nur meine eigene Empfindung oder Vorstellung, also muss ich sagen, dass die Ursache für meine Empfindung des Körperlichen wieder nur eine andere Empfindung oder Vorstellung meinei'seits ist, dass also die Ursache in Wahrheit gar nicht ausserhalb meiner Psyche gelegen ist, wie ich irrthümlicher Weise schliesse, sondern in meiner Psyche selbst. Diese Betrachtung ist eigentlich nichts Anderes, als eine Umschreibung für die Thatsache, dass unser Causalitätsbegriff

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nur entstanden ist aus der Verknüpfung der Einzelerfahrungen, welche unsere Psyche durch Beobachtung der gesetzmässigen Aufeinander- folge ihrer eigenen Elemente, ihrer Empfindungen und Vorstellungen gewonnen hat, mit anderen Worten dafür, dass die Causalität ebenso wie alle anderen Empfindungen, Vorstellungen, Begriffe oder wie wir es nennen wollen, selbst nur in unserer eigenen Vorstellung, in unserer eigenen Psyche existirt. Wenn aber die Ursache für meine Vorstellung des Körperlichen in meiner eigenen Psyche gelegen ist, dann kann sie nicht ausserhalb liegen. Für die Annahme einer ausser unserer Psyche noch existirenden Wirklichkeit fehlt daher jede Veranlassung.

Die Causalität der Erscheinungen ist in der That immer das- jenige Moment, mit dem von verschiedenen Philosophen die Realität einer ausserhalb der eigenen Psyche existirenden „Aussenwelt" zu begründen gesucht wird. Wenn sich daher herausstellt, dass das Argument selbst auf dem gleichen Irrthum beruht, wie die Annahme, so liefert diese Beweisführung nur das seltsame Schauspiel, dass etwas bewiesen wird mit dem, was bewiesen werden soll. Indem aber die scheinbar ausserhalb unserer Psyche existirende Aussenwelt sich in Wirklichkeit nur als eine Vorstellung der Psyche selbst ergiebt, und indem sich der Grund für die Annahme einer neben der Psyche existirenden Realität als eine Täuschung herausstellt, fällt die Be- rechtigung für die Hypothese einer Aussenwelt schlechterdings fort.

Es ist nicht zu leugnen, dass Jedem, der diesen Gedankengang zum ersten Male verfolgt, das Ergebniss etwas paradox erscheinen muss, denn er wird sofort den Einwand machen, dass ausser ihm noch viele Menschen existiren, die auch ihre Psyche haben, die von sich und ihrer Psyche alle das Gleiche behaupten könnten. In diesem Falle würden ja ausserhalb seiner eigenen Psyche noch unzählig viele andere existiren. Allein auch hier liegt die Täuschung wieder auf der Hand. Wenn ich immer nur an der einen unbestreitbaren That- sacbe ganz festhalte, dass die Körperwelt meine eigene Vorstellung ist, komme ich bei näherer Ueberlegung auch hier wieder zu dem Schluss, dass doch nur meine eigene Psyche wirklich existirt. Die anderen Menschen sind für mich Körper, etwas Anderes kann ich an ihnen nicht wahrnehmen. Sie sind also nach unserer Betrachtung nur meine eigene Vorstellung. Nun sagen sie mir zwar, dass sie eine Psyche haben wie ich, dass sie ebenso empfinden und denken. Es ist wahr, aber, was sie mir sagen, ihre Sprache, ihre Bewegungen sind auch immer nur körperliche Erscheinungen, also nur meine eigenen Vorstellungen. Ihre Psyche hat nach unserer naturwissenschaftlichen Ausdrucksweise ihren Sitz im Gehirn. Bin ich aber bei einer chirurgi- schen Operation am lebendigen Menschen einmal in der Lage, das Gehirn anzusehen, so überzeuge ich mich, dass da wieder nichts Anderes zu finden ist, als körperliche Elemente. Die Körper sind aber meine eigene Vorstellung. So werde ich zu dem Schluss ge- zwungen, dass auch das, was ich für die Psyche des Anderen halte, wieder nur meine eigene Vorstellung ist. Kurz, welchen Weg ich auch einschlagen mag, immer wieder komme ich zu dem Ergebniss, dass Alles, was ausser mir zu sein scheint, sei es ein lebloser Körper, sei es ein lebendiger Mensch, sei es die Psyche eines Menschen, in Wahrheit nur meine eigene Vorstellung, meine eigene Psyche ist. lieber meine eigene Psyche komme ich niemals hinaus. Ja, meine eigene Individualität ist nur eine Vorstellung meiner Psyche,

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und SO kann ich schliesslich nicht einmal sagen: die Welt sei meine Vorstellung, sondern ich muss sagen: die Welt ist Eine Vorstellung oder eine Summe von Vorstellungen , und was mir als m eine Individualität erscheint, ist nur ein Theil dieses Vorstellungscomplexes ebenso wie die Individualität anderer Menschen und die gesammte Körperwelt.

Obwohl diese ganze Betrachtung Manchem auf den ersten Blick befremdlich und seltsam ei'scheinen wird, so ist sie doch durchaus nicht neu. Die fundamentale Thatsache, dass die ganze Körperwelt nur Vorstellung der Psyche ist, eine Thatsache, aus deren consequenter Verfolgung man mit unabweislicher Nothwendigkeit zu den eben aus- gesprochenen Ergebnissen gelangt, falls man nicht irgendwo einen Fehlschluss begeht, diese fundamentale Thatsache hat bereits vor mehr als zwei Jahrhunderten Descartes zum Ausgangspunkte seiner Philosophie gemacht; dieselbe fundamentale Thatsache haben später Berkeley und in neuerer Zeit Fichte und Schopenhauer als Grund- lage ihrer, wenn auch im Uebrigen noch so verschiedenen Systeme benutzt, und einen ähnlichen Grundgedanken hat in jüngster Zeit unter den Naturforschern Mach ^) zum Mittelpunkt seiner erkeuntniss- theorctischen Anschauungen genommen. Es ist zu hoffen, dass dieser Grundgedanke in der Naturforschung mehr und mehr an Boden gewinnen wird, denn er allein ist es, der sich streng an die Erfahrung hält, er allein ist es, der keine Hypothese zu machen braucht, er allein ist es, der mit eiserner Nothwendigkeit schliesslich zu einer wahrhaft monistischen Weltauffassung führt. Die ur- alte Vorstellung vom Dualismus des Körpers und der Seele, jene Vorstellung, die bereits in der Seelen- wanderungslehre der Aegypter ihre höchste Vollendung erlangt hatte, die sich durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurchzieht, j ene Vorstellung wird nur durch die Erkenntniss endgültig beseitigt: Es existirt nur Eins, das ist die Psyche.

3. Psychomonismus.

Wenn wir die Geschichte der Probleme überblicken, die während der langen Entwicklung des menschlichen Geisteslebens auf der Erde den Verstand der Denker beschäftigt haben, so finden wir, dass manche Probleme, die bereits das graue Alterthum bewegten, sich erhalten haben , unverändert und ungelöst bis auf den heutigen Tag, dass andere Probleme dagegen gelöst sind, dass aber viele Probleme, die einst Jahrhunderte lang im Vordergrund des Interesses standen, vollkommen von der Bildfläche verschwunden sind, obwohl sie keine Lösung fanden. Das uralte Problem von der „Quadratur des Cirkels", an dem sich mancher Kopf vergebens zergrübelt hat, das Problem des „Perpetuum Mobile", das seit alter Zeit eins der Hauptprobleme der Physik gebildet hat, und viele andere sind spurlos verschwunden, und doch hat Niemand die „Quadratur des Cirkels" gefunden, und doch hat Niemand ein „Perpetuum Mobile" construirt. Fragen wir,

') E. Mach: „Beiträge zur Analyse der Empfindungen." Jena 1886.

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wie es kommt, dass sich in unserer Zeit kein Mensch mehr um diese Probleme kümmert, so lautet die einfache Antwort: weil wir ein- gesehen haben, dass die Fragestellung, die diesen vermeintlichen Problemen zu Grunde lag, falsch war. Wenn wir falsche Fragen stellen, wenn wir beispielsweise verlangen, alle Zahlen der Zahlen- reihe durch „2" ohne Rest zu theilen, so können wir nicht erwarten, eine richtige Antwort zu bekommen, so können wir uns im Schweisse unseres Angesichts abmühen Tag und Xacht, wir werden keine Lösung finden. Solche Probleme waren die genannten. Jahrhunderte haben in ehrlichem Ringen ihren Verstand zermartert, und eine Generation von Denkern nach der andern hat sich nach redlichem Bemühen und unstillbarer Begier, die Lösung zu ergründen, ins Grab gelegt, um hier für immer die Ruhe zu finden, die sie in ihrem stillen Kämmerlein vergebens suchte.

Ein solches Problem ist das Problem der Erklärung- psychischer Vorgänge durch materielle. Noch jetzt be- schäftigt es unermüdlich den Geist eines Jeden , der unbefriedigt ist, wenn ihm zur Entwicklung seines Weltbildes Schranken gesetzt werden; noch jetzt aber findet Jeder, dass er mit seinem ernstesten Denken der Lösung des Problems nicht näher rückt. Nur ganz all- mählich wird sich erst die Ueberzeugung Bahn brechen, dass das Problem jenen anderen Problemen gleicht, an deren Lösung der Verstand von Jahrhunderten scheitern musste , weil die Frage falsch gestellt war.

Dass in der That der Versuch, die psychischen Vorgänge durch materielle zu erklären, ein verkehrter ist, wird nach der vorher- gehenden Betrachtung ohne Weiteres klar. Wir fanden, dass das einzig Reelle, das wir in der Welt aufzufinden vermögen, die Psyche ist. Die Vorstellung der Körperwelt ist nur ein Product der Psyche, und wir können mit Umänderung eines alten Satzes der Sensualisten sagen : nihil est in universo, quod non antea fuerit in intellectu. Aber die Vorstellung der Körperwelt ist nicht die ganze Psyche, denn wir haben viele Inhal tsbestandtheile in unserer Psyche, wie die einfachen Empfindungen, z. B. des Schmerzes, der Lust etc., die nicht Vorstellungen von Körpern sind. Die Aufgabe der Psychologie, d. h. die Erforschung der Psyche, besteht daher in der Analyse alles dessen, was wir in der Psyche besitzen. Indem die Psychologie den Inhalt der Psyche erforscht, die höheren psychischen Erscheinungen, die umfangreicheren Vorstellungscomplexe und Vor- stellungsreihen in ihre einfacheren Bestandtheile zerlegt, gelangt sie schliesslich zu den primitivsten psychischen Erscheinungen, den psychischen Elementen, und findet in gleichem Maasse die Gesetze, nach denen die Zusammenordnung dieser Elemente zu höheren und immer höheren Vorstellungscomplexen und Vorstellungsreihen erfolgt. Wie man in der Mathematik die unendliche Fülle der Zahlen herleitet aus dem gesetzmässigen Aufbau aus der Zahleneinheit, so besteht die Aufgabe der Psychologie darin, die unendliche Mannigfaltigkeit der psychischen Erscheinungen zurückzuführen auf ihren gesetzmässigen Aufbau aus den psychischen Elementen. Der Begriff der Materie oder besser eines Atoms ist aber gar kein psychisches Element, sondern bereits ein umfangreicher Complex hoch- entwickelter Vorstellungen. Ein Atom ist nichts Anderes als ein Ding mit allen Eigenschaften eines Körpers und enthält viele einzelne

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Momente wie hart, undurchdringlich u. s. w., ferner die Vorstellungen der Form, der Ausdehnung u. s. w., die selbst alle schon wieder sehr complicirte psychische Processe voraussetzen. Wenn die Naturwissen- schaft daher die Erscheinungen der Kör per weit auf die Mechanik von Atomen zurückführt , so ist das ein durchaus richtiges Unter- nehmen, aber sie thut damit weiter nichts, als dass sie die Erschei- nungen der grossen Körper aus den Eigenschaften ihrer köri)crlichen Theile herleitet. Wenn aber der Versuch gemacht wird, alle psychischen Erscheinungen, niclit bloss die Vorstellungen von der Körperwelt, sondern auch andere; psychische Erscheinungen, wie ein- fache Empfindungen , auf Jjcwegungen von Atomen zurückzuführen, so ist dieses Beginnen genau so absurd wie der Versuch, die sämmt- lichen Zahlen der Zahlenreihe auf „2" zurückzuführen, statt auf die Zahlen e in h ei t, denn der Vorstellungscomplex des Atoms ist eben keine Einheit, ist kein psychisches Element. Hierin liegt der Fehler des Problems , und darum müssen alle Versuche , die psychischen Erscheinungen durch materielle zu erklären , scheitern , wie das die Geschichte des menschlichen Denkens so glänzend gezeigt hat.

Das wirkliche Problem lautet gerade umgekehrt. Es besteht nicht darin, die psychischen Erscheinungen durch materielle zu erklären, sondern vielmehr darin, die materiellen, die ja nur Vorstellungen der Psyche sind, ebenso wie alle anderen psychischen Erschei- nungen zurückzuführen auf ihre psychischen Elemente.

Man stösst in der Naturwissenschaft nicht selten auf die Ansicht, dass die Erkenntniss der Welt sich in zwei scharf von einander ge- trennte Arten scheidet, die gar nichts mit einander zu thun haben, in „Metaphysik" und Naturforschung. Die „Metaphysik" wird der Philosophie überlassen, und die Naturforschung beschränkt sich auf die Erforschung der Körperwelt. Dass aber jeder Erkenntnissprocess, auch die naturwissenschaftliche Erkenntniss, deren Object die Körper- welt bildet, selbst nur ein psychischer Vorgang ist, dass man also in der Naturforschung wohl oder übel auch „Metaphysik" treibt, wie man es alter, unglücklicher Ausdrucksweise gemäss zu nennen pflegt, ja dass ohne diese sogenannte „Metaphysik" gar keine Naturforschung bestehen kann, das wird häutig übersehen oder absichtlich vernach- lässigt. Und doch lässt sich diese Thatsache durch das bekannte Ver- fahren des Vogels Strauss nicht aus der Welt schaffen.

Nach unserer obigen Betrachtung erscheint es als ein Widerspruch, die Natur {(fvaig) und etwas „hinter" der Natur (f.iETa xijv cpvOLv) zu unterscheiden. Es giebt nur eine Welt, mag man diese als Natur oder Psyche oder Wirklichkeit oder sonst wie bezeichnen, das sind nur Namen. In Folge dessen giebt es auch nur eine Art von Er- kenntniss und nicht zwei. Sobald es sich daher um die Frage nach den Principien und Grundlagen der Erkenntniss handelt, fallen alle künstlichen Grenzen fort. Täuschen wir uns also nicht! Das Ziel, das dem Menschengeist in der theoretischen Forschung vorschwebt, ist nicht allein Erkenntniss der leblosen Körperwelt, ist auch nicht allein Erkenntniss der lebendigen Körper, es ist auch nicht bloss Er- kenntniss dieser oder jener psychischen Erscheinungen, sondern wo- nach der Mensch engeist strebt, wonach er dürstet, ist zuletzt die Erkenntniss der Welt. Eine Arbeitstheilung innerhalb der Forschung dagegen ist nicht nur nicht zu verwerfen,

42 Erstes Capitel.

sondern sogar praktisch geboten durch die ungeheure Fülle der Erscheinungen ; nur muss man sich des rein äusserlichen Zweckes derselben bewusst bleiben und die Grenzen zwischen den einzelnen Arbeitsgebieten, die man selbst gezogen hat, nicht verwechseln mit natürlichen Grenzen im Object. Es ist eine Erscheinung, die sich in den kommenden Jahrhunderten bitter rächen muss, wenn die Kluft zwischen Philosophie und Naturforschung von beiden Seiten her künstlich noch immer erweitert wird, indem auf der einen Seite die ungebundene Speculation, auf der anderen die einseitige Specialforschung immer mehr überhand nimmt, statt dass eine Annäherung zu wohl- thätiger, gemeinsamer Arbeit von beiden Seiten stattfände. Die Natur- forschung kann nicht ohne einen philosophischen Arbeitsplan erspriess- liche Fortschritte machen, und wir sehen ja auch in der Geschichte der Wissenschaft, dass niemals durch beschränkte Specialforschung, sondern stets nur von wahrhaft philosophisch, d. h. plaiimässig, metho- disch und zielbewusst arbeitenden Naturforschern grosse Entdeckungen gemacht wurden. Ebenso wenig aber kann die Philosophie auf rein speculativem Wege wirklich bedeutende Erfolge erzielen , wenn sie sich nicht eng au die sicher gestellten Thatsachen hält und ihre Speculationen streng unter die kritische Controlle der Erfahrung stellt. Ein wahrer Fortschritt kommt, wie die Geschichte der Wissenschaft am besten beweist, immer nur zu Stande durch denkende For- schung. Die ganze vorstehende erkenntnisstheoretische üeberlegung soll uns eine Grundlage für die Forschung geben, wie sie jeder den- kende Forscher sich einmal gebildet haben und immer weiter und freier ausbauen muss, um fruchtbar arbeiten zu können.

Das Wichtigste, was uns diese grundlegende Be- trachtung geliefert hat, ist der monistische Stand- punkt, von dem aus die Welt als etwas Einheitliches erscheint, von dem aus wir sehen , dass der Dualismus von Körperwelt und Psyche eine Täuschung ist. Die Körperwelt ist ein Stück unserer Psyche. Es kann daher nicht überraschen eine Thatsache, die von anderen Standpunkten aus so wunderbar erscheint , dass die Gesetze, welche die Körperwelt beherrschen, und die Gesetze, welche die Erscheinungen unserer Psyche regieren, vollkommen identisch sind. Es erscheint uns vielmehr als eine nothwendige Consequenz unserer Betrachtung, wenn wir finden , dass die Erscheinungen der Körperwelt geordnet sind nach Raum, Zeit und Causalität, und wenn wir darin unsere eigenen logischen Denkgesetze wieder erkennen. Die Gesetze, welche wir in die Körperwelt verlegen, sind eben unsere eigenen Denkgesetze, es sind die Gesetze, nach denen unsere psychischen Erscheinungen erfolgen, denn die Körperwelt ist nur unsere Vorstellung. Alle Wissenschaft ist daher in diesem Sinne Psychologie.

Machen wir uns in einem Rückblick klar, wie sich nach diesen Erwägungen unsere Welterforschung gestaltet. Wir waren ausgegangen von der Frage, ob sich uns in der Erkenntniss der Welt Grenzen, unübersteigliche Grenzen in den Weg stellen. Verstehen wir unter Erkenntniss das Zurückführen der Erscheinungen auf Bewegungen von Atomen, auf Mechanik der Atome, so ist das in der That der Fall, denn einerseits bleibt dabei das Atom, also die Materie, zu erklären,

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und andrerseits ist es nicht möglich , die psychischen Erscheinungen auf Mechanik der Atome zurückzuführen, wie das Du Bois-Reymond's geistreiche Untersuchung am deutlichsten gezeigt hat. Fassen wir aber den Begriif des Erkennens in einem allgemeineren Sinne, wie er allein zunächst berechtigt ist, indem wir unter Erkennen das Zurückführen der Erscheinungen auf die Elemente der Wirklichkeit verstehen, so ünden wir, dass keine Grenzen existiren , denn das einzig Wirkliche ist unsere Psyche, alle Erscheinungen sind nur ihr Inhalt; die Er- klärung besteht daher nur in dem Zurückführen aller psychischen Erscheinungen auf ihre Elemente. In diesem Sinne ist alle Natur- forschung, überhaupt alle Wissenschaft in letzter Instanz Psychologie. Hiermit treten wir aber auf den allein consequenten Standpunkt des Monismus, der einheitlichen Weltanschauung, die alle Erscheinungen aus einer einzigen Ursache herzuleiten sucht. Von diesem Standpunkt erkennen wir auch den Grund, Aveshalb wir auf Grenzen stossen müssen, wenn wir Erkenntniss als Zurückführung der Erscheinungen auf I\Iechanik der Atome definiren. Ein Atom ist noch kein Element der Wirklichkeit, sondern eine complicirte Vorstellung, daher sind nicht alle Erscheinungen auf Atome zurückführbar, wie ja in der Zahlen- reihe, deren Element die Zahleneinheit 1 ist, auch nicht alle Zahlen auf eine Zahl, die complicirter ist als 1, also auf 2 zurückführbar sind, wohl aber auf die Zahleneinheit selbst, die in allen Zahlen enthalten ist, aus deren Combination sie sämmtlich aufgebaut sind. Dass hier- nach eine Grenze für die Erforschung der psychischen Erscheinungen ebenso wenig existiren kann, wie für die Erforschung der Erscheinungen der Körperwelt, liegt auf der Hand; denn da die Körper, also auch die Atome oder die Materie nur Vorstellungen , also psychische Er- scheinungen sind, so werden sie ebenso wie diese sich zurückführen lassen, auf die gleichen psychischen Elemente.

C. Der Vitalismus.

Wenden wir uns jetzt wieder allein der Betrachtung der Lebens- erscheinungen zu. Unsere Ueberlegung hat uns die Möglichkeit ge- zeigt, alle Erscheinungen, die körperlichen wie die psychischen, auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen. Die Frage, welche den Anlass zu unserer allgemeinen Betrachtung gab, die Frage, ob den Lebenserscheinungen dieselben Ursachen zu Grunde Hegen, wie den Erscheinungen der leblosen Natur, Aväre also in bejahendem Sinne be- antwortet, wenn Avir bis auf die letzten Ursachen zurückgehen, und wir haben gefunden , dass sich unserer Forschung keine unübersteig- lichen Grenzen entgegenstellen. Beschränken wir uns aber jetzt auf das specielle Gebiet der Physiologie, auf die Erforschung der körperlichen Lebenserscheinungen, so wissen wir, dass die Natur- wissenschaft gezeigt hat, wie sich die Erscheinungen der leblosen Körper sämmtlich herleiten lassen aus den Eigenschaften der kleinsten körperlichen Elemente, der kraftbegabten Atome, und es entsteht die Frage, ob auch die Erscheinungen der lebendigen Körper auf dieselben Factoren zurückführbar sind.

Der Vitalismus sagt: Nein. In den Organismen herrscht eine besondere Kraft, Avelche die Lebenserscheinungen hervorbringt: die Lebenskraft. Die Lebenskraft ist nur auf die lebendige Körper-

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weit beschränkt und ist nicht identisch mit den chemisch-physikalischen Kräften der leblosen Natur.

In diesen Worten ist der wesentliche Inhalt des Vitalismus ent- halten. Prüfen wir, welche Berechtigung der Hypothese von der Lebens- kraft zukommt, und worauf sie sich stützt. Wir haben bei unserem Ueberblick über die Entwicklungsgeschichte der physiologischen Forschung die Geschichte der Lebenskraft kennen gelernt; wir haben gesehen, wie diese Lehre entstand im Anschluss an die Erscheinungen der Irritabilität, und wir haben gefunden, dass der Begriff der Lebens- kraft nie einheitlich definirt worden ist, dass er vielmehr immer ein verschwommener Avar und meistens nur als Bequemlichkeitsprincip diente. Diese Unklarheit des Begriffes einer mystischen, unbekannten Lebenskraft ist die Hauptschwierigkeit für seine kritische Beleuchtung. Wäi'e der Begriff fassbar und scharf definirt, so könnte man ihn leichter angreifen.

Die Behauptung einer Lebenskraft stützt sich allein auf die Thatsache, dass sich bestimmte Le benserschei - nungen bisher nicht haben auf chemisch- physikalische Gesetze zurückführen lassen. In der That haben wir bereits, als wir das Facit aus der bisherigen physiologischen Forschung zogen, die entmuthigende Wahrnehmung gemacht, dass, was wir von Lebens- erscheinungen erklärt haben, immer nur die groben physikalischen und chemischen Leistungen des Körpers waren, dass, wo wir diese Leistungen weiter auf ihre tieferen Ursachen untersuchten, sich immer ungelöste Räthsel uns entgegenstellten. Ja, Bunge behauptet sogar ^) : „Je eingehender, vielseitiger, gründlicher wir die Lebenserscheinungen zu erforschen streben, desto mehr kommen wir zu der Einsicht, dass Vorgänge, die wir bereits geglaubt hatten, physikalisch und chemisch erklären zu können, weit verwick eiterer Natur sind und vorläufig jeder mechanischen Erklärung spotten."

Wie wenig auch die Thatsache zu bezweifeln ist, dass viele, ja ganz besonders gerade die elementaren und allgemeinen Lebens- erscheinungen bisher jeder chemisch -physikalischen Erklärung ent- behren, so ist doch aus dieser Thatsache noch keine logische Be- rechtigung abzuleiten für die Behauptung, dass diese Erscheinungen überhaupt nicht nach chemisch -physikalischen Gesetzen zu Stande kommen, und dass eine besondere Lebenskraft existirt, welche sie her- vorbringt. Dagegen giebt es wohl Umstände, welche gegen die Existenz einer Lebenskraft sprechen.

Es ist, trotz aller Bemühungen der Vitalisten, bisher noch nicht gelungen, irgend eine besondere Kraft in den Organismen festzustellen, d. h. in der Weise aus ihren Wirkungen zu charakterisiren, wie die Physik und Chemie es für die Kräfte der anorganischen Natur gethan hat. Für keine von den Leistungen des Körpers, welche aus der Thätigkeit einer Lebenskraft entspringen sollen, haben die Vitalisten bis jetzt die Behauptung zu widerlegen vermocht, dass sie in Wirk- lichkeit nur Ausdruck complicirter chemisch-physikalischer Verhältnisse sind. Man hatte z. B. lange geglaubt, dass bestimmte Stoffe, welche man ausschliesslich im lebendigen Organismus findet, nur durch die Wirksamkeit der Lebenskraft entständen, dass sie auf chemisch-physi-

1) Bunge: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie." II. Aufl. Leipzig 1889.

Von den Zielen und Wcp^en der physiologisclien Forschung. 45

kalischem Wege nicht darstelll»ar wären. Diese einst so wichtige Stütze für die Annahme einer Lebenskraft hat, wie Avir sahen (pag. 23), Wühler *) bereits im Jalire 1828 zum Wanken gebracht, indem er den Harnstoff, einen Körper, der nur im Stoffwechsel d(!s lebendigen (Orga- nismus produeirt wird, im Laboratorium synthetisch herstfillte, und zwar aus cy ansaurem Amnion (NH4)CN0, das dem ILirnstoff (NlLjoCO isomer ist, d. h. die gleiche Anzahl derselben Atome in anderer Anordnung be- sitzt. Das cy ansaure Ammon aber wird aus rein anorganischen Stoffen dargestellt. Dieser Synthese des Harnstoffs folgten seitdem noch eine ganze Reihe anderer von derselben Bedeutung, welche alle zeigten, dass sich charakteristische Stoffe des Organismus auch künstlich zusammen- setzen lassen. Die Annahme einer besonderen Lebenskraft für ihre Er- zeugung im Organismus war damit überflüssig gemacht. Freilich ist es noch immer nicht gelungen, eine grosse Anzahl von Stoffen des Thier- und Pflanzenkörpers künstlich darzustellen. Es ist wahr, dass wir gerade die wichtigsten dieser Stoffe, die Eiweisskörper, bisher noch nicht im Laboratorium haben darstellen können, aber die Gründe dafür sind sehr naheliegend. Wir kennen noch nicht einmal die genaue chemische Zusammensetzung der Eiweisskörper; wir wissen zwar jetzt, welche Atome in ihnen enthalten sind, aber wir haben noch keine Vorstellung davon, wie diese Atome an einander gekoppelt sind. Dass wir dem- nach noch gar nicht daran denken dürfen, mit Erfolg die künstliche Darstellung von Eiweisskörpern zu versuchen, liegt auf der Hand. Ein zweiter Grund liegt darin , dass wir bisher noch keine richtige Vorstellung von den chemisch-physikalischen Bedingungen haben, unter denen im Organismus diese Stoffe entstehen. Die Chemie hat aber gerade in neuerer Zeit mehr und mehr gezeigt, dass das Zustandekommen eines chemischen Processes nicht nur davon abhängt, ob die nöthigen Stoffe da sind, sondern auch, ob bestimmte andere Bedingungen er- füllt sind. So hat die Chemie gefunden, dass manche chemische Um- setzungen, die im grossen Raum nicht erfolgen, in capillaren Räumen unter sonst gleichen Bedingungen sehr leicht stattfinden und umgekehrt. Ein längst bekanntes Beispiel ist die Vereinigung von Sauerstoff und Wasserstoff im Platinschwaram des DöBEREiNER'schen Feuerzeugs. Be- kanntlich vereinigt sich Wasserstoff, der aus einer Röhre in die Luft strömt, nicht von selbst mit dem Sauerstoff der Luft; wird er dagegen in die feinen Poren eines Platinschwammes geleitet, so tritt die Ver- einigung sofort ein: der Wasserstoff verbrennt mit leuchtender Flamme zu Wasser, Man nennt diese Vorgänge C o n d e n s a t i o n e n " . Um- gekehrt weiss man auch, dass manche chemische Processe nur stattfinden, wenn von den betreffenden Stoffen grössere Massen anwesend sind, dagegen ausbleiben bei geringer Anzahl von Atomen, eine Erscheinung, die als M a s s e n w i r k u n g " nicht bloss im Laboratorium, sondern auch, wie bereits nachgewiesen wurde, im Thierkörper eine wichtige Rolle spielt. Wendt und Preyer^) haben vor Kurzem besonders das Auftreten von Condensationsvorgängen und das Fehlen von Massen- wirkungen in capillaren Räumen als einen Grund herangezogen, warum im Organismus, wo wir in den Zellen und ihrem Inhalt capillare Räume

1) Wöhler: „Ueber künstliche Bildung des Hamstofifs." In PoggendorfiTs Annalen der Physik und Chemie, Bd. XII, 1828.

2) Preyer und Wendt: „Ueber den Chemismus im lebendigen Protoplasma." I. Mittheilung. In: Himmel und Erde, illustrirte Monatsschrift, herausgegeben von der Urania-Gesellschaft, IV. Jahrg. Heft 1. October 1891.

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vor uns haben, gewisse chemische Umsetzungen anders vor sich gehen, als wir sie im Grossen hervorrufen können.

Eine andere Ueberlegung, die uns die Annahme einer besonderen Lebenskraft noch viel unhaltbarer erscheinen lässt, ist folgende. Die calorimetrischen Untersuchungen der neueren Zeit haben gezeigt, dass beim erwachsenen Thier, welches sich in vollkommenem StofFwechsel- gleichgcAvicht befindet, d. h. welches genau so viel Atome aus seinem Körper als Ausscheidungsstoffe entfernt, wie es als Nahrung aufnimmt, auch vollkommenes dynamisches Gleichgewicht besteht, d. h. dass genau dieselbe Energiemenge, Avelche als chemische Spannkraft mit der Nahrung in den Körper eintritt, bei der Lebensthätigkeit des Thieres den Körper auch wieder verlässt. Wir müssen daher die sämmdichen energetischen Leistungen des Körpers allein ableiten aus den Energie- mengen, die mit der Nahrung in den Körper gelangen. Wollten wir das nicht, so würden wir zu ganz absurden Consequenzen geführt werden, denn würden die Leistungen des Körpers aus einem besonderen Energiefonds, aus der „Lebenskraft" bestritten, so müssten wir einer- seits die Annahme machen, dass die Lebenskraft fortwährend aus nichts im Körper neu gebildet würde, um seine Leistungen dauernd zu unterhalten, und andererseits, dass die Energiepotentiale der Nah- rung als überflüssig im Körper fortwährend verschwänden. Dazu dürfte sich aber heute kein wahrer Naturforscher mehr entschliessen.

Johannes Müller, der auch Vitalist war, hat, obwohl ihm noch nicht das Gesetz von der Erhaltung der Energie bekannt war, doch diese Schwierigkeit gefühlt und zu vermeiden gesucht, indem er die Lebenskraft nach chemisch-physikalischen Gesetzen wirken liess. Aber damit ist eben eine specifische Lebenskraft, die etwas Anderes ist als chemisch-physikalische Kräfte, im Grunde schon beseitigt, denn der Begriif Lebenskraft ist dann nur ein Sammelwort für die complicirten chemisch-physikalischen Verhältnisse, welche die Lebenserscheinungen bedingen. In der That fassen manche Naturforscher das Wort nur in diesem Sinne auf, und wäre Johannes Müller bereits mit dem Gesetz von der Erhaltung der Energie vertraut gewesen, so hätte er das Wort Lebenskraft sicherlich auch noch vermieden.

Seit der Mitte des Jahrhunderts ist der alte Begriff der Lebens- kraft vollständig aus der Physiologie verschwunden. Um so seltsamer muss es daher erscheinen, wenn die Schlagworte des Vitalismus in letzter Zeit wieder von Neuem hier und dort vernommen werden. Ein genauerer Einblick in diese Erscheinung zeigt uns indessen, dass es sich hier nur um eine sehr unglückliche Verwendung der alten Worte handelt, dass der Sinn derselben vollständig gewechselt hat, und dass da, wo man von „Vitalismus" und „Neovitalismus" spricht, etwas ganz Anderes darunter verstanden wird, als in der alten Lehre von der Lebenskraft. Im Allgemeinen kann man unter den Erscheinungen des neueren Vitalismus zwei Gruppen unterscheiden, die man kurz be- zeichnen kann als „mechanischen" und „psychischen Vitalismus", wenn man so sagen darf^).

Der „mechanische Vitalismus" ist die hier und dort ver- tretene Ansicht, dass zwar die Lebenserscheinungen im Grunde auch auf der Wirksamkeit physikalischer und chemischer Factoren beruhen,

1) Vergl. ^'ER^voFX: „Erregung und Lähmung." Vortrag', gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der 68. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a. M. 1896.

Von den Zielen und ^Vegen der physiologischen Forschung. 47

dass aber cliemi.sche und physikalische Kräfte in den lebendigen Or- ganismen zu einem so eigenartigen, bisher noch unerforschten Oomplex verkettet sind, dass man diesen vorläuüg als eine besondere, nur das Geschehen in den lebendigen Organismen charakterisirende Lebenskraft allen Kräften der organischen Natur gegenüber stellen muss. 'Mh anderen Worten, man versteht unter Lebenskraft nur das specielle Getriebe der chemisch-physikalischen Kräfte, das gerade den Lebens - erscheinungen zu Grunde liegt. Es ist offenbar, dass sich gegen das Tliatsächliche dieser Auffassung nicht^j einwenden lässt. Eine andere Frage^ ist es aber, ob die Bezeichnung „Lebenskraft" und „Vitalismus" in diesem Falle gerechtfertigt ist. Mit dem alten Vita- lismus, der eine „force hypermecanique" als Ursache der Lebens- erscheinungen annahm, hat diese Vorstellung nichts zu thun. Es heisst daher nur den Vortheil, den uns die mühsam erkämpfte Ueberzeugung von der Einheitlichkeit der Ursachen in der gesammten Natur bietet, wieder aufgeben, wenn man zu dem übel berufenen Wort^ das bei uns ein ganz bestimmtes Vorurtheil erweckt, zurückkehrt.

Etwas ganz Anderes ist der „psychische Vitalismus", wie ihn Bunge \) und im Wesentlichen, wenn auch mehr poetisch als klar, Rindfleisch -) vertritt. Es ist nicht eigentlich eine physiologische Lehre, sondern mehr eine philosophische, die der richtigen Erkennt- niss von der Unzulänglichkeit des Materialismus entspringt und sich in bedauerlicher Weise des äusserst ungeeigneten Namens „Vitalismus" und „Neovitalismus" bedient.

Betrachten wir z. B. den vitalistischen Standpunkt von Bunge etwas genauer. Mit dem Satze: „Wenn aber die Gegner des Vitalismus behaupten , dass in den lebenden Wesen durchaus keine anderen Factoren wirksam seien, als einzig und allein die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, so muss ich diese Lehre bestreiten," spricht zwar Bunge unzweideutig das vitalistische Glaubensbekenntniss aus. In- dessen geht aus seinen weiteren Ausführungen ebenso deutlich hervor, dass sein Vitalismus in Wahrheit gar kein Vitalismus ist. In Wirk- lichkeit zeigt sich nämlich, dass Bunge's Vitalismus im Wesentlichen ein „philosophischer Idealismus" ist, ähnlichen Erwägungen entspringend wie unsere erkenntnisstheoretische Betrachtung. Dabei passirt Bunge nur die eine Inconsequenz, dass er der organischen Natur eine Psyche zuschreibt, der unorganischen dagegen nicht, und diese Inconsequenz ist es, welche ihn veranlasst, sich zum Vitalismus zu bekennen; denn die Psyche ist ihm der Factor, welcher die Erscheinungen der leben- digen Körperwelt gegenüber der leblosen auszeichnet. Da es uns im übrigen mit grosser Befriedigung erfüllen muss, dass einer unserer bedeutendsten Physiologen bereits ähnliche Gedanken energisch ver- treten hat, wie diejenigen, zu denen auch uns unsere allgemeinen Betrachtungen geführt haben , so wollen wir uns nicht versagen, uns die betreffende Stelle aus der Einleitung von Bunge's Buch, die viel tiefer gedacht ist, als vielfach bemerkt wird, zu vergegenwärtigen. Bunge sagt, anknüpfend an das Gesetz Johannes Mlller's von den specifischen Sinnesenergieen : „Ich meine das einfache Gesetz, dass ein und derselbe Reiz, ein und derselbe Vorgang der Aussenwelt, ein

^) Busge: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie." ET. Aufl. Leipzig 1889.

'■') V. Rindfleisch: „Xeovitalismus." "S'ortrag, gehalten auf der 67. Versammlung- deutscher Naturforscher und Aerzte zu Lübeck 189-5.

48 Erstes Capitel.

und dasselbe ^Ding an sich« auf verschiedene Sinnesnerven ein- wirkend, stets verschiedene Empfindungen veranlasst (auslöst«), und dass verschiedene Eeize auf denselben Sinnesnerv einwirkend stets dieselbe Empfindung veranlassen, dass also die Vorgänge in der Aussenwelt mit unseren Empfindungen und Vorstellungen nichts gemein haben, dass die Aussenwelt für uns ein Buch mit sieben Siegeln, dass das einzige unserer Beobachtung und Erkenntniss unmittelbar Zu- gängliche die Zustände und Vorgänge des eigenen Bewusstseins sind.

Diese einfache Wahrheit ist das Grösste und Tiefste, was je der Menschengeist gedacht. Und diese einfache Wahrheit führt uns auch zum vollen Verständniss dessen, was das Wesen des Vitalismus aus- macht. Das Wesen des Vitalismus besteht nicht darin, dass wir uns mit einem Worte begnügen und auf das Denken verzichten. Das Wesen des Vitalismus besteht darin, dass wir den allein richtigen Weg der Erkenntniss einschlagen, dass wir ausgehen von dem Be- kannten, von der Innenwelt, um das Unbekannte zu er- klären, die Aussenwelt. Den umgekehrten und verkehrten Weg schlägt der Mechanismus ein der nichts Anderes ist als der Materialismus er geht von dem Unbekannten aus, von der Aussen- welt, um das Bekannte zu erklären, die Innenwelt."

Wir haben bereits gesehen, dass, wenn wir die Erscheinungen der Welt in ihrer Gesammtheit erklären wollen, dass wir dann auf ganz andere Elemente zurückgehen müssen, als auf Atome, dass wir da- gegen, wenn wir uns auf die körperlichen Erscheinungen beschränken, keinen Unterschied zwischen den Factoren finden, die in den leblosen, und denen, die in den lebendigen Körpern wirken. Alles, was Körper ist, sei es lebendig oder leblos, das fordert von vornherein die Logik muss auch den allgemeinen Gesetzen der Körper unterworfen sein, die uns Physik und Chemie zeigen. Es ist selbstverständlich, dass Physik und Chemie auch heute noch keine fertigen Wissenschaften sind, dass sogar ganz wesentliche Ansichten auf diesen Gebieten in Zukunft noch tiefgehende Änderungen erfahren werden. Soviel aber steht fest: niemals kann sich für die Physiologie ein anderes Erklärungsprincip der körperlichen Lebens- erscheinungen ergeben, als für die Physik und Chemie bezüglich der leblosen Natur. Die Annahme einerbe- s 0 n d e r e n L e b e n s k r a f t ist i n j e d e r F o r m n i c h t n u r d u r c h - aus überflüssig, sondern auch unzulässig.

D. Cellularphysiologie.

Wie kommt es , dass ganz moderne Bestrebungen in der Natur- forschung, nachdem die berüchtigte Idee von der Existenz einer Lebenskraft Jahrzehnte lang für endgültig beseitigt gehalten worden ist, trotz ihrer grossen Verschiedenartigkeit gerade dieses verfehmte Wort als Devise von Neuem hervorsuchen? Worin liegt der Reiz, den die Worte: „Lebenskraft", „Vitalismus" etc. in der Neu- zeit noch auf Forscher, wie Hanstein ^), Kerner ^), Bunge ^), Rind-

^) J. V. Hanstein: „Das Protoplasma als Träger der thierischen imd pflanzlichen Lebensverrichtungen." 1880. Heidelberg.

^) A. Kebner V. Märilaün: „Pflanzenleben." Leipzig 1887.

^) Bü>ge: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie." 1889.

Von doli Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 49

FLEISCH M uiul andere, auszuüben vermag? Die Ursache ist nicht schwer aufzudecken. 8ie ist dieselbe, die einst zu Haller's Zeiten die Idee von der Lebenskraft geboren hat, nämUch das Unvermögen, gcnvisse Lebens- erscheinungen bisher mechanisch erklären, d. h. auf chemisch-physika- lische Principien zurückführen zu können. Freilich hat diese That- sache während der verflossenen Jahrzehnte auch bestanden, aber man hat sie mehr vernachlässigt, solange die Aufmerksamkeit durch die epochemachenden physiologischen Entdeckungen Ludwig's, Du Bois- Kevmond's, IIelmfioltz's und Anderer gefesselt war. Heute, wo die glänzenden Entdeckungen der grossen Physiologen unseres Jahrhunderts bis in ihre Consequenzen hinein bereits verfolgt sind, wo die Mechanik der gi'öberen Leistungen des Körpers im Wesentlichen bekannt ist; heute, wo man die in der alten Richtung gewonnenen Ergebnisse zwar noch bis in ihre Einzelheiten zu vertiefen bemüht ist, wo man aber mit den alten Methoden keine wesentlich neuen, hervorragenden Ergebnisse mehr erzielt: heute wird man sich dieser Thatsache mehr bewusst. Dazu kommt noch ein weiterer unterstützender Umstand. Die heutige Naturforschung befindet sich zum grossen Theile noch immer unter dem Banne jener mächtigen Zauberformel, mit der Du Bois-Reyüond den ungehindert vorwärts strebenden Geist gelähmt und abgeschreckt hat, indem er der Forschung mit seinem „Ignorabimus" eine ewige Entsagung auferlegte, deren Nothwendigkeit man um so bereitwilliger anerkannte, als sie von solchem Munde und in so gewaltig packender Form gepredigt wurde. Diese Entsagung in Verbindung mit der Thatsache, dass man mit den bisher gebräuchlichen Methoden gewissen Räthseln des Lebens gegenüber in der That grosse Schwierigkeiten findet, dürfte psychologisch die Neigung zur Koketterie mit dem Vita- Hsmus, sei es, dass er sein altes Gewand trägt, sei es, dass er in modernem Kleide erscheint, genügend erklären.

Indessen dem menschlichen Geiste fällt die Entsagung schwer, und selbst Du Bois-Reymond entschliesst sich nicht leicht dazu. Diese natürliche Abneigung der Psyche gegen ewige Entsagung lässt schon allein vermuthen, dass der Entsagungsstandpunkt kein in der Natur der menschlichen Psyche begründeter, kein berechtigter sein dürfte, und unsere frühere Betrachtung giebt uns darin Recht. Wenn aber der Entsagungsstandpunkt gegenüber den Räthseln des Lebens, den übrigens in praxi die meisten Forscher verleugnen, nicht der richtige ist, wenn die körperlichen Erscheinungen des Lebens dennoch auf mechanischen Vorgängen beruhen, dann bleibt nur eins übrig, nämlich, dass wir einen anderen Weg einschlagen.

Wir sind bei einem Wendepunkt in der Physiologie angelangt, wie er deutlicher sich nicht bemerkbar machen kann. Die Erscheinung des Neovitalismus ist ein An- zeichen dafür. Wie vor grossen Wendepunkten in der Geschichte bei hellsehenden Leuten vorbedeutungsvolle Geister erscheinen, so er- scheint in unseren Tagen bei manchen Naturforschern das alte Gespenst der Lebenskraft wieder.

Was diesen Wendepunkt in der Physiologie charakterisirt , ist

1) Rindfleisch: „Aerztliche Philosophie." Festrede zur Feier des dreihundert- undsechsten Stiftungsfestes der Königl. Julius Maximilians-Universität. Würzbiirg 1««8. Derselbe: „Neovitalismus." Vortrag, gehalten auf der 67. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Lübeck 1895.

Verworn, AUgemeine Phj-siologie. 2. Aufl. 4

50 Erstes Capitel.

nicht schwer zu sehen. Wenn wir uns fragen, was haben wir in der Physiologie erreicht, so finden Avir, dass wir die groben chemischen und physikalischen Erscheinungen am Körper zum grössten Theil kennen gelernt haben, und zwar dank den genialen Forschungs- raethoden und den gewaltigen Entdeckungen der Forscher unserer Zeit vielfach bis zu einer Genauigkeit, wie sie sonst nur die Entdeckungen der Physik noch auszeichnet. Wir kennen die Gesetze der Herz- thätigkeit, der Blutbewegung, des Luftwechsels in den Lungen, der Muskelzuckung, der Nervenleitung; wir kennen die Leistungen der Sinnesorgane; wir wissen, in welcher Weise die Verdauungssäfte auf die Nahrung einwirken; wir kennen die specielle anatomische Grund- lage vieler psychischer Vorgänge. Aber alles das sind nur die Massen- wirkungen grosser Theile des Körpers, sind nur die letzten Enderfolge der Lebensthätigkeit. Alles, was wir jetzt noch mit den speciellen Methoden, die von den grossen Meistern in der Physiologie eben für diese Zwecke geschaffen wurden, weiter erreichen, ist im Wesentlichen nur eine Vertiefung unserer bisherigen Kenntnisse bis in feinere Einzelheiten und eine Anwendung auf analoge Verhältnisse. Das beweist jeder Blick in die physiologische Litteratur, das lehrt jedes neu erscheinende Heft der Archive. Daher giebt es augenblicklich auch keine dominirende Richtung in der Physiologie, wie es noch vor kurzer Zeit die physikalische Richtung war. Eine neue grössere Entdeckung wird auf dem bisherigen Wege trotz eines häufig be- wundernswerthen Aufwandes an Scharfsinn und Kenntnissen nur selten noch gemacht, und doch sind die eigentlichen Räthsel des Lebens noch nicht gelöst. Wir wollen nicht so weit gehen wie Bunge und behaupten, dass alle Erscheinungen, die bisher mechanisch erklärt wurden, überhaupt keine Lebenserscheinungen sind; aber es kann dennoch kein Zweifel darüber bestehen, dass wir gerade die all- gemeinen, die elementaren Lebenserscheinungen bisher nicht erklären konnten. Diese Machtlosigkeit der heutigen Physiologie gegenüber den einfachsten Lebensvoi'gängen weist offenbar darauf hin , dass die Methoden, welche die Mechanik der groben und speciellen physiologi- schen Leistungen erklärt haben , so genial sie für diesen Zweck erdacht waren, uns für andere Zwecke, für die Erforschung der elementaren und allgemeinen Lebenserscheinungen im Stiche lassen.

Um die elementaren, allgemeinen Räthsel zu lösen, müssen wir einen ganz anderen Weg einschlagen. Aber es giebt nur Einen Weg, upd auf diesen Weg sind wir bereits deutlich genug gewiesen, als wir nach unserem Ueberblick über die Entwicklungsgeschichte der physiologischen Forschung die Ergebnisse kurz zusammenfassten. Wo- rauf uns die Betrachtung jeder einzelnen Function des Körpers immer wieder hindrängt, das ist die Zelle. In der Muskelzelle liegt das Räthsel der Herzbewegung, der Muskelcontraction; in der Drüsenzelle ruhen die Ursachen der Secretion; in der Epit holzeile, in der weissen Blutzelle liegt das Problem der Nahrungs- aufnahme, der Resorption, und in der Ganglienzelle schlummern die Geheimnisse der Regulirung aller Körperleistungen. Längst hat uns die Zellenlehre ge- zeigt, dass die Zelle der Elementar bau stein des leben- digen Körpers, der E 1 e m e n t a r o r g a n i s m u s " ist, in dem

Von den Zielen und Wegen der iihysiologischen For.scliung. 51

die L e b e n s V 0 r g Ji n g e ihren Sitz haben; längst haben Anatomie und p]ntwicklungsgeschichte, Zoologie und Botanik die Bedeutung dieser Thatsache erkannt, und langst hat das mächtige Aufblühen dieser Wissen- schaften die Fruchtbarkeit der cellularen Forschungs- weise glänzend bewiesen. Nur in der Physiologie hat man erst in der jüngsten Zeit angefangen, die einfache und mit so logischer Schärfe auftretende Consequenz zu beachten, dass,wenndiePhysiologiedieErforschung der Lebenserscheinungen als ihre Aufgabe betrachtet, dass sie dann die Lebenserscheinungen an dem Orte untersuchen muss, wo sie ihren Sitz haben, wo der Heerd der Lebens Vorgänge ist, d. i. in der Zelle. Will daher die Physiologie sich nicht bloss damit begnügen, die bisher gewonnenen Kenntnisse von den groben Leistungen des menschlichen Körpers noch weiter zu vertiefen, sondern liegt ihr daran, die elementaren und allgemeinen Lebenserscheinungen zu erklären, so wird sie das nur erreichen als Cellularpli ysiologie.

Es könnte paradox erscheinen, dass erst fünfunddreissig Jahre, nachdem Rudolf Virchow in seiner „Cellularpathologie" ^) das cellulare Princip als die Grundlage der gesammten organischen Forschung er- klärt hat, eine Grundlage, auf der sich jetzt in der That alle unsere medizinischen Vorstellungen aufbauen, dass jetzt erst die Physiologie beginnt, aus einer O r g a n p h y s i o 1 o g i e zu einer Zellphysiologie sich zu entwickeln. Indessen wir dürfen darin nur den natürlichen Entwicklungsgang erblicken, der zuerst die groben Leistungen der Organe ins Auge fasst und erst allmählich tiefer und tiefer dringt, bis er bei der Zelle angelangt ist. Die Anatomie ist von jeher die Vorläuferin der Physiologie gewesen und muss es sein, um ihr den Weg zu ebnen. Wie die Anatomie ausgegangen ist von den grossen Organen des Körpers, um erst in unserem Jahrhundert bis zu den kleinsten Elementen desselben, den Zellen, zu gelangen, mit deren feinster morphologischer Erforschung der glänzende Fortschritt der modernen Anatomie sich vollzog, so musste auch die Physiologie be- ginnen mit der Erforschung der grossen, augenfälligen Organfunctionen und konnte erst in unserer Zeit herantreten an die Lebenserscheinungen der Zelle. Wir würden uns einer groben Undankbarkeit schuldig machen, wollten wir die eminente Bedeutung der bisherigen physiologischen For- schung unterschätzen, auf deren Schultern wir stehen, auf deren Ergeb- nissen wir mehr oder weniger bewusst weiterbauen. Ihre Ziele und Ideen werden uns auch weiterhin leiten, und ihre Methoden werden uns auch fernerhin nicht entbehrlich sein. Ferner dürfen wir bei der Be- urtheilung des Entwicklungsganges der physiologischen Forschung ein Moment nicht vergessen, das die Entwicklung einer jeden Wissen- schaft beherrscht, das ist das psychologische Moment der Mode. Jede Wissenschaft hängt in ihrer Entwicklung ab von dem gewaltigen Einfluss grosser Entdeckungen. Wo wir uns auch um- blicken in der Geschichte der Forschung, überall linden wir, dass imponirende Entdeckungen, wie sie in der Physiologie die Arbeiten

1) Rudolf Virchow: „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physio- logische und pathologische Gewebelehre." I. Aufl. Berlin 1858.

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52 Erstes Capitel.

Ludwig's, Claude Bernard's, Du Bois-Revmond's, Liebig's, Pasteur's, Koch's und Auderer vorstellen , das Interesse von anderen Gebieten ablenken und eine grosse Anzahl von Forschern veranlassen, in der- selben Riclitang. mit denselben Methoden weiter zu arbeiten, besonders wenn sich die Methoden als so ungeheuer fruchtbar erweisen, wie in den angefühi-ten Fällen. So werden bestimmte Arbeitsgebiete im An- schluss an epochemachende Arbeiten geradezu Mode, während für andere das Interesse fehlt. Doch tritt im Laufe der Zeit immer ein Ausgleich ein; denn jedes Gebiet ist endlich und erschöpft sich mit der Zeit. An einem solchen Zeitpunkt sind wir augenscheinlich in der Physiologie angelangt: die Organphysiologie hat den Höhepunkt ihrer Entwicklung überschritten. Auch die Cellularphysiologie wird sich im Laufe der Zeit erschöpfen, und andere Ziele und Wege werden sie in der unaufhaltsamen Entwicklung ab- lösen, Ziele und Wege, wie sie gerade der jedesmalige Stand des Problems erfordert.

Vorläufig hat die Cellularphysiologie noch ein unabsehbares Arbeits- feld vor sich. Es giebt freilich Forscher, die, obwohl sie von der dringenden Xothwendigkeit einer Cellularphysiologie überzeugt sind, obwohl sie einsehen, dass die Zelle als der Heerd der Lebensvorgänge auch das Object der Forschung bilden müsste, dennoch zweifeln, ob wir den Lebensräthseln in der Zelle überhaupt beizukommen ver- mögen. Es kann daher billiger Weise auch verlangt werden, dass ein Weg, dass Methoden gezeigt werden, mit denen sich eine Cellular- physiologie begründen lässt. Der Zweifel an der Ausführbarkeit dieses Unternehmens entspringt zum grössten Theil einer Erscheinung, die, und hier muss man in der That sagen „leider", die Physiologie nach Johannes MCller's Tode charakterisirt, einer Erscheinung, auf die bereits aufmerksam gemacht wurde, nämlich dem gänzlichen Mangel einer vergleichenden Physiologie. Noch immer hat die Physiologie diese wichtige Erbschaft Johannes Müller's, unseres gi'össten Meisters , nicht angetreten. Wie wenige Versuchs- objecte besitzt die heutige Physiologie! Es siiid im Wesentlichen der Hund, das Kaninchen, das Meerschweinchen, der Frosch und einige andere höhere Thiere. Wie wenig sind die vielen, herrlichen Ver- suchsobjecte bekannt, welche die ungeheure Formenfülle der niederen Thiere dem oflfenen Auge bietet! Und gerade unter diesen Objecten finden sich solche, die in verblüffendem Maasse geeignet sind für die cellularphysiologische Lösung der elementaren physiologischen Fragen. Es ist allerdings richtig, wenn man die Räthsel der Verdauung, der Resorption, der Bewegung etc. allein am Menschen oder an höheren Thieren cellularphysiologisch zu behandeln versucht, wird man bei der Untersuchung der lebenden Drüsenzelle, der Darmepitlielzelle, der Muskelzelle etc. leicht auf mehr oder weniger grosse technische Schwierigkeiten stossen. Dennoch haben z. B. die bewunderungs- würdigen Untersuchungen von Heidenhain über die Secretion, Lymph- bildung, Resorption etc. gezeigt, welche Ergebnisse auch hier die cellularphysiologische Methode zu erringen vermag. Solche plan- mässigen histologischen Experimente, welche die lebendige Zelle in ihrem intacten Connex mit dem Körper unter bestimmte Bedingungen stellen und das Endergebniss dann am plötzlich getödteten Tliier unter- suchen, um daraus Schlüsse auf die Vorgänge während des Lebens unter den betreffenden Bedingungen zu ziehen, werden ohne Zweifel

Von den Zielen nnd Wegen der pliysiologisclien Forschung. 53

noch viele bedeutunosvoUe Früchte zeitigen. Verhältnissmässig günstig liegen bei den Gewebezclleu die Bedingungen auch für die chemische Forschung, die wenigstens in manchen Füllen als Gewebechemie in der Lage ist, StofFwcchseluntcrsuchungen an grossen lebendigen Zell- complexen zu machen und daraus Schlüsse auf das Leben der einzelnen Zellen zu gewinnen. In der That verdanken wir auch gerade der GeAvebechemie ganz wesentliche Aufschlüsse über den thierischen Stoff- wechsel. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass im thierischen Körper nur wenig Gelegenheit geboten ist, reine Gewebe, d. h. Complexe von gleichartigen Zellen als Untersuchungsobjeete zu be- nutzen, und dass die Deutung der Ergebnisse mit der morphologischen Complication des Objects an Unsicherheit ungeheuer zunimmt. Ferner sind die Untersuchungen an Gewebezellen auch dadurch beschränkt, dass die Gewebe wenigstens der Warmblüter manchen Methoden, wie z. B. dem mikroskopischen Experiment während des intacten Lebens grosse Hindernisse in den Weg stellen. Bedeutend geringere Schwierig- keiten bieten in dieser Hinsicht die freilebenden Zellen des Oi'ganismus, z. B. die weissen Blutkörperchen, und so kommt es denn auch, dass Avir gerade über die Lebenserscheinungen der Leucocyten, besonders durch die Arbeiten von Metschnikoff, Leber, Massart, Buchner und vieler Anderer in neuester Zeit die eingehendsten Erfahrungen gewonnen haben. Stellt man sich aber auf den v er g 1 e i c h e n d - p h y s i o 1 o g i s c h e n Standpunkt, den Johannes Müller stets mit Energie vertrat, so eröffnet sich ein unabsehbar weites Arbeitsgebiet für cellular- physio- logische Untersuchungen. Die vergleichende Betrachtung zeigt zu- nächst eine Thatsache von fundamentaler Wichtigkeit, dass näm- lich die elementaren Lebenserscheinungen Jeder Zelle zukommen, sei sie eine Zelle aus irgend einem Gewebe der höheren Thiere, sei sie aus dem Gewebe der niederen Thiere, sei sie aus dem Gewebe der Pflanzen oder sei sie schliesslich eine freilebende Zelle, ein selbständiger einzelliger Organismus. Jede dieser Zellen zeigt die allgemeinen Lebenserscheinungen in ihrer individuellen Form. ^ Mit dieser Erfahrung ausgerüstet, hat es der Forscher nur nöthig, für jeden speciellen Versuchszweck aus der Fülle der Formen die geeignetsten Objecte auszuwählen, und diese drängen sich bei einiger Kenntniss der Thier- und Pflanzenwelt dem Experimentator förmlich auf. So ist es nicht mehr nöthig, sich ängstlich allein an die Gewebezellen der höheren Wirbelthiere anzuklammern, die man z. B. zu mikroskopischen Experi- menten lebendig und unter normalen Lebensbedingungen nur in seltenen Ausnahmefällen benutzen kann, die, sobald man sie aus dem Gewebe isolirt, nicht mehr unter normalen Lebensbedingungen sind und schnell absterben oder Reactionen geben, die zu falschen Schlüssen und Irr- thümern führen können. Viel günstiger sind in dieser Beziehung schon die Gewebezellen mancher wirbelloser, kaltblütiger Thiere oder der Pflanzen, die man eher unter annähernd normalen Bedingungen unter- suchen kann ; doch auch sie halten längere Versuchsreihen häutig nicht aus. Aber hier erscheinen uns als die denkbar günstigsten Objecte für cellularphy siologische Zwecke die frei- lebenden, einzelligen Organismen, die Protisten. Sie sind förmlich von der Natur für den Physiologen geschaffen, denn sie haben ausser ihrer grossen Resistenzfähigkeit noch den unschätzbaren Vortheil, dass sie Organismen sind, welche den ersten und einfaclisten Lebensformen, die einst die Erde bewohnten, von allen jetzt lebenden

54 Erstes Capitcl.

Organismen noch am nächsten stehen und daher manche Lebens- erscheinungen , die bei den Zellen des Zellenstaates sich durch ein- seitige Anpassung zu grosser Complication entwickelt haben, noch in einfachster und ursprünglichster Form erkennen lassen.

Man hat freilich die Behauptung aufgestellt, dass gerade umgekehrt diejenigen Zellformen , welche an eine ganz specielle Function im Zellenstaate der höheren Thiere angcpasst sind, auch bei Weitem günstigere Objecte für die Erforschung der betreffenden Lebens- erscheinung lieferten, als die einzelligen Organismen, an denen wir die analogen Erscheinungen sehen. So hat man z. B. mit Vorliebe gesagt: für die Erforschung der Contractionsbewegungen sei die quer- gestreifte Muskelzelle entschieden geeigneter als die Amoebenzelle, in der die Erscheinungen des Lebens noch ungetrennt sämmtlich an demselben Substrat vereinigt wären. Allein so logisch diese Be- hauptung auf den ersten Blick erscheinen mag, so wenig zutreffend erweist sie sich doch bei genauerer Betrachtung. Es ist zunächst ein grosser Irrthum, wenn man stillschweigend annimmt, dass nur bei den einzelligen Organismen die verschiedenen Erscheinungen des Lebens in einer Zelle ungetrennt vereinigt wären. Genau das- selbe gilt von jeder Gewebezelle, mag sie noch so sehr an einen bestimmten Zweck angepasst sein, mag sie noch so sehr eine ein- zelne Lebenserscheinung für die äusserliche Beobachtung in den Vordergrund treten lassen. Jede Zelle, welcher Art sie auch sei, versieht alle elementaren Functionen des Lebens. Ohne sich zu ernähren, ohne zu athmen, ohne Stoffe auszuscheiden etc. kann die Muskelzelle ebensowenig ihre Bewegungen ausführen wie die Amoebe. Es giebt überhaupt keine Zelle, die nur das Eine thäte, denn es liegt in der Natur des Lebensprocesses, dass er nach verschiedenen Seiten hin in die Erscheinung tritt. Daher ist es direct falsch , das Zu- standekommen des Contractionsactes in der Muskelzelle für etwas Einfacheres zu halten als die Entstehung der Contractionsbewegung in der Amoebenzelle. Ferner aber lehrt jede mikroskopische Betrachtung, dass die Contractionsbewegung in der quergestreiften Muskelzelle an ein schon morphologisch viel coniplicirteres Substrat gebunden ist als in der Amoebe. Die Differenzirung verschiedenartiger Elemente in der Muskelzelle, über deren Bedeutung wir zum Theil noch gar keine Vorstellung haben, ist geradezu eine staunenswerthe gegenüber der nackten Amoebe mit ihrem einfachen Zellleib. Im Uebrigen hat auch die Geschichte der Forschung zur Genüge gezeigt, dass wir trotz der erdrückenden Fülle von Arbeit, die auf die Erforschung der Contractions- bewegungen des Muskels seit Jahrhunderten verwendet worden ist, doch bisher in der Lösung des Problems kaum über Vermuthungen allge- meinster Art hinausgekommen sind. Es ist also nicht bloss gerecht- fertigt, sondern sogar geboten, bei der Erforschung des Contractions- problems die einfacheren Formen der contractilen Substanzen als wich- tiges Forschungsobject heranzuziehen, und die analoge Forderung gilt für die Untersuchung aller anderen Probleme. Freilich wird man für die Erforschung einer elementaren Lebenserscheinung auch unter den einzelligen Organismen stets solche Objecte wählen müssen, bei denen sie besonders deutlich hervortritt. Man wird für die Untersuchung der Secretion Zellformen wählen , bei denen der Secretionsact der Untei-- suchung leicht zugänglich ist, ebenso wie man für das Studium der Contractionserscheinungen auch nur Objecte nehmen wird, an denen Contractionsbewegungen direkt sichtbar sind. Ferner wird es noth-

Von den Zielen und Wcg:cn der physiologischen rurschung. 55

notlnvcMulig sein, die Leheiisersclieinungen an verseliiedenartigen Zell- ibniien vergleieheiul zu behandeln, denn nur eine vergle ie li end e Cellular pli ysiülogie ist im Stande, das Specielle und Unwesent- liche vom Allgemeinen und Wesentlichen zu sondern. Daher wäre es verkehrt, die Untersuchung der Gewebezellen über den einzelligen Organismen zu vernachlässigen. Es werden sich nicht selten Gelegen- heiten bieten, wo die Gewebezellen oder ganze Gewebemassen von Pflanzen oder von Thieren aus dieser oder jener Rücksicht den Vorzug verdienen, ja wo es sogar selbstverständlich ist, Gewebezellen als Ob- ject zu verwerthen, Avie z. B. bei vielen speci eilen Problemen der Physiologie, die überhaupt nur an eine bestimmte Zellform resp. Ge- webeform geknüpft sind. Eine Einseitigkeit, ein Schematisiren, eine Aufstellung allgemeiner Regeln wäre hier wenig am Platze. Die Wahl des Objects Avird in jedem einzelnen Falle ganz allein vom gegebenen Problem bestimmt werden. Nur der eine Punkt ist bei allen diesen Untersuchungen stets im Auge zu behalten: die Erforschung des Lebens der Zelle.

Die Morphologie , die Vorläuferin aller Physiologie, hat auch hier der physiologischen Untersuchung den Weg bereits geebnet. Wir kennen heute den Bau der Zellen, seien sie freilebend, seien sie zu Geweben verbunden, bis in äusserst feine Einzelheiten hinein, und manchen wichtigen Aufschluss, manche werthvolle Anregung betreffs der Lebenserscheinungen besonders der Gewebezellen, Avie der Zellen des Centralnervensystems, der Drüsen, der Muskeln etc. haben Avir gerade der histologischen Forschung zu verdanken.

Um die AnAvendung experimentell -physiologischer Methoden an der Zelle brauchen AA^r nicht verlegen zu sein, denn hier finden sich für jeden ZAveck unter der erdrückenden Mannigfaltigkeit der Formen immer gleich mehrere geeignete Versuchsobjecte, auf die sich die A-er- schiedensten speciellen Methoden vorzüglich anAvenden lassen.

Wir können, um mit der einfachsten Methode zu beginnen, bei der freilebenden und unter Umständen auch bei der Gewebezelle die Methode der einfachen mikroskopischen Beobachtung der Lebenserscheinungen in der bequemsten Weise auAvenden. Die blosse Beobachtung hat denn auch dazu geführt, dass wir die sichtbaren Lebenserscheinungen der Zelle ziemlich genau kennen gelernt und zum Theil sein' eingehend untersucht haben. Unter den ersten Errungen- schaften dieser einfachen Methode seien nur die äusserst werthvollen Er- fahrungen über die feineren und feinsten Verhältnisse bei der Befruch- tung, Theilung und Fortpflanzung erAvähnt, welche Flemming, Bütschli, VAK Beneden, die Brüder Hertayig, Strasbürger. Boveri, Heidenhaix und viele Andere theils an lebendigen Zellen, theils an Zellen, die in bestimmten Lebenszuständen fixirt Avaren, in unserer Zeit gemacht haben.

Wir können aber auch unter dem Mikroskop vivisectorische Operationen an der Zelle ausführen in ganz derselben Ausdehnung und mit grösserer methodischer Genauigkeit, als Avir es makroskopisch an höheren Thieren thun. Mehrere Forscher, Avie Gruber, Balbiani, Hofer u. A., haben bereits diesen operativen Weg mit grossem Erfolge betreten, und eine Reihe von Arbeiten hat zur Genüge bewiesen, Avelche Fruchtbarkeit für die Behandlung allgemein physiologischer Probleme gerade diese cellular- vivisectorische Operationsmethode zu entfalten vermag. Mit dieser An'visectorischen Methode führten auch Roux, Chabry, die Brüder Hertwig, Driesch und Andere ihre ausgezeichneten experimentellen Untersuchungen über die EntAvicklung der Thiere aus.

56 Erstes Capitel. Von den Zielen und Wegen etc.

Wir können ferner die umfassendsten Versuche über die Wir- kungen der verschiedenen Reizqualitäten auf die Lebens- erscheinungen der Zelle oder verschiedener Zellformen anstellen, und gerade auf diesem Gebiet ist bereits ein umfangreiches Thatsachen- material gesammelt worden. Eine grosse Anzahl von Untersuchungen an einzelligen Organismen hat gezeigt, dass gerade die Reizwirkungen, Avelche nach Anwendung von chemischen, mechanischen, thermischen, photischen, galvanischen Reizen an der Zelle auftreten, für die Er- kenntniss der Lebenserscheinungen die allergrösste Tragweite haben. Es ist durch diese Versuche in den letzten Jahren möglich geworden, mehr und mehr Klarheit über die allgemeinen Gesetze der Erregung und Lähmung der Lebensprocesse und ihre Folgen zu verbreiten und auch die bisher so unklaren Erscheinungen der „Hemmung" dem Ver- ständnisse etwas näher zu rücken.

Wir können schliesslich den Lebenserscheinungen an der Zelle chemisch nahetreten, und zwar mit makrochemischen sowohl wie mit mikrochemischen Methoden, Grosse Massen von einzelligen Organismen, wie Hefezellen, Leucocyten, Spermatozoon, und nicht minder ganze Verbände von Zellen, wie die Gewebe, haben bereits für die makro- chemische Untersuchung ausgezeichnete Objecte geliefert. Wir ver- danken diesen Untersuchungen unsere wichtigsten Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung und den Stoffwechsel der Zelle. Aber auch für die mikrochemische Untersuchung linden wir eine Fülle von günstigen Versuchsobjecten, wenn auch in dieser Beziehung bisher nur der allererste Anfang der Forschung gemacht worden ist, da die mikroskopischen Methoden der Chemie noch wenig entwickelt sind. Immerhin haben bereits die Arbeiten von Miescher, Kossel, Lilien- feld, LoEW und BoKORNY, Zacharias, Schwarz, Lowitt und Anderen bewiesen , dass die mikrochemische Untersuchung der Zelle eine sehr aussichtsreiche Zukunft vor sich hat.

Indessen es ist überflüssig, einzelne Methoden aufzuzählen, die sich auf cellularphysiologischem Boden anwenden lassen. Es sind eben alle Methoden brauchbar, die gerade der augenblickliche specielle Ver- suchszweck erfordert. Wir müssen in der Physiologie immer wieder und wieder zu den Gesichtspunkten zurückkehren, die einst die Forschung unseres grossen Meisters Johannes Müller so fruchtbar gestaltet haben. Johannes Müller vertrat sein ganzes Leben hindurch praktisch und theo- retisch die Ansicht, dass es nicht Eine physiologische Methode gäbe, sondern dass Jede Methode recht sei, die zum Ziele führe. Er wählte stets die Methode nach dem jedesmaligen Problem, nie das Problem nach der Methode, wie es heute vielfach geschieht. Nicht die Methode ist einheitlich in der Physiologie, sondern das Problem. Zur Lösung dieses Problems muss der Physio- loge chemische und physikalische, anatomische und ent- wicklungsgeschichtliche, zoologische und botanische, mathematische und philosophische Untersuchungs- methoden in gleicherweise anwenden, je nachdem es der specielle Zweck erfordert. Aber alle sollen sie zu Einem Ziele führen, zur

Erforschung des Lebens.

Zweites Capitel. Von der lebendigen Substanz.

I. Die Zusammensetzung der lebendigen Substanz.

A. Die Individualisation der lebendigen Substanz.

1. Die Zelle als Elementarorganismus.

2. Allgemeine und specielle Zellbestandtheile.

3. Mebrkernige Zellen und Syncytien.

B. Die morpbologiscbe Beschaflfenbeit der lebendigen Substanz.

1. Form und Grösse der Zelle.

2. Das Protoplasma.

a. Die geformten Bestandtheile des Protoplasmas.

b. Die Grundsubstauz des Protoplasmas.

3. Der Zellkern oder Nucleus.

a. Die Gestalt des Zellkerns.

b. Die Substanz des Zellkerns.

c. Die Structur des Zellkerns.

C. Die physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz.

1. Die Consistenz der lebendigen Substanz.

2. Das specifische Gewicht der lebendigen Substanz.

3. Die optischen Eigenschaften der lebendigen Substanz.

D. Die chemischen Eigenschaften der lebendigen Substanz.

1. Die organischen Elemente.

2. Die chemischen Verbindungen der Zelle.

a. Die Eiweisskörper.

b. Die Kohlehydrate.

c. Die Fette.

d. Die anorganischen Bestandtheile der lebendigen Substanz.

e. Die Vertheilung der Stoffe auf Protoplasma und Kern.

II. Lebendige und leblose Substanz.

A, Organismen und anorganische Körper.

1. Morphotische Unterschiede.

2. Genetische Unterschiede.

3. Physikalische Unterschiede.

4. Chemische Unterschiede.

B. Lebendige und leblose Organismen.

1. Leben und Scheintod.

2. Leben und Tod.

58 Zweites Capitel.

Galen, der Vater der Physiologie, hatte bereits klar und deutlich die Nothwendigkeit erkannt, dass für die Erklärung der Lebenserschei- nungen irgend eines Organs die genaue Kenntniss seiner anatomischen Verhältnisse unbedingte Voraussetzung sei, und diese wichtige Forde- rung hat die moderne Physiologie bis auf den heutigen Tag zu ihrem grössten Vorteil aufrecht erhalten. Jede physiologische Untersuchung muss als erste unentbehrliche Vorbedingung die stoffliche Kenntniss des Substrats betrachten , dessen Lebenserscheinungen sie ins Auge fasst. Das gilt für die allgemeine Physiologie nicht minder wie für die specielle. Es wird demnach die Betrachtung der lebendigen Sub- stanz, d. h. ihrer Zusammensetzung und ihrer Unterschiede gegenüber der leblosen Substanz den Ausgangspunkt der all- gemeinen Physiologie bilden müssen.

I. Die Zusammensetzung der lebendigen Substanz.

Der Versuch, das geheimnissvolle Dunkel zu lüften, das die Mysterien der lebendigen Substanz umhüllt, der Substanz, die von selbst sich ernährt und athmet, sich bewegt und wächst, sich fortpflanzt und entwickelt, hat von Alters her einen eigenen Reiz auf die Ge- müther grübelnder Denker ausgeübt. In naiver Weise glaubte das Alterthum aus der Vermischung gewisser Stoffe die Substanz der lebendigen Körper erklären zu können. So stellte sich Hippokrates vor, der normale menschliche Körper bestehe aus Blut, Schleim und Galle, die in bestimmten Verhältnissen mit einander gemischt seien. Im Mittelalter, das die Räthsel der Natur sämmtlich mit Hülfe der viel- mächtigen Alchymie zu lösen suchte, glaubte man dem Geheimniss der lebendigen Substanz schon auf der Spur zu sein. Wie tief man in diesem Wahn befangen war, zeigen die vielen Versuche des Mittel- alters, lebendige Substanz künstlich in der schwarzen Küche darzu- stellen. Die gespannte Erwartung, mit der im phantastischen Halb- dunkel seines Laboratoriums, umgeben von seltsamen Adepten und abenteuerlichen Apparaten der mittelalterliche Alchymist den Homun- culus jeden Augenblick fertig der Retorte oder dem Schmelztiegel ent- steigen zu sehen hoffte, stellt einen Zug vor, der nicht wenig charakte- ristisch ist für die Entwicklungsstufe, auf der die Wissenschaft in jenen Jahrhunderten stand. Aber wie stolz wir auch auf unsere mo- derne Wissenschaft zu sein pflegen, wir haben nicht das Recht, mit Spott auf diese Versuche des Mittelalters herabzublicken , wenn wir daran denken, dass seit jener Zeit bis in unser Jahrhundert, ja bis in die neueste Zeit hinein, die Versuche fortgedauert haben, zwar nicht den Menschen selbst, den Homunculus, wohl aber die einfachsten Formen lebendiger Substanz künstlich darzustellen. Und doch gleichen alle diese Versuche nur dem Unternehmen eines Mannes, der ein com- plicirtes Uhrwerk zusammenzusetzen versucht, ohne die dazu noth- wendigen Theile zu kennen. In der That, wie einfach auch das Problem der künstlichen Darstellung lebendiger Substanz dem Mittel- alter noch erschien, der Fortschritt nüchternen Denkens und kritischer Forschung hat immer mehr und mehr gezeigt, wie weit wir vorläufig sogar noch von der Kenntniss ihrer feineren Zusammensetzung ent- fernt sind. Wie sollte es aber möglich sein , eine Substanz chemisch darzustellen, deren chemische Zusammensetzung gar nicht bekannt ist !

Von der lebendigen iSuhstaiiz. 59

Das Augenmerk der modernen Forschung hat sich daher mehr und mehr daraufgerichtet, die Zusammensetzung der lebendigen Sub- stanz zu erforschen, und die Erfolge sind nicht ausgeblieben. Die moderne Forschung hat tiefe Blicke gethan in die Formbildung, in die physikalischen Verhältnisse, in die feinere »Structur und in die chemische Constitution der lebendigen Substanz, und unermüdliche Geister sind besch.äftigt, den Schleier, der diese Räthsel umiiüUt, noch weiter zu lüften.

A. Die Individualisation der lebendigen Substanz.

1. Die Zelle als Elementarorganismus.

Werfen wir einen Blick auf die organische Welt, welche die Erd- oberfläche bewohnt, so finden wir, dass die lebendige Substanz nicht eine einzige zusammenhängende Masse bildet, sondern dass sie iji einzelne organische Individuen geschieden ist. Der Begriff des organischen Individuums ist nicht ganz leicht zu deüniren, und viele Forscher, in neuerer Zeit besonders Haeckel ^), haben sich schon bemüht, ihm eine allgemein gidtige Form zu geben. Er entstand in alter Zeit durch Abstraction vom Menschen und den höheren Thieren, die als einheitliche, von einander unabhängige, lebendige Wesen erschienen. Aber wie bei allen jenen alten Begriffen, deren Bildung einem beschränkten Kreise von Erfahrungen entsprungen ist, und deren Inhalt sich später mehr und mehr erweiterte , so ist auch bei dem Begriff des Individuums die ursprüngliche Form zu eng ge- worden und bedarf einer Erweiterung, die den Begriff auf einen grösseren Kreis von Erscheinungen anwendbar macht.

Die ursprüngliche Vorstellung, die das Wesen des Individual- begriflfs ausmachte, war die Vorstellung der Untheilbarkeit. Danach wäre ein Individuum ein einheitliches Ganzes, das sich nicht weiter theilen lässt, ohne seine charakteristischen Eigenschaften zu verlieren. Solange man nur den Menschen, die Wirbelthiere und allenfalls noch die Insekten dabei im Auge hatte, stiess in der That diese Definition auf keine Schwierigkeiten, denn ein Wirbelthier oder Insect lässt sich nicht durch Theilung in mehrere selbständige Indivi- duen zerlegen. Indessen wenn man etwas tiefer in der Thierreihe hinabsteigt, oder wenn man den Begriff auch auf das Pflanzenreich anwenden will, machen sich bald Schwierigkeiten bemerkbar.

Es giebt im Süsswasser unserer Teiche und Seen einen eigen- thümlichen Vertreter der grossen Familie der Nesselthiere, den Süss- wasserpolypen Hydra. Dieses kleine, ungefähr centimeterlange Thierchen mit seinem dünnen, schlauchförmigen Körper, an dem sich mehrere lange fadenförmige Fangarme befinden (Fig. 2A), hat schon bald nach der Entdeckung des Mikroskops die Aufmerksamkeit der Beobachter zu fesseln begonnen. Man fand nämlich, dass dieses merk- würdige Wesen sich durch einen queren Schnitt in zwei Hälften zerlegen lässt, deren jede sich wieder zu einem vollständigen, nur entsprechend kleineren Individuum umformt. Die vordere armtragende Hälfte schliesst einfach die Schnittwunde und setzt sich wieder mit dem hinteren Ende fest, die hintere Hälfte dagegen lässt alsbald von den Wundrändern neue Fangarme hervorsprossen, und in kurzer Zeit

') Ernst Haeckel: „Generelle Morphologie der Organismen." Berlin 1866.

60

Zweites Capital.

sind beide Theilstücke wieder vollständige Hydren. Ja, man kann sogar die einzelnen Theilstücke noch weiter theilen und schliesslich das ganze Thier in eine grosse Anzahl kleiner Stücke zerlegen, deren jedes sich wieder zu einem vollständigen Individuum umbildet. Hier ist also das einheitliche Individuum in zwei oder mehrere Individuen getheilt worden. Wäre daher die Untheilbarkeit allein maassgebend für die Entscheidung, ob man ein Individuum vor sich hat oder nicht, dann wäre die Hydra kein Individuum, denn sie lässt sich theilen, ohne dass die Theilstücke die charakteristischen Eigenthümlichkeiten des ursprünglichen Thieres verlieren, und dasselbe ist der Fall bei jedem Baum, bei jedem Strauch.

Das Moment der Untheilbarkeit ist also nicht aufrecht zu erhalten für die Definition des Individualbegriffs , sondern nur das Moment der Ungetheiltheit, der Einheit. Solange die Hydra ungetheilt war, bestand sie als Individuum, als Ganzes, als Un- getheiltes, als Einheit. Durch die Theilung ging zwar das ursprüng-

Fig. 2. Hydra fusca, Siisswasserpolyp. ^4 quer durchgeschnitten, 5 und C die beiden Theilstücke haben sich zu zwei vollständigen Individuen regenerirt.

liehe Individuum zu Grunde, aber es entstanden zwei neue Einheiten daraus, die, solange sie nicht selbst weiter zerschnitten werden, wirk- lich vollkommene Individuen vorstellen. Nur das Moment der Ein- heit kann also maassgebend sein für die Definition des Individual- begriffs, wenn sie in einer so allgemeinen Fassung gegeben werden soll, dass sie für alle speciellen Fälle gültig bleibt. Ein organisches Individuum wäre demnach nichts als eine einheitliche Masse lebendiger Substanz.

Aber in dieser allgemeinsten Form ist die Definition wieder zu weit, denn danach wäre auch jeder kleine Fetzen lebendiger Substanz, den wir von einer lebendigen Zelle unter dem Mikroskop abgeschnitten haben, noch ein Individuum. Wir werden uns indessen nicht entschliessen können, einen solchen Fetzen als Individuum zu betrachten, wenn wir sehen, wie jedes Stückchen lebendiger Substanz, das nicht mehr den Werth einer Zelle hat, stets nach einiger Zeit unfehlbar zu Grunde geht. Es gehört also zum Begriff des Individuums noch das Moment

Vou der lebendigen Substanz.

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der Selbsterhaltungsfähigkeit. Somit können wir sagen: ein orga- nisches Individuum ist eine einheitliche Masse leben- diger Substanz, welche unter bestimmten äusseren Lebensbedingungen selbsterhaltungs fähig ist.

Diese Definition findet zunächst Anwendung auf alle einzelnen, freilebenden Organismen, die räumlich von einander getrennt und nicht künstlich zertheilt sind, also auf alle Organismen in der Form, wie sie in der Natur vorkommen; aber die Definition umfasst noch mehr als nur räumlich zusammenhängende Organismen, sie umfasst auch zusammengehörige Gruppen von einzelnen Organismen, deren jeder vom anderen zwar räumlich getrennt sein kann, die aber alle zusammen eine Einheit bilden. Ein Beispiel dafür ist ein Ameisenhaufen. Der Ameisenhaufen stellt ein Individuum vor, insofern er ein einheitliches Ganzes ist, in dem die einzelnen Theile, wie die Glieder eines Or-

Fig. 3. Eucorallium rubrum, Edelkoralle, a ein Korallenstock mit; vielen Individuen, ö ein einzelnes Individuum, stärker vergrössert. Nach Haeckel.

ganismus, einheitlich zusammenarbeiten. Der Ameisenstaat besteht aber seinerseits wiederum aus lauter einzelnen Individuen, aus Männ- chen, Weibchen, Arbeiterinnen, Soldaten u. s. w., und so sehen wir schon, dass die Individualität von sehr verschiedenem Wert he sein kann. Der Ameisenstaat, selbst ein Individuum, umfasst wieder eine grosse Menge von Individuen. Wir haben es hier also mit Individualitäten von ganz verschiedenem Grade zu thun. Es erscheint daher zweckmässig, diese Individualitätsgrade in der Weise zu unterscheiden, dass man die umfassendere Individuenform als ein Individuum höherer Ordnung, die sie zusammensetzen- den Individuenformeu als Individuen niederer Ordnung be- zeichnet. Ganz ähnlich dem Verhältniss zwischen dem Ameisenstaat und der einzelnen Ameise ist das Verhältniss bei den Korallenstöcken. Hier ist der ganze Korallenstock (Fig. 3 a) ein Individuum höherer Ordnung, der einzelne Korallenpolyp (Fig. 3 6) aber ein Individuum niederer Ordnung; der Unterschied gegenüber dem Ameisenhaufen

62

Zweites Capitel.

besteht nur darin, dass die Individuen niederer Ordnung hier sub- stantiell unter einander im Zusammenhang stehen.

Es wird zweckmässig sein, eine Umschau in der organischen Welt danach zu halten, welche verschiedenen Grade der Individualität wir ünden. Der Staat, die Colonie ist offenbar der höchste Indi- vidualitätsgrad, denn auch eine Summe von Staaten überschreitet die Individualitätsstufe des Staates nicht als eine neue Einheit. Die nächste niedere Individualitätsstufe im Staat aber ist die einzelne Person. Sehen wir, ob auch die Person noch niedere Individualitätsstufen um- fasst. Schon die Korallencolonie könnte man in gewissem Sinne als Person auffassen, die aus einzelnen Organen besteht; noch deutlicher aber wird das Verhältniss bei einer anderen Coelenteratengruppe, bei den Siphonophoren. Die Siphonophoren stellen Personen vor, die aus

Fig. 4. Stephalia corona, eine Siphonophore. A Längsschnitt, B äussere Ansicht. sb Schwimmblase, sy Schwimmglocken, go Geschlechtstrauben, hg Magenschläuche, 0 Hauptmagenschlauch, t Tentakel. Sämmtliche Organe sind einzelne Individuen.

Nach Haeckel.

einer Anzahl verschiedenartig entwickelter Organe zusammengesetzt sind. Alle diese Organe, von denen die Einen für die Bewegung, die Anderen für die Ernährung, einige für die Fortpflanzung, andere für den Schutz des ganzen Körpers entwickelt sind, gruppiren sich um eine Längsaxe in regelmässiger Anordnung herum (Fig. 4). Aber alle diese Organe sind einzelne Individuen, denn die Entwicklungsgeschichte der Siphonophoren zeigt uns einerseits, dass sie durch Knospung sämmtlich aus morphologisch homologen Theilen hervorgehen, und andererseits, dass sich in bestimmten Fällen einzelne Individuen, wie z. B. die Schwimmglocken, vom Stamme loslösen und ein selbständiges Dasein als Medusen führen können. Wir sehen also , dass wir die Person der Siphonophoren als eine Colonie von einzelnen Organen auffassen können, dass somit die Individualitätsstufe der Person die niedrigere Individualitätsstufe der Organe umfasst. Suchen wir, ob es noch niedrigere Tndividualitätsstufen giebt, als das Organ. Bei genauer

Von der lebendigen Substanz.

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Zergliederung eines Organs, etwa eines menschlichen Armes, zeigt sich, dass auch dieses noch aus verschiedenartigen Bestandthcilen zusammen- gesetzt ist, die wir als Gewebe bezeichnen. Der Arm enthält Muskelgewebe, Nervengewebe, Knochengewebe u. s. w. ; das Chiirakte risticum für das Organ ist daher seine Zusammensetzung aus mehreren vei'schiedenen Gewebearten. Die nächst niedrigere Individualitätsstufe wäre also das Gewebe. In der That giebt es Organismen, welche nur aus einer einzigen Gewebeform bestehen, bei denen noch keine Verschiedenheit der einzelnen Gewebebestandtheile vorhanden ist. Solche freilebenden Gewebe finden wir zahlreich vertreten in der Gruppe der Algen. Eudorina elegans z. B. ist eine durchsichtige, kleine Gallertkugel, in der neben einander viele einzelne runde Klümpchen eingebettet liegen, die sich bei näherer Untersuchung als von einander getrennte Theilchen lebendiger Substanz erweisen. Diese kleinsten Theilchen für sich existirender lebendiger Substanz sind Zellen. In unserem Fall hat jede Zelle zwei zierliche Geisseifäden, durch de- ren Bewegung die ganze maul- beerförmige Gallertkugel im Wasser umhergetrieben wird (Fig. 5). Jede solche Geisselzelle ist ein selbständiges Individuum und lebt, wenn sie von der Gallertkugel getrennt wird, wie das z. B. auch spontan bei der Fortpflanzung eintritt, ungestört weiter. Hier sehen wir also, dass die Individualitätsstufe des Ge- webes die einzelne Zelle in sich birgt. Das Gewebe ist eineColonie von Zellen. Aber beider Zellesind wir auch an der niedrigsten Indi- vidualitätsstufe angelangt. Zwar linden wir, dass auch die Zelle noch zusammengesetzt ist aus verschiedenen Bestandthcilen, vor Allem aus einer weicheren

Grundmasse, dem Protoplasma, und einem darin eingebetteten festeren Kern, dem Zellkern ; aber wir können bei keiner Zelle diese beiden Bestandtheile trennen, ohne dass sie einzeln zu Grunde gingen. Eine grosse Anzahl von Experimenten hat gezeigt, dass kein Protoplasma ohne Zellkern und kein Zellkern ohne Protoplasma allein selbst- erhaltungsfähig ist. Also bildet nach unserer Definition des Indivi- duums keins von beiden mehr ein Individuum. Dem entsprechend ist auch in der ganzen Natur nirgends ein Organismus bekannt, der eine niedrigere Individualitätsstufe repräsentirte als die Zelle. Die Zelle ist der einfachste Individualitätsgrad, die Zelle ist, wie Brücke^) sagt, der „Elementarorganismus". Scheinbar im Widerspruch mit dieser Auffassung der Zelle als Individuum niedrigster Ordnung steht die Thatsache, dass die Zelle,

Fig. 5. Eudorina elegans. Eine Flagel- laten-Colonie. Die einzelnen Individuen liegen in einer gemeinsamen Gallertkugel eingebettet.

') Brücke: „Die Elementarorganismen." XLIV. 2. Abth.

Wiener Sitzungsbericht. Jahrg. 1861.

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Zweites Capitel.

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Ä;

wie durch viele Versuche in neuerer Zeit festgestellt worden ist, unter bestimmten Bedingungen doch noch künstlich getheilt werden kann in Theilstücke, die dauernd ungestört weiter leben und sich sogar noch fortpflanzen können. Zerschneidet man z. B. unter dem Mikroskop eine freilebende Infusorienzelle, etwa den zierliehen, im Süsswasser lebenden Stentor Roeselii (Fig. Q Ä), der sich besonders dazu eignet, in der Weise, dass jede Hälfte ein Stück des langen stabförmigen Zellkerns mitbekommt, so zeigt sich dieselbe Erscheinung wie bei Hydra: Die beiden Theilstücke formen sich wieder zu vollständigen kleinen Stentoren um (Fig. 6 B und C) und leben als solche in voll- kommen normaler Weise weiter. Hier ist also die Zelle, das Individuum niedrigster Ordnung, doch noch in zwei Individuen zerlegt worden

und kann sogar in noch mehr Individuen getheilt werden, wenn man die Operationen so einrichtet, dass jedes Stück sowohl etwas Protoplasma als auch einen Theil des Zell- kerns mit bekommt. Wir werden dieser Thatsache von funda- mentaler Bedeutung noch öfter zu gedenken haben. Aber im vor- liegenden Falle steht sie doch nur scheinbar im Widerspruch mit der Auffassung der Zelle als Elementar- individuum, denn, was wir durch die Thei- lung erhalten haben, sind ja in Wirklich- keit gar keine neuen Individualitätsstufen, sondern vollkommene Stentoren, d. h. In- dividuen vom Formenwerth einer Zelle. Bei allen diesen Theilungen von Zellen, wo wir in den Theilstücken Protoplasma und Kern haben, sind immer die Theilstücke ebenfalls wieder Zellen; über die Zelle kommen wir dabei nicht hinaus. Theilen wir dagegen so, dass das eine Theilstück, Protoplasma und Kern, das andere nur Protoplasma ohne Kern bekommt, so bleibt das erstere leben und repräsentirt eine vollständige Zelle, das letztere aber, das nicht mehr auf der Indivi- dualitätsstufe der Zelle steht, geht unfehlbar zu Grunde. Die Zelle bleibt also in jedem Falle der Elementarorganismus.

Fassen wir unsere bisherigen Betrachtungen über die Individualität zusammen, so können wir in der Organismenwelt fünf Individualitäts- stufen unterscheiden und in folgender Weise charakterisiren :

1. Individuen ersterOrdnungsinddieZellen. Sie reprä- sentiren die Elementarorganismen, die nicht mehr aus niedrigeren,

Fig. 6. Stentor Koeselii, eine trompetenförmige Infusorienzelle. A quer zerschnitten, B u. O die beiden Theilstücke haben sich zu vollständigen Stentoren rege- nerirt. Die helle, langgestreckte Masse im Innern be- zeichnet den Kern.

Vou der lebendigen Substanz. (35

für sieh lebensfähigen Einheiten zusammengesetzt sind. Ein Beispiel ist das einzellige Wimper-Infusorium Stentor (Fig. G).

2. Individuen zweiter Ordnung sind die Gewebe. Die Gewebe sind Verbände von Individuen erster Ordnung, deren jedes gleich dem andern ist. Ein Beispiel ist die flagellate Algen- Icugel Endo ri na (Fig. 5).

3. Individuen dritter Ordnung sind die Organe. Die Organe sind Verbände von verschiedenen Arten Individuen zweiter Ordnung. Ein Beispiel ist die Hydra (Fig. 2), deren ganzer Körper nur aus zwei Schichten von Geweben besteht.

4. Individuen vierter Ordnung sind die Personen. Die Personen sind Verbände von verschiedenen Individuen dritter Ordnung. Ein Beispiel ist der Mensch, dessen Körper aus der Vereinigung verschiedener Organe besteht.

5. Individuen fünfter Ordnung sind die Staaten. Die Staaten sind Verbände von Individuen vierter Ordnung. Bei- spiele sind die Ameisen- und Bienenstaaten.

Dieses Schema erfordert aber noch eine Bemerkung. Es zeigt zunächst, dass jedes Individuum höherer Ordnung aus einem Ver- band von Individuen der nächst niedrigeren Ordnung besteht. Nun sind aber die Coustituenten eines Individuums höherer Ordnung nicht immer reelle Individuen, d. h. sie sind, wenn sie aus ihrem Ver- bände getrennt werden, nicht immer für sich selbsterhaltungsfähig. Sie haben nur die Fähigkeit der Selbsterhaltung, solange sie im Ver- bände leben, sind also nur virtuelle Individuen. Nehmen wir z. B. ein Individuum vierter Ordnung, also eine Person, etwa einen Menschen, so besteht diese Person aus einzelnen Organen, also aus Theilen, die ihrem Formenwerth nach Individuen dritter Ordnung gleichen. Diese Organe sind aber nur virtuelle, nicht reelle Individuen, denn aus dem Verbände getrennt gehen sie zu Grunde. Dasselbe kann bei In- dividuen aller Ordnungen der Fall sein. Auch z. B. die Zelle eines thierischen Gewebes, aus dem Verband mit ihren Schwestern getrennt, ist für sich nicht lebensfähig; sie ist also nur als virtuelles Individuum im Gewebe enthalten u. s. f. In anderen Fällen dagegen können die Coustituenten eines Individuums höherer Ordnung auch zu reellen Individuen der nächst niedrigeren Ordnung werden, wenn man sie aus dem Verbände trennt , wie das z. B. der Fall der E u d o r i n a zeigt, bei der die einzelnen Zellen auch getrennt für sich lebensfähig sind.

Was aus diesen Betrachtungen hervorgeht, ist die wichtige Thatsache, dass alle lebendigen Individuen, welcher Ordnung sie auch angehören mögen, in letzter Instanz entweder aus Zellen als elementaren Bausteinen zusammengesetzt oder selber freilebende Zellen sind. Die Zelle m u s s daher der H e e r d d e r j e n i g e n Vorgänge sein, deren Ausdruck die Lebenserscheinungen sind, d. h. der Sitz der Lebensvorgänge selbst.

Demgegenüber ist in neuerer Zeit von Altmann ^) der Versuch gemacht worden, eine noch niedrigere Individualitätsstufe nachzuweisen

^) Altmann : „Die Elementarorganismen und ihre Beziehungen zu den Zellen." Leipzig 1890.

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 5

66 Zweites Capitel.

« als die Zelle, und damit die Anschauung zu widerlegen, dass die Zellen die Elementarorganismen seien. Seit langer Zeit bereits weiss man, dass im Inhalt der Zellen weit verbreitet sich in einer homogen er- scheinenden Grundsubstanz rundliche Körnchen von verschiedener Grösse finden, die als Elementar-Körnchen, Granula oder Mikrosomen bezeichnet wurden (Fig. 7). In manchen Fällen sind nur wenige solcher Granula in der Zelle vorhanden; in anderen Fällen ist die ganze Zelle dicht mit ihnen vollgestopft, so dass die Grundsubstanz dazwischen fast verschwindet. Diese Granula betrachtet Altmann als die eigentlichen Elementarorganismen und bezeichnet sie als „Bio- blasten". Sie sollen nach Altmann die eigentlich lebendigen Elemente in der Zelle vorstellen, die den Sitz der Lebensei'scheinungen bilden. Die Zelle selbst ist nach der Auffassung Altmann 's dann als eine C o I 0 n i e von Bioblasten anzusehen , also nicht mehr als Elementar- organismus, sondern als Individuum höherer Ordnung. Freilich kann man den einzelnen Bioblasten , wenn er aus dem Verband mit den übrigen Bioblasten der Zelle getrennt ist, nicht mehr am Leben er- halten. Indessen giebt es nach Altmann auch freilebende Bioblasten in der Natur, und das sind die Bakterien. Das grosse Heer der Spalt- pilze oder Bakterien stellt, wie Altmann meint, nichts weiter vor als frei- lebende Elementarorganismen, die den Granulis oder Bioblasten, welche

den Zelleninhalt zusammicnsetzen helfen, in Bezug auf ihre Individualitätsstufe durchaus gleichwerthig sind.

Vergeblich sieht man sich in den Ar- beiten Altmann's nach einer stichhaltigen Be- gründung der Hypothese um , nach der die Bioblasten die Elementarorganismen vorstellen. Fig. 7. Leberzellen mit Dagegen ist CS nicht schwer, die Unhaltbarkeit Granulis. Nach Altmann, dieser Auffassung ZU erkennen, so dass sich

die Mehrzahl der Forscher vollkommen ab- lehnend gegen dieselbe verhalten hat, und der Versuch Altmann's, in den sogenannten Bioblasten eine noch niedrigere Individualitätsstufe nachzuweisen, als die Zelle, für völlig misslungen angesehen werden muss.

Als die beiden wichtigsten Elemente, welche die Granula-Hypothese unhaltbar erscheinen lassen, sind folgende zu betrachten. Einerseits fasst Altmann unter dem Begriff des Granulums die allerverschiedensten Elemente des Zelleninhalts zusammen, Elemente, die schlechterdings über- haupt nicht mit einander homologisirt werden können. Zwar hat Altmann neuerdings die Auffassung, dass die Chlorophyllkörper, die den Pflanzen- zellen die grüne Farbe verleihen, ebenfalls Granula seien, fallen lassen, aber immerhin enthält der Begriff noch jetzt die heterogensten Elemente. So wurden von Altmann als Granula nicht nur die feinen grauen Körnchen betrachtet, die weit verbreitet in den vei'schiedensten frei- lebenden und Gewebezellen vorkommen und selbst wieder die aller- verschiedenste chemische Zusammensetzung und Bedeutung für das Zellleben haben, sondern auch die feinen Farbstoffkörnchen der Pigment- zellen, die den Geweben, in denen sie liegen, ihre charakteristische Farbe verleihen, ferner die feinen, plättchenartigen Gebilde, die aus dem Dotter der Eier bekannt sind, und schliefslich sogar die kleinen Oeltröpfchen und Fettkügelchen , die sich in den verschiedenen Ge- webezellen, besonders in der Leber und den Zellen des Unterhaut-

Von der lebendigen Substanz. ß7

bindegewebes, vorfinden. Unter den GranuHs im ALXMANN'schen kSinne werden aufgenommene Nahrungskornchen, umgewandelte Nahrungs- bestandtheile, unverdaute Nahrung.sstoffe und StofFwechselproducte der Zelle einträchtig zusammengefasst und als I-Clementarorganismen be- trachtet, also Stoffe, welche die allcrverschiedenste Rolle im Zellleben spielen oder gespielt haben. Andererseits aber weist Altmann für keine einzige aller dieser Granulaformen nach, dass sie die allgemeinen Lebenserscheinungen zeigt, eine Forderung, die man doch erfüllt sehen muss, um die Bezeichnung „Elementarorganismus" zulässig finden zu können. Uebrigens dürfte wohl Niemand einen Versuch, diesen Nachweis zu fuhren, für aussichtsvoll halten, besonders wenn es sich um einen in der Zelle liegenden Oeltropfen oder ein Pigraentkorn handelt. Nun glaubt zwar Altmann, in den Bakterien freilebende Granula erblicken zu müssen, aber hierfür fehlt nicht nur jeder Anhaltspunkt, sondern es ist auch in neuerer Zeit durch die ausgezeichneten Untersuchungen BtJTSCHLi's^) der Nachweis geliefert worden, dass die Bakterien voll- kommene Zellen sind, also Organismen, die Altmann als Colonien von Bioblasten betrachtet.

Diese Bedenken genügen schon, um die Auffassung der Granula als Elementarorganismen umzustossen. Es erscheint überhaupt als durchaus unzulässig, Gebilde für Elementarorga- nismen zu erklären, für die wir keine analogen frei- lebenden Organismen kennen. Wenn wir das thun, dann fällt der Begriff des organischen Individuums vollständig in sich zu- sammen, denn wir haben dann keine Berechtigung, bei irgend einem Theil der lebendigen Substanz stehen zu bleiben, sondern können mit der gleichen Berechtigung schliesslich das Sauerstoff- oder Kohlen- stoff- oder sonst irgend ein Atom, das gerade im Lebensvorgang thätig ist, als Elementarorganismus bezeichnen. Dann gäbe es ebensoviel ver- schiedene Elementarorganismen wie organische Elemente. Eine andere Frage ist die, was wir als einen Organismus, als ein organisches Indi- viduum bezeichnen wollen, eine andere diejenige, was wir überhaupt lebendig nennen wollen. Ueber die letztere Frage werden wir uns später auseinander zu setzen haben ; bezüglich der ersten aber müssen Avir, wenn uns der Begriff des organischen Individuums nicht unter den Händen zerfliessen soll, unbedingt an der Forderung festhalten, dass zum Orga- nismus die Summe aller der Lebenserscheinungen gehört, Avelche die Selbsterhaltung repräsentiren, und dieser Bedingung entspricht nur die Zelle. Die Zelle bleibt daher das Individuum niedrigster Ordnung die Zelle ist der Elementar Organismus.

2. Allgemeine und specielle Zellbestandt heile.

Der Gedanke, dass die ungeheure Fülle der Erscheinungen, Avelche das Leben ausmachen, in allen ihren wesentlichen Elementen schon an das mikroskopisch winzige Klümpchen lebendiger Substanz gebunden ist, das die einzelne Zelle vorstellt, regt so unwiderstehlich den Drang zum tieferen Nachforschen an, dass seit jener Zeit, als man die Zellen zuerst in ihrer Bedeutung als Elementarorganismen erkannte, bis jetzt

') 0. BüTSCHLi: „Ueber den Bau der Bakterien und verwandter Organismen." Leipzig 1890.

5*

68 Zweites Capitel.

sich ein unzählbares Heer von Forschern mit dem eingehenderen Studium der Zelle und ihrer Bestandtheile beschäftigt hat, ein Umstand, dem wir es verdanken, dass unsere morphologische Kenntniss der Zelle von Jahr zu Jahr erweitert und der Begriff der Zelle immer mehr und mehr präcisirt worden ist.

Der Begriff dessen, was man zum Wesen der Zelle zu rechnen habe, ist nicht immer derselbe gewesen. Die Entstehung des Zellbegriffs stammt , wie wir sahen ^), aus der mikroskopischen Beobachtung der Pflanzen. Die Mikroskopiker des 17. und 18. Jahrhunderts fanden, dass die Pflanzengewebe neben langen röhrenförmigen Gebilden auch kleine, kammerartig durch Wände von einander abgegrenzte Elemente ent- hielten, die eine Flüssigkeit beherbergten. Diese kleinen Gebilde be- kamen wegen ihrer Aehnlichkeit mit den grossen Zellen der Bienen- waben den Namen „Zellen". So stellte man sich zu jener Zeit die Zelle als ein einfaches, von einer Wand oder Membran umschlossenes Flüssigkeitströpfchen vor. Als das Charakteristische,, das auch zu der für die Pflanzenzellen sehr bezeichnenden Namengebung ., Zelle" ge- führt hatte, galt dabei die „Zellmembran", die eben die Kammer-, Bläschen- oder Zelleuform bedingte. Diese Auffassung erhielt sich auch noch, als bereits Schleiden neben der Zellflüssigkeit oder dem Zellsaft noch eine schleimige, dickflüssige Masse, den „Pflanzenschleim" oder, wie sie Mohl nannte: das „Protoplasma" entdeckte, und als von Seiten Schwann's der Zellbegriff auch auf die Elementartheile der thierischen Gewebe ausgedehnt wurde.

Erst die grundlegenden Arbeiten von Max Schultze ^) gaben dem Zellbegriff einen ganz andern Inhalt. Das Studium der Rhizopoden, jener einzelligen Organismen, deren nackter Protoplasmakörper an be- liebiger Stelle seine zähflüssige Leibes-Substanz zu feinen Fäden und Netzen auszuziehen vermag, führte Max Schultze zu der Ansicht, dass nicht die Zellmembran das Wesentliche der Zelle sein könne, denn die grosse Menge der Khizopodenformen hat zeitlebens kleine Zell- membran, sondern dass das Wesentliche die Substanz sei, welche schon früher von Dujakdin^) bei den nackten Rhizopoden und Infusorien des Süsswassers als Sarkode bezeichnet worden war. Durch eine Vergleichung der Rhizopoden und der Pflanzenzellen lieferte darauf Max Schultze den Beweis, dass die Substanz der Rhizopoden, die Sarkode, durchaus identisch ist mit dem zähflüssigen Inhalt der Pflanzen- zellen, dem Protoplasma, und so begründete er die Protoplasmatlieorie, nach welcher der wesentliche Bestandtheil der Zelle das Protoplasma ist. Die Auffassung, dass die Zelle ein einfaches Klümpchen Proto- plasma sei, hat sich denn in der Folge auch glänzend bewährt, gegen- über der alten Auffassung, welche die Zellmembran für das Wesent- liche ansah, denn nicht nur ist mit der ungeheuren Formenfülle der einzelligen Rhizopoden, zu denen die kalkschaligen Polythalamien oder Foraminiferen und die kieselsclialigen Radiolarien ebenso gehören, wie die völlig schalenlosen Amoeben , eine erdrückende Menge von mem- branlosen Zellen bekannt geworden, sondern man hat auch gesehen,

') Vergl. pag. 27.

^) Max Schultze: „Ueber Muskelkörperchen, und was man eine Zelle zu nennen habe." Im Arch. f. Anat. u. Physiologie. 1861. Derselbe: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen." Leipzig 1863.

^) DcjARDiN: „Histoire naturelle des Zoophytes-Infusoires." Paris 1841.

Von der lebendigen Substanz. ß9

dass bei der Entwicklung vieler Pflanzen und Tliiere als Eier ein- zellig-e Stadien vorkommen, die jeder Zellmembran (iiitbehren. So ist seit Max Schultze's Begründung der Protojjlasmatheorie die Auf- fassung, dass die Zellmembran ein allgemeiner Zellbe.standtheil sei, vollständig fallen gelassen worden.

Indessen mit der Definition Max Schultze's sind die wesentlichen oder allgemeinen Zellbestandtheile noch nicht erschöpft. Schon Brown ^ j hatte 1833 im Protoplasma noch ein besonderes Gebilde, den Zellkern, entdeckt, der als ein rundliches Körnchen durch sein abweichendes Lichtbrechungsvermögeu deutlich von dem ihn einschliessenden Proto- plasma zu unterscheiden war. Schleiden^), der diese Entdeckung Brown's aufgriff, wies den Zellkern als einen Aveit verbreiteten Be- standtheil der Zelle im Protoplasma vieler Pflanzen nach, Hess sich aber verleiten, in seiner Theorie der Phytogenesis den Kern als das- jenige Element zu betrachten , aus dem die Zelle erst im Lauf der individuellen Entwicklung der Pflanze entstände. Seit jener Zeit hat man dem Zellkern immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Man fand ihn nicht nur in den pflanzlichen Zellen, sondern nach Schwann's^) Arbeiten auch in den verschiedensten thierischen Zellen. Besonders aber als man mittels gewisser Farbstoffe, wie Carmin, Haematoxylin etc., den Kern färben und so im Protoplasma, in dem er eingebettet ist, deutlich sichtbar zu machen lernte, kam man mehr und mehr zu der Ansicht, dass der Kern einen sehr charakteristischen Bestandtheil der Zelle vorstellt, und bald entstand die Frage, ob es überhaupt Zellen ohne Kern gäbe, ob nicht der Kern ein allgemeiner Bestandtheil der Zelle sei, der ebenso wie das Protoplasma zum Wesen der Zelle gehöre.

Unter den einzelligen, freilebenden Rhizopoden, auf die Max Schultze's Untersuchungen die Aufmerksamkeit gelenkt hatten, fand Haeckel *) eine ganze Anzahl, in denen keine Spur von einem Kern nach- zuweisen war, die Haeckel, da sie aus einem einfachen Klümpchen Proto- plasma zu bestehen schienen und somit die niedrigsten und einfachsten überhaupt denkbaren Organismen waren, als Moneren bezeichnete. Eine andere Gruppe von Organismen, in denen sich keine Kerne nachweisen Hessen, war die ebenfalls erst in neuerer Zeit in den Vordergrund des Interesses gezogene Mikroorganismengruppe der Spaltpilze oder Bakte- rien, der kleinsten überhaupt existirenden lebendigen Wesen, die, wenn sie auch bereits eine feste, unveränderliche Form besitzen, doch keine Spur von einer Differenzirung ihres durch und durch gleichai'tig er- scheinenden Protoplasmakörpers erkennen Hessen. Wenn Avir von den rothen Blutkörperchen der Warmblüter absehen, die ebenfalls keine Differenzirung ihrer Körpersubstanz in zwei gesonderte Theile, in Protopla.sma und Kern, zeigen, die sich aber nachweislich aus AA'irk- lichen, kernhaltigen Zellen entwickeln, so enthielten die beiden Gruppen der Moneren und der Bakterien die einzigen anscheinend kern- losen Zellen.

^) K. Brown : „Observations on the organ.s and mode of fecundation in Orchideae and Asclepiadeae." In Transaction.s of the Linnean society. London 1833.

2) M. Schleiden: „Beiträge zur Phytogenesis." In Müller's Archiv. 1838.

^) Th. Schwaxn: „Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Structur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen." 1839.

*) Ernst Haeckel: „Biologische Studien. I. Heft: Studien über Moneren und andere Proti-sten." Leipzig 1870.

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Zweites Capitel.

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Indessen die Auffassung der Moneren als kernloser Zellen änderte sich mit der in neuerer Zeit so enorm aufblühenden mikroskopischen Färbetechnik mehr und mehr. Immer mehr von den Organismen, die Haeckel noch als Moneren beschrieben hatte, wurden bei Anwendung der neueren, complicirten Färbemethoden als kernhaltige Zellen er- kannt*, in manchen von ihnen wurden sogar eine grosse Zahl kleiner Kerne nachgewiesen, und Gruber ^) fand Formen, in denen die Kern- substanz in unzähligen, äusserst winzigen Körnchen durch das ganze Protoplasma zerstreut ist (Fig. 8). So schmolz die Zahl der ur- sprünglichen Moneren immer mehr zusammen, und die wenigen, deren man noch nicht zu erneuter Untersuchung habhaft werden konnte, werden von den meisten Forschern jetzt ebenfalls für kernhaltige Zellen gehalten , in denen nur die unvollkommenere Technik der früheren Zeit, wie bei den andei-en, jetzt für kernhaltig erkannten, die Kerne nicht nachzuweisen vermochte.

Viel länger als die Moneren haben die Bakterien den Bemühungen getrotzt, eine Differenzirung, die dem Kern und dem Protoplasma der übrigen Zellen entspräche, in ihnen aufzuhnden. Alle erdenklichen Färbemethoden und die stärksten

mikroskopischen Vergrösserungen vermochten nicht zwei von einander geschiedene Formen der lebendigen Substanz in ihrem winzigen, durch- aus homogen erscheinenden Körper nachzuweisen. Dieser Stand unserer Kenntnisse dauerte trotz des gewal- tigen Aufschwungs, den die Bakte- riologie in neuerer Zeit nahm, bis in die letzten Jahre. Erst ganz vor Kurzem gelang es Blttschli ^) , in dem Körper der Bakterien eine fei- nere Structur zu entdecken. Er fand nämlich, dass sich bei sehr starken Vergrösserungen und unter Anwendung bestimmter nicht zu starker Intensität der Durchleuchtung mit den specifischen Kernfärbe- mitteln, die wie z. B. Haematoxylin nur die Kernsubstanz und nicht das Protoplasma färben, zwei verschiedene Substanzen im Bakterienkörper sichtbar machen lassen, von denen die eine sich intensiv färbt, während die andere den Farbstoff nicht annimmt. Das Massenverhältniss der beiden Substanzen ist charakteristisch. Es überwiegt nämlich meist die Masse der färbbaren Substanz über die Masse der ungefärbten. Dagegen ist die gegenseitige Lagerung beider bei verschiedenen Bakterienformen ver- schieden. Während bei der einen, wie z. B. Bacterium lineola

Fig. 8. Pelomyxa pallida. Ein

Khizopod mit sehr fein vertheilter Kern-

si^bstanz. Nach Gruber.

^) A. Grober: „Ueber einige Rhizopoden aus dem Geuueser Hafen." In Ber. d. naturforschenden Gesellsch. zu Freiburg i. B. Bd. IV. 1888.

^) O. BfJTscHLi: „Ueber den Bau der Bakterien und verwandter Organismen." Leipzig 1890.

Vou der lebcudigeu Substanz.

71

(Fifi,-. 9 a), die gefärbte Substanz in der Mitte liegt, und die ungefärbte eine schmale periphere Schicht um dieselbe bildet, ist bei anderen, besonders den korkziehernrtig gewundenen Sj)irillenformen, wie dem im Sumpfwasser gemeinen Spirillum undula(Fig. 9h), die ungefärbte Substanz ganz an einem oder an beiden Enden des langgestreckten, nur aus gefärbter Substanz bestehenden Körpers angesammelt. Diese DifFe- renzirung der Körpersubstanz in zwei verschiedene Theile, von denen der eine sich mit den specitischen Kernftirbemitteln färbt, während der andere ungefärbt bleibt, scheint vollständig der Sonderung der leben- digen Substanz in Kern und Protoplasma, wie sie alle anderen Zellen charakterisirt, zu entsprechen, und auch im Thicrreich haben wir Zellenformen , welche ganz dasselbe Massenverhältniss von beiden Substanzen zu einander zeigen, nämlich die Samenfäden oder Sperma- tozoon, deren einzelliger Körper ebenfalls aus einer grossen Menge

/f^

Fig. 9. Structur verschiedener Bakterien. Nach Bütschli. « Bacterium lineola, normal und in Theilung begriffen, b Spirillum undula, c Bacterium

aus Sumpfwasser.

Kernsubstanz und einer nur sehr geringen Menge von Protoplasma besteht.

So scheint es nach dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse, als ob es unter den jetzt auf der Erde lebenden Organismen überhaupt keine Zellen gäbe, in denen nicht eine Sonderung von zwei ver- schiedenen Substanzen vorhanden wäre, als ob also ausser dem Proto- plasma auch jede Zelle einen Kern besässe. Eine andere Frage ist es freilich, ob es während der Entwicklungsgeschichte der lebendigen Substanz auf der Erde in früheren Zeiten einmal Organismen gegeben habe, bei denen der ganze Körper aus einer einzigen homogenen Substanz bestand, bei denen noch keine Sonderung in verschiedene Stoffe eingetreten war. Sollte es jemals solche Organismen gegeben haben, so könnten wir diese als Cytoden, wie Haeckel die kernlosen Elementarorganismen bezeichnet, den wirklichen Zellen gegenüber- stellen. Jedenfalls aber müssen wir daran festhalten, dass zu dem Begriff der Zelle nicht bloss eine einzige homogene Masse, das Proto- plasma, sondern auch noch eine davon differente Substanz, die Kern- substanz, gehört. Demnach wäre die morphologische Definition

72

Zweites Capitel.

Max Schültze's in folgender Weise zu erweitern: Die Zelle ist ein Klümpchen Protoplasma mit einem distinct darin gelegenen Kern,

Ist hiermit aber die Definition der Zelle erschöpft , oder gehören zum morphologischen BegriflF der Zelle noch mehr Bestandtheile? Wenn wir mit stärkeren Vergrösserungen das Protoplasma der Zellen durchmustern, finden wir, dass ausser dem Kern in vielen Zellen noch mehr distincte Bestandtheile in der protoplasmatischen Grundmasse eingebettet liegen. So finden wir in manchen Zellen Oeltröpfchen, in anderen Pigmentkörnchen, in Pflanzenzellen Stärkekörner etc., aber keinen von allen diesen Körpern treffen wir in jeder Art von Zellen; sie sind sämmtlich nur specielle, keine allgemeinen Zellenbestandtheile. Dagegen schien es in neuester Zeit den Anschein zu gewinnen , als ob neben den beiden bisher allein als allgemein bekannten Zell-

Fig. 10. a Pigmentzelle vom Hecht. Zwischen den beiden Kernen liegt das Centrosom mit seiner Protoplasmasti-ahlung. Nach Solger. h Leukocyt von einer Salamander larve. Neben dem hanteiförmigen Kern liegt rechts das Cen- trosom mit Strahlenkranz. Nach Flesimisg. c Eizelle, in Theilung begrififen. Um die beiden Centrosomen deutliche Protoplasmastrahlung. Nach Boveki.

bestandtheilen , dem Protoplasma und dem Zellkern, doch noch ein dritter allgemeiner Zellbestandtheil existirte, das Polkörperchen, Centralkörperchen oder Centrosom.

Das Centrosom (Fig. 10) ist erst in neuester Zeit etwas genauer bekannt geworden. Zwar war es schon, als man vor zwei Jahrzehnten die eigenthümlichen Kerntheilungserscheinungen bei der Zellvermehrung untersuchte, bemerkt worden, aber erst später wurde es von van Be- neden ^) und BovERi-) als wichtiges Element in der Zelle erkannt, das sich wie der Zellkern bei der Vermehrung der Zellen durch

') E. VAN Besedes: ..Recherches sur la maturation de Toeuf, la fecondation et la division cellulaii-e." In Arch. de Biologie 1883. Vol. IV. Vax Bexeden et Neydt: „Nouvelles recherches sur la fecondation et la division mitosique chez l'ascaride megalocephale." 1887.

-) Th. Boveri: „Zellenstudieu." In Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft. 1887, 1888, 1890.

Xun der lubendi{jeu Sul)staii/,. 73

Tlieiluiig fortpflanzt. Van Beneden kam daher zu der Ansicht, dass das Oentrosom ebenso wie der Zellkern und das Protoplasma ein all- gemeiner Zellbestandtheil sei, eine Annahme, die durch die IJeobach- tungen von Flemming, Solger, Heidenhain u. A. gestutzt wurde, die auch in anderen Zellarten, wie Leukocyten, Pigmcntzelhm, Epithel- zellen etc., ein oder mehrere Centrosomata autfanden, und zwar auch zu Zeiten, wo di(! Zellen nicht im Thcilungszustande waren. Trotz- dem ist es bei einer grossen Anzahl von Zellen bisher nicht gelungen, ein Centrosom nachzuweisen. Indessen das kann vielleicht in der Natur des Centrosoras begründet sein. Das Centrosom ist ein wegen seiner verschwindenden Kleinheit sehr schwer im Protoplasma auffind- bares Körnchen, an dem sich mit unseren mikroskopischen Hülfsmitteln keinerlei Structur feststellen lässt. Dazu kommt, dass es mit den ge- wöhnlichen Farbstoffen in der Regel nicht färbbar ist. Auch die Versuche M. Heidenhain's, speci£sche Färbemittel für das Centrosom zu finden, wie sie für den Kern existiren, haben noch nicht zu völlig befriedigenden Ergebnissen geführt. Das Centrosom tritt erst deutlich hervor durch die Strahlung des Protoplasmas, von der es bei bestimmten Zuständen der Zelle umgeben wird. Bei der Theilung der Zellen nämlich ordnet sich das Protoplasma in Form eines Strahlen- kranzes um das Centrosom herum an, das den Mittelpunkt der Strahlungs- figur bildet (Fig. 10) und eben durch diese eigenthümliche Umgebung leicht aufzufinden ist.

Während eine grosse Zahl der Forscher, vor Allem van Beneden, dazu neigt, das Centrosom als einen eigenen Bestandtheil der Zelle aufzufassen, da es immer im Protoplasma getrennt vom Zellkern vorkommt , vertritt O. Hertwig ^) die Meinung , dass das Centrosom als Theil der Kernsubstanz zum Kern gehört und nur während der Thätigkeit des Kerns bei der Befruchtung und Theilung aus dem Kern in das Protoplasma übertritt, um nachher bei dem Ruhezustand der Zelle wieder als Theil der Kernsubstanz in den Kern zurück- zutreten. Dass diese Annahme Hertwig's für gewisse Fälle in der That zutrifft, haben in jüngster Zeit die ausgezeichneten Untersuchungen von Brauer ^) über die Entwicklung der Samenzellen des Pferdespulwurms (Ascaris megalocephala) gezeigt. Brauer konnte feststellen, dass das Centrosom bei diesen Zellen während der Ruhezeit im Kern selbst enthalten ist und sich sogar in gewissen Fällen im Kern selbst theilt, um dann erst in das Protoplasma auszutreten und hier die Protoplasma- strahlung zu erzeugen, welche das Centrosom bei der Theilung der Zelle zu umgeben pflegt (Fig. 11). Andererseits wissen wir aber jetzt, dass in der grossen Mehrzahl von Fällen das Centrosom dauernd auch während der Ruhe der Zelle ausserhalb des Kerns liegen bleibt. Wir haben also, Avie Heidenhain ^) und Boveri"*) bemerken, weder Grund,

1) O. Hertwig : „Die Zelle und die Gewebe." Jena 1892.

2) A. Brauer: „Zur Kenntniss der Herkunft des Centrosomas." In Biolog. Centr.- Blatt Bd. XIII, 1893. Derselbe: „Zur Kenntniss der Spermatogenese von Ascaris megalocephala." In Arch. f. niikrosk. Anat. Bd. 42.

^) M. Heidknhain: „Neue Untersuchungen über die Centralkörper und ihre Be- ziehungen zum Kern und Zellenprotoplasma." In Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 43, Jahrg. 1894.

*) Th. Boveri: „Ueber das Verhalten der Centrosomen bei der Befruchtung des Seeigeleies, nebst allgemeinen Bemerkungen über Centrosomen und "Verwandtes." In Verhandl. d. physik.-medic. Gesellsch. zai Würzburg. N. F. Bd. 29, 1895.

74

Zweites Capitel.

das Centrosom als einen Kernbestandtheil, noch als einen Protoplasma- bestandtheil zu betrachten; wir Averden es vielmehr als einen selb- ständigen Zellbestandtheil auffassen müssen , der gleichwerthig neben Zellkern und Protoplasma in der Zelle existirt. Da indessen viele Zellformen, namentlich unter den einzelligen Organismen, bekannt sind, in denen man bisher noch kein Centrosom hat auffinden können, so besteht zur Zeit nicht die Berechtigung, im Centrosom einen allgemeinen Zellbestandtheil zu erblicken, wie im Kern und im Protoplasma. Unter den Lebenserscheinungen der Zelle ist übrigens bisher nur bei den Fortpflanzungs- und Befruchtungserscheinungen eine Betheiligung des Centrosoms bekannt geworden.

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Fig. 11. Theilung und Austritt des Centrosoms bei dem Kern der Samenzellen von Ascaris megalocephala. Oben zwei Eeihen auf einander folgender Stadien des Kerns (n Nucleolus, c Centrosom). Darunter zwei Samenzellen nach Austritt des Centrosoms aus dem Kern. Nach Brauer. 'J^

Nach alledem können wir als allgemeine Zellbestand- theile einzig und allein das Protoplasma in seiner Ge- sammtheit und den Zellkern mit seinen Di f f e renzirungen allen speciellen Zellbestandth eilen, Avie Zellmembran, Stärkekörnern, Pigmentkörnern, Oeltröpfchen, Chloro- phyllkörpern, Centrosomen etc. gegenüberstellen.

3. Mehrkernige Zellen und Syncytien.

Wir hatten vorhin in der organischen Natur fünf Individualitäts- stufen von einander unterschieden; jetzt müssen Avir uns aber

Von der Icbeiidigeii Substanz.

erinnern, dass in der lebendigen Welt nirgends in Wirklichkeit scharfe Grenzen zu finden sind. Wir hatten die Zellen als Elenientar- organismen von der nächst höheren Individualitiitsstufe, den Geweben, unterschieden, und es könnte den Anschein haben, als ob in der That keine schärfere Grenze existire, als zwischen einem Gewebe, das aus einer Anzahl gleichartiger Zellen besteht, und einer einzelnen Zelle, als ob beide Individualitätsstuten sehr leicht von einander zu unter- scheiden wären. Allein dem ist in Wirklichkeit nicht so. Es giebt einzelne Organismen, die eine Unterscheidung, ob Elementarorganismen oder Gewebe, nicht leicht erscheinen lassen, und wir werden uns hier, ebenso wie in vielen anderen Fällen, wo es sich darum handelt, in der Natur Grenzen zu ziehen, recht klar bewusst, dass alle Abgrenzungen und Definitionen in letzter Instanz ein mehr oder weniger willkürliches IMoment in sich enthalten müssen, wenn sie scharf sein sollen, dass alle Grenzen und Definitionen nur psychologische Hülfs mittel zum Zwecke der Erkenntniss sind.

Die Uebergangsformen zwischen typischen Zellen und echten Geweben sind zahl- reich. Sie bestehen darin, dass innerhalb einer einheit- lichen Protoplasmamasse meh- rere Zellkerne liegen. In vielen Fällen finden wir in einer Zelle statt des einen Zellkerns, wie er für den Ty- pus der Zelle charakteristisch ist, deren zwei. So trifft man z. B. sehr häufig in manchen Geweben, wie dem Gewebe des Zellknorpels (Fig. 12), Zellen mit zwei Kernen. Von

diesen Zellformen führen Uebergänge, die drei, vier, fünf und mehr Kerne haben, bis zu denjenigen Organismen, die eine ungezählte Menge von Kernen in ihrem Protoplasma bergen. Zellformen mit wenigen Kernen sind z. B. manche Epithelzellen (Fig. 13 a), Zellen mit vielen Kernen die in dem Darm der Frösche parasitisch lebenden grossen Wimperinfusorien Opalina (Fig. 13&), und Formen mit zahllosen Kernen finden wir unter den Meeresalgen, unter denen z. B. Caulerpa (Fig. 14) eine riesige Zelle von der Gestalt und Grösse eines Blattes vorstellt, in deren dünner, lamellöser Protoplasmaschicht eine unzählige Menge von Zellkernen liegt, die alle mit dem Protoplasma zusammen in fortwährender, langsam strömender Bewegung zwischen den Zell- wänden, d. h. den beiden Blattflächen, begriffen sind.

Alle diese Organismen mit mehreren Zellkernen können wir als mehrkernige Zellen von den vielzelligen Geweben, zu denen sie den Uebergang bilden, trennen, wenn wir das Gewicht bei der Unter- scheidung auf den Umstand legen, dass bei den mehrkernigen Zellen das den einzelnen Kern umgebende Protoplasmaterritorium nicht von den benachbarten abgegrenzt ist, sondern mit dem ganzen übrigen Protoplasma zusammen eine einheitliche Masse vorstellt, die nur als Ganzes nach aussen hin durch eine bestimmte Oberflächenform ab-

Fig. 12.

Zellknorpel. Die Zellen enthalten zwei Zellkerne.

76

Zweites Capitel.

geschlossen erscheint, während im Gewebe jedes einzelne Protoplasma- territorium, das zu einem Zellkern gehört, scharf von allen übrigen geschieden ist. Die vielkernige Zelle stellt also immer noch Eine Zelle vor, die als Ganzes durch eine bestimmte Oberflächengestalt charakterisirt ist; das Gewebe aber wird von einer Summe von einzelnen Zellen gebildet,

Fig. 13. a Epithelzelle reren Kernen aus de blasedesMenschen. Nach ViRCHow. öOpa- 1 i n a r a n a r u m , ein einzelliges Wimperinfu- sor aus dem Darm des Frosches mit vielen Ker- nen. Nach Zellkr.

Fig. 14.

Fig. 14. Caulerpa, eine blattförmige Meeresalge. Die einzelnen Blätter sind dünne,

zwischen zwei flächenhafte Cellulosewände eingeschlossene Protoplasmalamellen mit

zahllosen kleinen Kernen. Natürliche Grösse. Nach Keinke.

deren jede ihre eigene, scharf abgegrenzte Gestalt besitzt.

Schwieriger wird die Frage, ob wir es mit vielkernigen Zellen oder mit echten Geweben zu thun haben, bei gewissen niederen Organismen, die von den Botanikern als Pflanzen, von den Zoologen häufig als Thiere in Anspruch genommen worden sind und in vieler Beziehung grosses Interesse verdienen. Das sind die Myxomyceten. Im Laubwalde auf moderigen Blättern oder faulenden Baumstämmen sieht man bisweilen weisse, gelbe oder braunrothe Netzwerke, die sich öfter mehrere Decimeter weit mit ihren feinen, baumartig verzAveigten

Von der lebeiidi"uu .Sultstiiuz.

77

Sträng-en an der Unterlage ausbreiten (Fig. 15 7). Diese Netzwerke, die auch mitunter dichtere, klumpige Massen von demselben Aussehen bilden, sind, Avie man bei näherer Betrachtung findet, von einer weichen , schleimartigen Consistenz. Beobachtet man ein solches Netzwerk nach einigen Stunden oder am nächsten Tage wieder, so findet man, dass es nicht nur seinen Platz, sondern auch seine Gestalt vollständig verändert hat, und trennt man ein Stückchen davon ab, so kann man, wenn es auf eine Glasplatte gelegt und an einem feuchten Orte gehalten wird, sehen, wie die ganze Masse anfängt , langsam zu fliessen und feine Ausläufer nach hierhin und dorthin zu entsenden, die sich baumförmig verzweigen und netzartig zusanimenfliessen. Kurz, man sieht, dass das ganze Netzwerk lebt. Diese eigenthümlichen Wesen sind als Myxo- myceten bekannt. Sie bestehen aus vollständig nacktem Protoplasma. In den feinen Strängen ihrer „Plasmodien" Hndet man bei mikroskopischer Untersuchung und Fär- bung eine grosse Menge von Zellkernen, die fort- während von dem langsam fliessenden Protoplasma mitgeschleppt werden, die über und unter einander kugeln und deutlich er- kennen lassen, dass sie keine bestimmte Lage be- sitzen , sondern regellos in der einheitlichen Proto- plasmamasse immer wie- der ihren Platz wechseln. Hier sind also keine ein- zelnen Zellterritorien im

Protoplasmakörper abgegrenzt. Wir würden daher die Plasmodien nach dem oben gegebenen Kriterium für vielkernige Zellen halten müssen. Indessen in dieser Auffassung werden wir wieder schwan- kend, wenn wir die Entstehung der Myxomycetenplasmodien verfolgen. Die Myxomyceten pflanzen sich durch „Sporen" fort, d. h. durch kleine, mikroskopische Kapseln, deren Schale platzt, um je einer kleinen nackten, formwechselnden Zelle mit Einem Kern den Austritt zu gewähren (Fig. 15 a, h , c). Da von den Sporen immer eine sehr grosse Menge zusammenliegt, schlüpft gleichzeitig auch immer eine Menge einzelner Zellen aus. Alle diese Zellen kriechen alsbald zusammen, fliessen in einander und bilden so eine grössere einheit- liche Protoplasmamasse, in Avelcher eine Menge von Kernen enthalten ist (Fig. 15 e, f). Indem die Protoplasmamasse durch selbständige Ernährung wächst, vermehren sich auch die Kerne durch Theilung, und so entsteht schliesslich das grosse, netzförmig ausgebreitete Myxomycetenplasmodium. Dieses Plasmodium ^ obwohl es eine ein- heitliche Protoplasmamasse mit vielen Kernen ohne Zellgrenzen vor-

Fig. 15. JAethaliumsepticum. Stück eines netz- förmigen Myxomyceten-Plasmodiums. Natürl. Grösse. //Chondrioderma difforme. / Stück eines Plas- modiums, a eine Spore, b dieselbe quellend, c der Sporen- inhalt kriecht aus, ddie Spore hat sich in eine Geisselzelle verwandelt, e die Geisseizellen hahen sich in Amoeben umgebildet, die wieder zur Bildung eines Plasmodiums zusammenkriechen. // nach Stkasburger.

78

Zweites Capitel.

stellt, ist also trotzdem aus vielen einzelnen Zellen hervorgegangen. Wir haben daher streng genommen nicht das Recht, die Plasmodien der Myxomyceten als vielkernige Zellen zu betrachten, während wir auf der andern Seite auch nicht berechtigt sind, sie als echte Gewebe anzusprechen, denn wir finden ja für die einzelnen Kerne keine Zell- grenzen abgesteckt. Man hat daher für diese Zwischenstufen zwischen der einzelnen Zelle und dem Gewebe einen besonderen Namen ge- schaffen und bezeichnet sie als „Syncytien".

B. Die morphologische Beschaffenheit der lebendigen Substanz.

1. Form und Grösse der Zelle,

Ein Umstand, welcher der consequenten Durchführung der Zellen- theorie am meisten im Wege gestanden hat, und welcher noch jetzt Jedem, der sich mit dem feineren Bau der Organismen zu beschäftigen anfängt, die grössten Schwierigkeiten bereitet, ist die erstaunliche Ver- schiedenheit der Form, in welcher der eine einzige Elementarbestandtheil des organischen Lebens auftritt. Die Formen der verschieden- artigen Zellen sind so überaus mannigfaltig, dass es dem ungeübten

/

Fig. 16. Eine Amoebe in verschiedenen For nienstadien beim Kriechen.

Das hyaline Exoplasnia fliesst immer voran. In der Mitte und hinten liegt das köi'nige

Endoplasma mit dem dunkleren Kern und der blasseren Vacuole.

Beobachter nicht selten schwer wird, sich an den Gedanken zu ge- wöhnen, dass es sich hier nur um verschiedene Modificationen eines, und desselben P^lements, eines und desselben Typus handelt. Gegen- über dieser unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der verschiedenen Zellen- arten unter sich besteht aber andererseits eine sehr weitgehende Constanz der Form einer und derselben Zellenart, so dass die Zellen irgend eines bestimmten Gewebes des menschlichen Körpers, z. B. der Leber, der Haut, des Knochens, des Blutes etc., immer sofort als solche, d. h. als

Villi (liT li'l)C'ii(li"-cii Siilistaiiz.

7P

Leber-, Haut-, Knodion- oder Hlutzellcn zu erkennen sind. Eini<^c Beispiele werden die grossen Verschiedenheiten in der Form der Zellen am besten illustriren.

Fig. 17. a Eizelle eines Kalksch wamms. Nach Haeckkl. h Bliitzelle eines Krebses. Nach Haeckel. cBiomyxa vagans, ein Süsswasserrhizopod. <^ Pigment- zelle aus dem Schwanz einer Froschlarve.

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Fig. 18. a Eizelle aus dem Eierstock eines Seeigels. Nach Hertwig. b Epidermiszellen vom Frosch.

Es giebt eine nicht geringe Zahl von Zellen, die überhaupt keine beständige Form besitzen, sondern ihre Gestalt fortwährend verändern und daher als amoeboide Zellen bezeichnet werden. Die amoe- boiden Zellen haben sämmtlich einen nackten Protoplasmakörper, der,

80

Zweites Capitel.

von keiner Zellmembran umschlossen, bald hier, bald dort an seiner Oberfläche eine Vorwölbung seiner Körpersubstanz erscheinen oder wieder verschwinden lässt und so jeden Augenblick eine andere Ge- stalt annimmt. Je nach der verschiedenen Zellart haben aber diese Vorwölbungen oder „Pseudopodien" auch verschiedene Formen, so dass die eine Form, wie z. B. die meisten im Siisswasser lebenden Amoeben (Fig. 16) oder die Eizellen (Fig. 17«) mancher Thiere durch breite läppen- oder fingerförmige, die andere Form, wie z. B. die Leukocyten (Fig. \7b) oder farblosen Blutzellen, durch spitze, zerfetzte, wieder andere, wie viele Rhizopoden (Fig. 17c) oder die Pigmentzellen (Fig. 1 7 d) durch fadenförmige und netz- förmig unter einander zusammen- fliessende Pseudopodien charak- f\< , /,'

terisirt sind. '' ^ ^^ fV-^y

Fig. 19. a Euastrum, eine einzellige Alge aus der Gruppe der Desmidiaceen. Nach Haeckel. b Ganglienzelle aus dem Rückenmark des Menschen. Nach Gegenbadr. z Zellkörper, n Nerven- fortsatz (Axencylinderfortsatz).

Zellen besitzt es , dass das umkleidet ist die als Typus werden kann.

Die überwiegende Mehrzahl der dagegen eine beständige Form, sei Protoplasma von einer Zellmemln'an oder nicht. Die einfachste Zellform, des Elementaroi'ganismus betrachtet

ist jedenfalls die Kugelform, wie sie unter Anderen bei vielen Eizellen (Fig. 18 a) zum Ausdruck kommt. Von diesem Typus finden sich Ab- weichungen nach den verschiedensten Richtungen. Schon dadurch, dass die Zellen in den Verband mit anderen ihres Gleichen treten, was ja in jedem Gewebe der Fall ist, wird ihre Gestalt durch den Druck, dem sie von Seiten der Nachbarzellen ausgesetzt sind, beeinflusst. Eine Zelle, die an sich rund ist, muss daher im Gewebe nach einfachen mechanischen Gesetzen schon eine polyedrische Gestalt annehmen, etwa wie Erbsen,' die man dicht gedrängt in eine Flasche gethan hat und quellen lässt, ihre runde Gestalt verlieren und polyedrisch werden. In der That kommt die polyedrische Gestalt der Zellen gerade in Geweben, besonders bei Haut- (Epithel-) (Fig. 18&) und Drüsenzellen sehr häufig vor. Dann aber ist ein wesentliches Moment, das eine Abweichung vom

Von der lohuiuligfcn Siiljstanz.

81

runden Typus herbeiführt, die Ausbildung beständiger Fortsätze über die Obei-fläche hinaus. Dadurch kommen oft ganz dieselben Zell^estal- tungen als beständige Formen zu Stande, wie sie amoeboide Zellen vorübergehend zeigen. Die grüne Algenzelle von E u a s t r u m (Fig. 19 a) repräsentirt i'ine solche Zelle mit la|)j)igcn Fortsätzen , und die in unserem Centralnervensystem, im Gehirn und Rückenmark liegenden Ganglienzellen, die den Nervenfasern ihren Ursprung geben, be- sitzen dauernd Ausläufer und Fortsätze, die genau wie die Pseudo- podien mancher Rhizopodenzellen aussehen (Fig. 19&). Andere Zellen, die Wim per Zellen, haben an ihrer Oberfläche bewegliche , aber dauernde Fortsätze von der Gestalt der Augenwimpern. Diese Wimper-

%mf

Fig. 20. a Flimmerepithelzellen. Nach Schieffekdecker. b Stylonychia mytilus, eine Wimperinfusorienzelle mit verschiedenartig differenzirten Wimperu, Wz Mund -Wimperzone, C contractile Vacuole, iV Makronucleus, i\'' Mikronucleus, A Afteröffnung. Nach Stein, c Euglena viridis, eine Geisselinfusorienzelle mit einer einzigen Geissei. n Kern, o Augenfleck, c Vacuole. Nach Stein.

Zellen sind ungemein verbreitet und kommen nicht nur in Geweben als Flimmer epithelz eilen (Fig. 20a) vor, sondern auch freilebend, das grosse Heer der C i 1 i a t e n oder W i m p e r - 1 n f u s o r i e n und der Flagellaten oder Geissel-Inf us orien bildend, je nachdem der einzellige Körper viele, sei es gleiche, sei es verschiedenartig difFeren- zirte Wimperhaare besitzt (Fig. 20?>) oder nur einen oder wenige Geisseifäden trägt (Fig. 20 c). Schliesslich haben wir Zellen, die vom Typus dadurch abweichen, dass sie nach einer Richtung hin enorm in die Länge gezogen sind, so dass sie als schmale, band- oder faden- föi'mige Gebilde erscheinen. Extreme in dieser Richtung sind die glatten und quergestreiften Muskelzellen (Fig. 21 a), sowie manche Spermatozoon (Fig. 216).

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 6

82

Zweites Capitel.

Gegenüber der erstaunlichen Formenmannigfaltigkeit der Zellen muss es auffallen, dass die Grosse der Zellen nur innerhalb ver- hältnissmässig enger Grenzen schwankt. Es ist eine sehr bemerkens- werthe Thatsache, dass bei Weitem die Mehrzahl aller Zellen mikro- skopisch klein ist. Wohl bewegt sich die Grösse der Organismen

innerhalb enorm weiter Grenzen von der ver- schwindenden Kleinheit des Bakteriums, das nur wenige Tausendstel eines Millimeters misst, bis zu der imponirenden Masse eines Ele- phanten oder bis zur gewaltigen Ausdehnung eines amerikanischen Mammuthbaumes, Niemals aber finden wir, dass grössere Organismen nur aus einer einzigen Zelle beständen. Nur sehr wenige Zellformen, die einen klumpigen Proto- plasmakörper haben , erreichen einen Durch- messer von wenigen Millimetern, und bei diesen wenigen Zellen, die eine solche Grösse besitzen, werden wir bald auf die Thatsache aufmerksam, dass sie einen amoeboiden Protoplasmakörper haben, dessen Oberfläche sich fortwährend verändert, dessen Oberfläche fortwährend in strömender Bewegung begriffen ist. Die That- sache, dass klumpige Zellen, deren Radius nach allen Dimensionen ungefähr gleich gross ist, und deren Protoplasma sich nicht in fortwäh- render Strömung befindet, niemals die Grösse von wenigen Millimetern überschreiten, erleidet nur scheinbare Ausnahmen. Man könnte z. B. als eine solche Ausnahme die Eizelle der Vögel geltend machen. Bekanntlich repräsentirt das Ei eines Huhnes, ehe es den Körper verlassen hat, noch eine einzige Zelle. Ein Straussenei würde demnach eine einzige riesige, klumpige Zelle sein, die scheinbar der angeführten Regel widerspräche. Indessen, diese Ausnahme ist, wie gesagt, nur scheinbar, denn das wirklich active oder lebendige Protoplasma der Eizelle besitzt nur eine sehr geringe Grösse und ist nur in Form einer äusserst dünnen und zarten Lamelle der übrigen Masse aufgelagert, die ihrei'seits nur von dem unthätigen Eidotter, dem Nähr- material für die sich weiter entwickelnde und fortpflanzende Zelle, gebildet Avird. Also hier haben wir in Wirklichkeit gar keine solide, klumpige Masse lebendiger Substanz, sondern nur eine dünne Lamelle , und eine solche ein- oder zweidimensionale Grössenentwicklung liegt auch bei allen anderen Zellen vor, die, wie z. B. die oft über Decimeter langen, quer- gestreiften Muskelzellen der Beinmuskeln oder die in mehr als Meter lange Nervenfäden auslaufenden Oanglienzellen oder die blattförmigen Zellen der Caulerpa, die gewöhnliche Grösse über- schreiten. Was bei allen diesen Thatsachen aber zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, dass das Verhältniss von Masse zu

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Fig. 21. « Glatte Muskelzelle.

Nach SCHIEFFER-

DECKER. b Spermato- zoenzelle von Sala- mandra maculata. Nach Hertwig. k Kopf, sp Spitze, »«Mittelstück, m undulirende Membran, ef Endfaden.

Von der hibeiid'j^'-un .Substanz. 83

Oberfläche der Zelle eine {gewisse Grösse niemals iiher- scli reitet. \\'ic wir später sehen werden, ist diese Erscheinung tief im Wesen der lebendigen Substanz begründet, und die Entstehung eines grossen, massigen Organismus ist überhaupt nur möglich durch Aufbau aus sehr kleinen autonomen Elementen, Avie es die Zellen sind.

2. Das Protoplasma.

Es ist häufig der Fehler begangen worden , dass man das Proto- l)lasma als eine chemisch einheitliche Substanz betrachtet hat. Dieser Auffassung liegt ein doppelter Irrthum zu Grunde, denn der Begi-iff Protoplasma, wie ihn die älteren Zellforscher geschaffen haben, ist einerseits gar kein chemischer, sondern ein morphologischer Begriff, und andererseits umfasste er den ganzen Inhalt der Zelle mit Aus- nahme des Kerns. Dieser Zellinhalt ist aber weder in chemischem noch in morphologischem Sinne eine einheitliche Substanz, sondern ist ein Gemisch vieler morphologischer Bestandtheile, und es muss immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine Einschränkung

/i

Fig. 22. a Epidermiszellen vom Frosch. Die lebendige Substanz erscheint vollkom- men hyalin, h Clepsidrina blattarum,

eine einzellige Gregarine aus dem Darm der - ''

Küchenschwabe. Das Protoplasma ist ganz

mit Körnchen angefüllt. 6

des Begriffs Protoplasma auf gewisse Bestandtheile der Zelle schon deshalb durchaus unstatthaft ist und zu ganz schiefen Consequenzen führt, weil es nicht möglich ist, den einen oder den andern Bestand- theil als nebensächlich aus dem Begriff auszuscheiden. Der Begriff Protoplasma ist daher unter allen Umständen in dem ursprünglichen Sinne als ein morphologischer Sammelbegriff aufrecht zu erhalten ; das Protoplasma ist eine Summe, ein Gemisch der verschiedensten morpho- logischen Elemente. Mag man nach und nach immer mehr die einzelnen Bestandtheile, Avelche das Protoplasma zusammensetzen, morphologisch und chemisch charakterisiren , der Begriff Protoplasma als Sammel- begriff wird dadurch nicht beseitigt werden. Welche verschiedene

84

Zweites Capitel.

Bedeutung die einzelnen Stoffe für den Lebensprocess der Zelle haben , ist dagegen eine ganz andere Frage , die den Begriff Proto- plasma nicht berührt.

Wenn wir den Inhalt des Protoplasmas untersuchen , so können wir bei oberflächlicher Betrachtung schon zwei Gruppen von Bestand- theilen unterscheiden, einerseits verschiedene einzeln abgegrenzte Körper, wie Körner, Tröpfchen u. s. w., und andererseits eine gleich- massige, zähflüssige, homogen erscheinende Grrundmasse, in der die ersteren ebenso wie der Zellkern eingebettet liegen. Wähi-end aber in manchen Zellen die Grundmasse nur wenige Einlagerungen ge- formter Körper zeigt, wie z. B. bei vielen Epithelzellen (Fig. 22 a), ist in anderen vor lauter körnigen Bestandtheilen die homogene Grund- masse kaum zu sehen, wie das bei manchen Pflanzenzellen und besonders ausgeprägt bei gewissen parasitär lebenden einzelligen Organismen, den Gregarinen (Fig. 22b), häufig vorkommt.

a. Die geformten Bestandtbeile des Protoplasmas.

Fassen wir zuerst die geformten Bestandtbeile des Protoplasmas ins Auge, so sind es körperliche Elemente der aller- verschiedensten Natur, die aber sämmtlich specielle Zellbestand- theile sind, also nicht in allen Zellen vorkommen. Wir finden darunter sowohl Körper, die für das Leben der betreffenden Zelle, in der sie enthalten sind, die tiefgehendste Bedeutung haben, die gewissen Zellen geradezu ein charakteristisches Gepräge aufdrücken; wir finden aber

auch Elemente, die im Lebensprocess schlech- terdings gar keine Rolle spielen , wie z. B. unverdauliche Reste der Nahrung. Wir stossen ferner auf Nahrungsbestandtheile, die noch nicht verändert sind; wir bemerken aber auch Elemente, die aus der Nahrung durch den Lebensprocess bereits in bestimmter Weise umgewandelt oder sogar neu gebildet worden sind, und schliesslich treffen wir in manchen Zellen ganz constant selbständige Organismen an, die als Symbionten oder Parasiten in ihnen dauernd leben und unter Umständen eine gewisse Rolle im Lebens- process der Zelle spielen können.

Unter den geformten Protoplasmabestand- theilen, die eine wichtige Bedeutung im Leben der betreffenden Zelle haben, die daher als Organe der Zelle oder, da wir unter Organ ein aus vielen Zellen zusammengesetztes Ge- bilde verstehen, besser als „Organoide" der Zelle aufgefasst werden können, sind beson- ders wichtig die Chlorophyllkörper der Pflanzenzellen. Diese kleinen, meist rundlichen, bisweilen auch band- förmigen Körper, welche in der Grundmasse des Protoplasmas ein- gebettet liegen (Fig. 23 a), sind es, die der Pflanzenzelle und damit der ganzen Pflanze ihre prachtvolle grüne Farbe geben, denn ihr weicher, aus Eiweiss bestehender Körper ist mit einem intensiv grünen Farbstoff durchtränkt. Die Chlorophyllkörper sind ungemein wichtig

Fig. 23. «Eine Pflanzen- zelle mit Chlorophyll- körpei'n. b ein Chlorophyll- körper in Theilung begrilfen. Nach Sachs.

Vou der lebendigen Substanz.

85

für die Pflanzenzelle, denn in ihnen läuft ein bedeutsamer Theil des Lebensprocesses ab, der die Pflanzenzelle cliarakterisirt. Andere Organoide der Zelle, die in manchen Fällen ebenfalls von grosser Be- deutung für das Zellleben sind, stellen die Flüssigkeitstropfen oder V a e u 0 1 e n , wie sie gewöhnlich , wenn auch wenig treffend , genannt werden, vor. Unter den Vacuolen lassen sich zwei Arten unterscheiden. Es giebt Flüssigkeitstropfen, die nur gelegentlich einmal im Protoplasma sich an einer Stelle ansammeln, wo gerade eine Wasser anziehende Substanz gelegen ist; es giebt aber auch Vacuolen, die dauernd exi- stiren und häulig in so grosser Menge im Protoplasma vorhanden sind, dass die Masse des Protoplasmas ganz gegen sie zurücktritt und nur noch dünne Wände für die Vacuolen abgiebt, so dass das Protoplasma

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Fig. 24. a Pflanzenzelle aus einem Staubfadenhaar von Tradescantia. Nach Stkasburger. b Thalassicolla nucleata, eine Eadiolarienzelle. c Paramaecium aurelia, eine Wimperinfusorienzelle, die an beiden Enden eine pulsirende Vacuole

im Protoplasma enthält.

ein förmlich schaumiges Ansehen erhält, wie z. B. bei manchen Pflanzen- zellen (Fig. 24 ä) und Radiolarien (Fig. 24 &). Zu den constanten Vacuolen, die als Zellenorganoide dienen, gehören schliesslich die so- genannten contractilen oder pulsirenden Vacuolen, Flüssigkeitstropfen, die meist rhythmisch im Protoplasma verschwinden und wieder an derselben Stelle entstehen, indem die Flüssigkeit sich rhythmisch mit dem Protoplasma mischt und wieder sammelt. Viele dieser pulsirenden Vacuolen haben noch besondere Abzugscanäle und eine dauernd bestehende Wandschicht, wie das z. B. bei vielen einzelligen freilebenden Organismen, besonders den Wimperinfusorien, der Fall ist (Fig. 24 c).

Neben solchen dauernd bestehenden Formelementen des Proto- plasmas trifi't man nun in vielen Zellen geformte Bestandtheile, die

86

Zweites Capitel.

nur vorübergehend als solche vorhanden sind. Hierhin gehören vor Allem die Nahrungskörper, welche in Zellen zu finden sind, die sich durch Aufnahme geformter Nahrungsbestandtheile ernähren. Ein- zellige, nackte Organismen, wie Amoeben, weisse Blutzellen, Infusorien- zellen und andere , zeigen in ihrem Körperinhalt nicht selten kleine Algen, Bakterien, Infusorien, die sie von aussen her auf- genommen haben (Fig. 25/), und die zuweilen kaum von anderen geformten Bestandtheilen des Protoplasmas zu unterscheiden sind. Diese Nahrungsorganismen werden allmählich verdaut und verschwinden dann als geformte Protoplasmabestandtheile.

Dafür treten als Producte der Verdauung, sowohl bei Zellen, die geformte, als auch bei Zellen, die nur flüssige Nahrung aufnehmen, häufig wieder bestimmte, meist rundliche Körnchen im

^A*v>-^

II

III

Fig. 25. /Leukocyten oder weisse Blutzellen vom Frosch, die ein Bakterium ent- halten. Nach Metschnikoff. II Pflanzenzelle mit Stärkekörnern. /// Stärke- körner isolirt. a von der Kartofifel, b vom Mais, e von der Erbse.

Zellkörper auf, Körnchen der allerverschiedensten Natur (Fig. 7, Fig. 22 b), die Altmann zum Theil unter dem Namen Granula zu- sammengefasst hat, und die er, wie wir bereits oben sahen, für die Elementarorganismen, die letzten lebendigen Elemente der Zelle hält. Der grösste Theil dieser Stoffwechselproducte der lebendigen Substanz, die in Form von Granulis den Protoplasmakörper zusammensetzen helfen, ist seiner Zusammensetzung und seiner Bedeutung nach noch nicht bekannt. Dagegen sind andere sehr genau charakterisirt und leicht zu erkennen, wie z.B. die concentrisch geschichteten Stärke- körnchen in den Pflanzenzellen (Fig. 25 JJ und III), die Fett- tröpfchen in den Zellen der Milchdrüsen, die Glyko genkör neben in den Leberzellen, die Pigmentkörnchen in den Pigmentzellen der Haut vieler gefärbter Thiere (Fig. 17 d), die aus Eiweiss be- stehenden Aleuronkörner in den Zellen keimender Pflanzensamen, die Krystalle von Kalkoxalat in Pflanzenzellen, von Guanin-

Von der lebendigen Substanz.

87

kalk in Pigmentzellen und viele andere, deren specielle Aufzählung zu weit führen würde.

Eine vierte Gruppe von geformten Elementen finden wir im In- halt mancher Zellen, Elemente, die am Lebensprocess der Zelle über- haupt nicht oder nicht mehr betheiligt sind. Das sind die gelegent- lich aufgenommenen unverdaulichen Körper, wie Sandkörnchen (Fig. 26), die man in manchen Araoeben triflFt, ferner die unver- daulichen Reste der Nahrungsstoffe, wie Schalen, Skelette, Hülsen von Nahrungsorganismen und endlich die Excret- stoffe, welche als unbrauchbare Nebenproducte oder als Endproducte des Stoffwechsels noch eine Zeit lang im Zellkörper verharren, um nach und nach ausgeschieden zu werden.

Schliesslich sind unter den geformten Elementen des Pro- toplasmas in gewissen Zellen, besonders im Wasser lebender Thiere , nicht selten symbio- tische oder parasitäre einzellige Organismen , die zwar genau genommen nicht zum Proto- plasma der betreffenden Zelle gehören, die aber in einzelnen Fällen eine wichtige Rolle im Leben ihres Wirthes spielen. Solche symbiotische Organis- men sind vor Allem manche Algen, die Zooxanthellen und Zoochlorellen, über deren Natur als selbständige Organismen lange Zeit gestrit- ten worden ist. Sie finden sich zahlreich in den Zellen niederer Thiere und besonders vieler Infusorien und Radiolarien, denen sie durch die Thätigkeit ihrer Chlorophyll- körper den Sauerstoff liefern, so dass ihre Wirthe in ihrer Athmung in hohem Grade unabhängig von dem Sauerstoffgehalt des Mediums werden, in dem sie leben (Fig. 27).

Wir wollen hier nicht in ermüdender Aufzählung jedes einzelne geformte Element anführen, das in dieser oder jener Zelle anzutreffen ist. Eine solche Liste würde viele Druckseiten füllen müssen. Es kommt uns hier nur darauf an, zu sehen, wie verschiedener Natur die einzelnen geformten Bestandtheile des Protoplasmas sind, die in ein- zelnen Zellen auftreten können, und wie unberechtigt es daher ist, das Protoplasma als eine einheitliche Substanz aufzufassen. Verlassen wir also die Reihe der geformten Protoplasmaelemente, und wenden wir uns zur Betrachtung der homogenen Grund Substanz.

Fig. 26. Amoeben-

zelle, die eine

Diatomeenschale und

zwei Sandkörnchen

in ihrem Protoplasma

enthält.

Fig. 27. Paramaeci- um bursaria, eine Wimper-Infusorienzelle, deren Exoplasma mit

kleinen parasitären

Algenzellen iZoochlo-

rellen) erfüllt ist.

b. Die (rrundsubstanz des Protoplasmas.

Wie bereits bemerkt, erscheint die Grundsubstanz des Protoplasmas, in der die Granula etc. eingebettet sind, bei ober- flächlicher Betrachtung vollständig homogen. Man kann das am besten an solchen Zellen sehen, die in ihrer Grundsubstanz nur wenig geformte Bestandtheile eingelagert enthalten, besonders bei vielen

88 Zweites Capitel.

Arno eben, jenen freilebenden, am Boden stehender Gewässer umher- kriechenden Zellen, deren nackte, fortwährend ihre Form wechselnde Protoplasmakörper die niedrigsten und einfachsten Organismen vor- stellen, die überhaupt unsere Erdoberfläche bewohnen. Diese inter- essanten Elementarorganismen bilden in der Regel völlig granulafreie Vorwölbungen oder Pseudopodien (Scheinfüsse) an ihrer Oberfläche von breiter, finger- oder lappenförmiger Gestalt, die vollkommen hyalin und structurlos erscheinen (Fig. 16 pag. 78 und Figur 28). In der That ist auch bei den Arno eben das hyaline Protoplasma nicht selten wirklich vollkommen structurlos. Das haben alle bisherigen Unter- suchungen, die mit den besten mikroskopischen Untersuchungsmitteln vorgenommen worden sind, ergeben.

Aber diese wirkliche Homogenität der Grund- substanz des Protoplasmas ist nicht die Regel, vielmehr zeigt sich bei Anwendung starker Ver- grösserungen , dass die überwiegende Mehrzahl aller Zellen in ihrer scheinbar homogenen Grund- masse in Wirklichkeit eine äusserst feine und charakteristische Structur besitzt.

Schon 1844 hatte Remak^) beobachtet, dass

nicht nur die Nervenfäden, sondern auch die

Ganglienzellen des Centralnervensystems eine sehr

feine faserige oder fibrilläre Structur besitzen,

eine Beobachtung, die von einer grossen Reihe

„„ . , ,, von Forschern, besonders von Max Schultze^),

mit vollkommen hyali- bestätigt und erweitert wurde. Spater fand man

nem und homogenem auch in einzelnen anderen Zellen, in Drüsen-

Pseudopodien - Proto- zellen, Epithelzellen, Muskelzellen etc. eine strei-

plasma. Neben dem Kern ggg Structur des Protoplasmas, und so bildete

ehfe bl'aTse, conLactTle sich bei einzelnen Forschern die Vorstellung her-

Vacuole (Flüssigkeits- aus, däss eine flbrilläre Structur des Protoplasmas

tropfen). weit verbreitet wäre, eine Ansicht, die noch heute

besonders von Flemming, Ballowitz und Camillo

Schneider vertreten wird.

Indessen, schon früh erfuhr diese Lehre vom fibrillären Bau des Protoplasmas eine Modificirung. Frommann besonders hat seit 1867 in einer langen Reihe von Arbeiten zu zeigen gesucht, dass die feinere Structur des Protoplasmas aller Zellen nicht eigentlich eine flbrilläre, sondern eine netzförmige sei, eine Ansicht, die fast gleichzeitig auch von Heitzmann aufgestellt wurde und bald eine weitere Verbreitung fand. Nach dieser Vorstellung soll das Protoplasma ein Netzwerk oder besser ein Maschenwerk bilden, dessen Knotenpunkte uns als einzelne Körnchen erscheinen. Das ganze Maschenwerk der Zelle ist nach aussen offen, und zwischen seinen Fäden beflndet sich eine Flüssigkeit, die aber von der Flüssigkeit des Mediums, in dem die Zelle lebt, also vom Wasser oder den Körpersäften etc., verschieden ist. Es ist schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es die An- hänger der Lehre von der Netzstructur des Protoplasmas für möglich halten, dass sich die innere Zellflüssigkeit bei membranlosen Zellen, wie

^) R. Remak: „Neurologisclie Erläuterungen." In Arch. f. Anat. u. Physiologie 1844. 2) M. Schultze: „Allgemeines über die Structurelemente des Nervensystems." In Stricker's Handbuch der Gewebelehre 1871.

Voll der lebendigen Substanz. 89

es die Leukocytcn des lilutcs und die Amoeben sind, an denen gerade die Netzstructur von Heitzmann sehr eingehend geschildert worden war, trotz ihres grossen Wassergehalts nicht fortwährend mit dem umgebenden Medium mischt. Versuche, membranlose lebendige Proto- plasinamassen mit bestimmten Farbstofflösungen zu färben, zeigen jedenfalls deutlich, dass die Färbeflüssigkeit nicht in das lebendige Protoplasma eindringt. Diese und ähnliche Schwierigkeiten, welche sich aus der Auffassung des Protoplasmas als eines nach allen Seiten hin offenen Maschenwerks ergeben, haben denn auch viele Forscher zu einer sehr ablehnenden Haltung gegenüber der Lehre von der Netzstructur des Protoplasmas veranlasst, obwohl von verschiedenen Seiten das netzförmige Aussehen des Protoplasmas vieler Zellen bestätigt wurde.

Erst die ausgezeichneten Untersuchungen, mit denen BütschliV) in den letzten Jahren unausgesetzt die wissenschaftliche Welt über- rascht hat, haben uns vollständige Klarheit über die wirkliche Be- schaffenheit der so vielfach beobachteten Protoplasmastructuren ge- geben. Betrachtet man das Protoplasma einer Zelle, die so viele Vacuolcn oder Flüssigkeitstropfen einschliesst, dass ihr Inhalt ein schaumiges Ansehen besitzt, mit stärkeren Vergrösserungen unter dem Mikroskop, so erhält man nicht das Bild vieler dichtgedrängter Vacuolen oder Blasen, sondern das Bild eines Netzwerkes, dessen Fäden die Querschnitte der dünnen Vacuolenwände bilden. Es liegt das daran, dass man mit starken Vergrösserungen immer nur Flächen, nie Körper sehen kann. Das Mikroskop zeigt von Körpern immer nur optische Querschnitte. Der optische Querschnitt durch einen Schaum aber stellt ein Netzwerk vor. So kommt es, dass stark vacuolisirtes Protoplasma bei starken Vergrösserungen als Netzwerk erscheint. Diese Thatsache führte Bütschli zu der Ueberzeugung, dass auch das feinere netzförmige Aussehen des bei schwacher Ver- grösserung homogen erscheinenden Protoplasmas, wie es bei so vielen Zellen bereits beobachtet worden war, nur der optische Ausdruck einer äusserst fein blasigen Schaumstructur sei. Um diese Frage zu ent- scheiden, versuchte Bütschli, mikroskopische Schäume künstlich her- zustellen von gleicher Feinheit wie die fraglichen Protoplasmastructuren, und das gelang ihm in der wünschenswerthesten Weise. Bütschli benutzte zu diesen Versuchen Oel, das mit Pottasche oder Rohrzucker sehr fein verrieben worden war. Kleine Tröpfchen von diesem Oelbrei, auf einer Glasplatte in einen Wassertropfen gesetzt, mit einem Deck- gläschen bedeckt und unter dem Mikroskop beobachtet, nahmen als- bald eine äusserst feinschaumige Structur an, indem die Pottaschen- oder Rohrzuckertheilchen, die fein in dem Oeltröpfchen vertheilt waren, durch das Oel hindurch auf dem Wege der Diffusion W^assertheilchen von aussen her anzogen, so dass sich sehr feine Wassertröpfchen um sie herum dicht gedrängt im Oeltropfen ansammelten und diesen in einen überaus feinen Oelschaum verwandelten. Die auf diese Weise gewonnenen Oelschäume zeigten nun eine so auffallende Uebereinstimmung mit der Structur des Protoplasmas, dass sie kaum davon zu unterscheiden waren. Die umstehenden Figuren 29 a und h^ welche von Bütschli entlehnt sind, lassen die völlige Identität in der

1) O. Bütschlt: „Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Proto- plasma." Leipzig 1892. Hier findet sich auch die genannte einschlhgige Literatur.

90

Zweites Capitel.

Structur beider Objecte auf den ersten Blick erkennen. Nach den sehr sorgfältigen und umfassenden Untersuchungen, die BCtschli in seinem grossen Werke veröffentlicht hat, kann es jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen, dass die in Frage stehenden feinen Structuren des Protoplasmas in Wirklichkeit Schaumstructuren sind, die darauf beruhen , dass in einer gleichartigen Grundmasse eine ungeheure Menge äusserst feiner, fast an der Grenze der mikroskopischen Wahr- nehmbarkeit liegender Vacuolen eingebettet sind, die so dicht an einander liegen, dass ihre Wände nur verhältnissmässig dünne Lamellen bilden. Bltschli hat ferner diese Schaumstructur des Protoplasmas

Fig. 29. a Schaumstructur im intracapsulären Protoplasma von Thalas- sicolla nucleata. b Schaum aus Olivenöl und Rohrzucker, c Proto- plasmastructur auf einer Pseudopodienaus breitung einer Foramini- ferenzelle (Miliola). d Protoplasraastructur einer Epidermiszelle des Ke^enwurms. Nach Bütschli.

bei einer so grossen Zahl der verschiedensten Zellformen (Fig. 29a, c, db) nachgewiesen, dass ihre weite Verbreitung jetzt nicht mehr bestritten werden kann.

Nach allen diesen Untersuchungen der neuesten Zeit können wir uns jetzt folgendes Bild von dem feineren morphologischen Bau des Protoplasmas machen. Das Protoplasma besteht aus einer in manchen Fällen vollständig homogenen, in den meisten Fällen aber sehr fein schaumartig oder wabenartig structurirten Grundmasse, in der eine mehr oder weniger grosse Menge der verschiedenartigsten, ge- formten Elemente oder Granula eingeschlossen liegt.

Von der lebendigen Substanz. 91

Bei dem schauma r t igen Protoplasma liegen die Granula immer in den Ecken und Kanten, wo die .Scliaum- V a c u 0 1 e n z u s a m m e n s t o s s e n , niemals in der Flüssigkeit der Schaumwaben selbst.

Von der Auffassung Altmann's, der die Granula allein für die Elementartheile des Protoplasmas, die Zwischensubstanz zwischen den Granulis aber für nicht lebendig hält, haben Avir bereits oben*) ge- sprochen. Ihre Unhaltbarkeit tritt nach den BüTSCHLi'schen Unter- suchungen nur um so augenfälliger hervor.

3. Der Zellkern oder Nucleus.

Der Zellkern ist in neuerer Zeit ein Lieblingsobject morphologi- scher Untersuchungen geworden, und es hat sich hier eine psycho- logische Erscheinung bemerkbar gemacht, die sich in der Geschichte des menschlichen Geistes immer und immer wiederholt, seitdem der Mensch überhaupt über die Dinge nachzudenken angefangen hat, das ist die U e b e r t r e i b u n g. Die älteren Protoplasmaforscher, besonders Max Schultze, hatten sich überzeugt, dass das Protoplasma wichtige Lebenserscheinungen zeigt, und alsbald hatte sich durch übertriebene Verallgemeinerung die Ansicht herausgebildet, dass das Protoplasma der alleinige Träger aller Lebenserscheinungen sei, während der Zell- kern eine nebensächliche Bedeutung haben sollte. Seitdem hat man bei gewissen Lebenserscheinungen gerade eine hervorragende Be- theiligung des Zellkerns erkannt. Eine Reihe von Forschern hat gezeigt, dass der Zellkern bei der Fortpflanzung, Befruchtung, Secre- tion etc. eine sehr wichtige Rolle spielt, und sofort ist die ursprüngliche Meinung von der Alleinherrschaft des Protoplasmas in übertriebener Reaction in das Gegentheil, in die Vorstellung von der Alleinherrschaft des Kerns umgeschlagen. Wie wir in einem späteren Abschnitt sehen werden, liegt hier, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte. Aber jede Reaction ist übertrieben. Wie ein Pendel gehen die Meinungen zuerst nach beiden Extremen über den Ruhepunkt hinaus, und erst nach einiger Zeit wird die richtige Mitte dauernd eingehalten. Immerhin haben wir es diesen Untersuchungen über den Zellkern zu verdanken, dass sich unsere Kenntniss desselben bedeutend erweitert hat-).

a. Die Crestalt des Zellkerns.

Was zunächst die Gestalt des Zellkerns betrifft, so ist die- selbe in verschiedenen Zellen sehr verschieden.

Die Bildung des Zellkernbegi'iffs ging aus von solchen Zellformen, bei denen inmitten einer umgrenzten Protoplasmamasse ein einziger, mehr oder weniger rundlicher Kern gelegen ist, der sich hinsichtlich seines Lichtbrechungsvermögens und seiner Consistenz wesentlich von dem ihn umgebenden Zellprotoplasma unterscheidet. Später fand man, dass er auch durch sein charakteristisches Verhalten gewissen Reagen-

^) Vergl. pag. 65 u. ff.

2) Kürzlich hat A. Zimmermann die Ergebnisse der Forschungen über den Zellkern besonders der Pflanzenzellen übersichtlich zu^;anuneugel'asst in seinem Buche: ,;Die Morphologie und Physiologie des pflanzlichen Zellkerns. Eine kri- tische Litteraturstiidi e." Jena 1896.

92

Zweites Capitel.

tien, besonders Farbstoffen, gegenüber in scharfem Gegensatz zum Protoplasma der Zelle steht. Diese Art des Auftretens der Kern- masse in der Zelle ist denn auch die verbreitetste in der ganzen

Organismenwelt

Ein grosser Theil der freilebenden und die meisten

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gewebebild enden Zellen im Thier- und Pflanzenreich zeigen diesen Typus. Dabei ist das Verhältniss des Volumens des Kerns zu dem des Zellprotoplasmas ein sehr verschiedenes. Es finden sich Zellen, in denen ein verhältnissmässig kleiner Kern von einer grossen Menge von Protoplasma umgeben ist, wie z. B. bei manchen Foraminiferen , während in anderen Zellen die Menge des Zellproto- plasmas gegen die der Kernmasse äusserst gering ist, wie bei den meisten Spermatozoen.

Von dem Typus des mehr oder weniger rundlichen, in der Ein- zahl vorhandenen Zellkerns finden sich Abweichungen nach den ver- schiedensten Richtungen hin. Zu- nächst in Bezug auf die Zahl der Kerne. Wie wir bereits oben sahen, giebt es Organismen, die aus einer einheitlichen Protoplasmamasse be- stehen, in der eine grosse Menge von Zellkernen eingebettet liegt, wie das bei den mehrkernigen Zellen und Syncytien der Fall ist. Dabei kann die Zahl der Kerne so gross und ihre Grösse so verschwindend klein sein, dass, wie es Gkuber ^) bei ge- wissen Rhizopoden aus dem Hafen von Genua, speciell bei Pelomyxa pallida, beobachtet hat, die Zell- kerne wie ein feiner Staub durch das ganze Protoplasma zerstreut liegen (Fig. 30). Bei solcher Vertheilung der Kernmasse, wie sie bei den viel- kernigen Formen auftritt, ist die Oberfläche der Kernmasse natürlich erheblich grösser als bei der Anord- nung derselben Menge zu einem ein- zigen grossen Kern, ein Umstand, der in physiologischer Hinsicht besonders wichtig ist.

Dasselbe Princip der Oberflächenvergrösserung kommt aber auch zur Geltung durch Formdifferenzirung des in der Einzahl vorhandenen Kernes. Von der typischen rundlichen Form kommen die mannig- fachsten und weitgehendsten Abweichungen vor. Wurstförmige, band- förmige (Fig. 31 rt), rosenkranzförmige (Fig. 31 h) Kerne sind nament- lich unter den ciliaten Infusorien sehr verbreitet. Noch weiter gehend, führt das Princip der Oberflächenvergrösserung zu den sternförmigen und verzweigten Kernen, wie sie z. B. in gewissen Zellen des In- sectenkörpers gefunden werden, und wie sie in den geweihförmig ver- ästelten Kernformen der Spinndrüsenzellen vieler Raupen ihre höchste Ausbildung erreichen (Fig. 31 c). Als bemerkenswerth erscheint es,

Fig. 30. Pelomyxa pallida, eine

Rhizopodenzelle aus dem Hafen von

Genua mit fein vertheilter Kernsubstanz

im Protoplasma. Nach Grober.

^) Grüber: „lieber einige Rhizopoden aus dem Genueser Hafen." In Bericht d. iiaturforsch. Ges. zu Freiburg i. B. Bd. IV. 1888.

Von der lebendigen Substanz.

93

dass es gerade die Kerne von secernirenden , al«o durch lebhafte Thätigkeit charakterisirteu Zellen sind, welche besonders das Princip der Oberllächenvergrösserimg durch Verzweigung zum Ausdruck bringen.

m

Fig. 31. Zellen mit vei'scbiedenen Zellkernformen, a Vorticella, ein

Wimperinfusor mit wurstförmigem Zellkern. b Stentor, ein Wimperinfusor mit

rosenkranzförmigem Zellkern, c Spinndrüsenzellen von Kaiipen, mit geweihförmig

verzweigtem Zellkern. Nach Kokschelt.

b. Die Substanz des Zellkerns.

Bezüglich der s u bs tan zi eilen Beschaffenheit des Zell- kerns gilt genau dasselbe wie für das Protoplasma, Der Zellkern ist ebensow^enig wie das Protoplasma eine einheitliche Substanz. Er ist ein morphologisches Gebilde, ein Organoid der Zelle, das aus mehreren verschiedenen Bestandtheilen sich aufbaut, aus Bestand- theilen, die sich mikroskopisch in manchen Fällen mehr, in anderen Fällen weniger deutlich von einander unterscheiden lassen, die auch nicht immer sämmtlich in allen Zellen vertreten sind. Bei der un- geheuren Kleinheit der Objecte ist es vielfach nicht leicht, die einzelnen Bestandtheile scharf zu charakterisiren. In Folge dessen ist die Identität mancher Kernbestandtheile einer Zellform mit denen einer andern Zellform nicht immer über allen Zweifel erhaben, und es bedarf noch ausgedehnter Untersuchungen, bis wir zur völligen Klar- heit darüber gelangen, welche Kernbestandtheile der einen Zelle den oder jenen Bestandtheilen einer andern genau entsprechen. Immerhin

94

Zweites Capitel.

kann man eine Reihe von Kernbestandtheilen, die, wie es scheint, eine sehr weite Verbreitung haben, schon jetzt ziemlich gut charakterisiren. Am meisten constant in den Kernen der verschiedensten Zellen sind folgende Kernsubstanzen zu finden.

1. Der Kernsaft stellt die flüssige Grundsubstanz vor, in der die übrigen geformten Kernbestandtheile enthalten sind (Fig. 32). Wie M. Heidenhain, Reinke und Korschelt neuerdings nachgewiesen haben, besitzt der Kernsaft bei vielen Zellen während des Lebens ein äusserst fein granulirtes Aussehen.

2. Die achromatische Kernsubstanz bildet in dieser Grundsubstanz ein Gerüstwerk aus feinen Strängen, welche dadurch charakterisirt sind, dass sie sich ebensowenig Avie der Kernsaft, in dem sie aufgehängt sind, durch die typischen Kernfärbemittel, wie Carmin- farbstoffe, Haematoxylin etc., färben lassen.

3. Die chromatische Kern Substanz unterscheidet sich von der achromatischen gerade durch ihre Färbbarkeit mit diesen Färbe- mitteln. Sie ist in der Regel in der Form von kleinen Körnchen und Bröckchen in den Strängen der achromatischen Substanz enthalten, und auf ihrer Färbbarkeit beruht zum grössten Theil unsere Kenntniss vom feineren Bau des Zellkerns.

4. Das K e r n k ö r p e r c h e n (Nucleolus) ist ein homogenes Körn- chen, das nur selten in der Mehrzahl im Kern vorhanden ist, und

besteht aas einer stark /^h ^^'^"^v^-'^ ^1,.,,^ /"^^ N, lichtbrechenden Substanz,

C~-#4 i^i^ll^i.. N /^^^h /wS^^"^ die mit der chromatischen W^J Iv. -5.-4^,^. i feS:^^£.4 ^-ä^'^'ts^l^J Substanz nahe verwandt

zu sein scheint. Da sich die Substanz der Nucleo- len mit den Kernfarb- stoffen in der Regel ebenso färbt wie die chromatische Substanz, so ist das Kernkörperchen von manchen Forschern nur als eine besondere Ansammlung von chromatischer Substanz betrachtet worden, eine Ansicht, die sich indessen im Hinblick auf das abweichende Verhalten beider Substanzen gewissen chemischen Reagentien gegen- über nicht aufrecht erhalten lässt.

Alle diese Substanzen, zu denen sich bei weiter fortschreitender Kenntniss des Zellkerns vielleicht noch andere gesellen werden, sind in den verschiedenen Zellen in sehr Avechselnder Menge enthalten. Während manche Zellen die eine oder die andere Substanz in grösserer Menge in ihrem Zellkern enthalten , tritt dieselbe Substanz in anderen Zellen ganz in den Hintergrund, ja es scheint sogar, als ob einzelne Substanzen in manchen Zellkernen vollständig fehlen könnten. Um- schlossen und vom Protoplasma abgegrenzt sind die Kernsubstanzen in vielen Fällen durch eine besondere Kernmembran, die aber ebensowenig wie die Zellmembran für die Zelle ein allgemeiner Be- standtheil des Kerns ist.

Zacharias^) und Frank Schv^^arz^) haben in letzter Zeit die her- kömmlichen Namen für die einzelnen Substanzen durch andere Namen

Fig. 32. Verschiedene Zellkerne aus Samen mutterzellen vom Pferdespulwurm. Nach Hertwig.

') Zacharias: In Botan. Zeitung 1881, 1882, 1883, 1885 u. 1887. 2) F. Schwarz: „Die morphologische und chemische Zusammensetzung des Proto- plasmas." Breslau 1887.

Von dur lebendigen iSubstanz. 95

ZU ersetzen gesucht. So ist die chroinatische Substanz als Nucleln, die aclirDinutiselie als Linin, die Nucl(M)larsubstai)z als Paranuclein oder Pyrenin, der Kernsaft als Paralinin und die Substanz der Kern- menibran als Anipliijjyrenin bezeichnet worden. Es empfiehlt sich in- dessen durchaus nicht, diese Namen einzubürgern, denn sie führen so leicht zu Verwechselungen mit chemischen Begriffen, dass der Irrthum entstehen könnte, als handele es sich hier um die chemische Charakteri- sirung der betreffenden Kernelemente, und doch sind die Begriffe der Kernsubstanzen zunächst nur rein morphologische. Wollten wir aber den Begriff Nuclei'n wirklich in chemischem Sinne anwenden, dann würden wir die chromatische Kernsubstanz dadurch zu den übrigen Kernsubstanzen in einen chemischen Gegensatz bringen, der in Wirklichkeit nicht in dieser Weise existirt, denn die Mehrzahl der übrigen Zellkernsubstanzen gehört chemisch ebenfalls zu den so- genannten Nucleinen und stellt nur verschiedene Arten derselben vor. Daher ist es zweckentsprechender, die morphologischen Kernbestand- theile mit den ursprünglichen, oben verwendeten Namen zu belegen und sie nicht mit chemischen Stoffen begrifflich zu vermischen.

Von Interesse aber ist noch eine Erscheinung bezüglich der Differenzirung der einzelnen Kernsubstanzen. Das ist die Thatsache, dass von den Substanzen, die sich in den meisten Zellen innerhalb des Zellkerns zusammen vorfinden, sich in manchen Zellen auch einzelne zu räumlich im Zellprotoplasma getrennten Massen diflferenzirt haben, so dass zweierlei ganz verschiedene Kernformen in derselben Zelle neben einander vorkommen. Dieser Zustand ist fast durch- gehends bei den ciliaten Infusorien verwirklicht, die neben einem grossen Kern, dem „Makronucleus", der hauptsächlich aus chro- matischer Substanz gebildet wird, noch einen oder mehrere, oft eine grössere Anzahl sogenannter Nebenkerne oder Mikronuclei" be- sitzen , die vorwiegend aus achromatischer Substanz bestehen. Die Forderung, die zweierlei Elemente in der Infusorienzelle wirklich als zwei verschiedene Kern Substanzen aufzufassen, ist in den Erschei- nungen begründet, welche nach den ausgezeichneten Untersuchungen von R, Hertwig^) bei der Conjugation zweier Infusorien auftreten. Hier zerfällt der Hauptkern völlig im Protoplasma, und seine neue Anlage differenzirt sich nach der Conjugation aus der Substanz der Nebenkerne. Während bei den ciliaten Infusorien der Zustand mit zwei differenten Kernformen im ganzen Leben der dauernde bleibt, wurde bei der Rhizopodenfamilie der Difflugien festgestellt, dass eine räumliche Differenzirung von zweierlei Kernen nur während der Conjugationsperiode auftritt, um nachher wieder dem einkernigen Zu- stande Platz zu machen^).

c. Die Struotur des Zellkerns.

Werfen wir schliesslich noch einen flüchtigen Blick auf die Structur des Kerns, so haben wir bereits gesehen, dass die achromatische Substanz in der Grundmasse des granulirten Kernsaftes ein Gerüstwerk bildet, in dessen Strängen und Knotenpunkten die

') R. Hektwig: „Ueber die Conjugation der Infusorien." In Abhandl. der Kön.

bayr. Äkad. München 1889.

2) M. Verwokn: .,Biologische Proti.stenstudien" II. In Zeitsehr. f. vviss. Zeel., Hd. L, 1890.

96

Zweites Capitel.

.^m^,^,.

chromatische Substanz und die Kernkörperchen eingebettet liegen in ganz derselben Weise wie die geformten Elemente, die Granula etc.

in den Wabenwänden des Protoplasmas. Ja, die Aehnlichkeit des Verhältnisses geht sogar, wie Bütschli gezeigt hat, in einzelnen Fällen so weit, dass die achromatische Substanz genau dieselbe Wabenstructur im Zellkern zeigt, wie sie die Grundmasse des Protoplasmas als Ptegel besitzt (Fig. 33).

Alle diese Structuren sind aber nur charakteristisch für den sogenann- ten Ruhezustand der Zelle. Sobald die Zelle sich anschickt, sich durch Theilung zu vermehren, treten ganz eigenthümliche und sehr complicirte Veränderungen in der Structur der Kernsubstanzen ein, auf die wir erst später in einem andern Capitel näher eingehen wollen.

Fig. 33. Wabenstructur im

Zellkern einer Gangl ieuzel le.

Nach Bütschli.

C. Die physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz.

1. Die Consistenz der lebendigen Substanz.

Obwohl bereits die älteren Zellforscher, wie Schleiden, Mohl und Andere , der directen Beobachtung folgend , den Inhalt der Zelle als flüssig betrachteten, indem sie seine Consistenz mit der des Schleims verglichen, machte sich später mehrfach eine Auffassung geltend, die merkwürdiger Weise das Protoplasma als eine in ihrer Grundlage feste Substanz zu betrachten geneigt war. Diese Vorstellung entsprang zunächst aus rein theoretischen Ueberlegungen. Brücke ^) besonders meinte, der Zellinhalt könne deshalb nicht eine flüssige Masse sein, weil die Lebenserscheinungen unmöglich an ein flüssiges Substrat ge- bunden sein könnten , sondern eine bestimmte „Organisation" voraus- setzten, die sich nicht mit dem Charakter einer Flüssigkeit vertrüge. Die BRüCKE'sche Ansicht gewann bald mehrere Anhänger. Vor Allem aber schien die Vorstellung von der festen Beschafi'enheit des Zell- inhalts gestützt zu werden durch die Lehre von dem netzförmigen Bau des Protoplasmas, Avie sie FroMMANN und Heitzmann vertraten. Man glaubte in dem Netzwerk das feste Gerüst gefunden zu haben, mit dessen Organisation die Lebenserscheinungen verknüpft wären. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, dass die netzförmige Structur des Protoplasmas eine optische Täuschung war, und so ist der An- sicht von der festen Consistenz des Protoplasmas die thatsächliche Grundlage wieder entzogen worden. In Wirklichkeit ist bei unseren jetzigen mikroskopischen Untersuchungsmitteln eine starke Vor- eingenommenheit für gewisse unhaltbare Theorien erforderlich, wenn man sich der Thatsache verschliessen will, dass das Protoplasma, ab- gesehen von einzelnen, in bestimmten Zellen vorhandenen Differenzi- rungen, physikalisch sich wie eine Flüssigkeit verhält.

') Brücke: „Die Elementarorganismen." In Wiener Sitzungsbericht, Jahrg. XLIV, 2. Abth., 1861.

Von der lebendijren Substanz.

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Die Voi'stellung, dass die Lebenserscheinungon nur an ein festes Substrat , unmöglich aber an eine Flüssigkeit gebunden sein könnten, ist in der Tiiat nicht nur unberechtigt, sondern sogar in dieser Form unhaltbar. 8ie lässt sich nicht nur durcli keinen annehmbanm Grund belegen , sondern sie widerspricht sogar Thatsachen , die leicht zu beobachten sind. Es ist z. B. vollkommen unverständlich, wie bei einer mehr oder weniger starren Beschaffenheit eines Gerüst- oder Netzwerkes das Protoplasma die Fähigkeit des Strömens und Fliessens besitzen könnte, die man so leicht in geeigneten Pflanzenzellen und bei Amoeben beobachten kann. Ein festes Netzwerk kann unmöglich fliessen in der Weise, dass die einzelnen Punkte seiner Masse fort- während sich durch einander mischen, wie das in den Amoeben so deutlich zu sehen ist. Mag auch die Theorie von der festen Con- sistenz auf den ersten Anschein dem Verhalten der formbeständigen Zellen nicht widersprechen, mit den Erscheinungen an nackten Proto- plasmamassen ist sie schlechterdings unvereinbar.

So haben denn auch in neuerer Zeit verschiedene Forscher, vor Allem Berthold V) und Bütschli-), die Auffassung von der flüssigen Natur des Zellinhalts mit Nachdruck wieder vertreten, und es dürfte wohl kaum noch einen mit den Erscheinungen vertrauten Forscher geben, der sich dieser Vorstellung verschliessen könnte. Es genügt auch, einige wenige Ei-scheinungen zu beobachten, um sofort von der flüssigen Consistenz des Zellinhalts überzeugt zu sein.

Vor allen Dingen beweisend für die flüssige Natur des Proto- plasmas sind die bereits erwähnten Bewegungserscheinungen. An den Protoplasmasträngen der Pflanzen zellen und in den Pseudo- podien der Rhizopoden sieht man die lebendige Substanz wie das Wasser eines ruhig dahin gleitenden Stromes in fliessender Bewegung, bald langsamer, bald schneller und an verschiedenen Stellen mit ungleicher Geschwindigkeit, so dass sich die Theilchen fortwährend unter einander mischen, wie man das besonders leicht an den der Grundmasse des Protoplasmas eingelagerten Bestandtheilen. den Granulis , Fetttröpfchen etc., beobachten kann. Wie könnte eine starre Grundmasse fliessen wie das Wasser in einem Strome!

Eine andere Erscheinung, die deutlich die flüssige Con- sistenz des Protoplasmas be- leuchtet, ist die Tropfen- und Kugel bildung von Protoplasmamassen, die durch Zerquetschen oder Anschnei- den der Zellwände aus der Zellmembran herausquellen. Solche tropfen- und kugelför- migen Zusammenballungen be-

Fig. 34. a Vaucheriaschlauch, am oberen Ende angeschnitten. Das Protoplasma tritt heraus und rundet sich zu Kugeln ab. Xach Pfeffer. b Araoebenzelle mit blasser Vacuole und verschiedenen kleinen Fetttröpfchen.

1) G. Bekthold: „Studien über Protnplasmamechanik." Leipzig 1886.

2) O. Bütschli: „Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Proto- plasma." Leipzig 1892.

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl.

98

Zweites Capitel.

Fig. 35. Tradescantia. Zelle eines Staubfadenhaares. A mit ruhig strömen- dem Protoplasma. B dieselbe Zelle durch den elektrischen Inductionsstrom gereizt. Das Protoplasma hat sich auf den Strängen zu einzelnen Kugeln zusammen- geballt (c, d). Xach Kühne.

obachtet man z. B. sehr schön an dem Protoplasma der Alge V au- ch er ia (Fig. 34a;. Aber auch an den fliessenden Protoplasmasträngen der unverletzten Pflanzenzelle kann man solche kugeligen Zusammen- ballungen beobachten, wenn man z. B. den elektrischen Strom hin- durchgehen lässt. Alsdann sammelt sich das Protoplasma zu Kügelchen und Spindelchen an, die, wenn man den Strom unterbricht, sich wieder lang ausstrecken, vermischen und ihre Substanz weiterfliessen lassen (Fig. 35). Dasselbe kann man auf den Pseudopodienfäden vieler Meeres- Khizopoden sehen , wenn man sie stark oder andauernd erschüttert (Fig. 36), und an vielen anderen Objecten ebenfalls.

Eine dritte Erscheinung, die auf die flüssige Consistenz des Proto- pla.smas hinweist, und die in den allerverschiedensten Zellformen be- obachtet werden kann, ist die Kugel- und Tropfenform der im Protopla.sma eingeschlos- senen Flüssigkeitsansamm- lungen, wie z. ß. der sogenannten Vacuolen, der Fett- und Oeltröpfchen etc. , die hier und dort im Proto- plasma zerstreut entstehen, wachsen

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Fig. 36. Orbitolites. Theil der vielkammerigen Kalkscheibe des Foraminifers mit aus- gestreckten Pseudopodienfäden. A in ungestörtem Zustande. B das Protoplasma der Pseudo- podien hat sich auf starke Erschütterungsreize zu Kügelchen und Spindeln zusammengeballt.

Voll der leljoudigeii .Substanz. 99

und unter Umständen wieder verschwinden können (Fi;^. 34/;). Wäre die Gruiuhnasse des Protoplasmas starr, so wäre es unverstämllich, wie diese Fliissigkeitstropfen der verschiedensten Griisse j^erade immer Kugelt'orm anneinnen und dieselbe, wie die Oellnipf'chen , bei ihrem Wachsthum beibehalten sollten. Eine Ku^elt'orni dieser Fliissij^keiten ist mechanisch nur möglich, wenn das umgebende Medium nach allen Seiten hin einen gleichen Druck ausübt und in gleichem Maasse nachgiebt, d. h. wenn es selbst eine Flüssigkeit ist.

Derartiger Erscheinungen, welche sich nur mit einem flüssigen Charakter des Protoplasmas vertragen , Hesse sich eine unbegrenzte Zahl anführen. Die genannten genügen aber vollkommen , um zu zeigen, dass die Lebenserscheinungen sehr wohl an ein flüssiges Sub- strat geknüpft sein können. Freilich sind der flüssige und der feste Zustand des Körpers nicht durch eine scharfe Grenze von einander zu trennen, sondern durch unmerkliche Uebergänge mit einander verbunden. Nach unseren jetzigen physikalischen Vorstellungen be- ruht der Unterschied zwischen dem gasförmigen, flüssigen und festen Zustande der Körper nur darauf, dass die Moleküle im ersten Falle in rapider, im zweiten in etwas schwächerer und im letzten Falle in noch geringerer BeAvegung begriffen sind. Da das also nur ein gradueller Unterschied ist, so lässt sich auch eine scharfe Grenze unmöglich ziehen. So haben wir auch in der lebendigen Substanz verschiedene Grade der Beweglichkeit der Theilchen, d. h. die lebendige Substanz ist im einen Falle leicht-, im anderen dickflüssiger. Im Allgemeinen besitzt sie die Consistenz und Bewegücldceit von rohem Hühnereiweiss, doch kommen auch festere Formen vor, ja, gewisse dauernd bestehende Differenzirungen des Protoplasmas können sogar in einzelnen Fällen die schon nahe an den festen Zustand grenzende Consistenz einer weichen Gallerte haben, ohne aber je die Verschiebbarkeit ihrer Theilchen einzubüssen. Bei Muskelfasern, Geisseifäden, Wimperhaaren, am Zellkern und an der Oberfläche mancher membranloser Protoplasniamassen , z. B. bei Infusorienzellen, haben wir derartige Verhältnisse. Nur in solchen Fällen kann man mit einiger Berechtigung von einer etwas starreren Structur sprechen. Indessen, diese zäheren Consistenzverhältnisse sind immer local in der Zelle beschränkt; die ganze übrige Masse des Zellinhalts ist stets dünner flüssig.

Schliesslich dürfen wir nicht vergessen, dass in der Flüssigkeit allerlei geformte Elemente von der verschiedensten Consistenz auf- geschwemmt sein können, dass wir es also nicht mit einer homogenen Flüssigkeit, sondern mit einem Gemisch oder, wie Berthold es bezeichnet, mit einer „Emulsion" zu thun haben. Aus diesem Grunde erscheint es auch unstatthaft, von einem „Aggregatzustand" des Protoplasmas zu sprechen, wie das von vielen Forschern geschehen ist. Von einem Aggregatzustand kann streng genommen nur bei einer homogenen Substanz die Rede sein, nicht bei einem Gemisch, das Stoffe enthält, die selbst die verschieden- artigsten Aggregatzustände besitzen.

Die flüssige Natur der lebendigen Substanz ist ihre wichtigste physikalische Eigenschaft. Sie verlangt, dass die lebendige Substanz in physikalischer Beziehung den Gesetzen tropfbarer Flüssigkeiten gehorchen muss. Wir werden dem entsprechend und im Gegensatz zu der Vorstellung, welche die Lebensvorgänge nur mit einer festen

7*

100 Zweites Capitel.

Organisation für vereinbar hält, gerade selien, dass sich die Lebens- erscheinungen nur verstehen lassen unter der Voraussetzung eines mehr oder weniger flüssigen Zustandes ihres Substrats, d. h. eines Zustandes, in dem die Theilchen mehr oder Aveniger verschieblich sind. Die Gebilde, welche, wie Sehnen, Bindegewebsfasern, Zellhäute, Knochen- und Knorpelgrundsubstanz etc., eine vollkommen starre Con- sistenz haben, zeigen überhaupt keine activen Lebenserscheinungen, und der alte Satz: „corpora non agunt nisi soluta", wenn er auch in seiner Allgemeinheit hier und dort anfechtbar ist, trifft für die lebendige Substanz durchaus zu.

2. Das s p e c i f i s c h e Gewicht der lebendigen Substanz.

Unter den physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz besitzt ferner für das Verständniss gewisser Lebenserscheinungen ihr specifisches Gewicht eine bemerkenswerthe Bedeutung. Wenn man Zellen der verschiedensten Art oder möglichst reine Gewebestücke in destillirtes Wasser fallen lässt, so beobachtet man fast ganz allgemein, dass sie im Wasser zu Boden sinken. Es stellt sich also heraus, dass der Zellinhalt als Ganzes im Allgemeinen speci fisch schwerer ist, als Wasser, d. h. ein grösseres specihsches Gewicht besitzt, als 1. Jensen^) hat in neuester Zeit eine etwas genauere Bestimmung des specifischen Gewichts der einzelligen Wimper- infusorienform Paramaecium aurelia ausgeführt und zwar in folgender Weise. Bekanntlich kann man durch Zusatz von löslichen Salzen das specifische Gewicht einer Flüssigkeit erhöhen und durch Steigerung der Concentration sehr fein abstufen. Jensen setzte also die Paramaecien in eine schwache Lösung von Kaliumcarbonat, deren Concentration er so lange erhöhte, bis die Paramaecien darin eben nicht mehr zu Boden sanken, sondern mitten in der Lösung schweben blieben, ein Zeichen, dass jetzt die Lösung dasselbe specifische Gewicht besass , wie die Paramaecien körper. Dann wurde mittels eines Araeometers das specifische Gewicht der Lösung bestimmt, und so fand sich, dass der Zellkörper der Paramaecien ein specifisches Gewicht von ungefähr 1,25 besitzt. Im Allgemeinen dürfte Avohl das specifische Gewicht der lebendigen Substanz überhaupt nicht viel höhere Werthe aufweisen. Soweit bis jetzt Erfahrungen vorliegen, handelt es sich immer nur um Werthe, die wenig grösser sind als \.

Allein es giebt gewisse Fälle, in denen das G es ammt gewicht der Zelle Abweichungen von diesem allgemeinen Verhalten zeigt, in denen die Zelle als Ganzes speci fisch leichter ist, als 1. Diese Fälle sind ohne Weiteres verständlich , wenn wir uns wieder erinnern, dass das Protoplasma keine homogene Substanz ist. Ver- gegenwärtigen wir uns z. B. Zellen, bei denen Fetttröpfchen in der Grundsubstanz des Protoplasmas eingelagert sind, so ist es möglich, dass, obwohl die Grundsubstanz specifisch schwerer ist als Wasser, doch die Zelle als Ganzes ein geringeres specifisches Gewicht besitzt, wofern nur die Ansammlung des Fettes, das specifisch bedeutend leichter ist, als Wasser, eine solche Grösse erreicht, dass sie die

^) Paul Jensen: ,,Die absolute Kraft einer Flimraerzelle." In Pflügers Archiv, Bd. 54, 1893.

Voll der leheiuligeu Substanz. \{)\

Schwere des übrigen Protoplasmakörpers ülxu-wicgt, Solclie 1^'ällc sind realisirt in den Fettzellen des Unterliautbiiidegcwcibes heim Mensehen und vielen Thiei-en , die, wenn man sie ins \\'asser wirft, an der ()ber<läclie sehweben bleiben. Fettleibige Mensehen haben aus diesem Grunde beim Schwimmen geringere Anstrengungen zu machen, um sich über Wasser zu erhalten, als magere. Dieselbe Rolle wie das Fett können im Zellkörper noch andere Stoffe spielen, vor Allem Gasblasen, die das speeifisehe Gewicht des Gesammtkörpers der Zelle unter Umstünden enorm herabsetzen können, eine Erscheinung, die z. B. bei manchen schalentragenden Rhizopoden des Süsswassers (Arcella, Dift'lugia) vorkommt.

Es ergiebt sich aus dieser Thatsache, dass die Zelle durch An- häufung leichterer oder schwererer Stoffe ihr specifisches Gewicht unter Umständen activ verringern oder erhöhen und dadurch ohne Benutzung irgend welcher Locomotionsorgane activ im Wasser auf- steigen oder niedersinken kann, eine Fähigkeit, die für das Leben der betreffenden Organismen unter manchen Verhältnissen, z. B. wenn an der Stelle, wo sie leben, die Lebensbedingungen ungünstige werden, von grosser Bedeutung ist. In allen P"* allen aber, wo man Zellen findet, die speci fisch leichter sind, als Wasser, sind es immer nur bestimmte Elemente, niemals das ganze Protoplasma, welche specifisch leichter sind. Die Grundmasse des Protoplasmas scheint stets um ein Geringes specifisch schwerer zu sein, als Wasser.

3. Die optischen Eigenschaften der lebendigen Substanz.

Werfen war schliesslich noch einen flüchtigen Blick auf die opti- schen Eigenschaften der lebendigen Substanz, so iinden Avir, dass das Protoplasma in den meisten Fällen durchaus farblos, grau, in dünnen Schichten, die von geformten Einschlüssen frei sind, durchscheinend, in dicken Schichten undurchsichtig ist und das Licht etwas stärker bricht, als Wasser.

Im Einzelnen verhalten sich auch die mannigfachen Formen der lebendigen Substanz je nach der Beschaffenheit ihrer Bestandtheile verschieden. Einzelne geformte Elemente, wie Fetttröpfchen, Wasser- tropfen , Chlorophyllkörner, können intensiv gefärbt sein , so dass die Zellen, in denen sie in grösserer Anhäufung vorhanden sind, gelb, roth, grün etc. gefärbt erscheinen, wie z. B. bei den Pflanzengeweben. Ebenso ist das Lichtbrechungsvermögen der einzelnen Bestandtheile verschieden, das der Wassertröpfchen in den Vacuolen geringer, das der Fetttröpfchen grösser als das der Grundsubstanz. Es würde zu Aveit führen, auf alle einzelnen Fälle einzugehen, doch ist es von Interesse, das Verhalten Einer Form der lebendigen Substanz, nämlich das der sogenannten contractilen Substanz, d. h. derjenigen Substanz, die, wie das amoeboide Protoplasma, die Flimmerhaare und die Muskelfasern, bestimmte Form Veränderungen (Contractionen) ausführt, näher ins Auge zu fassen.

Bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts fand Boeck, dass gewisse Elemente der quergestreiften Muskelfaser doppelbrechend sind, d. h. das Vermögen haben , einen Lichtstrahl zu zerlegen in zwei Strahlen, die beide mit verschiedener Geschwindigkeit fortgepflanzt

102 Zweites Capitel.

werden j eine Fähigkeit der ^luskelsubstanz. die besonders Brücke später genauer untersuchte. Seitdem hat ExoelmaxnM die Beobachtung gemacht, dass nicht nur diese Schichten des quergestreiften Muskels, sondern überhaupt alle faserig differenzirten contractilen Substanzen, wie die der glatten und quergestreiften Muskelzellen, der contractilen Fasern oder Myoide des Infusorienkörpers, sowie der Wimperhaare und Geisseifäden aller Flimmerzellen , positiv einaxig doppelbrechend sind, und zwar in der Weise, dass ihre optische Axe mit der Faser- richtung zusammenfällt. Diese Thatsache weist darauf hin , dass die Molekularstructur aller dieser Fasergebilde in der Faserrichtung eine andere sein muss, als in den übrigen Richtungen, eine Folgerung, die für das Verständniss der Contractionserscheinungen an diesen Objecten von Bedeutung ist. An dem nackten contractilen Protoplasma der Rhizopoden, z. B. der Arno eben, hat Exgelmann keine Doppel- brechung auffinden können. Nur auf den graden, strahlenförmigen Pseudopodien von A c tino sphaer ium Eichhornii, einem zier- lichen Süsswasserrhizopod, beobachtete er Doppelbrechung, die aber hier höchst wahrscheinlich nicht von dem contractilen Protoplasma herrührt, sondern von starren Strahlen, die sich als Stützorgane in der Axe der Pseudopodien befinden und nachweislich mit der Contraction nichts zu thun liaben.

D. Die chemischen Eigenschaften der lebendigen Substanz.

1. Die organischen Elemente.

Das letzte Dunkel zu erhellen, das die Zusammensetzung der lebendigen Substanz umgiebt, und dadurch die Grundlage zu vollenden, auf der sich das Verständniss der Lebenserscheinungen aufbaut, ist die Chemie berufen, denn die chemische Forschung dringt unter allen Naturwissenschaften am tiefsten in die Zusammensetzung der Körper- welt ein. indem sie vorgeht bis zu den kleinsten Theilen, den Atomen. Bekanntlich ist denn auch die Chemie bis zu dem Punkte gelangt, dass sie die ganze Formenfülle der unermesslichen Körperwelt als zusammengesetzt erkannt hat aus den Atomen einer geringen Zahl verhältnissmässig einfacher Stoffe, die sie bisher noch nicht weiter zu zerlegen vermocht hat. Allein obwohl die Zerlegung der 68 chemischen Elemente bisher mit den analytischen Mitteln der Chemie noch nicht gelungen ist, obwohl ihre Zusammensetzung aus noch einfacheren Stoffen bisher nicht experimentell bewiesen werden konnte, hegt doch kein Chemiker mehr Zweifel, dass in Wirklichkeit diese Elemente keine letzten Einheiten sind. Dementsprechend sind bereits mehrfach Versuche unternommen worden , die Elemente in eine genetische Beziehung zu einander zu setzen und die Verwandtschaft, Avelche sich in der Analogie des chemischen Verhaltens einzelner Elemente und ihrer Verbindungen äussert, als eine natürliche, aus directer Abstammung von einander hervorgegangene Verwandtschaft hinzustellen. Besonders Mendelejeff, Lothar Meyer und in neuester Zeit Gustav Wendt und Preyer haben, gestützt hauptsächlich auf das Verhalten des Atomgewichts der

' Th. W. Engei.mann: „Contractilität und Doppelbrechung." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. XI, 1875.

Voll tlor loljeiidigen Substnuz. 103

Elemente und die Aehnlichkeit gewisser Elemente unter einander in ihrem eigenen Verhalten und dem Verhalten ihrer Verbindungen, mit Gliiek diesen Versuch unternonmien , dessen Erfolg sich bereits in der nachträglichen Entdeckung vorlu^r unbekannter Elemente gezeigt hat, deren Existenz sie aus bestimmten Lücken, welche die Stammtafel der Elemente aufweist, vorhergesagt hatten. Nach Wendt^) und Preyer^) haben sich die Elemente im Laufe der Erdgeschichte durch stufenweise Verdichtung aus einem Urelement, dem Wasserstoff, entwickelt, so dass die Elemente mit höherem Atomgewicht von Elementen mit niedrigerem Atomgewicht und in letzter Instanz alle vom Wasserstoff, dem Element mit niedrigstem Atomgewicht, abstammen. Indessen, hier liört selbst die wissenschaftliche Theorie auf, und das Reich der Hypothese beginnt. Ob der Wasserstoff wirklich die letzte Einheit ist, und in welcher Beziehung seine Atome als ponderable oder Massenatome zu dem imponderablen Weltäther stehen, dessen Existenz die Physik aus den Erscheinungen des Lichts und der Elektricität schliessen zu müssen glaubt, wissen wir vorläufig nicht.

Beschränken wir uns aber auf die Welt der ponderablen Materie, zu der die lebendige Substanz ebenso wie alle anderen Körper gehört, so zeigt uns eine chemische Elementaranalyse der lebendigen Substanz, dass von den 68 Elementen, aus deren Zusammensetzung sich die gesammte Krirperwelt aufbaut, nur die geringe Zahl von 12 Elementen constant in der lebendigen Substanz zu finden ist. Diese 12 Elemente, die in jeder Zelle angetroffen werden, sind:

Name: Zeichen: Atomgewicht:

Kohlenstoff C 12

Stickstoff N 14

Schwefel S 32

Wasserstoff ..... H 1

Sauerstoff O 16

Phosphor P 31

Chlor Gl 35

Kalium K 39

Natrium Na 23

Magnesium Mg 24

Calcium Ca 40

Eisen ....... Fe 56

Neben diesen 12 allgemeinen organischen Elementen kommt noch eine kleine Anzahl speci eil er Elemente vor, die nicht in allen Zellen anzutreffen sind und zum Theil nur ganz sporadisch gefunden werden. Es sind das:

Name: Zeichen: Atomgewicht:

Silicium Si 28

Fluor . Fl 19

Brom Br 80

Jod J 127

Aluminium AI 27

Mangan Mn 55.

') Gustav Wendt: „Die Entwicklung der Elemente." Berlin 1891.

2) W. Preyer: „Die organischen Elemente und ihre Stellung im System." Wies- baden 1891. Derselbe: „Das genetische System der Elemente." In Naturwissensch. Wochenschrift Bd. VI, Nr. 52, 1891 u. Bd. VH, Nr. 1, 2 u. 3, 1892.

104 Zweites Capitel.

Unter ihnen tritt das Silicium weit, das Fluor wenig verbreitet auf, während die anderen, die ebenfalls nur ein sehr beschränktes Vorkommen haben, nebst einigen Metallen, die bisweilen syjurweise in dej- lebendigen Substanz gefunden werden, wie das Kupfer, viel- leicht gar keine Bedeutung für den Lebensvorgang der betreffenden Organismen besitzen, in denen sie beobachtet worden sind.

Aber keins von diesen gesammten organischen Elementen ist aus- schliesslich auf die organische Natur beschränkt.

Der Kohlenstoff findet sich, an Sauerstoff gebunden, als Kohlen- säure in der Luft und massenhaft im kohlensauren Kalk der Sedi- mentgesteine.

Der Wassers to ff bedeckt, ebenfalls an Sauerstoff gebunden, als Wasser den grössten Theil der Erdoberfläche.

Der Sauerstoff ist sowohl frei als Gas in der atmosphärischen Luft vorhanden, die er zu ca. 21 " o zusammensetzt, als auch gebunden an eine grosse Zahl anderer Elemente.

Der Stickstoff kommt gleichfalls sowohl im freien Zustande vor in der Luft zu ca. 79*^ o, als auch gebunden an Wasserstoff und Sauer- stoff' in den Verbindungen des Ammoniaks, sowie der salpetrigen und Salpetersäure.

Der Schwefel ist weit verbreitet in Verbindung mit Sauerstoff in schwefelsauren Salzen.

Der Phosphor verhält sich ebenso und ist in den phosphor- sauren Salzen der Alkalien und alkalischen Erden überall zu finden.

Das Chlor erscheint in ungeheurer Verbreitung, an Natrium ge- bunden, als Kochsalz.

Das Kalium kommt, an Chlor gebunden, als Chloi-kalium und in Verbindung mit Säuren in Form von salpetersauren, schwefelsauren, phosphorsauren Salzen vor.

Das Natrium erscheint hauptsächlich im Chlornatrium oder Koch- salz überall auf der Erdoberfläche, gelöst im Meere sowohl wie in der Erde und als grosse feste Massen in Salzlagern.

Das Magnesium ist ein ständiger Begleiter des Kaliums und Natriums und tritt in denselben Verbindungen auf Avie diese, als Chlor- magnesium, kohlensaure, schwefelsaure und phosphorsaure Magnesia.

Das Calcium setzt in Form von kohlensaurem, kieselsaurem, schwefelsaurem, phosphorsaurem Kalk die ungeheuren Kalkstein- schichten der Sedimentgebirge zusammen.

Das Eisen ist in Form von Schwefelverbindungen, sowie Oxyden und deren Salzen ungemein weit auf der Erdoberfläche verbreitet.

Das Silicium erscheint fast ausschliesslich an Sauerstoff ge- bunden in Form von Kieselsäure und deren Salzen in den Gesteinen der plutonischen Gebirgsmassen.

Das Fluor findet sich hauptsächlich in Verbindung mit Calcium als Flussspath.

Das Brom und Jod ist als Brom-(Jod-)Natrium und Brom-(Jod-) Kalium in vielen Salzlagern, sowie im Meerwasser vorhanden.

Das Aluminium ist in seiner Verbindung mit Sauerstoff zu Thonerde und diese in Verbindung mit Kieselsäure zu Feldspath ein über die ganze Erde verbreitetes Element.

Das Mangan schliesslich, sowie alle anderen Metalle, die ge- legentlich noch hier und dort im lebenden Organismus beobachtet werden, sind in Form ihrer Oxyde, Schwefelverbindungen und der verschiedensten Salze in den Gesteinen der Gebirge überall anzutreffen.

\'uu der lebendigen Substanz. 105

Dieser Uebcrblick zeigt uns schon, dass alle organischen Elemente zugleich die anorganische Körperwelt unserer Erdoberfliiche zusammen- setzen hcltiMi. Da aber ferner die chemische Elenientaranalyse der lebendigen Substanz zu dem Ergebniss gefiUirt hat, dass ausser diesen organischen Eknnenten keine anderen Bestandtheile im Organismus zu finden sind, so ergiebt sich die wichtige Thatsache, dass ebensowenig ein elementarer LebensstofF existirt, wie eine besondere Lebens- kraft. Die Begriffe des „Lebensäthers", des „spiritus animalis", der „Lebensmaterie" etc., mit denen die ältere Physiologie so freigebig umging, sind daher aus der heutigen Lehre vom Leben entsprechend der fort- geschrittenen Entwicklung, welche die analytische Chemie in unserer Zeit durchgemacht hat, vollständig verschwunden, und man weiss, dass die lebendige S u 1j - stanz aus keinen anderen chemischen Stoffen zusammen- gesetzt ist, als die W^elt der leblosen Körper.

Allein auf eine Thatsache verdient doch noch aufmerksam ge- macht zu werden, dass nämlich die wenigen allgemeinen organi- schen Elemente im natürlichen System nicht in bunter Reihe zerstreut hier und dort liegen, sondern dass sie eine bestimmte Stellung ein- nehmen, indem sie sämmtlich als Elemente mit sehr niedrigem Atom- gewicht voran stehen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit ist daher der Schluss zu ziehen, däss die organischen Elemente in der Entw^icklungs- geschichte der Elemente bereits sehr frühzeitig durch Verdichtung entstanden sind, dass sie also bereits in sehr frühen Entwicklungs- stadien unseres Planetensystems existirt haben, zu einer Zeit, wo andere Elemente, Avie z. B, die Schwermetalle, sich noch nicht ge- bildet hatten.

2. Die chemischen Verbindungen der Zelle.

Um den chemischen Aufbau der lebendigen Substanz kennen zu lernen, müssen Avir die lebendige Substanz tödten. So paradox das klingen mag, dennoch ist es vorläufig der einzige Weg, auf dem wir zu einer Kenntniss von dem Chemismus der lebendigen Substanz gelangen können , und wir müssen uns den beissenden Spott , den Mephistopheles vor dem Schüler über diese Praxis der physiologischen Chemie ausgiesst, noch immer ruhig gefallen lassen. In der That ist es nicht möglich, der lebendigen Substanz mit den Methoden der Chemie nahe zu treten, ohne dieselbe zu tödten. Jedes chemische Reagens, das mit ihr in Berührung kommt, zerstört und verändert sie, und was wir dann chemisch untersuchen, ist keine lebendige Substanz mehr, sondern eine Leiche, eine Substanz, die völlig andere Eigen- schaften hat. Wir können daher nur durch Rückschlüsse aus den chemischen Befunden am Leichnam auf die Verhältnisse am lebendigen Object zu Vorstellungen über die Chemie des letzteren gelangen, durch Schlüsse, deren Richtigkeit -wir nur in seltenen Fällen experimentell am lebendigen Object nachzuprüfen in der Lage sind, ein Umstand, der an dem ungemein langsamen Fortschritt unserer Kenntnisse vom Chemismus des Lebensvorgangs allein die Schuld trägt. Dass bei dieser Sachlage die grösste Vorsicht in Bezug auf die Uebertragung der Ergebnisse vom tödten Object auf die Verhältnisse des lebendigen nöthig ist, liegt auf der Hand, und wir müssen uns in jedem Augen-

106 Zweites Capitel.

blick bewusst bleiben, dass die chemischen Verhältnisse am lebendigen Object scharf von denen seines Leichnams zu unterscheiden sind.

Haben wir uns einerseits überzeugt, dass zwischen den Ele- mentarstoffen, welche die lebendige Substanz zusammensetzen, und denen, aus welchen sich die leblose Körperwelt aufbaut, kein principieller Unterschied existirt, dass also kein besonderes Lebens- element in der organischen Welt vorhanden ist, so linden wir doch andererseits, dass einTheil derElemente in der lebendigen Substanz zu ganz eigenthümlichen Verbindungen zu- sammentritt, die nur die lebendige Substanz Charak- ter isiren und in der leblosen Natur nirgends zu finden sind. So haben wir in der lebendigen Substanz neben chemischen Verbindungen, die auch in der leblosen Natur vorkommen, speci fisch organische Atomen- c 0 m p 1 e X e.

Ein grosser Theil dieser organischen Verbindungen und unter ihnen gerade die, welche für die lebendige Substanz von hervor- ragender Bedeutung sind, besitzt eine so complicirte Constitution, dass es der Chemie bisher noch nicht gelungen ist, einen Einblick in die räumlichen Lageverhältnisse der Atome in seinen Molekülen, d. h. in seinen letzten Theilchen, die noch die Eigenschaft des ganzen Stoffes besitzen, zu gewinnen, Avenn auch die procentische Zusammensetzung der Moleküle aus den Atomen der Elemente scl)on etwas genauer bekannt geworden ist.

Drei Hauptgruppen von chemischen Körpern und ihren Um- setzungsproducten sind es vornehmlich, durch deren Vorhandensein sich die lebendige Substanz von der Substanz der leblosen Körper unterscheidet, das sind die Ei weisskörper, die Fette und die Kohlehydrate. Unter diesen drei Gruppen sind nur die Ei weisskörper und ihre Derivate mit Sicherheit ganz allgemein in allen Zellen nachgewiesen worden, so dass man sie als die wesentlichen oder allgemeinen unter den organischen Bestandt heilen der lebendigen Substanz den s ä m m 1 1 i c h e n s p e c i e 1 1 e n gegenüberstellen muss.

a. Die Eiweisskörper.

Die Eiweisskörper (Albuminosen, Proteine) spielen als diejenigen Körper, die für alles Leben, das augenblicklich die Erdoberfläche bevölkert, durchaus unentbehrlich sind, und die ihrer Masse nach den Hauptbestandtheil aller organischen Verbindungen der Zelle ausmachen, die wichtigste Rolle in der Zusammensetzung der lebendigen Substanz. Sie bestehen ausnahmslos aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Schwefel, Stickstoff und Sauerstoff, unter denen der Stickstoff dasjenige Element ist, das die Eiweisskörper den anderen beiden Hauptgruppen der organischen Körper, den Kohlehydraten und Fetten gegenüber besonders charakterisirt, so dass man sie auch als die stickstoffhaltigen den stickstofffreien Körpern gegenübergestellt hat. Ihr Molekül ist zwar seiner stereochemischen Zusammensetzung nach noch nicht be- kannt, aber wir wissen aus einer Reihe von Analysen, bei denen das Molekül in eine grosse Menge noch selbst sehr complicirt zusammen- gesetzter Moleküle gespalten wird, dass es eine ungeheuer complicirte Constitution haben muss und, obwohl es nur die fünf Elemente C, H,

Von der lebendigen Substanz.

107

N, S und O enthält, doch eine Atomenzahl in sich birgt, die oft weit über Tausend geht. Preyer^) hat zuerst im Jahre 1866 eine Analyse des Haenioglobins gemacht, desjenigen Eiweisskörpers, der dorn I^lute und sj)eci('ll den rothon Bhitkörperchen die charakteristische Farbe giebt und als Ueberträger des Sauerstoffs aus den Lungen durch das Blut zu den Zellen der Gewebe eine ilusserst wichtige Rolle im Thierkörper spielt, Preyek fand die Zusammensetzung des llaemo- globinmoleküls:

'-^G00"960^164^ 61^3^179

und obwohl diese Formel Anfangs Befremden erregte, hat seitdem eine Reihe späterer Analysen ganz ähidiche Resultate ergeben^).

So lässt sich nach Grübler's^) Untersuchungen die Zusammen- setzung des krystalHsirten Eiweisses, das in Kürbissamen vorkommt, auf

^292 "481 ^ go^sa'^a berechnen.

ZiNOFFSKY*) fand die Formel des Haemoglobins aus Pferdeblut sogar noch grösser als Preyer, nämlich :

*-^712tlii3oi>o]4.vJ245r eS2

und Formeln von ähnlich hoher Constitution sind auch tür das Ei- weiss, welches das Weisse des Hühnereies bildet, berechnet worden. Aus allen diesen Analysen ergiebt sich, dass das Molekül der Eiweisskörper wegen der Menge der darin enthaltenen Atome ungeheuer gross sein muss.

Die gewaltige Grösse des Eiweissmoleküls erklärt eine wichtige Eigenschaft der Eiweisskörper, dass sie nämlich aus Lösungen, im Gegensatz zu anderen Kör- pern durch th ierische Membranen oder künstliches Pergament nicht di f f u n d i r e n. Bringt man in ein weites Glasrohr, dessen untere Oeffnung mit ei- ner Membran, am besten von künstlichem Pergament, überzogen ist (Fig. 37), eine Lösung von Kochsalz oder einem ande- ren löslichen Salz in Wasser und hängt das Glasrohr in ein Gefäss mit reinem Wasser (h) , so findet man nach kurzer Zeit, dass die Salzlösung in dem inneren Glasrohr bedeutend an Concentration ab- genommen hat, während das Wasser im äusseren Gefäss jetzt einen ebenso grossen Procentgehalt an Salz besitzt, wie die Lösung im inneren Glasrohr. Es ist also Salz aus dem Glasrohr durch die Mem- bran in das äussere Wasser diffundirt, bis der Procentgehalt an Salz in beiden Flüssigkeiten gleich war. Nimmt man aber statt des Salzes

Fi^. 37. Dialysator.

^) Preyer: „De Haemoglobino observationes et experimenta" (Dissertation). Bonn 1866.

2) Yerg^l. Bunge: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie." II. Aufl. Leipzig 1889.

^) Grübler: „lieber ein krystallinisches Eiweiss der Kürbissamen." In Journ. f. prakt. Chemie Bd. 23, 1891.

*) Zinoffsky: „Ueber die Grösse des Haemoglobinmoleküls." In Zeitschrift für physiolog. Chemie Bd. 10, 1885.

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eine Lösung von Hühnereiweiss, die man erhält, Avenn man das Weisse eines Hühnereies mit etwa 100 Cu])ikcentimeter Wasser tüchtig zu- sammenreibt und durchfiltrirt, so kann man. die Lösung im Dialysator, wie man diesen Apparat nennt, Stunden und Tage lang stehen lassen, ohne dass eine Spur von Eiweiss aus dem inneren Rohr in das äussere Wasser diffundirt. Aus der Grösse der Eiweissmoleküle erklärt sich diese Erscheinung sehr einfach: das Eiweissmolekül ist zu gross, als dass es durch die ungeheuer feinen Poren der Membran hindurch- gehen könnte, während den kleinen Molekülen der Salze kein Hinder niss im Wege steht. Für die chemische Untersuchung der Eiweiss- körper ist übrigens diese Eigenschaft von praktischer Bedeutung, denn man kann durch Dialyse die Eiweisskörper von allen Salzen, die etwa mit ihnen zusammen in Lösung sind, immer leicht trennen.

Der Umstand, dass die Eiweisskörper und eine Reihe anderer Substanzen, die sich ähnlich verhalten, nicht durch Membranen dif- fundiren, hat zu der Vorstellung geführt, dass diese Körper im Gegensatz zu den Stoffen, welche durch Membranen diffundiren, keine wirklichen Lösungen bilden, sondern sich nur scheinbar im Wasser aullösen. In Wirklichkeit sei ihre scheinbare Löslichkeit nur eine

I II in

Fig. 38. Haemoglobinkry stalle. I vom Menschen, II vom Meerschweinchen, III vom Eichhörnchen. Nach Kiekes.

sehr weitgehende Quellbarkeit. In der That besitzen die Eiweisskörper in getrocknetem Zustand die Fähigkeit, sehr grosse Mengen Wasser aufzunehmen und dadurch immer mehr und mehr aufzuquellen. Graham^) hat daher schon 1861 diese Stoffe als „Colloidsubstanzen" den „krystalloiden" Körpern gegenübergestellt, und diese Unterscheidung ist seitdem allgemein angenommen und traditionell fortgepflanzt worden. Die Colloide sollten nur quellbar sein und nicht krystallisiren ; die Krystalloide dagegen sollten wirklich löslich sein und krystallisiren können. Allein es ist kaum statthaft, eine solche scharfe Unter- scheidungzutreffen. Einerseits nämlich finden sich Eiweisskörper, welche echte Krystalle bilden können, wie die bereits ge- nannten Eiweisskörper in den Kürbiskernen, die als Aleuronkörner in Pflanzensamen weit verbreitet vorkommen, und Avie ferner das Haemoglobin der rothen Blutkörperchen. Schüttelt man z. B. ge- schlagenes MeerscliAveinchenblut längere Zeit mit etwas Aether, wodurch das Haemoglobin aus der Substanz der rothen Blutkörperchen aus- gezogen und in die Blutflüssigkeit übergeführt wird, und lässt einen Tropfen dieser Flüssigkeit auf einer Glasplatte langsam verdunsten,

') Graham, in Philosophical transactious. Vol. 151. Part I, 1861.

Von der lobendij^en 8ubst;in/,. |fJ9

«0 .seliculon sich ullmühlich «ehr zierlich(3 tetraedert'ürmige Krystalle aus (Fig-. 3811), die reines Hacmof^h)bin vorstellen. Andererseits aber lassen sich die Eiweisskörper durch Einwirkung bestimmter Reagentien überfiih ren in j\[ o d i f i c a t i o n e n , welche durch M e ni b r a n e n d i ffun d i ren. ohne dabei die chemischen Eigenschaften der Ei- weisskörper verloren zu liabon. Diese Moditicationen, die z. H. die Eiweisskörper unter dem EinHuss der Verdauungssäfte des Magens und des Pankreas im Körper erleiden, werden als „Peptone" be- zeichnet, und man weiss, dass sie durch Spaltung des ursprüng- lichen Eiweissmoleküls unter Wasseraufnahme entstehen, dass sie die Hydrate der ursprünglichen Eiweisskörper vorstellen. Aus dieser Thatsache ergiebt sieh eine wichtige Schlussfolgerung. Da das Eiweiss- molekül, das ursprünglich wegen seiner enormen Grösse nicht diffu- sibel ist, bei der Peptonisirung gespalten wird in Peptonmoleküle, die viel kleiner und daiier diftusibel sind, die aber in chemischer Be- ziehung die Eigenschaften der Eiweisskörper haben , so folgt daraus, dass das Eiweissmolekül kein einfaches Molekül ist, sondern ein polymeres Molekül, d. h. ein Molekül, das aus einer kettenartigen Verknüpfung vieler gleichartiger Atom- gruppen besteht. Bei dem Uebergang in den Peptonzustand zerfällt das Eiweissmolekül unter Hydratation in die einzelnen gleichartigen Atomgruppen, die zwar noch sämmtlich die chemischen Eigenschaften der Eiweisskörper haben, aber viel kleinere Moleküle vorstellen. Die Unfähigkeit der Eiweisskörper, durch Membranen zu diffundiren, hängt also einzig und allein von ihrer Polymerie ab, und wir haben ganz analoge Fälle auch in der anorganischen Natur, wo wir z. B. gewisse Formen der Kieselsäure wegen ihrer Polymerie nicht durch Membranen diffundiren sehen. Nach alledem liegt es auf der Hand, dass ein principieller Unterschied in der Lösung einfacher Moleküle, wie sie die Peptone bilden, und polymerer Moleküle, wie sie das gewöhnliche Eiweiss zusammensetzen, nicht existirt.

Mit der Polymerie des gewöhnlichen Eiweissmoleküls hängt viel- leicht eine weitere physikalische Eigenthümlichkeit zusammen, die fast allen Eiweisskörpern mit Ausnahme ihrer Hydrate, der Peptone, zu- kommt, das ist die Fähigkeit zu gerinnen, zu coaguliren. Die Gerinnung besteht in einem Uebergang des Eiweiss aus dem ge- lösten in einen festeren Zustand innerhalb des Lösungsmittels, Ein Mittel, das fast alle Eiweisskörper zur Gerinnung bringt, ist das Kochen. In einem frischen Hühnerei ist das Eiweiss in einer dicken, klaren, fadenziehenden Lösung vorhanden. Im gekochten Hühnerei dagegen ist es zu einer festen , weissen , undurchsichtigen Masse ge- worden, es ist coagulirt. Aus dünnen Lösungen kann sich das Eiweiss beim Kochen in Gestalt von feinen geronnenen Flocken ausscheiden. Indessen auch andere Mittel bringen das Eiweiss in seinen Lösungen zur Gerinnung und fällen es unter Trübung der Flüssigkeit durch Coagulation aus, wie z. B. anorganische Säuren und Alkohol. Dass die Coagulationsfähigkeit mit der Polymerie in irgend einem Zusammen- hang steht, dafür scheint die Thatsache zu sprechen, dass auch an- organische, polymere Moleküle, wie die eben erwähnte Kieselsäure, in Avässeriger Lösung zu einer Gallerte gerinnen können. Stellt mau z. B. Kieselsäure dar, indem man zu einer Lösung von kieselsaurem Natron Salzsäure hinzusetzt, wobei neben Kochsalz, freie Kieselsäure entsteht, so kann man durch Dialyse die Kieselsäure von dem Koch-

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salz trennen, da sie als polymerer Körper mit sehr grossen Mole- külen im Gegensatz zu der Kochsalzlösung nicht durch Membranen diffundirt. Diese Kieselsäurelösung kann man aber durch Zuleiten einiger Kohlensäureblasen sofort in eine geronnene gallertähnliche Masse verwandeln.

Da unsere Kenntniss von der chemischen Zusammensetzung der Eiweisskörper bisher noch eine sehr lückenhafte ist, so fehlen uns vorläufig auch noch die Anhaltspunkte, um bestimmte chemische Reactionen mit ihnen zu machen. Trotzdem hat man empirisch eine Keihe von Eiweissproben ermittelt, welche für die Eiweisskörper charakteristisch sind und so in Zweifelsfällen die Anwesenheit von Eiweiss ermitteln lassen. Was bei diesen Eiweissproben das Eiweiss- molekül für chemische Umsetzungen erfährt, darüber ist freilich kaum etwas bekannt. Die gebräuchlichsten der Eiweissproben, von denen eine allein indessen nicht immer ausreicht, um mit vollkommener Sicherheit den Eiweissnachweis zu führen, sind folgende:

1. Die Xantho proteinprobe, die darin besteht, dass eine Ei- weisslösung durch Kochen mit Salpetersäure gelb gefärbt wird, eine Farbe, die bei Zusatz von Ammoniak in Orange übergeht.

2. Die Biuretprobe: Macht man eine Eiweisslösung mit Kali- oder Natronlauge alkalisch, so nimmt_sie im Kalten bei Zusatz eines Tropfens Kupfersulfatlösung eine klare, violette Farbe an.

3. Die Millonsche Probe: Mit einer Lösung von Quecksilber- nitrat und etwas salpetriger Säure längere Zeit gekocht, wird das coagulirte Eiweiss rosenroth gefärbt.

4. Die Salzsäure probe: Kochen mit concentrirter Salzsäure löst die coagulirten Eiweisskörper unter Violettfärbung der klaren Flüssigkeit.

5. Die Ferrocy an kalium probe: Eine Eiweisslösung, die mit Essigsäure versetzt ist, zeigt bei Zusatz von etwas Ferrocyan- kaliumlösung eine weisse Trübung.

6. Die Jodprobe: Als gutes mikroskopisches Erkennungsmittel der Eiweisskörper dient Zusatz von Jodtinctur oder einer Lösung von Jod in Jodkalium. Durch das Jod werden die Gerinnsel gelbbraun gefärbt.

Ausser diesen Proben ist noch eine grosse Reihe anderer von ver- schiedenen Forschern angegeben worden, die aber in einzelnen Fällen im Stich lassen.

Man kann unter den Eiweisskörpern nach dem verschiedenen Ver- halten ihrer Löslichkeit in Wasser drei Gruppen unterscheiden, die Albumine, Globuline und Vitelline^).

Die Albumine sind in reinem Wasser ohne Weiteres löslich. Zu ihnen gehört z. B. das Eieralbumin, welches die grosse Masse des Eiereiweiss bildet, ferner das Serumalbumin, ein Albuminkörper, der in der Blutflüssigkeit enthalten ist, das Muskelalbumin, der in Wasser lösliche Eiweisskörper der Muskelzellen, und das Pflanzenalbumin, das im Zellsaft der Pflanzenzellen gelöst ist.

Die Globuline sind nur in Wasser löslich, wenn dasselbe neutrale Salze, aber nicht bis zur Sättigung enthält. Sättigt man dagegen eine Globulinlösung mit Salzen, so fällt das Globulin in Flocken aus, eine Erscheinung, die als „Aussalzen" bezeichnet wii'd, und ebenso fällt das

E. Neumeistee : „Lehrbuch der physiologischen Chemie." I. Theih Jeua 1893.

Von der li'l)i'ii(lii;:('ii Substanz. \W

Globulin aus. wt'iiu man die Lösung- durcii Diffusion im Dialysator von den »Salzen ganz betVeit. Zu den (ilobulinen gehört z. B. das Serumglobulin, das ebenfalls in der Blutfiüssigkeit gelöst ist, ferner das Fibrinogen, der dritte Eiweisskörper des Blutes, der beim Stehen- lassen des Blutes ausserhalb der Blutgefässe schon von selbst zu Fibrinfloeken und -fasern gerinnt, dann das Myosin, der Globulinkörper der jNIuskeln, der ebenso beim Stehenbleiben von selbst eoagulirt, eine Erseheinung, die z. B. im absterbenden Muskel bei der Todtenstarre eintritt, und sehliesslich das l'ffanzenglobulin, das dem Inhalt der Ge- treidekörner seine klebrige Besehafi'enheit verleiht und daher auch als „Kleber" bezeichnet Avorden ist.

Die Vitelline endlich sind ebenfalls nur in neutralen Salz- lösungen löslich, werden aber durch Sättigung der Lösung mit Salzen im Gegensatz zu den Globulinen nicht ausgefallt. Hierhin gehören z, B. die sogenannten Dotterplättchen des Eidotters und die schon er- wähnten Aleuronkörner der Pflanzensamen, die beide krystallisirende Eiweisskörper vorstellen.

Während die eben angeführten Eiweisskörper in freiem Zustande in der lebendigen Substanz vorkommen, ist ein sehr grosser Theil aller Eiweisskörper nicht frei , sondern an andere Stoflte chemisch ge- bunden. Bei diesen Verbindungen der EiAveisskörper, die man auch als „Proteide" den einfachen Eiweisskörpern oder Proteinen gegenübergestellt hat, verhält sich das Eiweissmolekül chemisch im Allgemeinen wie eine schwache Säure, und man kann es durch Zusatz stärkerer Säuren vielfach aus seinen Verbindungen verdrängen, wobei die stärkere Säure an seine Stelle tritt. Dann wird das Eiweiss frei. Eine der wichtigsten Eiweissverbindungen lernten wir bereits kennen, das Haemo globin, das im Blut eine so hervorragende Rolle spielt und eine Verbindung von Eiweiss und Eisen vorstellt. Die ver- breitetsten Verbindungen aber, in denen die Eiweisskörper ausnahmslos in jeder Zelle auftreten, sind die Nucleine. Die Nucleine stellen, wie Altmann ^) gezeigt hat, Verbindungen von Eiweiss mit Nuclein- säure vor, einer Säure, die selbst eine Verbindung ist von Phosphor- säure mit eigenthümlichen basischen Körpern, den sogenannten Nuclein- basen : Guanin, Adenin, Xanthin und Hypoxanthin. Indessen auch die Nucleine können wieder weitere Verbindungen eingehen , und zwar nochmals mit Eiweiss, und diese äusserst complicirten Verbindungen werden als Nucleoalbumine bezeichnet. Ein solches an Kalk ge- bundenes Nucleoalbumin ist das Casein, ein Körper, der den physio- logischen Chemikern lange Zeit SchAvierigkeiten gemacht hat. Das Casein ist das an Kalk gebundene Nucleoalbumin der Milch, das zum Käse verarbeitet Avird und die Eigenthümlichkeit hat, beim Kochen der Milch nicht zu gerinnen, Avährend es, Avenn man es etAva durch Essig- säure von dem Kalk trennt, sofort ausfällt. Eine vierte Gruppe von EiAveissverbindungen sind die G 1 y c o p r o t e i d e , in denen das EiAveiss mit einem Kohlehydrat verbunden ist und unter denen vor'AUera das in den Zellen der Schleimdrüsen enthaltene Mucin, der Schleim, eine wichtige Rolle spielt.

1) Altmann : „lieber Nucleiusäuren." Arch. f. Physiol. von Du Bois-Reymond 1889.

112 Zweites Capitel.

xseben den echten Eiweisskörpern , die wir soeben charakterisirt haben, existirt schliesslich eine Anzahl von Körpern, die sich in mancher Beziehung ähnlich verhalten, wie die Eiweisskörper, und des- halb als Albuminoide bezeichnet worden sind. Die Gruppe der Albuminoide ist eine wahre Rumpelkammer in der physiologischen Chemie. Sie enthcält die verschiedenartigsten Körper, die theilweise wohl Verbindungen von Eiweisskörpcrn, theilweise Körper von ähn- licher Constitution wie die Eiweisskörper sind , die aber in ihrem chemischen Verhalten viel weniger Gleichartigkeit zeigen und noch viel weniger bekannt sind, als die Eiweisskörper selbst. Vor Allem gehört zu den Albuminoiden ein grosser Theil derjenigen Stoffe, die von der Zelle producirt werden, um als Skelettsubstanzen zur Stütze weicherer Theile des Organismus zu dienen. Ein näheres Eingehen auf die bis- her bekannten Reactionen, welche die einzelnen der zahlreichen Albu- minoidkörper liefern , würde zu weit führen und für unsern Zweck überflüssig sein^). Es genügt, einige der wichtigsten Körper, die sämmtlich in festem, ungelöstem Zustande auftreten, hier anzuführen. Solche zu den Albuminoiden gezählte Körper sind das Keratin, das in den meisten, von den Epidermiszellen der Haut producirten Horn- gebilden (Hörner, Hufe, Haare, Federn, Nägel etc.) enthalten ist, das E 1 a s t i n , das die elastischen Fasern der Zellen des Bindegewebes und das mächtige gelbe Nackenband zusammensetzt, das Kollagen, das die organische Grundsubstanz der Knochen und Knorpel ausmacht und unter Wasseraufnahme beim Kochen in Leim übergeht, das S p 0 n g i n , die Skelettsubstanz der Badeschwämme, das Conchiolin, die organische Substanz der Muschel- und Schneckenschalen, das Cornein, die der Korallen, und viele andere Substanzen, die be- sonders bei wirbellosen Thieren skelettbildend auftreten.

Zu den Albuminoiden wird vielfach auch eine Reihe hochcompli- cirter stickstoffhaltiger Körper gerechnet, die jedenfalls Derivate der Eiweisskörper sind und im Leben des Organismus, vor Allem für die Verdauung, die grösste Bedeutung besitzen. Das sind die gelösten Fermente oder Enzyme, wie z. B. das Pepsin, das die Drüsen- zellen des Magens, das Ptyalin, das die Zellen des Pankreas und der Speicheldrüsen, das Trypsin, das ebenfalls die Pankreaszellen produ- ciren, und viele andere. Auf die Eigenthümlichkeiten dieser Körper und ihre Rolle im Leben der Zelle werden wir an einer andern Stelle näher einzugehen haben.

Als ständige Begleiter der Eiweisskörper in der lebendigen Sub- stanz treten gewisse Zersetzungsproducte des Eiweisses auf, die wir in zwei Gruppen, nämlich in stickstoffhaltige und stickstoff- freie Spaltungsproducte, trennen und an dieser Stelle verzeich- nen können. Werfen wir zuerst einen Blick auf die stickstoff- haltigen S palt ungskörper, so treten wir mit ihnen bereits in die Reihe derjenigen Stoffe ein, deren chemische Constitution schon genauer bekannt ist. Es sind das die sogenannten „Stoffe der re- gressiven Ei Weissmetamorphose". Dahin gehören vor Allem die bei höheren Thieren durch den Harn in grösserer Menge ausgeschiedenen

^) Eine Uebersicht und zugleich die einschlägige Literatur findet sich in Neü- .meistee: „Lehrbuch der physiologischen Chemie." Theil I. Jena 1893.

Vdii der lebendigen Substanz. 113

Stofte. Unter diesen steht in erster Keilic der Harnstoff (NIl2)2CO, der von allen stickstofflialtigen Endprodukten der Eiweisszersetzung der stickstoffreichste ist, und dessen künstliche Synthese bereits W(")Iiler im Jahre 1878 gelang. Nächst dem Harnstoff enthält am niuisten Stick- stolf die Harnsäure ('5II4N4O3; ihr reiht sich die Hippursäurc an und das aus der Eiweisszersetzung in den Muskeln stammcnfle Kroatin und Kreatinin. Ferner sind die bereits erwähnten Nucleinbasen, wie X a n t h i n , 1 1 y p o x a n t h i n oder Sarkin, Aden in und Guanin, als Endproducte der Zersetzung von Nuclcinen im lebendigen Organismus angetroffen worden, von denen namentlich das letztere, an Kalk gebunden , sehr häufig in den Hautzellen von Am- phibien und Fischen vorkommt, in denen seine Krystalle den bekannten Silberglanz erzeugen. Schliesslich ist noch eine Gruppe stickstoffhaltiger Körper, die Lecithine, welche den Fetten nahe stehen, aber phosphor- säurehaltig sind und nach Hoppe-Seyler wahrscheinlich in keiner lebendigen Zelle fehlen, als Spaltungsproducte der Eiweisskörper und speciell wohl der Nucleine zu betrachten, mit denen sie zusammen vorkommen.

Unter den stickstofffreien Endproducten der Eiweiss- zersetzung steht allen voran die von jeder Zelle producirte Kohlen- säure. Ferner sind wichtig die Milchsäure, die Oxalsäure und die Schwefelsäure. Auch haben wir jedenfalls als Derivate der Eiweisskörper die Cholestearine anzusehen, die in aller leben- digen Substanz vorzukommen scheinen, aber nur unter bestimmten Verhältnissen in Form von perlmutterglänzenden Schüppchen zu grösserer Anhäufung gelangen, wie z. B. an der Oberfläche der Haut und am Schnabel der Vögel, sowie in pathologischen Zuständen als Gallensteine in der Galle. Ihrer chemischen Natur nach sind die Cholestearine einwerthige Alkohole, die mit Fettsäuren fettähnliche Verbindungen eingehen können. Schliesslich treten als Producte des Eiweissumsatzes im Körper noch auf: gewisse Kohlehydrate, speciell der Traubenzucker und das Glykogen, sowie Fette, die wir wieder etwas eingehender und im Zusammenhange mit ihren Verwandten zu betrachten haben.

b. Die Kohlehydrate.

Im Gegensatz zu den Eiweisskörpern sind die Kohlehydrate frei von Stickstoff. Sie enthalten nur die drei Elemente: Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, und zwar bei den natürlichen Kohlehydraten immer in der typischen Weise, dass die Anzahl der Kohlenstoffatome im Molekül sechs oder ein Mehrfaches von sechs beträgt, während die Anzahl der Wasserstoff^itome stets das Doppelte von der Anzahl der Sauerstoffatome giebt, so dass also Wasserstoff und Sauerstoff in dem- selben gegenseitigen Verhältniss wie im Wasser vorhanden sind, ein Umstand, der eben zu der Bezeichnung „Kohlehydrate" geführt hat. Die Kohlehydrate sind zwar ebenfalls weit verbreitet und besitzen namentlich für den Aufbau der lebendigen Substanz in den Pflanzenzellen eine sehr grosse Bedeutung, aber es giebt doch Formen der lebendigen Substanz, in denen die Kohlehydrate nicht nachgewiesen werden konnten; sie sind also nicht allgemeine Bestandtheile der lebendigen Substanz. Die Gruppe der Kohlehydrate bietet ferner chemisch bei Weitem einfachere Verhältnisse, als die der Eiweisskörper,

Verworn, AUgemeiue Physiologie. 2. Aufl. 8

]14 Zweites Capitel.

SO dass wir uns in einem kurzen Ueberblick die wesentlichsten Momente leicht vorführen können.

Man kann die natürlichen Kohlehydrate eintheilen in Mono- saccharide^ Disaccharide und Polysaccliaride , von denen die beiden letzten Gruppen verschiedene Anhydritformen der ersten Gruppe sind.

Die Monosaccharide haben nämlich sämmtlich die Formel CßHigOß, sind also unter einander isomer. Indessen sind nicht alle stereoisomer, d. h. sie haben nicht alle die gleiche Gruppirung der einzelnen Atome. Zu den Monosacchariden gehören hauptsächlich der Traubenzucker (Dextrose oder Glykose) und der Fruchtzucker (Laevulose), beide in Pflanzensäften, erstere in grosser Menge auch in thierischen Geweben weit verbreitet. Eine der bemerkenswerthesten Eigenschaften der Monosaccharide besteht darin, dass sie leicht Sauer- stoff aus ihrer Umgebung aufnehmen und in Folge dessen sauerstoff- reiche Körper reduciren, eine Eigenthümlichkeit, auf der die wichtigsten Proben zu ihrer Erkennung beruhen. Die zuverlässigsten dieser Reductionsproben sind die TßOMMER'sche Probe und die BöxTGER'sche Probe. Die Ausführung dieser Proben im lieagenzglas ist sehr einfach. Die erstere besteht nämlich darin, dass von einer alkalisch gemachten Traubenzuckerlösung Kupferoxydhydrat zu Kupferoxydul reducirt wird. Setzt man daher zu einer mit Kali- oder Natronlauge alkalisch gemachten Zuckerlösung wenige Tropfen einer stark verdünnten Kupfer- sulfatlösung, bis ein blauer, flockiger Niederschlag von Kupferoxyd- hydrat ausfällt, so wird beim Kochen das Kupferoxydhydrat zu rothem Kupferoxydul oder gelbem Kupferoxydulhydrat reducirt. Bei der BöTTGER'schen Probe setzt man zu der alkalisch gemachten Trauben- zuckerlösung einige Tropfen basischer Wismuthnitratlösung; dann wird die letztere zu schwarzem metallischem Wismuth reducirt. Eine weitere sehr charakteristische Eigenthümlichkeit der Monosaccharide ist ihre Gährungsfähigkeit. Sie werden nämlich durch Hefezellen (Saccharo- myces) gespalten in Alkohol und Kohlensäure:

GßHioOe = 2 C0H5OH + 2 CO2.

Man stellt solchen Gährungsversuch am besten in einem Gährungs- gläschen (Fig. 39) an, indem man dasselbe mit einer Traubenzucker- lösung füllt, die mit frischer Bierhefe gemischt ist, so dass die Flüssig- keit den langen, oben blind geschlossenen Schenkel des Gläschens vollständig ausfüllt. Bei einer Temperatur von ca 30—40^ C. tritt alsdann eine ziemlich energische Spaltung des Traubenzuckers ein, in- dem fortwährend wie in einem Glase Sect kleine Kohlensäurebläschen aufsteigen und sich an dem oberen Ende ansammeln. Je mehr Kohlen- säure sich oben ansammelt, um so mehr wird die Flüssigkeit aus dem langen Schenkel heraus in den kugligen Theil des Gläschens ge- drängt, bis schliesslich der ganze lange Schenkel mit Kohlensäure ge- füllt ist. Am Geruch der Flüssigkeit erkennt man ohne Weiteres die Anwesenheit von Alkohol. Schliesslich sei noch eine Eigenschaft der Monosaccharide, die sie mit allen löslichen Kohlehydraten theilen, er- wähnt, das ist ihre Fähigkeit, die Ebene des Polarisati^nsapparats zu drehen, und zwar, wie ihr Name bereits sagt, die Dextrose, nach rechts, die Laevulose nach links.

Die Disaccharide können wir uns aus den Monosacchariden entstanden denken, indem zwei Moleküle der letzteren zusammen- getreten sind und zusammen ein Molekül Wasser verloren haben, so

Voll (Ut libondigen Substanz.

iir,

dass wir fiir sie die Formel gewinnen: (>i.jir>j< Si- Unter den l)i- sacchariden sind vor Allem bemerkcnswertli der Rohrzucker (Sac- charose), der im Zellsatt des Zuckerrohrs in grossen Mengen enthalten ist, und der IM i 1 c hzucke r (Lactose), das Kohlehydrat der Milch. Durch gewisse jNIittel, Avie Koch(ni mit verdünnten anorganischen Säuren oder Einwirkung bestimmter Bakterien , kann man die Disaccharide unter Wasserautnahme zerspalten , so dass sie wieder in die Mono- saccharide übergehen, von denen sie abstammen. Diese Ueberführung wird als „Invertirung" bezeichnet. In Berührung mit gewissen Gährungserregern , besonders dem Bacterium lacticum, werden die Disaccharide zwar nicht direct zur Gährung veranlasst, wohl aber zunächst in Monosaccharide übergeführt, die nun ihrerseits der gäliren- den Wirkung dieser Organismen zugänglich sind. Dabei entsteht,

a h 1 11

Fig. 39. Gcährung'sröhrchen; « frisch gefüllt, Fig. 40. /Pflanzenzelle mit i mit Kolilensäure-Entwicklung. In dem geraden Stärkekörnern. // Stärke- Schenkel hat sich bereits ein Quantum Kohlen- körn er isolirt. a von der Kar- säure oben angesammelt. tofiel, b vom Mais, c von der Erbse.

w^enn man Bacterium lacticum als Gährungserreger benutzt, Milchsäure :

CgHigOe = 2 CaHgOa ein Vorgang, der gegenüber der alkoholischen Gährung durch Hefe- pilze als Milchsäuregährung bezeichnet wird, und auf dem das Sauer- werden der offen an der Luft stehenden Milch beruht. Unter Ein- wirkung eines andern Gährungserregers, des Bacillus butyricus, kann schliesslich die Milchsäure noch weiter zerlegt werden, und zwar in Buttersäure, Kohlensäure und Wasserstoff:

2 C3H6O3 = C^HgOa -h 2 CO2 4- 4 H, so dass sich also der Alkohol- und Milchsäuregährung noch eine Buttersäuregährung zugesellt.

Die Polysaccharide schliesslich stellen noch weitergehende Anhydritstufen der Monasaccharide vor, indem sich mehrere Mono- saccharidraoleküle unter Verlust je eines INIoleküls Wasser vereinigen, so dass ihre Formel ein Mehrfaches von CßHioOg vorstellt. Unter den Polysacchariden befindet sich eine Reihe von Körpern, von denen die

8*

\\Q Zweites Capitel.

einen im Leben der Pflanzcnzelle, die anderen in vielen thierischen Zellen eine wichtige Rolle spielen und Aveit verbreitet sind. Das ist vor Allem die kStärke. die in Form von concentrisch geschichteten Körnchen (Fig. 40) in allen grünen Zellen der Pflanzen auftritt, ferner das Glykogen, das als Schollen und Krümel besonders in den Zellen der Leber, aber in geringer Menge auch in vielen anderen Gewebe- zellen vorkommt, und schliesslich die Cellulose, die sämmtliche Zellmembranen der Pflanzenzellen bildet und auch im Thierreiche in dem lederartigen Mantel der Tunicaten nachgewiesen Avorden ist. Diese Körper der Polysaccharidgruppe unterscheiden sich Scämmtlich von einander in sehr chai'akteristischer Weise durch ihr Verhalten gegen Jodlösungen. Stärke wird nämlich durch Jod intensiv l)lau, Glykogen mahagonibraun und Cellulose gar nicht, sondern nur bei Anwesenheit von Jod und Schwefelsäure blau gefärbt.

Xeben den freien Kohlehydraten existiren schliesslich Verbin- dungen von Kohlehydraten in der lebendigen Substanz, z. B. mit Eiweisskörpern, von denen wir als Beispiel das Mucin bereits oben kennen gelernt haben.

Ebenso haben wir schon die wesentlichsten Zersetzungspro- ducte der Kohlehydrate berührt, die, wie Milchsäure, Buttersäure, Kohlensäure etc., auch sämmtlich in der leben- digen Substanz angetroffen werden können.

c. Die Fette.

Auch die Fette gehören nicht zu den allgemeinen Bestandtheilen der lebendigen Substanz, sind aber hauptsächlich in thierischen Zellen weit verbreitet. Ebenso wie die Kohlehydrate sind die Fette stickstofffrei und enthalten nur die Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff'. Aber sie unterscheiden sich ihrer chemischen Natur nach wesentlich von den Kohlehydraten. Sie stellen nämlich sogenannte zusammengesetzte Ester vor, d. h. Verbindungen, in denen sich eine Säure mit einem Alkohol unter Wasseraustritt vereinigt hat. Der Alkohol, der allen Fetten zu Grunde liegt, ist das Gly c erin C3H5(OH)3, und die Säuren, die an das Glycerin gebunden sind, gehören der F e 1 1 s ä u r e r e i h e an , deren allgemeine Formel CJi.2n0.2 ist. Da das Glycerin einen dreiwerthigen Alkohol repräsentirt, so sind in den neutralen Fetten immer drei Atome der Fettsäuren mit einem Atom Glycerin zu Triglyceriden verbunden. Die allgemeine Formel der Fette ist daher:

C3H5(OH )3 + 3 C„H,,02 3 HoO. Als Beispiele der Fettsäuren mögen hier angeführt sein die Palmitin- säure, Stearinsäure, Buttersäure, Valeriansäure und Kapronsäure. Da- neben kommt noch die nicht zur normalen Fettsäurereihe gehörende Oelsäure an Glycerin gebunden vor in den verschiedenen Oelen.

Entsprechend dieser Zusammensetzung lassen sich die neutralen Fette, wie das z. B. im Organismus unter dem Einfluss verdauender Säfte geschieht, durch bestimmte Mittel unter Wasseraufnahme in ihre Bestandtheile, d. h. in Glycerin und freie Fettsäuren, zerlegen. Diese Spaltung tritt z. B. ein , wenn man neutrale Fette mit alkalischen

Von der lubondigcu Suljstanz. 117

P^liis.sigkcitcii, etwa Kali- oder Natronlaufi^e, kocht. Daljci verbinden sich die tVt'iwerdondeii Fettsäuren mit dem Alkali und bilden die so- genauTitcn Seifen, die man als Kali-, Natron-, Kalkseifen etc. unter- scheidet.

Die Fette sind sämmtlich leichter als Wasser und lösen sich im Wasser nicht. Dagegen sind sie leicht löslich in Aether. Eine charak- teristische Eigenschaft schli(3sslich, die für die mikroskoj>isch(! Er- kennung von Fetttröpfchen in der Zelle Bedeutung hat, ist ihre J'^ähig- kt'it, Ueberosmiumsäun; zu reduciren zu metallischem ( ).smium, das sich als schwarzer Ueberzug auf den Fettkügelchen aldagert. Indessen ist diese Osmiunisäurereaction filr die Fettdiagnose allein nicht als sicheres Kriterium zu verwenden , denn es giebt zweifellos noch andere redu- cirende Stoffe, die unter gewissen Umständen sich durch Osmium schwärzen können. Daher ist die Osmiumreaction des Fettes immer nur im Verein nn't den anderen Momenten, Löslichkeit in Aether, starkes Lichtbrechungsvermögen etc., für die Diagnose zu benutzen.

Dass die Fette ebenso Avie die Kohlehydrate als Spaltungsproducte der Eiweisskörper auftreten können, haben wir l)ercits verzeichnet.

d. Die anorganischen Bestandtheile der lebendigen Substanz.

Ebenso wie wir unter den organischen Verbindungen der Zelle die unbedingt allgemeinen Bestandtheile (Eiweisskörper) den speciellen (Kohlehydrate und Fette) gegenüberstellen konnten, so können wir auch unter den anorganischen dieselbe Scheidung treffen.

Das vorwiegende Interesse haben davon begreiflicher Weise wieder die allgemeinen anorganischen Bestandtheile, unter denen wir das Wasser, die Salze und die Gase unterscheiden.

Das Wasser ist derjenige Bestandtheil der lebendigen Substanz, der ihren flüssigen Zustand erzeugt und dadurch die leichte Verschieb- barkeit der Theilchen ermöglicht, die unbedingt noth wendig ist für das Zustandekommen der Leliensvorgänge. Es ist tlieils chemisch ge- bunden als „Constitutionswasser", theils frei als Lösungsmittel der ver- schiedensten Stoffe in der Zelle enthalten. Dementsprechend ist das W^asser in reichlicher Menge vorhanden, so dass es an Gewicht durch- schnittlich über 50*^/0 der lebendigen Substanz ausmacht. Untersucht man z. B. den gesammten Wassergehalt des menschlichen Körpers, der bei der grossen Mannigfaltigkeit der verschiedensten Gewe})e- formen eine gute Durchschnittszahl liefert, so findet man, wie sich besonders aus den eingehenden Untersuchungen Bezold's ergiebt, etAva 59 '"o Wasser. Die verschiedenen Gewebe verhalten sich dabei sehr verschieden. So enthalten die Knochen nur etwa 22 ''/o, die Leber 69 "/o, die Muskeln 75 "o und die Nieren 82 °/o Wasser. Hier- nach kann es nicht auffallen, wenn der Wassergehalt der lebendigen Substanz zwischen verschiedenen Thierarten noch viel mehr schwankt, und wenn wir zwischen den geringen Spuren von Wasser, die ein eingetrocknetes, aber noch lebensfähiges Räderthierchen enthält, und dem mehr als 98 '^, o betragenden Wassergehalt gewisser , pelagisch lebender Rippenquallen alle Uebergänge im Procentgehalt antreffen.

Im Wasser gelöst finden sich ferner viele Salze, die in keiner lebendigen Substanz fehlen. Ganz besonders wichtig scheinen zu sein die Chlorverbindungen, sowie die kohlensauren, schwefelsauren und phosphorsauren Salze der Alkalien und alkalischen Erden, also vor

WS Zweites Capitel.

Allem das Chlornatrium (Kochsalz), Chlorkalium, Chlorammonium, sowie kohlensaures, schwefelsaures und phosphorsaures Natrium, Kalium, Magnesium, Ammonium und Calcium.

Schliesslich kommen von Gase n in aller lebendigen Substanz vor der Sauerstoff und die Kohlensäure, und zAvar, soweit sie nicht chemisch gebunden sind , fast stets in Wasser absorbirt , selten , wie z. B. bei manchen einzelligen Organismen, den Rhizopoden, in Form von Gasblasen.

Die speciellen anorganischen Bestandtheile dieser oder jener Zellen bieten eine grosse Mannigfaltigkeit, indessen ist es- für unsere Zwecke nicht nothwendig, auf alle einzugehen. Auffallend ist aber, dass in gewissen Zellen sogar freie Mineralsäuren auftreten, und zwar Salzsäure, die von bestimmten Zellen der Magendrüsen bei den Wirbelthieren producirt, und Schwefelsäure, die bei manchen Meeresschnecken von den Zellen der Speicheldrüsen ausgeschieden wird.

e. Vertheilung der Stoffe auf Protoplasma und Kern.

So bedeutend die Fortschritte in der morphologischen Erkenntniss der Zelle in den letzten Jahren gewesen sind, und so eingehend uns die mikroskopische Forschung mit den feinsten Structurverhältnissen der Zelle bekannt gemacht hat, so gering sind auf der andern Seite unsere Kenntnisse von der chemischen Natur der einzelnen morpho- logischen Bestandtheile. Hier ist der Punkt, wo die physiologische Mikrochemie mit ihrer Arbeit einsetzen muss. Nur die Combination von mikroskopischer Beobachtung und chemischer Reaction ist im Stande, die Brücke zu schlagen zwischen dem, was wir einerseits morphologisch als Grundsubstanz und mannigfaltig geformte Bestand- theile in Protoplasma und Kern kennen gelernt haben, und dem, was uns andererseits die grobe chemische Analyse als Bestandtheile der lebendigen Substanz überhaupt gezeigt hat. Diese Brücke zwischen Morphologie und Chemie der Zelle zu schlagen, ist eine schwierige Aufgabe , da die Mehrzahl der Reactionen , die man im Reagenzglas bequem und leicht anstellen kann, unter dem Mikroskop bei der Kleinheit der Objecte theils sehr undeutliche Resultate giebt, theils ganz im Stiche lässt. Es bedarf also vor Allem erst der Ausbildung feiner und zuverlässiger mikrochemischer Methoden. Dennoch sind die ersten Schritte in dieser Richtung bereits gethan , und wir haben schon hier und dort begonnen, einen Einblick in die Vertheilung der chemisch charakterisirten Stoffe im Zellinhalt zu gewinnen.

Es hat sich gezeigt, dass das, was wir als morphologische Differenzirungen im Zellinhalt gefunden haben, sich auch chemisch different verhält. Vor Allem ha})en die Untersuchungen von Mieschek, Schwarz , Zacharias , Altmann , Kossel , Löwitt , Malfatti und Anderen ergeben, dass charakteristische chemische Unterschiede be- stehen zwischen den Bestandtheilen , welche die beiden wesentlichen Zellelemente, das Protoplasma und den Kern, zusammensetzen.

Die Ei Weisskörper, die allein die allgemeinen chemischen Zellbestandtheile vorstellen , finden sich zwar sowohl im Protoplasma als im Zellkern , indessen hat man einen sehr bemerkenswerthen Unterschied zwischen ihnen gefunden. Es hat sich nämlich heraus- gestellt, dass sich im Kern ganz vorwiegend die phosphorsäurehaltigen

Von der lebendigen Siilistanz. 119

Verbindungen der Kiweisskörper, die sogenannten Nucleine, linden'), die im Protoplasma dagegen ganz zu fehlen scheinen oder wenigstens nur in Verbindung mit anderen Eiweisskörpern als Nucleoalbumine auftreten, wäiirend das Protoplasma seinerseits zum grössteii Theile auf- gebaut wird aus den einfachen Eiweisskörpern und den phosphorfreien Eiweissverbindungen. Um diese Thatsache zu erharten, giebt es ein einfaches chemisches Mittel. Die Nucleine sind nämlich, wie jMiescher^) gezeigt hat, im Gegensatz zu allen anderen Eiweisskörpern resistent gegen die Verdauung mit Magensaft. Bringt man daher Zellen der verschiedensten Art mit künstliciiem Magensaft zur Verdauung, so werden alle anderen Eiweisskörper verdaut, und die Xucleine bleiben übrig. Dabei hndet man denn, dass der ganze Protoplasmakörper verdaut wird, während die Zellkerne unter unbedeutender Volumen- abnahme mit etwas zernagtem Contour zurückbleiben, und prüft man nun die zurückgebliebene Substanz des Kerns mit den bekannten Kernfärbemitteln, so zeigt sich, dass das, was fehlt, der Kernsaft ist^) und vielleicht auch die achromatische Substanz, denn die ganze übrig bleibende Masse speichert die Kernfärbemittel mehr oder weniger stark auf. Daraus geht also hervor, dass die chromatische Substanz und die Kernkörperchen aus Nucleinen bestehen, während das Protoplasma der Zelle aus anderen Eiweisskörpern zusammengesetzt . ist. Mit einer mikrochemischen Reaction haben Lilienfeld und Monti*) in Kossel's Laboratorium den Nachweis zu führen gesucht, dass der Phosphor speciell im Zellkern localisirt ist. Setzt man zu einer phosphorsäure- haltigen Substanz molybdänsaures Amnion, so entsteht eine Verbindung, die Phosphormolybdänsäure, welche durch Einwirkung von Pyrogallol eine dunkle braunschwarze Färbung annimmt. In der That konnten Lilienfeld und Monti zeigen, dass sich mittels dieser Reaction in den verschiedenartigsten Zellen die Kerne schwarz färben, während das Protoplasma ungefärbt bleibt. Allein es darf doch nicht unerwähnt bleiben, dass bald darauf von Raciborski, Gilson und Heine der Einwand gegen die Reaction erhoben Avorden ist, es handle sich dabei nur um eine Aufspeicherung des molybdänsauren Ammons im Kern, die etwa der Aufspeicherung der Kernfarbstoffe im Zellkern analog sei. Demnach werden wir zunächst noch vorsichtig sein müssen in den Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Reaction ergeben.

Die Kohlehydrate scheinen auf das Protoplasma beschränkt zu sein ; wenigstens sind bisher keine Kohlehydrate im Kern gefunden worden. Im Protoplasma dagegen treten die Kohlehydrate nicht selten als geformte Bestandtheile auf, so z. B. das Glykogen in Form von Schüppchen und Krümchen im Protoplasma der Leberzellen, die Stärke- körner allgemein im Protoplasma aller grünen Pilanzenzellen und die Cellulose als Protoplasmaproduct an der Oberfläche der Zelle.

Von den Fetten gilt dasselbe wie von den Kohlehydraten. Im Zellkern scheinen sie ausnahmslos zu fehlen. Dagegen linden sie sich im Protoplasma als Fett- und Oeltröpfchen weit verbreitet und sind

^) Kossel: „Ueber die chemische Zusanimensetziuig der Zelle." In Archiv f. Physiologe von Du Bois-Reymond 1891.

-) ^iIiEscHER. Verhandl. d. naturforsch. Gesellsch. in Basel 1874.

^j Malfatti: ,,Zur Chemie des Zellkerns." In Ber. d. naturw. - med. Vereins zu Innsbruck. XX. Jahrg. 1891/92.

*) LiLiE^FELD und Monti: „Ueber die mikrochemische Localisation des Phos- phors in den Geweben." In Zeitschr. f. physiolog. Chemie Bd. XVII, 1892.

220 Zweites Capitel.

immer an ihrem starken Lichtbrechungsvermögen oder in dubio an ihrer Schwärzung durcli Ueberosmiumsäure und Löslichkeit in Aether zu erkennen.

Ueber die Vertheilung der anorganischen Be standth eile de r Zelle ist fast gar nichts bekannt. Nur von den Kaliverbindungen scheint es nach Untersuciiungen von Vahlen, als ob sie ausschliesslich im Protoplasma, nicht im Zellkern zu finden wären.

Das sind die spärlichen bisher bekannt gewordenen Thatsachen. Die grosse Masse der als Granula bezeichneten Stoffe des Protoplasmas, sowie die gelösten Körper des Zellinhalts sind bisher ihrer chemischen Zusammensetzung nach noch völlig unbekannt. Hier eröffnet sich der physiologisch-chemischen Forschung der Zukunft ein unabsehbares Gebiet, und wir werden gerade von der mikrochemischen Untersuchung der lebendigen Substanz in später Zukunft einmal die Lösung der letzten Lebensräthsel erwarten dürfen.

Fassen wir schliesslich die Hauptpunkte von Allem, was unsere eingehende Untersuchung ergeben hat, zu einem übersichtlichen Bilde von der lebendigen Substanz zusammen, so können wir sagen: Die lebendige Substanz, wie sie jetzt auf der Erdoberfläche existirt, tritt nur auf in Form von theils einzellebenden, theils zu grösseren, zusammenhängenden Staaten vereinigten Elementarorganismen , den Zellen. Jede Zelle ist ein meist mikroskopisch kleines Klümpchen flüssiger Substanz, in der verschiedene, theils geformte, theils gelöste Bestandtheile eingelagert sind. Als allgemeine Zellbestandtheile, die in allen Zellen zu finden sind, können nur die flüssige Grundmasse selbst, das Protoplasma, und ein darin eingelagerter, etwas festerer Kern, der Zellkern, betrachtet werden. Ein Klümpchen Protoplasma mit einem Kern ist bereits eine vollständige Zelle, und andererseits giebt es keine Zelle, die nicht Kern und Protoplasma besässe. Ebenso, wie sich morphologisch in der lebendigen Zellsubstanz die verschiedensten Bestandtheile neben einander unterscheiden lassen, ebenso sind in der lebendigen Substanz auch die verschiedensten chemischen Körper vorhanden. Die Elementarstoffe, aus denen die lebendige Substanz besteht, sind nur solche, wie sie auch in der unbelebten Körperwelt existiren, doch ist ihre Zahl eine geringe, und es sind hauptsächlich die Elemente mit niedrigstem Atomgewicht, welche die lebendige Substanz zusammensetzen. Ein besonderes Lebenselement existirt nicht Dagegen sind die Verbindungen, zu welchen diese Elementarstoffe zusammentreten, für die lebendige Substanz charakteristisch und finden sich zum grossen Theile nicht in der anorganischen Welt, Vor Allem sind es die Ei weisskörper, die complicirtesten unter allen organischen Verbindungen, welche aus den Elementen C, H, O, N, S bestehen und in keiner lebendigen Substanz fehlen. Daneben kommen noch andere complicirte organische Verbindungen, wie Kohlehydrate, Fette und einfachere Stoffe, vor, die sämmtlich entweder aus dem Zerfall der Eiweisskörper stammen ofler zu ihrem Aufbau nothwendig sind, sowie schliesslich anorganische Stoffe, wie Salze und das Wasser, das der lebendigen Substanz ihre flüssige Oonsistenz giebt, mit der das Leben untrennbar verbunden ist.

Voll (Ut lclieii(li''eu Substanz.

121

Das ist in groben Zügen (las lüM, das uns die anatomische, die niikn)skoj)isclie, die physikalische und die chemische Untersuchung der lebendigen Substanz erj'eben iiat.

IL Lebendige und leblose Substanz.

Koch ist aber unsere Vorstellung von der lebendigen Substanz unfertig. Wir haben zwar ein Bild von ihrer Zusammensetzung bis in alle jetzt bekannten Einzelheiten hinein gewonnen, aber uns fehlt zum Gesamnitbilde noch ein Punkt, ja der wesentlichste Punkt. Worin liegt d e r c h a r a k t e r i s t i s c h e Unterschied zwischen lebendiger und lebloser Substanz? Die Frage ist inhalts- schwer, denn sie enthält nichts Geringeres als das Problem der ganzen Physiologie, jenes gewaltige Problem, das seit alter Zeit schon manchen grübelnden Geist unwiderstehlich gefesselt hat, und das noch heute mit Sphinxgewalt den Forscher bannt, sein Geistesleben der Lösung des uralten Käthsels zum Opfer zu bringen: das Problem des Lebens.

Wie wir schon früher sahen , ist der Begriff des Lebens nicht immer derselbe gewesen. Seit seiner Entstehung bei den Urvölkern hat er sich mannigfaltig verändert. Versuchen wir, ob es gelingt, den Begriff in Avissenschaftlicher Weise zu fixiren, indem wir die Unterschiede zwischen lebendiger und lebloser Substanz aufsuchen.

Dies Unternehmen muss sich naturgemäss nach zwei Richtungen hin erstrecken, einmal auf die Unterschiede zwischen Organismen und anorganischen Stoffen, dann aber auch auf die Unterschiede zwischen lebendigen und todten Organismen, denn offenbar unterscheiden wir scharf zwischen Objecten, die niemals lebendig waren, wie z. B. einem Stein, und solchen, die gelebt haben und gestorben sind, also einer Leiche.

A. Organismen und anorganische Körper.

1. jM orpho tische Unterschiede.

Man hat bei der Vergleichung der Organismen mit den an- organischen Substanzen mit Vorliebe den Fehler begangen, den Organismus einem Krystall gegenüber zu stellen , statt ihn mit einer Substanz zu vergleichen, die ähnliche Consistenz, überhaupt ähnliche physikalische Verhältnisse bietet, wie die lebendige Substanz, also etwa mit einer dickflüssigen Masse. Aus diesem fehlerhaften Vergleich ist dann eine Reihe von Unterschieden entnommen worden, deren Unhaltbarkeit auf der Hand liegt.

So hat man gesagt, indem mau die Krystalle im Auge hatte: Die anorganischen Körper haben nach einfachen mathematischen Gesetzen construirte Formen mit genau bestimmten Winkeln , Ecken und Kanten , Avährend die Organismen mathematisch nicht darstellbare Körpergestalten besitzen. Man braucht nicht gerade das „krystallisirte Menschenvolk" zu citiren, das Mephistopheles in seinen Wanderjahren gesehen haben will; die Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung wird von selbst klar, wenn man daran denkt, dass einerseits wirklich

122 Zweites Capitel.

auch unter den Organismen mathematisch sehr einfache Körperformen vorkommen , wie unter den Rliizopoden bei den mit so überaus zierlichen Kieselskeletten versehenen Radiolarien oder bei vielen polyedrisch an einander gedrängten Gewebezellen oder schliesslich bei vollkommen kugelförmigen Eizellen, und dass andererseits in der anorganischen Natur sämmtlichcn Flüssigkeiten die mathematisch feste Körperform abgeht.

Man hat ferner behauptet: Die anorganischen Körper, wie die Krystalle, haben keine Organe, ein Besitz, der dagegen sämmtliche Organismen kennzeichnet. Auch das ist nicht richtig. Es giebt nicht nur Organismen ohne eigentliche Organe, wie die Am o eben und sämmtliche Rhizopoden, bei denen der ganze flüssige Protoplasmakörper selbst Organ für Alles ist, es giebt auch anorganische Gebilde mit wirklichen Organen, wie die Maschinen, bei denen die einzelnen Theile eine ganz bestimmte Function versehen, und dennoch wird Niemand im Ernste die Am o eben für anorganische Körper oder die Dampf- maschinen für lebendige Organismen halten.

Einen andern Unterschied wollte man darin finden, dass die Organismen im Gegensatz zu allen anorganischen Körpern zusammen- gesetzt sind aus den charakteristischen Elementarbausteinen aller lebendigen Substanz, den Zellen. Es ist richtig, dass die Zelle ein specifisches Element der gesammten Organismenwelt ist. Aber was diesen Elementarbestandtheil der lebendigen Welt charakterisirt , was ihn unterscheidet von der ganzen anorganischen Welt, ist nicht seine morphotische Abgrenzung. Objecte, die aus gesonderten Form- elementen zusammengesetzt sind, können wir auch aus anorganischen Stoffen mit Leichtigkeit herstellen, und solche Objecte hat die Natur in grossem Maassstabe hergestellt in den Gesteinen, die, wie der Granit, aus einem Gemenge von lauter isolirten Krystallen bestehen. Was die Zelle charakterisirt, sind vielmehr ihre chemischen Eigen- schaften. Durchgreifende morphotische Unterschiede liefert uns dieses Moment nicht.

Man hat schliesslich gesagt: die anorganischen Körper besitzen eine sehr einfache gleichmässige Structur, die Organismen dagegen eine hochcomplicirte „Organisation". Sobald man unter „Organisation" nur den mehr oder weniger complicirten Aufbau der Organismen aus verschiedenartigen Elementarbausteinen, den Zellen, versteht, trifft das innerhalb gewisser Grenzen zu, Avenn auch der Unterschied einem zusammengesetzten Gestein gegenüber dann immer nur ein gradueller wäre. Aber wir müssen ja eben schon die Zelle zum Vergleich heranziehen, denn sie ist selbst bereits ein vollkommener Organismus. Will man aber den Begriff der complicirten „Organisation" auf die Zelle anwenden, so kann man damit nur die grosse morphologische Mannigfaltigkeit und chemische Complication ihrer Inhaltsbestandtheile meinen, und eine solche können wir im Reagenzglas bei complicirten chemisch -physikalischen Gemischen auch herstellen. Versteht man dagegen unter „Organisation" eine besondere Ar t der Aneinanderfügung der einzelnen Inhaltsbestandtheile, wie sie in der anorganischen Natur nicht vorkäme, so enthält der Begriff mehr oder weniger ein Stück Mystik, die freilich vielfach noch immer für die Erklärung der Lebens- erscheinungen sehr beliebt ist. Wir können aber diesem Vorgang in der Wissenschaft nicht folgen, denn Wissenschaft und Mystik schliessen sich gegenseitig aus.

Voll der leljeiuligen Substanz. J23

Wir sehen : wesentliche Unterschiede liefert uns die Vergleichung- der liauverhiiltnisse von lebendiger und anorganischer Substanz nicht, und wenn wir nicht durchaus »ler Meinung nachgeben, die lebendige Substanz immer nur mit dem Krystall zu vergleichen , sondern mit riüssigen Gemischen, so linden wir, dass sie sich in ihren Bau- verhältnissen nicht mehr von leblosen P^'lüssigkeitsgemischen unter- scheidet, wie diese unter einander, ja nicht einmal so sehr wie diese von einem Krystall,

2. Genetische Unterschiede.

Eine zweite Iveihe von Unterschieden, die man zwischen Organismen und anorganischen Stoffen zu linden geglaubt hat, bezieht sich auf die Fortpflanzung und Abstammung. Allein auch diese Unterschiede sind durchaus nicht principieller Natur, und es bedarf keiner tiefen Ueber- legung, um zu erkennen, wie in ihnen kein Avirklicher Gegensatz zwischen beiden Körpergruppen begründet ist.

Es ist als charakteristisches Unterscheidungsmerkmal der Or- ganismen angesehen worden , dass sie sich fortpflanzen , AVcährend den anorganischen Körpern die Fortpflanzungsfähigkeit fehlt. Das ist aber wieder kein durchgreifender Unterschied, denn wir kennen ganze Reihen von Organismen, welche leben und sich trotzdem nicht einmal fortpflanzen können. So geht bekanntlich den sogenannten „Arbeiterinnen", jenen mit verkümmerten Geschlechtsorganen ver- sehenen Individuen im Ameisen- und Bienenstaat, die sogar die grosse Hauptmasse des ganzen Staates bilden, die Fortpflanzungsfähigkeit Zeitlebens ab, und dennoch können wir nicht umhin, sie als lebendige Organismen zu bezeichnen. Ferner aber, wenn wir zusehen, Avorin eigentlich die Fortpflanzung bei den Organismen besteht, so finden wir, dass es lediglich eine Abgabe einer gewissen Menge von Körpersubstanz ist, eine Theilung des eigenen Leibes. Am deutlichsten, d. h. am wenigsten durch begleitende Nebenumstände verdeckt, zeigt sich diese Thatsache bei den einzelligen Organismen. Eine Amoebe z. B. schnürt sich einfach in zwei Hälften aus einander, und jede von beiden Hälften lebt als neue Amoebe weiter. Besteht aber die Fortpflanzung im Wesentlichen nur in einer einfachen Theilung der Substanz, so existirt kein principieller Unterschied zwischen der Theilung einer lebendigen Zelle und eines anorganischen Körpers. Ein Quecksilbertropfen, der auf eine Unterlage fallt, zerstiebt durch Theilung in eine ganze Reihe kleiner Kügelchen, die alle selbst wieder Quecksilbertropfen sind.

Allein man hat gesagt: Die Organismen stammen stets von andei'en Organismen ab, während die anorganischen Körper sowohl von Organismen wie auch von anorganischen Körpern abstammen können. So gelinge es nicht , auch nur den einfachsten Organismus künstlich aus anorganischen Stofi"en zusammenzusetzen, während es nicht schwer sei, anorganische Körper, z. B. das Wasser, auf die ver- schiedenste Weise sowohl aus organischen wie aus anorganischen Stoffen zu gewinnen. Das erscheint in der That als ein durch- greifender Unterschied, denn es ist wahr, dass es trotz aller Be- mühungen nicht gelungen ist, zu zeigen, dass Organismen aus an- organischen Stoffen entstehen können, weder in der Natur noch im

124 Zweites Capitel.

Laboratorium. Dennoch kann auch diese Unterscheidung nicht als wirkHch durchgreifend anerkannt werden. Man kann nämhch zunächst einwenden, dass ja im Pflanzenkörper fortwälirend organische Substanz aus anorganischen Stoffen gebiklet wird, denn die Pflanze baut ihren Körper ausschhesslich aus anorganischen Stoffen auf. Aber darauf hat man erwidert, dass diese Entstehung von organischer Substanz aus anorganischer nur unter Mithülfe von lebendigen Organismen möglich ist, und Preyer \) hat gesagt : die Organismen unterscheiden sich von den anorganischen Körpern eben dadurch, dass sie immer schon die Existenz von lebendiger Substanz voraussetzen. Allein auch in dieser Form gilt die Unterscheidung höchstens für unsere jetzige Zeit. Der Satz Virchow's: „omnis cellula e cellula", der die im Laufe der Zeit nothwendig gewordene Verallgemeinerung des alten HARVEY'schen Satzes: .,omne vivum ex ovo" vorstellt, hat nur Gültigkeit für die Verhältnisse, die jetzt auf der Erdoberfläche herrschen. Das liegt auf der Hand. Gehen wir nämlich zurück in der Erdentwicklung, so kommen wir bald in eine Zeit, wo die Erde noch eine glühende Masse war, auf der keine Zelle existiren konnte. Die Zellen müssen also irgendwann einmal aus Stoffgemengen entstanden sein, die keine Zellen waren. An diesem Punkt angelangt, stehen wir aber vor folgender Alternative. Entweder sind, wie die „Urzeugungslehre" annimmt, die Organismen irgend einmal aus anorganischen Stoffen entstanden, oder der Begriff des Lebens muss, wie die „Lehre von der Continuität des Lebens" fordert, auch noch auf die Körper an- gewendet Averden , aus denen die Zellen sich entwickelt haben , wenn sie auch von der lebendigen Substanz der heutigen Organismen gänz- lich verschieden waren. Nimmt man das erstere an, so fällt der Unterschied in der Abstammung der beiden Körpergruppen von selbst fort , denn dann stammt nicht bloss die anorganische, sondern auch die organische Natur von lebloser Sub- stanz ab. Preyer entschliesst sich daher zu der zweiten Annahme, indem er auch die Stoffgemenge, aus denen die Zellen sich entwickelt haben , ja sogar schliesslich die ganze glühende Masse des Erdballs selbst als lebend betrachtet, und sagt, den Satz Harvey's noch weiter ausdehnend: „omne vivum e vivo", womit er ausdrücken will, dass das Leben von Ewigkeit her existirt hat und überhaupt niemals ent- standen ist. Indessen, auch damit ist die Schwierigkeit, welche sich einer durchgreifenden Unterscheidung der Organismen und anorgani- schen Körper auf Grund ihrer Abstammung entgegenstellt, nicht be- seitigt. Consequent seiner Vorstellung, dass die ganze glühende Masse des Erdballs als lebendig zu betrachten sei , nimmt nämlich Preyer an, dass das Anorganische aus dem Organischen entstanden sei. Dann aber ist es klar, dass der oben aufgestellte Unterschied in der Ab- stammung der beiden grossen Körpergruppen ebenfalls in sich zu- sammenfällt, denn dann setzt nicht nur die organische, sondern auch die anorganische Natur die Existenz von lebendiger Substanz voraus. Wir sehen also, dass auch bei einer Erweiterung des Lebensbegriffs, wie sie Preyer fordert, der Unterschied in der Abstammung für die frühere Zeit der Erdentwick- lung nicht aufrecht erhalten werden kann.

') Prkyer: „Die Hypothesen über den Ursprung des Lebens." In „Naturwissen- schaftliche Thatsachen und Probleme." Berlin 1880.

Von der lebendigen Substanz. ] J5

Ebenso wenig wie in der F^ürt))fl;mzung und Abstammung von seinesgleichen besteht in der Entwicklung des Organismus ein durch- greifondcr Unterschied gegenüber den anorganischen Körpern, Unter Entwicklung verstehen Avir eine Reihe von Veränderungen des neu- geborenen Organismus, die ihn schliesslich seinen Erzeugern wieder ähnlich machen. Indessen, solche Veränderungen kommen in der an- organischen Natur ebenfalls vor und sind durchaus nicht fundamental davon unterschieden. Scinnelzen wir z. B. ein Stück .Schwefel in einem Tiegel über dem Feuer und schütten die geschmolzene Masse in Wasser aus, so bekommen wir eine zähe, braune, gummiartige Sub- stanz, die mit dem Stück Schwefel, von dem sie stammt, nicht die geringste äussere Aehnlichkeit hat. Lassen wir sie aber einen oder zwei Tage liegen, so wird sie allmählich fester und härter; ihre braune Farbe verblasst und macht einer gelblichen Platz, bis die ganze Masse nach einiger Zeit Avieder das Aussehen des gewöhnlichen gelben, harten Schwefels hat. Hier hat das Stück Schwefel eine Ent- wicklung durchlaufen, die es dem ursprünglichen Stück, von dem es abstammte, wieder ähnlich gemacht hat. Aber auch für die Organismen ist die Entwicklung durchaus kein durchgreifendes Unterscheidungs- merkmal , denn es giebt Organismen , die leben , ohne sich zu ent- wickeln, wie z. B. die Amoeben. Hier sind, nachdem die Amoebe sich in zwei Theilhälften zerschnürt hat, beide Theile schon ohne Weiteres wieder vollständige Amoeben und unterscheiden sich von dem ursprünglichen Individuum, von dem sie abstammen, nur durch ihre Grösse.

Man hat schliesslich auch in der Art des Wachsthums einen Unter- schied zwischen Organismen und anorganischen Substanzen zu be- gründen gesucht, jedoch mit ebenso wenig Erfolg. Zur Aufstellung dieses Unterschiedes hat wieder die unglückliche Gegenüberstellung des Organismus und des Krystalls geführt. Man sagte: der Krystall wächst durch „Apposition", der Organismus dagegen durch „Intus- susception" der Theilchen, d. h. der Krystall wächst, indem sich an seiner Oberfläche ein Theilchen nach dem andern anlagert, wobei das Innere fest und unverändert bleibt, der Organismus dagegen, indem die Theilchen in das Innere aufgenommen und zwischen die schon vorhandenen zwischengelagert werden. Wenn man eine Zelle als Ganzes einem Krystall gegenüberstellt, ist das in der That nicht zu bestreiten; allein nicht alle anorganischen Körper sind Krystalle, und wir sahen bereits, dass wir die lebendige Substanz der Organismen ihren physikalischen Eigenschaften nach im Wesentlichen nur mit einer flüssigen Masse in Vergleich setzen dürfen. Flüssigkeiten aber wachsen stets nur durch Intussusception in ihr Inneres, d. h. wenn man zu einer Flüssigkeit einen löslichen Körper hinzusetzt, etwa Salz zu Wasser, so löst das Wasser das Salz auf und lagert die Salzmoleküle durch Diffusion von selbst zwischen seine eigenen Wassermoleküle hinein. Hier haben wir also genau denselben Vorgang wie beim Wachsthum des Organismus.

Die Vergleichung der genetischen Verhältnisse von Organismen und anorganischen Körpern liefert daher ebensowenig einen prin- cipiellen Unterschied zwischen beiden wie die Betrachtung der mor- photischen Verhältnisse, und wir sind wieder gezwungen, weiter zu suchen.

126 Zweites Capitel.

8. P li y s ik alische Uu t ersc li i ede.

Eine dritte Gruppe von Unterschieden, die zwischen Organismen und anorganischen Körpern behauptet worden sind , umfasst die Er- scheinungen der Bewegung. Die Bewegung, jene augenfälh'gste unter den Lebenserscheinungen, galt schon in früher Zeit als ein charakteristisches Merkmal für das Leben, und die Naturvölker sahen, in consequenter Weise diese Unterscheidung durchführend, dementsprechend auch "\A'ind und Welle als lebendige Wesen an. Indessen, wir bezeichnen jetzt das wogende Meer nicht mehr als einen lebendigen Organismus und kennen andererseits in den ruhenden Pflanzensamen etc. Zu- stände von Organismen, die nicht die geringste Bewegung erkennen lassen, ohne doch todt zu sein. So ist in unserer Zeit der Unter- schied der Bewegung in seiner primitiven Form fallen gelassen Avorden. Dafür sind speciellere Verhältnisse in den Bewegungs- erscheinungen als unterscheidende Merkmale zwischen Organismen und anorganischen Körpern angesprochen worden, sofern sich beide überhaupt bewegen.

Man glaubte einen Unterschied in den Ursachen erblicken zu müssen , w^elche einerseits die Bewegungen der Organismen , anderer- seits die Bewegungen der anorganischen Körper erzeugen. Die ersteren, wie die Muskelbewegungen, sollten durch innere Ursachen veranlasst werden, die ihren Sitz im Organismus selbst haben, die letzteren, wie das Treiben der Wogen und Wolken, durch äussere Ursachen, welche wie der Wind von aussen her auf das Object einwirken. Man hatte hier mehr oder weniger bewusst die mystische „Lebenskraft" vor Augen. Wir haben uns indessen schon früher von der Nichtexistenz einer besonderen „Lebenskraft" überzeugt, und dementsprechend lässt sich auch der Unterschied in den Ursachen der Bewegung nicht in dieser Weise aufrecht erhalten. Im Uebrigen dürfte eine scharfe Grenze zwischen inneren und äusseren Ursachen in vielen Fällen auch schwer zu ziehen sein. Denkt man z. B. nicht gerade an Wind und Wellen, sondern an eine Dampfmaschine, so lässt sich in der That hier mit demselben Rechte wie vom Organismus sagen: sie arbeitet aus inneren Ursachen, denn die Dampfspannung, welche den Stempel treibt und die Räder in Bewegung setzt, befindet sich im Innern ihres Dampfkessels.

Allein man hat gesagt, der Unterschied zwischen den bewegenden Ursachen in der Dampfmaschine und im Organismus bestehe darin, dass die Dampfmaschine dennoch nicht arbeiten könne, wenn sie nicht von aussen geheizt würde, während der Organismus von selbst arbeite. Das ist aber schlechterdings falsch. Auch der Organismus muss geheizt werden, wenn er in Thätigkeit, d. h. am Leben bleiben soll, genau so wie die Dampfmaschine. Seine Heizung besteht in der Zufuhr von Nahrung. Ja, die Analogie zwischen der Heizung der Dampfmaschine und der JErnährung des Organismus geht sogar sehr weit. Die kohlenstoffhaltige Nahrung wird im Organismus verbrannt, wie die Kohlen in der Dampfmaschine, d, h. die Nahrungsstoffe werden mit dem durch die Athmung aufgenommenen Sauerstoff oxydirt, wie die Kohle oxydirt wird, und wir bekommen in beiden Fällen als Endproduct Kohlensäure. Wird die Zufuhr der Nahrung unterbrochen, so hört die Thätigkeit des Organismus nach einiger Zeit,

Von ik-r Icbeiidiguu !Suljst;iuz. ]27

wenn alle aufgenommene Nahrung verLrauclit ist, ebenso auf wie die der Dampfinaschine: in beiden erlischt die lieweg'ung.

Der Vergleich des Organismus mit der Dampfmaschine lässt aucli die Unhaltbarkeit eines andern, eng mit dem Vorigen zusammen- hängenden Unterschiedes ohne Weiteres erkennen. Man hat nämlich gesagt, die Organismen befänden sich im „dynamischen Gleichgewicht", il, h. dieselbe Energiemenge, die in den (Organismus eingeführt wird, verlässt auch den Organismus wieder in irgend einer Form, während die anorganischen Körper sich in „stalnlem Gleichgewicht" befänden. Es ist wahr, dass die Organismen in erwachsenem Zustande sich im „dynamischen Gleichgewicht" befinden. Aber wenn man das als durchgreifenden Unterschied gegenüber den anorganischen Körpern bezeichnet, so hat man wieder bloss an die Krystalle gedacht. Denkt man an eine Dampfmaschine, so hat man hier ein anorganisches System, in dem in übersichtlichster Weise „dynamisches Gleichgewicht" herrscht; denn genau ebenso viel Energie, Avie durch die Verbrennung der Kohlen eingeführt Avird, giebt das System durch Vermittlung von Wärme als mechanische Energie wieder nach aussen ab.

Als ein allgemeines Charakteristicum aller Organismen gegenüber den anorganischen Körpern hat man schliesslich die ., Irritabilität" bezeichnet. Wir haben bei unserem Ueberblick über die Entwicklungs- geschichte der physiologischen Forschung gesehen, dass mit dem Worte Irritabilität Anfangs sehr unklare Vorstellungen verbunden wurden, und müssen daher, um Missverständnisse zu verhüten, den Begriff in einer bestimmteren Form definiren. Wir können dann nur ganz allgemein sagen : Irritabilität ist die Fähigkeit eines Körpers, auf äussere Einwirkungen mit irgend einer Veränderung seines Zustandes zu reagiren, wobei die Grösse der Reaction zu der Grösse der Ein- wirkung in keinem bestimmten Verhältuiss steht. In der That ist eine solche Irritabilität oder Reizbarkeit Allgemeingut sämmtlicher lebendigen Substanz, sei es, dass der Organismus mit der Production von be- stimmten Stoffen, wie die secernirenden Drüsenzellen, sei es, dass er mit Production von bestimmten Energieformen , Avie die Muskelzellen, Leuchtzellen , elektrischen Zellen etc., sei es, dass er mit Herabsetzung oder gar Stillstand seiner Lebensäusserungen auf die äussere Ein- wirkung antwortet. Allein diese Irritabilität ist wieder kein ausschliess- licher Besitz der Organismen , denn auch leblose Stoffe sind irritabel und antworten auf äussere Einwirkungen mit bestimmten Veränderungen, z. B. mit Production bestimmter Stoffe oder mit Production von Energie, wobei die Grösse der Production durchaus nicht immer mit der Grösse des äusseren Anstosses in einem bestimmten Verhältniss steht. Das deutlichste Beispiel dafür liefern die explosiblen Stoffe. Das Nitroglycerin zerfällt bei einer Erschütterung unter gewaltiger Kraftentwicklung in Wasser, Kohlensäure, Sauerstoff' und Stickstoff, antwortet also sowohl mit einer enormen Production von Energie wie mit einer stofflichen Veränderung auf die äussere Einwirkung. Auch die Irritabilität ist demnach kein durchgreifendes Merkmal für die Unterscheidung von Organismen und anorganischen Körpern, und wir sehen, dass uns die dynamischen Verhältnisse ebenso Avenig AA'ie die morphotischen und genetischen feste Anhaltspunkte für die Auf- stellung eines principiellen Gegensatzes zwischen Organismen und an- organischen Stoffen bieten. Suchen AA'ir noch weiter.

] 28 Zweites Capitel.

4. Chemische Unterschiede.

Erst bei der Vergleichung der chemischen Verhältnisse gewinnen Avir endlich einen Unterschied zwischen Organismen und anorganischen Körpern.

Freilich haben wir gesehen, dass ebenso wenig, wie es eine be- sondere „Lebenskraft" giebt, im Organismus ein eigenes „Lebens- element" existirt. Die chemischen Elemente, die den Organismus zusammensetzen, kommen ohne Ausnahme auch in der anorganischen Natur vor. Einen prin cipi eilen Gegensatz von organischer und anorganischer Substanz, d.h. einen Gegensatz, der in einer elemen- taren Verschiedenheit beider Körperwelten beruht, werden wir also auch auf chemischem Gebiet nicht erwarten dürfen. Aber es existirt ein Unterschied in der Art der Verbindungen, zu denen die Elemente zusammentreten. Wir sahen, dass in der lebendigen Substanz chemische Verbindungen vorhanden sind, wie die Eiweisskörper, Kohle- hydrate und Fette, die nirgends in der anorganischen Körperwelt vorkommen. Was aber das Wichtigste ist, das ist die Thatsache, dass Eine Gruppe von diesen chemischen Körpern, die Eiweisskörper, allen Organismen ohne Ausnahme zukommt. Wie es einerseits keinen einzigen Organismus giebt, sei er lebendig oder todt, in dem die Eiweisskörper fehlten, so giebt es andererseits keinen einzigen anorganischen Körper in d e r N a t u r , in dem ein auch nur annähernd ähnlicher Stoff vorhanden wäre. Der Besitz des hochcomplicirten Eiweissmoleküls ist in der That ein durchgreifendes Unterscheidungsmerk- mal des Organismus gegenüber allen anorganischen Körpern.

Man ist aber noch weiter gegangen und hat einen durchgreifenden Unterschied zwischen Organismen und anorganischen Körj)ern nicht nur in der Existenz bestimmter Verbindungen , sondern auch in der Art und Weise von Anordnung und Aufeinanderfolge der chemischen Vorgänge im thätigen Organismus finden wollen. Man hat gesagt: Die lebendige Substanz ist charakterisirt durch ihren „Stoffwechsel", indem bestimmte Verbindungen fortwährend entstehen, wieder zer- fallen , ihre Zerfallsproducte nach aussen abgeben und auf Kosten der von aussen als Nahrung aufgenommenen Stoffe wieder neu ent- stehen, so dass ein fortwährender Stoffstrom durch die lebendige Sub- stanz geht, der durch den Aufbau und den Zerfall der betreffenden Verbindungen bedingt ist. In der That ist der „Stoffwechsel" ein überaus charakteristischer Vorgang für den leb endigen Organismus, und wir werden später sehen, dass auf ihm der Lebensprocess beruht, aber er ist nur ein Vorgang, der den lebendigen Organismus vom todten unterscheidet, nicht von der anorganischen Substanz, denn er ist durchaus nicht auf die Organismen beschränkt, sondern kommt auch im Reiche anorganischer Körper vor. Ein einfaches Beispiel dafür giebt uns das Verhalten der Salpetersäure bei der Production der sogenannten „englischen Schwefelsäure". Bringt man nämlich Salpetersäure mit dem Anhydrit der schwefligen Säure zusammen, das bei der Schwefelsäurefabrikation durch Kosten von Schwefelerzen ge- wonnen wird, so entzieht die schweflige Säure der Salpetersäure Sauer-

Von tler lebendij^en Substanz. 129

Stoff, indem sie selbst in Schwefelsäure übergeht, während aus der Salpetersäure Unter- Salpetersäure Avird. Wird nun für den fort- dauernden Zutritt von frischer Luft und Wasser gesorgt, so wird aus der Unter-Salpetersäure immer wieder Salpetersäure neu gebildet, und diese giebt einen Theil ihres Sauerstoffs wieder an neue Massen schwefliger Säure ab, so dass das Molekül der Salpetersäure fort- während durch Sauerstoffabgabe zerfällt und sich durch Sauerstoff- aufnahme wieder herstellt. Auf diese Weise kann mit derselben Quantität Sal])etersäure eine unbegrenzte Menge von schwefliger Säure in Schwefelsäure übergeführt werden. Hier haben wir also in ein- facherer Form, d. h. an einer einfacheren chemischen Verbindung einen regelrechten Stoffwechsel, eine Aufeinanderfolge von Zerfall und Neu- bildung einer Substanz unter Aufnahme und Abgabe von Stoffen, die im Princip bis in die Einzelheiten hinein dem Stoffwechsel der Organismen entspricht, und doch ist die Salpetersäure eine anorganische Verbindung.

Freilich sind derartige Erscheinungen verhältnissmässig selten und kommen in der freien Natur, wo ihre Bedingungen nicht durch Menschenhand künstlich hergestellt werden, wohl nur sehr selten einmal vor. Immerhin aber gestatten sie es nicht, dass wir das Vorhanden- sein eines Stoffwechsels als durchgreifenden Unterschied zwischen lebendigen Organismen und anorganischen Körpern hinstellen.

Blicken wir hiernach noch einmal zurück auf das Ergebniss unserer Vergleichung, so finden wir, wie wir das schon mehrfach festgestellt haben, dass ein „prin- cipieller" Gegensatz zwischen lebendigen Organismen und anorganischen Körpern nicht besteht. Gegenüber der Gesammtheit der anorganischen Natur besteht das Charakteristicum der Organismen nur in dem ausnahms- losen Besitz gewisser hochcomplicirter chemischer Ve r - bin düngen, vor Allem der Eiweisskörper.

B. Lebendige und leblose Organismen.

1. Leben und Scheintod.

In Indien, dem alten Lande des W^unders und der Zauberei, ist, wie es scheint, schon seit langer Zeit der Glaube verbreitet, dass manche Menschen, besonders einzelne „Fakire", die im Geruch be- sonderer Heiligkeit stehen , die wunderbare Fähigkeit besitzen , ihr Leben willkürlich auf längere Zeit vollkommen zu sistiren, um später ungestört und unverändert ihr entbehrungsvolles und selbstquälerisches Dasein fortzusetzen. Eine grosse Reihe solcher Fälle, in denen sich die betreffenden Fakire in diesem Zustand des suspendirten Lebens haben begraben und nach einer bestimmten Zeit wieder haben aus- graben lassen, ist von Reisenden aus Indien berichtet worden, und James Bkaid^), der bekannte Entdecker des Hypnotismus, hat einige

^) James Braid: „Der Hj'^pnotismus." Ausgewählte Schriften von J. Beaid. Deutsch herausgegeben von W. Pkeyer. Berlin 1882.

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 9

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der am besten beglaubigten Fälle gesammelt und nach Angabe der Zeugen berichtet. Einer von diesen Fällen, der als Typus gelten darf, ist folgender: Am Hofe des Runjeet Singh war in einem viereckigen Gebäude, das in der Mitte einen ringsherum geschlossenen Raum be- sass, ein Fakir, der sich willkürlich in den leblosen Zustand versetzt hatte, in einen Sack eingenäht und eingemauert worden, wobei die einzige Thür des Raumes mit dem Privatsiegel des Rünjeet Singh versiegelt worden war. (Ein dichter Abschluss der Luft fand also nach dem Berichte zu urtheilen ebensowenig statt, wie in allen anderen überlieferten Fällen.) Runjeet Sixgh, der selbst nicht an die wunder- baren Fähigkeiten der Fakire glaubte, hatte, um jeden Betrug auszu- schliessen, ausserdem noch einen Cordon seiner eigenen Leibwache um das Gebäude gelegt, vor dem vier Posten aufgestellt w^aren, die zweistündlich abgelöst und fortwährend revidirt wurden. Unter diesen Bedingungen blieb der Fakir sechs Wochen in seinem Grabe. Ein Engländer, der als Augenzeuge dem ganzen Vorgange beiwohnte, be- richtet über die nach sechs Wochen erfolgte Ausgrabung Folgendes: Als man das Gebäude in Gegenwart des Ruxjeet Sixgh eröffnete, zeigte sich, dass das Siegel und die ganze Vermauerung unversehrt war. In dem dunkeln Räume des Gebäudes, der bei Lichtschein untersucht wurde, lag in einem ebenfalls mit unversehrtem Siegel ver- schlossenen Kasten der Sack mit dem Fakir. Der Sack, der ein verschimmeltes Aussehen zeigte, wurde geöffnet und die zusammen- gekauerte Gestalt des Fakirs herausgeholt. Der Körper war völlig steif. Ein anwesender Arzt stellte fest, dass nirgends am Körper eine Spur von Pulsschlag zu bemerken war. Inzwischen übergoss der Diener des Fakirs dessen Kopf mit warmem Wasser, legte einen heissen Teig auf seinen Scheitel, entfernte das Wachs, mit dem die Ohren- und Nasenlöcher fest zugeklebt waren, öffnete gewaltsam mit einem Messer die fest aufeinandergepressten Zähne, zog die nach hinten um- gebogene Zunge hervor, die immer wieder in ihre Stellung zurück- schnellte, und rieb die geschlossenen Augenlider mit Butter. Alsbald fing der Fakir an, die Augen zu öffnen, der Körper begann convul- sivisch zu zucken, die Nüstern wurden aufgeblasen, die vorher steife und runzelige Haut nahm allmählich ihre normale Fülle wieder an, und wenige Minuten später öffnete der Fakir die Lippen und fragte mit matter Stimme den Rünjeet Singh: „Glaubst Du mir nun?"

Aehnliche Fälle werden von mehr oder weniger zuverlässigen Zeugen in grosser Zahl berichtet. Ein ganz analoger Fall ist ferner auch in Europa beobachtet worden und von Bkaid ebenfalls citirt. Es ist der bekannte Fall des Oberst Townsend, von dem uns Dr. Cheyne, ein auch in wissenschaftlichen Kreisen bekannter Arzt aus Dublin, erzählt: „Er konnte nach Belieben sterben, d. h. aufhören zu athmen, und durch blosse Willensanstrengung oder sonstwie wieder ins Leben zurückkommen. Er drang so sehr in uns, den Versuch einmal anzu- sehen, dass wir schliesslich nachgeben mussten. Alle drei fühlten wir erst den Puls; er war deutlich fühlbar, obwohl schwach und faden- förmig, und sein Herz schlug normal. Er legte sich auf den Rücken zurecht und verharrte einige Zeit regungslos in dieser Lage. Ich hielt die Hand, Dr. Baynakd legte seine Hand aufs Herz und Herr Skkine hielt ihm einen reinen Spiegel vor den Mund. Ich fand, dass die Spannung des Pulses allmählich abnahm, bis ich schliesslich auch bei sorgfältigster Prüfung und bei vorsichtigstem Tasten keinen mehr

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fühlte. Dr. J^avnaud konnte nicht die geringste Herzcontraction fühlen und Herr Skrine sah keine Spur von Atherazügen auf dem breiten Spiegel, den er ihm vor den Mund hielt. Dann untersuchte jeder von uns nach einander Ann, Ilerz und Athem, konnte aber selbst bei der sorgfältigsten Untersuchung auch nicht das leiseste Lebenszeichen an ihm linden. Wir discutirten lange, so gut wir es vermochten, diese überraschende Erscheinung. Als wir aber fanden, dass er immer noch in demselben Zustande verharrte, schlössen wir, dass er doch den Ver- such zu weit geführt habe, und waren schliesslich überzeugt, dass er wirklich todt sei und wollten ihn nun verlassen. So verging eine halbe Stunde. Gegen 9 Uhr früh (es war im Herbst), als wir weg- gehen wollten, bemerkten wir einige Bewegungen an der Leiche und fanden bei genauerer Beobachtung, dass Puls- und Herzbewegung all- mählich zurückkehrten. Er begann zu athmen und leise zu sprechen. Wir waren Alle auf das Aeusserste über diesen unerwarteten Wechsel erstaunt und gingen nach einiger Unterhaltung mit ihm und unter einander von dannen, von allen Einzelheiten des Vorgangs zwar völlig überzeugt, aber ganz erstaunt und überrascht und nicht im Stande, eine vernünftige Erklärung dafür zu geben."

Es ist nicht zu leugnen, dass diese Erzählungen, vor Allem die von den indischen Fakiren, von vornherein Misstrauen zu erwecken geeignet sind, und eine gesunde Skepsis ist die Grundlage aller guten Kritik. Das Misstrauen wird auch noch gesteigert, wenn sich Fälle ereignen, in denen die Fakire, wie auf der ungarischen Millenniums- ausstellung in Budapest, als Schwindler entlarvt werden. Allein vom Standpunkte einer vorurtheilsfreien Wissenschaft müssen wir doch sagen, dass es durchaus verkehrt wäre, eine Sache ohne Weiteres mit überlegenem Lächeln als unwahr zu erklären, lediglich weil die Berichte auf den ersten Blick seltsam erscheinen und weil ein Betrüger gelegentlich die Sache benutzt, um Vortheil für sich daraus zu gewinnen. Es entspricht vielmehr den Gepflogenheiten einer ge- wissenhaften Forschung, die Erscheinung vorerst genauer zu prüfen und vor Allem zu sehen, ob sich wirklich wissenschaftliche Unmöglich- keitsgründe dagegen vorbringen lassen. Wenn wir alle die bekannten Geschichten ihres mehr oder weniger sensationellen Beiwerks ent- kleiden, bleibt nur die einfache Angabe übrig, dass einzelne Menschen sich willkürlich in einen Zustand versetzen können, in dem durch eine mehr oder weniger ober- flächliche Untersuchung keine Lebenserscheinungen mehr nachweisbar sind, um später wieder zu normalem Leben zu erwachen. Nun kennen wir aber genug Fälle, wo Aerzte mit den gewöhnlichen Mitteln ihrer Praxis an Menschen durch- aus keine Spuren irgendwelcher Lebenserscheinungen mehr aufzufinden vermögen , wo weder Puls noch Athmung , weder Bewegung noch Reizbarkeit zu bemerken ist, und wo doch der vermeintliche Todte nach einiger Zeit wieder zum Leben zurückkehrt. Das sind die Er- scheinungen, die gewöhnlich als „Scheintod" bezeichnet werden, und die durch eine Reihe von Uebergangsformen mit den Erscheinungen des normalen Schlafes verbunden sind. Der Dauerschlaf, bei dem sich die Personen, wie der „schlafende Soldat", der „schlafende Berg- mann", unaufweckbar in einem Zustand herabgesetzter Lebensthätig- keit befinden , sowie besonders die Erscheinungen des Winterschlafs bei warmblütigen Thieren sind solche Uebergangsfoi'men. Wenn wir

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also die Thatsache des Scheintodes nicht bestreiten können, so schrumpft das Wunderbare und Mystische der erzählten Geschichten immer mehr zusammen und beschränkt sich allein auf die Fähigkeit, willkürlich in einen solchen Zustand tibergehen zu können. Aber auch in dieser Beziehung wissen wir, dass es möglich ist, durch Uebung körperliche Thätigkeiten , wie z. B. die Bewegung oder Hemmung gewisser Muskeln, die sonst nur unwillküi-lich erfolgen, dem Einfluss des Willens zu unterwerfen. Vor Allem aber ist bekannt, dass in gewissen pathologischen Zuständen, besonders in Fällen schwerer Hysterie, viele Erscheinungen unter den Einfluss von Willens- vorgängen treten können, die bei normalen Menschen niemals damit associirt sind. Nach alledem sind wir daher nicht berechtigt, von vornherein die Unmöglichkeit der berichteten Erscheinungen zu be- haupten, wenn wir auch die fast ausnahmslos von englischen Officieren und Beamten stammenden Berichte über die lebendig begrabenen Fakire nur mit grosser Vorsicht und Kritik aufnehmen müssen. Es wird daher eine interessante Aufgabe des Physiologen sein, die bisher noch so unklaren Erscheinungen genauer zu untersuchen und mit feineren Methoden zu prüfen, welche Lebenserscheinungen und bis zu welchem Grade sie wirklich herabgesetzt werden, um schliesslich zu zeigen, wie diese Erscheinungen des willkürlichen Schein- todes, die durchaus nichts Mystisches an sich haben, wie vielfach geglaubt wird, physiologisch zu erklären sind.

Wie wenig man berechtigt ist, die Fähigkeit gewisser Organismen zu bezweifeln, ohne die geringsten Lebenserscheinungen lebensfähig bleiben zu können, und zwar so lange Zeit, dass ihre gewöhnliche Lebensdauer weit übertroffen wird, das zeigt sich, wenn wir uns von den Wirbelthieren zu den wirbellosen Thierformen wenden, die in dieser Beziehung sehr genau untersucht worden sind.

Schon Leeüwenhoek ^) machte die überaus merkwürdige Be- obachtung, dass im Staube der Dachrinnen kleine Thierchen existiren, die vollständig eintrocknen können, ohne die Fähigkeit zu verlieren, bei Anfeuchtung mit Regenwasser wieder zu frischem Leben zu er- wachen. Seit ihrer Entdeckung durch Leeüwenhoek ist diese That- sache von einer grossen Zahl von Beobachtern bestätigt und immer genauer beschrieben worden. In der That ist es nicht schwer, sich von ihrer Wahrheit zu überzeugen. Schabt man aus einer alten Dach- rinne oder von der moosbedeckten Seite alter Baumstämme etwas von ihrer Staubkruste ab und begiesst das trockene Pulver mit reinem Regenwasser, so kann man oft schon im Laufe einiger Stunden unter dem Mikroskop eine Anzahl von kleinen Thieren munter zwischen den Schlammtheilchen umherkriechen sehen. Es sind meistens Ver- treter aus der Gruppe der Räder thierchen oder Rotatorien, deren fernrohrartig ausgezogener Körper an seinem Vorderende ein mit dicken Wimpern besetztes Bewegungsorgan besitzt, das wegen der scheinbar räderartigen Bewegung der Wimpern als „Räderorgan" bezeichnet worden ist. Neben den Rotatorien finden sich meist auch die soge- nannten Bärenthierchen oder Tardigraden, plumpe, mit vier Paaren kurzer, klauentragender Fussstummel versehene, milbenartige Thiere, die ebenso wie die Rotatorien bereits mit Nervensystem, Verdauungs-

1) Leeüavenhoek : „Epistolae ad societatem regiam Anglicam et alios illustres viros seu continuatio mirandorum arcanorum naturae detectoruin." Lugdun. Batav. 1719.

Von der lehcudiofcn Substanz.

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apparat etc. begabt sind (Fig. 41 a). Solange diese sonderbaren Thier- tornien im Wasser sind, entfalten sie sämnitliche Lebenserselieinungen in derselben ^\'eise wie andere Tliiere. Isolirt man sie aber und liisst sie auf einer Glasj)latte langsam eintrocknen, so sieht man, wie ihre Bewegungen, je mehr das \\'asser verdunstet, um so träger werden, bis sie schliesslich, sobald der Tropfen eingetrocknet ist, ganz auf- hören. Alsdann schrumpft der Körper allmählich vollkommen ein, die Haut wird runzelig und bildet Falten; die Form des Thieres ver- liert sicii bis zur Unkenntlichkeit, und einige Zeit, nachdem es ein- getrocknet ist, kann man das Thier von einem Sandkörnchen kaum noch unterscheiden (Fig. 41 h). In diesem eingetrockneten Zustande können die Thiere viele Jahre lang liegen bleiben, ohne dass sie die geringste Veränderung durchmachen. Benetzt man sie wieder mit Wasser, so kann man unter dem Mikroskop verfolgen, wie nach langem, tiefem Schlaf das Leben wie- der in den eingetrockneten Körper zurückkehrt. Das „Erwachen" des Bärenthier- chens oder die „Anabiose", wie Preyer^) diesen Vor- gang genannt hat, verläuft etwa folgendermaassen. Zu- erst quillt der Körper wie- der auf und streckt sich, die Falten und Runzeln verschwinden langsam, die Extremitäten treten hervor, und bald hat das Thier seine normale Körperform wieder gewonnen. Anfangs bleibt es noch still liegen, aber je nach der Dauer der Trocken- zeit, bald schon nach einer Viertelstunde, bald erst nach mehreren Stunden treten erst langsame, träge, dann kräf- tigere Eigenbewegungen auf,

die allmählich häufiger werden, bis nach einiger Zeit das Thier un- beholfen von dannen kriecht, um nach langem Schlafe sein Leben an dem Punkte wieder fortzusetzen, wo es unterbrochen worden w^ar.

Diese höchst merkwürdigen Erscheinungen der Anabiose sind aber nicht bloss auf die Rotatorien und Tardigraden beschränkt. Im Laufe späterer Untersuchungen, die in grosser Zahl der Leeüwenhoek'- schen Entdeckung folgten, sind sie an verschiedenen anderen Orga- nismen ebenfalls constatirt worden. Man hat sie beobachtet an den sogenannten Kleister älchen oder Anguilluliden, j enen kleinen aal- förmig gestalteten Würmern, die in kranken Weizenkörnern leben; man hat sie festgestellt bei Infusorien und Arno eben, und man kennt sie schliesslich auch von Bakterien.

Auch die längst bekannte Fähigkeit der Pflanzensamen, trocken viele Jahre lang unverändert zu bleiben, ohne dabei ihre Keimfähigkeit

Fig. 41. Macrobio- tus Hufelandi, Bärenthierchen; a im lebendigen Zustande kriechend. Nach K.

Hebtwig. b im scheintodten Zustande eingetrock- net.

^) Pketer: „Naturwissenschaftliche Thatsachen und Probleme." Berlin 1880.

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ZU verlieren, gehört in die Reihe dieser Thatsachen ; ja man hat sogar geglaubt, dass Pflanzensamen unbegrenzt lange Zeit keimfähig bleiben können. Bekannt sind die Angaben, dass Weizenkörner, die in ägyp- tischen Mumiengräbern gefunden wurden, nach mehrtausendjähriger Ruhe noch zum Keimen gebracht und wieder zu blühendem Leben erweckt worden seien. Es hat sich indessen herausgestellt, dass diese Angaben auf einer Täuschung beruhen, denn Mariette, der bekannte Aegyptologe, hat gezeigt, dass mit echtem Mumienweizen diese Ver- suche immer fehlschlagen, da bereits alle aus den Gräbern ent- nommenen Weizenkörner ein verkohltes Aussehen haben und, in Wasser gebracht, zu einem lehmigen Brei zerfallen. Dagegen scheint es nach mehreren Beobachtungen sicher, dass manche Pflanzensamen, wenn sie völlig trocken aufbewahrt werden, über hundert Jahre, viel- leicht über zweihundert Jahre ihre Keimfähigkeit erhalten können.

Für die Fixirung des LebensbegrifFs sind diese seltsamen That- sachen von hervorragender Bedeutung und fordern zu tiefgehenden Untersuchungen auf. Es handelt sich nämlich darum, ob wir die Or- ganismen in diesem eigenthümlichen Zustande wirklich für leblos er- klären dürfen.

Theoretisch stösst die Unterscheidung von lebendigen und leb- losen Organismen in ihrer allgemeinsten Fassung auf keine grossen Schwierigkeiten. Der Lebensbegriff ist gebildet worden auf Grund der Beobachtung von gewissen Erscheinungen, die sich nur an lebendigen Organismen zeigen , auf Grund der Lebenserschei- nungen. Wo wir die Lebenserscheinungen beobachten, da sprechen wir von einem lebendigen Organismus. Ja, wir können sogar diese Charakteristik des Lebensbegriffs noch vereinfachen. Fassen wir näm- lich die ganze Fülle der verschiedenartigen Lebenserscheinungen ins Auge, so linden wir, dass sich dieselben in drei grosse Gruppen ein- ordnen, in die Erscheinungen des Stoffwechsels, des Form wechseis und des Energiewechsels, denn jeder lebendige Organismus zeigt einen Wechsel der Stoffe, die ihn zusammensetzen, indem er fortwährend Stoffe von aussen in sich aufnimmt und andere Stoffe nach aussen abgiebt; er zeigt ferner einen Wechsel seiner Form, indem er sich entwickelt, wächst und sich durch Abschnürung gewisser Theile fortpflanzt, und er zeigt schliesslich einen Wechsel von Energie, in- dem er die mit der Nahrung etc. aufgenommene chemische Energie umsetzt in andere Energieformen. Aber Stoffwechsel, Formwechsel und Energiewechsel sind nicht drei verschiedene Vorgänge, die unab- hängig voneinander beständen, sie sind vielmehr nur die verschieden- artigen Erscheinungsweisen eines und desselben Vorgangs, denn kein Stoff existirt ohne Form oder Energie. Stoff, Form und Energie sind nur die drei Seiten , nach denen die Körperwelt in die Erschei- nung tritt, nach der wir die „Materie" betrachten können. Jeder Wechsel der Materie bedingt also ausser einem Wechsel des Stoffes selbst zugleich auch einen Wechsel seiner Form und seiner Energie, wenn auch im gegebenen Falle die eine Seite einmal sinnfälliger wird als die andere. Wir können also sagen, dass der Leben svorgang, als dessen äusseren Ausdruck wir die verschiedenen Lebens- erscheinungen wahrnehmen, der Wechsel der Materie oder kurz der „Stoffwechsel" (im allgemeinen Sinne) ist. Demnach ist es der Stoffwechsel, wodurch sich der lebendige vom leblosen Organismus unterscheidet.

Von der lebendigen Substanz. 135

Praktisch, d. h. im concreten Falle, gestaltet sich diese Unter- scheidung jedoch nicht immer so einfach. Das zeigen uns gerade die eingetrockneten Organismen; denn nach unserer eben angestellten Ueberlegung handelt es sich darum, ob diese Organismen in ihrem eigenthümlichen Zustande wirklich keinen Stoffwechsel besitzen, oder ob ihr Stoffwechsel nur auf ein so geringes Maass herabgesetzt ist, dass er für unsere unbewaffneten Sinne nicht in der Gestalt von Lebenserscheinungen bemerkbar wird, d. h. ob der Lebensvorgang wirklich stillsteht, oder ob nur eine „vita minima" vorliegt. Die Ent- scheidung dieser Frage ist nur mittels der feinsten und sorgfältigsten Untersuchungsmethoden möglich. Zwar hat stets die Mehrzahl der Forscher die Ueberzeugung gehabt, dass man es bei den eingetrock- neten Organismen wirklich mit einem vollkommenen Stillstand des Lebens zu thun habe, aber es war doch immer noch der Einwand möglich, dass der Stoffwechsel in diesem Zustande nur ein so geringer sei, dass er bei der Kleinheit der meisten Objecte mit unseren gewöhn- lichen Untersuchungsmethoden nicht nachgewiesen werden könne. Allein diesen Einwand dürften die in den letzten Jahren von Kochs angestellten Versuche jetzt beseitigt haben. Bei den eingetrockneten Thieren, die isolirt auf einer reinen Glasplatte aufgehoben werden, ist eine Aufnahme von fester und flüssiger Nahrung von selbst ausgeschlossen, und ebenso leicht überzeugt man sich durch directe Beobachtung, dass auch keine Abgabe von flüssigen oder festen Stoffen stattfindet. Dass aber auch nicht einmal eine Athmung, d. h. eine Aufnahme von Sauerstoff und eine Abgabe von Kohlensäure vor- handen ist, das hat Kochs ^) auf folgende Weise nachgewiesen. Er wählte zu seinen Versuchen verschiedene vollkommen trockene Pflanzen- samen und that eine grössere Quantität davon in ein weites Glasrohr, das er auf der Luftpumpe möglichst luftleer machte und dann zu- schmolz. Wäre in diesen Samen auch nur ein geringer Stoffwechsel vorhanden gewesen, so hätte man bei ihrer beträchtlichen Quantität wenigstens eine Spur von ausgeathmeter Kohlensäure finden müssen. Als aber Kochs den Inhalt der Glasröhren nach mehreren Mo- naten mittels der feinsten Methoden untersuchen Hess, fand sich auch nicht die geringste Spur ausgeathmeter Kohlensäure oder sonst eines anderen Stoffwechselproducts in den Röhren. Und diese Versuche wurden stets mit dem gleichen Erfolge wiederholt. Dennoch waren die Samen lebensfähig geblieben und keimten nach ihrer Aussaat.

Nach den Ergebnissen dieser Versuche können wir keinen Z^veifel mehr hegen , dass in den eingetrockneten Organismen das Leben in der That vollkommen still steht. Aber können wir darum die Or- ganismen in diesem eigenthümlichen Zustande als todt bezeichnen? Die eingetrockneten Organismen sind in Wirklichkeit zwar leblos, aber nicht todt, denn es ist bei ihnen nach Zufuhr von Wasser eine Anabiose möglich. Der todte Organismus dagegen ist durch nichts wieder zum Leben zurückzubringen. Der Unterschied zwischen dem eingetrock- neten und dem todten Organismus liegt darin, dass beim ersteren noch alle inneren Lebensbedingungen erfüllt und nur die äusseren zum Theil fortgefallen sind, dass dagegen beim todten Organismus die inneren Lebensbedingungen irreparable Störungen erfahren haben,

^) W. Kochs : „Kann die Continuität der Lebensvorgänge zeitweilig völlig unter- brochen werden?" In Biolog. Centralbl. Bd. X, 1890.

136 Zweites Capitel.

während die äusseren sämmtlich erfüllt sein können. Sehr treffend hat Pkeyer diesen Unterschied veranschaulicht. Er vergleicht den eingetrockneten Organismus mit einer Uhr, die aufgezogen, aber an- gehalten ist, so dass es nur eines Anstosses bedarf, um sie wieder in Gang zu setzen, den todten Organismus dagegen mit einer Uhr, die zerbrochen ist und durch keinen Anstoss mehr zum Weitergehen ver- anlasst werden kann. Wir müssen also zwischen den eingetrockneten Organismen und den todten Organismen scharf unterscheiden. An- dererseits aber können wir diese Organismen auch nicht lebendig nennen, denn sie zeigen keine Lebenserscheinungen, und, wie wir sahen, sind die Lebenserscheinungen das Kriterium des Lebens- vorganges oder des Lebens selbst. Wir Averden daher am besten thun, wenn wir den Ausdruck „scheintodt" auf diese Organismen anwenden. Den Zustand selbst, in dem sich die scheintodten Orga- nismen befinden, hat Claude Bernard als „vie latente" bezeichnet, einen Ausdi'uck, den Preyer durch „potentielles Leben" ersetzt hat im Gegensatz zu dem gewöhnlichen oder „actuellen Leben" des normalen Organismus. Um einen deutschen Ausdruck anzuwenden, können wir aber auch hier sagen : Die Organismen befinden sich im Zustande des „Scheintodes".

2. Leben und Tod.

Stiess die Fixirung des Unterschiedes zwischen Leben und Schein- tod auf praktische Schwierigkeiten, insofern die experimentelle Entscheidung, ob bei den eingetrockneten, scheintodten Organismen der Lebensvorgang in der That ganz still steht, nicht eben leicht zu treffen war, so sind es mehr theoretische Hindernisse, die sich der Feststellung einer scharfen Grenze zwischen Leben und Tod in den Weg stellen.

Der Praxis des täglichen Lebens fällt es zwar nicht schwer, den todten Organismus von dem lebendigen zu unterscheiden, denn wir haben den Begriff des Todes vom Menschen und den höheren Thieren abstrahirt und sind gewöhnt, den Moment als den Augen- blick des Todes zu betrachten, wo das sonst nie rastende Herz still- steht, und der Mensch aufhört, zu athmen. Allein wir fassen dabei, der oberflächlichen Erfahrung des täglichen Lebens folgend, nur die grossen Unterschiede ins Auge, die sich in diesem Moment gegen- über dem Zustande des ungestörten Lebens geltend machen, ohne aber die Fortdauer gewisser Erscheinungen zu bemerken, die selbst nach diesem allerdings tief eingreifenden Moment noch bestehen.

Das Kriterium des Lebens bilden ausschliesslich die Lebens- erscheinungen , d. h. die verschiedenartigen Seiten , nach denen der Lebensvorgang, der Stoffwechsel sinnlich wahrnehmbar in die Er- scheinung tritt. Aber gerade, wenn wir dieses Kriterium auf den Menschen anwenden, dann ist er in dem Moment, den wir gewöhnlich als den Moment des Todes bezeichnen, in Wirklichkeit noch nicht todt, wie eine eingehendere Prüfung sogleich zeigt.

Freilich hören die spontanen groben Muskelbewegungen auf, der Mensch wird schlaff und ruhig. Für äussere Einwirkungen aber bleiben die Muskeln häufig noch mehrere Stunden empfänglich und antworten darauf mit Zuckungen und Bewegungen der betreffenden Glieder, zeigen also Lebenserscheinungen. Ja, es tritt sogar ein

Von der lebeiidigoii Sul)stanz. J37

Moment ein, wo sich die Muskeln von selbst noch einmal allmählich zusammenziehen, das ist die „Tod te n starr e". Erst wenn diese auf- gehört hat, ist das Leben der Muskeln erloschen. Aber trotzdem ist auch jetzt der Körper durchaus noch nicht todt. Es sind nur bestimmte Organe, nur Theile von ihm, nur Zellencomplexe, wie die Zellen des Nervensystems, der Muskeln etc., die keine Lobenserscheinungcn mehr zeigen; andere Zellen und Zellencomplexe leben dagegen noch lange, nachdem die Todtenstarre vorüber ist, in unverändertem Zustande weiter. Die innere Oberfläche der Luftwege, also des Kehlkopfs, der Luftröhre, der Bronchien etc., ist bekanntlich mit einem „Flimmer- epithel" überkleidet, d. h. mit einer Schicht von dicht an einander gedrängten cylindrischen Zellen, die an ihrer Oberfläche feine, härchen- förmige Anhänge besitzen, mit denen sie eine dauernde, rhythmische iSchlagbewegung ausführen (vergl. Fig. 20 a pag. 82). Diese Flimmer- zellen bleiben an der Leiche noch Tage lang nach dem Stillstand des Herzens, also nach dem sogenannten Tode, in normaler Thätigkeit. Sie „überleben", wie man sagt. Aber selbst nach einigen Tagen ist noch immer nicht der ganze menschliche Körper gestorben. Die weissen Blutkörperchen oder Leukocyten , jene amoeboiden Zellen, die nicht bloss im Blutstrom passiv fortgetragen werden, sondern auch activ in* allen Geweben des Körpers umherwandern und im Haushalt des Organismus eine bedeutsame Rolle spielen, sind noch zum grossen Theil am Leben und können , wenn man sie unter günstigen Bedingungen hält, noch länger am Leben erhalten werden.

Nach alledem : Welchen Moment soll man als den Moment des Todes bezeichnen? Wenn man die Existenz von Lebenserscheinungen als Kriterium verwendet, so kann man consequenter Weise den Augen- blick, wo die spontane Muskelbewegung, speciell die Herzthätigkeit aufhört , noch nicht als Moment des Todes betrachten , denn andere Zellencomplexe leben noch lange Zeit ungestört weiter. Wir sehen also, es giebt nicht einen bestimmten Zeitpunkt, in dem das Leben aufhört und der Tod beginnt, sondern es ist ein allmählicher Ueber- gang vom normalen Leben zum völligen Tode vorhanden, der sich häufig schon während einer Krankheit bemerkbar zu machen beginnt. Der Tod entwickelt sich aus dem Leben.

Die Geschichte des Todes bei verschiedenen Thierklassen ist sehr verschieden. Während sich bei den Warmblütern, infolge der grossen Abhängigkeit aller Gewebezellen von ihrer Ernährung durch den Blutstrom, der Tod verhältnissmässig schnell nach dem Stillstand der Blutcirculation entwickelt, geht der Organismus der Kaltblüter durch- schnittlich viel langsamer vom Leben zum Tode über, ja die Aus- bildung des definitiven Todes, d. h. des Zustandes, in dem keine einzige Lebenserscheinung mehr am Körper wahrzunehmen ist, erfolgt in manchen Fällen erst Monate nachdem das Thier eine irreparable, tödtliche Verletzung erfahren hat. Entsprechend der grösseren Un- abhängigkeit der einzelnen Organe von der Blutcirculation sowohl als von einander können von vielen Kaltblütern auch einzelne ab- geschnittene Teile lange Zeit überleben, ehe sie zu Grunde gehen, eine Eigenthümlichkeit , auf der die besondere Brauchbarkeit solcher Thiere, wie z. B. der Frösche, für manche physiologische Unter- suchungen beruht. Man kann bekanntlich von einem Frosch einen Muskel mit seinem Nerv herausschneiden und unter geeigneten Be- dingungen Tage lang in erregbarem Zustande für Versuche am Leben

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erhalten. Hier tritt die Thatsache, dass der Tod nicht ein Zustand ist, der momentan einsetzt, sondern der sich ganz allmählich ent- wickelt, noch viel deutlicher hervor als beim Menschen.

Allein man könnte sagen, in allen angeführten Fällen handelt es sich um vielzellige Tiere, in denen die eine Zellenart früher, die andere später dem Tode anheimfällt; wie verhält es sich dagegen mit der einzelnen Zelle, die selbst bereits einen lebendigen Organismus vorstellt? Die Geschichte des Zelltodes entspricht aber genau der Todesentwicklung beim vielzelligen Organismus, eher dass hier die einzelnen wichtigen Punkte noch klarer zum Ausdruck kommen. Wir sehen auch hier, dass der Tod nicht momentan eintritt, sondern dass das normale Leben mit dem definitiven Tode durch eine lange Reihe von lückenlos in einander greifenden Uebergangszuständen ver- bunden ist , deren Verlauf häufig mehrere Tage und nicht selten mehrere Wochen in Anspruch nehmen kann. Wir sind bereits mehr- fach der Thatsache begegnet, dass kernlose Protoplasmamassen, die man von einer Zelle auf operativem Wege abgetrennt hat, nicht am Leben bleiben. Verfolgt man ein solches abgeschnittenes Stück Proto- plasma, das keinen Kern besitzt, dessen Schicksal also besiegelt ist, unter dem Mikroskop, so kann man sich überzeugen, wie es nur ganz allmählich von seinem normalen Verhalten zum völligen Stillstand aller Lebenserscheinungen übergeht ^), Sehr geeignet für diesen Zweck sind gewisse marine Rhizopodenformen, z. B. OrbitoliteS, die aus den Poren ihrer Kalkschale Büschel von nackten, kernlosen Proto- plasmafäden oder „Pseudopodien" von beträchtlicher Länge heraus- strecken, mit denen sie sich bewegen, Nahruugsorganismen festkleben und die Nahrung verdauen. Schneidet man eine solche Pseudopodien- masse von einem Orbitolites unter dem Mikroskop ab, so fliesst das Fadennetz zuerst zu einem rundlichen Tröpfchen zusammen, das aber alsbald wieder neue Pseudopodien von der gleichen Form wie der unverletzte Orbitolites ausstreckt und sich bewegt wie im Zusammenhange mit dem kernhaltigen Körper. Die neuen Pseudo- podien fangen auch noch Nahrungsorganismen, aber sie haben nicht mehr die Fähigkeit, sie zu verdauen. Das ist sehr wichtig, denn daraus folgt, dass das kernlose Protoplasmatröpfchen auch keine neue Körpersubstanz mehr zu bilden im Stande ist. Dabei bleiben die Bewegungen des mikroskopisch kleinen Klümpchens noch Stunden lang normal, und auch die Irritabilität ist erhalten. Erst ganz all- mählich werden die Pseudopodien mehr und mehr eingezogen, während keine neuen mehr ausgestreckt werden. In Folge dessen zieht sich die Masse nach und nach wieder zu einem kugeligen Klumpen zusammen. Aber noch können wir immer nicht sagen, die Protoplasmamasse wäre todt, denn noch am nächsten Tage können wir äusserst langsam verlaufende, schwache Formveränderungen feststellen, wenn wir das Object im Zwischenraum von mehreren Stunden beobachten. Erst nach einigen Tagen zerfällt das Protoplasmatröpfchen unter Aufquellung zu einem locker zusammenhängenden Körnerhaufen.

Der Tod tritt also auch in der Zelle nicht unvermittelt ein, sondern ist nur das Endglied einer langen Reihe von Processen, die, von einer irreparablen Schädigung des normalen Körpers beginnend,

*) Vebwokn: „Die physiologische Bedeutimg des Zellkerns." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 51, 1891.

Von der lebendigen Substanz. 139

nacli und nach zum voll.ständi^cn Aufhören aHer Lebenserscheinungen führen. Da aber auch während des Abhiufs dieser Processe einerseits noch Lebenserscheinungen bemerkbar sind, andererseits der Tod in- folge der Schädigung unausbleiblich ist, so ist es zweckmassig, die Zeit vom Eintritt der töiltlichen Schädigung bis zum definitiven Tode auch durch den Namen als eine Zeit lückenloser Ucbergänge zu charakterisiren und sie mit Erweiterung eines von K. H. Schultz und ViRCHOw^) in die Pathologie eingeführten Begriffs als die Zeit der „Nekrobiose" zu bezeichnen.

Wir sehen also, dass es unmöglich ist, eine scharfe Grenze zwischen Leben und Tod zu ziehen , dass Leben und Tod nur die beiden Endglieder einer langen Reihe von Veränderungen sind, die nach einander an einem Organismus ablaufen. Aber lassen wir, nach- dem wir das festgestellt haben, die Uebergangsglicder einmal ausser Betracht, und fassen wir nur die beiden Endglieder selbst ins Auge, den unversehrten , lebendigen Organismus einerseits , und andererseits etwa den gleichen Organismus mit allen Mitteln der modernen Technik üxirt und in Alkohol conservirt, so können wir diese beiden Glieder sehr scharf unterscheiden dadurch, dass im ersteren der Lebens- vorgang in ungestörtem Gange ist, wie sich aus der Entfaltung aller Lebenserscheinungen ergiebt, während im letzteren der Lebensvorgang vollkommen und dauernd still steht, wie das Fehlen der geringsten Lebenserscheinung zeigt.

Nach allen diesen Betrachtungen sind Avir nunmehr in der Lage, den Schlussstein in unsere Charakteristik der lebendigen Substanz einzufügen , mit anderen Worten den Lebensvorgang selbst allgemein zu charakterisiren.

Es hat sich gezeigt, dass ein principieller Unterschied, d. h. ein Unterschied in den Elementarstoffen und Elementarkräften , zwischen den Organismen und den anorganischen Körpern nicht existirt. Die Lebenserscheinungen der Organismen müssen also auf denselben allgemeinen mechanischen Gesetzen beruhen, wie die Er- scheinungen der anorganischen Welt. Dagegen besteht ein Unter- schied zwischen beiden grossen Körpergruppen in Bezug auf die Art der chemischen Verbindungen, zu denen die Elementarstoffe zusammen- gefügt sind, insofern in den Organismen ganz allgemein gewisse hoch- complicirte Verbindungen, besonders die in keiner lebendigen Substanz fehlenden Eiweisskörper vorkommen, die in der anorganischen Körper- welt nirgends gefunden werden. Allein es liegt auf der Hand, dass dieser Unterschied nur von derselben Art ist, wie die Unterschiede, die auch zwischen einzelnen anorganischen Körpern selbst bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung bestehen. Immerhin haben die Organismen allen anorganischen Körpern gegenüber in dem Besitz der complicirten Eiweisskörper etwas Gemeinsames.

Es hat sich ferner gezeigt, dass die lebendigen Organismen sieh von den leblosen, sei es, dass letztere scheintodt oder todt sind, unterscheiden durch ihren Stoffwechsel, d. h. durch die That- sache, dass ihre Substanz fortwährend von selbst zerfällt und sich

') E. ViECHow: „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre." IV. Aufl. Berlin 1871.

140 Zweites Capitel.

wieder regenerirt und dementsprechend fortwährend Stoffe nach aussen abgiebt und andere Stoffe von aussen her in sich aufnimmt. Die Art der aus dem Zerfall hervorgehenden Producte lässt aber erkennen, dass es sich um stickstoffhaltige Verbindungen handelt, und zwar speciell um Eiweisskörper. Da Avir schliesslich wissen, dass die stick- stoffhaltigen Eiweisskörper mit ihren Trabanten, die theils von den Eiweisskörpern abstammen, theils zu ihrem Aufbau nöthig sind, von allen organischen Verbindungen die einzigen Körper vorstellen, welche in keiner lebendigen Substanz fehlen , überall ihre Hauptmasse aus- machen und allein zum Aufbau lebendiger Substanz genügen, so können wir sagen, dass alle lebendigen Organismen charakterisirt sind durch den Stoffwechsel der Eiweisskörper.

Damit haben wir das Facit aus unseren bisherigen Betrachtungen gezogen und zugleich dem Problem der ganzen Physiologie einen einfacheren Ausdruck ge- geben. Der Lebensvorgang besteht in dem Stoffwechsel der Eiweisskörper. Ist das richtig, so ist die gesammte physiologische Forschung eine Probe darauf und hat die Aufgabe, diesen Stoffwechsel der Eiweisskörper bis in seine Einzelheiten zu verfol g% n und die verschie- denen Lebenserscheinungen als einen Ausdruck dieses Lebensvorganges zu erkennen, der sich mit derselben eisernen Not h wendigkeit daraus ergeben muss, wie die Erscheinungen der anorganischen Natur aus den chemi- schen und physikalischen Ve ränderungen der anorgani- schen Körper.

Drittes Capitel. Von den elementaren Lebenserscheinungen.

I. Die Erscheinungen des Stoffwechsels.

A. Die Aufnahme von Stoffen.

1. Die Nahruugsstoffe.

2. Der Modus der Nahrungsaufnahme von Seiten der Zelle.

B. Die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe.

1. Extracellulare und intracellulare Verdauung.

2. Die Fermente und ihre Wirkungsweise.

3. Assimilation und Dissimilation.

a. Assimilation.

b. Dissimilation.

C. Die Abgabe von Stoffen.

1. Der Modus der Stoffabgabe von Seiten der Zelle.

2, Secret- und Excretstoffe.

a. Secrete.

b. Excrete.

II. Die Erscheinungen des F o r m w e c h s e 1 s.

A. Die phylogenetische Entwicklungsreihe.

1. Die Vererbung.

2. Die Anpassung.

B. Die ontogenetische Entwicklungsreihe.

1. Wachsthum und Fortpflanzung.

2. Die Formen der Zelltheilung.

a. Die directe Zelltheilung.

b. Die indirecte Zelltheilung.

3. Die Befruchtung.

4. Die Entwicklung des vielzelligen Organismus.

m. Die Erscheinungen des Kraftwechsels.

A. Die Formen der Energie.

B. Die Einfuhr von Energie in den Organismus.

1. Die Zufuhr chemischer Energie.

2. Die Zufuhr von Licht.

3. Die Zufuhr von Wärme.

]^42 Drittes Capitel.

C. Die Energieproduction des Organismus.

1. Die Production mechanischer Energie.

a. Passive Bewegungen.

b. Bewegungen durch Quellung der Zellwände.

c. Bewegungen durch Veränderung des Zellturgors.

d. Bewegungen durch Veränderung des specifischen

Gewichts.

e. Bewegungen durch Secretion.

f. Bewegungen durch Wachsthum.

g. Bewegungen durch Contraction und Expansion.

Die amoeboide Bewegung. Die Muskelbewegung. Die Flimmerbewegung.

2. Die Production von Licht.

3. Die Production von Wärme.

4. Die Production von Elektricität.

Was wir Leben nennen, ist eine Reihe von Erscheinungen, die unter einander überaus ungleichwerthig sind. Die grösste Zahl aller der Thätigkeiten , die beim Menschen das tägliche Leben ausmachen, ist theils complexer Natur und setzt sich zusammen aus mehreren elementaren Erscheinungen, theils stellt sie erst secundäre Folgen elementarer Lebenserscheinungen vor. Selbst die scheinbar einfachen und unmittelbaren unter ihnen, wie die Blutcirculation , die Respira- tion etc., sind noch keine elementaren Lebenserscheinungen. Elementar ist erst die Contraction des Herzens und der Athemmuskeln, welche secundär die Circulation des Blutes und den Luftaustausch in den Lungen bewirkt; deim die Muskelcontraction lässt sich nicht mehr auf die Thätigkeit anderer Elemente zurückführen, sie ist unmittel- barer Ausdruck des Lebens derjenigen Zellen, an denen sie auftritt. Wollen wir aber die elementaren Lebenserscheinungen kennen lernen, so müssen wir bis auf die Zellen zurück- gehen, an denen sie auftreten.

Wenn wir so alle complicirten Thätigkeiten und secundären Er- scheinungen bis zu den ihnen zu Grunde liegenden Elementar- erscheinungen zurück verfolgen, so finden wir drei grosse Gruppen von elementaren Lebenserscheinungen, die in irgend einer Form aller lebendigen Substanz, jeder Zelle eigenthümlich sind, das sind die Erscheinungen des Stoffwechsels, des Form wechseis und des Kraft wechseis. Jede lebendige Substanz ohne Ausnahme, solange sie lebt, zeigt einen fortwährenden Wechsel der Stoffe, ferner Ver- änderungen ihrer Form und schliesslich einen Umsatz von Energie, und diesen drei grossen Gruppen der elementaren Lebenserscheinungen lassen sich alle Lebenserscheinungen, die es überhaupt giebt, einfügen, wenn man sie in ihre Elementarerscheinungen auflöst.

Suchen wir in diesem Capitel uns einen Ueberblick über die Fülle der Lebenserscheinungen zu verschaffen, indem wir zunächst nur die Thatsachen verzeichnen, um uns die Zurückführung der Erschei- nungen auf ihre mechanischen Ursachen für ein späteres Capitel vor- zubehalten.

Voll den L-lemcntartn Lebenserscheinungfen. 14S

L Die Erscheiiiuiigen des Stoffwechsels.

A. Die Aufnahme von Stoffen.

Die Aufiialime von NahrungsstofFen aus der UmgeLun«;- stellt die „Eniäliriuig" im weitesten 8inne vor. Wenn wir bei dem Begriff' der Ernährung nur an das Essen und Trinken des zusammengesetzten Organismus denken, so ist das ein äusserliclier Theil des ganzen Er- nährungsprocesses, denn was wir beim Essen und Trinken in ein einziges Organ, den Magen, einführen, kommt jeder einzelnen von den vielen Millionen Zellen zu Gute, die den Körper des Menschen zusammensetzen. Damit der Körper sich am Leben erhält, müssen alle Zellen bestimmte NahrungsstofFe aufnehmen. Unsere Betrachtung wird sich daher auf zwei Punkte erstrecken müssen, einerseits auf die Beschaffenheit der Stoffe, die jede Zelle braucht, um ihr Leben zu unterhalten, und andererseits auf den Modus der Auf- nahme dieser Nahrungsstoffe.

1. Die Nahrungsstoffe.

Alle lebendige Substanz muss, da sie fortwährend von selbst zer- fallt, Stoffe in sich aufnehmen, welche die sämmtlichen chemischen Elemente enthalten, aus denen die lebendige Substanz selbst sich wieder aufbaut.

Ist es so einerseits eine allgemeine Lebenserscheinung jeder Zelle, überhaupt Nahrungsstoffe in sich aufzunehmen, so ist andererseits die Art dieser Nahrungsstoffe für jede bestimmte Zellenform ver- schieden. Trotz aller speciellen Verschiedenheiten der Stoffe aber, die jede einzelne Zellenform für ihr Leben braucht, lassen sich doch alle Organismen in einige wenige grosse Gruppen einreihen, innerhalb deren gewisse allgemeine Uebereinstimmungen in der Art der Er- nährung herrschen.

Schon früh hat man einen fundamentalen Unterschied in der Ernährung der Pflanzen und Thiere gefunden. Alle grünen Pflanzen nehmen einfache anorganische Stoffe aus dem Erdboden und der Luft auf, um daraus ihre lebendige Substanz aufzubauen, alle Thiere dagegen ohne Aus- nahme bedürfen der hochcomplicirten organischen Verbindungen, um ihr Leben dauernd unterhalten zu können.

Diese Thatsache ist leicht festzustellen. Um sich zu überzeugen, dass Thiere ohne organische Nahrung nicht existiren können, braucht man nur entsprechende Fütterungsversuche anzustellen. Die Thiere gehen bei Fütterung mit rein anorganischen Stoffen, wie Wasser, Salzen etc., selbst Avenn diese die chemischen Elemente der lebendigen Substanz sämmtlich in richtigem Verhältniss enthalten, nach kürzerer oder längerer Zeit stets zu Grunde. Dagegen kann man durch geeignete Versuche zeigen, dass Pflanzen nur auf Kosten von anorganischen Stoffen leben, indem man sie in sogenannten „Nährlösungen" wachsen lässt, die in Gestalt von anorganischen Salzen die chemischen Elemente besitzen, welche zum Aufbau der lebendigen Substanz nöthig sind. Eine solche Nährlösung, welche die Elemente N, H, O, S, P, Gl, Na,

144

Drittes Capitel.

Mg, Ca, Fe, also mit Ausnahme des Kohlenstoffs alle organischen Elemente, in löslichen Verbindungen enthält, ist z. B. nach Sachs ^) folgendermaassen zusammengesetzt :

Wasser 1000 Cbcm

Salpetersaures Kali 1 gr

Chlornatrium 0,5

Schwefelsaurer Kalk 0,5

Schwefelsaure Magnesia 0,5

Phosphorsaurer Kalk 0,5

Schwefelsaures Eisenoxydul .... 0,005

Taucht man die Wurzel eines Maiskorns, das man in Wasser zum Keimen gebracht hat, in einen Cylinder mit dieser Nährlösung, während die oberirdischen Theile in die Luft ragen (Fig. 42), so wächst die Pflanze am Licht ganz aus- gezeichnet, entwickelt sich zu einer grossen Mais- staude, treibt Blüthen und bringt Samen, mit denen man das Experiment von vorn anfangen kann. Fehlt das Eisensalz in der Nährlösung, so wächst die Pflanze ebenfalls einige Zeit, bleibt aber farblos, und die mikroskopische Untersuchung der Blätter zeigt, dass den Zellen der ChlorophyllfarbstofF fehlt. Erst auf Zusatz von einer Spur Eisensulfat färben sich die Blätter grün.

In der Nährlösung ist, wie ein Blick auf die darin enthaltenen Stofi^e zeigt, kein Kohlenstoff. Da die Pflanze aber unter allen Umständen Kohlenstoff zum Aufbau mrer organischen Substanz braucht, so muss sie beim Wachsen den Kohlenstoff aus der Luft genommen haben. Deshalb musste der Versuch auch so angestellt werden, dass die oberirdischen Theile in die Luft ragten. Schliesst man durch Ueberstülpen einer Glocke die Luft ab, so geht die Pflanze in kurzer Zeit zu Grunde. Der Kohlenstoff ist aber in der Luft nur in Form von Kohlensäure enthalten; die Pflanze muss ihn also aus dieser Verbindung beziehen, und in der That zeigt sich denn auch, dass, wenn man unter die Glocke eine bestimmte Menge Kohlensäure gelassen hat, nach kurzer Zeit alle Kohlensäure von der Pflanze verbraucht ist. Diese wichtige Thatsache, dass die Pflanze ihren Kohlenstoff- bedarf nur aus der Kohlensäure der Luft bestreitet, ist bereits von Ingenhoüss und De Saussure entdeckt worden und bildet jetzt, nachdem sie zuerst eine Zeitlang angezweifelt worden war, eine der wichtigsten Thatsachen der ganzen Pflanzenphysiologie. Der Stickstoff der Pflanze dagegen kann, wie ein dem obigen analoger Versuch zeigt, nicht aus der Luft bezogen werden, er wird allein aus den stickstoffhaltigen Salzen des Wassers aufgenommen.

Aus diesen Versuchen geht also hervor, dass die Pflanzen ihre lebendige Substanz aufbauen aus einfachen anorganischen Ver- bindungen , und zwar aus der Kohlensäure der Luft , die von den

Fig. 42. M a i s - pflanze in einem Cylinder mit Nähr- lösung wachsend. N Nährlösung , S Maiskoi-n, K Kork. Nach Sachs.

*) Julius Sachs: „Vorlesungen über Pflanzen-Physiologie." Leipzig 1882.

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 145

Blättern aufgenommen wird, sowie aus dem Wasser mit seinen Salzen, das durch die Wurzeln in die PHanze gelangt. Demgegenüber ver- mag kein einziges Thi er seine lebendige Substanz aus einfachen an- organischen Verbindungen synthetisch aufzubauen, selbst wenn alle Elementarbestandtheilc des thierischen Körpers darin enthalten sind ; vielmehr brauchen alle Thiere ohne Ausnahme bereits fertiges organi- sches Material zu ihrem Leben.

Dieser Gegensatz zwischen Thier und Pflanze ist in der That von weittragender Bedeutung, denn er bringt die wichtige Thatsache zum Ausdruck, dassdieThier weit nicht ohne die Pflanzen- welt e X i s t i r e n kann. Zwar giebt es eine grosse Zahl von Thieren, die Fleischfresser, die nur thierische Nahrungsstoffe, vor Allem Fleisch brauchen, aber, verfolgt man weiter, Avolier wieder diese zur Nahrung dienenden Thiere ihr Material herbeziehen, so kommt man schliesslich immer zu Pflanzenfressern, und die Pflanzenfresser können ohne Pflanzennahrung nicht leben. So ist auch der Fleischfresser in letzter Instanz auf die Existenz der Pflanzen angewiesen. Ohne Pflanzen würde die Thierwelt zu Grunde gehen, denn nur die Pflanzen vermögen aus anorganischen Stoffen Kohle- hydrate, Fette und Eiweiss herzustellen, deren die Thiere zu ihrer Existenz nothwendig bedürfen. Man kann also der alten Natur- philosophie aus dem Anfange unseres Jahrhunderts nicht ganz Unrecht geben, Avenn sie in ihrer gesuchten Ausdrucksweise die ganze Thier- welt als Parasiten der Pflanzen bezeichnete.

Man hat lange Zeit geglaubt, dass der eben besprochene Unter- schied in der Ernährung der Thiere und Pflanzen ein durchgreifender ist, so dass man alle lebendigen Zellen nach ihrem Stoffwechsel ein- fach in thierische und pflanzliche Zellen trennen könnte. Allein es hat sich herausgestellt, dass dieser Unterschied doch nur innerhalb bestimmter Grenzen besteht, nämlich nur soweit es sich um thierische und grüne, d.h. chlorophyllhaltige Pflanzenzellen handelt, denn die- jenigen Bestandtheile der Pflanzenzelle, in denen die Kohlensäure auf- genommen und verarbeitet wird , sind ausschliesslich die grünen Chlorophyllkörper. Es giebt aber Pflanzen ohne Chlorophyll, wie z, B, die Pilze, die in ihrem Stoffwechsel gewissermaassen einen Uebergang zwischen den Thieren und den grünen Pflanzen bilden.

Die Pilze haben nämlich nicht die Fähigkeit der chlorophyllführen- den Pflanzen, ihren Kohlenstoff aus der Kohlensäure der atmosphärischen Luft zu beziehen; sie brauchen vielmehr, um ihren Kohlenstoffbedarf zu decken, ebenso wie die Tiere organische Stoffe, wie Eiweiss, Kohlehydrate etc, , denen sie den Kohlenstoff entnehmen. Dagegen verhalten sich die Pilze wie Pflanzen , insofern sie ihren Bedarf an Stickstoff auch aus anorganischen Salzen dem Boden entnehmen können, während die Thiere zur Deckung ihres Stickstoffbedarfs allein auf die Eiweisskörper und deren Derivate angewiesen sind. Diese That- sachen ergeben sich aus Versuchen mit Nährstofflösungen, in denen Pilze nicht wachsen, wenn ihnen kein organisches Material zur Ver- fügung steht, dagegen vortrefflich gedeihen, wenn ihnen beispielsweise in einer solchen Nährstofflösung neben stickstoffhaltigen Salzen noch Zucker geboten wird. Somit haben wir in den Pilzen eine Gruppe von Organismen, welche in ihrem Stoffwechsel halb thierische, halb pflanzliche Charaktere vereinigen. Aber auch damit sind noch nicht alle thatsächlich vorkommenden Verhältnisse erschöpft. In der Welt der

Verworn, AHgemeiiie Physiologie. 2. Aufl. 10

146 Drittes Capitel.

Mikroorganismen kommen zahlreiche Formen vor, die ganz ähnliche Uebergangsglieder vorstellen, und je mehr wir die höchst eigenartigen Lebensverhältnisse dieser mikroskopischen Wesen, vor Allem der Bakterien, erforschen, um so mehr scheint es, als ob in der Gruppe dieser niedrigsten Organismen die Verhältnisse des Stoffwechsels überhaupt noch nicht so einseitig differenzirt sind, wie bei den höher organisirten Thieren und Pflanzen. So hat unlängst erst der aus- gezeichnete Bakterienforscher WiNOGRADSKY ^) Bakterienformen entdeckt, welche in der Erde leben und ganz aus anorganischem Material, nämlich hauptsächlich aus kohlensaurem Ammon und einigen Mineralstoffen ihre lebendige Substanz aufbauen. Diese merkwürdigen Stickstoff- Bakterien (Nitromonas) verhalten sich also genau wie die grünen Pflanzen, obwohl sie kein Chlorophyll besitzen, während hingegen andere Bakterienformen ohne organische Nahrung nicht bestehen können. Werfen wir noch einen Blick auf die speciellere Ernährung der T h i e r e , so herrscht hier in Bezug auf die organischen Nahrungs- stoffe auch eine ziemlich bedeutende Verschiedenheit zwischen den einzelnen Thierformen. Es giebt zum Beispiel merkwürdige An- passungen an einseitige Nahrungsstoffe. So lebt die Raupe der Pelz- motte ausschliesslich von den aus reinem Keratin bestehenden Haaren des Pelzes. Das dem Eiweiss sehr nahe stehende Keratin ist also im Stande, alle Elementarstoffe für den Aufbau der lebendigen Substanz, aus der die Pelzraupe besteht, zu liefern. Sonst kann nur das Eiweiss als alleiniges Nahrungsmittel, wie z. B. bei den Fleischfressern, hin- reichen, um den Bedarf aller zum Aufbau des Körpers erforderlichen Elementarstoffe zu decken, und Pflüger ") hat in neuerer Zeit durch eingehende Versuche gezeigt, dass sogar Hunde dauernd von reiner Eiweissnahrung leben können, wenn sie täglich harte Arbeit verrichten müssen. Die Hunde verlieren bei diesen Versuchen schon nach kurzer Zeit fast alles Körperfett, bleiben aber im höchsten Maasse leistungs- fähig, kräftig und gesund. Dagegen ist es unmöglich, Thiere allein mit Kohlehydraten oder mit Fetten oder auch mit beiden zusammen am Leben zu erhalten. Die Thiere zehren dann trotz reichlichster Fett- oder Kohlehydratnahrung von ihrem eigenen KörpereiAveiss, wie das die fortdauernde Stickstoffausscheidung im Harne zeigt, und gehen schliesslich rettungslos an Entkräftung zu Grunde. Der Grund dafür ist ohne Weiteres klar, denn da die lebendige Substanz fortwährend von selbst in bestimmtem Maasse zerfällt, muss sie immer wieder neu aufgebaut werden, wenn das Thier leben soll. Das kann aber nicht geschehen, wenn dem Thiere kein Stickstoff geliefert wird, der ja den Kohlehydraten und Fetten fehlt. Da aber, wie wir sehen, die Thiere aus anorganischen Verbindungen keinen Stickstoff aufnehmen können, so ergiebt sich, dass die Eiweisskörper, die allein die stickstoffhaltigen Nahrungsstoffe repräsentiren , unumgänglich nöthig sind für die Er- haltung des thierischen Lebens. Wir finden also die wichtige Thatsache, dass die Eiweisskörper allein von allen or- ganischen Substanzen für die Ernährung der Thiere unentbehrlich, aber auch in gewissenFällen allein aus- reichend sind, um das Leben der Thiere dauernd zu er-

^) WiNOGRADSKY in Annales de l'institut Pasteur 1890.

2) Pflüger: „Die Quelle der Muskelkraft." In Pflüger's Arch. Bd. 50, 1891. Derselbe: „lieber Fleisch- und Fettmästung." In Pflüger's Arch. Bd. 52, 1892.

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 147

halten. Pflüoer unterscheidet daher das Ei weiss als „Urnahrung" von den Kohlehydraten, Fetten etc., die nur als „Ersatznahrunj^" fungiren.

Allen Organismen gemeinsam ist neben der Aufnahme der eigentlichen Nahrung im engeren Sinne die Aufnahme von Sauer- stoff, ein Vorgang, der als „Athmung" bezeichnet wird. Freilich nehmen nicht alle Organismen den Sauerstoff in gleicher Form und aus gleicher Quelle auf. Die Landorganismen nehmen ihn in Gasform aus der Luft, die Wasserorganismen verbrauchen den im Wasser ge- lösten Sauerstoff und die Gewebezellen der mit Blutcirculation ver- sehenen Thiere, sowie manche parasitär lebenden Organismen entziehen ihn ciiemischen Verbindungen, und zwar die Gewebezellen dem Haemo- globin des Blutes , an das er locker gebunden ist und gewisse Para- siten sogar verhältnissmässig festen Verbindungen. Dabei nehmen alle Organismen immer nur eine gewisse Menge Sauerstoff in sich auf, auch wenn ihnen mehr Sauerstoff geboten wird; ja ihr Sauerstoff- verbrauch wird im Wesentlichen nicht einmal in einem Medium von reinem Sauerstoff vermehrt. Die lebendige Substanz ist also innerhalb gewisser Grenzen ziemlich unabhängig von der Sauerstoffmenge, die ihnen zu Gebote steht. Aber alle Organismen ohne Ausnahme bedürfen einer gewissen Menge Sauerstoffs noth wendig zum Leben. Sperrt man die Organismen von jeder Sauerstoffquelle ab, so gehen sie nach kürzerer oder längerer Zeit unfehlbar zu Grunde. Ohne Athmung existirt kein Leben.

Schliesslich nehmen alle Organismen ohne Ausnahme Wasser in sich auf und mit dem Wasser gewisse Salze, die, soweit sie nicht schon in der übrigen Nahrung enthalten sind, ebenfalls unentbehrlich sind für die Erhaltung des Lebens, wenn auch in Bezug auf die Art der erforderlichen Salze unter den einzelnen Organismen weit- gehende Verschiedenheiten herrschen. Unentbehrlich aber scheinen allen Organismen zu sein die phosphor-, schwefel-, kohlenstoff- und chlorhaltigen Salze des Natriums, Kaliums, Magnesiums, Kalks und Eisens.

Das ist ein Ueberblick über die Nahrungsstoffe der Organismen. Betrachten wir jetzt, wie die einzelne Zelle diese Nahrung in sich aufnimmt.

2. Der Modus der Nahrungsaufnahme von Seiten

der Zelle.

Die Nahrungsstoffe sind theils in gasförmigem, theils in flüssigem, d. h. gelöstem, theils in geformtem Zustande, aber bei Weitem nicht alle lebendigen Zellen sind in der Lage, geformte Nahrung aufzu- nehmen. Die grösste Mehrzahl aller Zellen, fast alle thierischen Gewebezellen, ein grosser Theil der pflanzlichen Zellen und viele ein- zellige Organismen nehmen nur gelöste Nahrung auf, sei es, dass ihre Nahrung von vornherein gleich ausschliesslich in gelösten Stoffen be- steht, sei es, dass sie die geformte Nahrung ei'st durch Einwirkung bestimmter Secrete ausserhalb ihres Zellkörpers in den gelösten Zu- stand überführen. Nur eine verhältnissmässig kleine Zahl von Zell- formen ist auf die Aufnahme geformter Nahrung eingerichtet.

Die Aufnahme der gasförmigen und gelösten Nah- rungsstoffe, die wir als „Resorption" bezeichnen, ist wesentlich

10*

148 Drittes Capitel.

verschieden, je nachdem die betreffenden Zellen eine Membran be- sitzen oder nicht. Bei den membranlosen Zellen können alle gelösten NahrungsstofFe , welcher Art sie auch seien, an der Oberfläche des Protoplasmas ohne Weiteres in chemische Wechselbeziehung mit den Stoffen der lebendigen Substanz treten. Anders bei den Zellen, deren Protoplasma dui-ch eine Zellmembran nach aussen abgegrenzt ist. Hier ist es noth wendig, dass die Kahrungsstoffe die Fähigkeit haben, durch Membranen zu diffundiren. Die Stoffe, welche das nicht können, müssen daher erst in diffusible Formen übergeführt werden , um ins Innere der Zelle zu gelangen.

Eine Zufuhr von gasförmiger und gelöster Nahrung steht aber jeder Zelle zur Verfügung.

Bei den Pflanzen tritt die Kohlensäure und der Sauerstoff der Luft in directe Berührung mit den Zellen der Blätter. Ebenso ist es in den Lungen der Wirbelthiere. Die feinsten Aeste des Bronchial- baumes endigen in kleinen blinden Säckchen, den sogenannten Lungen- alveolen, die von einer äusserst dünnen Lage von Epithelzellen ge- bildet und von einem dichten, ebenfalls überaus dünnwandigen Netz von Blutcapillargefässen umsponnen sind. Durch die dünnen Wände kann der Sauerstoff der in die Lungen eingeathmeten Luft leicht hin- durchtreten, um dann von den rothen Blutkörperchen gierig aufgesaugt und im ganzen Körper umhergetragen zu werden.

Auch die gelösten Stoffe bespülen stets die Oberfläche der Zellen In den Pflanzen steigen sie mit dem Wasser in feinen röhrenförmigen Kanälen in die Höhe und werden so den Zellen direct zugeführt. Im zusammengesetzten Thierkörper stehen die Zellen theils unmittelbar, wie die Zellen des Darmepithels, mit den gelösten Nahrungsstoffen des Darmtractus in Berührung, theils werden sie, wie die sämmtlichen übrigen Gewebezellen, vom Blutstrom umspült, der ihnen die gelöste Nahrung bereits in bestimmt verarbeiteter Form zuträgt. Auch bei solchen wirbellosen Thieren, die kein eigentliches Blutcirculations- system besitzen, stehen die Zellen entweder unmittelbar mit dem um- gebenden Wasser in Berührung oder werden von Säften versorgt, die in feinen Intercellularlücken die Zellen umspülen. Am einfachsten schliesslich liegen die Verhältnisse bei einzelligen Organismen, die sich, wie die Algen, Bakterien und Andere, stetig in einer Nährlösung, sei es im Wasser mit seinen Salzen, sei es in organischen Flüssigkeiten, befinden.

Eine Aufnahme geformter Nahrung finden wir nur bei wenigen Zellformen. Von den einzelligen Organismen nehmen alle Rhizopoden, die meisten Wimperinfusorien und einige Geisseiinfusorien geformte Nahrung auf. Im zusammengesetzten Zellenstaat besitzen die Leukocyten oder weissen Blutkörperchen, die deshalb von Metschnikoff auch als „Phagocyten" (Fresszellen) bezeichnet worden sind, ferner die bei niederen Thieren die Rolle von Leukocyten spielenden amoeboiden Wanderzellen , dann amoeboide Eizellen , wie sie bei Schwämmen vorkommen, und schliesslich die Darmepithelzellen diese Fähigkeit. Unter allen diesen Zellformen kann man zwei Typen nach der Art der Aufnahme geformter Nahrung unterscheiden : Die einen können an jeder beliebigen Stelle ihrer Oberfläche die Nahrungskörper in ihre lebendige Substanz aufnehmen; das sind alle amoeboiden Zellen, zu denen die Rhizopoden, Leukocyten und Darmepithelzellen gehören ; die anderen haben eine besondere, dauernd bestehende Zellmundöffnung,

Von den elementaren Lebenserscheinunj^en.

149

das sind die Wimper- und Geisseiinfusorien, die bereits eine bestimmt fixirte Körperform mit festerer Hautscliicht besitzen. Alle Zellen aber, welche überhaupt geformte Nahrung aufnehmen, können es nur ver- möge ac'tiver Körperbewegungen.

Als Beispiel für den ersten Typus kann uns die Nahrungs- aufnahme der Am o eben dienen. Der Vorgang, den man nur ver- hältnissmässig selten vollständig beobachtet, verläuft etwa folgender- maassen. Eine Amoebe, die wir im Wassertropfen unter dem Mikroskop betrachten, kriecht, indem sie bald hierhin, bald dorthin die lebendige Substanz ihres formlosen Protoplasmakörpers in breite, lappenförmige Ausläufer vorfliessen lässt, auf der Glasplatte umher (Fig. 43). Plötzlich wendet sie sich auf eine kleine, in der Nähe liegende Algenzelle zu und kriecht heran , bis sie die Algenzelle be- rührt. Alsbald beginnt ihr Protoplasma in Form der gewöhnlichen lappigen „Pseudopodien" von der Seite her um die Algenzelle herum- zufliessen, aber durch das herandrängende Protoplasma wird die Algen- zelle fortgeschoben und die Amoebe muss von Neuem einen Versuch machen, mit ihren Pseudopodien die Algenzelle zu umfliessen. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen gelingt es häufig der Amoebe, die

Fig. 43. Amoebe eine Algenzelle fressend. Vier aufeinander folgende Stadien

der Nahrungsaufnahme.

Algenzelle in eine solche Lage zu bringen und durch ein feines klebriges Secret so festzuhalten, dass ihre Pseudopodien die Alge voll- ständig umgreifen können. Indem jetzt das Protoplasma immer w^eiter und weiter um die Algenzelle herumfliesst, schliesst es sie allmählich von allen Seiten her ein, und die Alge befindet sich von einer dünnen Wasserhülle, der sogenannten „Nahrungsvacuole", umgeben im Innern der Amoebe, die dann unbehindert weiterkriecht. Die Amoebe nimmt also die geformte Nahrung in sich auf, indem ihr Protoplasma den Nahrungskörper einfach umfliesst. Allein nicht immer verläuft der Act so glatt. Die Schwierigkeiten, welche entstehen, bis der Nahrungskörper, der fortwährend dem Druck des heranfliessenden Protoplasmas nachgiebt, so fixirt ist, dass ihn das Protoplasma von allen Seiten umschliessen kann, sind häufig so gross, dass die Amoebe sich mit ihren auch nach anderen Seiten fortdauernd voi-fliessenden Pseudopodien nicht selten wieder von ihrem Opfer entfernt und von Neuem erst wieder herankriechen muss, um sich desselben zu be- mächtigen, wenn sie sich nicht zu weit aus der Einwirkungssphäre des Nahrungskörpers entfernt hat.

Genau wie bei der Amoebe findet auch die Nahrungsaufnahme bei den anderen Rhizopoden statt, mögen sie nun dicke lappige, feine

150

Drittes Capitel.

fadenförmige oder baumartig verästelte Pseudopodien haben. Sind die Nahrungskörper bewegliche Organismen, wie z. B. Infusorien, so be- wirken sie durch den Reiz des AnschAvimmens an den Rhizopoden- körper meist die Ausscheidung eines klebrigen Secretes, die durch den Reiz der Fluchtversuche nur noch vermehrt wird, so dass die Nahrungsorganismen immer fester kleben und in das Protoplasma hin- eingezogen werden können. Auch die amoeboiden Wand er z eilen und Leukocyten nehmen geformte Stoffe, die sich im Blute oder in den Gewebelücken zwischen den Zellen befinden, ebenso auf, wie die Arno eben, und besitzen, wie Metschnikopp ^) in neuerer Zeit durch seine bewunderungswürdigen Arbeiten gezeigt hat, eine überaus grosse Bedeutung für den Schutz des Körpers vor Infectionskrank- heiten, indem sie Bakterien, die in eine Wunde hineingekommen sind, auffressen (Fig. 44), ihre Vermehrung verhüten und den Körper vor

Fig. 45 A.

^M-Jl

Fig. 44. Leukocyt vom Frosch, einen Bakterienfaden fressend. Drei aufeinander folgende Stadien der Nahrungsaufnahme. Nach Metschnikoff.

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Fig. 45 B.

Fig. 45. A Darmepithelzellen des Lebe regeis mit pseudopodienartigen Proto- plasmafortsätzen zur Aufiiahme der Blutkörperchen a, b und Chylustropfen c. Nach Sommer. B Darmepithelzellen vom Wirbelthier bei der Fettaufnahme. Im Innern der Zellen befinden sich schon einzelne mikroskopische Fetttröpfchen. Nach

Thanhoffer.

weiterer Erkrankung schützen. Endlich schliesst sich auch die Auf- nahme mikroskopischer Fetttröpfchen von Seiten der Darm epith el- z eilen demselben Modus der Nahrungsaufnahme an. Bei niederen Thieren, z. B. bei Würmern, sind die Darmepithelzellen wirklich amoeboide Zellen und umfliessen mit ihren Pseudopodien die Fett- kügelchen des Speisebreies (Fig. 45 J-). Bei den höheren Thieren, bei den Säugethieren und dem Menschen dagegen erscheinen die Darm-

1) Metschnikoff : „Untersuchungen über die intracellulare Verdauung bei Wirbel- thieren." In Arbeiten aus dem zool. Inst. d. Univ. Wien 1884, Bd. V. Derselbe: „Ueber die Beziehungen der Phagocyten zu Milzbrandbacillen." In Virchow's Arch. f. Anat., Physiol. u. klin. Med. Bd. 107, 1886.

Von den elementaren Lebenserscheinuugen.

151

epithelzellen etwas inoditicirt. iSie stellen cylindrische Zellen vor, die an ihrer freien Fläche nach dem Darmliunen hin einen gestreiften Saum besitzen. Dieser gestreifte Saum repräsentirt aber, wie Than- HüFFER ^) gezeigt hat, in Wirklichkeit nichts anderes als feine pseudo- podienähnliche Protoplasmafortsätze, die ausgestreckt und zurückgezogen werden können, und mit denen die Darmepithelzelle, genau wie die Amoebe, die Fetttröjjfchen umfliesst und in ihren Körper hinein- zieht (Fig. 45^).

Ganz anders sind die Verhältnisse beim zweiten Typus der Nahrungsaufnahme, wo die Zelle eine festere, formbeständige Ober- Hächenschicht besitzt und nur eine kleine OefFnung, den Zellmund, der direct ins dünnflüssige Endoplasma führt. Hier vermittelt ausschliess- lich die Bewegung der Wimpern und Geissein der Zelle die Aufnahme der geformten Stoffe. Als Beispiel kann uns die niedliche Vor ticella dienen, ein Wimperinfusorium, dessen glockenförmiger Zellkörper auf einem contractilen Stiel festsitzt und an seinem breiten Ende mit einem spiralförmigen Kranz von Wimpern besetzt ist (Fig. 46j. Am Grunde

a b c d

Fig. 46. Vor ticella bei der Nahrungsaufnahme in vier aufeinander folgenden Stadien. Eine Algenzelle wird in den Zellmund hineingestrudelt und durch den Pharynx ins

Endoplasma aufgenommen.

dieses spiralförmigen Wimpertrichters befindet sich der Zellmund, der sich noch ein Stück weit als Zellpharynx in das Protoplasma fortsetzt, aber dann allmählich im dünnflüssigen Endoplasma verschwindet. Die W^impern des „Peristomkranzes" schlagen nun fortwährend in rhyth- mischem Tempo und erzeugen auf diese Weise im Wasser einen Strudel, der so gerichtet ist, dass er kleine Theilchen, wie Detritus- und Schlammpartikelchen, Bakterien, Algen etc., welche im Wasser suspendirt sind, in den Zellmund hineinstrudelt, von wo sie mit einer Wasserhülle umgeben durch Contractionen des Körpers in den Zellpharynx und weiter bis in das Endoplasma geschoben werden (Fig. 46). Der Vorgang lässt sich sehr leicht beobachten, wenn man, wie das schon Ehrenberg ^) gethan hat, Karmin- oder Indigokörnchen in das Wasser mischt. Alsdann sieht man, wie die Vorticellen die rothen oder blauen Körnchen in sich hineinstrudeln und in ihrem

1) Thashoffer: ,,Beiträge zur Fettresorption und histologischen Structur der Dünndarmzotten." In Pflüger's Arch. Bd. 8, 1874.

-) Ehrenberg: „Die Infusionsthiere als vollkommene Organismen." Leipzig 1838.

152

Drittes Capitel.

Protoplasma zu Klumpen zusammenballen, die von einer Wasserhülle, der Nahrungsvacuole, umgeben sind.

Ganz ähnlich wie bei Vorticella ist auch die Nahrungsauf- nahme bei den anderen Infusorien. Die freischwimmenden Formen suchen häutig festliegende Nahrungsmassen selbst auf und strudeln sie in sich hinein. Ja es kommt vor, dass manche Infusorien, wie z. B. Coleps, ein kleines eiförmiges Wimperinfusorium mit zier- lichem Gitterpanzer, grosse Nahrungsballen, die breiter sind als ihre Mundöffnung, aufnehmen, indem sie sich mit der Mundöffnung durch die Kraft ihres Wimperschlages auf den Nahrungsballen hinaufpressen,

Fig. 47. Vier Individuen von Coleps hirtus einen Nahrungsballen um- schwärmend und auinehmend.

bis sich die Mundöffnung, wie bei einer Schlange, immer mehr und mehr erweitert. So „lutschen" sie förmlich den Nahrungsballen in sich hinein (Fig. 47).

Die Aufnahme geformter Nahrung von Selten der Zelle ist also in jedem Falle durch active Bewegungen des Zellprotoplasmas oder seiner Bewegungsorganoide bedingt.

Bei der Aufnahme von Stoffen seitens der lebendigen Zelle ver- dient eine Erscheinung noch besonderes Interesse, das ist die That- Sache der N a h r u n g s a u s w a h 1. Von verschiedenartigen , in dem- selben Medium lebenden Zellen nimmt jede Zelle andere Stoffe in sich auf, Stoffe, die sie für den Aufbau gerade ihrer charakteristischen Zellsubstanz nöthig hat. Das ist schon deutlich bei den Gewebezellen

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

153

hochorganisirter Tliiere, z. B. des menschliclien Körpers. Hier ist die BlutÜUssigkeit das gemeinsame Nährmaterial für alle Gewebezellen. Aber dieser gemeinsamen Nälirflüssigkcit entnimmt jede Zellform die gerade für ihr Leben nothwendigen Stoffe; die Schleimzelle andere als die (langlicnzelle, die Muskelzelle andere als die Knorpolzelle, die Leberzellc andere als die Sinneszelle u. s. f. Die verschiedenen Zellen wählen gewissermaassen jede nach ihrem Bedürfniss ganz verschiedene Stoffe für sich aus.

Vielleicht noch auffallender ist diese Erscheinung der Nahrungs- auswahl bei gewissen freilebenden Zellen, die geformte Nahrung auf- nehmen. CiENKOWSKi ^) , der das Leben der niedrigsten Rhizopoden- formen, der nackten „Monaden", eingehend studirt hat, giebt uns eine interessante Schilderung davon, wie sich Colpodella und Vam- pyrella, zwei einfache nackte Rhizopodenzellen, ihre Nahrung ver-

Fig. 48. Vampyrella Spirogyrae eine Spirogyrazelle anbohrend und aus- saugend. A Die Spirogyrazelle ist ange- bohrt und der Inhalt tritt in die Vampyrella über. B Die Spirogyrazelle ist vollständig ausgesaugt. Bei * eine angebohrte und bereits leer gefressene Spirogyrazelle. Nach Ciex-

KOWSKI.

schaffen, die aus lebendigen Algenzellen besteht. Cienkowski erzählt uns: „Obwohl die Zoosporen- und Amoebenzustände der Monaden nur nackte Protoplasmakörper vorstellen, so ist trotzdem ihr Verhalten bei Aufsuchen und Aufnahme der Nahrung so merkwürdig, dass man Handlungen bewusster Wesen vor sich zu sehen glaubt. So sticht z. B. die Colpodella pugnax die Chlamydomonas an, saugt das heraustretende Chlorophyll und läuft davon. Einen zweiten seltsamen Fall dieser Art bietet die Vampyrella Spirogyrae. Die zu ihr gehörende Amoebe legt sich nämlich an gesunde Spirogyren an, bohrt die Zellwand durch und verschlingt den langsam heraustretenden Primordialschlauch mit dem Chlorophyllbande zusammen. Und nur an Spirogyren scheint sie den Hunger stillen zu können." (Fig. 48.) Aber Avir brauchen gar nicht so weit zu suchen. In unserem eigenen Körper haben wir Zellen, die sich ganz ähnlich verhalten.

^) Cienkowski: „Beiträge zur Kenntniss der Monaden." In Arch. f. niikr. Anat. Bd. I, 186.5.

154

Drittes Capitel.

Die Leukocyten oder weissen Blutkörperchen, jene amoeboiden Wanderzellen unseres Körpers , fressen , wie Metschnikofp ^) durch seine langjährigen Untersuchungen gezeigt hat, gewisse Bakterien- formen, die in den Körper gelangt sind, auf und verdauen sie, während sie andere Bakterien verschmähen, ja sogar geradezu fliehen, und ebenso fressen die Darmepithelzellen, wie wir gesehen haben, nur Fetttröpfchen, während sie sich anderen kleinen Partikelchen, die in den Darm gebracht werden, wie Carminkörnchen etc. gegen- über völlig passiv verhalten.

E

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Fig. 49. Verschiedene Difflugien-Gehäuse. A aus Diatomeenschalen, B aus feinen Sandkörnchen, C aus feinen und groben Sandkörncheu, B aus Diatomeenschalen und Sandkörnchen, E aus groben Sandkörnchen, J^ die gleiche Form wie £, aus blauen

Glassplittem gebaut.

Eine andere, sehr interessante Erscheinung schliesslich, die zwar nicht in der Aufnahme von Nahrung, wohl aber ebenfalls von solchen Stoffen besteht, die im Leben der betreffenden Organismen eine Rolle spielen, ist gleichfalls vielfach, wenn auch mit Unrecht auf ein Auswahl- vermögen der Zelle bezogen worden. Es ist die Aufnahme von Schalen- und Gehäusebaumaterial von Seiten gewisser schalentragender Rhizo- poden. Die D ifflugi en, einzellige Rhizopoden des Süsswassers, deren nackter Protoplasmaleib in einem überaus zierlichen Gehäuse von Urnen- oder Flaschenform steckt, nehmen das Baumaterial für ihre niedlichen Wohnungen aus dem Schlamm der Tümpel und Seen, an deren Grunde sie leben, mit ihren fingerförmigen „Pseudopodien"

^) Metschnikoff : Paris 1892.

„Le^ons sur la pathologie comparee de rinflammation."

Vou den elementaren Lebenserscheinungen. 155

selbst in sich auf^). Das Baumaterial ihrer Gehäuse ist sehr ver- schieden, aber man findet Formen, deren Gehäuse nur aus einem ganz bestimmten Material zusammengekittet ist (Fig. 49). So hndet man Diffl ugi en formen, die ihr Gehäuse nur aus den Panzern der Kieselalgen oder „Diatomeen" autgebaut haben, wälircnd andere nur Sandkörnchen von bestimmter Grösse und wieder andere Schlamm- partikelchen zu ihrer Maurerarbeit benutzt haben. Man hat daraus den Schluss ziehen wollen, dass die Diffl ugi en das Baumaterial unter den iimcn zu Gebote stehenden Stoffen auswählen. Allein es lässt sich, Avenigstens in vielen Fällen, nachweisen, dass hier keine wirk- liche Auswahl vorliegt, in dem Sinne, wie es bei der Nahrungsauf- nahme der oben genannten Zellen der Fall ist. Es hängt vielmehr die Thatsache, dass die Formen eines und desselben Standortes nur ein bestimmtes Material zum Gehäusebau benutzen, vielfach nur von dem Umstände ab, dass ihnen an dem betreffenden Standort nur dieses eine Material zur Verfügung steht. Untersucht man z. B. die Wohn- stätte einer Form, die ihr Gehäuse nur aus Schlamm oder aus selbst ausgeschiedenen Stoffen baut, so findet man, dass hier andere Materialien, etwa Diatomeenpanzer oder Sandkörner, vollständig fehlen. Giebt man aber einer solchen Form die Möglichkeit, auch anderes Material zu bekommen, indem man in das Culturgefäss , in welchem man sie hält, sehr fein pulverisirten Sand oder, noch besser, sehr fein zermahlenen Staub von buntem Glase schüttet, so findet man die durch Fort- pflanzung neu entstandenen Individuen mit einem zierlichen Gehäuse von bunten Glassplittern umgeben^). Auch der Umstand, dass einige Formen nur kleine Sandkörnchen, andere vorwiegend grössere in ihrem Gehäuse haben, ist zum Theil auf die Beschaffenheit des ihnen zu Gebote stehenden Materials zurückzuführen, zum Theil aber auch auf andere äussere Verhältnisse, wie z. B. auf die Enge der Gehäuse- mündung mancher Formen, die es nicht gestattet, dass der Protoplasma- körper grössere Sandkörnchen hindurchzieht. Es scheint demnach, dass in den meisten Fällen beim Gehäusebau der Difflugien von einer wirklichen Auswahl des Baumaterials nicht die Rede ist, und es ist bisher überhaupt noch kein Fall bekannt geworden, wo eine solche wirklich mit Sicherheit festgestellt worden wäre. Wir haben also bis- her keine Berechtigung, die Aufnahme von Baumaterial bei dem Ge- häusebau der Difflugien dem Akt der Nahrungsauswahl der leben- digen Zelle an die Seite zu stellen, wie es öfter geschehen ist.

B. Die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe.

Den Vorgang des Aufbaues der lebendigen Substanz aus den aufgenommenen Nahrungsstoffen bezeichnen wir am besten, wenn wir, wie das schon mehrfach geschehen ist, einen Begriff der Botaniker verallgemeinern, mit dem Worte „Assimilation". Unter Assimi- lation im engeren Sinne wird seit langer Zeit in der Botanik die synthetische Bildung des ersten sichtbaren organischen Stoffes, der Stärke aus den aufgenommenen anorganischen Verbindungen in der Pflanze verstanden. Allein es ist zweckmässig , den Begriff" zu er-

1) Verwohn: „Biologische Protistenstudien" I. In Zeitschr f. wiss. Zool. Bd. 46, 1888-

2) a. a. O. II. Bd. 50, 1890.

156 Drittes Capitel.

weitern und ihn auch für den Aufbau der höheren organischen Ver- bindungen, vor Allem der Eiweisskörper, und zwar nicht bloss in der Pflanze, sondern auch im Thiere zu verwenden. Wir würden daher unter Assimilation die Gesammtheit der Processe ver- stehen, welche zum Aufbau der lebendigen Substanz bis zum Höhepunkt ihrer complicir testen Constitution, der Synthese der Eiweisskörper, führen, und können dann dem Aufbau oder der Assimilation den Zerfall als „Dissimilation" gegenüberstellen.

1. Extracellul are und in tracellulare Verdauung.

„Corpora non agunt nisi soluta." Dieser alte Satz spielt im Leben der Zelle eine überaus grosse Rolle. Damit die aufgenommenen Nahrungsstoffe chemisch wirken und zum Aufbau der lebendigen Substanz verwendet werden können, müssen sie in gelöstem Zustande sein •, da aber die vom Organismus aufgenommene Nahrung zum Theil geformte Nahrung ist, muss sie erst in lösliche Formen übergeführt werden, und diesen Vorgang bezeichnen wir als Verdauung. Wir sahen, dass nur wenige Zellen die Fähigkeit haben, geformte Nahrung in sich aufzunehmen^ bei diesen sprechen wir dann von einer „intra- c e 1 1 u 1 a r e n Verdauung", da die Ueberführung der geformten Nahrung in lösliche Verbindungen hier im Innern der Zelle vor sich geht. Die grosse Mehrzahl der Zellen dagegen kann keine geformte Nahrung in ihren Zellkörper hineinziehen ; bei ihnen muss also die Umsetzung der geformten Nahrungsstoffe in lösliche Formen schon ausserhalb der Zelle stattfinden, damit eine Aufnahme möglich ist. Wir bezeichnen daher diese Umformung als „ex tracellulare Verdauung" und die Aufnahme der gelösten Nahrung als „Re- sorption".

Die Ueberführung der geformten Nahrung, wie der geronnenen Eiweisskörper, der Stärke, der Fette etc., in lösliche Verbindungen geschieht durch Einwirkung bestimmter Secrete, welche der Zellkörper nach aussen abgiebt. Diese eigenthümlichen Secrete werden „Enzyme" oder gelöste Fermente genannt. Den Erfolg ihrer Wirkung können wir uns auch ausserhalb des Organismus vor Augen führen, indem wir ein Enzym, z. B. das „Pepsin", welches von den Zellen der Magen- drüsen producirt wird, auf eine geronnene Eiweissflocke einwirken lassen. Thun wir z. B. in ein Becherglas eine Lösung von Pepsin in Wasser, das wir mit dem gleichen Volumen 0,4procentiger Salzsäure versetzt haben, so sind wir im Besitze eines künstlichen Magensaftes. Wenn wir in diese Verdauungslösung eine Fibrinflocke, d. h. eine Flocke jenes Eiweisskörpers, der durch seine spontane Coagulation die Gerinnung des Blutes ausserhalb der Blutgefässe herbeiführt, hinein- legen und das Becherglas in einem Verdauungsofen auf Körpertemperatur erwärmen, so finden wir nach einiger Zeit, dass die feste Fibrinflocke anfängt, aufzuquellen, von aussen her durchsichtig zu werden und sich allmählich in der Flüssigkeit aufzulösen. Schliesslich ist die ganze Fibrinflocke als solche verschwunden, und wir finden statt ihrer in der Flüssigkeit vertheilt Pepton, jene Modification der Eiweiss- körper, die, wie wir bereits früher gesehen haben, durch hydrolytische Spaltung des polymeren Eiweissmoleküls entsteht, in Wasser löslich ist und durch organische Membranen difFundirt. Neben dem Pepton

Von deu elementaren Lebenserscheinungeu.

157

finden wir noch gewisse Uebergangsstufen zwischen dem nativen Ei- weiss und dem Pepton, die ebenfalls in Wasser löslich sind und als Album osen bezeichnet werden. Auf die eigenthümliche Wirkungs- weise der Fermente selbst werden wir sogleich näher eingehen.

Was hier bei der extracellularen Verdauung ausserhalb des Zellkörpers geschieht, was wir sogar im Reagenzglase nachahmen können, dasselbe erfolgt bei der intracellularen Verdauung inner- halb des Protoplasmas. Auch hier können Avir den Process verfolgen, und zwar am besten an dem nackten Protoplasmaleib der Rhizopoden.

Fig. 50. Liebe rkühnia, ein Süsswasserrhizopod, aus dessen eiförmiger Schale ver- zweigte Pseudopodienstränge heraustreten.

L i e b e r k ü h n i a ist ein grosses Süsswasserrhizopod , aus dessen ei- förmiger membranöser Schale durch eine Oeffnung am spitzen Pol dicke, baumartig verzweigte Pseudopodienstränge heraustreten (Fig. 50). Beobachten wir mit dem Mikroskop , wie die Lieberkühnia ein unvorsichtig an seine Pseudopodien anschwimmendes Infusorium fängt und verdaut^), so sehen wir, dass die Beute zuerst an den Pseudopodien hängen bleibt, durch heftige Fluchtbewegungen sich immer fester und fester verstrickt und nun allmählich , sei es ganz

1) Veravorx: „Psycho-physiologische Protistenstudien." Jena 1889, Tafel III.

158

Drittes Capitel.

sei es theilweise, vom Pseudopodienprotoplasma umflossen wird (Fig. 51). Einige Zeit dauern die Bewegungen des Infusoriums noch fort, bald aber werden sie matter und matter, und gleichzeitig beginnt sich schon seine Körperform zu verändern. Dann sieht man, wie es an Volumen

Flg. 51. Ein lang ausgestrecktes Pseudopodium von Lieberkühnia, auf

dem sich ein Infusorium (Colpidium colpoda) gefangen hat. a, b, c, d, e, f

verschiedene Stadien der Verdauung dieses Infusoriums.

immer mehr abnimmt, während flüssige und körnige Theile seines Protoplasmakörpers auf das Pseudopodienprotoplasma übertreten, sich mit diesem mischen und nicht mehr unterscheidbar dem Centralkörper der Lieberkühnia zuströmen. So wird allmählich der ganze Körper des Infusoriums aufgelöst, und sein verflüssigter Inhalt mischt

Von den elementaren Lebenserscbeinungen.

159

sicli mit dem Protoplasma der Lieberkühnia, bis nichts Unter- scheidbarcs mehr von ihm übrig geblieben ist.. In anderen Fällen der intracellularen Verdauung wird der Nahrungskörper, wie z. B. bei den Amoeben und Infusorien, innerhalb des Endoplasnias von einer Nahrungsvacuolc umgeben und in derselben Weise aufgelöst, wie in dem Exoplasma der Lieberkühnia. Sehr interessant sind ferner die Beobachtungen, die Greenwood ^) an Infusorien gemacht hat. Er verfolgte die Schicksale der aufgenommenen Nahrungsmassen bei Vorti- cellinen, speciell bei Carchesium, und fand dabei, dass sie, während sie ihrer Verdauung unterliegen, einen ganz bestimmten Weg im Zell- körper zurücklegen, nämlich vom Zellpharynx (vergl. Vorticella pag. 152,

Fig. 52. Carchesium poly- pin um. Schema des Weges, welchen die aufgenommene Nah- rung nimmt bis zur Verdauung und zum Auswurf der Excret- stotfe. Die Nahrung tritt durch den Pliarynx ein und wird nach unten transportirt (kleine Kreise), wo sie sich in die Concavität des wurstförmigen Zellkerns (an den dunkleren Einlagerungen zu erkennen) lagert. In der Concavität des Zellkerns bleibt sie eine Zeit lang in Ruhe (Kreuzchen). Dann wird sie an der anderen Seite nach oben befördert (Punkte) und kommt zurück in den Mittelpunkt der Zelle, wo ihre Auflösung erfolgt. Die Excrete werden durch die Zellmund- öffnung wieder nach aussen entfernt. Die schwarze Linie mit Pfeilen giebt die Richtung des Weges an. Nach Green- wood,

Fig. 46) nach der Basis der Zelle und schliesslich nach der Zellmund- öfFnung, wo die unverdauten Massen wieder ausgeworfen werden. Dabei ist es sehr bemerkenswerth , dass die Nahrungsmassen in der Concavität, die der wurstförmige Zellkern nach dem Zellinneren zu- kehrt, längere Zeit liegen bleiben, um hier hauptsächlich ihre Zer- setzung zu erfahren. Es deutet diese Thatsache offenbar auf eine nähere Antheilnahme des Kerns an der Verdauung der Nahrungs- massen in der Zelle hin.

^) Greenwood: „On the Constitution and mode of formation of »Food vacuolesa in Infusoria as illustrated by the history of the processes of digestion in Carchesium polypinum." In Philosophical Transactions of the Royal society of London vol. 185, 1894.

160 Drittes Capitel.

Ebenso wie die Eiweisskörper durch das „Pepsin" in saurer und durch das „Trypsin" in alkalischer Lösung werden auch die unlöslichen Kohlehydrate, wie Stärke, sowohl bei intracellularer, als bei extracellularer Verdauung durch die Einwirkung gewisser Enzyme in lösliche Formen übergeführt. Die Stärke ist, wie wir sahen, ein Polysaccharid, das aus der Vereinigung mehrerer Zuckermoleküle in

Anhydritform besteht. Bei der Ein- wirkung der Enzyme, z, B. des „Ptyalins", des Speichel- und Pan- kreassaftes im Thiere oder der „Dia-

^. PO i j ^ o." , stase" in der Pflanze, wird nun das

Fiff. 5ö. AnffedauteStarke- , o^.. i ii -i j. -inr

kölner, die von einem Infusorium polymere Starkemolekul unter Wasser-

gefressen und angedaut worden sind, aufnähme in die einzelnen einfachen

Nach M. Meissner. Zuckermoleküle, und zwar Malz- und

Traubenzuckermoleküle, gespalten, die in Wasser löslich sind. Bei der intracellularen Verdauung der Infusorien werden die Stärkekörner, wie M. Meissner ^) gezeigt hat, von aussen her langsam angedaut, so dass sie wie angefressen erscheinen (Fig. 53), bis sie schliesslich ganz aufgelöst sind. Indessen scheint es nach den ausgezeichneten Untersuchungen von Gkeenwood '^) und Meissner (1. c), dass Rhizopoden, wie z. B. Amoeben, obwohl sie gelegentlich Stärke in sich aufnehmen, dieselbe doch nicht zu verdauen im Stande sind. Die Fette endlich werden bei der extracellularen Verdauung durch das Fettferment, das „Steapsin" ebenfalls unter Hydratation gespalten in Glycerin und Fettsäuren, wovon die letzteren sich mit Alkalien zu Seifen verbinden. Glycerin sowie Seifen aber sind lös- lich und können resorbirt werden. Dagegen findet bei der intracellu- laren Aufnahme der neutralen Fetttröpfchen als solcher nicht immer eine sofortige Verdauung statt. Wie Meissner beobachtet hat, be- halten Amoeben und Infusorien aufgenommene Fetttröpfchen Tage lang unverändert in ihrem Protoplasma, und Greenwood hat gefunden, dass A m o e b a und Actinosphaerium das aufgenommene Fett über- haupt nicht verdauen.

2. Die Fermente und ihre Wirkungsweise.

Die Fermente sind eine physiologisch so überaus interessante Gruppe von Körpern, dass es sich lohnt, etwas näher auf sie einzu- gehen und vor Allem ihre eigenthümliche Wirkungsweise kennen zu lernen. Wir verstehen nämlich unter Fermenten eine Reihe hochcomplicirter organischer Körper aus dem Thier- und Pflanzenreich, welche die merkwürdige Eigenthümlichkeit haben, gewisse chemische Um- setzungen herbeizuführen, ohne, wie es scheint, selbst Veränderungen dabei zu erfahren.

Wenn bei einer gewöhnlichen chemischen Reaction zwei Stoffe auf einander wirken, so erleiden beide eine chemische Umsetzung. Das ist bei den Fermenten, wie es scheint, nicht der Fall ; denn wenn man

^) M. Meissner : „Beiträge zur Ernährungsphysiologie der Protozoen." In Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XLVII, 1888.

'^) Greenwood : „On the digestive process in some Rhizopods." In Journal of Physiology vol. VII and vol. VIII, No. 5.

Von eleu elementaren Lebeuserscheiiiungen. \Q\

mit einer bestimmten Menge eines Enzyms eine grosse Masse einer cliemisclien Verbindung gespalten hat, so findet man die ursprilng- liclie ^lengc des Enzyms noch unverändert in der Flüssigkeit vor. Theoretisch kann man daher mit einer klein(!n ^lenge eines Ferments eine unbegrenzte Menge gewisser Stoft'e zerspalten. In praxi freilich gelingt es meist nicht, unbegrenzte Mengen zu zersetzen, weil die Wirksamkeit der Fermente durch die in Folge der Spaltung sich an- häufenden Stoffe allmählich etwas beeinträchtigt wird.

Es fragt sich aber, ob wirklich das Ferment bei der Ein- wirkung auf andere Stoffe keine Zersetzung erfährt, oder ob es zwar sell)st zersetzt, aber immer wieder neu gebildet wird, so dass wir am Schlüsse immer noch dieselbe Menge des Ferments vorfinden. Für beide Möglichkeiten haben wir in der anorganischen Chemie Ana- logien.

Unter „katalytischer Wirkung" und „Contactwirkung" im ur- sprünglichen Sinne verstehen die Chemiker die Eigenschaft mancher Subsümzen, chemische Verbindungen durch ihre blosse Berührung zu zerlegen. So haben Sainte Claire Deville und Debray gefunden, dass Ameisensäure nicht nur durch gewisse Fermente, sondern auch durch fein vertheiltes Iridium, Rhodium und Ruthenium in Kohlensäure und Wasserstoff gespalten Averden kann, wobei sich die Metallmoleküle nicht verändern. Man erklärt sich diese Thatsache folgendermaassen. Bekanntlich sind nach der mechanischen Wärmetheorie in jedem Molekül die Atome fortwährend in schwingender Bewegung, eine Er- scheinung, die man als „intramolekulare Wärme" bezeichnet. Diese intramolekularen Wärmeschwingungen der Atome des betreffenden Metallmoleküls übertragen sich nun bei Berührung mit dem zusammen- gesetzten Molekül der Ameisensäure auf dieses und componiren sich mit den Schwingungen der Atome des Ameisensäuremoleküls derartig, dass eine andere Anordnung der Atome, d. h. ein Zerfall des Ameisen- säuremoleküls, resultirt. Nach einer anderen Auffassung ist es direct die chemische Affinität zwischen den Atomen des Metallmoleküls und gewissen Atomen des Ameisensäuremoleküls, welche die intramoleku- laren Schwingungen der Atome im Ameisensäuremolekül derartig stört, dass eine Umlagerung, d. h. ein Zerfall, eintritt, ohne dass es aber zu einer wirklichen Vereinigung der Metallatome mit den be- treffenden Atomen des Ameisensäuremoleküls käme. Sei dem, wie ihm wolle, in jedem Falle Avird in dem zu spaltenden Molekül die intramolekulare Bewegung der Atome gestört, Avährend das kata- ly sirende Metallmolekül selbst dabei unzersetzt bleibt. Derartige Con- tactwirkungen sind mehrfach in der Chemie bekannt. So zersetzt sich z. B. das Wasserstoffsuperoxyd bei Berührung mit fein vertheiltem Platin in Wasser und Sauerstoff', ohne dass sich das Platin dabei ver- änderte.

Gegenüber diesen reinen Coutactwirkungen kennt die Chemie aber auch Fälle, in denen der wirksame Körper nur scheinbar unverändert bleibt. Indem er Umsetzungen hervorruft, wird er selbst in Wirklich- keit fortwährend chemisch verändert, aber nur um sich sofort immer wieder zu regeneriren. Der Enderfolg muss in beiden Fällen derselbe sein, denn man findet auch im letzteren Falle am Schlüsse den betreffenden Körper immer wieder in seiner früheren Form un- verändert vor. Wir haben schon bei anderer Gelegenheit einen solchen Fall kennen gelernt. Bei der Fabrikation der englischen

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 11

162

Drittes Capitel.

Schwefelsäure wird die Salpetersäure fortwährend durch das Anhydrit der schwefligen Säure zu Untersalpetersäure reducirt, um sich mit Hülfe des Sauerstoffs der Luft immer wieder zu Salpetersäure zu regeneriren.

Welchem von beiden Fällen schliesst sich die Wirkung der Fer- mente an? Diese Frage ist bisher mit Sicherheit noch nicht ent- schieden worden. Es ist aber sehr Avahrscheinlich , dass unter dem, was wir Fermentwirkung nennen, beide Fälle vertreten sind.

Wir unterscheiden nämlich in der grossen Gruppe der Fermente zwei Arten, die gelösten, ungeformten Fermente oder Enzyme und die geformten, organisirten Fermente oder Fermentorganismen, und verstehen unter den ersteren Secrete, welche von der lebendigen Zelle nach aussen abgegeben werden und dauernd wirksam bleiben, unter den letzteren dagegen die lebendige Substanz der Zelle selbst, an dei'en Leben die Fermentwirkung gebunden ist. Während bei den Fermentorganismen die Fermentwirkung mit dem Leben der Zelle er- lischt, können die Enzyme als chemische Körper beliebig lange auf- gehoben werden, ohne ihre Wirksamkeit einzubüssen. Die Hefezellen (Saccharomy ces), welche die alkoholische Biergährung hervorrufen (Fig. 54), sind selbst Fermentorganismen, indem sie Traubenzucker m

Alkohol und Kohlensäure spalten ^) ; sie produciren aber daneben noch ein Enzym, das „Invertin", welches Rohr- zucker in Traubenzucker zu spalten vermag. Beide Wirkungen lassen sich von einander trennen. Tödtet man die Hefezellen mit Chloroform oder Aether, so gelingt es nicht mehr, mit ihnen Traubenzucker in Alkohol und Kohlen- säure zu zerlegen; wohl aber ist die Wirksamkeit des invertirenden Enzyms ungeschwächt erhalten, so dass die Ueberführung von Rohrzucker in Traubenzucker nach wie vor gelingt. In den Fermentorganismen übt also die lebendige Substanz nur solange sie lebt die Fermentwirkung aus , d. h. ihre Fermentwirkung ist an den Stoffwechsel gebunden. Das deutet offenbar darauf hin, dass wir bei den Fermentorga- nismen den zweiten Fall realisirt haben, den Fall, welcher der Wir- kung der Salpetersäure bei der Schwefelsäurefabrikation analog ist, während die Eigenthümlichkeit, dass sich Enzyme in ihrer Wirkung durch andere Stoffe, z. B. Metalle, ersetzen lassen, die Wahrscheinlich- keit nahelegt, dass sie auch ebenso wie das fein vertheilte Metall nur durch reinen Contact wirken. Mit voller Sicherheit entscheiden lässt sich freilich die Frage vorläufig noch nicht.

Auch die Enzyme sind, wie die organisirten Fermente, hoch- complicirte Verbindungen, die wahrscheinlich sämmtlich stickstoffhaltig sind und aus dem Stoffwechsel der Eiweisskörper stammen. Sie werden durch Stoffe, welche mit Eiweisskörpern Verbindungen ein- gehen, sowie durch Kochen unwirksam gemacht, während andererseits innerhalb gewisser Grenzen eine Temperaturerhöhung auch die Fer- mentwirkung begünstigt, weil dadurch die intramolekularen Wärme- schwingungen der Atome gesteigert werden.

Fig. 54. Saccharomyces, Hefe- zellen. Nach Reinke.

1) Vgl. pag. 114.

Von (Ich elementaren Lebenserseheinungen. 163

Als Fermentorganismen aber könnte man, wenn bei ihnen die Fermentwirkung in der That auf einer fortwälirenden Zersetzung und Neubildung iiirer eigenen [Substanz beruhte, überhaupt alle lebendigen Organismen auffassen, denn alle lebendige Substanz setzt ja die Nahrungsstoffe in ihrem Stoft'weehsel fortwährend um, während sie selbst dabei nicht verschwindet, so dass wir den Stoffwechsel der lebendigen Substanz schon früher dem Stoffwechsel der Salpetersäure im obigen Falle vergleichen konnten.

3. Assimilation und Dissimilation.

a. Assimilation.

Die Verdauung der Nahrungsstoffe durch die Einwirkung der Fermente ist nur eine Vorbereitung für den Assimilationsvorgang. Erst nachdem die Nahrungsstoffe in den Zustand gebracht worden sind, in Avelchem sie chemisch wirken können, d. h. nachdem sie gelöst worden sind, kann ihre Verwerthung zum Aufbau der lebendigen Substanz beginnen.

Der Assimilationsvorgang gestaltet sich naturgemäss je nach der verschiedenen Beschaffenheit der aufgenommenen Nahrung sehr verschieden. Vor Allem Averden wir entsprechend den Unterschieden, die wir zwischen der Nahrung der Pflanzen und der Nahrung der Thiere kennen gelernt haben , auch Unterschiede in der Assimilation bei beiden Organismengrujjpen finden müssen. Es liegt auf der Hand, dass die Processe, welche zum Aufbau der lebendigen Substanz in der Pflanzenzelle führen, eine viel längere Reihe bilden müssen, als die Processe der Assimilation in der thierischen Zelle, denn die Pflanze muss aus den einfachsten anorganischen Verbindungen, aus der Kohlen- säure, dem Wasser, den Salzen und dem Sauerstoff die hochcompli- cirten Eiweissmoleküle aufbauen, Avährend das Thier schon fertige Ei- weissnahrung , ohne die es nicht leben kann, zugefühi't bekommt und diese nun bloss noch in seiner speciflschen Weise zu verwenden braucht. Verfolgen wir die Processe, die zur Assimilation der Eiweisskörper führen, soweit sie überhaupt bekannt sind, in beiden Reihen etwas genauer. Die Lückenhaftigkeit unserer Kenntniss wird uns freilich hier fühlbarer als irgendwo sonst.

Fassen wir zunächst die Pflanzen ins Auge, so zeigt uns ein einfacher Versuch den ersten Schritt, welchen die Pflanze thut in der Reihe der Vorgänge, die zur Assimilation führen. In ein oben ge- schlossenes cylindrisches Kugelrohr (Fig. 55) , das nach seinem Vo- lumen graduirt ist, stecken wir vermittelst eines Drahtes ein grünes Blatt und lassen eine bestimmt abgemessene Menge Kohlensäure ein- strömen. Das Glasrohr schliessen wir an seinem unteren Ende mit Quecksilber ab und lassen es einige Stunden am Sonnenlichte stehen. Prüfen wir dann gasometrisch den Inhalt des Rohres wieder, so stellt sich heraus, dass die Kohlensäure verschwunden und statt dessen ein gleichgrosses Volumen Sauerstofl" in dem Glasrohr enthalten ist. Da die Kohlensäure an Volumen gleich dem Volumen des in ihr enthaltenen Sauerstoffs ist, so beweist der Versuch nicht nur, dass die Pflanze die Kohlensäure aufgenommen und Sauerstoff abgegeben hat, sondern er zeigt auch, dass sie ebensoviel Sauerstoff" abgegeben hat, wie in der Kohlensäure enthalten war. Der erste Schritt zur Assimilation in der

11*

164

Drittes Capitel.

Pflanze ist also eine Spaltung der Kohlensäure, die in der grünen Pflanzenzelle unter dem Einfluss des Sonnenlichtes erfolgt. Den Sauer- stoff" giebt die Pflanze nach aussen ab. Ueber das Schicksal des zu- rückbehaltenen Kohlenstoff's aber giebt uns die mikroskopische Beob- achtung Aufschluss. Es zeigt sich nämlich, dass proportional der Zer- setzung der Kohlensäure in den Chlorophyllkörpern selbst Stärke ge- bildet wird, die sich in Form kleiner, stark lichtbrechender Körnchen (Fig. 23 pag. 84 und Fig. 56) ablagert, und Sachs M hat durch eine

Reihe von Versuchen gezeigt, dass, sobald die Kohlensäurespaltung in der Dunkelheit aufhört, auch die Stärkebildung sistirt wird, um bei Belichtung mit der Zersetzung der Kohlensäure sofort Avieder zu beginnen. Da die Stärke ausser dem Kohlenstoff" nur noch "Wasserstoff" und Sauerstoff" in dem Atom- verhältniss von Wasser enthält, so kann also die Stärke nur durch eine Synthese aus dem abgespaltenen Kohlenstoff" und dem durch die Wurzeln aufgenommenen Wasser entstanden sein. Die Stärke ist daher das erste Assimilationsproduct, welches sichtbar wird.

Fig. 55. Apparat zur Unter- suchung der Kohlensäurespal- tung in den grünen Pflanz en- theilen. Nach Dktsieu.

Fig. 56. Stärke als helle Schüppchen in Chlorophyllkörpern. A Chlorophyll- körper in der Zelle liegend. li Chlorophyll- körper in Theilung begriffen. Nach Sachs.

„Wenn die Stärke," sagt Sachs ^), „das einzige und erste sicht- bare Assimilationsproduct ist, so folgt ohne Weiteres, dass alle übrigen organischen Verbindungen der Pflanze durch chemische Metamoa-phosen aus ihr hervorgegangen sein müssen." In der That, erinnern Avir uns

') Julius Sachs: „Ueber den Einfluss des Lichtes auf die Bildung des Amylum in den Chlorophyllkörnern." In Botan. Zeitung 1862. Derselbe: „Ueber die Auf- lösung und Wiederbildung des Amylum in den Chlorophyllkörnern bei wechselnder Beleuchtung." In Bot. Zeitung 1864.

-) Julius Sachs: „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie." Leipzig 1882.

Von den elementaren Lebenserscheinungen. \Q^

an die Zusammensetzung- der künstliclien Nährlösung, in der wir die Pflanze wachsen Hessen*), so wissen wir, dass in ihr kein Kohlenstoff enthalten war. Wenn also die Pflanze späterhin andere Kohle- hydrate, Fette und schliesslich Eiweisskörper bildet, die sämmtHch Kohlenstoff' enthalten, so kann sie dazu nur die Stärke als Ausgangs- punkt benutzen. Freilich wissen wir über die speciellen chenn'schen Umsetzungen, welche die Stärke weiter erfährt, fast nichts Genaues. Allein wir können uns wenigstens in grossen Zügen eine Vorstellung von den weiteren Assimilationsvorgängen bilden. Dass aus der Stärke lösliche Zuckerarten durch Spaltung unter Hydratation sehr leicht ent- stehen können, ist ohne Weiteres verständlich, wenn wir daran denken, dass ja die Stärke ein polymeres Zuckeranhydritmolekül vorstellt. So kann also die Stärke in den Zustand der löslichen Kohlehydrate übergehen, der nothwendig ist, um Aveitere chemische Synthesen zu ermöglichen. Auch die Bildung von fetten Oelen aus Stärke kann unmittelbar beobachtet werden. Wenn man unreife Samen von ge- wissen Pflanzen, z. B. Paeonia, die nur Kohlehydrate und kein Fett enthalten, an feuchter Luft liegen lässt, findet man nach einiger Zeit, dass alle Stärke verschwunden, statt dessen aber fettes Oel entstanden ist. Viel complicirter dagegen ist die Enstehung des Eiweisses aus den Kohlehydraten. Da das Eiweiss ausser den Atomen der Kohlehydrate noch Stickstoff" und Schwefel enthält, welchen die Pflanze durch die Wurzeln nur aus den salpetersauren und schwefelsauren Salzen bezieht, so müssen hier erst complicirte Umsetzungen dieser Salze und dann erst Synthesen mit den Kohlehydratatomen stattfinden, deren Einzel- heiten sich unserer Kenntniss bisher noch vollständig entziehen. Wie schliesslich das synthetisch gebildete Eiweissmolekül weiter in der lebendigen Substanz zum Aufbau verwerthet wird, darüber können wir bei unserer äusserst mangelhaften Kenntniss der chemischen Con- stitution der Eiweisskörper bis jetzt noch nicht das Geringste aussagen. Hier eröflfnet sich der künftigen physiologischen Forschung ein un- geheuer weites Gebiet.

Bei den Thieren ist der Weg von der aufgenommenen Nahrung bis zum lebendigen Eiweissmolekül naturgemäss wesentlich kürzer, denn alle Thiere ohne Ausnahme bedürfen schon fertiger Eiweiss- körper zu ihrer Ernährung. Es fragt sich aber, was mit den durch die Verdauung peptonisirten Eiweisskörpern weiter geschieht. Nach den Untersuchungen von Salvioli -), Hofmeistek^), Neümeister*) und Anderen kann jetzt kein Zweifel mehr bestehen, dass die Peptone als solche in den Zellen der Darmwand bereits wieder verschwinden, dass sie also in der Zelle selbst umgesetzt werden. Bringt man nämlich Stücke der Darmschleimhaut eines Kaninchens in eine peptonhaltige Flüssigkeit, in welcher die Zellen der Darmwand am Leben bleiben, so findet man nach einiger Zeit, dass alles Pepton verschwunden ist. Spritzt man dagegen eine Peptonlösung einem Thiere ins Blut, so wird in kurzer Zeit die ganze Peptonmenge unverändert durch den Harn wieder ausgeschieden, und im normalen Leben ist das Blut immer frei

') Vergl. pag. 144.

-} Gaetaxo Salvioli. In Du Bois-Keymonds Areh. f. Physiol. 1880. Supplem.

^) Hofmeister : „Das Verhalten des Peptons in der Magenschleimhaut." In Zeit- schrift f. physiol. Chemie, Bd. 6, 1882.

*) Nedmeisteb: „Zur Physiologie der Eiweissresorption und zur Lehre von den Peptonen." Würzburg 1890.

166 Drittes Capitel.

von Peptonen. Diese beiden Versuche beweisen unzweifelhaft, dass die Peptone bereits auf dem Wege durch die Zellen der Darmwand umgewandelt werden. Aber über die Art der Umwandlung in den Zellen ist bisher wenig bekannt. Vielleicht zerfällt ein Theil der Peptone sofort weiter in einfachere Stoife der regressiven EiAveiss- metamorphose. Sicher ist, dass ein grosser Theil der Peptone wieder in Eiweiss zurückverwandelt wird und zusammen mit dem direct, ohne Peptonisirung resorbirten Eiweiss in die Säftemasse des Körpers gelangt. Hier, mit dem Blutstrom circulirt dieses gelöste Eiweiss im ganzen Körper, umspült die Zellen aller Gewebe und wird von den Zellen dem Blute entzogen, um in den Zellen gespalten zu werden, Avas daraus hervorgeht, dass alles über eine bestimmte Quantität hinaus in den Körper aufgenommene Eiweiss in auffallend kurzer Zeit in seiner ganzen Menge als Harnstoff, Harnsäure etc. im Harn erscheint. VoiT^) glaubte dieses zerfallene Eiweiss als „circulirendes Eiweiss" von dem zur „Organbildung" verbrauchten „Organei weiss" unter- scheiden zu müssen, da er annahm, dass der Zerfall des circulirenden Eiweisses im Blute, in den Körpersäften erfolge. Seitdem aber neuer- dings Pflügek und Schöxdorpf-) durch sehr genaue Untersuchungen gezeigt haben, dass der Zerfall des im Blute gelösten Eiweisses nicht im Blute selbst, sondern in den Zellen der Gewebe stattfindet, fällt die Veranlassung für eine solche Unterscheidung fort. Einen geringen Theil des im Blute gelösten Eiweisses halten aber unter Umständen auch die Zellen fest, um es, wie beim Wachsthum, zur Vermehrung ihrer lebendigen Substanz zu benutzen, oder um es, wie bei der Mästung in Form von Reserveeiweiss, d. h. von passivem, nicht im Stoffwechsel verbrauchtem Eiweiss, im Protoplasma aufzuspeichern. Solches passives, indifferentes Reserveeiweiss kann unter bestimmten Bedingungen, wie z. B. beim Hungern oder bei der Entwicklung der Eier, wieder in den Stoffwechsel hineingezogen werden. Das Vitellin in den Eizellen ist ein derartiger Stoff.

Ueber das Schicksal der aufgenommenen Fette und Kohlehydrate weiss man ebensowenig etwas Eingehenderes, wie über die feineren Umsetzungen der Eiweisskörper. Das Fett, das als solches in die Zellen aufgenommen ist, bleibt häufig lange Zeit als Reservematerial liegen. Auch kann das in Glycerin und Fettsäuren gespaltene und resorbirte Fett in der Zelle wieder in neutrales Fett zurückverwandelt werden, wie aus den ausgezeichneten Versuchen von J. Munk^) hervorgeht, der ausgehungerte und völlig abgemagerte Hunde durch Fütterung von fettfreien Seifen oder auch freien Fettsäuren wieder zum Ansatz von Gewebefett brachte. In gleicher Weise kann der aus den Kohle- hydraten abgespaltene Traubenzucker in den Gewebezellen, vor Allem in den Zellen der Leber und der Muskeln, synthetisch in Glykogen verwandelt und als solches abgelagert werden. Ueber das weitere Schicksal dieses abgelagerten Fettes und Glykogens aber wissen wir nur, dass sie beim Hungern und bei angestrengter Muskelarbeit ver-

^) C. Voit: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung." In Hermann's Handbuch der Physiologie Bd. 6, 1881.

^) Pflüger: „Ueber einige Gesetze des Eiweissstoffwechsels." In Pflüger's Arch. Bd. 54, 1893. Schöndorff: „In welcher Weise beeinflusst die Eiweissnahrung den Eiweissstoffwechsel der thierischeu Zelle?" Ebenda.

^) J. Munk: „Zur Lehre von der Resorption, Bildung und Ablagerung der Fette im Thierkörper." In Virchow's Arch. Bd. 95, 1884.

Von den elenioutaieu Lebenserscheinungen. 167

braucht werden können, class sie also ein Reservematerial vorstellen, (las im Nothfallc als „Ersatznahrung" im Sinne Pflüger's fungirt.

b. Dissimilation.

Noch weit spärlicher als vom Assimihitionsprocess sind unsere Kenntnisse von den Vorgängen bei der Dissimilation der lebendigen Substanz, Eigentlich wissen wir nur, dass sich die lebendige Sub- stanz fortwährend von selbst zersetzt, denn das geht aus der Abgabe der Zerfallsproducte hervor. Welche Wege aber der Zerfall von den complicirten Eiweissverbindungen bis zu den Endproducten einschlägt, welche speciellcn chemischen Umsetzungen dabei stattfinden, davon haben Avir begreiflicher Weise nur ganz mangelhafte Kenntniss, da wir ja die chemische Zusammensetzung der Eiweisskörper selbst noch sehr wenig kenneu.

Eine Thatsache aber wissen wir jetzt wenigstens sicher, das ist die, dass die meisten von allen denjenigen Stoffen, die aus dem Zer- fall des Eiweissmoleküls stammen , nicht einfach abgespaltene Atom- gruppen sind, die schon vorher als solche im Eiweissmolekül prä- formirt waren , sondern dass sie erst durch nachfolgende Synthesen aus gewissen Spaltungsproducten hervorgehen, sei es im Moment des Zerfalls durch Umlagerung der Atome im Eiweissmolekül selbst, wie wir es z. B. von der Kohlensäure wissen, sei es erst später ausserhalb des Eiweissmoleküls durch Vereinigung mit anderen Spaltungsproducten und gleichzeitiger Umlagerung der Atome, wie es z. B. bei der Bildung der Harnsäure der Fall ist. Von keinem einzigen Zerfallsproduct der EiAveisskörper aber wissen wir bisher, dass es durch einfache Ab- spaltung präformirter Atomgruppen entstände.

Es ist wichtig, wenigstens die wesentlichsten Abkömmlinge des zerfallenden Eiweissmolekiüs kennen zu lernen. Wie Avir schon bei der Untersuchung der Stoffe fanden, welche in der lebendigen Sub- stanz enthalten sind^), können wir unter diesen Umsetzungsproducten der Eiweisskörper zwei grosse Gruppen unterscheiden, stickstoffhaltige und stickstofffreie Atomcomplexe. Von beiden Gruppen entstehen Vertreter in jeder Zelle, nur kann ihre specielle Zusammensetzung im einzelnen Falle je nach dem charakteristischen Stoffwechsel der Zelle verschieden sein.

Unter den stickstoffhaltigen Stoffen sind die am weitesten verbreiteten der Harnstoflf, die Harnsäure, die Hippursäure , das Kreatin, sowie die Nucleinbasen : Xanthin, Hypoxanthin oder Sarkin, Guanin und Adenin. Von der Mehrzahl dieser Stoffe ist es bisher nicht bekannt, Avie sie aus dem Zerfall der EiAveisskörper hervorgehen, doch haben wir für einige Avenigstens Vermuthungen über ihre un- mittelbaren Vorstufen. So wird man z. B. aus der Thatsache, die Schröder fand , dass kohlensaures Ammon in die frisch heraus- geschnittene, noch lebendige Leber eines Hundes geleitet, als Harn- stoff die Leber Avieder verlässt, zu der Vermuthung geführt, dass das kohlensaure Ammon die Vorstufe des Harnstoffs sei, aus der die Leberzellen durch Umlagerung der Atome unter Austritt von zAvei Molekülen Wasser Harnstoff bereiten:

(NHJsCOs 2HoO = (NH2)oCO.

') pag. 112.

168 Drittes Capitel.

Allein bindend ist diese Schlussfolgerung durchaus nicht, sie bleibt vorläufig nur Vermuthung, denn die Möglichkeit, dass im Organismus selbst noch andere Stoffe zur Harnstoffsynthese verbraucht werden, ist vor der Hand nicht auszuschliessen. Etwas sicherer dagegen kennen Avir die Vorstufe der Harnsäure, die bei Reptilien und Vögeln denjenigen Stoff vorstellt, in welchem die Hauptmasse des aus dem Zerfall der Eiweisskörper stammenden Stickstoffs den Körper verlässt. Diese Vorstufe ist das milchsaure Ammon. Aus Versuchen, die Gaolio ^j an Hunden anstellte, geht hervor, dass die Milchsäure des Blutes aus dem Zerfall des Eiweisses stammt, denn der Milchsäure- gehalt des Blutes steigt und sinkt mit der Menge der Eiweissnahrung und ist ganz unabhängig von der Menge der aufgenommenen Kohle- hydrate. Während sich nun im Blute stets Milchsäure findet, ist im Harn unter normalen Verhältnissen keine Spur vorhanden; die Milchsäure muss also eine Umsetzung erfahren, ehe sie ausgeschieden wird. Diese Verhältnisse klärte Minkowski^) durch einen Versuch auf, indem er zeigte , dass Gänse nach Exstirpation ihrer Leber nur noch ganz unbedeutende Mengen von Harnsäure ausscheiden, dafür aber grosse Mengen von Milchsäure und Ammoniak , und zwar letztere beide in den Mengenverhältnissen des milchsauren Amnions. Aus dieser wichtigen Thatsache schliesst Minkowski mit Recht, dass das milchsaure Ammon die Vorstufe für die Bildung der Harnsäure sei, aus der durch Umlagerung Harnsäure entstehe. Auch von der Hippursäure, welche besonders im Stoffwechsel der Pflanzenfresser aus dem Eiweisszerfall hervorgeht, können Avir mit grosser Wahrscheinlichkeit die Synthese vermuthen. Hippursäure wird beim Kochen mit Mineralsäuren oder Alkalien unter Wasser- aufnahme in Benzoesäure und Glykokoll gespalten, und diese letzteren Beiden können durch Erhitzen unter hohem Druck Avieder zu Hippur- säure unter Wasseraustritt vereinigt AA-erden. Man wird also auf die Vermuthung geführt, dass auch im Körper der Pflanzenfresser, avo die Möglichkeit der Entstehung einerseits von Benzoesäure aus Ei- Aveiss oder den aromatischen Verbindungen der Nahrung, andererseits von Glykokoll aus leimgebenden Substanzen , die vom EiAveiss ab- stammen, gegeben ist, die Hippursäure aus dieoen beiden Substanzen synthetisch entsteht. Und in der That kann man nicht nur im Körper der Pflanzenfresser, sondern sogar auch der Fleischfresser die Hippur- säurebildung künstlich hervorrufen, Avenn man Benzoesäure in den Magen einführt, die sich dann in den Geweben, man weiss noch nicht AVO, mit Glykokoll zu Hippursäure vereinigt. Dem gegenüber ist uns von der Entstehung des Kreatins noch gar nichts bekannt. Das Kreatin und das aus ihm durch Wasseraustritt hervorgehende Kreatinin ist derjenige Stoff, in Avelchem die Muskelzellen die Hauptmasse des aus ihrem Eiweisszerfall hervorgehenden Stickstoffs abgeben. Allein man weiss auch über das Schicksal des Kreatins nach seiner Ent- stehung ebensoAvenig, wie über seine Entstehungsgeschichte selbst; denn obwohl das Kreatin in beträchtlichen Mengen in den Muskeln zu finden ist, erscheinen nur geringe Mengen davon im Harn. Es scheint

1) Gaglio: „Die Milchsäure des Blutes und ihre Ursprungsstätten." In Du Bois- Reymond's Arch. 1886.

^j Minkowski: „lieber den Einfluss der Leberexstirpation auf den Stoffwechsel." In Arch. f. exper. Patliol. u. Pharmakol. Bd. 21, 1886.

^^'U diu eleiiieutureii Lc-benserscheiuungeu. Iß9

also noch in irgend einer \\'eise Umsetzungen im Kürper selbst zu erfahren. Auch von den Nucleinbasen schliesslich \viss(;n wir nur, dass sie aus dem Zerfall der Nucleine und ihrer Abkönnnlinge stammen; durch -welche Umlagerungcn sie aber daraus hervorgehen, wissen wir vom Xanthin und llypoxanthin ebensowenig wie vom Guanin und Adenin.

Von den stickstofffreien Umsetzungs})roducten der Eiweiss- körper sind die wichtigsten: Fette, Kohlehydrat«' , Milchsäure und Kohlensaure. Auch diese entstehen nicht durch einfache Abspaltung aus dem Eiweissmolekid, sondern durch Umlagerung und synthetische Processe. Dass Fett durch Umsetzungen aus Eiweiss entstehen kann, ist viel bestritten worden. Der pathologische Process der sogenannten Fettmetamorphose der Zellen, wobei an die Stelle der Eiweisskörper Fett tritt, so dass die Zellen am Ende des Krankheitsprocesses todt und von Fett erfüllt sind, rausste eine unbefangene Auffassung zu der Vorstellung führen, dass hier das Eiweiss sich in Fett umwandele. Aber man konnte den Einwand machen , dass das Eiweiss der Zelle im Verlauf der Krankheit nur durch von aussen eindringendes Fett verdrängt werde. Inzwischen ist diese wichtige Frage doch dui'ch Experimente zu Gunsten der ersten Ansicht entschieden worden. Leo ^ ) benutzte die Thatsache, dass Phosphorvergiftung eine ungemein schnell eintretende Fettmetamorphose, besonders der Leberzellen her- vorruft, zu einem Experiment. Er Avählte aus einer Anzahl von Fröschen gleicher Grösse und gleichen Gewichts sechs Individuen aus, tödtete sie und bestimmte ihren Fettgehalt. Darauf nahm er sechs andere Individuen , vergiftete sie mit Phosphor und tödtete sie nach drei Tagen. Die Fettbestimmung ergab einen bedeutend grösseren Gehalt an Fett als bei den sechs ersten Fröschen. Dieser Versuch beweist, dass in der That Fett bei der Phosphorvergiftung entstanden sein muss. Einen Versuch, der aber mehr direct die Entstehung von Fett aus Eiweiss zeigte, stellte Fkanz Hofmann -) an. Er nahm einen Haufen von Eiern der Schmeissfliege (Musca vomitoria) und theilte ihn auf der Waageschale in zwei gleich schwere Portionen, Eine dieser Portionen benutzte er, um den Fettgehalt zu bestimmen, die andere setzte er auf Blut, dessen geringer Fettgehalt ebenfalls bestimmt war. Die aus diesen Eiern auskriechenden Fliegenmaden nährten sich von dem Blut, wuchsen und wurden gross. Nachdem sie ausgewachsen waren, bestimmte Hofmann ebenfalls ihren Fettgehalt, und da stellte sich heraus, dass sie zehn Mal soviel Fett enthielten, als die Eier und das Blut zusammengenommen. Der Blutzucker kam wegen seiner geringen Menge nicht für die Fettbildung in Betracht. Es konnte also das Fett nur aus dem Eiweiss des Blutes entstanden sein. Nach diesen Versuchen ist es jetzt unzweifelhaft, dass Fett aus Eiweiss ent- stehen kann. Auch über die Entstehung von Kohlehydraten (Traubenzucker und Glykogen) aus Eiweiss kann kein Zweifel herr- schen. Schon lange weiss man, dass bei schweren Formen der Zucker- krankheit (Diabetes mellitus) selbst bei vollständigem Fehlen der Kohlehydrate in der Nahrung mit der Steigerung der genossenen Ei- weissmenge auch die im Harn bei dieser Krankheit ausgeschiedene

V) Leo: .,Fettbilduiig und Fetttrausport bei Phosphoriutoxicatiou.'* In Zeitschr. f. pbAsiolog. Chemie Bd. 9, 1885.

'■-) Fr. Hofmänk. In Zeitst-br. f. Biolosrie Bd. 8, 1872.

170 Drittes Capitel.

Menge von Traubenzucker bedeutend vermehrt wird. Desgleichen hat schon Claude Bernard beobachtet, dass bei Hunden , die durch Hungern glykogenfrei gemacht waren, Glykogen in grösserer Menge wieder abgelagert wird, wenn sie reichlich mit reiner Eiweissnahrung gefüttert werden, und Mering^) fand bei einem Hunde, der nach 21 tägigem Fasten vier Tage lang mit reinem Fibrin gefüttert worden war, über 16 Gramm Glykogen in der Leber. Aehnliche Beobach- tungen sind zahlreich gemacht worden, so dass jetzt die Entstehung von Kohlehydraten aus Eiweiss sichergestellt ist. Die Entstehung von Milchsäure aus Eiweiss haben uns schon die Untersuchungen von Gaglio^) bewiesen, aus denen hervorgeht, dass der Milchsäuregehalt des Blutes nur von der Menge des genossenen Eiweisses, nicht der aufgenommenen Kohlehydrate abhängt. Dass schliesslich auch die K 0 h 1 e n s ä u r e , welche alle lebendige Substanz ohne Ausnahme wäh- rend ihres Lebens ausathmet, aus der Zersetzung des Eiweisses und nicht etwa der stickstofffreien Stoffe hervorgeht, ist ohne Weiteres aus der Thatsache ersichtlich, dass bei den Fleischfressern das Leben dauernd mit Eiweissnahrung allein erhalten werden kann. Ueberhaupt beweist diese wichtige Thatsache, dass aus dem Eiweiss sowohl alle diejenigen Stoffe gebildet werden können, welche fortwährend vom Organismus ausgeschieden werden, als auch alle die Stoffe, welche nothwendig sind, um das Leben dauernd zu unterhalten.

Man hat früher einen scharfen Unterschied zwischen thierischen und pflanzlichen Zellen auf der Art der chemischen Umsetzungen be- gründen wollen, die in beiden Organismenformen verlaufen, und hat gesagt: in den Pflanzen finden fast ausschliesslich Synthesen, in den Thieren nur Spaltungsprocesse statt, eine Auffassung, die sich bis in die neuere Zeit hinein mitgeschleppt hat. Allein schon vor fast 20 Jahren hat Pplüger^j energisch bestritten, dass ein solcher principieller Unterschied bestehe. Li der That, wie unsere bisherige Betrachtung gezeigt hat, besteht der Unterschied allein darin, dass das pflanzliche Eiweiss der Chlorophyllkörper sich die Fähigkeit aus der Urzeit her erhalten hat, anorganisches Material zu assimiliren, während die Thiere fertiges organisches Nahrungsmaterial zum Aufbau ihrer lebendigen Substanz brauchen. Dagegen finden sowohl im Thier- wie im Pflanzen- körper Synthesen und Spaltungen statt. Der Synthese der Stärke in der Pflanze muss erst die Spaltung der Kohlensäure vorhergehen; damit die Stärke weiter verarbeitet werden kann, muss sie erst wieder in einfache Zuckerarten gespalten werden u. s. f. Schliesslich haben wir auch in der Pflanze die ganze Reihe von Spaltungen, die mit dem Zerfall des Eiweissmoleküls , mit der Dissimilation verbunden sind, genau so wie im Thierkörper. Dem gegenüber aber finden auch im Thierkörper in grossem Umfange Synthesen statt. Die Weiter- verarbeitung der verdauten Eiweisskörper, Fette und Kohlehydrate zum Aufbau der lebendigen Substanz erfordert ausgedehnte synthe- tische Processe, und schliesslich haben wir gesehen, dass die meisten Stoffe der regressiven Eiweissmetamorphose erst auf synthetischem Wege aus den Spaltungsproducten der Eiweisskörper gebildet werden.

1) Meking. In Pflüger's Arch. Bd. 14, 1877.

2) Gaglio. In Du Bois-Reymond's Arch. 1886.

^) Pflüger: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organis- men." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 10, 1875.

Von lU'u (.•lomeiitaren Lo])enserscheimuigen. 171

Spaltungen und Synthesen gehen also in der tlüerischen wie in der pHanzliclion Zelle stets Hand in Hand, und die alte Unterselieidung in Sjialtungs- und synthetische Organismen ist nur der Ausdruck eines friUiereu Standes unserer Kenntnisse von den chemischen Vorgängen in der lebendigen Substanz.

C. Die Abgabe von Stoffen.

In dem Maasse, wie die lebendige Substanz Stoffe von aussen autninnnt und in sich umsetzt, findet naturgemäss auch eine Aus- scheidung von Umsetzungsproducten statt, und ebenso mannigfaltig wie die Natur der von den verschiedenen Zellenformen aufgenommenen Stoffe ist auch die der abgegebenen im speciellen Fall. Allein bei unserer geringen Kenntniss der Umsetzungen in der lebendigen Sub- stanz können wir unter der erdrückenden Fülle aller von den ver- schiedenen Zellfornien ausgeschiedenen Stoffe nur in den allerwenigsten F<ällen sagen, aus welchen Processen sie herrühren. Bei der grössten Masse wissen wir nicht einmal, ob sie aus den zur Assimilation führenden Processen oder aus den dissimilatorischen Umsetzungen stammen, denn offenbar werden sowohl bei dem aufsteigenden Theile der Stoffwechselreihe, als auch bei dem absteigenden eine grosse Menge von Nebenproducten gebildet, sei es durch einfache Spaltung, sei es durch Synthese aus den dabei auftretenden Spaltungsproducten oder anderen Stoffen, die vom Organismus entweder zu irgend einem weiteren Nutzen oder als unbrauchbare Producte ausgeschieden werden. Der letztere Gesichtspunkt, ob die ausgeschiedenen Stoffe noch weiter irgend einen Nutzen für das Leben des Organismus haben, oder ob sie als unbrauchbare Producte, als Schlacken, entfernt werden, hat zu einer Unterscheidung der abgegebenen Stoffe Anlass gegeben, die, wenn sie sich auch in aller Schärfe nur schwer durchführen lässt, doch bei der ungeheuren Fülle der verschiedenen Producte aus praktischen Rücksichten geboten ist. Man unterscheidet die von der Zelle ab- gegebenen Stoffe, unter denen sich gasförmige, flüssige und feste in allen Consistenzgraden befinden, als S e c r e t e , wenn sie im Leben des Organismus noch weiter irgend eine nützliche Rolle spielen, und als E X c r e t e , wenn sie nur als unbrauchbare Reste nach aussen entfernt werden. Danach spricht man auch von einer Secretion im Gegen- satz zur Excretion. Gehen wir noch einen Augenblick auf beide Gruppen von Stoffen und auf den Modus ihrer Ausscheidung etwas näher ein.

1. Der Modus der Stoff abgäbe von Seiten der Zelle.

Wie der Modus der Nahrungsaufnahme, so gestaltet sich auch die Art und Weise der Abgabe von Stoffen verschieden, je nachdem die Stoffe gasförmig, gelöst oder geformt sind.

Die Abgabe der gasförmigen oder gelösten Stoffe erfolgt, das liegt auf der Hand, unter denselben Bedingungen und in derselben Weise wie die Aufnahme solcher Stoffe, denn hier haben w'ir denselben Vorgang nur in umgekehrtem Sinne. In manchen Zellen, z. B. in vielen einzelligen Organismen , besorgt höchst wahrscheinlich die sogenannte contractile Vacuole (Fig. 57), ein Flüssigkeitstropfen,

172

Drittes Capitel.

der im Zellkörper durch meist rhythmische Contractionen seines Wand- protoplasmas abwechselnd ausgeleert und wieder vollgesogen wird, die Ausscheidung der gelösten Stoffe. Dieselben sammeln sich vermuth- Hch mit dem Wasser, das bei der Diastole der Vacuole von allen Seiten aus dem Protoplasma zusammenströmt, in der Vacuole und werden mit demselben bei der Systole der Vacuole nach aussen ab- gegeben.

Jede Zelle scheidet vor Allem, das ist klar, die Stoffe aus, die aus ihrem eigenen Stoffwechsel stammen. Indessen im zusammen- gesetzten Zellenstaat, besonders des thierischen Organismus, existiren auch Zellen, welche daneben noch die Ausscheidung gewisser anderer Stoffe fiir den ganzen Körper übernommen haben. So scheiden die

Nierenzellen in den gewundenen Harnkanälchen den von den Leber- zellen bereiteten und an das Blut abgegebenen Harnstoff aus, indem sie ihn aus dem Blute aufnehmen und nach aussen wieder abgeben. Andere Zellen der Niere, die Zellen in den sogenannten Grlomerulis, jenen mikroskopischen Kapseln, in denen sich die Blutcapillaren zu Knäulen verzweigen, saugen da- gegen Avieder gierig Wasser aus dem Blute auf, um es in das Nierenbecken als Harnwasser ab- zusondern.

Bei der Abgabe von ge- formten Stoffen haben wir wieder zwei Typen zu unterschei- den. Sie gestaltet sich nämlich wesentlich verschieden, je nachdem die ausgeschiedenen Stoffe entwe- der in der Zelle selbst in gelöstem Zustande sich befinden und erst im Moment der Ausscheidung fest werden oder in der lebendigen Sub- stanz schon als geformte Massen liegen, die als solche nach aussen abgegeben werden sollen.

Im ersteren Falle, der realisirt ist, z. B. bei der Ausscheidung der meisten Skelettsubstanzen, wie Chondrin, Chitin, Kalk etc., haben wir dieselben Verhältnisse, wie bei der Ausscheidung gelöster Stoffe überhaupt-, nur dass hier die Stoffe nach Austritt aus der lebendigen Substanz früher oder später feste Form annehmen. Durch das Fest- werden der Stoffe an der Oberfläche wird aber nicht verhindert, dass immer wieder neue Stoffe in gelöstem Zustande an die Oberfläche ge- langen, und dort in festen Zustand übergehen, bis alle Stoffe derart an der Oberfläche ausgeschieden und fest geworden sind. So ent- stehen die Zellmembranen der Gewebezellen, die Cellulosehüllen der Pflanzenzellen, die Chitinpanzer der Insecten, die Kalkschalen der Foraminiferen etc.

Wir können uns diesen Modus und zugleich den Modus des Wachsthums dieser Oberflächengebilde durch einen Versuch veranschau-

Fig. 57. ^ A m o e b a. Neben dem dunklen Kern liegt im Endoplasnia eine blasse, contractile Vacuole. B Parainae- cium. Au beiden Polen befindet sich eine steru- förmige, pulsirende Va- cuole, von denen die obere im Begriff ist, sich zu contrahiren, während die untere sich durch den Zusammentluss mehrerer kleiner Flüs- sigkeitströpfchen eben zu füllen beginnt.

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Von den elementaren Lebenserscheinungen.

173

liehen, der von Traube angegeben und seiner Zeit viel besprochen wurde. Lässt man vorsichtig einen Tropfen von gehitinirender Leim- lösung in eine Gerbstofflösung fallen, so entsteht um den Tropfen herum eine sogenannte Niederschlagsraembran aus gerbsaurem Leim, indem an der Grenzschicht des Leims und der Gerbstofflösung beide Stoffe untereinander eine chemische Verbindung eingehen. Diese Niederschlagsmembran zeigt nun die eigenthümliche Erscheinung des Wachsthums sowohl in Bezug auf ihre Fläche, als in Bezug auf ihre Dicke. Man hat den Traube 'sehen Leimtropfen in der Gerb- stofflösung geradezu mit einer lebendigen Zelle verglichen und als „künstliche Zelle" bezeichnet. Da nämlich die Leimlösung Wasser an sich zieht, so tritt immer mehr Gerbstoff lösung durch die Niederschlagsmembran hindurch zum Tropfen. Der Gerbstoff selbst kommt dabei immer nur bis an die Oberfläche des Tropfens, da er hier durch den Leim immer gleich gebunden wird, wobei er zur Ver- dickung der Membran durch fortwährende Anlagerung neuer Schichten führt. Das Wasser dagegen dringt in das Lmere des Tropfens, so dass dieser immer mehr und mehr aufquillt und an Grösse zunimmt. Dadurch entstehen fortdauernd in der Niederschlagsmembran äusserst feine Lücken und Risse, die aber schon im Moment ihres Entstehens durch neuen Niederschlag wieder geschlossen werden. So wächst die „künstliche Zelle" continuirlich und gleichmässig weiter, bis aller Leim ge- bunden ist. Die Bildung und Grössenzunahrae der Membran, die hier am grossen Tropfen ver- hältnissmässig schnell vor sich geht, verläuft in der kleinen lebendigen Zelle sehr allmählich. Man hat in der Botanik lange einen recht unfruchtbaren Streit geführt, ob die Cellu- losemembran der Pflanzenzelle durch „Intus-

s u s c e p t i 0 n '■ , d. h. durch Zwischenlage-

Fig. 58. Z e 1 1 w a n d einer ilarkzelle von Clematis

mit Dickenwaclisthums- schichten. XachSTKASuuRGER.

rung neuer Theilchen zwischen die alten oder durch ., Apposi tion '■ , d h. durch äussere

Anlagerung geschieht^), ein Streit, der im Anschluss an die unglückliche Vergleichung oder vielmehr Unterscheidung Naegeli's zwischen dem Wachsthum der Krystalle und Organismen entstanden ist, .bis man in neuerer Zeit mehr und mehr zu der Ansicht gekommen ist, dass beide Formen zum Wachsthum der Zellmembran führen, die eine zum Flächen-, die andere zum Dickenwachsthum. Wenn der Protoplasmakörper der Zelle selbst sich vergrössert , wird die Membran gedehnt. Dabei ent- stehen zwar in der Regel keine wirklichen Risse, wie in der künst- lichen Zelle, wohl aber werden in Folge der Dehnung die Zwischen- räume zwischen den einzelnen Theilchen der Membran weiter und grösser, so dass neue Theilchen vom Protoplasma her dazwischen- treten können. Andererseits aber zeigt die bei starken Vergrösserungen sichtbare Schichtung der Zellmembran parallel der Fläche, die mit zunehmendem Dickenwachsthum immer deutlicher wird, dass auch eine Dickenzunahme durch Apposition vorhanden ist (Fig. 58).

1) Vergl. pag. 12-5.

174

Drittes Capitel.

Wenn die Zellen in ihrem Stoffwechsel continuirlich Stoffe pro- duciren und nach aussen abscheiden, so entstehen allmählich jene gewaltigen consistenten Massen, die bei mehrzelligen Geweben, wo die Producte der einzelnen Zellen untereinander verschmelzen, wie z. B, beim Knorpel und Knochen (Fig. 59 und 60;, die sogenannten Intercellular.substanzen bilden. Nicht immer aber werden die Stoffe sogleich nach aussen abgeschieden, in manchen Fällen werden sie in einer Vacuole in der Zelle selbst erst als eine feste Masse ab-

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Fig. 59. Knocheuquerschliff. Zwischen den stemiörmigen Knochenzellen liegt die compacte Knochengrundsubstanz. In der Mitte des Schlifl's ist der Querschnitt eines Knochencanälchens. Nach HatbChek.

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Fig. 60. Hyalinfr Knorpel. Zwischen den einzelnen Zellen ist eine feste liyaline Grundsubstanz ausgeschie- den. Nach Hatschek.

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gelagert, an die sich Theilchen für Theilchen, wie bei einem Kiystall, weiter ansetzt. So werden z. B. die Stärkekörner in den Pflanzen- zellen, ferner die Kalknadeln und Vierstrahler bei den Echinodermen, Schwämmen etc., in der Zelle selbst angelegt, und erst nachdem sie eine bestimmte Grösse erlangt haben , werden sie nach dem Aus- scheidungsmodus der festen, geformten Körper nach aussen abgegeben (Fig. 61, nach Semonj^j.

Den Ausscheidungsmo- dus derjenigen Stoffe, die schon als geformte Massen im Zellinnern liegen, zeigen uns wieder am besten die A m 0 e b e n. "Wir sahen bei der Nahrungsaufnahme von Seiten der Amoe b e n , dass schliesslich der Nahrungs- ballen, in einer Nahrungs- vacuole eingeschlossen, im Protoplasma liegt. In dieser Vacuole, die man auch als Verdauungsvacuole bezeichnen kann, wird alles Verdauliche gelöst und geht in das Protoplasma selbst über; die unverdaulichen Reste aber, wie Schalen von Algen, Panzer von Diatomeen, Chitinmassen von Räderthierchen etc., bleiben in der Vacuole liegen und werden schliesslich auf folgende Weise ausgeschieden : Beim Kriechen der Amoebe kommt es gelegentlich vor, dass im strömenden Protoplasma die Verdauungsvacuole sehr nahe an die Oberfläche gelangt, so dass der Inhalt der Vacuole nur noch durch eine dünne Protoplasmawand von dem Medium getrennt ist. In diesem Falle zerreisst die schmale

Fig. 61. Entstehung eines Kalkdreistrah- lers in einer Echinodermenzelle. Nach

Semon.

1) R. Semox: „Beiträge zur Naturgeschichte der Synaptiden des Mittelraeers." In Mittheil, der zool. Station zu Neapel Bd. VII.

Von den elementaren Lebenserscheinnnpon.

175

Wand sehr leicht, indem das Protophisnia nach Ijeiden Seiten von der dünnsten Stelle tortfliesst, und der Inhalt der Vacuole entleert sich mitsammt der geformten Masse nach aussen (Fig. 62). Dieser Modus der Entleerung' geformter Bestandtheile aus dem Protoplasma findet sich ausschliesslich bei Zellen , die keine Membran besitzen , also haupts.ächlich bei den amoeboidcn Zellen der verschiedensten Art.

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B

Fig. 62. Araoeben in vier aufeinander folgenden Stadien der Excretion eines unverdauten Nahruugrs restes.

Eine Uebergangsform aber zwischen dem Modus der Abgabe flüssiger Stoffe und fester Stoffe stellt gewissermaassen die Schleim- secretion vor. Die Schleimzellen, die im zusammengesetzten Organis- mus eine so überaus wichtige Rolle spielen, indem sie die inneren Gewebeflächen durch ihre Schleimabsonderung schützen und glatt und feucht erhalten, sind stets cylindrisch. Ihr Kern, mit etwas consisten- terem Protoplasma umgeben, liegt am Grunde des Zellkörpers, wäh- rend der obere Theil der Zelle, der an die freie Schleimhautfläche grenzt, von einer Substanz, dem Mucigen, gebildet wird, die in stetiger Umbildung in Mucin begriffen ist. Bei ruhiger Thätigkeit der Zelle theilt sich continuirlich ein wenig von dem Secret der dünnen Flüssig- keitsschicht mit, welche die Gewebefläche be- deckt. Bei energischer,

plötzlicher Secretion aber wird der ganze Ballen von Schleimse- cret, welcher den oberen Theil der Zelle bildet, herausgeschoben (Fig. 63) und verschmilzt mit den von den benachbar- ten Schleimzellen ausge- stossenen Schleimpfro- pfen zu einer dicken

zusammenhängenden ^ dkcker.

Schleimdecke. Ganz

merkwürdig und noch gar nicht aufgeklärt ist die Eigenschaft mancher Holothurien, jener gurkenförmigen Echinoderraenformen, ihre dicke und feste Lederhaut auf Reize hin in kurzer Zeit zu einem seidenglänzenden, fadenziehenden Schleim umzuwandeln. Ueberhaupt verspricht die cellularphysiologische Untersuchung des Secretions- vorgangs noch manche allgemein-physiologisch sehr interessante That- sache zu liefern.

Fig. 63. Schleimzellen. A Drei isolirte Schleimzellen. B sieben zusammenhängende Schleimzellen, von denen die drei linken voll, die vier rechten entleert sind. Nach Schi effer-

176 Drittes Capitel.

2. Secret- und Excr etstoffe.

Da es weder möglich noch nothwendig ist, hier auf die ganze Fülle der Secrete und Excrete, die Thier- und Pflanzenzellen in ihrem Stoffwechsel liefern , näher einzugehen , so wollen wir uns auf die wichtigsten dieser Stoffe beschränken.

a. S e c r e t e.

Da wir das Charakteristische der Secrete darin erblicken, dass sie dem Organismus von irgend welchem Nutzen sind, so ist die Thatsache verständlich, dass manche dieser Secrete dem Organismus dauernd erhalten bleiben und nicht an die Aussenwelt abgegeben werden. Danach können wir zwei Gruppen von Secreten unter- scheiden , je nachdem sie nach ihrer Entstehung immer sofort nach aussen abgegeben oder dauernd im Organismus, sei es i n der Zelle, sei es an ihrer Oberfläche, zurückgehalten Averden, wobei es im Zellenstaat des zusammengesetzten Organismus übrigens in beiden Fällen durchaus nicht immer nöthig ist, dass das Secret gerade der- jenigen Zelle Nutzen bringt, von der es secernirt wird.

Unter den Secreten, die nach ihrer Production den Organismus verlassen, haben wir in erster Linie die, welche zur Verdauung in Beziehung stehen, also die Fermente, die im Thierreich sowohl wie im Pflanzenreich auftreten. So produciren die Zellen der Speicheldrüsen bei den Thieren das Ptyalin, das die Stärke in Traubenzucker überführt, die Zellen der Magendrüsen das Pepsin, das die Eiweisskörper peptonisirt, sowie das Labferment oder C h y m o s i n , das die Caseingerinnung herbeiführt, die Zellen des Pankreas oder der Bauchspeicheldrüse das Ptyalin zur Verdauung der Stärke, das Trypsin zur Peptonisirung der Eiweisskörper und das Steapsin zur Spaltung der Fette. Bei den Pflanzen finden wir eben- falls Fermente, so z. B. bei den sogenannten „fleischfressenden Pflanzen", die, wie unsere auf Sümjjfen wachsende Drosera, Insecten fangen, festhalten und durch Secretion peptonisirender Fermente verdauen. Ob freilich die energisch wirksamen Fermente, welche im Milchsaft ein- zelner Pflanzen, wie Carica papaya, producirt werden und gar nicht an die Oberfläche der Pflanze gelangen, wirklich als Secrete in unserem Sinne oder nur als Excrete, als Nebenproducte des Stoff- wechsels, aufzufassen sind, ist bisher noch nicht zu entscheiden, da man eine Bedeutung derselben für das Leben der Pflanze bis jetzt noch nicht hat auffinden können. Dagegen sind wieder bei den ein- zelligen Organismen die Fermente von grosser Bedeutung für die Er- nährung der Zelle, wenn diese Organismen, wie die Bakterien, auf organische Nahrung angewiesen sind , und sich feste Nahrungsstoffe erst verflüssigen müssen, um sie resorbiren zu können.

Andere Secrete, wie das weit verbreitete Mucin, aus dem der Schleim besteht, haben mehrfache Bedeutung. Das Mucin z. B. schützt einerseits die Zelle selbst vor äusseren Einwirkungen, die etwa schädlich sein können, z. B. vor directen Berührungen, indem bei einer starken Reizung die Schleimzelle eine dicke Schleimschicht producirt, die sie von dem berührenden Körper trennt, wie das der Fall ist bei den Schleimzellen der Luftröhre, wenn ein Fremdkörper in die „unrechte Kehle" gekommen ist. Ferner dient der Schleim, z. B. des Speichels,

Von den elementaren Lebenserscheinungen. ]77

dazu, die zerkauten Bissen glatt zu raaehen, so dass die Speiseballen besser durch die enge Speiseröhre gleiten können. In dieser Kolle liegt übrigens beim Menschen die Hauptbedeutung des Speichels, während die stärkeverdauende Fähigkeit des im Speichel enthaltenen Ptyalins wegen allzu kurzer Einwirkung gar nicht zur Geltung kommen kann, besonders da das Ptyalin nur in alkalischer Flüssigkeit wirkt, also im sauren Magensaft sofort unwirksam gemacht wird. Schliesslich aber dient der Schleim besonders bei den niederen Thieren und bei den einzelligen Organismen zum Festhaften. Die Khizopoden sondern an der Oberfläche ihres Protoplasraakörpers einen feinen, schleimigen Ueberziig ab, mit dem sie sich einerseits an ihrer Unterlage ankleben, um zu kriechen , mit dem sie aber andererseits auch anschwimmende Nahrungsorganismen festhalten, um sie in ihren Protojjlasmakörper hineinzuziehen und zu verdauen. Eine ähnliche Bedeutung, wie der Schleim als Schutzmittel, haben die Fette, die, wie der Talg, von den Talgdrüsen der Haut producirt werden und die Haut einerseits vor zu starker Verdunstung schützen und andererseits geschmeidig erhalten.

Als Schutzmittel allein dienen ferner, wie Stahl ^) durch eine Reihe von Versuchen gezeigt hat, auch in anderer Weise viele Secrete im Thierreich, vor Allem aber im Pflanzenreich, wenn sie übelriechende oder übelschraeckende Stoffe, und zwar Säuren und ätherische Gele, enthalten. Die Organismen werden dadurch geschützt vor dem Gefressenwerden. Gerade in diesen Fällen liegen meist sehr inter- essante Anpassungserscheinungen an bestimmte Verhältnisse vor, die durch natürliche Selectiou entstanden sind und für den Organismus überaus zweckmässige Einrichtungen repräsentiren. Dasselbe gilt auch von anderen Fällen, in denen die Pflanzen gerade durch gutriechende oder gutschmeckende Secrete , wie ätherische Oele, Blüthen- honig etc., Insecten anlocken, deren Kommen und Gehen den Pflanzen insofern von Nutzen, ja vielfach unentbehrlich ist, als diese Thiere den Blüthenstaub an ihren Beinen mit forttragen und zu den weib- lichen Blüthen verschleppen, so dass diese befruchtet Averden. Der- artige oft erstaunlich zweckmässige Anpassungen linden sich zahllose besonders im Pflanzenreich, und die Physiologie der Secretion berührt sich hier in engster Weise mit dem interessanten Gebiete der Wechsel- beziehungen zwischen Pflanzen und Thieren.

Schliesslich können wir als Secrete im weitesten Sinne auch die in der Zelle producirten Stoffe, wie Stärke, Aleur onkörner, Fetttröpfchen etc., auffassen, welche in der Zelle als Reservestoffe eine Zeit lang aufgespeichert, später im Stoffwechsel wieder verbraucht werden.

Zu den Secreten, die nach ihrer Production dauernd i m O r g a n i s m u s bleiben, gehören fast ausschliesslich die Pigmente und die skelettbildenden Substanzen. Während die Pigmente, die meist in Form feiner Körnchen auftreten, stets im Zellkörper bleiben und besonders beim Farbenwechsel der Thiere eine noch nicht ganz aufgeklärte Bedeutung für das Thier besitzen, wird die überwiegende Mehrzahl der skelettbildenden Substanzen nach aussen abgeschieden,

^) E. Stahl: „Pflanzen und Schnecken." Eine biolog-ische Studie über die Schutzmittel der Pflanzen gegen Schneckenfrass. In Jen. Zeitschr. f. Naturw. Bd. XXII, X. F., XV, 1888.

Verworu, AUgfeineiue Physiologie. 2. Aufl. 12

178

Drittes Capitel.

sei es, dass sie in der Zelle selbst angelegt und später ausgestossen werden, wie die Kalk nadeln und Plättchen der Holothurien, sei es, dass sie gleich als Membranen, Schalen, Panzer an der Ober-

fläche der Zellen abgesondert werden, wie die Zellmembranen, die Cellulosemembranen der Pflanzenzellen, die Chitinpanzer der Insecten, die Ki esel säure schalen der Diatomeen, die überaus zier- lichen Gitterskelette der Kadiolarien (Fig. 64), die Kalkgehäuse der

Ä B

Fig. 64. Kieselskelette von Radiolarien nach Haeckel. A [Dorataspis.

B Theoconus.

Foramlniferen etc., sei es endlich, dass sie in den Geweben zwischen den einzelnen Zellen abgelagert werden als sogenannte „Binde- substanzen", wie das Chondrin im Knorpel, das Glutin im Knochen, der phosphor saure Kalk im Knochen und die ganze Fülle der Stütz- und Gerüstsubstanzen, die in die Gruppe der Al- buminoide gehören und bei den verschiedensten Thiergruppen ver- schiedenartige, noch wenig gekannte Zusammensetzung haben.

b. E X c r e t e.

Die Excrete sind weit weniger mannigfaltig als die Secrete. Die Hauptrolle unter ihnen spielen die Stoff"e der regressiven Eiweiss- metamorphose, die von jeder lebendigen Substanz ausgeschieden werden.

Unter den gasförmigen Excreten ist das Wichtigste, dessen Production mit dem Leben jeder Zelle ohne Ausnahme verknüpft ist, die Kohlensäure, das Endproduct der Athmung, das zum grössten Theil aus der Oxydation und dem Zerfall des Eiweiss hervorgeht, zum Theil unter Umständen aber auch aus Gährungsprocessen der Kohlehydrate herrühren kann. Neben der Kohlensäure scheiden, wie wir bereits sahen, die Pflanzen noch Sauerstoff aus, der aus der Spaltung der von den grünen Pflanzentheilen aufgenommenen Kohlen- säure stammt. Man hat daher den bereits früher berührten vermeint- lichen Gegensatz im Stoffwechsel von Pflanzen und Thieren auch darin zu finden geglaubt, dass die Pflanzen Kohlensäure aufnehmen

Von den eleniontaren Lt'bou.sorsclieinunofL'ii. 179

uiul Sauerstoff abgeben , während die Tliiere bei der Athmung um- gekehrt Sauerstoff aufnehmen und Kohlensäure ausscheiden. Allein spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch dieser Gegensatz zwischen beiden Organisraenreihen in Wirklichkeit gar nicht besteht. Zwar ist es wahr, dass die Thiere Sauerstoff einathmen, zur Ver- brennung der lebendigen Substanz verwerthen und als Verbrennungs- product dafür Kohlensäure ausathmen. Aber auch die Pflanzen thun dasselbe. Y^e'i ihnen ist diese fundamentale Lebenserscheinung der Athmung nur verdeckt durch den Verbrauch und die Spaltung der Kohlensäure, die aber mit der Athmung selbst nichts zu thun hat, sondern lediglich mit dem Aufbau der ersten organischen Substanz der Pflanze aus anorganischen Stoffen in Beziehung steht. Untersucht man daher den Stoffwechsel der Pflanze zu einer Zeit, wo keine Stärkebildung vor sich geht, wo keine Kohlensäurespaltung stattfindet, wo aber das Leben der Pflanze in anderen Erscheinungen zum Aus- druck kommt, also des Nachts oder im Dunkeln, so findet man bei gasometrischen Versuchen, die den früher beschriebenen analog sind, dass die Pflanze genau in derselben Weise Sauerstoff' verbraucht wie das Thier und genau so Kohlensäure dafür ausathmet wie das Thier. Der Process der Athmung bei der Pflanze ist also nicht zu ver- wechseln mit dem Process der Stärkeassimilation, der eine Aufnahme vmd Spaltung der Kohlensäure und Abscheidung von Sauerstoff ver- langt und so den Process der Athmung, der stets daneben existirt, nur verdeckt. Die Pflanzen athmen ebenso wie die Thiere, und Avir können sagen: Die Athmung, d.h. die Aufnahme von Sauer- stoff und die Abgabe von Kohlensäure, ist eine all- gemeine Sto f f w echseler scheinung.

Unter den flüssigen Excreten finden wir überall das Wasser und eine Anzahl im Wasser gelöster Stoffe. Da die einzelne Zelle zu wenig aller dieser Excretstoffe abgiebt, so ist es bei dem jetzigen Stande der mikrochemischen Reactionen zum grössten Theil noch nicht möglich, diese Stoffe für jede einzelne Zelle nachzuweisen; wir müssen uns also , um sie kennen zu lernen , an den zusammen- gesetzten Zellenstaat halten. Bei der Pflanze wird das Wasser während der „Transpiration" durch die sogenannten Spaltöffnungen der Blätter ausgeschieden und verdunstet. Durch die Thätigkeit besonderer Schliesszellen können die Spaltöffnungen geschlossen und geöffnet und dadurch die Abgabe des Wassers von Seiten der Pflanze in feinster Weise geregelt werden. Bei den Thieren sind es besondere Drüsen, die Nieren und die Schweissdrüsen , deren Zellen das Wasser und damit zugleich die Stoffe der regressiven Eiweissmetamorphose als Harn aus den Körpersäften ausscheiden und nach aussen befördern.

Unter den stickstofffreien Producten des Eiweisszerfalls sind die meisten vollständig bis zu Kohlensäure und Wasser oxydirt, so dass als Endproducte fast ausschliesslich Kohlensäure und Wasser den Körper verlassen. Allein es treten dabei doch auch Zwischenproducte auf, die, von gewissen Zellen ausgeschieden, im Körper selbst noch ein anderes Schicksal haben. Das gilt besonders von der Milch- säure, die unter Anderem von den Muskelzellen in das Blut aus- geschieden wird und sich noch im Blute findet, aber nicht als solche im Harn den Körper verlässt. Dass die Fleischmilchsäure oder Para- milchsäure aus dem Zerfall von Eiweisskörpern stammt und nicht etwa aus den aufgenommenen Kohlehydraten, geht aus den bereits

12*

180 Drittes Capitel.

angeführten Versuchen von Gaglio ^) hervor. Allein die Fleischmilch- säure wird noch weiter im Körper umgesetzt, denn, wie wir sahen, haben die Versuche von Minkowski ^) an Gänsen , denen die Leber exstirpirt war, gezeigt, dass Milchsäure, vermuthlich an Ammoniak gebunden, zur Harnsäuresynthese verbraucht wird.

Die stickstoffhaltigen Producte des Eiweisszerfalls sind die bekannten Stoffe, denen wir schon mehrfach begegnet sind, vor Allem Harnstoff, Harnsäure, Hippursäure, Kreatin etc., ferner die Nucleinbasen Xanthin, Hypoxanthin oder Sarkin, Ade- nin, Guanin die zum grössten Theil im Harn zur Ausscheidung gelangen und die Stoffe repräsentiren, in denen, abgesehen von einer unbedeutenden Menge im Schweisse und den Faeces, der ganze in der Nahrung aufgenommene Stickstoff den Körper wieder verlässt.

Die letztere Thatsache, dass mit Ausnahme der verschwindenden Menge im Schweisse und den Faeces der sämmtliche Stickstoff im Harn ausgeschieden wird, hat im Hinblick auf den Umstand, dass die Eiweisskörper und ihre Derivate die einzigen stickstoffhaltigen Stoffe im Organismus sind, eine sehr grosse Bedeutung in der Physio- logie der thierischen Organismen erlangt; aber leider hat sie auch zu einem Fehlschluss geführt, der an sich vielleicht keinen unmittelbaren Ein- fluss auf die Entwicklung unserer grundlegenden physiologischen Vor- stellungen gehabt hätte, wenn nicht auf ihn weitgehende und wichtige Folgerungen aufgebaut worden wären. Aus der eben genannten That- sache ergiebt sich nämlich mit Nothwendigkeit zwar, dass der sämmtliche im Harn ausgeschiedene Stickstoff aus dem Eiweisszerfall stammen muss, aber nicht der Schluss, den man noch weiterhin ziehen zu müssen glaubte, dass der im Harn aus- geschiedene Stickstoff ein Maass für den Eiweissumsatz im Körper abgiebt. Der letztere Schluss wäre nur berechtigt, wenn man wüsste, dass alle stickstoffhaltigen Spaltungsproducte des Eiweissmoleküls aus- nahmslos den Körper verlassen. Dafür hat man aber durchaus keinen Anhaltspunkt; im Gegentheil, es ist, um hier nur die Mög- lichkeit zu berühren, durchaus keine Thatsache vorhanden, die da- gegen spräche, dass sich stickstoffhaltige Spaltungsproducte des Ei- weissmoleküls mit neuen stickstofffreien Atomgruppen wieder zu Eiweiss synthetisch regeneriren können. Diese letztere Möglichkeit hat man übersehen, und in Folge dessen ist man besonders in Bezug auf den Stoffumsatz im Muskel zu Anschauungen gekommen , die von vorn- herein das Gepräge der Unwahrscheinlichkeit an sich tragen, die aber traditionell fortgepflanzt bis in die letzten Jahre Geltung behalten haben und erst jetzt von Pflüger ^) angegriffen und kritisirt worden sind.

Den Excretstoffen der regressiven Eiweissmetamorphose können wir noch eine Gruppe von Stoffen anreihen, die ebenfalls aus der Umformung von Eiweisskörpern hervorgehen, und zwar hauptsächlich im Stoffwechsel der Bakterien. Das sind die sogenannten Ptomaine, von denen einige wegen ihrer sehr giftigen Wirkung in neuerer Zeit auch als Toxine bezeichnet worden sind. Auf ihrer giftigen Wir-

^) Gaglio: „Die Milchsäure des Blutes und ihre Ursprungsstätten." In Du Bois- Eeymond's Arch. 1886.

2) Minkowski : „Ueber den Einfluss der Leberexstirpation auf den Stoffwechsel." In Arch. f. exper. Path. u. Pharmak. Bd. 21, 1886.

3) Pflüüer: „Die Quelle der Muskelkraft." In Pflüger's Arch. Bd. 50, 1891.

Von den elcmcnt.ircn Lehcnserscheinimgcn. 131

kung beruhen zum grösstcn Theil die schweren Krkrankunf^en bei den durch Bakterieninfection erzeugten Infection-skrunkheiten, wie Cholera, Dysenterie, Diphtherie, Typhus etc. Die chemische Zu- sammensetzung dieser Stoffe ist erst in neuerer Zeit etwas besser be- kannt geworden vor Allem durch die umfangreichen und tiefgehenden Arbeiten von I^rieger^). Einige unter ihnen, die zuerst aufgefundenen Ptomaine, die bei Fäulniss von Eiweisssubstanzen, z. B. in Leichen, durch den Stoffwechsel der Fäulnissbakterien erzeugt werden, sind stickstoffhaltige Basen, welche den sogenannten Alkaloi'den oder Pflanzenbasen, die im Pflanzenkörper entstehen und ebenfalls überaus giftige Excretstoffe repräsentiren, verwandt sind.

Schliesslich ist hier der Ort, um mit einigen Worten noch auf eine sehr interessante Reihe von Stoffen einzugehen, die ebenfalls hauptsächlich durch den Stoffwechsel der Bakterien, aber auch vieler anderer Zellen erzeugt Averden und erst in neuester Zeit die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gelenkt haben. Das sind die T o x a 1 b u m i n e , giftige Eiweisskörper, die in dem Stoffwechsel der betreffenden Zellen durch Umformung aus anderen Körpern gebildet Averden und in der Patho- logie der Infectionskrankheiten eine wichtige Rolle spielen. Diese Toxalbumine sind hauptsächlich Körper aus den Gruppen der Globu- line und der Albumosen. So ist z. B. der wirksame Bestandtheil des vor einiger Zeit von Koch aus den Stoffwechselproducten der Tu- berkelbacillen gewonnenen „Tuberculins" eine Toxalbumose, die schon in geringen Dosen äusserst giftig wirkt. Durch Production einer anderen Toxalbumose rufen die Diphtheriebacillen ihre sehr charak- teristischen Vergiftungserscheinungen im Körper diphtherie-kranker Personen hervor, die oft nur sehr langsam wieder verschwinden. Die Toxalbumose der Diphtheriebakterien war der erste Toxalbumin- körper, welcher von Löffler") als solcher erkannt und von Briegek und Fränkel^) rein dargestellt wurde. Man war nicht wenig erstaunt, als man die ersten giftigen Eiweisskörper kennen lernte, nachdem man solange die Eiweisskörper stets nur als unschädliche, ja sogar als un- bedingt zum Leben nothwendige Nahrungsstofte gekannt hatte. Und nicht geringer war die Verwunderung, als man später fand, dass die giftige Wirkung des gefürchteten Schlangengiftes, des Blutes mancher Fische, wie der Muränen etc., ebenfalls auf die Anwesenheit solcher Toxalbumine zurückzuführen ist, die hier durch den Stoffwechsel der Gewebezellen erzeugt und ausgeschieden werden.

Feste Excretstoffe schliesslich finden wir fast nur bei den Zellen, die geformte Nahrung aufnehmen. Bei ihnen werden die un- verdaulichen Reste der Nahrung als feste Excrete in der bereits be- schriebeneu Weise nach aussen abgegeben. Nur in wenigen Fällen ■werden Excretstoffe, die sich gelöst im Zellinhalt befinden, in der Zelle selbst zu festen Concrementen geformt und dann ausgestossen, wie es z. B. nach den Untersuchungen bei Rhumbler*) bei Wimper- infusorien vorkommt. Ob man die Concremente von Guanin und

') Bbiegee: „Ueber Ptomaine." Theil I, II u. m. Berlin 1885 u. 1886.

*) Löffler: In Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 5 u. 6.

^) Brieger u. Fränkel: „Untersuchungen über Bacteriengifte." In Berl. klin. Wochenschr. 1890.

■*) L. Rhcmbler: „Die verschiedenen Cystenbildungen und die Entwicklungs- geschichte der holotrichen Infusoriengattung Colpoda." In Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 46, 1888.

182 Drittes Capitel.

die Krystalle von Guaninkalk, die in manchen Zellen angehäuft und dauernd im Protoplasma abgelagert werden , wie die schön iri- sirenden Krystallplättchen und Nadeln in den Epidermiszellen der Amphibien und Fische, als Excrete aufzufassen hat oder nicht viel- mehr als Stoffe, die noch weiter im Leben der betreffenden Organismen eine Bedeutung haben, ist zur Zeit noch nicht zu entscheiden.

Blicken wir noch einmal zurück auf die Thatsachen des Stoff- wechsels , und vereinigen wir die einzelnen Erscheinungen zu einem Gesammtbilde , so finden wir, dass der Stoffwechsel vom Eintritt der Stoffe in die lebendige Zelle bis zum Austritt aus dieser in einer langen Reihe von complicirten chemischen Processen besteht, die wir uns unter dem Bilde einer Curve mit einem aufsteigenden und einem absteigenden Schenkel vorstellen können. Der aufsteigende Schenkel enthält als Glieder alle Processe, welche zum Aufbau der lebendigen Substanz führen ; der Höhepunkt wird gebildet von der Synthese der höchstcomplicirten organischen Verbindungen, der Eiweisskörper, der absteigende Schenkel umfasst die Processe des Zerfalls der lebendigen Substanz bis in ihre einfachsten Verbindungen. Ausgangspunkt und Endpunkt der Curve, d. h. die Stofi'e, die in den Organismus eintreten und aus ihm austreten, sind am besten bekannt, am wenigsten da- gegen und zum grössten Theil sogar überhaupt nicht die Glieder der Stoffwechselcurve, welche um den Höhepunkt liegen.

Die grüne Pflanzenzelle, ja schon die einfache, einzellige, grüne Alge , z. B. ein Protococcus, stellt ein chemisches Laboratorium vor, in dem aus den einfachsten anorganischen Stoffen, Kohlensäure, Wasser und Salzen, organische Substanz gemacht wird, wobei Spal- tungen und Synthesen immer Hand in Hand laufen. Zuerst entsteht die Stärke. Die Stärke dient wieder dazu, um unter Mitwirkung der stickstoffhaltigen Salze Eiweisskörper aufzubauen, wobei die ver- schiedenartigsten Nebenproducte entstehen. Diesen allmählichen Auf- bau der Eiweisskörper vollzieht die grüne Pflanzenzelle aber nicht allein für sich selbst, sie thut es zugleich für sämmtliche thierische Zellen mit, welche die Fähigkeit, aus anorganischem Material organi- sches zu machen, im Laufe der Entwicklung verloren haben. Die von der Pflanze producirten organischen Stoffe dienen den Pflanzen- fressern, das Fleisch der Pflanzenfresser den Fleischfressern als Nahrung. Fleischfresser können aber allein von Eiweissnahrung leben. Wir sehen also, dass alle Stoffe, welche im Stoffwechsel vorkommen, theils wie in der Pflanze zum Aufbau der Eiweisskörper führen, theils wie im Fleischfresser allein aus Eiweissumsatz entstehen können. In der Pflanze sowohl als im Thier aber findet schliesslich ein fort- währender Zerfall der Eiweisskörper statt, und als definitive End- producte des Stoffwechsels erhalten wir wieder einfache anorganische Verbindungen, dieselben, von denen der Aufbau der lebendigen Sub- stanz ausgegangen ist, nämlich im Wesentlichen Kohlensäure, Wasser und stickstoffhaltige Salze. Der ganze Stoffwechsel ist also nur eine Reihe von Processen, die zum Aufbau und zum Zerfall der Eiweisskörper und ihrer Verbindungen in Beziehung stehen. Und das gilt von der Pflanze sowohl wie vom Thier.

Von den elonuntarL-n Leijenserscheiniuigen. ^83

II. Die Erscheinungen des Form wechseis.

Die Form der Organismen ist keine imveränderliche. Auch alj- geselien von den Formveränderungen, die mit den Bewegungsersch ei- nungen verbunden sind, und die wir an anderer Stelle betrachten wollen, zeigt die Organismcnwelt weitgehende Formveränderungen, die wir als iiire Entwicklung bezeichnen. Zwei grosse Reihen von Formveränderungen sind es, die wir an der lebendigen Substanz feststellen: die phylogenetische Entwicklungsreihe oder Stammesentwicklung, welche die Forraveränderungen der lebendigen Substanz in ihrer Gesammtheit während der Erdentwicklung umfasst, und die ontogenetische Entwicklungsreihe oder Keimes- entwicklung , Avelche die Formveränderungen bezeichnet , die das einzelne Individuum während seines individuellen Lebens durchläuft. Beide Reihen stehen , wie Haeckel ^) durch seine bahnbrechenden und für die moderne Entwicklungslehre grundlegenden Arbeiten ge- zeigt hat, in einem engen Zusammenhange untereinander, und zwar ist die Keimesentwicklung im Allgemeinen eine abgekürzte Recapitu- lation der Stammesentwicklung der Organismen.

A. Die phylogenetische Entwicklungsreihe.

Die Formen der lebendigen Substanz auf der Erde sind nicht stets dieselben gewesen, die wir jetzt auf der Erdoberfläche sehen. Die moderne Paläontologie, die Erforschung der versteinerten Organismen, die sich in den verschiedenen Schichten der Erdrinde finden, hat uns mit einer erdrückenden Fülle von Formen bekannt gemacht, die von den jetzt lebenden um so mehr abweichen, je älteren Schichten sie ent- stammen. Zwar hat die kritische Forschung der letzten Jahrzehnte eine ganze Zahl der wunderbaren Wesen, mit welchen die ältere Geologie die Erde bevölkerte, ins Reich der Fabel gewiesen und als Phantasiebilder entschleiert , die mit den seltsamen Thiergebilden, welche der formenschöpferische Geist der Inder, der Assyrer, der Inkas erschuf, auf gleicher Stufe stehen ; dennoch aber hat die Ent- deckung wohlerhaltener fossiler Formen gerade in den letzten Jahr- zehnten uns deutlich bewiesen, wie ganz anders die Organismenwelt der Erdoberfläche in früheren Perioden der Erdentwicklung zu- sammengesetzt war. Wir haben eine überwältigende Formenfülle von Organismen kennen gelernt, die vor uns Wasser und Land bevölkerten, aber erst die Descendenzlehre hat einen causalen Zusammenhang in diesen Formenreichthum gebracht, indem sie zeigte, dass die fossilen Organismen nicht als alleinstehende Curiosa, als „lusus naturae", als misslungene Versuche eines Schöpfers aufzufassen sind, wie es noch das vorige Jahrhundert glaubte, sondern dass sie die ausgestorbenen Zweige und Aeste eines gewaltigen, mächtig ausgebreiteten Stamm- baumes sind, dessen jüngste und letzte Sprossen die jetzt lebenden Organismen repräsentiren, dessen älteste Aeste aus einer gemeinsamen Wurzel, dem Reich der Protisten, entsprungen sind, deren directe,

') E. Haeckkl: „Generelle Morphologie der Organismen." Berlin 1866.

184 Drittes Capitel.

wenig- veränderte Nachkommen wir noch jetzt in dem interessanten Formengebiet der einzelligen Wesen, der Khizopoden und Bakterien, der Infusorien und Algen vor uns haben. Der modernen Morphologie ist es im Wesentlichen gelungen, durch kritische Forschung ein Bild vom Stammbaum der Organismen in grossen Zügen zu entwerfen, und der Begriff der natürlichen „Verwandtschaft", wie er von der früheren systematischen Morphologie in übertragener Bedeutung vor- ahnend angewandt worden war , hat durch die phylogenetische Forschung eine durchaus reale Bedeutung erhalten. Unsere jetzige Organismenwelt ist das Product einer sich über un- geheuer lange Zeiträume erstreckenden historischen Entwicklung, bei der die einen Formen, wie die Wirbel- thiere, das Resultat mannigfaltiger und tiefgehender Umformungen sind, während die anderen Formen, wie die Protisten, sich in v e r h ä 1 1 n i s s m ä s s i g wenig ver- änderter Gestalt aus frühester Zeit her erhalten haben. Der letztere Umstand, dass wir in den einzelligen Protisten eine Or- ganismengruppe kennen, welche die Charaktere der alten ehrwürdigen Vorfahren aller Organismen noch in verhältnissmässig Avenig getrübter Reinheit besitzt, lässt übrigens gerade diese einzelligen Mikroorganismen auch physiologisch als eine besonders werthvolle Gruppe erscheinen. Gehen wir aber noch etwas genauer auf die Erscheinungen der Form- entwicklung im Allgemeinen ein.

Kein Stoff ohne Form. Form und Stoff sind untrennbar mit- einander verknüpft, und jeder Stoff, jede Substanz hat eine bestimmte Form, welche der Ausdruck chemisch-physikalischer Gesetze ist, die theils durch die Beschaffenheit des betreffenden Stoffes selbst, theils durch die Einwirkungen, die der Körper von aussen her erfahren hat, gegeben sind. Die lebendige Substanz ist nur ein Theil der Materie, die den Erdkörper zusammensetzt, und ist ihrer elementaren Beschaffenheit nach nicht von anderen Stoffen verschieden. Die lebendige Substanz muss also in ihrer Formbildung ebenso den mechanischen Gesetzen der Materie gehorchen wie alle anderen Körper. Hat aber ein Organismus irgend eine bestimmte Form, so sind es zwei Momente, deren Wechselwirkung seine weitere Formentwicklung bestimmt, ein conservatives Moment, das in formerhaltendem, und ein commutatives, das in formveränderndem Sinne wirksam ist. Das formerhaltende Moment ist die Vererbung der vorhandenen Eigenschaften, das formverändernde die Anpassung an veränderte äussere Verhältnisse.

1. Die Vererbung.

Die Vererbung ist eine der bekanntesten Erscheinungen, so be- kannt, dass wir sie im täglichen Leben kaum beachten, und uns ihrer nur bewusst werden in besonders charakteristischen Fällen. Die Ver- erbung ist einfach die Thatsache, dass sich die Eigenschaften der Eltern bei der Fortpflanzung auf die Kinder übertragen, so dass die Nachkommen den Vorfahren im Allgemeinen gleichen. Die Nach- kommen eines Käfers werden immer wieder Käfer von derselben Form; aus den Eiern eines Huhnes entwickelt sich immer wieder ein Huhn; ein Hund kann immer nur Hunde, ein Mensch nur Menschen er- zeugen , niemals andere Wesen. Diese Vererbung der Eigenschaften der Eltern auf die Nachkommen geht bis in die feinsten Einzelheiten,

Von den elementaren Lehensersclioinunffen. \Sb

und nicht bloss die Jtussere Körperform, sondern auch bestimmte l^ewcgungstbrmen, Haltungen, Gewohnheiten etc. vererben sich. Am deutlichsten sehen wir das beim Menschen, weil beim Menschen durch Uebuiig in der Unterscheidung unser Blick am meisten selbst für Kleinigkeiten geschärft ist. Es füllt uns aber die 'I'hatsache der Ver- erbung in der Hegel nur auf, wenn es sich um besonders charakteristische Merkmale handelt, wenn wir eigenthümliche Gesichtszüge, Abnormi- täten des Körpers, wie z. B. überzählige Finger, Behaarung des ganzen Körpers oder ungewcihnlicher Theile, körperliche Defecte etc. sich von den Eltern auf die Kinder übertragen sehen.

Allein nicht immer sehen wir die Vererbung aller Eigen- thümlichkoiten. Viele speciellere Eigenschaften vererben sich über- haupt nicht, andere übertragen sich nicht von den Eltern auf die nächste Generation, sondern erst wieder auf die zweite oder dritte. Dieses Uebertragen von Eigenschaften von den Eltern auf die zweite oder dritte Generation mit Ueberspringung der ersten, ist als Rück- schlag oder „Atavismus" bekannt. So beobachtet man beim Menschen nicht selten, dass die Kinder wieder Eigenthümlichkeiten ihrer Grosseltern haben, die ihren Eltern zeitlebens fehlten. Ja, manche Eigenthümlichkeiten können, nachdem sie viele Generationen hindurch latent geblieben waren, plötzlich wieder in einer Generation auftreten. Das wird besonders oft beobachtet bei Hausthieren und Kulturpflanzen, die durch allmähliche Veredlung aus wilden Formen künstlich ge- züchtet worden sind. Diese schlagen, wenn man sie verwildern lässt, in der Regel wieder in die wilde Stammform zurück, und jeder Thier- züchter, jeder Gärtner kennt eine Unzahl von Beispielen dafür. Es würde zu weit führen, diese Thatsachen hier ausführlicher zu be- handeln, und es würde überflüssig sein, da durch die unsterblichen Werke Darwin's^), sowie durch die Arbeiten der Morphologie, welche im Anschluss an die Descendenztheorie entstanden sind , ein» Fülle von Beispielen ganz allgemein bekannt geworden ist.

Eine Frage ist in neuerer Zeit im Vererbungsproblem in den Vordergrund des Interesses getreten und äusserst lebhaft discutirt worden , das ist die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften bei vielzelligen Organismen. Werden Eigenthümlich- keiten , die während des individuellen Lebens durch Einwirkung äusserer Einflüsse entstanden sind , also z. B. Verstümmelungen, Krankheiten etc., auf die Nachkommen vererbt, oder werden nur an- geborene Eigenschaften , d. h. Eigenschaften , die schon während der Keimesentwicklung des Organismus angelegt worden sind, übertragen? Während Darayin^), Haeckel"), Eimer'') und Andere die Ansicht vertreten, dass auch erworbene Eigenschaften erblich sind, hat Weis- mann*) in einer langen Reihe von Arbeiten zu zeigen gesucht, dass nur solche Eigenschaften vererbt Averden, die bereits in ihrer Anlage in den Keimzellen des Organismus vorhanden waren. Es muss auf den ersten Blick verwundern, dass eine solche Frage, die scheinbar

^) Charles Darvtix: „On the origin of species by means of natural selection (or the preservation of favoured races in the struggle for life). London 1859.

^) Ernst Haeckel: „Generelle Morphologie der Organismen." Berlin 1866.

^) G. Th. ErMER : „Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens." I. Theil. Jena 1888.

*) Weismasn: „Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fi-agen." (Enthält alle Arbeiten "Weismann's über Vererbung von 1881 an.)

186 Drittes Capitel.

SO leicht zu beantworten ist, Gegenstand so entgegengesetzter Vor- stellungen sein kann; denn nichts scheint einfacher, als durch das Experiment zu entscheiden, ob sich etwa Verstümmelungen , die man an einem erwachsenen Thier anbringt, auf die Nachkommen vererben. In der That sind von Weismann und Anderen solche Versuche ge- macht worden. Weismann schnitt zwölf weissen Mäusen, von denen sieben weiblichen und fünf männlichen Geschlechts waren, die Schwänze ab , und züchtete fünf Generationen von Nachkommen , im Ganzen 849 Mäuse von diesen schwanzlosen Eltern, aber keine einzige unter ihnen kam ohne Schwanz auf die Welt; die Schwänze hatten sämmtlich bei den ausgewachsenen Thieren ihre völlig normale Länge. Solche Versuche sind mehrfach angestellt worden , aber sie beweisen nichts Anderes , als dass in den betreffenden Fällen die Verstümmelungen nicht vererbt wurden. Dass überhaupt keine erworbenen Eigen- schaften vererbt werden, darf daraus noch nicht geschlossen werden. Dem gegenüber ist von der anderen Partei eine Anzahl von Bei- spielen beigebracht worden, aus denen hervorzugehen schien, dass ge- wisse erworbene Eigenthümlichkeiten vererbt worden waren. Allein Weismann hat alle diese Fälle wieder einer sehr sorgfältigen Kritik unterzogen und zu zeigen versucht, dass sie aus verschiedenen Gründen nicht als beweiskräftig angesehen werden dürfen. So ist die Frage bisher noch immer nicht entschieden. Eine Entscheidung aber kann In der That nur durch das Experiment herbeigeführt werden. Freilich nicht durch Experimente, Avie die an den Mäusen. Es ist von vorn- herein im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass sich die Verstümme- lung des Schwanzes oder des Fingers oder ähnlicher Körpertheile vererben sollte, denn es ist kaum anzunehmen, dass die betreffenden Organe mit den Geschlechtszellen, durch die allein eine Fortpflanzung und Vererbung geschieht, in einer solchen Beziehung stehen, dass ihre Verstümmelung einen merkbaren Einfluss auf die Geschlechts- zellen ausüben sollte, und ein solcher ist die erste Voraussetzung für eine Vererbung. Bei künftigen Experimenten müssten also wenig- stens Verstümmelungen an solchen Organen angebracht werden, die nachweislich mit den Geschlechtsorganen in Correlation stehen, nur dann wäre die Möglichkeit einer Vererbbarkeit vorhanden. Solche Correlationen sind aber nur wenige bekannt. So z. B. steht beim Menschen die Entwicklung des Kehlkopfes in Correlation mit den Geschlechtsorganen. Männer, die in der Jugend durch Castration die Hoden verloren haben, behalten zeitlebens einen in der Entwicklung zurückgebliebenen Kehlkopf und eine hohe Kinderstimme. Die hei-r- lichen Soprane in der Peterskirche zu Rom , deren gesangskünst- lerische Leistungen jährlich Tausende von Fremden anlocken, haben oft Beispiele dafür geliefert. Aehnliche Correlationen müssen vor Allem erst mehr erforscht und dann zu Versuchen benutzt werden, soll nicht das Experimentiren ein planloses Umhertasten bleiben, das die Ent- scheidung dem Zufall überlässt. Dass Einwirkungen auf die Ge- schlechtszellen, also auf Ei und Spermatozoon, die weitere Entwicklung in hohem Grade beeinflussen, ist von vornherein einleuchtend und zu- dem in neuerer Zeit durch eine grosse Zahl ausgezeichneter Versuche, besonders von den Brüdern Hertwig^) gezeigt worden. Wenn also

^) O. und E. Hertwig : „Ueber den Befruchtungs- und Theilungsvorgang des thierischen Eies unter dem Einfluss iiusserer Agentien." In Jen. Zeitschi". f. Naturw. 1887.

Von den elementaren Lebensersdieinungen. ]87

Verstümmelungen am hochentwickelten Thier oder an der Pflanze an- gebraclit werden können , welche die lebendij^e Substanz der Ge- schlechts- oder Keimzellen verändern, dann erst wäre die Möglichkeit gegeben, experimentell zu entscheiden, ob sich die Verstümmelungen als solche durch ganz bestimmte Beeinflussung der Geschlechtszellen vererben, oder ob sie die Geschlechtszellen nur in soweit beeinflussen, dass aus ihnen Nachkommen mit irgend welchen anderen Detecten und Abnormitäten hervorgehen , die nicht der angebrachten Ver- stümmelung gleichen. Im ersteren Falle würde eine wirkliche Ver- erbung erworbener Eigenschaften vorliegen , im zweiten nicht. Die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften bleibt also noch immer experimentell zu entscheiden. Was man bisher im bejahenden oder verneinenden Sinne geäussert hat, sind nichts als mehr oder weniger wahrscheinliche Vermuthungen.

Bei dem Ausfall der Vererbung handelt es sich in allen Fällen immer nur um specielle Eigenthümlichkeiten. Die allgemeinen Charaktere eines jeden Organismus , die schon lange Generationen hindurch immer fortgepflanzt worden sind, mögen sie nun ausschliess- lich angeboren, oder mögen sie wirklich einst von irgend einem Vor- fahren erworben sein , werden im Wesentlichen auch immer wieder auf die Nachkommen übertragen. Eine Veränderung findet so langsam statt, dass wir sie innerhalb weniger Generationen, die während eines oder weniger Menschenalter zur Beobachtung kommen, ja sogar inner- halb vieler Generationen , wie aus der Identität der in ägyptischen Gräbern gefundenen Thierwelt mit der jetzigen hervorgeht, kaum bemerken können.

So repräsentirt die Thatsache der Vererbung ein Moment, das in der phylogenetischen Entwicklungs reihe die Erhaltung der einmal vorhandenen Eigenthümlich- keiten der Form bedingt.

2. Die Anpassung.

Nicht so unmittelbar wie das formerhaltende Moment der Ver- erbung tritt uns das formverändernde Moment der Anpassung ent- gegen, und zwar vornehmlich deshalb, weil die Erscheinungen der Anpassung fast sämmtlich immer erst innerhalb längerer Zeiträume bemerkbar werden, während die Thatsache der Vererbung uns bei jeder Generation von Organismen vor Augen tritt. Allein wenn wir auch meist nicht leicht die Veränderungen der Anpassung selbst be- obachten, so sehen Avir doch täglich ihren Erfolg, der uns auf Schritt und Tritt begegnet, meist allerdings, ohne dass wir uns dieses Um- standes bewusst sind. Die für die ältere Naturforschung so wunder- bare Thatsache der Zweckmässigkeit in der lebendigen Natur, welche noch bis nach der Mitte unseres Jahrhunderts die rathlose Naturwissenschaft immer wieder der „Teleologie" in die Arme trieb, d. h. der Annahme eines vorherbestimmten Schöpfungsplanes, wie ihn die dogmatische Theologie, altehrwürdige Ideen treulich bewahrend, noch heute annimmt, diese anscheinend so Avunderbare Zweckmässigkeit in der Natur ist der einfache Ausdruck oder besser Erfolg der An- passung der Organismen an ihre Lebensbedingungen im weitesten Sinne.

Die Wasserthiere sind an das Leben im Wasser, die Landthiere an das Leben im Trocknen, die Flugthiere an das Leben in der Luft

188 Drittes Capitel.

in höchst zweckmässiger Weise angepasst. Die Fische haben als Extremitäten Flossen, die als Ruderorgane überaus vollkommen fuugiren, die Landwirbelthiere haben statt der Flossen Beine zum Gehen und Kriechen auf dem Trocknen, die Vögel schliesslich haben äusserst zweckmässig gebaute Flügel, mit denen sie ihren leichten, von lufthaltigen Knochen gestützten Körper durch die Lüfte schwingen, in einer so vollkommenen Weise, wie es bis jetzt immer der vergeb- liche Wunsch aller Erfinder von künstlichen Flugmaschinen geblieben ist. Aber in einzelnen Fällen nur können Avir in der Entwicklung des Individuums eine Anpassung an andere Verhältnisse verfolgen. So athmen z. B. die Larven der Amphibien, der Frösche, solange sie als geschwänzte Kaulquappen im Wasser leben, wie die Fische durch Kiemen, die in zweckniässigster und einfachster Weise construirt sind, um die im Wasser gelöste Luft in gasförmigem Zustande aus dem Wasser zu gewinnen. Sobald sie aber als kleine Frösche auf das Land kommen, schrumpfen die Schwänze ein, degeneriren die Kiemen und entwickeln sich die Lungen, mit denen sie, wie alle Landthiere, die Luft direct in den Körper aufnehmen. Hindert man die Kaul- quappen künstlich, aufs Trockene zu kriechen, so behalten sie dauernd Schwanz und Kiemen, ohne dass die Lungen sich weiter entwickelten, trotzdem die Thiere eine stattliche Grösse erreiclien. Solche Beispiele beweisen , dass alle Organismen in zweckmässigster Weise an ihre Lebensverhältnisse angepasst sind, und die neuere zoologische und botanische Forschung hat gezeigt, dass diese Anpassungen oft in tief- gehendster Weise sich bis auf die feinsten Einzelheiten erstrecken, an die ein unbefangener Beobachter niemals denken würde.

Da sich die Verhältnisse auf der Erdoberfläche seit ihrer Gluth- zeit her bis jetzt fortdauernd langsam geändert haben, da ferner fort- während in local beschränkten Gebieten ziemlich schnelle Aenderungen der äusseren Lebensverhältnisse eintreten, so muss, wenn wir sehen, dass alle Organismen bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein in so vollkommener Weise den allgemeinen und speciellen Verhältnissen zweckentsprechend gebaut sind, fortwährend eine Anpassung der Organismen an die äusseren Verhältnisse stattfinden, und zwar in demselben Maasse, wie sich die Verhältnisse ändern. Bestände diese Proportionalität zwischen der Aenderung der äusseren Bedingungen und der Aenderung der Organismenformen nicht, so müsste sich in absehbarer Zeit eine ausserordentliche Unzweckmässigkeit im Bau der Organismen herausgebildet haben. Wir wissen aber, dass die Fälle, in denen ein Organ auch nur überflüssig zu sein scheint, verhältniss- mässig selten sind, dass aber schädliche Einrichtungen vielleicht über- haupt nicht vorkommen.

Der Modus der Anpassung der Organismen ist ein doppelter. Wir können eine individuelle oder persönliche Anpassung und eine phyletische oder Stammesanpassung unterscheiden. Beide finden in durchaus verschiedener Weise statt.

Die individuelle Anpassung bewegt sich nur innerhalb sehr geringer Breiten, und hat für die Formveränderung der phylo- genetischen Entwicklungsreihe vielleicht nur untergeordnete, ja, wenn die Vererbung erworbener Eigenschaften nicht stattfindet, überhaupt keine Bedeutung, denn sie besteht darin, dass die Veränderungen der äusseren Umgebung direct auch verändernd auf den Organismus selbst einwirken, und zwar in der Weise, wie es den verschiedenen

Von den elementaren Leltenserscheinungen.

189

Momenten der Umgebung entspricht. Bei Gewohnheiten, in der Lebensweise etc. spricht sich hier die Anpassung meistens viel deut- licher aus, als in der Form. Ein Mensch, unter andere Lebens- bedingungen, in ein anderes Land, unter andere Leute versetzt, passt sich im Laute der Jahre mehr und mehr seiner Umgebung an und übernimmt ihre Sitten und Gebräuche, ihre Tliätigkeiten und Lebens- weise mehr und mehr. Weit seltener beobachtet man an Organismen durch individuelle Anpassung an andere Lebensbedingungen eine Aenderung der Kürperformen, und zwar aus dem Grunde, w^eil dazu schon viel weitgehendere Aenderungen in den Lebensbedingungen nothwendig sind, die nicht mehr so leicht ertragen werden, wie die verhältnissmässig geringen Aenderungen, die nur zur Anpassung in der Lebensweise führen. Schon eine verhältnissmässig geringe Aenderung der Zusammensetzung des Wassers, in dem die Wasserthiere leben, führt in den meisten Fällen den Tod herbei. Meeresthiere in Süss- wasser und Süsswasserthiere in Meerwasser gesetzt, gehen meistens zu Grunde ; nur wenige Formen, besonders solche, die in den Fluss- mündungen leben, wie viele Fische, haben sich an Beides angepasst. Sehr interessant ist in dieser Beziehung ein Krebs, die Artemia s a 1 i n a. Schmankewitsch ^) nämlich stellte die eigen thümliche Thatsache fest, dass sich dieser kleine, im Seewasser lebende Krebs durch langsame Gewöhnung an Süsswasser in eine andere Krebsform, und zwar in verdünn- tem Meerwasser zunächst in die Artemia Milhauseni, in reinem Süssw-asser schliess- lich in den Brauch ipus stagnalis, For- men mit durchaus verschiedenen Charakteren, umwandeln lässt. Auch von der einzelnen Zelle sind ähnliche Fälle bekannt. So haben A. Schneider, Brass und 0. Zacharias^) an Spermatozoen, Darmepithelzellen und Amoeben durch Zusatz verschiedener Lösungen zum Medium bedeutende Formveränderungen er- zeugt. Ueberhaupt bieten einzellige Organismen, besonders Infusorien und Rhizopoden, viele günstige Objecto für das Studium der Form- veränderungen, welche die Körperform bei Veränderung des umgeben- den Mediums erfährt. Sehr interessant ist folgendes Beispiel ^j, aus dem hervorgeht, dass die verschiedenen Amoebenformen, die man nach der Gestalt der Pseudopodien zu unterscheiden pflegt, durchaus nicht immer als besondere Arten im Sinne der Systematik aufgefasst w^erden dürfen. In faulenden Heuaufgüssen findet man an der aus Bakterien- filzen bestehenden Oberflächenhaut oft unzählige Massen kleiner Amoeben. Auf den Objectträger gebracht besitzen die Hunderte und Tausende von Amoeben zunächst im Wesentlichen Kugelform (Fig. 66 a). Allmählich beginnen sie breitlappige Pseudopodien auszustrecken, und

A

B

Fig. 65. A Brauch ipus stagnalis, Süsswasser- form. £ Artemia salina, Seewasserform desselben Krebses. Aus Semper.

1) Suhmaxkewitsch: .,Zur Kenntniss des Einflusses der äusseren Lebens- bedingungen auf die Organisation der Thiere." In Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 29, 1877.

'■^) O. Zachakias: „Experimentelle Untersuchungen über Pseudopodienbildung." Im Biolog. Centralblatt 1885.

^) M. A''erworn: „Die polare Erregung der lebendigen Substanz etc." IV. Mit- theilung. In Pflüger's Arch. f. d. ges. P'hvsiol. Bd. 65, 1896.

190

Drittes Capitel.

zwar nach verschiedenen Richtungen hin, so dass sie die Form einer Amoebe annehmen, die als Amoeba proteus (princeps) Fig. 66 6 bekannt ist. Allein bald bildet sich eine Hauptrichtung des Kriechens heraus, indem die ganze Amoebe gewissermaassen ein einziges langes Pseudopodium vorstellt und die Form der Amoeba limax annimmt (Fig. 66 c). In dieser Form kriechen die Amoeben sämmtlich dauernd umher, solange sie nicht gestört werden. Verändert man nunmehr die Zusammensetzung des Mediums, indem man das Wasser durch Zusatz von Kalilauge sehr schwach alkalisch macht, so beobachtet man Fol- gendes, Die Amoeben ziehen sich zunächst sämmtlich wieder kugelig zusammen, aber bald darauf treten an den Kugeloberflächen feine, spitze Pseudopodien hervor (Fig. 66 d), die länger und länger werden

Fig. 66. Amoeba limax. a contrahirt; b im Beginn der Pseudopodienbildung

(Proteus-Form); c gewöhnliche Limax-Form ; d, e,f Formen nach Zusatz von Kalilauge;

d im Beginn der Einwirkung, e, f Radiosa-Formen.

und schliesslich wie lange, spitze Dornen erscheinen. So nehmen die Amoeben im Laufe von etwa 15 20 Minuten die Gestalt einer sehr charakteristischen Amoebenform an , die unter dem Namen Amoeba radiosa (Fig. 66 e, f) als besondere, sehr gut abgegrenzte Amoeben- form in der Systematik bekannt ist, und in dieser Form, deren Bewegungen sehr träge sind, verharren die Amoeben, solange die alkalische Beschaffenheit des Mediums andauert. Bringt man sie wieder in ihr gewöhnliches Wasser, so wandelt sich ihre Gestalt allmählich wieder zu der gewöhnlichen Limax-Form um. Ganz ähnlich verhalten sich manche Schimmelpilze, die man an das Leben in co ncentrirten Salzlösungen gewöhnen kann, wenn diese genügend Nährstoffe für den Mucor enthalten. Die Pilzfäden werden alsdann in der Regel bedeutend dünner und schlanker als in gewöhnlichem Wasser. In vielen Fällen wirkt aber die Veränderung der Lebensbedingungen

Von den olementaien Lebensersdieinunj^tn. 191

nicht unmittelbar auf die Form des Individuum.s, sondern in nicht sichtbarer Weise auf das Keiniphisma der Geschlechtszellen ein, so dass erst die Nachkommen andere Formen annehmen, als sie unter den früheren Bedingungen gehabt hätten, ein Moment, das aber schon mehr für die piivletische An])assung in Betracht kommt.

Die phyletische Anpassung, d. h. die allmähliche An- passung der Formen reihen an die jeweiligen Lebensbedingungen, hat für den Formwechsel in der j)hylogenetischen Entwicklungsreihe eine ungleich grössere, vielleicht allein maassgebende Bedeutung. Sie erfolgt auf eine durchaus andere Weise, und es ist die unsterb- liche That Darwins^), ündem er uns die Art und Weise dieser Anpassung zeigte, das Wunder der Zweck- mässigkeit in der organischen Welt auf natürliche Weise erklärt zu haben. Nach der DARWiN'schen Selections- theorie kommt die Anpassung der Organismen an die äusseren Ver- hältnisse nicht durch unmittelbare Veränderung des einzelnen Indivi- duums zu Stande, sondern durch „natürliche „Auslese" (natural selection) unter vielen Individuen in derselben Weise, wie bei der Rassenver- edlung durch künstliche Auswahl von Seiten des Züchters. Ausgehend von der Thatsache der „individuellen Variabilität", d. h. der Er- scheinung, dass unter jeder Nachkommengeneration desselben Eltern- paares nicht ein einziges Individuum dem anderen völlig gleicht, wenn auch unserer Beobachtung vielleicht die Unterschiede häufig sehr klein erscheinen, findet Darwin als nothwendige Consequenz des „Kampfes ums Dasein" (struggle for life) eine Auslese, eine Selection unter den verschiedenen Individuen jeder Generation nach dem Maasse ihrer Lebensfähigkeit. Bekanntlich werden von allen Organismen ausnahmslos mehr Nachkommen im Keime erzeugt, als erwachsen ge- nügende Lebensbedingungen finden würden. Um ein drastisches Beispiel anzuführen, hat man berechnet, dass, wenn von den mehreren Millionen Eiern, die ein Störweibchen ablegt, sich nur eine Million zu Weibchen entwickelte und in gleicher Weise fortpflanzte, bereits die dritte Generation auf der Erdoberfläche keinen Platz mehr finden würde, während die vierte Generation eine Portion Caviar produciren würde, die grösser wäre als das Volumen der Erde! Allein dieser wunder- volle Zustand ist illusorisch, denn es kann eben nur eine ganz be- schränkte Zahl von Individuen ihre Existenzbedingungen finden, alle Anderen gehen zu Grunde. Aber es sind nicht beliebige Individuen, die zu Grunde gehen in diesem theils passiven, theils activen Kampf um die Existenzmittel, sondern fast ausschliesslich diejenigen, welche weniger lange den Kampf aushalten können, welche weniger für die gegebenen Verhältnisse „passen". Die dagegen, welche am stärksten, am kräftigsten, am fähigsten sind, unter den betrefl'enden Bedingungen zu leben , werden die Concurrenz überstehen und schliesslich allein am Leben bleiben. So findet also eine Auslese der für die ge- gebenen Lebensverhältnisse passendsten Individuen statt, und indem sich diese Auslese, ebenso wie bei der Züchtung, über viele und schliesslich unzählige Generationen fortsetzt, während die ausgelesenen Individuen ihre Eigenthümlichkeiten durch Vererbung fortpflanzen, tritt eine allmähliche Anpassung der Individuen an die äusseren Ver-

^) Chäkles Darwin: „On tlie origin of species by means of natural selection." London 1859.

192 Drittes Capitel.

hältnisse ein, deren Folge oder Ausdruck die bis ins Kleinste gehende Zweckmässigkeit der Organismen in Hinsicht auf die Bedingungen ist, unter denen sie leben. Bleiben die äusseren Verhältnisse eine Zeit lang unverändert, so wirkt auch die Anpassung in conservativem Sinne; ändern sich die Verhältnisse, sei es local und plötzlich, sei es allgemein und allmählich, wie bei der Entwicklung der ganzen Erdoberfläche, so ündet auch durch selective Anpassung im Kampf ums Dasein eine proportional laufende Abänderung der Formen statt. Die Probe auf die Richtigkeit dieser Theorie liegt in den Experimenten der Thier- züchter, die namentlich in England so weit sind, dass sie durch künst- liche Selection nach bestimmten Gesichtspunkten gewisse neue Haus- thiervarietäten, vor Allem Tauben, mit diesen oder jenen gewünschten Eigenschaften im Laufe einiger Jahre auf Bestellung liefern können. Hier vertritt die künstliche Selection des Züchters die Rolle der natürlichen Selection, die in der freien Natur der Kampf ums Dasein vollzieht.

*

Die DARWix'sche Theorie gestattet es uns, ein übersichtliches und zusammenhängendes Bild von dem Zustandekommen des Form- wechsels der lebendigen Substanz zu gewinnen, wie er sich vollzog von ihren einfachsten Formen , welche die Erdoberfläche belebten, an bis zu unserer jetzigen Organismenwelt. Die phylogenetische Ent- Avicklung der Pflanzen und Thiere von den einzelligen Protisten an, einerseits durch die Kryptogamen und Monokotylen bis zu den höchst- entwickelten Blüthenpflanzen, andererseits durch die Coelenteraten und Würmer hindurch bis zu den hochentwickelten Arthropoden und Wirbelthieren, lässt sich auf natürliche Weise verstehen, wenn man die wenigen formbedingenden Momente in ihrer Wirkung erkannt hat.

Alle lebendige Substanz muss, wie jeder Körper, irgend eine Form haben, die durch ihre Beziehungen zu den chemisch-physikalischen Verhältnissen der Umgebung bedingt ist. Blieben die Beziehungen zwischen Organismen und Aussenwelt immer gleich, so würde in der phylogenetischen Reihe keine Veränderung der Organismenformen zu Stande kommen, und da die lebendige Substanz die Eigenschaft der Fortpflanzung hat, so Avürden durch Vererbung die Nachkommen immer wieder den Vorfahren vollständig gleich sein. Da sich aber auf der Erdoberfläche, wie auf jedem Weltkörper, die Bedingungen fortwährend verändern, und da die Form der lebendigen Substanz, wie jedes Kör- pers, unter dem Einfluss seiner Umgebung steht, so muss sie sich ebenfalls fortwährend durch Anpassung an die neuen Bedingungen verändern. So sind es die beiden, sich entgegenwirkenden Momente der Vererbung und Anpassung, deren Resultate im Formwechsel der phylogenetischen Entwicklungsreihe zum Ausdruck kommt.

B. Die ontogenetische Entwicklungsreihe.

Der alte Mythos von den Verwandlungen des vielgestaltigen Proteus findet nirgends eine schönere Verwirklichung, als in der Entwicklungsgeschichte des Individuums. Wie die Organismenwelt als Ganzes im Laufe ungezählter Jahrtausende einen ununterbrochenen Formenwechsel durchgemacht hat , so durchläuft auch das einzelne Individuum, vor Allem das vielzellige Thier, während seiner Ent-

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 193

wicklunj;- zum crwaclisenen Organismus, in der kürzesten Zeit eine lange Reihe von überaus mannigfaltigen Formen, bis es endlich seinen Erzeugern gleich oder ähnlich geworden ist. Es gehört nicht zur Aufpibe der allgemeinen Physiologie, den „Entwicklungskreis" der einzelnen Organismengruppen genauer zu verfolgen, da sich die Lehre von der individuellen oder ontogenetischen Entwicklungsgeschichte der Organismen durch ihr mächtiges Aufblühen seit Darwin's und Haeckel's grundlegenden Ideen zu einer selbständigen Wissenschaft, der Embryologie, entwickelt hat, von deren hoher Bedeutung für das Verständniss unserer jetzigen organischen Formenwelt die letzten Jahr- zehnte ein glänzendes Bild entworfen haben. Kein moderner Natur- forscher oder Arzt, der sich nicht einem blinden Öpecialistenthum in die Arme wirft, kommt heute mehr ohne embryologische Kenntnisse aus. Allein, Avenn auch die Beschäftigung mit den specielleren That- sachen der ontogenetischen Formentwicklung dem Embryologen als wohlerworbenes Hecht zuerkannt werden muss, so hat doch die Physio- logie auf gewisse allgemeine und elementare Lebenserscheinungen ein- zugehen, die der Entwicklung des Individuums zu Grunde liegen. Das sind die Erscheinungen der Fortpflanzung.

Wir müssen die Fortpflanzungserscheinungen an der Zelle stu- diren, wie wir ja überhaupt immer mehr darnach streben müssen, alle Lebenserscheinungen der cellularphysiologischen Methode zugänglich zu machen. Gerade auf dem Gebiete der Fortpflanzungserscheinungen aber hat sich gezeigt, wie erfolgreich die cellularphysiologische Behand- lungsweise ist, denn die Morphologie, die das Gebiet der Fortpflanzungs- erscheinungen für sich zu erobern wusste, hat mit ihrer cellularen Methode allein das ganze Gebiet aufgehellt, so dass wir über die sicht- baren Vorgänge dabei bis in die feinsten Einzelheiten orientirt sind.

1. Wachsthum und Fortpflanzung.

Die Fortpflanzung lässt sich vom Wachsthum nicht trennen, denn sie stellt gewissermaassen nur einen speciellen Fall des Wachsthums im weitesten Sinne vor, so dass schon die ältere Embryologie sich ver- anlasst gesehen hat, die Fortpflanzung als ein Wachsthum über das Maass des Individuums hinaus aufzufassen. In der That ist der allgemeine Vorgang, der das Wachsthum ausmacht, eine Ver- mehrung der lebendigen Substanz, und das Wesen der Fort- pflanzung liegt ebenfalls nur in der Vermehrung der lebendigen Sub- stanz. Der Unterschied zwischen dem, was wir gewöhnlich im engeren Sinne als Wachsthum bezeichnen und der Erscheinung der Fortpflanzung liegt nur in dem Umstände, dass im ersteren Falle die neugebildete lebendige Substanz im dauernden Connex mit dem ur- sprünglichen Organismus bleibt und sein Volumen vergrössern hilft, während im letzteren Falle sich ein Theil der Substanz von dem ur- sprünglichen Organismus trennt, sei es, dass er sich, wie in den meisten Fällen, ganz loslöst, sei es, dass er sich, wie bei der Vermehrung der Gewebezellen, nur durch eine Scheidewand absondert und an Ort und Stelle verharrt. Dementsprechend giebt es auch eine grosse Zahl von Uebergängen zwischen dem Wachsthum im engeren Sinne und der Fortpflanzung der Zelle. Beispiele dafür liefern besonders manche vielkernige Zellen, wie z. B. das im Froschdarm lebende Infusorium Opalina, das Anfangs einkernig ist, und indem es wächst, durch

Verworn, Angemeine Physiologie. 2. Aufl. lo

194

Drittes Capitel.

fortgesetzte Theilung des Kerns vielkernig wird. Hier kommt es also nur zu einer Fortpflanzung der Kerne, während das dazu gehörige Protoplasma im Zusammenhange bleibt, so dass schliesslich eine sehr grosse, aber vielkernige Zelle resultirt.

Jede Zelle zeigt, wenn nicht dauernd, doch wenigstens zu einer gewissen Zeit ihres Lebens Wachsthumserscheinungen : die Masse ihrer lebendigen Substanz vermehrt sich. Das kann nur durch StofFauf- nahme von aussen, also durch den Stoffwechsel geschehen, und wir können den Begriff des Wachsthums dahin präcisiren, dass wir sagen, es wird mehr lebendige Substanz im Stoffwechsel ge- bildet, als zerfällt. Nun ist aber die Grösse jeder Zelle, wie wir sahen, eine beschränkte und überschreitet ein gewisses Maass

nicht. Vor Allem hat die Grösse ' " ' jeder bestimmten Zellenform eine

gerade für diese Zellenform ge- gebene Grenze , die wenig va- riirt. Nimmt daher die Masse der lebendigen Substanz der Zelle durch Wachsthum noch weiter zu, so muss das zu einem „Wachsthum über das indivi- duelle Maass hinaus" führen, die Zellmasse muss sich thei- len , d. h. sie pflanzt sich fort. Durch die Theilung vermehrt sich also die Zelle, und jedes der entstandenen Theilstücke, jede Tochterzelle ist nun ent- sprechend kleiner, so dass sie wieder wachsen kann, bis sie die Grenze ihres individuellen Maasses von Neuem erreicht hat. Bei der Fortpflanzung der Zelle durch Theilung müssen aber von beiden wesentlichen Zellbestand- theilen, also vom Zellkern und Protoplasma, Theile auf die Tochterzellen übergehen , sonst würden diese keine vollständigen Zellen vorstellen und könnten daher nicht am Leben bleiben.

Wir werden erst in einem anderen Capitel dazu kommen, die tieferliegenden Ursachen für das Wachsthum und für die Begrenzung der Grösse der Zellen aufzusuchen, wenn wir auf die mechanische Erklärung der Lebenserscheinungen eingehen. Hier an dieser Stelle kommt es nur darauf an, einen Ueberblick über die Lebens- erscheinungen zu gewinnen. Lassen wir uns aber vorläufig bloss an der Thatsache genügen, dass die Fortpflanzung nur ein weiteres Wachsthum ist, während die Grösse der Zelle begrenzt ist, so folgt daraus, dass alle Fortpflanzung auf einer Theilung der lebendigen Substanz der Zelle beruht. Die verschie- densten Formen der Fortpflanzung sind nichts Anderes als eine Zelltheilung, und Virchow hat daher den alten HARVEy'schen Satz: „omne vivum ex ovo" mit Recht er-

I II

Fig. 67. «tentor polymorphus. iVrosen- krauzförmiger Kern, o Mimdöffnung, ev con- tractile Yacuole. I Junges Individuum aus- gestreckt, II älteres Individuum in Theilung begriffen, contrahirt. Nach Stein.

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

195

weite rt in den Satz, der die Grundlage aller modernen Vorstellungen über die Fortpflanzung der Organismen bildet: „omnis cellula e cellula".

Bei den einzelligen Organismen liegt das ohne ^A'eiteres auf der Hand. Sie pflanzen sich einfach durch Theilung ihres Zell- leibes fort, indem jede Theilzclle schon während der Theilung wieder die Gestalt und Form der Mutterzelle annimmt und, wenn es sich, wie bei den Infusorien, um Zellen mit verschiedenartigen Anhängen und Organoiden handelt, nach der Theilung des Körpers die fehlen- den Elemente wieder regenerirt (Fig. 67). Bei den vielzelli- gen Organismen, den Thieren und Pflanzen, dagegen sind be- sondere Fortpflanzungsorgane ent- wickelt, deren Zellen sich ab-

Fig. 69. Myrianida, ein Wurm in Theiluno; begriffen. Die einzelnen Individuen hängen noch als Glieder einer Kette zusammen, a Das ursprüngliche Thier, b, c, d, e, f, g die Theilglieder vom ältesten (b) bis zum jüngsten (g). Xach Milxe-Edwards.

Fig. 68. / Eibildung eines Seeigels. A Stück eines jungen Eierstocks mit innerem Keimepithel, B Stück eines älteren Eierstocks, in dem sich die Zellen des Keimepithels zu Eiern entwickeln, welche sich abschnüren. Xach Ludwig. //Eiröhre eines Insecten-Ovariums. In der Röhre liegen Eier von den verschiedensten Bildungsstufen. Xach Hatschek.

schnüren und als Eier durch fortgesetzte Zelltheilung wieder zu einem gleichartigen Organismus entwickeln. Bei den Organismen mit ge- trennten Geschlechtern sind die Geschlechtszellen der Fortpflanzungs Organe bei männlichen und weiblichen Individuen verschieden. Die männlichen Geschlechtszellen sind die Samenzellen oder Spermato- zoon, die weiblichen die Eier. Zur Erzeugung eines neuen Individuums muss eine Vereinigung beider Geschlechtszellen, eine „Befruchtung", stattfinden, abgesehen von gewissen Fällen, wo eine „Partheno- genese" besteht, d.h. wo sich aus unbefruchteten Eiern lebensfähige Individuen entwickeln können, wie bei manchen Krebsen undlnsectenetc. Schliesslich aber giebt es bei niederen vielzelligen Thieren neben der

13*

196 Drittes Capitel.

gesclileclitliclien Fortpflanzung noch eine Art der ungeschlechtlichen

Vermehrung, nämlich durch Theilung und Knospenbildung.

In beiden Fällen werden ganze Complexe von Zellen abgetrennt. Bei der Theilung zerschnürt sich z. B. bei gewissen Wür- «^^^;y^^ mern (Fig. 69) der ganze Körper, nachdem er durch

Zelltheilung eine bestimmte Grösse erreicht hat, in zwei oder mehrere Theile, die sich wieder zu voll- ständigen Individuen regeneriren. Bei der Knospung z. B. vieler Coelenteraten (Fig. 70) bildet sich an einer Stelle des Körpers durch schnelle Zellvermehrung eine Knospe, die aus den wesentlichen Schichten des Körpers Zellelemente enthält und sich ebenfalls abschnürt, um sich zu einem neuen Individuum zu regeneriren.

y. r-r. In allen Fällen also geschieht die Fortpflanzung,

penbildung ™^& ^^^ ^^^^ ungeschlechtliche oder eine geschlecht-

eines Polypen, liehe sein, immer nur durch Zelltheilung, die auf

Nach Claus. Wachsthum beruht. Verfolgen wir daher die einzelnen

Arten der Zelltheilung noch etwas genauer und gehen

wir auf die merkwürdigen Erscheinungen ein, welche sich dabei an

der Zelle abspielen.

2. Die Formen der Zelltheilung.

Damit aus der Zelltheilung lebensfähige Tochterzellen hervor- gehen, muss sich, wie bereits bemerkt, Kern und Protoplasma theilen. Während aber die Theilung des Protoplasmas sehr einfach verläuft, indem sich der Zellkörper nur durch eine Furche tiefer und tiefer einschnürt, bis das Protoplasma in zwei Hälften zertrennt ist, ist die Theilung des Kerns nur in wenigen Fällen so einfach ; in den meisten Fällen treten ausserordentlich complicirte Veränderungen am Kern auf, die aber merkwürdiger Weise bei den meisten Zellen, sowohl bei thierischen, wie bei pflanzlichen Zellen, im Wesentlichen überein- stimmend verlaufen. Ueber die feineren Erscheinungen bei der Zell- theilung ist in den letzten beiden Jahrzehnten eine kaum noch über- sehbare Litteratur entstanden, da man, durch das höchst eigenthümliche Verhalten des Kerns bei der Zelltheilung verführt, irrthümlich zu der Ansicht gelangt war, der Kern sei der allein wesentliche Zellbestand- theil, den man nun gerade in seinem „activen" Zustande möglichst eingehend studiren müsse. Die grundlegenden Arbeiten über die Erscheinungen der Zelltheilung lieferten die bewunderungswürdigen Untersuchungen von Bütschli ^) , Flemmixg -) , Strasburger ^), Hert- wiG *J, VAN Bexeden ^), BovERi ^) uud Anderen, welche die geeignetsten

^) Bütschli: „Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, Zell- theilung und Conjugatiou der Infusorien." In Abhandl. der Senckenbergischen natur- forschenden Gesellsch. Jahrg. 1876.

2) W. FLEMMI^•G: „Zellsubstanz, Kern und Zelltheilung." Leipzig 1882.

^) E. Strasbcrgek: „Zellbildung und Zelltheilung." 1880. Derselbe: „Histo- rische Beiträge." Heft I: „Ueber Kern- und Zelltheilung im Pflanzenreich." Jena 1888.

*) O. Hertavig : „Beiträge zur Kenntniss der Bildung, Befruchtung und Theilung des thierischen Eies." In Morphol. Jahrb. Bd. I, III u. IV, 1875, 1877, 1878. Derselbe: „Die Zelle und die Gewebe." Jena 1892.

°) VAX Bexeden: „Eecherches sur la maturation de l'ceuf, la fecondation et la division mitosique chez l'ascaride megalocephale." Leipzig 1887.

«j Boveri: „Zellenstudien." In Jen. Zeitschr. f. Xaturw. u. Med. 1887, 1888, 1890.

Von deu elementaren Lebenserscheinungen.

197

Objecte für diese Zwecke in den Zellen junger Salamanderlarven, in den Pollenzcllen der Lilien, in den durchsichtigen Eiern des Pferde- spuhvurms und der .Seeigel fanden.

a. Die direote Zelltheilung.

Die einfachste Form der Zelltheilung ist die „directe oder amito- tische Zelltheilung", die aber nur sehr wenig verbreitet ist und ausser bei einigen einzelligen Organismen und Leukocyten nur noch an sehr wenigen anderen Zellformen angetroffen worden ist. Als Typus kann uns die Theilung der Amoeben dienen (Fig. 71). Während die Amoebe kriecht, nimmt allmählich der ursprünglich runde Kern eine längliche Form an, wird dann bisquitformig, schnürt sich in der

A$^ic^

Fig. 71. Amoeba polypodia in sechs aufeinander folgenden Stadien der

Theilung. Der dunkle, hellumrandete Körper im Innern ist der Zellkern, der blasse

Körper die contractile Vacuole. Nach F. E. Schulze.

Mitte durch, indem die immer schmaler werdende Verbindungsbrücke zerreisst, und bildet so zwei neue Kerne, die alsbald wieder rundliche Form annehmen. Erst jetzt beginnt die Theilung des Protoplasma- körpers, indem sich die Amoebe in ähnlicher Weise semmelförmig zwischen beiden Kernen einschnürt und nach beiden Seiten auseinander kriecht, bis nur noch ein dünner Protoplasmafaden beide Hälften verbindet. Auch dieser zerreisst schliesslich, so dass nun zwei neue Amoeben mit je einem Kern aus der Theilung hervorgegangen sind. Freilich erfordert der Vorgang längere Zeit, meist mehrere Stunden, und geht durchaus nicht immer ganz glatt, sondern das Protoj)lasma fliesst öfter wieder zu einem Klumpen zusammen, nachdem schon eine beträchtliche Einschnürung zu Stande gekommen war, fliesst dann aber wieder auseinander, bis schliesslich einmal die Verbindungsbrücke durchreisst.

198

Drittes Capitel.

b. Die indirecte Zelltheilung.

Bei Weitem die grösste Mehrzahl aller thierischen und pflanzlichen Zellen dagegen befolgt den Modus der sogenannten „indirecten oder mitotischen Zelltheilung", Avobei das Protoplasma sich zwar ebenfalls einfach durchschnürt, der Kern dagegen sehr auffällige und typische Veränderungen von grosser Regelmässigkeit erleidet. Es sind von den einzelnen Autoren verschiedene Stadien unterschieden, die mit ver- schiedenen Namen bezeichnet worden sind. Ganz allgemein können wir zwei Phasen in der Kernteilung erkennen, eine progressive, in welcher die Veränderungen ihren Höhepunkt erreichen , und eine re- gressive, in der die Veränderungen an den beiden aus der Theilung

Fig. 72. Schematische Darstellung der mitotischen Kern-

theilung. Nach Flemming. -f

hervorgegangenen Kernhälften sich wieder zurückbilden bis zum „Ruhe- stadium" des Kerns, mit dem man den Zustand bezeichnet, in dem der Kern keine Theilungserscheinungen zeigt. Allein besser als alle Eintheilungen und Beschreibungen führt uns die Abbildung die wich- tigsten Erscheinungen der Kerntheilung vor Augen (Fig. 72).

Gehen wir von dem „ruhenden Kern" aus, der sich eben zur Theilung anschickt, so sehen wir, dass die chromatische Substanz, die, wie wir wissen, aus Nucleinen besteht, sich zu Fäden anordnet, die lose knäuelartig aufgerollt erscheinen (Fig. 72 Ä). Die Fäden, die dieser Form der Kerntheilung den Namen der mitotischen Theilung gegeben haben , und die sämmtlich ungefähr gleiche Länge haben, spalten sich alle ihrer Länge nach, so dass aus jedem Faden ein Doppelfaden wird. Gleichzeitig löst sich die Kernmembran auf, und

Von den oluiiiLMiturcu Lebenserscheimmgen. IQQ

an zwei gegenüberliegenden Polen der Kernmasse werden jetzt die von ihrer Prot()j)lasmastrahliing umgebenen Centrosomen oder Central- körperchen bemerkbar (pag. 72), die beide untereinander durch eine spindelförmige FadenHgur verbunden sind, welche aus der mit dem Protoplasma vermischten achromatischen Substanz stammt. Die Doinjcl- fäden gruppircn sich dabei zu geknickten Streifen im Aequator der achromatischen Kernspindel, und zwar so, dass ihre Winkel nach dem Mittelpunkt hin gerichtet sind (Fig. 12 B). Alsbald ziehen die von den Centrosomen ausstrahlenden Spindelfasern die Doppelfäden durch eigene Contraction auseinander, und zwar so, dass die eine Hälfte jedes Do))pelfadens nach dem einen, die andere nach dem andern Pol hingezogen wird (Fig. 72 C). So weichen die beiden Fasergruppen auseinander und entfernen sich vom Aequator der Spindeltigur (Fig. 721)). Damit ist die progressive Phase der Kerntheilung vor- über, und es beginnt die regressive. Die beiden Gruppen der Chro- matinfäden rücken weiter und weiter nach beiden Polen hin ausein- ander, so dass der ganze äquatoriale Theil der Spindelfigur frei wird (Figur 72 E). Alsbald beginnen auch die Spindelfasern zwischen den beiden Chromatinfädengruppen undeutlicher zu werden , und die Fasern krümmen sich wieder ^^^'

zu einer Knäuelform an jedem Pole durchein- "

ander (Fig. 72 i^). Während dessen hat sich der ganze Zellkörper durch eine Ringfurche, deren Ebene senkrecht zur Achse der beiden Kernpole ^^y—,^

steht, eingeschnürt. Die Furche Avird tiefer und V.\J— ^/

tiefer und scheidet schliesslich die ganze Zelle in zwei gleiche Hälften, deren jede einen Kern besitzt, welcher sich nun, indem die Spindel- fasern vollständig verschwinden, mit einer neuen

Kernmembran umgiebt und so in sein Ruhe- Fig.vd. Centrosomen Stadium zurückkehrt. So sind durch die Theilung Strahlung bei^™der der Mutterzelle zwei Tochterzellen entstanden, Theilung der Eizelle, die ihrerseits wieder weiterwachsen (Fig. 12F). Nach Boveri.

Auch im Protoplasma aber hat sich während

der Theilung eine Erscheinung bemerkbar gemacht. Von den Centro- somen nämlich ist gleichzeitig mit dem Entstehen der Spindelfigur, deren Pole sie bildeten, auch eine Strahlenfigur im Protoplasma aus- gegangen, indem sich das Protoplasma wie die Strahlen der Sonne um die Centrosomen als Mittelpunkt an beiden Polen der Spindelfigur an- ordnete, so dass die Centrosomen nun Avirklich wie zwei Sonnen von einem ringsherum geschlossenen Strahlenkranze umgeben sind (Fig. 73). Mit dem Undeutlicherwerden der Kernspindelfasern verschwindet dann auch wieder die Protoplasmastrahlung.

Dieser Modus der mitotischen Kerntheilung ist fast ausnahmslos bei den verschiedenartigsten Zellformen selbst bis in die feinsten Einzelheiten der gleiche. Dagegen verläuft die Theilung des Zellganzen nicht immer in völlig übereinstimmender Weise. Be- sonders kommen bei der Theilung von Eizellen, die viel Nährmaterial (Dotter) enthalten, in verschiedenen Fällen einige Abweichungen vom Typus vor. Mit 0. Hertwig^) können wir übersichtlich die sämmt-

') O. Hertwig: „Die Zelle und die Gewebe." Jena 1892.

200

Drittes Capitel.

liehen Formen der Zelltheilung, die überhaupt bekannt sind, in vier Typen unterbringen :

I. Die totale Theilung.

a. Die äquale Theilung.

b. Die inäquale Theilung.

c. Die Kuospung.

IL Die partielle Theilung.

III. Die Vielzellbildung.

IV. Die Reductionsth eilung.

Fig. 74. J Theilung des Froscheies. F Pigmentirte Oberfläche des Eies, pr protoplasmatischer Pol, d dotterreicher Eipol, sp Kernspindel. Nach Hkrtwig. // Inäquale Theilung des Eies eines Wurmes (Fahricial A protoplasma- tischer, T' dotterreicher Pol. Xach Haeckel.

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X:;

Fig. 75. Bildung der Polzellen bei einem Seestern, sp Kernspindel, ?-i^ erstes Richtungskörperchen, 7-k'^ zweites Kichtungskörperchen, ek Eikern.

Bei der totalen Theilung wird das Protoplasma der Tochter- zellen durch eine Scheidewand vollständig voneinander geschieden, so dass immer vollkommene Zellen aus der Theilung hervorgehen. Aber auch dabei machen sich noch gewisse Unterschiede bemerkbar. In einem Fall, bei der äqualen Theilung, sind die Tochterzellen ein- ander völlig gleich, wie indem oben geschilderten Typus (Fig. 72 F). Im andern Fall, bei der inäqualen Theilung (Fig. 74), sind die beiden Tochterzellen sowohl ungleich gross, als auch nach ihrem Inhalt ver- schieden, insofern die grössere Tochterzelle die Hauptmasse des pas- siven Dotters enthält, während die kleinere vorwiegend aus activem Protoplasma besteht. Dadurch sind bereits Unterschiede gegeben.

^'oll den eleinentaren Leheiiserscheinungen.

201

die für die ^veiteren Theilungen ins Gewicht fallen, so dass die Ver- schiedenheiten immer grösser wprden. Im dritten Fall, bei der Knospung schliesslich, löst sich bei der Theilung nur ein ganz kleines Klümpchen von der Eizelle los, wie das vor Allem bei der Bildung der sogenannten „Polzellen" oder „Kichtungskörperchen" während der Reifung des Eies stattfindet, wo dieser Process zwei Mal hintereinander erfolgt (Fig. 75).

,1 B C

Fig. 76. Discoidale Furcliuug des Ceplialop oden-Eies. Nach Watase.

Fig. 77.

Superficielle Furchung eines Insecteneies folffenden Stadien. Nach Bobretzky.

aufeinander

Bei der ]j a r t i e 1 1 e n Theilung schnürt ^ ^^■''''\j»K

die Theilungsiurche, welche die beiden Tochter- ^ ^ '■^' y^-r-'o^--

hälften scheidet, nicht die ganze Zelle durch, j*'^ ,/ sondern nur einen Theil, so dass die Tochter- "^ ''

hälften auch bei den folgenden Theilungen noch durch eine gemeinschaftliche Protoplasma- ' üc

masse an ihrer unteren Seite verbunden bleiben £, t^- '

(Fig. 76). Diese Form Avird als „discoidale 'j

Eifurchung" bezeichnet.

Bei der Vielzellbildung tritt zunächst überhaupt keine Theilung des Protoplasmas ein, sondern nur die Kerne vermehren sich in der Eizelle, wandern aber später an die Oberfläche und umgeben sich dann hier je mit einer ge- sonderten Protoplasmahülle, so dass nun eine indifferente Dottermasse an ihrer ganzen Oberfläche, umgeben von einer einschichtigen Lage gesonderter Zellen, entsteht (Fig. 77 und 78), eine Erscheinung, die als „superficielle Eifurchung" bezeichnet worden ist.

Fig. 78. Vielzellbildung bei der Furehung eines Insecteneies in zwei auf- einander folgenden Stadien.

Nach JiALBIAXI.

202

Drittes Capitel.

Als eine besondere Art der Vielzellbi'ldung können wir die „Sporen- b i 1 d u n g " auffassen , die besonders im Protistenreich verbreitet ist. Das Charakteristische dieser Form der Zellvermehrung liegt darin, dass der Kern in eine sehr grosse Zahl winziger Körnchen zerfällt. Jeder dieser kleinen Kerne umgiebt sich mit einer gewissen Menge von Protoplasma, so dass winzige Zellterritorien entstehen, die als Amoeben oder Geisselzellen frei werden, während der übrige Proto- plasma- oder Restkörper zu Grunde geht. Die frei geAvordene „Schwärmspore" repräsentirt eine sehr kleine Zelle mit einem Kern und entwickelt sich langsam wieder zu der Form der Protistenzelle, von der sie abstammt.

Bei der Reductionstheilung endlich, wie Weismann gewisse Vorgänge bezeichnet hat, die zur Bildung der Eizellen und Sperma- zellen im Eierstock und im Hoden führen, zeigt sich eine kleine Ab- Aveichung im Verhalten der Chromatinfäden des Kerns bei der Thei- lung. Die Sperma- oder Samenzellen entstehen durch mehrfache Theilung anderer Zellen, der „Samenmutterzellen". Die erste Theilung der Samenmutterzelle verläuft noch nach dem oben geschilderten Typus. Ehe aber die Kerne wieder in das Ruhestadium übergetreten sind,

III

Fig. 79. Reductionstheilung bei der Entstehung der Samenzellen aus einer Samenmutterzelle des Pferdespulwurms. Nach O. Heetwig.

erfolgt gleich eine zweite Theilung, indem sich jedes Centrosom in zwei Hälften theilt, die auseinanderrücken und die eben erst aus der ersten Theilung hervorgegangenen Chromatinfäden nach beiden Seiten hin zu sich anziehen, ohne dass diese sich erst vorher durch Längs- theilung wie bei der normalen Theilung, spalten können. So Avandert die Hälfte der Chromatinschleifen nach dem einen, die Hälfte nach dem anderen Pol hinüber, so dass bei dieser zweiten Theilung jeder Kern nur halb so viel Chromatinfäden mitbekommt, wie bei einer nor- malen Theilung (Fig. 79).

Damit sind die verschiedenen Formen der Zelltheilung, welche uns bis jetzt bekannt geworden sind, erschöpft. Was allen ge- meinsam ist, das ist die lieber tragung von Kern Substanz und Protoplasma auf die Tochter zellen.

3. D i e B e f r u c h t u n g.

Der Act der Befruchtung ist mit dem tiefen Mysterium, das der Menschheit heiligste Gefühle umgiebt, innig verknüpft In der That der Naturforscher darf das aussprechen , der allmächtigsten Factoren einer, die das ganze organische Leben beherrschen, die ge- schlechtliche Liebe in ihrer natürlichen Form, zielt, ohne dass wir uns

Von den elementaren Lebenser.scheinuujren.

203

Befruchtungs-

dessen bevvusst sind, auf den mikroskopischen Act der Befruchtung der weiblichen Eizelle durch die männliche kSamenzelle hin. Es könnte wunderbar erscheinen, dass so gewaltige Motive, wie sie die Triebfedern der Liebe im Menschenleben vorstellen, darin gipfeln, einen winzigen Vorgang herbeizuführen, der nicht einmal mit blossen Augen wahr- zunehmen ist; allein Avenn man berücksichtigt, was auf der anderen Seite aus diesem mikroskopischen Act der Vereinigung von Ei- und Samen- zelle resultirt, was für eine unendlich lange Kette von complicirten Processen und Veränderungen bei der Entwicklung des neuen Organis- mus aus dem Ei durch die Befruchtung veranlasst wird, was schliesslich das Endergebniss dieser langen Reihe von Entwicklungsprocessen ist, das hochcomplicirte Thier, der Mensch mit dem unermesslichen Reich- thum seines Lebensinhalts, dann verliert diese Thatsache ihr Wunder- bares, und wir gelangen vielmehr dazu, dem winzigen Act der Be- fruchtung eine ausserordentliche Bedeutung beizulegen, die er in potentia enthält. Kein Wunder daher, wenn schon seit alten Zeiten Aerzte und Naturforscher den Vorgang der geschlechtlichen Zeugung^ der das äusserliche Bei- werk des Vorgangs vorstellt.

auf den er hinzielt, vielfach zum Gegenstand tiefen Nachforschens gemacht haben. Indessen erst nachdem Leeuwenhoek das Mikroskop construirt hatte, entdeckte sein Schüler Ludwig van Ham- MEN die Samenzellen, die wegen ihrer lebhaften Eigenbewegungen als „Samenthierchen" oder „Spermatozoon" bezeich- net wurden, und erst die

ungeahnte Vervollkommnung der Mikroskope in unserer Zeit machte die glänzenden Arbeiten von Bütschli, Fol, Hertwig, van Beneden, BovERi und Anderen möglich, die uns bis über die feinsten Einzel- heiten der Befruchtungserscheinungen Aufschluss gegeben haben.

Beim Menschen und den höheren Thieren ist der Vorgang der Befruchtung nicht zu beobachten, weil er ^ich im Lmern des weib- lichen Körpers verbirgt und weil die Möglichkeit, die Eizellen ausser- halb des Körpers am Leben zu erhalten, um sie mit Sperma zu be- fruchten, nicht gegeben ist. Das letztere gelingt aber bei gewissen niederen Thieren, und so hat man an Eiern, die besonders gross und durchsichtig sind, wie die der Seeigel und des Pferdespulwurmes, den ganzen Verlauf der interessanten Befruchtungserscheinungen in lücken- loser Folge genau studiren können.

Wie wir bereits sahen, sind die männlichen und weiblichen Ge- schlechtszellen überaus verschieden differenzirt. Während die Eier fast immer grosse runde oder amoeboide Zellen vorstellen, mit einem bläschenförmigen Kern und sehr viel Protoplasma, das die Bildungs- stoffe für die weitere Entwicklung enthält, sind die Spermatozoon im Verhältniss zxi der Grösse der Eier äusserst winzig. Sie bestehen

Fig. 80. Eizellen. / Runde Eizelle eines Seeigels.

Nach Hertwig. II Amoeboide Eizelle eines Kalk-

schwamms. Nach Haeckkl.

204

Drittes Capitel.

zum grossen Theil nur aus Kernsubstanz, welche die Hauptmasse des Körpers bildet, und haben nur eine dünne Protoplasmahülle, die sich in den meisten Fällen in eine bewegliche Geissei fortsetzt, welche als „Schwanz", vom übrigen Körper, dem „Kopf", unterschieden wird und zur Bewegung des Spermatozoons beim Aufsuchen des Eies dient. Die feinere Structur der Spermazellen ist, wie die eingehenden Unter- suchungen von Ballowitz^) in neuerer Zeit gezeigt haben, sehr complicirt, und bei den verschiedenen Thierformen finden sich die mannigfaltigsten Differenzirungen. Die nebenstehenden Abbildungen mögen einige Beispiele dafür liefern (Fig. 81). Immer aber sind die Spermatozoon ebenso wie die Eier vollständige Zellen und enthalten beide wesentlichen Zellbestaud- theile: Protoplasm a'und Kern, eine Thatsache, auf die besonderer Nachdruck zu legen ist.

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Fig. 81. Verschiedene Spermatozoenformeu. a Von einer Fleder- maus (Vesperugo nocturna). Nach Ballowitz. b u. c Vom Frosch, d vom Finken, e vom Schaf, / u. g vom Schwein. Nach Schweigger-Seidel. h Von einer Meduse, i von einem Affen (Cercopithecus), l von einer Krabbe. Nach Claus, h Vom Spulwurm. Nach Boverl

Ehe die Befruchtung eintritt, in einigen Fällen auch noch während des Beginns der Befruchtung, erfolgt der Reifungs- process des Eies, der darin besteht, dass durch zwei hinter- einander verlaufende Kerntheilungen zwei Knospen, die „Pol- zellen" oder „Richtungskörperchen", gebildet und abgestossen werden (Fig. 75 pag. 200). Die Befruchtung besteht also in der Ver- schmelzung einer reifen Eizelle mit einer Samenzelle, wobei die letztere die Eizelle aufsucht, durch eigene Locomotionen, die wir später bei Betrachtung der Bewegungserscheinungen kennen lernen werden.

Der Process der Vereinigung zAveier Zellen ist eine Erscheinung, die sich nicht bloss bei der geschlechtlichen Fortpflanzung findet, sondern sich bis tief in das Reich der einzelligen Organismen hinab verfolgen lässt, biö zu Formen, avo von einer geschlechtlichen Diflfe- renzirung noch keine Rede ist. Hier, bei den Protisten, ist sie unter dem Namen der Conj ugation " bekannt. Schon bei den ein-

^) Ballowitz: „Das EETzius'sche Endstück der Säugethierspermatozoen." In Internationale Monatsschr. f. Anat. u. Physiol. Bd. VII, 1890. Derselbe: „Weitere Beobachtungen über den feineren Bau der Säugethierspermatozoen." In Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. LH, 1890.

Von den elementaren Lebenserscheinungcn.

205

zelligen sclialontragendcn Rhizopoden, z. B. bei den mit zierlichem Gehäuse versehenen D i ft'l ugien , kommt eine Conjugation vor, indem diese trägen Protoplasmawesen zu zweien, aber auch bisweilen zu dreien, vieren oder noch mehreren dicht aneinander herankriechen, worauf sich ihre Protoplasmaleiber aneinander legen und zu einer gemeinschaftlichen Masse verschmelzen, um sich, nachdem eine Ver-

Fig. 82. Conjugation von Paramaecium in verschiedenen aufeinander folgenden Stadien. Z" Hauptkern, «Ä- Nebenkern. I. Beginn der C9njugation. II. Der Nebenkern hat sich zwei Mal hintereinander getheilt. III. Von den vier Theilstücken des Nebenkerns gehen drei zu Grunde, der vierte theilt sich nochmals in einen männ- lichen im] und einen weiblichen (w) Kern. IV. Wahrend der Hauptkern zerfällt, werden die beiden männlichen Kerne im u. öm ausgetauscht und vereinigen sich mit den weib- lichen zu eiuem Kern V. t, der sich wieder theilt in t' u. t". VI. t' u. f" theilen sich nochmals. VII. Aus dieser Theilung entstehen die Anlagen des neuen Hauptkerns {pt) und des neuen Nebenkerns (n/y). Der alte Hauptkern geht zu Grunde. Nach K. Hertwig.

mischung des beiderseitigen Protoplasmas und gewisse Veränderungen der Kerne Platz gegriffen haben, wieder zu trennen ^). Am genauesten sind die Erscheinungen der Conjugation in neuerer Zeit von Bütschli ^),

*) Verwors: .,Biologische Protistensttulien.'" Theil II. In Zeitschr. f. wissenschaftl. Zool. 1890.

-) Bütschli: „Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, die Zelltheilung und die Conjugation der Infusorien." Frankfurt 1876.

206 Drittes Capitel.

Balbiani^), Maupas-), A. Gkubek^) und R. Hertwig^) an Wimper- Infusorien studirt worden. Paramaecium ist eine längliche Infusorienform, die über und über bewimpert ist und ein ungemein günstiges Objeet für cellularphysiologische Untersuchungen der mannigfaltigsten Art abgiebt. Die sehr gut mit blossem Auge wahr- nehmbaren Paramaecien lassen sich in faulenden Heuaufgüssen stets in grossen Massen cultiviren und vorräthig halten. Dabei be- obachtet man häutig, dass unter der ganzen Cultur plötzlich eine „Conjugations- Epidemie" auftritt, so dass man fast nur conjugirte Individuen findet. Die Erscheinungen der Conjugation verlaufen dann folgendermaassen. Zwei Individuen legen sich parallel aneinander, an ihren Mundöffnungen (Fig. 82, I, o) tritt eine Verschmelzung des Protoplasmas zu einer Brücke ein, und es beginnen sehr charakteristische Veränderungen der Kerne. Wie bereits früher bemerkt, haben die Wimper-Infusorien zwei Kernformen, einen Makronucleus oder Haupt- kern, und einen oder mehrere Mikronuclei- oder Nebenkerne. Der Hauptkern geht während der Conjugation ganz zu Grunde, indem er zerfällt und sich im Protoplasma auflöst. Haben wir eine Para- maecien form mit Einem Nebenkern, wie Paramaecium cau- datum, wo die Verhältnisse am einfachsten liegen, so theilt sich der Nebenkern in jedem Paarung zweimal hintereinander, so dass vier Theilkerne dai'aus entstehen. Drei davon lösen sich ebenfalls im Protoplasma auf, der vierte aber theilt sich in jedem Paarling noch einmal und lässt die eine Hälfte (den „männlichen" Kern) über die Protoplasmabrücke in den anderen Paarling hinübertreten, so dass jeder Paarling jetzt einen „weiblichen" Kern von sich selbst und einen „männlichen" vom andern Paarling enthält. Diese beiden Kerne ver- schmelzen alsbald zusammen und theilen sich darauf wieder, indem aus der einen Theilhälfte ein neuer Makronucleus, aus der andern ein neuer Mikronucleus entsteht. Nach dem Austausch der beiderseitigen Kernhälften trennen sich die Paarlinge wieder voneinander, und die Conjugation ist beendet.

Die Conjugation der geschlechtslosen, einzelligen Organismen ist derjenige Vorgang, von dem sich die Befruchtungserscheinungen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung phylogenetisch ableiten, denn wir finden bei der Befruchtung im Wesentlichen dieselben Thatsachen wie bei der Conjugation. Der Befruchtungsvorgang verläuft übrigens an verschiedenen Objecten nicht ganz gleichartig, Avenigstens sind an den beiden Objecten, die bisher am genauesten untersucht worden sind, am Ei der Seeigel und des Pferdespulwurms einige kleine Verschieden- heiten beobachtet worden, wenn auch alle wesentlichen Momente durch- aus übereinstimmen.

Fassen wir zuerst d i e B e f r u c h t u n g des S p u 1 w u r m e i e s ins Auge, so erfolgt hier die Reifung des Eies, d. h. die Ausstossung der Richtungskörperchen , erst wenn die Samenzelle in das Ei eindringt. Während die Samenzelle in das Protoplasma des Eies tritt (Fig. 83 I),

') Balbiani: „Kecherclies sur les phenomenes sexnels des infusoires." In Joiirn. de la Physiol. Tom. IV.

2) Maupas: „Recherches experimentales sur la multiplication des infusoires cilies." In Arch. de Zool. experim. et generale Tome VI, Serie 2.

^) A. Grüber: „Der Conjugationsprocess bei Paramaecium aurelia." In Ber. d. naturf. Ges. zu Freiburg i. B. Bd. II, 1886.

*) R. Hertwig: „lieber die Conjugation der Infusorien." In Abhandl. d. königl. bayr. Akad. München 1889.

Von den elementaren Lehenserscheinungeu.

207

wandert der bisher in der Mitte gelegene Eikern an die OberflUche des Eies (Fig. 83 //), wo er sich zweimal hintereinander theilt und zur Ausstossung der ]\ichtungskürperehen Anlass giebt ( Fig. 83 Hin. IV). Inzwischen hat sich das Protoplasma der Samenzelle mit dem Proto- plasma der Eizelle vermischt und sich der weiteren Beobachtung ent- zogen. Der Sperma kern dagegen ist in die j\Iitte des Eies gewandert, wohin ihm nach Abgabe der Richtungskörperchen der Eikern von der Peripherie her wieder entgegenkommt. Beide Kerne legen sich jetzt nebeneinander, umgeben sich mit einem durchsichtigen Hof und zeigen nun deutlich je zwei grosse Chromatinschleifen. Gleichzeitig machen sich zwei Centrosomen bemerkbar, die sich zu beiden Seiten der Kerne mit einem Strahlenkranz zu umgeben beginnen (Fig. 83 V). Eine

II

III

Fig. 83. Befruchtung des Spulwurmeies (Ascaris megalo cephala) in sechs aufeinander folgenden Stadien. Gleichzeitig erfolgt die Eeifung des Eies, d. h. die Ausstossung der Richtungskörperchen (Polzellen). Nach O. Hkrtwig.

Verschmelzung der Kernsubstanzen tritt beim Spulwurm nicht ein, sondern es entwickelt sich, von den beiden Centrosomen ausgehend, die bekannte Kerntheilungsspindel, deren Spindelfasern nach beiden Seiten je eine Chromatinschleife des Eikerns und eine des Sperma- kerns an die Pole hinziehen, so dass also jede Hälfte der Eizelle einen Kernantheil vom Ei und einen vom Spermatozoon bekommt (Fig. 83 VI). Damit ist die Befruchtung beendet und zugleich die erste Theilung der Eizelle vorbereitet, die nun in der gewöhnlichen Weise erfolgt, indem sich im Aequator der Spindel das Ei durchschnürt, während die Kerne in beiden Hälften ihre Ruheform annehmen.

Die Befruchtung des Seeigeleies zeigt in einzelnen Punkten ein etwas abweichendes Verhalten. Hier ist die Reifung des Eies bereits vollendet, wenn das Spermatozoon eindringt. Ferner ver-

208 Drittes Capitel.

schmelzen hier Eikern und Spermakern vollständig zu einem einzigen Kern, ehe die Theilung in die Leiden ersten Furchungshälften der Ei- zelle eintritt. Eine Beobachtung, die besonderes Interesse in Anspruch nahm , weil sie über das Verhalten des Centrosoms einiges Licht zu verbreiten schien, glaubte Fol ^) bei dem weiteren Verlauf des Be- fruchtungsvorganges gemacht zu haben. Was er sah, war Folgendes: Mit der Samenzelle tritt ein Spermacentrosom in die Eizelle, die selbst daneben noch ihr eigenes Centrosom besitzt. Nach der Verschmelzung von Eikern und Spermakern lagern sich beide Centrosomen an zwei gegenüberliegende Pole des gemeinsamen Kerns, der sich mit einer einfachen Protoplasmastrahlung umgeben hat. Jedes der beiden Centro- somen theilt sich darauf, indem es sich hanteiförmig einschnürt, in zwei , von denen je eins zu dem anderen der anderen Seite hinüber- wandert, ein Vorgang, der von Fol als „Quadrille des centres" be- zeichnet wurde. So tritt je eine Hälfte des ursprünglichen Eicentrosoms mit einer Hälfte des Spermacentrosoms in Verbindung und ver- schmilzt schliesslich mit demselben, so dass nunmehr wieder nur zwei Centrosomen an den gegenüberliegenden Polen des Kerns vorhanden sind, die aber jedes zur Hälfte aus der Substanz des Ei-, zur anderen Hälfte aus der Substanz des Spermacentrosoms bestehen. Diese beiden Centrosomen bilden die Pole für die darauf folgende Theilung des Kerns, und umgeben sich je mit einer eigenen Protoplasmastrahlung. Damit ist die Befruchtung beendigt und die Theilung des befruchteten Eies in die beiden ersten Furchungszellen eingeleitet. Leider scheint aber diese Angabe Fol's über den Verlauf der Befruchtung mit der seit- dem viel citirten „Quadrille des centres" auf einer irrthümlichen Be- obachtung zu beruhen. Wenigstens hatBovERi ^) und in Uebereinstimmung mit ihm Wilson und Mathews ^) an Seeigeleiern, wie Mead*) an Eiern von Röhrenwürmern (Chaetopterus pergamentaceus) gefunden, dass eine solche Quadrille des centres nicht existirt, dass vielmehr das Centrosom der Eizelle ohne eine Rolle zu spielen zu Grunde geht (Mead) und verschwindet, während das Centrosom der Spermazelle nach der Be- fruchtung sich allein in der Eizelle in zwei Centrosomata theilt, deren jedes ein Centrum für die Protoplasmastrahlung und die darauf fol- gende Theilung der befruchteten Eizelle bildet.

Fassen wir nach alledem die wesentlichen Momente der Be- fruchtungserscheinungen zusammen, so müssen wir sagen: Die Be- fruchtung besteht in der Vereinigung zweier Zellen, der Eizelle und der Samenzelle, wobei das Protoplasma mit dem Protoplasma, und der Zellkern mit dem Zell- kern verschmilzt, so dass bei der darauf folgenden Theilung der befruchteten Eizellle jede Theilhälfte Substanz von beiden verschmolzenen Zellen sowohl vom Protoplasma, als auch vom Kern mitbekommt.

^) H. Fol: „La quadrille des centres, un episode nouveau dans Thistoire de la fecondation." Im Arch. d. sciences phys. et nat. Gent^ve Vol. XXV, 1891.

2) BovERi: „Üeber das Verhalten der Centrosomen bei der Befruchtung des Seeigel- eies nebst allgemeinen Bemerkungen über Centrosomen und Verwandtes." In Arch. d. physikal.-medicin. Gesellsch. zu Würzburg Bd. XXIX, 1895.

"3) E. B. Wilson and A. P. Matuews: „Maturation, Fertilisation and Folarity in the Echinoderm Egg." In Journ. of Morphol. Bd. X, 1895.

*) A. D. Mead: „Some observations on Maturation and Fecundation in Chaetop- terus pergamentaceus, Cuvier." In Journ. of Morphol. Bd. X, 1895.

Vou den elementaren Lebenserscheiniin<;en.

209

4. Die Entwicklung des vielzelligen Organismus.

Entwicklung im allgemeinen Sinne können wir deliniren als eine fortlautende Reihe von Veränderungen. Wenn wir von der Fort- pflanzung des vielzelligen Organismus durch AbschnUrung ganzer Körpertheile, wie bei der Knospung und Theilung absehen, wo ja die wesentlichen Zellgruppen der einzelnen Organsysteme schon direct bei der Abschnürung vom eltei'lichen Organismus auf die Knospen oder Theilstücke übertragen werden, dann besteht die Bildung des vielzelligen Organismus nur in seiner Entwicklung aus der Eizelle. Mag das Ei unbefruchtet sich entwickeln, wie bei der in- teressanten Erscheinung der „Parthenogenese", die der uralten Legende von der unbefleckten Empftingniss für gewisse niedere Thiere einen realen Hintergrund verleiht, mag es vorher befruchtet worden sein, wie das die allgemeine Kegel bei der Entwicklung der Thiere und Pflanzen ist, immer haben wir die Thatsache vor uns, dass sich der vielzellige Organismus aus einer einzigen Zelle all- mählich entwickelt.

Fig. 84. Entwicklungsgeschichte von Colpoda cucullus. Nach Rhcmblee.

Eine Entwicklung haben wir freilich schon bei den einzelligen Organismen, aber hier läuft der ganze Entwicklungskreis an einer einzigen Zelle ab. Immerhin bildet die Entwicklung der Protisten ein interessantes Analogen zu der Entwicklung der vielzelligen Organismen, der Thiere und Pflanzen. Bei den niedrigsten Formen, wie z. B. den Am 0 eben, ist die Entwicklung noch mit dem blossen Wachsthum identisch. Eine Amoebe verändert sich nur, indem sie an Masse zunimmt und sich dann theilt. Die Theilhälften beginnen wieder zu wachsen, bis sie so gross geworden sind, dass sie sich Avieder theilen. Der ganze Entwicklungskreis der Amoebe besteht im ^Yachsthum bis zur Zelltheilung. Wir sehen also, Wachsthum mit Zelltheilung sind die einfachsten Elemente, welche die Entwicklung erfordert, und in der That giebt es in der ganzen lebendigen Welt keine Entwick-

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 14

210 Drittes Capitel.

lung ohne Wachsthum und Zelltheilung. Eine in eomplicirteren Forra- veränderungen sich äussernde Entwicklung linden wir aber bereits bei allen den Protisten, die sich durch Sporenbildung fortpflanzen. In diesem Falle müssen die Sporen, die ja der Mutterzelle durchaus un- ähnlich sind, erst eine Reihe von Formveränderungen durchmachen, bis sie der Mutterzelle gleich werden. Die Entwicklungsgeschichte der Protisten ist noch wenig studirt, doch hat in neuerer Zeit Rhumb- lerM von der Infusoriengattung Colpoda die Entwicklungsgeschichte lückenlos mit grosser Sorgfalt verfolgt. C o 1 p o d a ist ein kleines bohnenförmiges Infusorium, dessen ganze Körperoberfläche bewimpert ist (Fig. 84 Ä). Bei der Sporenbildung umgiebt sich der Körper mit einer dicken Hülle oder „Cyste" (Fig. 84 B), innerhalb deren der Körper durch Wasserabgabe sein Volumen immer mehr und mehr verringert. Schliesslich stösst er alle unverdauten Nahrungstheile aus und zieht sich zu einer Kugel zusammen (Fig. 84 C), die ihre Wimpern verliert und sich statt dessen mit einer zweiten kleineren Hülle um- giebt (Fig. 84 IJ). Der Inhalt dieser zweiten Hülle (Fig. 84 E) zerfällt nunmehr in einzelne Sporen, die mitsammt einem „Restkörper", der aus unbrauchbaren Stoffen besteht, die Kapsel sprengen und aus ihr frei heraustreten (Fig. 84 F). Aus jeder einzelnen Spore entwickelt sich dann ein neues Individuum, indem die Spore (Fig. 84 G) sich zu einem kleinen amoeb enähnlichen Wesen umformt, das umherkriecht, frisst und wächst (H, I, K, Z), einen langen Geisselfaden entwickelt, mit dem es .schwimmt (Fig. 84 M). und sich schliesslich zu einer kleinen Kugelzelle zusammenzieht (Fig. 84 Xj, welche sich an ihrer Oberfläche mit Wimpern bedeckt (Fig. 84 0) und, indem sie weiter Avächst, allmählich die Form einer Colpoda gewinnt (Fig. 84 P, Q, Fl). Damit ist der Entwicklungskreis dieser Infusorienzelle ge- schlossen.

Was sich bei den Protisten an einer einzigen Zelle abspielt, das verläuft bei der Entwicklung des vielzelligen Organismus an einer grossen Summe von Zellen. Nach unseren Betrachtungen über die Fortpflanzung kann die Entwicklung des vielzelligen Organismus aus dem einzelligen Ei nicht anders geschehen als durch fortgesetzte Zell-- theilung. Dabei aber spielen zwei Momente eine wichtige Rolle, das ist einerseits die Thatsache, dass sich die aus der Theilung der Eizelle hervorgehenden Theilungsproducte nicht wie bei den meisten Protisten voneinander trennen, sondern miteinander im Zusammenhang bleiben, und andererseits die Thatsache, dass die Theilungsproducte einander nicht immer gleich sind, sondern durch inaequale Theilung zwei von- einander und von der Mutterzelle ganz verschiedene Zellformen bilden können. Auf diese Weise wird nicht nur die Entstehung eines viel- zelligen Organismus überhaupt, sondern die Entstehung eines viel- zelligen Organismus mit Differenzirung der verschiedenartigsten Ge- webe und Organe ermöglicht. Wäre nur das erste Moment wirksam und das zweite nicht, dann würde ein Zellenstaat resultiren, bestehend aus vielen Zellen , die aber alle einander gleich wären. Auch solche Organismen existiren thatsächlich im Reiche der Protisten (Fig. 85) und werden als Zellkolonien aufgefasst, die vollkommen republika- nische Verfassung haben, d. h. wo jede Zelle der anderen genau gleich

') Ehumblee: „Die verschiedenen Cystenbildungen iiud die Entwicklungsgeschichte der holotrichen Infusoriengattung Colpoda." In Zeitschr. f. civ. Zool. Bd. 46, 1888.

Von den elementaren Leljenserselieiiiungen.

211

gestellt ist. Diese Formeu bilden die Zwischenglieder zwischen den wirklich einzelligen Organismen und den Thieren oder Pflanzen. Im Körper der Thicre und Pflanzen sind, selbst bei den niedrigsten, die Zellen nicht mehr alle gleich, und diese Difterenzirung, durch die über- haupt nur die Entwicklung eines complicirter gebauten Zellenstaates ermöglicht wird, beruht auf der Wirksamkeit des zweiten Moments, der inaequalen Zelltheilung. Also Zell the i hing, und zwar so- wohl aequale wie inaequale, und Zusammenbleiben der Zellen sind die Facto ren, welche die Entwicklung eines differenzi rten Zellen Staates hervorbringen.

Wir können nicht auf die speciellen Erscheinungen In der indi- viduellen Entwicklung der verschiedenen Thiere und Pflanzen näher eingehen und müssen zu diesem Zwecke auf die ausführlichen Werke von Haeckel'), Hertwig^), Korschelt und Heider '^j verweisen, welche die Embryologie als selbständige Wissenschaft behandeln. Da-

Ä B

Fig. 85. A Eudorina elegans. B Magosphaera planula. Nach Haeckel. Zwei vielzellige Organismen aus gleichartigen Zellen bestehend.

gegen müssen wir noch einen Blick auf jenes wichtige Gesetz werfen, das, wie wir schon sahen, der individuellen Entwicklung ihre bestimmten Wege vorschreibt, auf das „biogenetische Grundgesetz".

Schon Karl Ernst von Baer, der Begründer der Embryologie, hatte gefunden, dass in der Embryonalentwicklung ganz verschiedener Thierformen Entwicklungsstadien vorkommen, die sich täuschend ähn- lich sehen, und nach Darwin's epochemachender That sprach bereits Fritz Müller*) mit klaren Worten die Thatsache aus, dass die Ent- wicklungsgeschichte des Individuums eine kurze Wiederholung des ganzen Entwicklungsganges vorstellt, den die betreffende Art während

M Haeckel: „Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen." IV. Aufl. Leipzig 1891.

2) O. Hertwig: „Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Wirbelthiere." III. Aufl. Jena 1890.

3) Korschelt und Heider: „Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der wirbellosen Thiere." Jena 1890.

*) F. Müller: „Für Darwin." Leipzig 1864.

14*

212 Drittes Capitel.

der Erdentwicklung durchgemacht hat. Es war dann Haeckel's Ver- dienst, das biogenetische Grundgesetz schärfer formulirt und das Be- stehen eines causalen Zusammenhanges zwischen der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungsreihe betont zu haben. Haeckel ^) zeigte nämlich, dass die individuelle Entwicklung oder Ontogenie nur in groben Umrissen eine Wiederholung oder „Palingenie" der Stammesentwicklung oder Phylogenie vorstellt, dass aber vielfach diese Wiederholung verwischt oder gefälscht wird durch das Auftreten von Erscheinungen , die nicht in der phylogenetischen Entwicklungsreihe der betreffenden Form vorhanden waren, und die er deshalb als Er- scheinungen einer Fälschungsentwicklung oder „Cenogenie" be- zeichnete. Wir haben also in der individuellen Entwicklungsreihe einer jeden Organismenform zweierlei Elemente zu unterscheiden, einerseits die palingenetischen Erscheinungen , welche die Stammes- entwicklung der betreffenden Form kurz recapituliren , und anderer- seits die cenogenetischen Erscheinungen, die erst durch Anpassung nachträglich entstanden sind und den Verlauf der palingenetischen Erscheinungen abgeändert und verwischt haben.

Die causale Erklärung für diese Thatsachen liegt in den beiden Momenten, die, wie wir gesehen haben, die ganze Entwicklung des organischen Lebens beherrschen, in dem formerhaltenden Moment der Vererbung und in dem formverändernden Moment der Anpassung.

Die Eigenschaften eines Organismus sind nicht erschöpft mit den Eigenthümlichkeiten, die er in einem einzelnen Zeitpunkt seiner Ent- wicklung, etwa als ausgewachsenes Thier zeigt. Zu den Eigenschaften des Organismus gehört die ganze Summe von Eigenthümlichkeiten und Veränderungen, die er von seinen einfachsten Anfängen an gezeigt hat, denn die späteren Eigenschaften gehen unmittelbar und lückenlos aus den früheren hervor, sie bilden durchaus nicht etwas Neues und unvermittelt Auftretendes. Wenn daher die Vererbung der Factor ist, der die Eigenschaften der Eltern auf die Nachkommen überträgt, so muss er nicht nur die Eigenschaften, welche die Eltern im Momente der Erzeugung ihrer Nachkommen besitzen, auf die letzteren über- tragen, sondern die ganze Summe der elterlichen Eigenschaften, das heisst, auch die Eigenschaften, welche die Eltern während ihrer Ent- wicklung gezeigt haben. Es muss sich also auch der charakteristische Entwicklungsgang, den die Eltern durchgemacht haben, auf die Kinder vererben, so dass die letzteren dieselbe Entwicklung durchmachen müssen. Da das für jede Generation von Eltern und Kindern gilt, so muss es gelten , auch wenn wir die Vorfahrenreihe bis zu den ersten und frühesten Gliedern der Stammesentwicklung zurückverfolgen, d. h. die Kinder sind das historische Product der ganzen Stammes- entwicklung und müssen in ihrer Entwicklungsgeschichte die ganze Stammesgeschichte von Neuem durchlaufen.

Diese Betrachtung würde aber nur richtig sein, wenn als einziges formbestimmendes Moment die Vererbung in Betracht käme. Nur in diesem Falle würde mit peinlicher Genauigkeit sich jede kleinste Eigenthümlichkeit, die einmal in der Vorfahrenreihe des betreffenden Organismus vorhanden war, bei seiner Entwicklung noch einmal wiederholen. In diesem Falle würde sich uns, da die individuelle Entwicklung verhältnissmässig kurze Zeit in Anspruch nimmt, die

') Haeckkl: „Generelle Morphologie der Organismen." Leipzig 1866.

Von den elonuiitarrii Li'beusersclieiniingen. 213

Stanimesentwit'kliuig" aber eine uiiülxTSchbare Fülle von Formverände- runj;cn zcij^t, das niorkwürdigc Sfliausj)icl bieten, dass uns die (Jnto- genie eines höheren Thieres wie das ]>ild eines sieh fortwährend drehenden Kaleidoskops erschiene, das in keinem Augenblick dasselbe bleibt und vor unseren Augen jeden Augenblick eine andere Form annimmt. Das ist bekanntlich nicht der Fall , sondern die Stammes- entwicklung wird einerseits nur in kurzen Zügen rccapitulirt und er- leidet andererseits bei der Kecapitulation mannigfaltige Abänderungen : das sind die cenogenetischen Erscheinungen , die verursacht werden durch das zweite formbestimmende Moment, durch die Anpassung. Wir sahen , dass die Form jedes Organismus in bestimmtem Maasse bedingt ist durch die äusseren Verhältnisse, Irgend eine Form in der Stammesreihe eines Thieres, die zu einer bestimmten geologischen Periode gelebt hat, war also bedingt unter Anderem durch die Ver- hältnisse, welche zu jener Zeit der Frdentwicklung herrschten. Jetzt sind diese Verhältnisse ganz andere. Aber nicht nur die Verhältnisse auf der Erde sind andere geworden, sondern auch bei der Entwick- lung selbst steht das Thier unter ganz anderen Verhältnissen als das fertige Thier, besonders wenn die ersten Entwicklungsstadien im Innern des mütterlichen Körpers durchlaufen werden. Da aber diese äusseren Verhältnisse eine Anpassung des betreffenden Organismus bewirken müssen, so erklärt es sich, weshalb bei der ontogenetischen Kecapitu- lation der phylogenetischen Stammesreihe einerseits eine Vereinfachung eintritt und andererseits eine gewisse Abänderung bestimmter Er- scheinungen. Die Vereinfachung kommt zu Stande, indem Entwick- lungsglieder, die zu ihrer Zeit nur specielle Anpassungen an gewisse Bedingungen repräsentirten, jetzt, wo diese Bedingungen fehlen, als unnütz und störend wieder abgezüchtet werden, die Abänderung, in- dem bestimmte Entwicklungsglieder sich an die neuen Verhältnisse anpassen. Es ist klar, dass auch hier die Selection den Formen- wechsel beherrscht, und dass die cenogenetisch entstandenen Eigen- schaften ebenso vererbt werden, wie die ursprünglichen.

Hiernach können wir mit Haeckel^) das biogenetische Grund- gesetz kurz folgendermaassen formuliren:

„D i e K e i m e s e n t w i c k 1 u n g ist e i n A u s z u g der S t a m m e s - e n t w i c k 1 u n g ; um so vollständiger, je mehr durch V e r - er bung die Auszugsentwicklung beibehalten wird; um so weniger vollständig, je mehr durch Anpassung die FälschungsentAvicklung eingeführt wird."

III. Die Erscheinungen des Kraftwechsels.

A. Die Formen der Energie.

Schon lange hat die Naturwissenschaft verschiedene Kräfte unter- schieden, welche die Bewegungserscheinungen in der Natur hervor- bringen. „Kraft" ist in naturwissenschaftlichem Sinne nichts weiter als ein Ausdruck für die Ursache einer Bewegung, denn wir wissen thatsächlich von einer Kraft nichts Anderes, als dass sie Bewegung

*) Haeckel : „Ziele und Wege der beutigen Entwicklungsgeschichte." Jena 1875.

214 Drittes Capitel.

verursacht. Sinnlich Avahrzunehmen ist keine Kraft, sinnlich wahr- zunehmen sind nur Bewegungen. Es liegt hieran , dass man seit frühen Zeiten schon da, wo man verschiedenartige Bewegungsformen sah, auch verschiedenartige Kräfte annahm. So kam es, dass mit der Zeit eine Menge von Kräften unterschieden wurde, die schlechterdings nicht miteinander auf die gleiche Stufe gestellt werden konnten, weil die einen nur specielle Fälle von anderen, andere wieder Complexe von mehreren, die dritten überhaupt gar keine Kräfte waren. Man sprach von Schwerkraft, von Muskelkraft, von Willenskraft etc. Dieser Zustand ist noch jetzt nicht ganz vorüber. Xoch die Kräfte, welche die heutige Physik kennt, sind durchaus nicht sämmtlich gleichwerthige Dinge, und über das Verhältniss einiger zu anderen ist noch bis heute wenig Licht verbreitet worden.

Zweckmässig hat man in neuerer Zeit, dem Gebrauch Th. Young's und Thomson's folgend, den alten leicht missverständlichen Namen „Kraft" durch die Bezeichnung „Energie'' ersetzt, und unterscheidet das, was man früher als verschiedene Kräfte bezeichnete, als ver- schiedene Energieformen. So werden im Allgemeinen von der heutigen Physik folgende Energieformen unterschieden:

1. Chemische Energie (Chemische Affinität, Anziehung

der Atome).

2. Molekulare Energie (Cohäsion, Adhäsion, Anziehung

der Moleküle).

3. Mechanische Energie (Druck, Zug, Stoss),

4. Gravitations-Energie (Schwerkraft, Massenanziehung).

5. Thermische Energie (Wärme).

6. Photische Energie (Licht),

7. Elektrische Energie (Elektricität, Galvanismus).

8. Magnetische Energie (Magnetismus).

Werfen wir einen kurzen Blick auf die einzelnen dieser Energie- formen.

Bekanntlich stellt sich die moderne Naturwissenschaft die Körper- welt vor als zusammengesetzt aus ausserordentlich kleinen Theilchen und nennt diejenigen Theilchen, welche nicht mehr getheilt werden können, ohne ihre Eigenschaften zu verlieren, „Moleküle'", die- jenigen, welche die Moleküle zusammensetzen und überhaupt nicht weiter theilbar sind, „Atome". Dann ist die chemische Energie diejenige Energieform, mit welcher sich die Atome anziehen, um ein Molekül zu bilden, die molekulare Energie dagegen diejenige Energieform, mit der sich die Moleküle untereinander anziehen, um grosse Körpermassen zu formen. Ist ein grosser Körper in Bewegung und stösst er auf einen anderen beweglichen Körper, so setzt er diesen, wenn der Stoss stark genug war, ebenfalls in Bewegung. Die Energie- form , welche den gestossenen Körper in Bewegung setzt, ist die mechanische Energie. Ferner ziehen grosse Körpermassen einander an, ebenso wie die Atome im Molekül und die Moleküle im gi'ossen Körper einander anziehen, und wie wir seit Newton's un- sterblicher Entdeckung wissen, resultiren die Bahnen der Himmels- körper aus der gegenseitigen Anziehung ihrer gewaltigen Massen. Diese Massenanziehung, welche die Erde an die Sonne, den Mond an die Erde fesselt und den hochgeworfenen Stein zwingt, immer wieder auf die Erde zurückzukehren, ist die Schwerkraft oder Gravita-

Von dun elementaren Lebonsersclieiuungen. 215

tions-Energie. Die the rmis cli e, pliotische, elektrische, mjigne tische Energie schliesslich sind die Energieformen, welche die Atome des den Weltraum erfüllenden und alle massigen Körper durchdringenden hypothetischen Weltiithers in diejenige Bewegungs- form versetzen, die wir Wärme, Licht, Elektricität, Magnetismus nennen, denn die Erscheinungen der Wärme, des Lichts, der Elektri- cität, des Magnetismus beruhen nach den Erfahrungen der heutigen Physik nur auf Schwingungen kleinster Theilchen.

Dass alle diese Energieformen aber jedenfalls nicht gleichwerthige Dinge sind, die unvermittelt nebeneinander existiren, zeigt eine ein- fache Ueberlegung. Wenn alle Materie mit Einschluss des hypo- thetischen AA'eltäthers aus Atomen als ihren kleinsten materiellen Theilchen zusammengesetzt ist, und wenn ausser der Materie nichts Körperliches existirt, so müssen alle Energieformen, da sie an die Materie gebunden sind, ihren Sitz in den Atomen haben. Die Atome sind also die kleinsten mit Energie begabten Theilchen, und es liegt auf der Hand , dass auch Energieformen , die wir für grosse Massen- bewegungen annehmen, wie die Schwerkraft, ihren Sitz in den Atomen haben müssen. Nun ist es schon von vornherein im höchsten Maasse unwahrscheinlich, dass jedes Atom mit acht verschiedenen Energie- formen ausgestattet sein sollte. Unsere naturwissenschaftlichen Er- fahrungen, die uns immer gezeigt haben, dass sich überall in der Natur die scheinbare Mannigfaltigkeit auf eine Einheit zurückführen lässt, legen vielmehr den Gedanken sehr nahe, dass alle diese verschiedenen Energieformen sich ebenfalls auf eine einzige Energieform werden zurückführen lassen. In der That hat man ja auch die molekulare, mechanische und Gravitations-Energie einerseits und die thermische, photische, elektrische und magnetische Energie andererseits in engere Beziehungen zu einander gesetzt, und in neuester Zeit hat es durch die Untersuchungen der Elektrochemie den Anschein gewonnen, als ob auch die chemische und die elektrische Energie in einem sehr nahen Verhältniss zu einander stehen. Wir haben also begründete Hoffnung, dass es der Physik in nicht sehr ferner Zeit gelingen wird, sämmt- liche Energieformen nur als Ausdruck einer und derselben Energie nachzuweisen, die unter verschiedenen Bedingungen uns als etwas Verschiedenes erscheint, ebenso wie die Chemie hofft, die Mannigfaltig- keit der chemischen Elemente einst auf die Eigenschaften eines einzigen Urelements, etwa des Weltäthers, zurückführen zu können.

Ist es so schon von vornherein sehr wahrscheinlich, dass die ver- schiedenen Energieformen nur verschiedene Erscheinungsweisen einer und derselben Energie sind, so wird diese Wahrscheinlichkeit beinahe zur Gewissheit durch die Thatsache, dass sich eine Energieform in die andere verwandeln lässt und in der Natur fortwährend verwandelt wird. Diese überaus wichtige Thatsache findet bekanntlich ihren Aus- druck in dem von Robekt Mayer und Helmholtz entdeckten und be- gründeten Gesetz von der Er haltungder Kraft, das für unsere ganze moderne Naturauffassung grundlegend geworden ist. Wenn aber die eine Energieform in die andere überführbar ist, dann können wir uns das nur durch die Vorstellung erklären, dass die Energie selbst immer dieselbe bleibt, und dass die verschiedene Erscheinungsform nur ein Ge- wand ist, das sie je nach den augenblicklichen Bedingungen vertauscht.

Ebenso wie wir von verschiedenen Energie formen sprechen, können wir aber bei einzelnen Energieformen noch zwei verschiedene

216 Drittes Capitel.

Modificationen unterscheiden, je nachdem sie actuell eine Bewegung erzeugen oder nur potentiell die Fähigkeit haben, unter geeigneten Bedingungen in Action zu treten. Dementsprechend nennt die Physik diese beiden Modificationen actuelle Energie (auch kinetische Energie oder lebendige Kraft) und potentielle Energie (auch Spannkraft). Die Gravitations-Energie z. B. ist actuell, wenn sie einen Stein im Moment, wo er losgelassen wird, zur Erde zieht; sie ist dagegen potentiell, solange der Stein oberhalb der Erdoberfläche festgehalten wird. Ebenso ist die chemische Energie actuell, wenn sie zwei Atome zu einander führt, sie ist dagegen potentiell, wenn ein Atom kein anderes in der Nähe hat, das es anziehen kann. Auch die actuelle Energie geht fortwährend in potentielle über und umgekehrt.

Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder der Energie beherrscht also alles Geschehen in der Natur, es ist das Grundgesetz der Energetik. Wie wir bereits früher sahen, besagt es, dass nirgends in der Welt Energie entsteht oder verschwindet, dass die Summe von Energie in der ganzen Welt eine constante ist, ebenso wie das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes die gleiche Constanz von der Menge des Stoffes aussagt. Wo uns eine gewisse Menge von Energie zu verschwinden oder zu entstehen scheint, da geht sie in Wirklichkeit nur in eine andere Form oder Modification über. Leiten wir z. B. durch ein Gefäss mit Wasser einen elektrischen Strom, so scheint die elektrische Energie verloren zu gehen. Sie ver- schwindet aber in Wirklichkeit nicht, denn wir sehen, dass die Mole- küle des Wassers in ihre Wasserstoff- und Sauerstoff -Atome zerlegt werden, die sich in ihrem gasförmigen Zustande an den beiden Polen der elektrischen Leitungsdrähte ansammeln. Der elektrische Strom hat also eine Arbeit geleistet und hat die Atome des Wassermoleküls von einander getrennt. Die frei gewordenen Wasserstoff- und Sauerstoff- Atome haben aber chemische Affinität zu einander, es ist also bei dem Experiment nur die actuelle Energie des elektrischen Stromes ver- wandelt worden in die potentielle Energie der chemischen Affinität. Bringen wir daher die getrennten Wasserstoff- und Sauerstoff- Atome unter geeigneten Bedingungen wieder zur Vereinigung, so geht die chemische Spannkraft wieder in lebendige Kraft über, und wir sehen, dass eine bestimmte Menge von Wärme dabei frei wird. Diese Wärme könnten wir in einem thermo-elektrischen Apparat wieder in Elektricität umsetzen, und wenn die technischen Schwierigkeiten es gestatten würden, das ganze Experiment praktisch exact genug auszuführen, so würden wir finden, dass jetzt dieselbe Menge von Elektricität wieder gewonnen worden ist, die vorher zur Spaltung des Wassers verbraucht wurde. Die anfängliche Menge von Energie bleibt durch alle Um- wandlungen hindurch dieselbe.

Um ein einheitliches Maass für die Messung irgend welcher Energiemenge zu gewinnen, hat die Physik im Anschluss an Joules' Untersuchungen über das Verhältniss von Wärme zu mechanischer Energie eine gewisse Wärmemenge als „Wärmeeinheit" oder „Kalorie" gewählt. Eine Kalorie ist diejenige Wärmemenge, welche nothwendig ist, um ein Kilogramm Wasser von 0 ^ auf 1 ** C, zu erwärmen. Man wählte mit gutem Grunde die Wärme als diejenige Energieform, welche die Maasseinheit für alle anderen abgiebt, denn die Wärme nimmt allen andern Energieformen gegenüber eine eigenthümliche Stellung ein, insofern alle anderen Energieformen vollkommen in Wärme umge-

Voll (Ich i!lc!iiontaren Lelji'iisersclieimingcii. 217

wandelt werrlen können, während es Lislier nicht gehingen ist, sämmt- liclie Energieformen in jede beliebige andere Energieform vollkommen umzuwandeln. Wenn wir daher irgend eine Menge einer beliebigen Energieform, etwa mechanischer oder chemischer Energie zahlenmässig ausdrücken wollen, so drücken wir sie im „Warmem aass" aus und geben die Anzahl der ihr äquivalenten Kalorieen an. So entspricht z. B. eine Kalorie in die Energieform mechanischer Arbeit umgerechnet einer Energiemenge, welche nöthig ist, um ein Gewicht von 424 Kilo- gramm einen Meter hoch zu heben; man sagt: das „mechanische Aequivalent" einer Kalorie ist 424 „Kilogrammmeter", und umgekehrt : eine Kalorie ist das „Wärmeäquivalent" von 424 Kilo- grammmetern. Auf dieselbe Weise kann man auch alle übrigen Energie- formen ihrer Menge nach in Wärmeäquivalenten ausdrücken. Die Kalorie ist die Maasseinheit für alle Energie.

B. Die Einfuhr von Energie in den Organismus.

Das Leben ist oft mit dem Feuer verglichen worden, eine Vor- stellung, die schon in den ältesten mythologischen Naturauffassungen der Völker eine Rolle spielt und in der Philosophie des Heraklit bekanntlich zum ersten Mal eine festere Form angenommen hat. Der Vergleich ist in vielen Punkten zutreffend. Wenn wir ihn weiter ausspinnen, dann ist unser Organismus die brennende Kohle, die sich fortwährend verzehrt, unser Athem der Rauch, unsere Nahrung frisch aufgelegtes Brennmaterial , welches das alte immer wieder ersetzt. Wie der brennende Kohlenhaufen ein materielles System vorstellt, in welchem ein fortwährender Energieumsatz stattfindet, indem mit dem Brennmaterial Energiepotentiale eingeführt und in die nach aussen hin actuellen Enei'gieformen der Wärme und bei geeigneter Ver- wendung, wie z. B. in der Dampfmaschine der mechanischen Arbeit umgesetzt werden, so ist auch der Organismus ein materielles System, in dem ein gleicher Energieumsatz fortdauernd stattfindet. Wie durch Aufschütten neuer Kohlen auf den Kohlenhaufen die Energie in potentieller Form zugeführt wird, so ist auch wenigstens im thierischen Organismus der weitaus grösste Theil aller zugeführten Energie poten- tielle Energie. Daher kommt es, dass die Einfuhr von Energie eine bedeutend weniger in die Augen fallende Lebenserscheinung ist, als die in ausgiebigen Bewegungen und anderen augenfälligen Leistungen sich äussernde Production von actueller Energie, welche aus dem Umsatz der eingeführten Energiepotentiale hervorgeht.

1. Zufuhr chemischer Energie.

Da über den Energieumsatz bei chemischen Vorgängen vielfach etwas unklare Vorstellungen verbreitet sind, so wird es zweckmässig sein, zunächst überhaupt erst einen Blick auf die allgemeinen That- sachen des Energiewechsels bei chemischen Umsetzungen zu werfen.

Unter chemischer Energie verstehen wir bekanntlich die Fähigkeit der Atome, andere Atome anzuziehen, eine Eigenschaft, die man auch als chemische Affinität bezeichnet. Jedes Atom, wenn wir es uns isolirt denken, repräsentirt demnach ein kleines Energiemagazin. Die chemische Energie in einem Atom ist potentiell, solange das Atom nicht

218 Drittes Capitel.

Gelegenheit hat, durch seine Affinität ein anderes Atom an sich zu binden. Wir haben also in einem freien Atom ein Energiepotential. Sobald sich aber zwei Atome miteinander verbinden , geht ein der Stärke ihrer Affinität entsprechender Theil von potentieller Energie in actuelle Energie über, die in Gestalt von Wärme, Licht, mechanischer Energie etc. frei wird. Da ferner die chemische Affinität eines Atoms zu verschiedenartigen anderen Atomen sehr verschieden gross ist, so wird um so mehr Energie frei werden, je stärker die Aftinitäten sind, die gebunden werden. Eine chemische Verbindung muss also um so weniger potentielle Energie enthalten, je stärker die Aftinitäten sind, welche ihre Atome zusammengeführt haben. Umgekehrt: Sollen zwei miteinander verbundene Atome getrennt werden, so Avird dazu eine gewisse Menge Energie gebraucht und diese selbe Menge von actueller Energie, welche jetzt verbraucht wird, um die Atome zu trennen, erscheint nach der Spaltung wieder in Form von potentieller chemischer Energie als freigewordene Aftinitäten der Atome. So haben wir hier einen vollständigen Kreisprocess.

Ein Beispiel wird das A'erhältniss noch anschaulicher machen. Haben wir über einer Quecksilberwanne einen starken Glascylinder, der in einem kleinen vom Quecksilber freigelassenen Räume ein Gas- gemisch aus zwei Dritttheilen Wasserstoff und einem Dritttheil Sauer- stoff enthält , so haben wir ein Gemisch von Molekülen , deren Atome grosse Mengen potentieller Energie in Form von chemischen Affinitäten zu einander beherbergen. Stellen wir nun die Bedingungen her, dass sich die Sauerstoff- und Wasserstoffatome miteinander ver- einigen können, so stürzen sie gierig aufeinander los, ziehen sich an und geben ihren gesammten Vorrath an potentieller Energie in Form von Wärme, Licht und mechanischer Energie nach aussen ab. Es entsteht eine Flamme, der Cylinder wird stark erwärmt, und das Quecksilber wird mit Gewalt nach unten getrieben, steigt aber bald Avieder höher und höher, denn der aus der Vereinigung von Wasser- stofi- und Sauerstoffatomen entstehende Wasserdampf verdichtet sich mit zunehmender Abkühlung zu tropfbarem Wasser, das schliesslich nur einen winzigen Raum im Cvlinder einnimmt. So ist bei der Synthese des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff die potentielle Energie der chemischen Affinitäten in actuelle Energie umgesetzt und als Wärme, Licht etc. frei geworden. Das Wassermolekül hat also diese genau bestimmbare Energiemenge an die Umgebung verloren. Umgekehrt können wir die Atome des AA'assers wieder voneinander trennen in Wasserstoff- und Sauerstoffatome, Avenn wir dieselbe Energie- menge von aussen her Avieder zuführen. Am besten eignet sich dazu die Form der elektrischen Energie. Leiten Avir einen elektrischen Strom durch das Wasser, so Averden in demselben Maasse, AA'ie die elektrische Energie verschwindet, an den Polen der Drähte Wasser- stoff- und Sauerstoffatome frei. Es wird also Energie verbraucht, um die Atome des Wassermoleküls voneinander zu spalten, aber diese Energie erscheint in den freiwerdenden Atomen als die potentielle Energie der chemischen Affinitäten Avieder, denn AA^enn Avir den frei- werdenden Sauerstoff und Wasserstoff AA-ieder zur Vereinigung bringen, dann gewinnen AAir dadurch A'on neuem wieder actuelle Energie u. s. f.

Diese Betrachtung ist sehr AA'ichtig. denn es ergiebt sich daraus ein Satz von Aveittragender Bedeutung, der meist nicht klar genug formulirt AA'ird, nämlich der Satz: Bei der Verbindung von

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 219

Atomen wird actuelle Energie frei, zur Trennung von Atomen dagegen wird actuelle Energie verbraucht.

Dieser Satz, der eine nothwendige Consequenz aus dem Gesetz von der Erhaltung der Energie vorstellt, muss als Grundsatz für alle chemischen Umsetzungen betrachtet werden und bildet auch den Aus- gangspunkt für das Verständniss aller Energiewechselersclioinungen im lebendigen Organismus. Dass er in der Regel nicht mit genügender Klarheit hingestellt und angewendet worden ist, liegt zum grössten Theil an der Thatsache, dass er in gewissen Fällen auf den ersten Blick scheinbar eine Ausnahme erleidet. Es ist zur Klarstellung dieser Verhältnisse nicht überflüssig, wenigstens kurz darauf ein- zugehen.

Wenn wir die Energie, welche bei einem chemischen Process um- gesetzt wird, im Wärmemaass ausdrücken, so haben wir Processe, bei denen Wärme frei wird, und Processe, bei denen Wärme verbraucht wird. Nach der Ausdrucksweise der „Thermochemie" bezeichnen wir die Production von Wärme bei einem chemischen Process als „posi- tive Wärmetönung", den Verbrauch von Wärme dagegen als „negative Wärmetönung". Nach unserer eben angestellten Be- trachtung sollten wir also erwarten, dass alle synthetischen Processe, d. h. alle Processe, bei denen sich Körper miteinander verbinden, unter positiver Wärmetönung verlaufen, denn es werden ja bei jeder Synthese Atome verbunden und bei Verbindung von Atomen wird Energie frei; umgekehrt wäre zu erwarten, dass alle Spaltungsprocesse d. h. alle Processe, bei denen verbundene Atome getrennt werden, mit negativer Wärmetönung einhergehen. Das ist, Av^enn man die Begriffe Synthese und Spaltung in ihrer reinen Bedeutung anwendet, auch immer der Fall. Dennoch scheint es auf den ersten Blick gewisse Ausnahmen von dieser Regel zu geben. Es sind nämlich einerseits einige Synthesen in der Chemie bekannt, wie z. B. die Synthese von Jodwasserstoff, die mit Wärmeverbrauch verbunden sind, anderer- seits giebt es viele Spaltungen, namentlich complicirterer Verbindungen, wie etwa des Nitroglycerins oder anderer explosibler Stoffe, bei denen eine gewaltige Energieproduction stattfindet. Das sind unbestreitbare Thatsachen. Allein, analysiren Avir die Einzelheiten bei diesen Vor- gängen etwas genauer, so klärt sich das scheinbare Paradoxon ohne Weiteres auf und bestätigt vielmehr das Gesetz. Da wir nämlich keine freien Atome kennen, sondern da auch die gleichartigen Atome eines jeden chemischen Elements immer zu Molekülen, zu Atom- gruppen vereinigt sind und nicht dauernd frei existiren können, so liegt es auf der Hand, dass, Avenn nicht ganze Moleküle ohne Um- lagerung ihrer Atome zu einer Verbindung zusammentreten oder aus einer Verbindung als präformirte Gruppen abgespalten AA^erden, dass dann jeder Synthese eine Spaltung der activen Moleküle in ihre Atome vorhergehen und jeder Spaltung eine Synthese der freigCAA^ordenen Atome zu neuen Molekülen folgen muss. Dann verläuft also keine Synthese ohne vorhergehende Spaltung, und keine Spaltung ohne nachfolgende Synthese. Hiernach leuchtet es ein, dass unter Um- ständen bei einer Synthese eine negative Wärmetönung bestehen kann, wenn nämlich, wie im Jodmolekül die Jodatome oder im Wasserstoff- molekül die Wasserstoffatome zu einander grössere Affininät haben, als die Jodatome zu den Wasserstoffatomen. Dann wird mehr Energie verbraucht, um die Atome des Jodmoleküls und die Atome des

220 Drittes Capitel.

Wasserstoffraoleküls voneinander zu spalten, als frei wird, wenn die Jod- und Wasserstoffatome sich zu einem Jodwasserstoffmolekül ver- einigen, und da ja bei jedem kalorimetrischen Experiment nur der Enderfolg zur Beobachtung gelangt, nie die Zwischenprocesse, so er- klärt es sich, weshalb am Ende der Reaction sich ein Wärmeverbrauch, eine negative Wärmetönung herausstellen muss. Das Umgekehrte ist bei den Spaltungsvorgängen mit positiver Wärmetönung der Fall. Das Nitroglycerin (Salpetersäure -Triglycerid) explodirt bekanntlich bei Er- schütterungen unter ungeheurer Kraftentwicklung, indem es in Wasser, Kohlensäure, Sauerstoff und Stickstoff zerfällt. Diese Zerfallsproducte sind aber stereochemisch nicht im Nitroglycerinmolekül präformirt, sondern gehen erst durch synthetische Umlagerung der Atome aus demselben hervor. Da die Atome des Wassers , der Kohlensäure, des Sauerstoffs und des Stickstoffs in dieser Anordnung aber viel grössere Affinitäten zu einander haben, als in der Lagerung, die sie im Nitroglycerinmolekül hatten, so genügt eine kleine Energie- menge, um den Zerfall des Nitroglycerinmoleküls herbeizuführen, während aus den Umlagerungssynthesen eine ausserordentlich grosse Energiemenge frei wird. Daher erhalten wir als Endresultat eine positive Wärmetönung. Also ebensowenig, wie streng genommen bei der Jodwasserstoffsynthese der Wärmeverbrauch auf Rechnung der Synthese zu setzen ist, ebensowenig stammt in Wirklichkeit die Energieproduction bei der Dynamitexplosion aus der Spaltung des Nitroglycerinmoleküls. Es ist nothwendig, dass man sich diese That- sache einmal klar gemacht hat. Da aber nun allgemein, wenn von einer Synthese gesprochen wird, die vorhergehende Spaltung, und wenn von einer Spaltung gesprochen wird, die nachfolgende Synthese unberücksichtigt gelassen wird, so ist es genauer, das Grundgesetz des Energiewechsels bei chemischen Processen in folgender Form auszusprechen : Werden bei einem chemischen Proccss stärkere Affinitäten gebunden als getrennt, so wird actuelle Energie frei; werden dagegen stärkere Affini- täten getrennt als gebunden, so verläuft der Process mit Energieverbrauch.

Kehren wir jetzt von unserem Excurs zurück, so ist es nach unseren Betrachtungen klar, dass chemische Energie in den Organis- mus nur eingeführt werden kann, wenn die Nahrungsstoffe Affinitäten enthalten, die zu binden im Organismus Gelegenheit geboten wird. Es müssen also Stoffe in den Körper eingeführt werden, die unter einander chemische Umsetzungen mit positiver Wärmetönung erfahren. Das geschieht in der That auch auf die zweierlei Weise, die wir eben kennen lernten, nämlich einerseits, indem einfache Stoffe mit starken Affinitäten eingeführt werden, und zweitens, indem zusammengesetzte Verbindungen aufgenommen oder im Körper erst synthetisch her- gestellt werden, die leicht spaltbar sind und wie die explosiblen Körper Zersetzungsproducte liefern, die sich unter Umlagerung ihrer Atome synthetisch zu neuen Stoffen vereinigen. Starke Affinitäten ge- langen vor Allem mit dem Sauerstoff in den Körper, und es ist ja all- gemein bekannt, dass bei der Vereinigung des Sauerstoffs mit anderen Stoffen, d. h. bei der Verbrennung, eine grosse Menge von Energie frei wird. Die Oxydationsprocesse spielen daher eine überaus wichtige Rolle im ganzen Leben, und es ist also, wie wir schon sahen, der Vergleich des Lebens mit dem Feuer ein sehr glücklicher. Complexe

Von deu elciiientureu Lcbeiiserscheinunpeu. 221

Verbindungen gelangen besonders bei den Thieren mit der organi- schen Nahrung in den Organismus, wo sie eine lange Reihe von bisher nicht übersehbaren Umlagerungen erfahren, bei denen naturgemäss Spaltungen und Synthesen Hand in Hand laufen bis zum Aufbau des lebendigen P^iweissmolckiÜs. Die lebendigen Eiweisskörper aber sind den explosiblen Körpern an die Seite zu stellen. Sie neigen zum Zerfall, und aus den freiwerdenden Atomcomplexen gehen durch Um- lagerungssynthesen theils unmittelbar, theils später in Verbindung mit neu zugeführten Stoffen chemische Verbindungen hervor, deren Ent- stehung unter Umständen wieder mit Energieproduction verbunden ist. Es ist bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse nicht möglich, die ganze Reihe der verwickelten chemischen Processe, die Fülle der Spaltungen und Synthesen und den mit ihnen verbundenen Energiewechsel im Einzelnen zu verfolgen, von der ersten Spaltung der Kohlensäure und der Synthese des ersten Assimilationsproduetes in der Pflanze an bis zu dem Zerfall der lebendigen Eiweisskörper in der l*flanze wie im Thier. Das aber wissen wir, dass die letzten Endproducte des Stoff- wechsels, wie die Kohlensäure, das Wasser, der Harnstoff etc., solche Stoffe sind, deren chemischer Energiewerth ein äusserst geringer ist, aus denen entweder keine oder nur sehr kleine Mengen von chemischer Energie überhaupt noch gewonnen werden können. Die grösste Menge von chemischer Energie, die mit der Nahrung in den Körper ein- geführt wird, muss also auf ihrem Wege durch den StoftVechsel in andere Energieformen umgesetzt worden sein, und daraus resultiren die Leistungen des Organismus.

2. Zufuhr von Licht und Wärme.

Wir sagten: Die Hauptmasse aller eingeführten Energie gelangt als chemische Energie in den Körper. Dieser Satz gilt für die thieri- schen Organismen ohne Einschränkung, für die pflanzlichen bedarf er indessen einer Correctur. Zwar sind auch in der Pflanze die Energie- potentiale, auf deren Kosten ihre Leistungen gehen, überwiegend chemische, aber ein Theil derselben wird nicht sogleich als frei ver- fügbare Energie, d. h. in Form von freien Affinitäten, Avie sie etwa der Sauerstoff besitzt, in den Körper eingeführt, sondern es ist erst die Zufuhr einer anderen Energieform nothwendig, um aus ihnen freie Affinitäten zu schaffen. Wir wissen, dass zur Synthese des ersten Assimilationsproducts Kohlensäure und Wasser erforderlich sind^). Kohlensäure und Wasser sind aber Moleküle, die in diesem Zustande einen überaus geringen chemischen Energiewerth besitzen, weil ihre Atome in dieser Verbindung durch sehr starke Affinitäten aneinander gekoppelt sind. Um sie daher frei und für neue Leistungen verfügbar zu machen, müssen diese Moleküle erst gespalten werden, und dazu ist Enei'giezufuhr nöthig. Die Energie, welche diese Spaltung voll- zieht, ist im Verein mit der chemischen Energie der lebendigen Pflanzensubstanz selbst das Licht. Ohne Licht ist daher kein Leben der Pflanze möglich, und da ohne Pflanzenleben kein Thier- leben existiren kann, so kann man sagen, dass ohne Licht überhaupt kein Leben bestehen würde. Wenn also auch das Licht direct nur in der Pflanze als Energiequelle eine wesentliche Rolle spielt, so ist es

^) Vergl. pag. 163.

222 Drittes Capitel.

doch eine Energieform, die für die Erhaltung des Lebens auf der Erdoberfläche ebenso unentbehrlich ist, wie die chemische Energie der Nahrung.

Der Ort, wo in der Pflanze das Licht die Spaltung der Kohlen- säure bewirkt, sind die grünen Theile des Pflanzenkörpers, also vor Allem die Blätter. Man überzeugt sich davon am besten durch den auf pag. 164 beschriebenen Assimilationsversuch. Dabei zeigt sich, dass für die Betheiligung der Lichtstrahlen an der Kohlensäurespaltung in den grünen Pflanzenzellen zwei Momente ausschlaggebend sind, einerseits die Intensität und andererseits die Wellenlänge der Strahlen. Die Wirksamkeit des Lichtes nimmt mit der Intensität desselben zu, so dass in hellerem Licht mehr Kohlensäure gespalten wird, als in weniger hellem. Ferner sind bei gleicher Intensität die Strahlen des rothen Lichtes (nicht wie die Botaniker früher annahmen, die des gelben) am wirksamsten. Engelmann ^) hat durch eine mikroskopische Methode, die auf der Wirkung des bei der Kohlensäurespaltung frei werdenden Sauerstoffs auf Bakterien beruht, in einer ganzen Reihe von Arbeiten, diese Thatsache über allen Zweifel erhoben. Bei den Untersuchungen Engelmann's hat sich gleichzeitig die Ansicht bestätigt, dass die Kohlensäurespaltung in der grünen Pflanzenzelle nur in den Chloro- phyllkörpern derselben stattfindet, und schliesslich hat sich heraus- gestellt, dass die Kohlensäurespaltang sofort mit Einwirkung des Lichts beginnt, um bei Verdunklung auch augenblicklich wieder aufzuhören. Die Abhängigkeit der kohlensäurespaltenden Thätigkeit der Chloro- phyllkörper vom Licht ist also eine ausserordentlich enge.

Die Wärme endlich, die theils als strahlende, theils als zu- geleitete Wärme von aussen her in den lebendigen Organismus hinein- gelangt, spielt ähnlich wie das Licht eine Rolle bei den chemischen Umsetzungen in der lebendigen Substanz, und da wir wissen, dass mit zunehmender Temperatur die Zersetzbarkeit aller chemischen Ver- bindungen zunimmt, so können wir sagen, dass auch die zugeführte Wärme vor Allem bei Spaltungsprocessen in der lebendigen Substanz betheiligt ist. Die Rolle der Wärme als Energiequelle ist besonders deutlich zu erkennen bei sogenannten Kaltblütern, die man besser als „wechselwarme (poikilotherme) Thiere" bezeichnet, da sie im Gegen- satz zu den sogenannten Warmblütern oder „gleichwarmen (homoio- thermen) Thieren", die eine stets constante Körpertemperatur haben, ihre Körpertemperatur mit der Temperatur der Umgebung fortwährend wechseln, so dass sie bei hoher Aussentemperatur mitunter eine Körper- temperatur haben können, die der Temperatur der gleichwarmen Thiere gleichkommt. Diese wechselwarmen oder poikilothermen Thiere, wie z. B. die Insecten, Reptilien etc., sind bei hoher Tem- peratur des Mediums, in dem sie leben, äussert lebhaft, bewegen sich viel und zeigen überhaupt eine intensive Thätigkeit. Mit abnehmender Temperatur nimmt dagegen auch die Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen ab und bei 0 ^ bemerkt man in vielen Fällen kaum noch eine Lebens- thätigkeit in ihnen: der Energieumsatz ist fast sistirt. „Wohin man

^) Th. W. Engelmann: „Neue Methode zur Untersuchung der Sauerstoffausschei- dung pflanzlicher und thieriseher Organi.smen." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 25, 1881. Derselbe: „Die Erscheinungsweise der Sauerstoffausscheidung chromo- phyllhaltiger Zellen im Licht bei Anwendung der Bakterienmethode." In Onderz. physiol. Laborat. Utrecht, IV. Keeks, III. Deel. 1895. (Hier sind auch die anderen einschlägigen Arbeiten Engelmann's angeführt)

Von den elementaren Lebensersclieinungen. 223

blickt in das Reich der lebendigen Organismen," sagt Pflüoer^), „sieht man, wie die Intensität der Lebensvorgänge, also die Zersetzung, der Temperatur proportional wächst. Betrachte ich die lobhafte, bewegliche, flinke Eidechse im Sommer, und wie sie, wenn man sie einer Tem- peratur unter 0" aussetzt, allmählich ruhig wird und in Torpor ver- sunken einem Scheintodten gleicht, und frage ich mich, was die Ursache sei, dass das Thier in der Wärme wieder so activ wird, so sagt mir der Augenschein : weil ihren Organen Wärme zugeführt worden ist, die die Atome der Molekeln in Schwingungen versetzt und die Dissocia- tion erzeugt." Die zugeführte Wärme dient also auf diese Weise direct als eine Energiequelle für die Leistungen des Organismus.

Damit sind aber die Energiequellen des Organismus erschöpft. Die anderen Energieformen haben als Energiequellen für die Leistungen des lebendigen Organismus kaum eine Bedeutung.

C. Die Energieproduction des Organismus.

Die vielverschlungenen Wege zu übersehen, Avelche die eingeführte Energie in ihrem Wechsel durch den lebendigen Körper einschlägt, ist zur Zeit noch vollständig unmöglich. Es ist noch kaum der An- fang gemacht worden, die Umsetzungen zu erforschen, welche die ein- geführte Energie unter den verschiedenen Bedingungen erfährt, die sie in der lebendigen Substanz findet. Hier bedarf es erst einer langen Reihe eingehender Specialuntersuchungen, vor Allem einer tiefergehenden Erkenntniss der Stoffwechsel Vorgänge, ehe wir uns ein übersichtliches Bild von dem Getriebe des Energieumsatzes im Orga- nismus machen können. Gerade das Gebiet der physiologischen Energetik bietet noch reichliche und äusserst lohnende Probleme für die Zukunft, die bisher kaum beachtet worden sind. Was wir erst w^ieder mit Sicherheit kennen, das sind die Endglieder der Reihe von Umwandlungen, welche die eingeführte Energie auf ihrem Wege durch den Körper erfahren hat, das sind die äusseren Leistungen des lebendigen Organismus.

Die nach aussen hin gehende Energieentwicklung, vor Allem die Entwicklung mechanischer Energie, w^ie sie sich in den Bewegungen des lebendigen Körpers äussert, ist von allen Lebenserscheinungen nnzweifelhaft die augenfälligste, sie ist geradezu für den unbefangenen Beobachter mehr oder weniger das erste Kriterium des Lebens, und es mag damit zusammenhängen, dass die Physiologie von jeher mit Vorliebe die Bewegungserscheinungen zum Objekt ihrer Forschungen gemacht hat. Weniger in die Augen fallend, weil entweder nur wenig verbreitet oder schwer zu beobachten, ist die Production anderer Energieformen von Seiten der lebendigen Substanz , wie des Lichtes, der Wärme und der Elektricität.

1. Die Production mechanischer Energie.

Alle lebendige Substanz bewegt sich, d. h. die einzelnen Punkte ihres materiellen Systems verändern ihre Lage im Raum. Daraus resultirt je nach den speciellen Bedingungen entweder eine Ver-

1) Pflüger: .,Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organis- men." In Pflüger's Arch. Bd. 10, 1875.

224 Drittes Capitel.

Schiebung der einzelnen Theilchen bei gleichbleibender äusserer Form oder eine Veränderung der äusseren Form oder eine Ortsveränderung des Ganzen (Locomotion) oder schliesslich Mehreres gleichzeitig. Wenn aber zwar die Bewegung an sich eine allgemeine Lebenserscheinung ist, so zeigt doch nicht jede Form der lebendigen Substanz die gleiche Art der Bewegung. Die Mannigfaltigkeit der Bewegungsmodi , die sich an den verschiedenen Organismen beobachten lassen, ist sehr gross. Dennoch lassen sich alle Bewegungsmodi nach der Art ihres Zustande- kommens in einige wenige grosse Gruppen einreihen, von denen wieder nur einzelne durch ihre weite Verbreitung eine hervorragende Bedeutung besitzen. Da die Bewegung der lebendigen Substanz ihre augen- fälligste Lebenserscheinung ist und das Interesse daher am meisten auf sich lenkt, wird es gerechtfertigt sein, wenn wir uns mit den Er- scheinungen der Bewegung etwas eingehender beschäftigen.

Es ist zunächst nützlich, die verschiedenen Bewegungsmodi über- sichtlich zu unterscheiden in :

a) Passive Bewegungen,

b) Bewegungen durch Quellung der Zell wände,

c) Bewegungen durch Veränderung des Zellturgors,

d) Bewegungen durch Veränderung des specifi sehen Gewichts der Zelle,

e) Bewegungen durch Secretion von Seiten der Zelle,

f) Bewegungen durch Wachsthum der Zelle,

g) Bewegungen durch Contraction und Expansion des Zellkörpers:

Amoeboide Bewegung,

Muskelbewegung,

Flimmerbewegung.

a. Passive Bewegungen.

Bei den passiven Bewegungen liegt die Ursache der Bewegung ausserhalb des bewegten Theils. Die passiven Bewegungen in der lebendigen Substanz sind also nicht eine Lebenserscheinung der be- wegten Elemente selbst, sondern Ausdruck von Lebenserscheinungen in ihrer Umgebung. Die Bewegung der rothen Blutkörperchen, die Strömung der Blutflüssigkeit in den Blutgefässen des mensch- lichen Körpers ist eine passive, denn die Blutkörperchen und die Blut- flüssigkeit besitzen keine Eigenbewegung, sondern werden lediglich passiv durch die Thätigkeit des Herzens, das wie eine Saug- und Druckpumpe in dem mit Blut gefüllten Röhrensystem des Gefässbaumes wirkt, getrieben. Man kann diese Strömung des Blutes in den feinen Capillargefässen unter dem Mikroskop sehr schön beobachten, wenn man einen durch das amerikanische Pfeilgift „Curare" gelähmten Frosch auf eine Korkplatte bringt und über einer Oeffnung in der- selben mit Nadeln die Schwimmhaut zwischen den Zehen der hinteren Extremität ausspannt. Dann gewinnt man unter dem Mikroskop ein Bild, das jeden Beschauer mit Interesse erfüllt. Man sieht das Aveit- verzweigte Netz des Capillargefässsystems, in dem das Blut mit seinen gelb erscheinenden Blutkörperchen so langsam fliesst, dass man jedes einzelne Blutkörperchen bequem verfolgen kann, wie es sich in der klaren Blutflüssigkeit durch die feinen Canäle und Umbiegungsstellen hindurchwindet.

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

225

Schon in der einzelnen Zelle finden wir solche passiven Bewegungen. Die feinen Körnchen, die im Protoplasma der nackten Rhizopoden- zellen eingebettet liegen, zeigen besonders auf den langen, fadenförmigen Pseudopodien der Meeresrhizopoden eine strömende Bewegung, die sogenannte „Körnchenströmung", die einen ähnlich fesselnden Anblick gewährt, wie die Strö- mung des Blutes in den Capillar- gefässen, und nur viel langsamer erfolgt. Wie die Spaziergänger auf einer Strasse oder wie die Ameisen auf ihren langen selbst- angelegten Wegen ziehen die Körnchen dahin, bald in centrifu- galer, bald in centripetaler Rich- tung, bald stillstehend, bald um- kehrend , bald weiter fortschrei- tend. Diese Körnchenströnmng kommt nicht zu Stande durch actives Vorwärtsrücken der Körn- chen selbst, sondern durch pas- sives Mitgeschlepptwerden von Seiten der flüssigen protoplasma- tischen Grundsubstanz in der sie

Fig.

Capillarkreislauf in der

eingebettet liegen, und die selbst Schwimmhaut des Frosches. Aus stets in activ fliessender Bewe- Ranke.

gung begriffen ist.

Eine ebenfalls sehr interessante Form der passiven Bewegungen, die in der lebendigen Zelle vorkommen, ist die sogenannte Brown- sche Molekularbewegung. Im Süsswasser lebt eine kleine, einzellige, grüne Alge von zierlicher Mondsichelform, das Closte- rium (Fig. 87 /). Diese Alge hat in ihrem Protoplasma an beiden Enden des sichelförmigen Körpers je eine Flüssigkeitsvacuole, in

II

^ ' °0

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Fig. 87. BRowN'sche Molekularbewegung. I Closterium nach Stkäsbdkgee. In den an beiden Enden befindlichen Vacuolen K des sichelförmigen Zellkörpers sind zahlreiche Körnchen in lebhafter Molekularbewegung. //Sogenanntes Speichel- körperchen, ein abgestorbener und kugelig zusammengezogener Leukocyt aus dem Speichel des Menschen, in dessen gequollenem Inhalt die Körnchen in tanzender Be- wegung begriffen sind. /// Gypskryställchen aus den Kalksäcken des Frosches.

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 15

226 Drittes Capitel.

welcher in der Regel einzelne feine Körnchen liegen, die Brown'- sche Bewegung zeigen. Die Körnchen sind nämlich, wie man bei stärkerer Vergrösserung sieht, in einem fortwährenden feinen Zitter- tanz um einander herum begriffen, aber ohne grosse Ortsbewegungen zu machen. Der Tanz geht unermüdlich fort und rindet nie ein Ende. Das ist ein lebendiges Object, an dem diese eigenthüm- liche Bewegung zu sehen ist. Viel öfter beobachtet man sie aber in abgestorbenen Zellen, und lange bekannt sind sie in den sogenannten Speichelkörperchen des Mundspeichels , die weiter nichts sind, als abgestorbene Leukocyten (weisse Blutkörperchen). Diese todten Leukocyten sind durch Wasseraufnahme zur Kugelform auf- gequollen und besitzen einen Zellkern, den ein körniges Protoplasma umgiebt (Fig. 87 II). Die Körnchen dieses aufgequollenen Proto- plasmas zeigen bei starker Vergrösserung deutlich Molekularbewegung. Dass die BROWN'sche Molekularbewegung keine ausschliesslich im lebendigen Organismus vorkommende Bewegungserscheinung ist, geht übrigens aus der Thatsache hervor, dass alle leichten mikro- skopischen Körnchen irgendwelcher Art, wenn sie in Wasser oder einer andren leicht beweglichen Flüssigkeit suspendirt sind, diese seltsame Bewegung zeigen. Eines der schönsten leblosen Objecte, die im Organismus vorkommen, sind in dieser Hinsicht die feinen Gyps- kryställchen (Fig. 87 ///) aus den Kalksäckchen , welche in der Leibeshöhle der Frösche zu beiden Seiten der Wirbelsäule zwischen je zwei Wirbelfortsätzen liegen. Bringt man etwas von ihrer weissen Substanz in einen Tropfen Wasser und betrachtet diesen unter einem Deckglas mit dem Mikroskop bei starker Vergrösserung, so hat man, besonders an den kleineren Kryställchen , den wunderbaren Anblick des rastlosen Zittertanzes lebloser Krystalle in anmuthigster Form '). Als der englische Botaniker Brown im Jahre 1827 solche eigenthüm- lichen Bewegungen in Pflanzenzellen entdeckte , glaubte man , darin eine active Bewegung der feinen Körnchen selbst ei*blicken zu müssen, die aus den Schwingungen ihrer Moleküle resultirte, und nannte sie deshalb „Molekularbewegung". Allein nach unseren modernen An- schauungen ist diese Auffassung als unhaltbar fallen gelassen worden, und man war lange Zeit im Umklaren über die Deutung dieser räthsel- haften Erscheinung, bis 186--5 Wiener^) und bald darauf Exner ihre physikalischen Bedingungen sehr sorgfältig studirten und eine Erklärung dafür fanden, die mit unseren jetzigen Auffassungen von dem mole- kularen Zustande der Flüssigkeiten im besten Einklang steht. Ja, das Verhalten der Moleküle einer Flüssigkeit fordert sogar geradezu derartige Bewegungserscheinungen von kleinen leichten Partikelchen, die in ihr suspendirt sind. Bekanntlich stellen wir uns vor, dass die Moleküle in einer Flüssigkeit in fortwährender Bewegung sind und durcheinanderwimmeln, indem sie aneinanderpralien, sich abstossen, nach anderer Richtung sich bewegen, wieder anstossen etc. Diese Bewegung der Moleküle können wir selbst mit den stärksten Ver- grösserungen nicht sehen, denn die Flüssigkeiten erscheinen uns homogen, weil ihre Moleküle zu klein sind, um selbst mikroskopisch wahrgenommen werden zu können. Dagegen können wir den Erfolg

^) Vergl. pag. 5.

2) WiiiNER: „Erklärung des atomistischen Wesens des tropfbar-flüssigen Körper- zustandes" etc In Pogo'endorfi''s Annalen Bd. 118. 1863.

Von den elementaren Lebenserscheinungeu. 227

ihrer Bewegung an kleinen, leichten Körnchen erkennen, die in der Flüssigkeit schwel)en, und die, wenn die Moleküle die angegebene Bewegungsart besitzen, von ihnen fortwährend gestossen werden müssen, so dass sie bei ihrer leichten Beweglichkeit in ein zitterndes Tanzen gerathen. Die sogenannte BnowN'sche Molekularbewegung kleiner Körnchen ist also eine rein passive Bewegung, die hervorgebracht wird durch die fortwährenden kleinen Stösse, welche die anprallenden Flüssigkeitsmoleküle auf sie ausüben. Einen treffenden Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung liefert die Thatsache, dass die BRowN'sche Bewegung mit zunehmender Temperatur der Flüssigkeit an Intensität gewinnt. Das ist vorauszusagen, da wir wissen, dass die Bewegung der Moleküle einer Flüssigkeit um so intensiver wird, je mehr die Temperatur steigt, bis sie schliesslich so mächtig wird, dass die einzelnen Moleküle heftig auseinanderstieben, d. h. bis die Flüssigkeit verdampft.

b. Bewegungen durch Quellung der Zellwände.

In den Bewegungen, welche durch Quellung der Zellwände zu Stande kommen, haben wir eine Bewegungsform, welche uns überführt von den passiven Bewegungen zu allen folgenden, die nur auf activer Thätigkeit der lebendigen Substanz beruhen. Bekanntlich beruht die Erscheinung der Quellung darauf, dass sich zwischen die Moleküle eines trockenen, quellbaren Körpers, der in eine feuchte Umgebung gebracht Avird , Wassermoleküle lagern , welche durch Molekular- attraction von den Molekülen des Körpers so stark angezogen werden, dass sie seine Moleküle selbst mit grosser Kraft auseinanderdrängen, wodurch das Volumen des Körpers bedeutend vergrössert wird. Kommt der gequollene Körper wieder in wasserfreie Umgebung, etwa in trockene, warme Luft, so giebt er allmählich wieder sein Quellungs- wasser ab, vermindert im selben Maasse sein Volumen und schrumpft ein, um bei neuer Anfeuchtung von Neuem zu quellen. Die Quell- barkeit ist besonders bei organischen Producten des Stoffwechsels der Pflanzen verbreitet, vor Allem bei den Cellulosewänden der Pflanzen- zellen. Sie ist durchaus nicht an das Leben der Pflanzenzelle ge- bunden, sondern besteht an den Cellulosegebilden der todten Zellen unbegrenzt lange fort in derselben Weise wie an den Cellulosewänden der lebendigen Zellen. Damit eine einseitig gerichtete Bewegung durch die Volumenzunahme bei der Quellung oder durch die Volumenabnahme beim Austrocknen an irgend einem quellbaren Object, etwa einem Blatt- stiel oder einer Membran, zu Stande kommen kann, müssen die einzelnen Seiten derselben verschieden quellbar sein, es muss die eine Seite stark quellen, während die andere nur schwach quillt oder gar nicht. Wären alle Theile gleich stark quellbar, dann würde nur eine gleich- massige Vergrösserung nach allen Seiten eintreten. Quillt dagegen bei einem langgestreckten Gebilde eine Seite stärker als die ihr gegenüberliegende, so dehnt sich die erstere aus, während die letztere kürzer bleibt, und die Folge ist eine Biegung des ganzen Gebildes, die, je nachdem die Quellung schnell oder langsam eintritt, plötzlich oder allmählich erfolgt.

Charakteristische Objecte für die Beobachtung der Quellungs- bewegungen sind die bekannten , neuerdings häuflg aus den amerika- nischen Wüsten nach Europa kommenden „Auferstehungspflanzen"

15*

228

Drittes Capitel.

(Selaginella lepidophy IIa), die in der Trockenheit ihre Blatt- stiele faustartig zusammenlegen, angefeuchtet sie wieder handtellerartig nach aussen biegen, indem die Blattstiele auf ihrer Innenseite stark quellen. Ganz ebenso verhalten sich die allbekannten „Rosen von Jericho", die nichts Anderes sind, als die todten, ausgetrockneten Zweige einer in den arabischen Wüsten wachsenden Crucifere (Ana- statica). Das Ausbreiten der getrockneten Zweige, wenn man sie in Wasser steckt, hat beim Volke den Glauben hervorgerufen, dass die „Rose von Jericho" zu neuem Leben wieder aufersteht, während es sich in Wirklichkeit nur um Quellungsbewegungen der todten Zweige handelt. Die Selaginella dagegen ist eine wirkliche „Auf- erstehungspflanze", insofern sie, völlig eingetrocknet, Jahre lang liegen

Fig. 88. Storchschnabelsamen (Erodium cicutarium), a in getrocknetem,

b in gequollenem Zustande.

kann, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüssen. Sehr anschaulich zeigen auch die Samen mancher Storchschnabelarten die Erscheinung der Quellungsbewegungen. Erodium cicutarium hat Samen, die mit einem langen, von Härchen besetzten Stiel versehen sind, der in der Trockenheit korkzieherförmig zu einer schönen Spirale aufgerollt ist (Fig. 88 a) , angefeuchtet aber sich gerade streckt , indem sich eine Windung nach der andern durch Quellung und Streckung der Innen- seite auseinanderrollt (Fig. 88 &).

Sehr interessant und durch die Schnelligkeit ihres Verlaufs ge- radezu frappirend sind die Quellungsbewegungen der sogenannten „Elateren" an den Sporen der Schachtelhalme. Die reifen Sporen der Schachtelhalme sind runde Zellen, die von einer Cellulosemembran umgeben sind. Diese Cellulosemembran ist durch zwei Risse, die in einer Spirale von oben nach unten um die ganze Kugel herum ver-

Von den elementaren Lubenserscheinungen.

229

Fig. 89. Spore eines Schachtelhalms. «Die

Elaterenbänder sind in feuchtem Zustande um die

Sporenzelle herumgelegt ; b die Elaterenbänder sind

in trockenem Zustande auseinander geschnellt.

laufen, in zwei Cellulosebänder, die „Elateren" , gespalten (Fig. 89), die an einer Stelle im Aequator der Kugel untereinander und an der Spore selbst befestigt sind. Bringt man die Sporen etwas angefeuchtet unter das Mikroskop, so sind die beiden Elaterenbänder zu zwei parallelen Spi- ralen zusammengelegt und bilden eine ge- schlossene Kapsel um die Spore (Fig. 89 a), Lässt man sie aber eintrock- nen, so strecken sich die beiden Spiralen zu graden Bändern aus (Fig. 89&), indem die äussere Seite der Bänder durch Wasserabgabe eintrocknet und sich ver- kürzt. Haucht man sie in diesem ausgestreckten Zu- stande an, während man gleichzeitig durch das Mi- kroskop sieht, so beobachtet man, dass sie fast blitz- schnell sich wieder zu Spi- ralen um die Spore zusammenlegen, indem sich die äussere Fläche durch Quellung ausdehnt. Im Moment, wo die Feuchtigkeit des Hauches verfliegt, breiten sich dann ebenso schnell die Bänder wieder aus, und man kann den Versuch , wie alle Quellungsversuche , beliebig oft wiederholen.

Die Quellungsbewegungen sind im Pflanzenreich ungemein weit verbreitet und spielen zum Theil eine grosse Rolle im Leben der Pflanze. Welche gewaltigen Energiewerthe durch Quell ung erzeugt werden, geht schon allein daraus hervor, dass z. B. mit quellenden Holzkeilen grosse Steine gespalten werden können.

c Bewegungen durch Veränderung des Zellturgors.

Mit den Bewegungen, die durch Veränderung des Zellturgors ent- stehen, treten wir in den Bereich derjenigen Bewegungserscheinungen ein, die unbedingt das intacte Leben des Objects voraussetzen, an dem sie auftreten. Mit dem Tode ihres Substrats erlöschen diese Be- wegungsformen. Auch die Turgescenzbewegungen sind hauptsächlich im Pflanzenreich verbreitet, und es ist daher nöthig, dass wir uns an einige EigenthUmlichkeiten der Pflanzenzelle erinnern.

Bekanntlich stellt die Pflanzenzelle eine cylindrische Kapsel vor, deren Wände von einer elastischen Cellulosemembran gebildet werden. Die Innenfläche der Cellulosekapsel ist mit einer dünnen, aber con- tinuirlichen Protoplasmaschicht, dem sogenannten „Primordialschlauch", überzogen, der wie ein Sack oder eine Blase eine Flüssigkeit, den „Zellsaft", umschliesst (Fig. 90) und in der Regel einzelne Stränge von Protoplasma quer- und längsverzweigt mitten durch diese grosse Zellsaftvacuole hindurchsendet (auf der umstehenden Figur fehlen solche Protoplasmastränge). Im Zellsaft gelöst sind verschiedene chemische Stofi'e, die durch die Lebensthätigkeit der Zelle producirt worden sind. Für diese Stofi'e ist das Protoplasma im gewöhnlichen ungestörten Zustande undurchlässig; sie können also nicht von innen nach aussen durch den Primordialschlauch difi'undiren. Ebenso aber

230 Drittes Capitel.

ist das Protoplasma auch undurchlässig für viele Stoffe, die im Wasser ausserhalb der Zelle gelöst sind, die in Folge dessen nicht in die Zelle hineindiffundiren können. Nun ist es bekannt, dass solche löslichen Stoffe, wie etwa Salze, Zucker etc. Wasser durch Molekularattraction anziehen , indem jedes Molekül eine Anzahl Wassermoleküle an sich fesselt. Man sagt, die Salzmoleküle etc. sind „osmotisch" wirksam. Wie VAN t'Hoff durch seine klassischen Untersuchungen in letzter Zeit gezeigt hat, ist nun die osmotische Druckwirkung proportional der Anzahl der Moleküle, welche in der Volumeneinheit gelöst sind. Wenn wir daher innerhalb des Zellsaftes viel osmotisch wirksame Stoffe aufgespeichert haben und ausserhalb der Zelle im Wasser weniger, und wenn die Wand des Primordialschlauchs für diese gelösten Stoffe undurchlässig ist, so kann ein Ausgleich durch Diffusion nicht statt- finden, sondern es muss , da der Primordialschlauch das reine Wasser ungehindert hindurchtreten lässt, Wasser von den osmotisch wirksamen Stoffen im Zellsaft nach innen gezogen und hier festgehalten werden, so dass es nicht wieder heraus kann. Die Folge davon ist, dass der Druck im Primordialschlauch immer stärker wird, je mehr osmotisch wirksame Stoffe sich im Zellsaft lösen, d. h. je mehr die Concentration des Zellsaftes steigt. Der Primordialschlauch der Zelle muss daher von innen nach aussen gedehnt werden, und diese Spannung, Avelcher der Primordialschlauch von innen her ausgesetzt ist und die auch die elastische Cellulosewand der Zelle ausdehnt, ist der „Turgor" der Zelle. Es liegt auf der Hand, dass der Turgor um so grösser werden, dass die Zelle sich also um so mehr ausdehnen muss, je mehr osmotisch wirksame Stoffe sich im Zellsaft anhäufen und je weniger osmotisch wirksame Stoffe sich im umgebenden Medium befinden.

Nach dieser kurzen Betrachtung ist es klar, dass der Turgor der Zelle auf verschiedene Weisen verändert werden kann. Erstens näm- lich kann das Mengenverhältniss der osmotisch wirksamen Stoffe inner- halb und ausserhalb der Zelle sich ändern, indem die Concentration aussen oder innen gesteigert oder herabgesetzt wird. Führt man z. B. dem umgebenden Medium mehr und mehr gelöste Stoffe zu, so wird immer mehr Wasser von innen nach aussen gezogen und der Turgor sinkt. Man hat diese Erscheinung wenig zutreffend als „Plasmolyse" bezeichnet. Ferner aber kann der Turgor auch sich ändern , indem die Wand des Primordialschlauchs aus irgend einem Grunde durch- lässig für die gelösten Stoffe des Zellsafts wird. Dann muss ein Aus- gleich durch Diffusion eintreten, und die Spannung, unter der die Zellwand stand, fällt weg. Schliesslich aber wird auch eine Turgor- veränderung eintreten , wenn die Spannung des Primordialschlauchs durch active Veränderungen seines Protoplasmas sinkt oder steigt. Contrahirt sich z. B. das Protoplasma des Primordialschlauchs, so wird seine Contraction den ihr bisher entgegenwirkenden osmotischen Druck zum Theil oder ganz überwinden , und die Folge wird sein, dass entsprechend viel Wasser aus dem Zellsaft durch den Primordial- schlauch nach aussen hindurchgepresst Avird, ohne dass indessen die osmotisch wirksamen Stoffe mit hindurchtreten können. Lässt die Contraction des Primordialschlauchs wieder nach , so werden die osmotisch wirkenden Stoffe des Zellsaftes wieder mehr Wassermoleküle fesseln können, und der Turgor wird wieder grösser werden.

Gehen wir auf die Folge der Herabsetzung des Turgors ein, so muss diese in allen Fällen die gleiche sein: der Primordialschlauch^

Von den elementareu LebenserscheiDungen.

231

der vorher durch die Spannung von innen her stark ausgedehnt war, wird zusammensinken, und sein Umfang wird immer kleiner werden (Fig. 90). Was für uns aber noch wichtiger ist, das ist das Kleiner- werden der ganzen Zelle bei Abnahme des Turgors, denn in demselben Maasse wie die Spannung des Primordialschlauclis nachlässt, entspannt sich auch die elastische Cellulosehülle und nimmt in Folge ihrer Elasticität schliesslich einen Umfang an, wie er ihrem vollkommenen Entspannungszustaude entspricht (Fig. 89 B, C, D).

Bei den Ptianzenbowegungen, die hier in Betracht kommen, findet nun ausschliesslich dadurch eine Veränderung des Turgors statt, dass der Priniordialschlauch bestimmter Zellen aus irgend einem Grunde, sei es spontan, sei es durch Reizung, sich contrahirt, in der Weise, dass Wasser aus der Zelle ausgepresst wird, ein Vorgang, der nach

Fig. 90. Schema des Z e 1 1 1 u r g o r s einer P f 1 a n z e n z e 1 1 e. /* Zellmembran, P Primordialschlauch, k Zellkern, c Chlorophyllkörper, s Zellsaft, e eindringende Salz- lösung. Bei A Zelle in voller Turgescenz, der Primordialschlauch liegt der Zellmembran fest an. Bei B hat der Turgor in Folge einwirkender Salzlösung abgenommen, die Zelle ist kleiner geworden, aber der Primordialschlauch liegt der Zellmembran noch an. Bei C ist der Turgor noch geringer geworden, der Primordialschlauch beginnt sich von der Zellhaut, die ihre geringste Grösse erreicht hat, abzuheben. Bei JJ hat der Pri- mordialschlauch sich vollständig zusammengezogen, weil die osmotische Wirkung der von Aussen her einwirkenden Salzlösung e sehr hohe Werthe erreicht hat. Nach

De Vries.

einiger Zeit wieder aufhört, so dass der Turgor dann in demselben Maasse, wie die Contraction nachlässt, von Neuem steigt. So tritt also unter gewissen Umständen eine plötzliche Verminderung des Turgors vind damit eine Verkleinerung der Zelle ein, und erst allmählich stellt sich der frühere Zustand wieder her.

Damit auf diesem Princip basirend, an einer Pflanze eine makro- skopische Bewegung zu Stande kommen kann, müssen die Zellen, welche die Turgescenzveränderung erfahren, in bestimmter Weise angeordnet sein. Stellen wir uns vor, wir hätten schematisch zwei parallel aneinander gelagerte Reihen von Zellen, von denen die eine plötzlich den Turgor ihrer Zellen verringert, so dass die Zellen kleiner werden, während die Zellen der andern Reihe ihren Turgor un- verändert beibehalten, so ist die Folge, dass sich die erstere Reihe verkürzen muss. Dadurch kommt nach einfachen mechanischen

232

Drittes Capitel.

Principien eine Krümmung zu Stande, die ihre Concavität an der ver- kürzten Seite hat. Die andere Seite ist dabei passiv etwas gedehnt

worden. Findet daher später wieder ^"> Yrfifi^ ®^^® allmähliche Steigerung des Tur- ^^^{\ll>;!'^Nv' gors und eine Wiederverlängerung der

>.,_ Zellen auf der verkürzten Seite statt,

Fig. 91. Miraosa pudica. J Ganze Pflanze A in Tagstellung, B in Nachtstellung.

II A Ein Zweig in ungestörtem Zustande (= Tagstellung), B ein Zweig desselben

Stengels in gereiztem Zustande (= Nachtstellung). II Nach Detmek.

SO wird die Elasticität der andern Seite die Wiederstreckung wirksam mit unterstützen.

Solche Turgescenzverminderung tritt nun bei vielen Pflanzen,

\'oii den elementaren Lebenserscheinungen. 233

sowohl spontan als auch durch Erschütterungen etc. hervorgerufen, oft sehr plötzlich ein, und die Folge davon ist eine plötzliche Bewegung gewisser Pflanzentheilc. Dabei ist in den meisten Fällen die Anordnung und Gestalt der Zellen, welche durch Veränderung ihres Turgors die Bewegung hervorrufen, eine .sehr comjjlicirte. Es sind in der Kegel an der Basis der beweglichen Blätter oder Blattstiele kleine Knötchen oder „Polster" entwickelt, deren Zellen ihren Turgor sehr schnell herabsetzen können. Eins der bekanntesten Beispiele dieser Art ist die Bewegung der Blattstiele bei der „sensitiven" Mimosa pudica, die im „wachen" Zustande, d. h. am Tage, ihre Blattstiele aufgerichtet und ihre Blättchen ausgebreitet (Fig. 91 I A und IIA), im „Schlaf- zustande", d. h. Nachts, aber die Blattstiele gesenkt und die Blättchen nach oben zusammengefjiltet hält (Fig. 91 I IJ und IIB). Erschüttert man eine Mimose im Avachen Zustande stark, so tritt bei Tage die Nachtstellung ganz plötzlich ein.

Auf demselben Princip beruhen die zahlreichen anderen Be- wegungen der „sensitiven" Pflanzen, wie der Blätter des Klees, der Staubfäden der Berberitze, der insektenfangenden Organe der „fleisch- fressenden" Pflanzen u. a. m.

d. Bewegungen durcli Veränderung des specifischen Gewichts.

Es giebt unter den wunderbaren, meist glasartig durchsichtigen Thierformen, welche eine pelagische Lebensweise in den oberen Schichten der Meere führen und in neuerer Zeit als „Plankton" Object eingehender Forschung geworden sind, eine ganze Reihe, die mit der merkwürdigen Fähigkeit begabt sind, ohne Gebrauch irgend welcher Locomotionsorgane im Meere langsam in die Höhe zu steigen oder in die Tiefe zu sinken. Es sind besonders die Gruppen der Radiolarien, Ctenophoren und Sipho n ophoren. Auch unter den einzelligen Organismen des süssen Wassers besitzen einige wie Actinosphaerium diese Fähigkeit. Da sich jede äussere Ursache, etwa Strömungen des Wassers etc., für dieses geheimnissvolle Schweben ausschliessen lässt, und da eine Bewegung von besonderen Organen am Körper nicht daran betheiligt ist, so kann diese Erscheinung nur auf Veränderungen des speciflschen Gewichts beruhen, und das ist in der That auch nachgewiesen worden.

Wie wir bereits früher gesehen haben, ist das Protoplasma der Zellen an sich stets etwas schwerer als Wasser^). Es kann also eine Zelle, die am Boden liegt, sich nur erheben, wenn im Pro toplasma S toff e auftreten, und angehäuft werden , die specifisch leichter sind, als Wasser.

Es ist bekannt, dass gewisse Rhizopoden des Süsswassers, be- sonders die mit zierlichem Gehäuse versehenen Are eilen und Difflugien, welche für gewöhnlich am Boden der Pfützen und Teiche zwischen Schlammtheilchen und faulen Blättern umherkriechen und specifisch schwerer sind als Wasser, sich activ erheben können, indem sie eine Kohlensäureblase in ihrem Protoplasmakörper entwickeln, und, wenn sie gross genug geworden ist, wie ein kleiner Luftballon an die Oberfläche steigen, eine Thatsache, die Engelmanx-) zuerst

M Vergl. pag. 100.

^) ExGELMAsx: „Beiträge zur Physiologie des Protoplasmas.'' In Pflüger's Arch. Bd. 2. 1869.

234

Drittes Capitel.

genauer untersucht hat. Man kann bisweilen in einem Culturgefäss, wenn bestimmte Bedingungen die Entwicklung einer Kohlensäureblase im Protoplasma der Difflugien begünstigen, ein epidemisches Auf- steigen der Individuen vom Boden nach der Oberfläche beobachten. Wird die Kohlensäure dann durch DiÖusion wieder abgegeben, so sinken die Difflugien wieder zu Boden. Dadurch kann in der Natur ein ganz beträchtlicher Standortwechsel entstehen, der, wenn die Protisten einmal unter ungünstige Lebensbedingungen gerathen sind, unter Umständen grossen Xützlichkeitswerth für sie gewinnen kann. Auf analoge Weise kommt das Steigen und Sinken der Piadiolarien und aller ^Wahrscheinlichkeit nach auch der Ctenophoren und mancher anderen pelagischen Thiere zu Stande. Thalassicolla nucleata

z. B. ist ein grosses kugelrundes Padiolar von 3 4 mm Grösse, das eine einzige Zelle repräsen- tirt, deren Kern, von Protoplasma umgeben, in einer runden „Cen- tralkapsel" gelegen ist (Fig. 92). Das gesammte extracapsuläre Protoplasma ist von unzähligen Vacuolen durchsetzt, so dass es wie eine Schaummasse erscheint, die nach aussen hin durch eine solide Gallertschicht vom Meer- wasser abgegrenzt ist. Diese Va- cuolenschicht ist dasjenige Ele- ment der ganzen Zelle, welches specitisch leichter ist, als das Meerwasser, und die ungestörte Thalassicolla an der Ober- fläche des Meeres schwebend er- hält ^). Man kann sich davon durch vivisectorische Ausschal- tung der einzelnen Bestandtheile der Thalassi CO Uenzelle, also durch Abtragung der Gallert- schicht, durch Isolirung der Va- cuolenschicht und Exstirpation der Centralkapsel mit ihrem In- halt leicht überzeugen. Alle Bestandtheile sinken isolirt stets im Meerwasser zu Boden; nur die Vacuolenmasse bleiljt an der Ober- fläche schweben und kehrt beim Untertauchen immer hierher zurück ^). Dem entsprechend beginnt die ganze Thalassicolla, sobald die Vacuolenschicht durch Zerplatzen der Vacuolen zusammenschmilzt, wie das in Folge von Reizung, in der Natur speciell von heftigem Wellenschlag, stattfindet, zu sinken. Dann fällt die Zelle in ruhigere Tiefen und ist so vor gänzlicher Zerstörung geschützt, denn die Vacuolenschicht kann sich wieder regeneriren, und indem sie an

Fig. 92. Thalassicolla nucleata, eine kugelförmige Radiolarienzelle im Querschnitt. In der Mitte der von schwarzem Pigment umgebenen Centralkapsel liegt der hläscheu- formige Zellkern. Die Centralkapsel ist umgeben von der Vacuolenschicht, die von einer Gallertzone eingehüllt wird und durch die letztere hindurch sonueustrahlenartig fadenförmige Pseudopodien entsendet.

*) K. Brandt: „Die coloniebildenden Radiolarien des Golfes von Neapel" etc. Herausgegeben von der zoologischen Station zu Neapel. Berlin 1885.

2) Vkrworx: „lieber die Fähigkeit der Zelle, activ ihr specifisches Gewicht zu verändern.'^ In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 53. 1892.

Von den elementaren Lebensersclieinnngen. 235

Volumen zunimmt, steigt die Tlialassicolla bei ruhigem Wetter aus ilirer sicheren Tiefe wieder in die sonnige llölie. Die grosse Be- deutung dieser Bewegungsart für das Leben der pelagischen Organismen liegt hiernach auf der Hand.

Es fragt sich aber nunmehr, wodurcli der Inhalt der Vacuolen specifisch leichter wird, als das umgebende Meerwasser. Die Ursache für die Entstehung der Vacuolen, deren Neubildung man an jeder isolirten Centralkapsel leicht beobachten kann, liegt, wie wir wissen, darin, dass sich im Protoplasma zerstreut osmotisch wirksame Stoffe anhäufen , welche bewirken , dass Wasser von aussen her zu ihnen durch das Proto])lasma hereintritt. In demselben Maasse wie die Bildung und Concentration der osmotisch wirksamen Stoffe im Proto- plasma zunimmt, wird die Grösse der Vacuole wachsen, denn es muss stets ein Ausgleich des osmotischen Drucks zwischen der Vacuolen- fiüssigkeit und dem umgebenden Meerwasser stattfinden, d. h. die Vacuolenflüssigkeit muss stets dieselbe Anzahl von Molekülen in sich gelöst enthalten wie das Meerwasser. Wir werden aber annehmen müssen, dass in der Vacuolenflüssigkeit, wenn auch die gleiche Anzahl von Älolekülen, so doch Moleküle anderer Stoffe gelöst sind, als im Meerwasser. Wenn wir uns daher vorstellen, dass ein Theil der in der Vacuolenflüssigkeit gelösten Stoffe ein sehr geringes specifisches Gewicht hat, so wird es verständlich, wie der Vacuoleninhalt im Ganzen auch specifisch leichter sein kann, als das umgebende Meerwasser. In der That hat es K. Brandt ^) vor Kurzem höchst Avahrscheinlich gemacht, dass es auch hier die vom Protoplasma producirte Kohlensäure ist, welche, in der Vacuolenflüssigkeit gelöst, das specifische Gewicht derselben unter das des Meerwassers herabdrUckt. Ist daher die Vacuolenschicht bis zu einem gewissen Grade entwickelt, so wird auch das speciflsche Gewicht der ganzen Radiolarienzelle geringer sein, als das des Meer- wassers, d. h. die Radiolarienzelle wird an der Oberfläche schweben. Wird die Masse der Vacuolenschicht durch Zerplatzen der Vacuolen verringert, oder wird die Production der Kohlensäure in der Kälte, wo der Stoffwechsel auf ein Minimum herabsinkt, stark vermindert, so werden die Radiolarien unter Umständen wieder in die Tiefe sinken.

e. Bewegungen durch Secretion.

Die Bewegungen, Avelehe durch Secretion von Seiten der Zelle zu Stande kommen , sind auf wenige Organismengruppen beschränkt, besonders auf die Algengruppen der Desmidiaceen und 0 Scil- la rien. Das Princip dieses Bewegungsmodus ist überaus einfach. Es besteht lediglich darin, dass eine auf einer Unterlage aufliegende Zelle an einer bestimmten Stelle ihrer Oberfläche, und nach einer be- stimmten Richtung hin eine Secretmasse, meist schleimiger Natur, hervor- quellen lässt, die an der Unterlage festklebt, so dass sich der beweg- liche Zellkörper dadurch nach einer bestimmten Richtung hin vor- wärtsstösst, wie der Fischer sein Boot mit einer Stange vom Grunde abstösst. Dauert die Secretion continuirlich an, so gleitet die Zelle langsam auf der Unterlage dahin.

In dieser Weise bewegen sich z. B. die Desmidiaceen. Das mond- sichelförmige Closterium (Fig. 98), das wir schon bei der Betrach-

^) K. Brandt: „Biologische und faunistische Untersuchungen an Eadiolarien und anderen pelagischen Thieren." In Zoolog. Jahrbücher Bd. IX.

236

Drittes Capitel.

tung der BEOWN'schen Molekularbewegung kennen lernten, secernirt an den beiden Enden seines einzelligen Körpers einen schleimigen Stoff. Während es dabei mit dem einen Ende an der Unterlage haftet, schwebt das andere Ende frei pendelnd im Wasser, so dass der ganze Zellkörper unter einem bestimmten Winkel schräg von der Unterlage nach oben aufgerichtet steht. Mit dem anhaftenden Ende schiebt sich das Closterium, wieKLEBS^) und Aderhold ^) gezeigt haben, durch Ausscheidung einer schleimigen Secretmasse langsam vorwärts (Fig. 93), indem es seinen Neigungswinkel zur Unterlage im Wesentlichen bei- behält. Ab und zu aber wechselt es beim Vorwärtsgleiten mit seinen beiden Polen ab, indem der freipendelnde Pol sich senkt, anheftet und secernirt, während der vorher anhaftende Pol sich erhebt und frei pendelt. So rückt die Alge allmählich auf ihrer Unterlage vorwärts.

Ueber die Bewegung der Diatomeen, jener kleinen, braunen, Schiffchen- oder |

stäbchenförmigen Algen, die mit einer ^ | ^

äusserst zierlichen Kieselschale versehen .•

und im Süss- und Seewasser in ungeheurer i

Formenzahl verbreitet sind, ist bereits eine ?1

kaum noch übersehbare Litteratur entstan- |f

den. Man sieht diese einzelligen Wesen, |

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il

Fig. 93. Closterium, eine Desmidiacee, die sich durch Secretion von Schleim auf der Unterlage fortschiebt. Das nicht secemirende

Ende pendelt frei im Wasser.

Fig. 94. Diatomee mit ausgestossenen Schleira- fädchen. Nach Bütschli.

Fig. 94.

wenn man sie in einem Wassertropfen auf einem Objectträger be- obachtet, in der Richtung ihrer Längsaxe manchmal langsamer, manch- mal schneller auf ihrer Unterlage in eigenthümlich zögernder Weise vorwärtsgleiten und dann bisweilen wieder mit dem entgegengesetzten Pol voran nach entgegengesetzter Richtung zurückgehen, ohne dass es gelingt, irgend welche Bewegungsorgane an dem Körper zu ent- decken. Die zalillosen Forscher, die, wie Max Schultze, Engelmann U.A., sich mit dieser anmuthigen Bewegungserscheinung beschäftigt haben, sind zu den auseinanderweichendsten Ansichten über ihre Entstehung gekommen. Neuerdings schien es nach den Arbeiten von Bütschli^)

1) G. Klebs: „lieber Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen." In Biol. Centralbl. Bd. V, Nr. 12.

2) Adkrhold: „Beitrag zur Kenntniss richtender Kräfte bei der Bewegung niederer Organismen." In Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch. Bd. XV, N. F. 1888.

3) Bütschli: „Die Bewegung der Diatomeen." In Verhandl. d. naturhistor.-med. Vereins zu Heidelberg. N. F. IV. Bd., 5. Heft. 1892.

Von (Ion elementaren Lebenserscheiniingen. 237

und Lauterborn M , als ob sie. ebentulls auf dem gleichen Princip der Ausstossung eines schleimigen Secrets beruhte. In der That gelang es BüTSCHLi und Lauterborn, zu zeigen, dass gewisse Diatomeenformen von einer Gallerthülle umgeben sind und eigenthümliche Secretfaden aus- stossen, die durch anhaftende Tuschekiirnchen sichtbar gemacht werden können (Fig. 94). Allein die sehr eingehenden Untersuchungen von O. Müller-) in der letzten Zeit haben ergeben, dass diese Fäden jedenfiills nur eine untergeordnete Bedeutung für die Fortbewegung der Diatomeen haben, und dass der Bewegungsmodus dieser kleinen Algenzellen ein viel complicirterer sein dürfte, der sich möglicherweise mehr der Bewegung durch Protoplasmaströmung anschliesst.

Von den langen fadenförmigen Oscillarien, die aus vielen, in einer Reihe hintereinander angeordneten Zellen bestehen, und die als blaugrüne Fäden in gleicher Weise langsam im Wasser kriechen, wie die Diatomeen, scheint es indessen, dass sie sich wirklich durch Aus- scheidung eines Secrets auf der Unterlage vorwärts schieben, und von den Gregarinen (Fig. 22 & pag. 83), jenen parasitär lebenden ein- zelligen Organismen , die ebenfalls ohne besondere Bewegungsorgane sehr langsam gleitende Bewegungen ausführen, hat Schewiakoff in neuerer Zeit das Gleiche gezeigt.

f. Bewegungen durch "Wachsthum.

Die Bewegungen , Avelche mit dem Wachsthum der Zellen ver- bunden sind, brauchen wir nur kurz zu berühren, denn ihr Princip bedarf weiter keiner Erläuterung. Mit jedem Wachsthum gehen Be- wegungen einher, denn indem eine Zelle an Volumen zunimmt, dehnt sie sich aus. Die Wachsthumsbewegungen sind also aller lebendigen Substanz eigen , aber sie verlaufen fast immer so langsam , dass man sie mit den Augen kaum verfolgen kann. Vergleicht man dagegen die wachsenden Objecte innerhalb grösserer Zeiträume mit ihrem An- fangsstadium, betrachtet man erst das keimende Samenkorn und dann die Pflanze, die sich daraus entwickelt hat, mit allen ihren Zweigen, Blättern und Blüthen. so liegt es auf der Hand, dass dabei umfang- reiche Bewegungen stattgefunden haben, durch die das Baumaterial an die Stellen, wo es angelagert ist, hintransportirt werden musste. Besonders deutlich erkennt man auch die Wachsthumsbewegungen an langen Pflanzenstengeln oder Panken, wenn die Zellen auf der einen Seite schneller wachsen oder sich schneller vermehren, als auf der andern Seite, so dass auf diese Weise Krümmungen zu Stande kommen. Am augenfälligsten aber sind die durch das Wachsthum verur- sachten Bewegungen in den Fällen, wo die beim Wachsen producirte mechanische Energie nicht dauernd frei abgegeben, sondern in Form von Spannkraft aufgehäuft und schliesslich durch irgend einen aus- lösenden Reiz plötzlich in lebendige Kraft übergeführt wird, Avie das am schönsten bei den Samen und Früchten gewisser Pflanzen, z. B. von Impatiens, hervortritt, die bei Berührung plötzlich mit einer Schleuderbewegung aufplatzen und ihren Inhalt herausschnellen. Es ist nicht nöthig, auf den Modus der Wachsthumsbewegungen noch

^) ß. Lauterborx: „Zur Frage nach der Ortsbewegung der Diatomeen.'' In Ber. d. Deutschen Bot. Ges. Bd. XI. 1894.

2j Otto Müller: „Die Ortsbewegung der Bacillariaceen." I, II, III, lY und V. In Ber. d. Deutschen Bot. Ges. 1893, 1894, 1896 und 1897.

238 Drittes Capitel.

weiter einzugehen , da ihr Princip ja ohne Weiteres klar ist, und da sie einem auf Scliritt und Tritt in der lebendigen Natur begegnen. Dass auch die Wachsthumsvorgänge gewaltige Energiewerthe erzeugen, wird am anschaulichsten, wenn man daran denkt, wie Bäume, die zwischen Felsen wachsen, mit ihren Wurzeln grosse Steinmassen aus- einanderzusprengen vermögen.

g. Bewegungen durch Contraotion und Expansion.

Die Bewegungen schliesslich , die durch Contraction und Ex- pansion des Zellkörpers entstehen und die man gewöhnlich kurz als „Contractionserscheinungen" bezeichnet, unterscheiden sich von allen anderen organischen Bewegungsmodis dadurch, dass sie auf Ober- flächengestaltsveränderungen der lebendigen Substanz selbst beruhen, welche mit gegenseitigen Lageverschiebungen ihrer Theilchen ver- bunden sind, und zwar verlaufen alle Contractionserscheinungen in zwei Phasen der Bewegung, in der „Con tractionsphase" und der „Expansionsphase". Bei der Contraction verlagern sich die Theilchen der lebendigen Substanz so gegeneinander, dass die Masse eine geringere Oberfläche annimmt, bei der Expansion dagegen so, dass dieselbe Masse sich auf eine grössere Oberfläche vertheilt. Nur der Wechsel zwischen Contractions- und Expansionsphasen ermöglicht dauernde Bewegungserscheinungen.

Es liegt auf der Hand, dass nur Körper von mehr oder weniger flüssiger Beschaffenheit eine solche Bewegung zeigen können, bei der die Veränderung der Oberflächengestalt durch Umlagerung der einzelnen Theilchen gegeneinander zu Stande kommt. Nur ein Flüssigkeitstropfen kann seine Oberfläche durch Umlagerung seiner Theilchen verringern oder vergrössern , indem er kuglig wird oder sich ausbreitet, je nachdem seine „Oberflächenspannung" ringsherum gleich ist oder an einzelnen Stellen grösser, an anderen geringer wird. Ein fester und starrer Körper, selbst wenn er elastisch ist, kann Contractionserscheinungen dieser Art nicht hervorbringen , da seine Theilchen ihre Lage nicht untereinander vertauschen können. Es ist daher für das Zustandekommen der Contractions- erscheinungen von fundamentaler Bedeutung, dass die lebendige Substanz eine flüssige Consistenz besitzt. Wie wir schon früher fanden, ist in der That alle lebendige Sub- stanz mehr oder weniger flüssig, ein Umstand, der durch den hohen Procentgehalt an Wasser bedingt ist, und es ist daher die verbreitete Auffassung, dass überhaupt alle lebendige Substanz „Contrac tili tat" besitzt, d. h. Contractionsbewegungen auszuführen im Stande ist, durchaus begründet, wenn Avir auch viele Zellen kennen, wie gewisse Algenzellen, Bakterienzellen etc., die, trotzdem sie ein intensives Leben besitzen, doch, weil sie von einer starren Membran umgeben sind, keine Contractionserscheinungen zum Ausdruck bringen können. Die Con- tractilität, d. h. die Fähigkeit, Contractionsbewegungen auszu- führen, ist aber eine allgemeine Eigenschaft aller lebendigen Substanz und erfordert daher eingehendes Interesse.

Wir können unter den Bewegungserscheinungen, die durch Con- traction und Expansion nach dem eben charakterisirten Princip zu Stande kommen, je nach der eigenthümlichen üifl^erenziriing des Sub-

^'on den elementaren Lebenserscheinungen.

239

strats. an dem sie beobachtet werden, drei Gruppen unterscheiden, die wir bezeichnen als :

Arno eb Ol de Bewef^ung (Protoplasmaströmung), Muskelbewegung (Bewegung der glatten und quergestreiften

Muskelfasern), Flimmerbe wegung (Geisseibewegung, Wimperbewegung).

Die amoeboi de Bewegung, die ursprünglichste Form der Con- tractionserscheinungen , finden wir überall da, wo es sich um nackte Protoplasraamassen handelt, um Zellen, deren Protoplasmakörper von keiner Zellmembran umschlossen ist oder, wie bei den Pflanzenzellen, in der Zellmembran freien liaum zur Bewegung besitzt. Es sind das also

Fig. 95. Amoebe in acht aufeinander folgenden Stadien der Bewegung.

vor Allem die mannigfaltigen Vertreter der grossen Protistengruppe dei* Rhizopoden (Fig. 95 u. 98), ferner im thierischen Zellenstaat die Leuko- cyten und amoeboiden Wanderzellen der verschiedensten Art (Fig. i;i6), sowie die amoeboiden Eizellen gewisser Thiere, wie der Schwämme (Fig. 17«), femer die Pigmentzellen der verschiedensten Organe^) (Fig. 97), die Darmepithelzellen (Fig. 45 pag. 150) und schliesslich die verschiedenartigsten Pflanzenzellen (Fig. 24 a u. Fig. 35). Als Typus kann uns die Bewegung der Amoeben selbst dienen (Fig. 95), jener niedrigsten aller Lebensformen, deren formloser Zellkörper bereits alle Räthsel des Lebens in sich birgt. Mit einer Pipette in einem Wassertropfen vom Grunde eines Teiches genommen und auf einer Glasplatte unter das Mikroskop gebracht, erscheint uns die Amoeben zelle als kleines,

') Die in neuerer Zeit mehrfach geäusserte Ansicht, dass es sich bei den Be- wegungen der Pigmentzellen allein um eine Wanderung der Pigmentkörnchen handle, ohne eine gleichzeitige Formveräiiderung des Protoplasmakörpers, erscheint mir völlig unhaltbar.

240

Drittes Capitel.

graues , halbdurchscheinendes Tröpfchen von mehr oder weniger aus- gesprochener Kugelform, in dessen centraler Masse der Zellkern und meist eine contractile Vacuole von einem mehr oder weniger körnigen „Endoplasma" umgeben liegt, während die periphere Schicht von einem mehr hyalinen „Exoplasma" gebildet wird. Behalten wir diesen Tropfen lebendiger Substanz einige Zeit im Auge, so sehen wir, wie sich an irgend einer Stelle der Oberfläche die Kugelraasse vorwölbt, so dass über der Kugeloberfläche ein lappenförmiger Vorstoss erscheint, der nun immer grösser wird und sich immer weiter und weiter aus- streckt, indem immer mehr Protoplasma in ihn nachfliesst, eine Er- scheinung , die von den peripheren Theilen aus nach dem Centrum hin um sich greift, so dass eine dauernde Strömung vom Centrum nach der Peripherie in den Ausläufer, das sogenannte „Pseudopodium", hinein stattfindet (Fig. 95). Häufig fliesst die ganze Protoplasmamasse

Fig. 96. Leukocyt (weisses Blutkörperchen) vom Frosch in verschiedenen Bewegungs zu ständen. Nach Engelmann.

der A m 0 e b e in diesen einen lappigen Vorstoss nach , so dass der Amoe be nkörper eine einzige langgestreckte Masse bildet, wie man das besonders bei der Amoeba limax beobachtet; häufig aber wird die centrifugale Protoplasmaströmung des eben gebildeten Pseudo- podiums unterbrochen , während sich gleichzeitig an irgend einer andern Stelle der Oberfläche ein zweites Pseudopodium in gleicher Weise durch centrifugales Vorfliessen des Protoplasmas in das Medium hinein bildet, und diesem kann wieder ein drittes folgen, so dass die Amoebe nach den verschiedensten Richtungen hin ihre Substanz vorfliessen lässt, bald hierhin, bald dorthin, und ihre Oberfläche auf diese Weise bedeutend vergrössert. Dieses „Ausstrecken der Pseudo- podien" , das Vorfliessen der lebendigen Substanz in das Medium hinein, repräsentirt die Expansionsphase. Während sich ein neues Pseudopodium ausstreckt, fliesst gewöhnlich das Protoplasma aus einem andern wieder von der Peripherie her nach dem Centrum

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

241

zurück, um das Material für ein neues zu liefern: das alte Pseudo- podium wird eingezogen. Diese „Einziehung der Pseudopodien", das centripetale Zurücktliessen des Protoplasmas und die damit verbundene Wiederverringerung der Oberfläche repräsentirt die Contractions- phase. Ziehen sich alle Pseudopodien ein, so nimmt die Amoeben- zelle wieder Kugelform an. Die Kugel form ist also Ausdruck vollkommenster Contraction bei nackten Protoplasma- massen. Während des ungestörten Zustandes treten aber gewöhn- lich bei derselben Amoebe gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Oberfläche bald Contractionen , bald Expansionen ein. Eine Prae- formation der Pseudopodien ist also nicht vorhanden; es fliesst bald

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Fig. 97. Pigmentzellen aus der Haut des Frosches. 1 Ausgebreitete, 7/ schwach

contrahirte, III stärker contrahirte, IV vollkommen contrahirte Pigmentzelle. Der

helle Fleck im centralen Zellkörper ist der Zellkern.

hier, bald dort Substanz vor, mischt sich fortwährend durcheinander und fliesst wieder zurück, und dies wechselvolle Spiel ist die amoe- boide Bewegung.

Die Form der Pseudopodien ist bei den verschiedenen amoeboiden Protoplasmamassen überaus verschieden, je nach der speciellen Con- sistenz, Zusammensetzung etc. der lebendigen Substanz. Wie wir be- reits gesehen haben ^) , finden wir z. B. unter der Formenfülle der Rhizopodenzellen kurze stumpfe, lappig zerschlitzte, dicke fingerförmige, dünne dornenförmige, grade strahlenartige, lange fadenförmige, baum- artig verästelte und netzartig verzweigte Pseudopodienformeu. Aber alle diese durch zahllose Uebergänge miteinander ver-

^) Vergl. pag. 79. Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl.

16

Fig. 98. Orbitolites complanatus, eine Rhizopodenzelle aus dem rothen Meer (kleines Exemplar, ca. 40 Mal vergr., natürl. Grösse der ausgewachsenen Exemplare durchschnittlich -5 mm). Der centrale Protoplasmakörper steckt in einer runden scheibentormigen Kalkschale, die aus zahllosen, im Wesentlichen zu concentrischen

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Eingen angeordneten Kammern besteht. Das Protoplasma jeder Kammer enthält einen oder wenige Zellkerne. An der Peripherie der Kalkschale treten zahlreiche feine, gerade Pseudopodienfäden heraus, die bei grossen Exemplaren oft fast 20 mm Länge erreichen, sich mehrfach verzweigen und auch untereinander verschmelzen. Auf den Pseudopodien sieht man die Protoplasma- und Körnclienströmung iu schönster Entwicklung.

Voll den elementaren Lebenserscheinungen. 243

bundenen Pseudopodien formen entstehen aufdiegleiche Weise, indem das Protoplasma vom centralen Zellkörper in centrifu galer Richtung in das Medium hinein vor- strömt. Demgemäss muss es bei den Formen mit langen faden- förmigen Pseudopodien, wie den Foraminiferen (z. B. Orbitolites, Fig. 98), einen selir langen Weg zurücklegen vom Centrum bis zur Spitze eines sich immer weiter und weiter verlängernden Pseudopodien- fadens, so dass man auf diesen feinen Fäden das Protoplasma mit seinen Körnchen etc. unter dem Mikroskop strömen sieht, wie das Wasser eines langsam fliessenden Stromes, ein äusserst anmuthiges Phänomen, das seine Anziehungskraft auf den Beobachter immer wieder von Neuem ausübt und von Dujardin ^), Max Schultz« ^) und Haeckel^) als „Körnchenströmung" oder „Protoplasmaströmung" in unübertreff- licher Weise geschildert worden ist. Bei der Einziehung dieser langen fadenförmigen Pseudopodien müssen dann die Protoplasmatheilchen wieder den gleichen Weg in umgekehrter, also centripetaler Richtung zurücklegen. Betrachtet man Pseudopodienfäden , die schon ziemlich weit und längere Zeit ausgestreckt sind, so bemerkt man auf ihnen stets zweierlei Strömungen, eine centrifugale und eine centripetale, die erstere an dickeren Pseudopodien deutlich an der Peripherie, die letztere in der Axe des Pseudopodienstranges. Je nachdem die erstere oder die letztere überwiegt, streckt sich oder verkürzt sich allmählich das Pseudopodium. Sind beide gleich stark , so bleibt das Pseudo- podium bei gleicher Länge ausgestreckt. So können wir gerade bei den langen, fadenförmigen Pseudopodien der Foraminiferen, wie Orbitolites (Fig. 98) die Expansions- und Contractionserscheinungen ausserordentlich leicht in ihren Einzelheiten studiren. Immer be- steht die Expansionsphase, d. h. die Ausstreckung der Pseudopodien, in einem centrifugalen Vorfliessen der lebendigen Substanz in das umgebende Medium hinein, die Contractionsphase, d. h. die Einziehung der Pseudo- podien dagegen in einem centripetalen Zurückfliessen von der Peripherie nach dem centralen Zellkörper. Die Expansionsphase ist charakterisirt durch Vergrösse- rung der Oberfläche, die Contractionsphase durch Streben nach der Kugelgestalt.

Demselben Schema reiht sich auch die Protoplasmaströmung in den Pflanzenzellen ein. Eine Zelle aus den Staubfädenhaaren von Tradescantia virginica stellt eine cylindrische, ringsherum geschlossene Cellulosekapsel vor (Fig. 99 A), in welcher der proto- plasmatische Zellkörper mit seinem Zellkern eingeschlossen ist. Das Protoplasma bildet an der Innenwand einen continuirlichen, äusserst feinen Wandbeleg, den sogenannten „Primordialschlauch", von dem aus nach verschiedenen Richtungen durch das mit Zellsaft gefüllte Lumen der Cellulosekapsel sich Protoplasmastränge ziehen, die mitein- ander anastomosiren und an einer Stelle den Zellkern beherbergen. Auf diesen langen Protoplasmasträngen , sowie auf dem Primordial- schlauch ist eine beständige Protoplasmaströmung sichtbar, die genau der Protoplasmaströmung auf den Pseudopodien der Rhizopoden ent-

^) Dujardin: „Histoire naturelle des Zoophytes-Infusoires." Paris 1841. ^) Max Schultze: „Der Organismus der Polytlialamien." Leipzig 18ö4. ^) Haeckel: „Die Radiolarien." Berlin 1862.

16*

244

Drittes Capitel.

spricht und von den Botanikern als „Circulation" bezeichnet wird, wenn auf den verschiedenen Strängen das Protoplasma in ungeordneter, unregelmässiger Richtung fliesst, als „Rotation" dagegen, wenn die Protoplasmaströmung dauernd nach einer bestimmten Richtung ge- ordnet ist. Diese Constellation würde also der Protoplasmabewegung einer Rhizopodenzelle, wie etwa Orbitolites, entsprechen in un- gestörtem Zustande, in dem bei lang ausgestreckten Pseudopodien das Protoplasma dauernd sowohl in centrifugaler wie in centripetaler

Richtung strömt, d. h. in dem die Con- tractionsphase und Expansionsphase gleich stark entwickelt sind. In der Pflanzenzelle ist nur durch Verthei- lung des ganzen Protoplasmas auf einzelne netzförmig anastomosirende Stränge ein so complicirtes System von Strömungen entstanden, dass man nicht mehr gut von einer cen- trifugalen und centripetalen Strö- mung sprechen kann, wie das in gleicher Weise bei grossen Rhizo- poden der Fall ist, wie etwa bei den Myxomycetenplasmodien, deren ganzer Körper sich zu einem reich- verzweigten Pseudopodiennetzwerk aufgelöst hat. Ein deutlicheres Her- vortreten der Contractionsphase ist aber sehr leicht durch Reize zu erzielen. Es ist wie bei den Rhizo- poden ebenfalls dadurch charakte- risirt, dass das Protoplasma sich zu Kugeln zusammenballt (Fig. 99 B), die ineinander fliessen und unter Umständen schliesslich eine grosse klumpige Masse um den Kern herum bilden. Hier haben wir also das vollkommene Analogen für die Con- tractionsphase der Rhizopoden, wo sich die Pseudopodien einziehen, so dass der Körper eine mehr oder weniger kuglige Gestalt annimmt. Die Erscheinungen der Protoplasma- strömung sind also bei den Pflanzen- zellen genau dieselben, wie bei den Rhizopoden, und bereits Max ScHüLTZE ^) hat die Analogie der Protoplasmabewegung in beiden Fällen sehr eingehend erörtert.

Die Arbeit, welche durch die Protoplasmabewegung geleistet werden kann, ist bis jetzt noch nicht ermittelt worden, doch scheint die Kraftentwicklung bei der amoeboiden Protoplasmabewegung nicht ;:rade bedeutend zu sein.

Fig. 99. Zelle aus den Staiibfäden- liaaren von Tradescantia virgi- nica. A Ruhige Protoplasmaströmung auf den Protoplasmasträngen. £ Das Protoplasma hat sich nach Reizung zu Klumpen und Kugeln bei a, b, c, d con- trahirt. Nach Kühne.

^) Max Schui.tze: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen. Ein Beitrag zur Theorie der Zelle." Leipzig 1863.

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

245

Die Muskelbcwegung ist die specifische Bewegungsforra des thierischen Organismus, durch die er sich von allen Pflanzen augen- fällig unterscheidet. Alle die groben und schnellen Massenbewegungen des ganzen thierischen Körpers oder einzelner Organsysteme, welche die naive Betrachtungsweise des Volkes verführt haben, dem Thiere eine höhere Stufe des Lebens zuzuschreiben, als den Pflanzen, die man der leblosen Natur für viel näher stehend betrachtet als den Thieren, alle diese auffälligen Bewegungen , die von sämmtlichen Lebens- erscheinungen am meisten den Eindruck des Lebendigen hervorrufen, beruhen auf Contraction von Muskelfasern.

Der amoeboiden Protoplasmabewegung gegenüber ist die Muskel- bewegung besonders dadurch charakterisirt , dass sie eine in ihren

Fig. 100. Stentor coeruleus, ein Wimper-Infusorium mit zahlreichen, parallel verlaufenden Muskelfibrillen (Myoidfäden) im Exoplasma. A ausgestreckt, B halbcontrahirt (beim freien Schwimmen), C vollständig contrahirt.

einzelnen Momenten räumlich „geordnete" Bewegung ist, insofern sich die Theilchen einer Muskelfaser nur in Einer bestimmten Rich- tung verschieben. Freilich kann man sagen, dass auf einem langen, geraden, fadenförmigen Pseudopodium die Theilchen ebenfalls in einer bestimmten Richtung fliessen, aber diese Richtung ist keine dauernde ; denn indem sich das Pseudopodium einzieht, vermischen sich die Theilchen wieder mit den anderen und gehen nach allen möglichen Richtungen auseinander. Dem gegenüber sind die Theilchen, welche in einer Muskelfaser die Träger der Contractionserscheinungen sind, dauernd als besondere Gebilde im übrigen Zellprotoplasma vorhanden und können sich nicht ohne Weiteres mit ihm vermischen. Wenn wir die ganze Muskelzelle „Muskelfaser" nennen, so pflegen wir diese besonders diff"erenzirten contractilen Streifen in ihr als „Muskelfibrillen" zu be-

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Drittes Capitel.

zeichnen, und diese Muskelfibrillen können im Protoplasma der Muskel- faser, das man mit Rollett auch kurz „Sarkoplasma" nennen kann, in der verschiedensten Weise angeordnet, aber sämmtlich in gleicher Richtung eingebettet liegen. Die contractilen „Fibrillen" der Muskel- faserzelle stellen also besonders difFerenzirte Organoide des Zellproto- plasmas vor.

Nach dem verschiedenartigen Bau der contractilen Muskelfibrillen unterscheiden wir zwei Gruppen von Muskelfasern oder Muskelzellen, „glatte" und „quergestreifte". Bei den glatten Muskelfasern sind die Fibrillen, welche im Sarkoplasma parallel untereinander ein- gebettet liegen, völlig homogene Fäden, bei denen jeder Querschnitt

Fig. 101. Vorticella, a ausgestreckt, h contrahirt (der

Stielmuskel ist in a u. d nicht zu sehen), c Stielscheide

mit Muskelfaden, stark vergrössert.

Fig. 102.

Glatt eMuskelzellen a aus der Blase des Frosches, b aus den Retractorenmuskeln der Süsswasserbryozoen.

gleich jedem andern ist. Die quergestreiften Muskelfasern dagegen enthalten Fibrillen, welche von einem Ende bis zum anderen in viele Segmente eingetheilt sind, die alle einen übereinstimmenden, aber com- plicirten Bau besitzen.

Die einfachsten Formen der glatten Muskelzellen finden wir unter den Infusorien. Viele Wimperinfusorien, wie z. B. Stentor, repräsentiren eine solche Muskelzelle einfachster Art, indem ihr be- wimperter Zellkörper in der äusseren Schicht seines Protoplasmas ungefähr parallel nebeneinander verlaufende glatte Muskelfibrillen, so- genannte „Myoide" eingebettet enthält (Fig. 100). Andere Infusorien, vor Allem die zierliche Vorticella, besitzen nur einen einzigen, aus mehreren Fibrillen zusammengekitteten glatten Muskelfaden, der aus dem Körper als dicker Strang heraustritt und umgeben von einer

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

247

elastischen Scheide, an deren Innenwand er in langgestreckten Spiral- touren angeheftet ist, dem Zellkörper als Stiel zum Festsetzen dient. Bei den glatten jMuskelzellen , welche gewebebildend im Zellenstaat vereinigt sind, tritt der Protoplasmakörper gegenüber den contractilen Fibrillen sehr an Masse zurück. Entweder bildet er nur eine kleine Sarkoplasmamasse mit ihrem Zellkern , welche von einer langen spindelförmigen Hülle contractiler Fibrillensubstanz eingeschlossen ist, wie z. B. bei den glatten Muskelzellen aus der Blase des Frosches (Fig. 102 a), oder er liegt als kleiner Zellkörper dem contractilen Fi- brillenbündel seitlich in der Mitte an, wie etwa bei den Retractoren- muskeln der Süsswasserbryozoen (Fig. 102 6).

Der Bau der quergestreiften Muskelfasern ist bei Weitem complicirter. Als Typus der quergestreiften Muskelfaser, die ebenso

Fig. 103. Quergestreifte Muskelfasern. A Zwei herausgeschnittene Stücke von Muskelfasern (links oben das Ende einer Faser), die Querstreifung ist deutlich zu sehen, ebenso viele spindelförmige Muskelkeme. Nach Schiefferdecker. B Zwei einkernige, quergestreifte Muskelzellen aus dem Herzen, links vom Menschen, rechts vom Frosch. Nach DissE. C Querschnitt einer Insectenmuskelfaser. Es sind drei Zellkerne zu sehen und, im Sarkoplasma eingebettet, die Querschnitte von zahllosen Fibrillen. Nach Rollett.

wie die glatte in mannigfachen Modificationen auftritt, kann uns die Insectenmuskelfaser dienen, deren Bau besonders durch die aus- gezeichneten und ausgedehnten Untersuchungen von Engelmann und in neuester Zeit von Rollett bis in seine feinsten Einzelheiten bekannt geworden ist. Die quergestreifte Muskelfaser der Insecten stellt eine lange dünne cylindrische Zelle vor, bestehend aus dem „Sarkoplasma", das nach aussen hin von einer etwas dichteren Schicht, dem „Sarkolemm", abgegrenzt ist und zahlreiche, in der Faserrichtung langgestreckte Zellkerne enthält. In diesem Sarko- plasma eingebettet und parallel von einem bis zum anderen Ende der Faser hinziehend liegen die regelmässig segmentirten Muskel- fib rillen (Fig. 104,4). Betrachtet man die „Muskelsegmente" einer Fibrille mit sehr starken Vergrösserungen , so findet man, dass sie alle den gleichen Bau besitzen, indem sich dieselbe Anordnung

248

Drittes Capitel.

ihrer Inhaltsbestandtheile in jedem Muskelsegment wiederholt. Jedes Segment ist nämlich von den beiden anliegenden Segmenten getrennt durch die sogenannte „Zwischenscheibe" (Fig. 104^) und enthält zwei verschiedene Substanzen, von denen die eine doppelt licht- brechend oder „anisotrop" ist und in der Mitte des Segmentes liegt (Fig. 104g resp. q -\- m -j- q), während die andere einfach licht- brechend oder „isotrop" ist und in zwei Portionen die anisotrope Substanz begrenzt (Fig. 104^■). In der Mitte der anisotropen Schicht erscheint mehr oder weniger deutlich eine hellere Zone, die als „HENSEN'sche Mittelscheibe" bezeichnet wird (Fig. I04m). Bei vielen Muskelfasern verbreitet, aber nicht als constanten Bestandtheil aller Muskelfasern finden wir schliesslich eine oder zwei „Nebenscheiben" (Fig. 104w) in die isotrope Substanz eingelagert. Als die allgemeinen Bestandtheile des Muskelsegments kommen indessen für uns nur die anisotrope Schicht und die beiden sie begrenzenden isotropen Schichten in Betracht, von denen die anisotrope Substanz dunkler, fester und

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Fig. 104. A Zwei isolirte Muskelfibrillen. z Zwischenseheibe, i isotrope, q anisotrope Sub- stanz. Nach Ranviee. B Zwei einzelne Mus- kelsegmente, z Zwischenscheibe, i isotrope Substanz, q anisotrope Substanz mit einer Mittel- scheibe m. Das rechte Segment besitzt in der isotropen Substanz eine Nebenscheibe n.

stärker lichtbrechend ist als die isotrope Substanz, welche wasser- reicher, heller, weicher und weniger stark Hchtbrechend erscheint. Auf dem Querschnitt liegen in jeder Muskelfaser die gleichen Schichten der einzelnen Fibrillen in gleicher Ebene, so dass die ganze Muskelfaser regelmässig gebändert oder „quergestreift" aussieht (Fig. 103^). Die quergestreiften Muskelfasern der Wirbel thiere er- reichen oft eine ganz beträchtliche Länge, obwohl sie nur eine einzige vielkernige Zelle vorstellen. Die Muskelfasern aus den langen Skelett- muskeln des Menschen z. B. sind Fäden von über Decimeter Länge, und jede Muskelfibrille in ihnen reicht von einem Ende bis zum andern. Bei der Bewegung der glatten sowohl wie der quergestreiften Muskelfasern können wir dieselben beiden Phasen unterscheiden wie bei der amoeboiden Bewegung: die Contractionsphase und die Ex- pansionsphase. Die Contraction besteht in einer Verkürzung und Verdickung der Fibrillen, die von dem Punkte ihrer Entstehung aus in Form einer Contractionswelle über die ganze Fibrille hin ver-

Von den elementaren Lebensersclieiiiun<reu.

249

läuft, bis die ganze Fibrille verkürzt und verdickt ist. Die Theilchen verschieben sich also in der Längsrichtung derartig, dass sie sich auf einen grösseren Querschnitt nebeneinander lagern. Dadurch wird die Oberfläche der Fibrille verringert, wenn sie auch nicht bis zu ihrem Minimum, bis zur Kugelform herabsinkt, wie das bei den nackten Protoplasmamassen der Fall ist. Die gleichzeitige Contraction der einzelnen Fibrillen in der glatten und quergestreiften Muskelzelle bedingt selbstverständlich auch eine Verkürzung und Verdickung der ganzen Muskelfaser. Verläuft die Contraction sehr schnell, wie z. B. bei den Fibrillen der Infusorienzellen und den quergestreiften Muskelfasern, so schnellt die Faser blitzartig zusammen, und wir be- kommen eine „Zuckung", deren einzelne Momente man nicht mit dem Auge verfolgen kann. So zuckt z. B. der Stiel der Vorticellen plötzlich zusammen und reisst , indem er sich in Folge der spiraligen Windung des Muskelfadens zu einer schraubenförmigen Gestalt zu- sammenzieht, das Köpfchen der Vorticell e dicht an den Fusspunkt des Stieles heran (Fig. 101 b). Die glatten Muskelfasern der Gewebe

II

O-

Fig. 105. Einzelne Muskelsegmente / im gestreckten und // contrahirten Zustande. 1 In gewöhnlichem Licht, 2 in polarisirtem Licht, a Die anisotrope,

i die isotropen Schichten.

ziehen sich dem gegenüber durchgehends nur äusserst träge zusammen und zeigen niemals so plötzliche Zuckungen wie die Infusorienmyoide und die quergestreiften Muskelfasern. Während aber in der glatten Muskelfibrille ausser der Gestaltveränderung keine weiteren Vorgänge mikroskopisch zu bemerken sind, zeigen die quergestreiften Muskel- fibrillen entsprechend ihrem complicirteren Bau auch höchst charakte- ristische Veränderungen der Querstreifung in der Contractionsphase. Fassen wir nämlich ein einzelnes Muskelsegment ins Auge , so finden wir bei der Contraction folgende Erscheinungen, die zuerst Engel- mann ^) sehr genau analysirt hat: jedes einzelne Segment wird kürzer und dicker, wie das ja aus der Verkürzung und Verdickung der ganzen Fibrille nothwendig zu erwarten ist. Dabei zeigen sich auffällige Ver- änderungen in dem Verhältniss der isotropen zur anisotropen Substanz. Die anisotrope Substanz nimmt nämlich an Volumen zu, die isotrope dagegen ab, während das Volumen des ganzen Segments unverändert bleibt. Gleichzeitig wird die anisotrope Substanz, die vorher fester

^) ExGELMAXN : ..Mikroskopische Untersuchungen über die quergestreifte Muskel- substanz" I u. II. In Pflüger's Arch. Bd. 7. 1873. Derselbe: „Contractilität und Doppelbrechung." In Pflüger's Arch. Bd. 11. 1875. Derselbe: „Neue Untersuchungen über die mikroskopischen Vorgänge bei der Muskelcontraction." In Pflüger's Arch.

ßd. 18. 1878.

250

Drittes Capitel.

und dunkler war, weicher und heller, d. h. weniger stark licht- brechend, während die isotrope die umgekehrten Veränderungen er- fährt, d. h. fester und dunkler, also stärker lichtbrechend wird, als sie vorher war. Diese Veränderungen sind äusserst wichtig, denn sie zeigen, dass die Contraction auf einem Uebertritt von Substanz aus den isotropen Schichten in die anisotrope besteht, und zwar von Substanz, die dünnflüssiger ist als die der anisotropen Schicht. Neuerdings hat Schäfer ^) die mikroskopischen Veränderungen bei diesem Vorgange mittelst photo- graphischer Aufnahmen noch eingehender studirt und dabei die inter- essante Thatsache gefunden, dass in der anisotropen Schicht der Faser- richtung entsprechend bis nahe zur HENSEN'schen Mittelscheibe parallel nebeneinander liegende, äusserst feine Röhrchen verlaufen (Fig. 106), in welche die isotrope Substanz bei der Contraction hineinfliesst, so dass das Lumen der Röhrchen dadurch erweitert und das ganze Segment breiter und niedriger wird. Dieser ganze Erscheinungscomplex der Contraction pflanzt sich nun blitzschnell von einem Muskelsegment auf das folgende und so weiter fort, so dass eine a „Contractionswelle" nacheinander, „metachron",

über alle Elemente der ganzen Muskelfaser verläuft, bis sie vollständig contrahirt ist. Die Expansions- phase der glatten und quergestreiften Muskel- fasern zeigt genau die Umkehr aller der Vorgänge, die wir bei der Contraction beobachten. Die Fi- brillen strecken sich wieder, indem sie von dem Punkte aus, wo vorher die Contractionswelle ihren Ausgang nahm, allmählich länger und dünner wer- den, so dass jetzt eine Expansionswelle von hier aus über die ganze Fibrille hin verläuft, bis sie vollständig gestreckt ist. Auch im einzelnen Seg- ment der quergestreiften Muskelfaser haben wir genau die Umkehr der Veränderungen, die bei der Contraction eintraten. Das Segment wird wie- der länger und dünner, die anisotrope Substanz nimmt an Volumen ab und wird dunkler, fester und stärker licht- brechend, während die isotrope an Volumen gewinnt und heller, weicher und schwächer lichtbrechend wird, bis der Ruhezustand wieder hergestellt ist. Bei der Expansion der quergestreiften Muskelfaser tritt also aus der anisotropen Substanz dünnflüssigere Substanz wieder indie isotropen Schich- ten zurück.

Glatte Muskelfasern sowohl wie quergestreifte sind im Zellenstaat zu Geweben, den Muskeln, vereinigt, und zwar finden wir überall da, wo es sich darum handelt, schnelle und wiederholt starke Bewegungs- effecte hervorzubringen, wie bei den Skelettmuskeln und dem Herzen, die Muskeln aus quergestreiften Fasern gebaut, während die langsamen und trägen Bewegungen der unwillkürlich sich bewegenden Organe, wie des Magens, des Darms, der Blase etc. auf der Thätigkeit glatter

Fig. 106. Muskel- segmente von der Wespe mit den Röhr- chen der anisotropen Substanz, a Anisotrope Substanz von oben ge- sehen, b von der Seite; cdrei Muskelsegmente. Nach Schäfer.

^) E. A. Schäfer : „On the minute structure of the muscle-columns or sarcostyles which form the wing-muscles of insects." Prelirainary note. In Proceedings of the Royal Society vol. XLIX. 1891. Derselbe: „On the structure of cross - striated muscle." In Monthly International Journal of Anatomy and Physiol. vol. VIII. 1891.

Von den elemeutaren Lebenserscbeinungen. 251

Muökelzellen beruhen. Die höchsten, ja geradezu erstaunliche Werthe erreicht die Geschwindigkeit der Muskelcontraction bei den Flügel- muskeln mancher Insecten, z. B. der Mücken, wo, wie Makey gezeigt hat, 300 400 Contractionen in der Secunde ausgefülirt werden können. Dass schliesslich der BewegungsefFect da, wo ungeheuer viele Muskel- fasern einen Muskel zusammensetzen, ein ganz bedeutender sein wird, liegt auf der Hand. In der That linden wir denn auch, dass selbst in verhältnissmässig kleinen Muskeln ein enormer Energieumsatz statt- findet. 8o vermag ein so kleiner Muskel, wie z. B, der Wadenmuskel (Musculus gastrocnemius) des Frosches, der kaum einen Centimeter an seiner dicksten Stelle im Querschnitt misst, nach Rosentiial's Be- obachtungen ein Gewicht von mehr als einem Kilogramm zu heben. Ganz enorm ist die Arbeit, welche der nie rastende Herzmuskel leistet. ZüNTZ V) hat berechnet, dass das Herz eines Mannes, wenn es in normaler Weise schlägt, an einem Tage eine Arbeit von etwa 20000 Kilogranimmeter leistet, d. h. eine Arbeit, welche genügend wäre, um ein Gewicht von 20 000 Kilogramm einen Meter hoch zu heben. Das ist die Arbeit des Herzens an einem einzigen Tage ! Wie gewaltig demnach die Arbeit des Herzens während des ganzen Lebens eines Menschen ist, bedarf keiner grossen Rechnung. Der Muskel ist die vollendetste Dynamomaschine, die wir kennen.

Die Flimmerbewegung schliesslich ist nicht minder Aveit verbreitet als die beiden anderen Formen der Contractionserscheinungen. Das Infusorium, das sich im VA^asser der Pfütze munter umhertummelt, bewegt sich durch Geissei- oder Wimperschlag. Die männliche Spei-matozoenzelle, die sich bei der Befruchtung nach der Vereinigung mit der weiblichen Eizelle drängt, treibt sich vorwärts durch die Schwingungen ihres Geisselfadens. Die Zellen des Flimmerepithels, das unsere Luftröhre auskleidet, halten die Schleimhaut rein durch ihre Wimperthätigkeit und schieben Fremdkörper, die beim Schlucken hineingerathen sind, wieder nach aussen durch den rhythmischen Schlag ihrer Flimmerhaare. Unzählig aber ist das Heer der Infusorien, weit verbreitet im Pflanzen- und Thierreich sind die geisseltragenden Spermatozoon, und kaum eine Thiergruppe giebt es, deren Körper nicht an irgend einer Stelle ein Flimmerepithel besässe.

Wie die Muskelbewegung ist auch die Flimmerbewegung eine geordnete Bewegung, d. h. die beweglichen Theilchen verschieben sich in einer ganz bestimmten Richtung. Das ist dadurch ermöglicht, dass die contractilen Elemente wie bei der Muskelzelle als dauernde Diflfe- renzirungen des Zellprotoplasmas entwickelt sind, und zwar hier in Form von haar- oder wimperähnlichen Anhängen des Zellkörpers. Je nachdem die Zelle Ein, resp. einige wenige lange oder viele kurze „Flimmerhaare" besitzt, spricht man von ,, Geissei zellen " (Fig. 107 C,D,E) oder von Wirnperz eilen " (Fig. 107 .4, J5). Indem diese „Geissein" oder „Wimpern" regelmässig schlagende Bewegungen ausführen, entsteht die Erscheinung der Flimmerbewegung.

Was die Flimmerbewegung am meisten charakterisirt, sind folgende Momente. Die FHmmerbewegung ist im Gegensatz zu den

1) ZüNTz: In Berl. klin. Wochenschr. Jahrg. 29, 1892, pag. 367.

252

Drittes Capitel.

meisten Formen der Muskelbewegung, welche mit wenigen Aus- nahmen (Infusorien, Herzmuskel) nur auf äussere Impulse von Seiten des Nervensystems her zu Stande kommt, eine automatische Bewegung, d. h. die Impulse für die Thätigkeit der Flimmerhaare entstehen in der Flimmerzelle selbst, und es ist kein einziger Fall be- kannt, in dem die Flimmerbewegung überhaupt irgend wie unter dem Einfluss des Nervensystems stände. Durch eine Reihe von vivi- sectorischen Versuchen ist festgestellt worden ^), dass die Ursache der Bewegung im Protoplasma des Zellkörpers ihren Sitz hat, denn die isolirten Flimmerhaare, wenn sie nicht die geringste Menge von

IJ Fig. 107. A Drei Flimmerepithelzellen ans dem Nebenhoden des Menschen. Nach Schieffeedeckkr. B Paramaecium aurelia, ein Wimperinfusorium. ^

C Hexamitus in flatus, ein Geisselinfusorium mit

sechs Geissein. Nach Stein. D Spermatnzoen vom Menschen, b, c Geissei. Nach Stühk. ^ Peranema, ein Geisselinfusor, a schwacher, mit seiner Geissei schlagend.

a Kopf, b stärker

Protoplasma an ihrer Basis mehr besitzen, bleiben vollkommen be- wegungslos. Ferner zeichnen sich die meisten Fälle der Flimmer- bewegung durch ihre Khythmicität aus, denn abgesehen von einzelnen Geissei- und Wimper -Infusorien schlagen die Flimmerhaare wenigstens bei lebhafterer Thätigkeit stets in regelmässigen Intervallen. Unregelmässig werden die Schläge nur beim Uebergang zur Ruhe oder unter dem Einfluss äusserer Factoren. Ein drittes Moment schliesslich, das freilich nur für Wimperzellen mit vielen Flimmerhaaren in Betracht kommt, liegt in der Metachronie der Bewegung aller einzelnen

>) Verworn: „Studien zur Physiologie der Flimmerbewegung." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 48. 1890.

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

253

Wimpern. Es sehlagen nämlich die einzelnen Wimpern einer Wimpei'- reihe, von einem Ende beginnend, in genau gleichem Rhythmus und in genau gleicher Aufeinanderfolge, so dass jeder Schlag der ersten Wimper von einem Schlag der zweiten, dann der dritten, vierten u. s. f. gefolgt ist. Niemals schlägt eine Wimper spontan ausser der Reihe, niemals macht sie eine Bewegung, ehe nicht die vorhergehende Wimper der Reihe in Bewegung getreten ist. Dagegen beginnt sie stets sofort

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Fig. 108. F li 111 ni erbe Weisung einer Wimperreihe im Profil.

ihre Bewegung, nachdem die vorhergehende Wimper begonnen und noch ehe dieselbe ihre Bewegung vollendet hat. So kommt es, dass von der letzten Wimper einer Reihe her nach der ersten hin gerechnet, jede obere Wimper jeder unteren Wimper um einen geringen Bruch- theil der Bewegung voraus ist (Fig. 108). Die oberste Wimper giebt also das Zeichen für die übrigen : Ist die oberste Wimper in Ruhe, so ruhen auch die übrigen, schlägt sie, so schlagen die anderen der Reihe nach auch, und das gilt nicht bloss für die Wimpern der einzelnen Zelle, sondern im Flimmerepithel für die Wimpern aller hintereinander gereihten Zellen. Auf diese Weise entsteht ein äusserst zierliches und regelmässiges Spiel der Wimpern, das schon manchen Be- obachter gefesselt hat und das den Eindruck macht, als ob regelmässige Wellen über die Wimperreihen hinweglaufen, etwa so, wie wenn der Wind über ein Kornfeld streicht. Dabei schlagen, wenn mehrere parallele Reihen von Wimpern vorhanden sind, die Wimpern, welche in der Querrichtung der Reihen neben einander stehen, synchron, ebenso wie die parallel in einer Muskelfaser nebeneinander liegenden Fibrillen auch synchron zucken.

Um die Bewegung des einzelnen Flimmer- haares in ihren Phasen genauer kennen zu lernen, dient uns als Object am besten die Be- Avegung der Schwimmplättchen bei den Kteno- phoren oder Rippenquallen ^). Der Körper dieser wunderbaren , aus einer zarten , durch- sichtigen Gallerte bestehenden Thiere besitzt acht von einem Pol nach dem anderen hin verlaufende Streifen oder „Rippen" (Fig. 109), die von einer Reihe dachziegelförmig überein- ander liegender Plättchen, den „Schwimmplättchen", gebildet werden. Jedes Schwimmplättchen ist etwa 2 mm lang und besteht aus einer grösseren Anzahl miteinander verkitterter Wimpern, welche den darunter liegenden Wimperzellen der Rippen angehören. Wegen ihrer ausser- oi'dentlichen Grösse, ferner wegen der ungewöhnlichen Einfachheit ihrer

Fig. 109. Beroe ovata, eine Rippenqualle in natürlicher Grösse. Von den acht vom oberen (Sinnes -)Pol nach dem unteren (Mund-) Pol hin verlaufenden Rippen oder Schwimmplättchenreihen sind hier nur die vier Reihen der einen Seite zu sehen, und zwar zwei von vorn und zwei von der Seite.

') 1. c. pag. 252.

254 Drittes Capitel.

Anordnung in einer Reihe und schliesslich wegen des häufig sehr lang- samen Rhythmus ihres Schlages eignen sich diese Schwimmplättchen wie kein anderes Object zum Experimentiren und Beobachten. Zwar sind, wie gesagt, die Plättchen aus m e h r e r e n Wimpern verkittet, aber eine jede einzelne der Wimpern macht selbstverständlich genau dieselbe Be- wegung wie das ganze Plättchen, so dass wir die Beobachtungen am ganzen Plättchen direct auf die Verhältnisse der einzelnen Wimper über- tragen dürfen. Wir können bei der Grösse des Objectes die Beob- achtung mit blossem Auge oder mit einer schwachen Lupe machen. Dann sehen wir, wenn Avir ein einziges Schwimmplättchen im Profil betrachten, dass es in der Ruhestellung dem Körper flach angelegt ist, und zwar so, dass es zwei Krümmungen zeigt, eine stärkere von kleinerem Radius gleich über der Basis und eine schwächere von 'grösserem Radius aber nach der entgegengesetzten Seite in der oberen Hälfte (Fig. 110 a). Das ist die Ruhestellung. Führt das Plättchen jetzt einen Schlag aus, so streckt sich die untere Krümmung, von der Basis

Fi^. 110. Schwimmplättchen von Beroe in Profilansicht, a in Ruhelage,

b in extremer Schwinglage.

der Wimper an beginnend, vollständig aus, ja sie geht sogar ein klein wenig in eine entgegengesetzte Krümmung über. Das Plättchen steht daher in der extremen Schwinglage aufrecht mit einer geringen Biegung nach der entgegengesetzten Seite. Damit ist die progressive Phase des Schlages erreicht. Jetzt erfolgt die regressive Phase, in der das Plättchen wieder in seine Ruhelage zurücksinkt, dadurch, dass sich die ursprüngliche Krümmung an der Basis allmählich wieder herstellt, bis das Plättchen dem Körper wieder anliegt. Die regressive Phase erfolgt viel langsamer als die progressive. Dadurch und durch die obere Krümmung, auf deren specielle Bedeutung wir nicht näher eingehen wollen, wird es ermöglicht, dass der motorische Effect der progressiven Phase durch die regressive nicht wieder aufgehoben wird, sonst würde das Thier dauernd an derselben Stelle im Wasser stehen bleiben und sich nicht vom Ort bewegen.

Bei Infusorien kann man die Bewegung der einzelnen Wimper unter dem Mikroskope verfolgen, wenn man den Wimperschlag da- durch verlangsamt, dass man die Objecte in ein dickflüssiges Medium, z. B. eine Gelatinelösung bringt. Dabei findet man, dass die Ruhe- stellung, von der aus die Wimper ihre Schlagbewegungen ausführt,

Von den elenieutaren Lebenserscheinungen.

255

veränderlich ist. Die Wimper liegt einmal nahe dem Körper an, das andere Mal steht sie senkrecht von ihm ab, so dass die Amplitude der Schwingung und damit die Grösse des motorischen Effects auf diese Weise sehr fein abgestuft werden kann (Fig. 111).

Aus der Formveränderung der einzelnen Wimper beim Ausführen des Schlages geht hervor, dass in der progressiven Phase des Schlages von der Basis der Wimper ausgehend, eine Contraction derjenigen Seite der Wimper stattfindet, nach welcher der Schlag ausgeführt wird ; denn eine einfache Messung zeigt, dass sich diese Seite beim Schlage verkürzt, wenn sie in die extreme Schwinglage übergeht. Gleichzeitig wird dadurch die gegenüberliegende Seite passiv mit hinübergezogen, wobei sie nach einfachen mechanischen Principien gedehnt werden muss. In der regressiven Phase des Schlages erschlafft die contrahirte Seite wieder, und in dem Maasse, wie sie erschlafft, biegt sich die Wimper in Folge der Elasticität der gedehnten Seite wieder in die

A

A

B

I n

Fig. 111. Bewegung einer einzelnen Wimper eines ciliaten Infusoriums (Urostyla grandis, Randwimper) von zwei verschiedenen Ruhestellungen Ans, In. IL A Progressive, B regressive Phase der Bewegung in mehrere aufeinander folgende Momente zerlegt. Die Pfeilspitze giebt die Richtung an, nach welcher der Infusorienkörper durch den Schlag vorwärts getrieben wird.

Ruhelage zurück. Die progressive Phase ist also die Con- tractionsphase, die regressive die Expansionsphase des einzelnen Wimperschlages. Durch rhythmischen Wechsel zwischen beiden kommt das Spiel der Wimper- bewegung zu Stande.

Nicht alle Formen der Flimmerhaare schlagen aber, wie die Haare der Ktenophoren-Schwimmplättchen in einer Ebene. Manche Wimpern, besonders gewisse Geisseifäden beschreiben complicirtere , trichter- förmige, schraubenförmige, peitschenförmige Bahnen, und die älteren Physiologen haben danach mehrere Formen der Flimmmerbewegung unterschieden. Allein wie auch immer die Schwingbahn der ver- schiedenen Flimmerhaare beschaffen sein mag, allen liegt dasselbe Princip zu Grunde, dass eine contractile Seite sich vom Zell- körper aus contrahirt und dabei die gegenüberliegende Seite dehnt, welche letztere in der Expansionsphase die Wimper durch ihre Elasticität wieder in die Ruhelage zurückführt. Je nach der gegenseitigen Lagerung der contractilen

256 Drittes Capitel.

ZU der passiv gedehnten Substanz resultirt daraus eine Schlagbewegung in einer Ebene oder in complicirterer Form.

Die Arbeitsleistung der Flimmerbewegung steht in ihren Werthen weit hinter derjenigen der Muskelbewegung zurück. Engelmann, Bo%VDiTCH u. A. haben die Arbeitsleistung von Flimmerepithelien be- rechnet, und in neuerer Zeit hat Jensen ^) sogar die Kraft einer ein- zigen Infusorienfliramerzelle, und zwar des für die verschiedensten Untersuchungen so sehr geeigneten Paramaeciums gemessen. Da- bei hat sich herausgestellt, dass ein Paramaecium, das eine Länge von etwa 0,25 mm besitzt, ein Gewicht von 0,001 58 mgr. eben noch zu heben im Stande ist, d. h. etwa das Neunfache seines eigenen

Körpergewichts.

* *

*

Man hat bisweilen die Ansicht ausgesprochen, die amoeboide Be- wegung hätte nichts mit der Muskelbewegung, und diese nichts mit der Flimmerbewegung gemein, alle drei seien ganz verschiedene Be- wegungsformen, Unser kurzer Ueberblick wird uns dem gegenüber schon zur Genüge davon überzeugt haben, dass diese drei Formen der Contractionsbewegung allen anderen Bewegungsmodis gegenüber eine einheitliche Gruppe bilden. Es ist wahr, dass sie gewisse Verschieden- heiten untereinander zeigen, dass sie sogar beim ersten Anblick recht verschieden voneinander erscheinen; aber wir haben gesehen, dass sie doch alle auf dem gleichen Princip beruhen, auf dem Princip der abwechselnden Oberflächenverringerung (Contraction) und Oberflächenvergrösserung (Expansion) durch Um- lagerung von T heilchen der lebendigen Substanz selbst. Dass diese Verschiebung der Theilchen bei der amoeboiden Bewegung eine ganz regellose, bei der Muskel- und Flimmerbewegung eine streng geordnete ist, beweist nur, dass die beiden letzteren eine höhere Stufe der Differenzirung repräsentiren als die erstere, Dass sie aber im engsten genetischen Zusammenhang mit der amoeboiden Bewegung stehen, dass sie phylogenetisch sich aus ihr entwickelt haben, beweisen zahlreiche Fälle von Uebergängen zwischen amoeboider und Muskel- bewegung einerseits und amoeboider und Wimperbewegung anderer- seits. Einerseits hat Engelmann-) Rhizopoden gefunden (Acantho- cystis) mit fadenförmigen, geraden, unverzweigten Pseudopodien, welche sich blitzschnell in ihrer Längsrichtung zu contrahiren ver- mögen, von denen eine glatte Muskelfaser nur durch ihre dauernde Differenzirung unterschieden ist, so dass Engelmann diese Pseudopodien zweckmässig als „Myopodien" bezeichnet hat; andererseits hat man mehrfach Fälle beobachtet, wo fadenförmige Pseudopodien amoeboider Zellen pendelartige Schwingungen ausführten, anfangs unregelmässig und langsam, später rhythmisch, bis sie sich zu wirklichen, dauernden Wimpern entwickelt hatten. Wenn nicht schon eine sorgfältige Be- obachtung der einzelnen Momente bei den verschiedenen Contractions- erscheinungen allein die Identität des ihnen zu Grunde liegenden Princips und ihre Zusammengehörigkeit allen anderen Bewegungsmodis

^) P. Jensen: „Die absolute Kraft einer Flimmerzelle." In Pflüger's Arch, f. d. fi^es. Physiologie Bd. 54. 1893.

^) Exgelmann: „lieber den faserigen Bau der contractilen Substanzen, mit be- sonderer Berücksichtigung der glatten und doppelt schräggestreiften Muskelfasern." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 2-5. 1881.

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 257

gegenüber deutlich genug bewiese, so bedürfte es nach diesen letzteren Thatsachen keines weiteren Beweises mehr, um ihren genetischen Zu- sammenhang ausser Zweifel zu setzen.

Die Contractionserscheinungen der lebendigen Substanz folgen überall dem gleiclien Princip. Mag die lebendige Substanz als A m o e b e auf den faulenden Blättern einer VA'asserpfütze umherkriechen, mag sie sich als weisses Blutkörperchen durch die Saftlücken in den Geweben des thierischen Körpers zwängen , mag sie als Protoplasma- netz in der Cellulosekapsel einer Pflanzenzelle circuliren, mag sie als Muskelfaser die Contractionen des unermüdlichen Menschen- herzens vollführen, mag sie schliesslich als Fl immer haar im Ei- leiter des Weibes die unbefruchtete Eizelle in den Uterus hinabführen, um sie der Befruchtung preiszugeben, überall haben wir dieselbe Er- scheinung der abwechselnden Contraction und Ex- pansion der lebendigen Substanz durch gegenseitige Umlagerung ihrer Theilchen.

2. Die P r 0 d u c t i 0 n von Licht.

In den Bewegungen der lebendigen Substanz, vor Allem in den Contractionserscheinungen, tritt am deutlichsten der Umsatz der in den Körper als Nahrung eingeführten Energiepotentiale in lebendige Energie hervor. Viel weniger in die Augen springend zeigt sich dieselbe That- sache in der Production anderer Formen lebendiger Energie, in der Production von Licht, Wärme und Elektricität, zu deren Nachweis es sogar theilweise sehr complicirter Methoden und empfind- licher Instrumente bedarf.

Die Production von Licht ist nächst der Production mechanischer Bewegungsenergie noch am sinnfälligsten und hat von jeher einen geheimnisvollen Zauber auf den Beobachter ausgeübt. Es hat in der That einen märchenhaften Reiz, wenn man an einem warmen Abend auf ruhigem Meere bei jedem Ruderschlag das Meer aufleuchten sieht in hellem, gelblichem Glänze, oder wenn man in einer lauen Frühlings- nacht die Landschaft des Südens erfüllt sieht von tausendfachen Funken, die lautlos aufblitzen und verschwinden und magische Kreise durch die milde Nachtluft ziehen.

Das Leuchten der lebendigen Substanz ist im ganzen Organismen- reiche weit verbreitet. Vor Allem ist es eine bedeutsame Thatsache, dass gerade die wunderbaren pelagischen Thiere, deren zarte, glashell durchsichtige Körper die oberen Schichten der Meere erfüllen und als ., Plankton" umhertreiben, fast sämmtlich die Fähigkeit des Leuchtens besitzen. Es legt diese Thatsache die Vermutung nahe, dass die Leuchtfähigkeit der lebendigen Substanz möglicher Weise viel weiter verbreitet ist, als wir es wissen, dass wir das Licht nur nicht sehen, Aveil die Organismen nicht durchsichtig sind, oder weil die Licht- production zu schwach ist, als dass sie durch dickere Körperschichten hindurch gesehen werden könnte ; ja, es ist nicht unmöglich , dass in unserem eigenen Körper gewisse Zellen Licht produciren. In den meisten Fällen freilich , wie bei den leuchtenden Insecten , dürfte das Leuchtvermögen eine durch Selection besonders ausgebildete Eigen- thümlichkeit sein, die ihre eigene Bedeutung für das Leben der be- treffenden Thiere hat. Auch bei den pelagischen Seethieren ist eine

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 17

258

Drittes Capitel.

solche Bedeutung jedenfalls vorhanden, besonders da sie meistens nur auf Reizung plötzlich aufleuchten, so dass man vermuthen kann, dass das Leuchten als Schreckmittel gegen Feinde dienen mag.

Spontanes Leuchten finden wir viel weniger verbreitet. Es tritt uns besonders entgegen bei gewissen Fäulnissbakterien, die auf

faulenden Seefischen und Fleisch leben (Bacterium phospho- r e s c e n s) , soAvie bei Pilzen (Agaricus) und bei einzelnen Insecten (Elater, Lampy- r i s etc.).

Bezüglich der Art des Lichtes liegen zahlreiche Unter- suchungen vor, so z, B. von Paxceri und Secchi an Salpen (P y r 0 s o m a) , von Mosely an Tiefsee-Coelenteraten ( A 1 c y o - narien) und in neuerer Zeit besonders von Langley und Very ^) an dem Leuchtkäfer Pyrophorus noctilucus. Um einen Vergleich des In- sectenlichts mit dem Sonnenlicht Zugewinnen, entwarfen Langley und Very ein Spectrum des Lichts von Pyrophorus und ein Sonnenspectrum übereinan- der (Fig. 113). Dabei stellte sich heraus, dass bei gleicher Helligkeit beider Lichtarten das Sonnen- spectrum sowohl weiter nach der violetten wie nach der rothen Seite

Fig. 112. Noctiliica miliaris, eine

pelagisch lebende Geisseizelle, welche auf

Reizung leuchtet.

Fig. 113.

I Spectrum vom Sonnenlicht, II Spectrum von Pyrophorus noctilucus. Nach Langley und VtKv.

hinüberreicht als das Licht des Pyrophorus, dass dagegen das Licht des Käfers im Grün intensiver ist als das Sonnenlicht.

Dass die Entstehung einer so eigenthümlichen Erscheinung die

Aufmerksamkeit der Forscher besonders gefesselt hat, ist leicht be-

') Langlev and Very: „On the cheapest form of lig-ht, from studies at the Alleghany Observatory." In the American Journal of science Stt series, vol. XL. 1890.

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 259

greif lieh, und es ist nicht zu verwundern, wenn eine unabsehbare Litteratur über die Vorgänge des Leuchtens entstanden ist. PflCger') hat eine Reihe der physiologisch interessanteren Angaben darüber zu- sammengestellt. Daraus geht hervor, dass die verschiedensten Vor- stellungen über die Entstehung des Leuchtens der Organismen auf- getaucht sind. Vor Allem hat der dem Laien sehr nahe liegende Gedanke, dass das Leuchten auf der Anwesenheit von Phosphor be- ruhe, mit dessen mildem Licht das organische Leuchten eine gewisse äussere Ähnlichkeit besitzt, früher grossen Anklang gefunden. Allein genaue Untersuchungen haben doch gezeigt, dass das Leuchten der Organismen mit Phosphor schlechterdings in keiner Beziehung steht. Das geht unter Anderem schon aus der Thatsache hervor, dass das Leuchten das Leben der Zelle voraussetzt. Wir können das Leuchten schon an der einzelnen Zelle beobachten, sei es eine freilebende Bak- terien-, Infusorien-, Radiolarienzelle, oder sei es eine Gewebezelle eines zusammengesetzten Thier- oder Pflanzenkörpers. Aber stets ist es die lebendige Zelle. Nur die lebendige Bakterienzelle leuchtet und macht in ihrer millionenfachen Anzahl das faule Fleisch der Seefische in geheimnissvollem Licht erglänzen, nur die lebendige Infusorien- und Radiolarienzelle leuchtet und lässt in ihrer ungezählten Schaar im Meer ein magisches Funkensprühen entstehen, nur die lebendigen Gewebezellen der verschiedensten See- und Landthiere sind es, welche die Sommernächte mit ihrem intensiven Licht er- hellen. Ueberall im ganzen Organismenreiche ist das Leuchten an die lebendige Zelle gebunden, wenn auch, wie R. Dubois^) gezeigt hat, bei gewissen Thieren, wie z.B. der Bohrmuschel Pholas, die leuch- tende Substanz als Zellproduct vom Körper ausgestossen werden kann, ohne sofort ihr Leuchtvermögen einzubüssen. In jedem Falle wird die leuchtende Substanz der leuchtenden Organis- men nur im Stoffwechsel der lebendigen Zelle pro- ducirt. Phosphor aber ist ein energisches Gift für alle lebendige Substanz, er würde sich also in freiem Zustande, wo er leuchtet, un- möglich mit dem Leben der Zelle vertragen. In der That hat man denn auch nirgends an leuchtenden Thieren eine Spur von freiem Phosphor oder leuchtenden Phosphorverbindungen gefunden. Indessen können wir mit Sicherheit sagen, dass das Leuchten der lebendigen Substanz wie beim Phosphor an den Ablauf langsamer Oxydations- processe gebunden ist. Das geht vor Allem daraus hervor, dass das Leuchten nur bei Anwesenheit von Sauerstoff fortdauert, dagegen er- lischt bei Sauerstoffentziehung, um erst meder zum Vorschein zu kommen bei erneuter Sauerstoffzufuhr. Ferner hat Fabre^) ge- funden, dass der leuchtende Pilz Agaricus während des Leuchtens viel mehr Kohlensäure producirt, als wenn er nicht leuchtet. Schliess- lich gehört hierher, was Max Schultze*) an den Zellen der Leucht- organe von Leuchtkäfern beobachtete, nämlich, dass diese Leucht-

^) Pflüger: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organis- men." In Pflüger's Arch. Bd. 10. 1875. Derselbe: „Ueber die Phosphoreseenz verwesender Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. 11. 1875.

2) Raphael Dcbois: „Anatomie et physiologie comparees de la Pholade dactyle." In Annales de l'Universite de Lyon, tome II. 1892.

^) Fabre: In Compt. reud. 41, pag. 1245.

*) Max Schcltze: „Zur Kenntniss der Leuchtorgane von Lampyris splendidula." In Arch. f. mikr. Anatomie Bd. I.

17*

260 Drittes Capitel.

Zellen immer mit den als Athemröliren dienenden „Tracheen" in engster Berührung stehen, und wenn man sie unter dem Mikroskop mit Ueber- osmiumsäure zusammenbringt, der letzteren Sauerstoff entziehen , eine Thatsache, die an der Entstehung eines schwarzen Niederschlages zu erkennen ist. Die leuchtenden Zellen verbrauchen also energisch Sauerstoff. Sehr treffend sagt daher Pflüger : „Hier in dem wunder- baren Schauspiel der thierischen Phosphorescenz hat die Natur uns ein Beispiel gegeben, Avelches zeigt, avo die Fackel brennt, die wir Leben nennen." „Es ist gewiss kein seltener Ausnahmefall, sondern nur die speciellere Aeusserung des allgemeinen Gesetzes, dass alle Zellen fortwährend im Brande stehen, wenn wir das Licht auch nicht mit unserem leiblichen Auge sehen."

Was für specielle Oxydationsvorgänge es aber sind, mit denen das Leuchten der lebendigen Organismen verbunden ist, darüber können wir freilich bei der überaus lückenhaften Kenntnis des Stoffwechsel- chemismus bis jetzt kaum etwas mit einiger Sicherheit sagen. Am meisten Licht haben die schönen Untersuchungen von Radziszewski ^) über diese Processe verbreitet. Radziszewski hat eingehend die Bedingungen studirt, unter denen chemische Stoffe Phosphorescenzerscheinungen zeigen und hat gefunden, dass eine ganze Reihe von organischen Körpern leuchtet, wenn sie sich in alkalischer Lösung mit activem Sauerstoff langsam verbinden. Solche Körper sind vor Allem viele Fette, ätherische Oele, Kohlenwasserstoffe und Alkohole. Bei vielen tritt das Leuchten schon unter gewöhnlicher Temperatur, bei anderen erst beim Erwärmen ein. Setzt man z. B. in einem Reagenzglase Oelsäure zu einer alkoholischen Lösung von Kali- hydrat, so bemerkt man im Dunkeln ein kurz dauerndes Leuchten beim Auflösen, Lässt man, nachdem das Leuchten aufgehört hat, einen Tropfen Wasserstoffsuperoxydlösung in die Flüssigkeit fallen, so sieht man mit dem zu Boden sinkenden Tropfen einen hellen Licht- streifen durch das Reagenzglas ziehen , weil das Wasserstoffsuperoxyd activen Sauerstoff an die Oelsäure abgiebt. Noch deutlicher zeigt sich dasselbe Phänomen des Leuchtens, wenn man die Oelsäure in reinem Toluol auflöst, das ebenfalls ein phosphorescenzfähiger Körper ist und dann damit ein Stück Kali- oder Natronhydrat übergiesst. Die Intensität des Leuchtens kann stets durch Umschütteln gesteigert werden, weil durch das Schütteln die freien Sauerstoffatome mit den Molekülen des phosphorescenzfähigen Körpers noch mehr in Berührung gebracht werden. Thut man z. B. in einen Glaskolben eine aus gleichen Theilen bestehende Mischung von reinem Toluol und Leber- thran, welch letzterer ausser Oelsäure auch stets freie Sauerstoffatome einschliesst, wirft in die Mischung einige Stücke Kali- oder Natron- hydrat, und erwärmt das Ganze gelinde, so sieht man zunächst im Dunkeln kein Leuchten. Schüttelt man aber den Inhalt des Kolbens nur leicht um, so erblickt man „sofort ein schönes wie ein Blitzstrahl die ganze Masse durchlaufendes Licht".

Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, dass es sich beim Leuchten der lebendigen Substanz um analoge Processe handelt. Fette und Oele etc. haben wir ja weit verbreitet in der lebendigen Substanz und Panceri giebt von gewissen leuchtenden Seefischen direct an, dass das

') Radziszewski: „Ueber die Phosphorescenz der organischen und organisirten Körper." In Liebig's Annalen der Chemie Bd. 203. 1880.

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 261

flüssige Fett der leuchtende Körper sei. Stoffe, welche eine alkalische Reaction geben, sind ebenfalls überall in der lebendigen Su])stanz zu linden, und da wir schliesslich wissen, dass das Leuchten der Organismen an Oxydationsprocesse geknüpft ist, so sind hier dieselben Bedingungen gegeben wie in den Experimenten von Radziszewski.

3. Die Production von Wärme,

Die Production von Wärme ist schon weit weniger sinnfällig als die Lichtproduction. Während wir die Lichtproduction bereits an der einzelnen Zelle mit Leichtigkeit beobachten können, ist die Wärme- production der einzelnen Zelle, wegen der geringen Grösse des Objects, mit unseren rohen Instrumenten der Temperaturmessung überhaupt nicht messbar. Und dennoch müssen wir annehmen , dass im Innern einer jeden Zelle Wärme producirt wird, denn in jeder lebendigen Zelle spielen sich chemische Processe ab, die mit Production von lebendiger Energie verlaufen, und die Wärme ist gerade diejenige Form der lebendigen Energie, welche bei allen derartigen Processen ausnahmslos, sei es allein, sei es neben anderen Energieformen resultirt. Ja, wir haben sogar guten Grund, mit Pflüger zu vermuthen, dass in einzelnen Molekülen der lebendigen Substanz, z. B. bei der Ent- stehung des Kohlensäuremoleküls, blitzartig Temperaturen von mehreren tausend Grad Celsius entwickelt werden , da beispielsweise die Ver- brennungswärme des Kohlenstoffs 8000 Calorieen beträgt. Indessen die Grösse eines Kohlensäuremoleküls ist verschwindend klein in der Zelle, und das Molekül ist umgeben von einer ungeheuren Zahl von andern Molekülen, die eine sehr niedrige Temperatur besitzen. Die plötzlich aufblitzende Wärme gleicht sich daher ebenso schnell aus, wie sie entsteht, und da die wärmebildenden Moleküle nicht alle gleich- zeitig entstehen, sondern bald hier, bald dort zwischen der grossen Masse anderer Moleküle auftauchen, so liegt es auf der Hand, dass die aus dem Ausgleich aller verschiedenen Einzeltemperaturen resul- tirende Gesammttemperatur der Zelle keine sonderliche Höhe erreichen kann. Dazu kommt, dass wir mit unseren rohen Methoden der Wärmemessung noch nicht einmal die wirkliche, nach aussen abge- gebene Wärme einer einzelnen Zelle messen können, da der grösste Theil durch Leitung und Strahlung dabei verloren geht. Es ist daher nothwendig, für die Feststellung der Wärmeproduction nicht die ein- zelne Zelle, sondern grössere Zellencomplexe zu benutzen, wie sie um- fangreiche Gewebemassen oder ganze Organismen bieten.

Am deutlichsten macht sich die Production von Wärme bemerk- bar am Körper der „homoiothermen" Thiere, der sogenannten Warm- blüter. Wir haben schon gesehen, dass man in neuerer Zeit die alt- hergebrachte Eintheilung der Thiere in Warmblüter und Kaltblüter zweckmässig ersetzt hat durch die Eintheilung in „homoi o th erme" und „poikilotherme" Thiere, d. h. in solche, die unter allen äusseren Bedingungen immer die gleiche Körpertemperatur behalten, und solche, deren Körpertemperatur mit der Temperatur der Umgebung steigt und sinkt. Die homoiothermen Thiere zeigen am deutlichsten die Wärmeproduction des Körpers, weil sie Vorrichtungen haben, die Wärme bis zu einer ganz bestimmten Höhe in sich aufzuspeichern und durch äusserst feine Regulirung auf dieser Höhe zu erhalten.

262

Drittes Capitel.

Daher ist der Körper der homoiothermen Thiere bei nicht zu hoher Aussentemperatur stets wärmer als das umgebende Medium. Das lässt sich einfach auf dem Wege thermometrischer Messung feststellen. So besitzt der Körper des Menschen in seinem Innern dauernd eine Temperatur von 37 39*^ C, an seiner Oberfläche entsprechend der äusseren Abkühlung etwas weniger, in der Mundhöhle etwa 37, in der Achselhöhle ungefähr 3(5,5 ° C. Die höchste Körpertemperatur haben die Vögel mit ihrem lebhaften Stoffwechsel, z. B. die Schwalbe bis über 44 ° C. Dass aber auch die poikilothermen Thiere , wenn sie unter Bedingungen sich befinden, wo die von ihnen producirte Wärme aufgespeichert und nicht durch Leitung oder Strahlung an das Medium abgegeben wird, be- deutende Temperaturen erzielen können, geht aus der Thatsache hervor, dass Bienen in ihrem Bienenkorbe Temperaturen von 30 40** C. er- zeugen. Ja , selbst Pflanzen können , vor Allem beim Keimen und bei energischem Wachsthum, wo die Stoffwechselprocesse sich besonders leb- haft abspielen, ihre Temperatur thermometrisch erkennbar über die Temperatur der Umgebung erhöhen. So konnte z. B. Sachs an Erbsen, die er auf einem Trichter unter einer Glasglocke (Fig. 114) keimen Hess, mit dem Thermometer eine Temperaturerhöhung von 1,5 ** C. feststellen. Ganz ausserordentliche Werthe aber sind an den Blüthenkolben der eigenthümlichen Aroideen während ihrer Entwicklung beobachtet worden. Hier fand man nicht selten Temperatursteige- rungen von 15° C. Auch bei der Vergährung von Zuckerlösungen wird durch die Hefezellen eine Temperatursteigerung der Zuckerlösung er- zeugt, die unter günstigen Bedingungen mehr als 14° C. betragen kann.

Um feinere Temperaturverände rungen festzustellen, besonders an den Geweben der poikilothermen Thiere, reicht die rohe Methode der Temperaturmessung mit dem Thermometer nicht aus, und man hat sich daher der feineren Me- thode der thermoelektrischen Temperaturmessung bedient. Bekanntlich wird in einem thermoelek- trischen Element, das aus zwei verschiedenen, an einem Ende miteinander verlötheten Metallstücken (am besten Neusilber und Eisen oder Antimon und Wismuth) besteht, durch die geringste Erwärmung der Löthstelle eine elektrische Spannung erzeugt. Verbindet man daher die beiden freien Enden der Metalle durch einen Draht, so dass ein geschlossener Kreis entsteht, so kann man von ihnen einen elektrischen Strom ableiten, dessen Vorhandensein durch die Ablenkung einer in seiner Nähe befindlichen Magnetnadel angezeigt wird. Für den Nachweis ganz schwacher elektrischer Ströme dienen besonders empfind- liche Apparate, der „Multiplicator" und das „Galvanometer" , deren Magnete schon bei den feinsten Strömen einen Ausschlag geben. Der Multiplicator besteht aus einem leicht beweglich aufgehängten „astatischen Nadelpaar", d. h. zwei horizontalen Magnetnadeln, die

Fig. 114. Vorrichtung zum Nachweis der Temperaturerhöh- ung beim Keimen von Erbsen. Unter einer Glasglocke befin- det sich ein Trichter mit keimenden Erbsen , in die ein Thermometer- rohr hineinragt. Nach Sachs.

Vou den elementareu Lebeuserselieinimgcii

263

Fig. 115. Multiplicator. 7 Schema des- selben. An einem Coeonfaden G hängt das astatische Nadelpaar mit den Nordpolen N lind Nx- Um die untere Nadel sind die Drahtwindungen W herumgeleitet, die obere Nadel bewegt sich über einer graduirten Scheibe. Nach Landois. II Multiplicator fertig aufgestellt. Nach Cyon.

II

Fig. 116«. Spiegelgalvanometer. Auf einem Brett befindet sich ein von zwei Säulen getragenes Stativ, an dem in einer Glasröhre von oben her ein Coeonfaden mit einem Magnetring herunterhängt. Zu beiden Seiten befinden sich zwei Drahtrollen.

Nach Cyon.

264

Drittes Capitel.

Fi?. 116,9.

Fig. 116,5. Das Stativ allein mit dem Magnet- ring in der Mitte, der oben mit einem kleinen Spiegel in Verbindung steht, welcher alle Bewegungen des in einem Gehäuse auf- gehängten Magnetrings mitmacht. Nach CvoN.

Fig. 116 j'. /Versuchsanordnung für eine thermoelektrische Messung. «, / Thermo- elektrische Nadeln, die einerseits durch den Draht b, andrerseits durch den Draht b^ mit- einander verbunden sind, welcher letztere Fi»-. 116)'. um den Magnetring m mit dem Nordpol n

in Windungen herumgeht. Der Magnetring m ist an einem Coconfaden c aufgehängt und fest mit einem Spiegel s verbunden. Vor dem Maguetring befindet sich ein Magnetstab J/ mit dem Nordpol J\' in einer solchen Entfernung, dass der Magnetring sich eben grade noch nach Norden einstellen kann. Daher genügt eine ausserordentlich geringe Stromintensität, um ihn aus seiner Lage abzulenken. Vor dem Galvanometer befindet sich ein Fernrohr F mit einer Scala KK. deren Spiegelbild der Beobachter B in dem Spiegel <S' des Galvanometers beobachten kann, so dass er jede Bewegung des Spiegels resp. des Magnetrings an der Verschiebung des Spiegelbildes der Scala wahr- nimmt. II und III Verschiedene Formen thermoelektrischer Nadeln, a Neusilber,

/ Eisen. Nach Lasdois.

beide parallel übereinander so befestigt sind, dass der Nordpol der einen über dem Südpol der anderen liegt. In der Nähe der unteren Magnetnadel ist der Draht des Stromkreises zu einer Rolle von ausserordentlich vielen Touren aufgewickelt, so dass, wenn ein Strom hindurchgeht, jede einzelne Windung in gleichem Sinne ablenkend auf die Magnetnadel wirkt. Die obere Magnetnadel be- findet sich über einer in Grade eingetheilten Scheibe, so dass man hier die Ablenkung der Magnetnadel messen kann (Fig. 115). Beim Galvanometer (Fig. 11(3) hat der Magnet die Form eines Ringes, der an einem Coconfaden in dem Hohlraum der windungsreichen Draht- rolle aufgehängt ist, und an dem Ringe ist ein kleiner Spiegel befestigt, der alle Bewegungen des Ringes mitmacht (Fig. 1\Q ß \x. y s). In einiger Entfernung von dem Apparat steht ein Fernrohr, an dem sich eine Scala

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

265

befindet, deren Spiegelbild man bei genauer Einstellung durch das Fernrohr im Spiegel des Galvanometers beobachtet (Fig. 11 G 7). Die geringste Ablenkung des Magnetrings zeigt sich daher im Fernrohr durch eine Verschiebung des Spiegelbildes der Scala an. Nach dem Umfang dieser Verschiebung kann man die Stärke des elektrischen Stromes und danach empirisch die Grösse der Erwärmung des thermo- elektrischen Elements, oder besser einer ganzen Säule von thermo- elektrischen Elementen berechnen und so die feinsten Temperatur- vei'änderungen feststellen, die ein lebendiges Gewebe erfährt, hei der- artigen Untersuchungen hat es sicli herausgestellt, dass bei stärkerer Thätigkeit der Zellen eines Gewebes, etwa einer Drüse oder eines Muskels, auch eine höhere Temperatur erzeugt wird, als bei geringerer Thätigkeit oder in der Ruhe. Das ist ein Ergebniss, das mit unseren

Fig. 117. Dülong's Wassercalorimeter. Kasten mit doppelter Wand. In dem breiten Räume zwischen beiden Wänden befindet sich Wasser, durch das in Schlangen- windungen ein Rohr nach dem Innern des Kastens läuft, um von aussen her bei D dem Thiere, das sich im Kasten befindet, Luft zuzuführen und die verbrauchte Luft durch JD' wieder abzuführen. Bei Tu. T' befinden sich Thermometer. Nach Rosenthal.

Auffassungen von der Wärmeproduction im besten Einklang steht, denn die stärkere Thätigkeit der Zellen beruht auf einem stärkeren Stoffwechsel in ihnen, und die Wärme ist eine Erscheinung, die aus den chemischen Umsetzungen in der Zelle resultirt. Uebrigens ist es eine alte Erfahrung, dass man sich durch angestrengte Muskelthätig- keit in ergiebigster Weise erwärmen kann.

Alle Temperaturmessungen, sei es mit dem Thermometer, sei es auf thermo elektrischem Wege, dienen indessen nur dazu, die Höhe der Temperatur, die an irgend einer Stelle des Organismus zu irgend einer Zeit herrscht, festzustellen. Sie geben keinen Aufschluss über die W^ärmemenge, die der Organismus oder das einzelne Gewebe producirt. Allein auch diese Wärme m enge hat man festzustellen gewusst, indem man die Anzahl der Wärmeeinheiten oder „Calorieen" untersuchte, die ein lebendiger Körper in einer bestimmten Zeit nach aussen abgiebt. So entstand neben der „Therm ometri e" die

266 Drittes Capitel.

„Calor imetrie". Bekanntlich ist eine Calorie diejenige Wärme- menge, welche noth wendig ist, um 1 Kilogramm Wasser von 0 " C auf 1 " C. zu erwärmen. Um daher die Anzahl der Calorieen zu messen, welche ein lebendiger Körper, etwa ein Thier, in einer bestimmten Zeit producirt, hat man ein Wassercalorimeter construirt, das aus einem ringsherum verschliessbaren Kasten mit doppelter Wandung besteht. Der Raum zwischen den beiden Wänden wird mit Wasser gefüllt, in den Kasten selbst kommt das Thier hinein, und das Ganze wird durch einen nicht wärmeleitenden Mantel vor Abkühlung oder Erwärmung von aussen her geschützt. Die Wärme, welche das Thier producirt, theilt sich dem Wasser mit und erhöht die Temperatur des- selben, die man an einem Thermometer, das im Wasser steckt, ab- lesen kann. Verschiedene Einrichtungen dienen noch dazu, um die Fehlerquellen, welche auf etwaigem Verlust von Wärme beruhen, möglichst einzuschränken. So kann man aus der Menge des Wassers und der Erwärmung desselben in einer bestimmten Zeit die Wärme- production des Thieres annähernd genau feststellen. In neuerer Zeit ist das Wassercalorimeter mehr durch das Luftcalorimeter ver- drängt worden, bei dem der Käfig, in welchem das Versuchsthier sich befindet, umgeben ist von einem geschlossenen Luftmantel, dessen Luft durch die vom Thiere abgegebene Wärme ausgedehnt wird, so dass aus dem Grade ihrer Ausdehnung die Menge der producirten Wärme sich leicht berechnen lässt. Theils auf die eine, theils auf die andere Methode haben Dulong, Desprez, Helmholtz, Rosenthal und Rubner die vom thierischen Körper producirte Wärmemenge festgestellt. Da die sämmtliche thierische Wärme aus der in den Körper eingeführten chemischen Energie der Nahrung stammt, und da alle Energie des Körpers, falls dieser keine Arbeit leistet, in letzter Instanz in Wärme umgesetzt wird, so muss die in Calorieen ausgedrückte Menge der chemischen Energie, welche in den Körper durch die Nahrung einge- führt wird, nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie gleich sein der Menge der vom Körper nach aussen abgegebenen Wärme. In der That hat sich auch dieses Resultat aus den Versuchen mit aller nur erreichbaren Genauigkeit ergeben , und damit ist die Gültigkeit des Gesetzes von der Erhaltung der Energie auch für den lebendigen Körper noch experimentell erhärtet.

4. Die Production von Elektricität.

Die Production von Elektricität lässt sich bis jetzt ebensowenig wie die der Wärme an der einzelnen Zelle nachweisen, weil selbst unsere feinsten Apparate zu roh sind, um sie auf die winzige Zelle anzuwenden. Es bedarf also auch hier grösserer Zellencomplexe zur Untersuchung. Die Fälle aber, wo man an solchen die Elektricitäts- production ohne besondere Hülfsmittel wahrnehmen kann, sind noch viel geringer an Zahl, als die Fälle der direct wahrnehmbaren Wärme- production, die ja alle homoiothermen Thiere zeigen. Die Production von Elektricität ist ausschliesslich da ohne Weiteres zu beobachten, wo sie in grossem Maasstabe erfolgt, d. h. nur bei den elektrischen Fischen, deren heftige Schläge denn auch bereits den Alten bekannt waren. Im Uebrigen ist die Geschichte der thierischen Elektricitäts- lehre eng mit der Entdeckung des Galvanismus verbunden und knüpft sich an die Namen Galvani und Volta selbst. Gewiss ist es ein

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 267

merkwürcliger Zufall, dass die Entdeckung der physikalischen Tliatsache des Galvanismus gerade von physiologischen Er- scheinungen ausgehen niusste.

Es war an einem Septemberabend des Jahres 1786, als in der alterthiimlichen Universitätsstadt Bologna Aloisio Galvani auf der Terrasse seines Hauses Untersuchungen über den Eintluss der atmo- sphärischen Elektricität auf abgehäutete Froschschenkel anstellte, wie er sie schon mehrere Jahre früher in Gemeinschaft mit seiner früh- verstorbenen Gattin Lucia ausgeführt hatte. Er zog dabei durch die noch mit den Nerven zusammenhängende Wirbelsäule eines Frosches einen kupfernen Haken. Da, als er dieses Präparat auf das eiserne Geländer der Terrasse legte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass jedesmal, wenn der Haken das Geländer berührte, die darauf liegen- den Froschschenkel heftige Zuckungen ausführten. Diese einfache Beobachtung sollte der Ausgangspunkt für die Entdeckung der Be- rührungselektricität werden, deren unabsehbare Tragweite in cultureller Beziehung erst unsere Zeit würdigen lernen durfte. Alessandro Volta fand nämlich die Erklärung dieser Erscheinung, indem er feststellte, dass bei der Berührung von zwei verschiedenen Metallen mit einem feuchten Leiter eine elektrische Spannung entsteht, die sich in Form eines elektrischen Stromes ausgleicht, sobald die Metalle miteinander verbunden werden. Die Nerven und Muskeln des Frosches bildeten bei Galvani's Anordnung diese feuchte Leitung zwischen dem Kupfer- haken und dem Eisengeländer. So ging der Strom durch die Muskeln und reizte sie, dass sie zuckten. Leider kämpfte Galvaxi gegen diese richtige Deutung Volta's selbst an, da er sich vorstellte, dass die Zuckung der Froschschenkel durch Elektricität, die in ihnen selbst entstände, hervorgerufen sei. Allein auch dieser Irrthum sollte den glücklichen Mann Avieder zu einer neuen Entdeckung führen. Da er bemüht war, Volta zu beweisen, dass die Berührung^ der Metalle zum Zustandekommen der Zuckung nicht nothwendig sei, so suchte er die Zuckung auch ohne Metalle zu erzeugen, und das gelang ihm, indem er den frisch präparirten Nerven eines Froschschenkels an seinem freien Ende mit dem Muskelfleisch in Berührung brachte. In diesem Versuch wird, wie wir jetzt wissen, der Nerv in der That von dem im Muskel selbst producirten elektrischen Strome gereizt, und so wurde Galvani Entdecker der thierischen Elektricität, wie er vor- her, wenn auch unbewusst, Entdecker der Berübrungselektricität ge- worden war.

Um die weitere Entwicklung der Lehre von der thierischen Elek- tricität bemühten sich Pfaff , Humboldt , Ritter , Nobili, Matteucci und Andere; allein erst den klassischen Untersuchungen du Bois- Reymond's^) war es vorbehalten, dieses damals noch halb mystische Gebiet der Physiologie, das als eine der Hauptstützen für die Lehre von der Lebenskraft galt, auf eine klare, exacte Grundlage zu stellen, und zwar dadurch, dass er zunächst eine zuverlässige und umfang- reiche Untersuchungsmethodik schuf. Versuchsobjecte bildeten aus naheliegenden Gründen anfangs nur die Muskeln und Nerven des Frosches, allein bald zog du Bois-Reyjiond auch die interessanten Erscheinungen der elektrischen Fische mit in den Kreis seiner Unter- suchungen, und zahlreiche Forscher, wie H. Muxk, Hermann, Engel-

*J De Bois-Reymosd: „Untersuchungen über thieriscbe Elektricität." Berlin 1848.

268

Drittes Capitel.

MANN, Bernstein, und in neuester Zeit Biedermann ^) untersuchten auch die elektrischen Erscheinungen an Pflanzen und an den verschiedensten thierischen Geweben. Den SchUissel für das Verständniss der elek- trischen Erscheinungen an der lebendigen Substanz verdanken wir den Untersuchungen von Hermann. Dass aber die Lehre von der thierischen Elektricität eines der bestgekannten Gebiete der Physio- logie werden konnte, das ist unstreitig das Verdienst der grundlegen- den Arbeiten du Bois-Reymond's.

Die einfachste Methode, einen galvanischen Strom zu gewinnen, ist bekanntlich die, dass man zwei verschiedene Metallstreifen, etwa Kupfer und Zink, die an ihrem einen Ende miteinander verlöthet sind, an ihren freien Enden mit einem „feuchten Leiter", etwa einem nassen Faden, in Berührung bringt (Fig. 118^). Im Moment, wo die beiden freien Metallenden durch den feuchten Leiter miteinander ver-

B

Fig. 118. A Primitive Vorrichtung zur Er- zeugung eines galvanischen Stromes. Zn Zink, Cu Kupfer, beide unten verbunden durch einen feuchten Faden. Die Pfeile geben die Richtung des Stromes an. B Einfachste Form eines galvanischen Elementes. Zwei Metallstreifen (Kupfer -f- u. Zink ) tauchen in eine Flüssig- keit und sind au ihren freien Enden metallisch miteinander verbunden, geht in der Richtung der Pfeile.

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Der Strom

bunden werden, beginnt ein elektrischer Strom in dem geschlossenen Kreise zu fliessen, der vom Zink durch den feuchten Leiter nach dem Kupfer, und vom Kupfer durch die Löthstelle wieder auf das Zink übergeht und so lange circulirt, als der Kreis geschlossen bleibt. Es ist das die Anordnung, welche dem ursprünglichen Galvani' sehen Experiment entspricht, bei dem der Nerv den feuchten Leiter zwischen den beiden Metallen Kupfer und Eisen vorstellte. Dieses Princip, einen galvanischen Strom zu erzeugen, ist in etwas vervollkommneter Form in den „galvanischen Elementen" verwandt worden (Fig. 118 jB), in denen als feuchter Leiter eine Flüssigkeit benutzt wird, während die beiden Metalle, welche mit ihren unteren Enden in den Flüssigkeitsbehälter tauchen, an ihren oberen Enden anstatt durch

1) W. Biedermann: „Elektrophysiologie." 2 Bde. Jena 1895. Hier ist das ganze Gebiet unter Berücksichtigung der sämmtlichen Literatur methodisch nach neueren Gesichtspunkten zusammengefasst.

Von den elementaren Lebenserscheinunpen. 269

Lötliiing durch einen Kupferdraht miteinander in Berührung stehen, was den Vortheil hat, dass man mittels des biegsamen Drahtes den Strom hinleiten kann, wo man ihn gerade braucht.

Ucber die Entstehung eines galvanischen Stromes hat SonNCKE') auf Grund der Anschauungen von Clausius über die Elektricitäts- verhältnisse in Flüssigkeiten eine sehr klare Vorstellung entworfen. Nach Clausius -) sind die Moleküle in einer Flüssigkeit in fortwähren- der durciieinander wimmelnder Bewegung begriffen, wobei sich ein Theil in seine Atome spaltet, während ein anderer Theil von Atomen sich wieder zu Molekülen vereinigt. Es sind also immer gleichzeitig freie Atome und ganze Moleküle in der Flüssigkeit. Während aber das geschlossene Molekül als Ganzes nach aussen hin elektrisch in- different ist, haben die verschiedenartigen Atome eines Moleküls, etwa des Wassers KjO, wenn sie frei sind, verschiedene Elektricität, und zwar der Wasserstoff H positive, der Sauerstoff O negative. Innerhalb der Flüssigkeit behalten die freien Atome ihre elektrische Ladung, denn kommen sie mit einem gleichartig geladenen zusammen, so stossen sie sich ab, treffen sie auf ein ungleichartig geladenes, so bleiben sie nicht mehr frei, sondern verbinden sich chemisch zu einem Molekül, das nach aussen hin indifferent ist. Anders wird aber das Verhältniss, wenn in die Flüssigkeit eine Metallplatte ein- getaucht wird, die auf die freien Atome der einen Art eine chemische Anziehung ausübt. Dann sammeln sich die letzteren an der Ober- fläche der Metallplatte an und geben durch Leitung ihre elektrische Spannung auf die unelektrische und leitende Metallplatte ab. Wird daher in ein Gefäss mit angesäuertem Wasser eine Zinkplatte ein- getaucht, so sammeln sich die freien Sauerstoffatome an der Ober- fläche der Zinkplatte an und geben ihre negative Elektricität an die- selbe ab , so dass sie negativ geladen wird. Taucht gleichzeitig eine Kupferplatte in die Flüssigkeit, so sammeln sich hier die Wasserstoff- atome und geben an die Kupferplatte ihre positive Ladung ab. Es entsteht also eine elektrische Spannung zwischen beiden Metallen, und wenn wir die freien Enden der Kupfer- und Zinkplatte nunmehr durch einen metallischen Leiter miteinander verbinden , so kann sich die Spannung ausgleichen. Während dessen werden aber an der Be- rührungsstelle der Metalle mit der Flüssigkeit neue Atome angezogen vmd chemisch gebunden, wodurch die Spannung fortwährend und con- tinuirlich wieder hergestellt wird , so dass avif diese Weise ein con- tinuirlicher galvanischer Strom entsteht.

Wie wir durch die Untersuchungen der Elektrochemie, besonders seit der enormen Entwicklung, welche diese Wissenschaft nach den glänzenden Arbeiten von Akrhenius erfahren hat, wissen, tritt bei allen chemischen Processen eine Störung des elektrischen Gleich- gewichts ein. Bei jeder chemischen Spaltung entstehen positiv und negativ elektrische Atome oder Atomgruppen. Finden die gleichen chemischen Processe an allen Punkten eines materiellen Systems in gleichem Umfange statt, so lässt sich davon kein Strom ableiten, denn es besteht keine Spannung zwischen den Ableitungspunkten,

^) L. Sohncke: „Die Entstehung des Stromes in der galvanischen Kette." In Sitzungsber. d. matheni.-physik. Klasse d. kön. bayr. Akad. d. Wiss., 1888, Heft III.

-) Clausius: „lieber die Elektricitätsleitung in Elektrolyten." In PoggendorflTs Annalen 101. 1856.

270

Drittes Capitel.

weil an beiden sowohl positive als negative Atomgruppen in gleicher Menge entstehen (Fig. 119 J). Verlaufen aber in einem materiellen System, wie es eine Flüssigkeitsmasse vorstellt, verschiedenartige chemische Umsetzungen räumlich gesondert, so dass an einer Stelle die Entstehung von positiv, an einer andern dagegen die Entstehung von negativ geladenen Atomgruppen überwiegt, so entwickelt sich zwischen diesen beiden Punkten eine elektrische Spannung, und

II

Fig. 119. Schema. / Ein Flüssigkeitstropfen, in dem die chemischen Processe an allen Punkten gleichartig sind, ist strom- los. // Ein Flüssigkeitstropfen, in dem an zwei verschiedenen Stellen verschiedenartige chemische Pro- cesse verlaufen, giebt einen Strom. Der grosse Kreis ist der Flüssig- keitstropfen, der kleine der Mul- tiplicator mit Magnetnadel. Beide sind verbunden durch Drähte.

es kann von ihnen, solange die Processe andauern, ein galvani- scher Strom nach aussen abgeleitet werden (Fig. 119 11). Die Be- dingungen , unter denen ein galvanischer Strom entsteht, können wir also in folgendem Satz ausdrücken: Von einem materiellen System ist ein Strom nach aussen ableitbar, wenn in ihm chemische Processe auftreten, welche Differenzen in der elektrischen Ladung an beiden Ableitungsstellen erzeugen.

Fig. 120. Schema. /Eine Zelle, in der an allen Punkten ihrer lebendigen Substanz

die gleichen chemischen Processe stattfinden, ist stromlos. II Polar difi"erenzirte Zellen

(z. B. Schleimhautzellen), bei denen am einen Pol andere chemische Processe ablaufen

wie am andern, geben einen Strom.

Dieser Satz hat seine Gültigkeit für die lebendige Substanz ebenso wie für die leblose. Die lebendige Substanz einer Zelle ist ein Flüssig- keitstropfen, in dem sich complicirte chemische Umsetzungen dauernd vollziehen. Sind dieselben an allen Punkten der Zelle gleich, so kann von der Zelle kein Strom abgeleitet werden (Fig. 1207); sind sie aber an zwei verschiedenen Polen der Zelle qualitativ oder quantitativ verschieden, so dass Differenzen in der elektrischen Ladung ent- stehen, so resultirt eine Spannung zwischen diesen beiden Polen, und wenn man sie durch einen Schliessungsbogen miteinander verbinden

Von den elementaren Lebenserscheinungen.

271

T

II

könnte, würde man einen Strom im Schliessungskrei.se erhalten. An der einzelnen Zelle kann man freilich wegen ihrer Kleinheit diesen Versuch nicht machen, aber für den Zellen com p lex, für das Gewebe muss das Gleiche gelten, wie für die einzelne Zelle. Hier, am grösseren Zellencomplex , kann man auch in der That dieses Verhalten con- statiren, und Heümann's*) „DifFerenztheorie", welche sagt, dass nur dann von einem Gewebe (^luskel , Nerv, Schleimhaut etc.) ein Strom ableitbar ist, wenn an den beiden Ableitungsstellen verschiedenartige Processe statttinden, ist nur der Ausdruck der thatsächlichen Verhält- nisse. Ein ruhender unverletzter Muskel , wie z. B. der Musculus sartorius vom Frosch, an dem man sich am besten davon überzeugen kann, ist stromlos, weil an jeder Stelle die- selben inneren Vorgänge stattlinden. Bringen wir aber an zwei Stellen des Muskels künst- lich eine Differenz hervor, indem wir die eine Stelle erwärmen, oder indem wir einen Querschnitt machen, der mit einem localen Zerfall der lebendigen Substanz verbunden ist, oder indem wir schliesslich eine Con- tractionswelle über den Muskel hinlaufen lassen, so bekommen wir einen elektrischen Strom, und zwar verhält sich dann die er- wärmte oder absterbende oder contrahirte Stelle negativ zu jeder normalen. Gewebe, deren Zellen nicht polare Verschiedenheiten besitzen, zeigen im ungestörten Zustande niemals einen Strom, dagegen kann man von Drüsen und Schleimhäuten, deren Zellen polar differenzirt sind, in der Weise, dass der untere Theil des cylindrischen Zell- körpers andere Stoflfe und Stoffumsetzungen beherbergt als der obere, auch in ungestör- tem Zustande stets verhältnissmässig starke Ströme ableiten (Fig. 120 77). Interessant ist die von Mendelssohn gefundene That- sache, dass der herausgeschnittene Nerv bei Ableitung von beiden Querschnitten einen axialen Strom zeigt, welcher, der Richtung der Nervenleitung entgegengesetzt, d. h. beim motorischen Nerven centripetal, beim sensiblen centrifugal verläuft.

Den Nachweis der Ströme führen wir wie bei den auf thermo- elektrischem Wege entstehenden Strömen mittelst des Multiplicators oder Galvanometers (Fig. 115 und 116, pag. 263). Indessen ist hierbei eine besondere Vorrichtung der ableitenden Elektroden nothwendig, um falsche Resultate zu vermeiden. Lässt man nämlich durch einen Draht, dessen Enden in einen feuchten Leiter tauchen, längere Zeit einen Strom gehen, so treten an den beiden Enden des Drahtes, den Elektroden, elektrolytische Zersetzungsproducte des feuchten Leiters auf und sam- meln sich hier an. Die Ausscheidung dieser Producte an den beiden

III

Fig. 121. Schema. Musculus sartorius vom Frosch. An beiden Enden befinden sich die Knochenansätze. / Unverletzt und ruhend ist er stromlos. II Verletzt (Querschnitt) giebt er einen Strom, und zwar ist die verletzte Stelle negativ. /// Thätig (es läuft eine Con- tractionswelle von rechts her übewden Muskel) giebt er einen Strom. Die thätige Stelle ist negativ.

M Hermann: „Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven." I— III. Berlin 1868.

272

Drittes Capitel.

Drahtpolen bedingt eine elektrische Spannung, welche zu einem, dem ursprünglichen entgegengesetzt gerichteten Strome, dem sogenannten „Polarisationsstrom", führt. Es liegt auf der Hand, dass, je stärker sich der Polarisationsstrom entwickelt, um so mehr die Intensität des

I n

Fi"'. 122. Unpolarisirbare Elektroden. / Zwei unpolarisirbare Elektroden sind anleinen durchschnittenen Wadenmuskel des Frosches angelegt. II Eine unpolarisirbare

Elektrode in ihrem Stativ.

Fig. 123. / Torpedo marmoratus (Zitterrochen). Die Haut ist zum Theil weggeschnitten, damit das elektrische Organ a sichtbar wird, das aus lauter einzelnen polygonalen Säulchen besteht, die hier vom Querschnitt aus gesehen sind. Nach Ranvier. II Zwei elektrische S.äulchen von

der Längsseite mit den sich darauf verzweigenden elektrischen Nerven von Torpedo.

Nach K. Wagner.

ursprünglichen Stromes dadurch vermindert werden muss. Wenn wir daher von einem lebendigen Gewebe einen Strom mit Metallelektroden ableiten, so entwickelt sich nach kurzer Zeit ein Polarisationsstrom, der das Bild des Gewebestromes vollständig verwischt. Um diesen Uebelstand zu vermeiden, hat man sogenannte „unpolarisirbare Elek- troden" construirt, welche aus nicht metallischen Leitern bestehen.

Von den olnnentarcn Lebcnsursclieiuungen.

273

Die bequemste Form dieser „unpolarisirbaren Elektroden" sind die vonFLEiscHL angegebenen „Pinsel-Elektroden", die aus einer mit con- centrirter Zinksultatlösung gefüllten Glasröhre bestehen, welehe unten durch einen Pfropf von plastischem Thon geschlossen ist. In dem Thonpfropf steckt ein kurzer, weicher, spitzer Pinsel, in die Zink- sulfatlösuiig ragt ein amalgamirter Zinkstab, an dem der Draht be- festio-t wird (Fig 122). Zwei solcher Elektroden, von denen jede in einem beweglichen Stativ befestigt ist, werden dann mit ihren Pinseln an das lebendige Gewebe angelegt, und die P.rfahrung^ hat gezeigt, dass man auf diese Weise den störenden Polarisations- erscheinungen aus dem Wege geht.

Fig. 124. A Zwei elektrische Säulchen von Gymnotus electricus. Nach Schdltze. £ I Säulchen aus dem pseudoelektrischen Organ von Raja clavata. II a u. b Ein- zelne Segmente daraus stärker vergrössert. Linke Hälfte in gewöhnlichem, rechte in j^ polarisirtem Lichte. Nach Engelmann.

Handelt es sich bei den elektrischen Erscheinungen der meisten thierischen und aller pflanzlichen Gewebe stets nur um so schwache Ströme, dass zu ihrem Nachweis besonders empfindliche Apparate nothwendig sind, so haben wir bei den interessanten Erscheinungen der elektrischen Fische Ströme von ganz beträchtlicher Starke, wenn auch die bekannte Erzählung Alexander von Humboldt s , dass der südamerikanische Zitteraal Pferde durch seine Schläge zu betauben vermag, auf einem Irrthum beruhen dürfte. Was die Strome der elektrischen Fische den Strömen anderer Gewebe gegenüber am meisten charakterisirt, ist ihre kurze Dauer und grosse Intensität, so dass sie als kurze, starke, elektrische Schläge erscheinen, die vom Ihiere spontan oder auf Reizung mehrere Male hintereinander abgegeben

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl.

274 Drittes Capitel.

werden können. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Elektricitätsproduction bei diesen Thieren als Vertheidigungsmittel dient, das sich während der Stammesentwicklung zu dieser enormen Wirksamkeit herausgebildet hat. Dem entsprechend sind bei den elek- trischen Fischen besondere Organe allein zur Elektricitätsproduction entwickelt. Es ist im höchsten Maasse interessant, dass diese elek- trischen Organe entwicklungsgeschichtlich denselben Ursprung haben, wie die quergestreiften Muskeln, mit denen sie auch in ihrer voll- ständigen Ausbildung noch grosse Aehnlichkeit besitzen. Das elek- trische Organ z. B. des Zitterrochen (Torpedo) ist aufgebaut aus vielen langen, im Querschnitt sechseckigen Säulchen, welche den Muskelfasern entsprechen. Jede dieser Säulen aber ist wieder zusammengesetzt aus gleichmässig übereinander liegenden Querscheiben (Fig. 124), die genau der Querstreifung der Muskelfaser homolog sind, ohne jedoch doppelt brechende Elemente zu besitzen, und ohne Formveränderungen bei der Thätigkeit zu erfahren. Noch grösser ist die Uebereinstimmung des Baues der elektrischen Säulchen mit den quergestreiften Muskeln bei den halbelektrischen oder pseudo-elektrischen Fischen, z. B. Raja clavata (Fig. 124 1 u. 11). Hier tritt ein sehr interessanter und augen- fälliger Funktions Wechsel ein, indem sich die elektrischen Organe aus wirklichen, contractilen, quergestreiften Muskelfasern entwickeln, die mit dem Verlust ihres Contractions Vermögens ihre elektrischen Eigenschaften stärker hervortreten lassen. Allein auch in der Thätig- keit des fertig entwickelten Organs besteht eine Aehnlichkeit mit der des Muskels; denn wie der Muskel bei der einzelnen Zuckung nur einen kurzdauernden Strom giebt, ebenso entsteht beim elektrischen Organ nur ein momentaner Strom , allerdings von unvergleichlich grösserer Stärke.

Unser Bild vom Kraftwechsel der lebendigen Substanz ist genau so lückenhaft , wie das des Stoffwechsels. Wie beim Stoffwechsel kennen wir auch beim Kraftwechsel nur die Anfangs- und die End- glieder der Reihe. Als chemische Energie und als Licht und Wärme tritt die Energie in den lebendigen Körper ein. Licht und Wärme werden dabei verbraucht, um ebenfalls chemische Energie zu schaffen, und zwar Licht, um in der Pflanze die Kohlensäure, welche als solche nur sehr geringen Energiewerth besitzt, in Kohlenstoff- und Sauerstoff- atome mit freien Affinitäten zu spalten, die Wärme, um die labilen Verbindungen der lebendigen Substanz durch Steigerung der intra- molekularen Schwingungsintensität zur Umlagerung zu bringen. Beide, Licht und Wärme, schaffen also verfügbare chemische Energie. D i e chemische Energie ist daher die Grundlage für die Entstehung aller anderen Energieformen im Organis- mus, aus ihr gehen alle vom Organismus producirten Energieformen durch Umsatz hervor: mechanische Energie, Licht, Wärme, Elektrici tat. In demselben Maasse, wie diese neuen Energieformen vom Organismus abgegeben werden, verschwindet die chemische Energie. Als Endproducte des Lebens sehen wir daher in Kohlensäure, Wasser, Ammoniak etc. Stoffe, deren chemischer Energiewerth äusserst gering ist, aus denen sich kaum noch kleine Energiemengen gewinnen lassen, und es bedarf erst wieder der Zufuhr neuer Energie, und zwar des Lichts, sowie chemischer Energie

Von den elementaren Lebenserscheinungen. 275

von aussen, um »aus ihnen in der Pflanze durch Spaltung neue Energie- potentiale in Form von freien Affinitäten verfügbar zu machen. Das sind die Anfangs- und die Endglieder der Reihe. Welches aber im Einzelnen die vielverschlungenen Wege des Energiewechsels im leben- digen Körper sind, welche Energieformen in jedem speciellen Fall zu- nächst aus der eingeführten Energie hervorgehen, welche Zwischen- glieder, welche Kückverwandlungen die in den Körper eingeführte chemische Energie durchläuft, bis sie in Form von mechanischer Be- wegung, von Lieht, von Wärme, von Elektricität wieder den Körper verlässt, das sind Fragen, die noch zum grössten Theil in Dunkel ge- hüllt sind. Wir dürfen hier vornehmlich von dem Fortschritt unserer Kenntnisse über die specielleren Stoffweehselprocesse mehr Licht er- warten, denn der Energieumsatz ist von den StofFwechselvorgängen nicht zu trennen.

Wir haben der Uebersichtlichkeit wegen die Erscheinungen des Stoffwechsels, des Form wechseis und des Kraftwechsels gesondert be- trachtet. In Wirklichkeit sind alle drei Gruppen von Erscheinungen nicht voneinander zu trennen, denn der Besitz von Form und Energie gehört zum Wesen des Stoffes, der Materie. Jeder Wechsel des Stoffes ist gleichzeitig ein Wechsel der Form und der Energie. Das liegt im Wesen unseres Stoffbegriffes. Daher ist auch in der lebendigen Sub- stanz, die ebenso wie die leblose aus Materie besteht, der Stoffwechsel von einem Formwechsel und Energiewechsel begleitet. Was wir ge- sondert behandelt haben als Stoffwechsel, als Formwechsel, als Kraft- wechsel, ist ein und derselbe Vorgang, nur von verschiedenen Ge- sichtspunkten aus betrachtet, und so können wir kurz sagen: Die ge- sammten Lebenserscheinungen eines lebendigen Körpers sind der Ausdruck des continuir liehen Wechsels der Materie, aus welcher er besteht.

18*

Viertes Capitel. Von den allgemeinen Lebensbedingungen.

I. Die jetzigen Lebensbedingungen auf der Erdober- fläche.

A. Die allgemeinen äusseren Lebensbedingungen.

1. Die Nahrung.

2. Das Wasser.

3. Der Sauerstoff.

4. Die Temperatur.

5. Der Druck.

B. Die allgemeinen inneren Lebensbedingungen. n. Die Herkunft des Lebens auf der Erde.

A. Die Theorieen über die Herkunft des Lebens auf der Erde.

1. Die Lehre von der Urzeugung.

2. Die Theorie von den Kosmozoen.

3. Preyer's Theorie von der Continuität des Lebens.

4. Pplüger's Vorstellung.

B. Kritisches.

1. Ewigkeit oder Entstehung der lebendigen Substanz.

2. Die Descendenz der lebendigen Substanz.

HL Die Geschichte des Todes.

A. Die Erscheinungen der Nekrobiose.

1. Histolytische Processe.

2. Metamorphotische Processe.

B. Die Ui'sachen des Todes.

1. Aeussere und innere Todesursachen.

2. Die Frage nach der köi-perlichen Unsterblichkeit.

Die lebendige Substanz der Organismen bildet einen Theil der gesammten Stoffmenge, die unseren Erdkörper zusammensetzt. Ihre Unterschiede von den leblosen Substanzen sind, wie wir sahen, nicht principieller Natur; denn dieselben Elemente, aus denen jene zu- sammengesetzt sind, bauen auch diese auf. Der Unterschied zwischen der organischen Substanz und den anorganischen Substanzen ist nicht grösser, als der Unterschied mancher anorganischen Substanzen unter-

Von den allgemeinen Lebensbcrlingung^cn. 277

einander und besteht allein in der Art und Weise, wie die Elementar- stoffe zusammengefügt sind.

Es ist wichtig-, dass wir uns an den Gedanken gewöhnen, die lebendige Substanz nicht als einen ausser allem Zusammenhang stehen- den, zu aller übrigen Materie im Gegensatz befindlichen, mystischen Stoff zu betrachten, sondern nur als einen Theil der Stoffe, wolciie die Erdrinde aufbauen. Dann ist es selbstverständlich , dass das Leben durchaus bedingt ist durch die Beschaffenheit der Umgebung, dass die Entwicklung der lebendigen Substanz untrennbar mit der Entwick- lung des Erdkörpers verknüpft sein muss. Demnach ist die Zusammen- setzung und Form der jetzigen lebendigen Substanz, welche die Erd- oberfläche bedeckt, genau unter demselben Gesichtspunkt zu betrachten, wie etwa die Zusammensetzung der jetzigen Meere, d. h. als etwas allmählich Gewordenes, das nur in dieser jetzigen Beschaffenheit so existirt, weil die Bedingungen augenblicklich derartig sind. Wie die Meere mit ihren Salzen noch nicht in ihrer jetzigen Beschaffenheit existiren konnten, ehe das Wasser auf der Erde in tropfbar-flüssigem Zustande vorhanden war, ebenso konnte auch die lebendige Substanz zu jener Zeit noch nicht in ihrer jetzigen Zusammensetzung bestehen, denn sie enthält ja durchschnittlich über 50 "/o Wasser. Wie aber das Wasser seine jetzige Form annehmen musste, als bestimmte Be- dingungen in der Erdentwicklung erfüllt waren, so musste auch die lebendige Substanz allmählich ihre jetzige Beschaffenheit erhalten, in dem Maasse, wie sich die jetzigen Verhältnisse der Erdoberfläche herausbildeten. Die Aussonderung der lebendigen Substanz aus den Stoffen der Erdrinde ist ebenso nur eine Folge der Erdentwicklung, wie die Ausscheidung bestimmter Gesteine, bestimmter Salze, oder des Wassers aus dem Stoffgemisch des Erdballes.

Zu derselben Vorstellung kommen wir von einem anderen Aus- gangspunkt, wenn wir nämlich nicht die elementare Zusammensetzung, sondern die Lebenserscheinungen der lebendigen Substanz ins Auge fassen. Es ist ein leicht begreiflicher, durch den oberflächlichen Ein- druck hervorgerufener Irrthum, wenn man einen Organismus für ein selbständiges , in sich geschlossenes , von seiner Umgebung un- abhängiges System betrachtet. Die Thatsache des Stoffwechsels klärt uns aber sofort über diesen Irrthum auf; denn wenn der Organismus nur lebt, solange er Stoffe von aussen aufnimmt und nach aussen ab- giebt, so steht er dadurch in der allerengsten Abhängigkeit von der Aussenwelt: die Aussenwelt bedingt sein Leben.

Auf diese Weise gelangen wir zu dem Begriff der „Lebens- bedingungen", d. h. der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das Leben eines Organismus überhaupt bestehen kann. Da es ferner auf der Hand liegt, dass jede Veränderung der Lebens- bedingungen einen Einfluss auf das Leben des Organismus ausüben muss, so ist es für die Vollständigkeit eines Bildes von den Wechsel- beziehungen zwischen Organismenwelt und Lebensbedingungen er- forderlich, nicht nur die Lebensbedingungen, wie sie jetzt sind, z;u untersuchen, sondern auch die Lebensbedingungen in früheren Zeiten der Erdentwicklung ins Auge zu fassen, soweit wir überhaupt uns eine Vorstellung davon machen können, um so einige Anhaltspunkte zu gewinnen für die Frage nach der Herkunft, der Abs tammung, der Entwicklung des Lebens auf der Erde.

278 Viertes Capitel.

I. Die jetzigen Lebensbedingungen auf der Erdoberfläche.

Nicht sämmtliche Lebensbedingungen sind für alle jetzt lebenden Organismen in gleicher Weise nothwendig. Ja, was für die Existenz des einen Organismus unbedingt erforderlich ist, kann das Leben eines anderen geradezu gefährden. Seethiere, in Süsswasser gebracht, gehen nach einiger Zeit zu Grunde, und Süsswasserthiere in See- wasser gesetzt, verfallen demselben Schicksal. Das gilt aber nicht nur für grosse Organismen g r u p p e n , das gilt auch für jede einzelne Organismen form. Jeder einzelne Organismus braucht für seine Existenz ganz bestimmte specielle Bedingungen, ohne deren Erfüllung er nicht dauernd am Leben bleibt. Diese „speciellen Lebens- bedingungen" sind so mannigfaltig , wie die unermessliche Fülle der Organismenformen selbst. Sie beschreiben , hiesse die Natur- geschichte jedes einzelnen Organismus schildern, und ihre Erforschung gehört in das Gebiet der speciellen Physiologie. Allein diesen speciellen Lebensbedingungen gegenüber giebt es Bedingungen, die für alle Organismen erfüllt sein müssen, damit sie leben können, und diese Bedingungen müssen daher als „allgemeine Lebens- bedingungen" gelten. Wir werden uns in der allgemeinen Physio- logie nur mit den allgemeinen Lebensbedingungen aller Organismen zu beschäftigen haben und können auf einzelne specielle Lebens- bedingungen nur gelegentlich einen Blick werfen , wenn sie gerade besonderes Interesse erfordern und uns die eigenartige Anpassung der lebendigen Substanz an besonders eigenthümliche Verhältnisse vor Augen führen.

Gewöhnlich ist man geneigt, bei dem Begriff „Lebensbedingungen" nur an äussere Factoren, wie Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Tempe- ratur etc. zu denken. Indessen stehen diesen äusseren Lebens- bedingungen auch innere Lebensbedingungen gegenüber, die in der Zusammensetzung des Organismus selbst liegen und deren Wegfall ebenso den Tod des Organismus zur Folge hat, wie der Fort- fall der äusseren Lebensbedingungen.

A. Die allgemeinen äusseren Lebensbedingungen.

1. Die Nahrung.

Das Vorhandensein von Nahrung ist diejenige Lebensbedingung, die ohne Weiteres aus der Thatsache des Stoffwechsels sich ergiebt. Wenn die lebendige Substanz sich fortwährend von selbst zersetzt, dann muss, damit sie dauernd am Leben bleiben kann, von aussen her ein Strom von Stoffen in sie eintreten, die alle diejenigen chemischen Elemente enthalten, welche zum Aufbau der lebendigen Substanz noth- wendig sind. Die Summe dieser chemischen Stoffe, die in den Organis- mus eintreten, bildet die Nahrung. Danach gehören also Wasser und Sauerstoff ebenfalls zu dem allgemeinen Begriff der Nahrung; indessen pflegt man diese beiden Stoffe in der Regel davon zu trennen. Wir wollen sie daher, diesem Sprachgebrauch folgend, auch

Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 279

besonders für sich betrachten und zuerst nur auf die Nahrung im specielleren Sinne eingehen.

Die zwölf allgemeinen organischen Elemente , aus denen alle lebendige Substanz zusammengesetzt ist (pag. 103), müssen in irgend welcher Form als Nahrung in den Körper des Organismus gelangen. Darin liegt die allgemeine Bedeutung der Nahrung. Im Speciellen aber sind die chemischen Verbindungen, in denen diese Elemente in den Körper eingeführt werden, für die verschiedenen Organismen- formen ebenso mannigfaltig Avie die Organismenformen selbst. Es giebt nicht eine allgemeine Nahrung für alle Organismen, und wir haben schon bei früherer Gelegenheit gesehen ^) , dass sich die Organismen nach der Art der Nahrungsstoffe und der Weise, wie sich aus denselben ihre lebendige Substanz aufbaut, in mehrere grosse Gruppen, in Pflanzen, Pilze, Thiere, unterscheiden lassen. Während die grünen Pflanzen ihre lebendige Substanz allein aus anorganischem Material , aus Kohlensäure und verschiedenen Salz- lösungen aufzubauen vermögen, bedürfen die Thiere unbedingt organi- scher Nahrung und können ohne complicirte organische Verbindungen, wie Eiweiss, Kohlehydrate, Fette etc., nicht leben. Die Pilze aber stehen gewissermaassen zwischen diesen beiden Gruppen, indem sie ihren Stickstoffbedarf zwar aus anorganischen Salzen bestreiten können, dagegen zur Deckung ihres Kohlenstoff bedarfs organische Verbindungen brauchen. Eine Ausnahme davon machen nur die interessanten Stick- stoffbakterien, die ihren Stickstoff und Kohlenstoff aus kohlensaurem Amnion beziehen, also wie die grünen Pflanzen ausschliesslich von anorganischen Nahrungsstoffen leben. Aber wie auch die Nahrung im einzelnen Fall beschaffen sein mag, ohne irgend welche Nahrung kann kein lebendiger Körper auf die Dauer leben.

Ueber die quantitativen Bedingungen der Nahrung, über das Maximum und Minimum an Nahrung , das ein lebendiger Körper braucht und das für jede Organismenform ein anderes ist, liegen bis- her nur für wenige specielle Verhältnisse , und ausschliesslich an höheren Wirbelthieren Untersuchungen vor. Das sind Fragen, die im Speciellen noch ihrer Lösung harren, und die, cellular-physiologisch behandelt, zu theoretisch und praktisch gleich wichtigen Ergebnissen führen dürften. Bisher hat man nur einzelne Werthe für den Gesammt- organismus des Menschen ermittelt. Voit^) hat gezeigt, dass ein er- wachsener Mann bei angestrengter Arbeit dauernd mit einem täglichen Kostmaass von 118 gr Eiweiss, 56 gr Fett und 500 gr Kohlehydraten existiren kann. Bei einer solchen Kost befindet sich der Mensch im „Stoffwechselgleichge wicht ", d. h. die durch den Harn, den Schweiss, die Exspiration, die Fäces etc. ausgeschiedenen Mengen der Elementarstoffe sind gleich denen, welche mit der Nahrung eingeführt werden. Indessen man muss in Wirklichkeit noch etwas mehr speciali- siren und muss diese Werthe für die einzelnen, mit der Nahrung ein- geführten Elementarstoffe, wie Stickstoff, Kohlenstoff etc. gesondert bestimmen, da der Körper z. B. bei „Kohlenstoffgleichgewicht" nicht immer im „StickstoffgleichgCAvicht" zu sein braucht. Bei dieser Bestimmung hat sich z. B. für den Stickstoff ergeben, dass

I) Vergl. pag. 143.

-) C. Voit: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung." In Hermann's Handbuch der Physiologie Bd. 6, 1881.

280

Viertes Capitel.

schon mit einer Eiweissmenge von nur 50 gr, welcher eine Stickstoff- menge von etwa 7,5 gr, entspricht , Stickstoffgleichgewicht erzielt werden kann , falls nur die Menge der stickstofffreien Nahrungsstoffe, der Kohlehydrate und Fette, entsprechend gesteigert wird. 7,5 gr. würde also etwa dem täglichen Stickstoffminimura entsprechen, bei dem ein Mensch noch dauernd existiren kann.

Das Nahrungsminimum, bei dem eben noch Stoffwechselgleich- gewicht besteht, bei dem das Leben eben noch dauernd erhalten werden kann, ist von grosser Bedeutung. Wird die Nahrungszufuhr über das Minimum gesteigert, so ist das Stoffwechselgleichgewicht nur in sehr geringem Maasse gestört, indem nur sehr geringe Mengen von Elementarstoffen in den Ausscheidungen weniger erscheinen, als der mit der Nahrung aufgenommenen Menge entspricht. Diese sehr geringen Mengen bleiben im Körper zurück und dienen zur Vermehrung der lebendigen Substanz und zur Aufspeicherung von Reservestoffen, eine Erscheinung, die man in der Landwirthschaft

als „Mästung" bezeichnet. Indessen hängt das Zustandekommen der Mästung noch von vielen einzelnen Factoren ab, die zum Theil noch nicht genauer bekannt geworden sind. Sinkt dagegen umgekehrt die Nahrungs- menge unter das Minimum, oder wird sie gleich Null, so tritt der Zustand des „Hun- gers", der „Inanition", ein, in welchem das Stoffwechselgleichgewicht mehr und mehr gestört wird. Dieser Zustand ist bereits etwas genauer untersucht worden.

Es lohnt sich, die Veränderungen, welche der lebendige Organismus im Zu- stande der Inanition erfährt, etwas genauer zu verfolgen. Jede lebendige Zelle, die sich unter normalen Bedingungen befindet, hat mehr oder weniger Stoffe in sich , auf deren Kosten der Lebensprocess noch eine Zeit lang weitergeht, wenn ihr die Nahrungs- zufuhr abgeschnitten ist. Das sind ihre Reserves toffe. Es ist daher eine all- gemeine Erscheinung, dass zunächst die Reservestoffe Avährend der Inanition verschwinden. Pflanzenzellen, die mit Stärkekörnern an- gefüllt sind, verbrauchen diese, wenn sie ins Dunkle gebracht werden, d. h. wenn sie hungern müssen, denn im Dunkeln findet keine Assimilation von Stärke aus Kohlensäure und Wasser, also keine Ernährung mehr statt. Infusorien, deren Zellkörper in ihrer Infusion, wo sie in Nahrungsüberfluss schwelgen, allerlei Körnchen und Granula enthält und in Folge dessen undurchsichtig körnig erscheint, werden, wenn sie in Wasser mit möglichst wenig Nahrungsstoffen gesetzt werden, heller, durchsichtiger und körnchenfrei. Dabei wird der Zellkörper kleiner und kleiner (Fig. 125). Die Zelle stirbt also nicht gleich im Moment der Nahrungsentziehung, sondern lebt noch eine Zeit lang weiter auf Kosten der Stoffe ihres eigenen Zellkörpers. Sind diese verbraucht, so geht sie allmählich zu Grunde ebenso wie eine Uhr, die nicht mehr aufgezogen wii-d, allmählich abläuft und dann stehen bleibt. Auch die Inanitionserscheinungen sind wieder zumeist an zusammengesetzten,

Fig. 125. C o 1 p i d i u m c o 1 - poda, eine Wimper-Infu- sorienzelle, a Im normalen Zustande, b im Zustande der Inanition. Der Zellkörper ist kleiner und durchsiclitiger ge- worden, die Granula im Innern sind verschwunden. Vergrösse- rung in beiden Fällen 260. Nach Beobachtungen und Zeich- nungen von Dr. Jensen.

Von den allgeiucineii Lebensbcdino-ung-en. 281

vielzelligen Organismen, besonders an Wirbelthieren, genauer studirt Avorden, und der cellularpliysiologischen Untersuchung bleibt auch hier noch eine wichtige Aufgabe übrig.

Da es eine charakteristische Eigenthümlichkeit der lebendigen Substanz ist, dass sie sich fortwährend von selbst zersetzt, so ist es klar, dass bei hungernden Thieren das Stoffwechselgleieligewicht ge- stört sein muss. Mit den Zerfallsproducten der lebendigen Substanz werden fortwährend Stickstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff etc. ausgeschieden, während keine neue Zufuhr stattfindet. Die Folge da- von ist, dass wie bei der einzelnen Zelle, so auch beim vielzelligen Organismus, sich die lebendige Substanz allmählich mehr und mehr selbst aufzehrt und an Gewicht abnimmt. Das Thier lebt also noch eine Zeit lang von den eigenen Geweben. Daher ist es begreiflich, dass die Pflanzenfresser in dem Verhalten ihrer Ausscheidungen den Fleischfressern ähnlich werden. Der Harn der Pflanzenfresser, der bei normaler Ernährung alkalisch und trübe ist, wird in der Inanition sauer und klar wie der Harn der Fleischfresser, denn die Pflanzenfresser leben ja in der Inanition von ihrem eigenen, also von thierischem Ge- webe, sie werden gewissermaassen zu Fleischfressern. So zehrt sich die lebendige Substanz allmählich mehr und mehr auf, bis das Körper- gewicht einen so grossen Verlust erfahren hat, dass das Thier zu Grunde geht. Chossat^) hat diese Grenze der Gewichtsabnahme durch viele Versuche festgestellt und hat gefunden, dass bei den ver- schiedensten Thieren der Tod eintritt, wenn der Gewichtsverlust etwa den 0,4. Theil des ganzen Körpergewichts erreicht hat. Allein dieser Werth wird von verschiedenen Thieren erst nach sehr verschieden langer Zeit erreicht. Frösche leben länger als ein Jahr, und der Proteus anguineus, jenes eigenthümliche Amphibium der Adels- berger Grotten, angeblich mehrere Jahre ohne Nahrung. Der Mensch stirbt in verhältnissmässig kurzer Zeit. Früher hatte man nur selten Gelegenheit, Menschen, die lange Zeit hungerten, zu untersuchen, und die früheren Angaben sind auch mit Vorsicht aufzunehmen. So soll im Jahre 1831 in Toulouse ein Sträfling, der nur Wasser zu sich ge- genommen hätte, erst nach 63 Tagen gestorben sein. In neuerer Zeit, seitdem das wahrhaft „brotlose" Gewerbe der „Hungerkünstler" auf- gekommen ist, haben die Physiologen öfter Gelegenheit gehabt, exacte Untersuchungen an hungernden Menschen zu machen, und Luciani ^) hat uns eine ausgezeichnete Monographie über das Hungern geliefert, die basirt auf Untersuchungen an dem bekannten Hungerkünstler Succi, welcher sich einem 30tägigen Fasten unter seiner Aufsicht unterzog. Durch den Fall Succi ist zweifellos bewiesen, dass ein normaler Mensch unter günstigen Bedingungen sicher wenigstens 30 Tage lang ohne Nahrung existiren kann.

An dem Gewichtsverluste des Körpers sind die verschiedenen Gewebe in sehr verschiedenem Maasse betheiligt. Während die Zellen mancher Gewebe sehr schnell und in hohem Grade beeinträchtigt werden, erfahren diejenigen anderer Gewebe nur geringfügige Ver- änderungen. Man überzeugt sich davon durch folgenden Versuch Chossat's. Zwei Tauben desselben Geleges von gleicher Grösse,

^) Chossat in: „Memoirs presentes par divers savants ä l'academie i'oyale des Sciences de l'institut de France. VIII, 1843.

2) Lüciam: „Das Hungern. Studien und Experimente am Menschen." Deutsch von M. O. Fränkel. Hamburg u. Leipzig. 1890.

282 Viertes Capitel.

gleichem Geschlecht und gleichem Gewicht werden als Versuchs- objecte benutzt. Die eine wird sofort getödtet, und ihre einzelnen Gewebe werden gewogen. Die andere lässt man hungern, bis sie stirbt, um dann an ihren Geweben die gleichen Wägungen vorzu- nehmen. Auf diese Weise ermittelt man, welche Veränderungen des Gewichts die einzelnen Gewebe während der Inanition erfahren haben. Dabei findet man , dass das Fettgewebe etwa 93 '^lo seines Gewichts verloren hat, das Gewebe der Milz, des Pankreas, der Leber 71 62%, das der Muskeln 45 34 ^/o, der Haut, der Nieren, der Lungen 33 bis 22°/o, der Knochen IT^/o und das des Nervensystems nur etwa 2"/o. Das Fettgewebe wird also am meisten, das Nervensystem am wenig- sten betroffen. Wir haben uns freilich diese Verschiedenheit in der Gewichtsabnahme der einzelnen Gewebe- oder Zellenarten jedenfalls nicht so zu denken, dass sie bloss auf einer verschieden schnellen Ab- nahme jeder Zellengattung durch die Entziehung der Zufuhr von Nähr- stoffen beruht, Luciani ist vielmehr mit Recht der Ansicht, dass da- neben noch ein anderer Factor eine Rolle spielt, dass nämlich unter den verschiedenartigen Gewebezellen ein Kampf um die Nahrung in der Weise besteht, dass die einen die im Körper vorhandenen Reserve- stoffe gieriger an sich reissen, als die anderen, und schliesslich nach Verbrauch der Reservestoffe sich auch noch das Stoffmaterial der anderen selbst aneignen, um ihren Stoffwechsel zu unterhalten. Darauf- hin deutet wenigstens eine interessante Beobachtung Miescher's ^). Wenn die Rheinlachse aus dem Meer stromaufwärts in den Rhein wandern, sind sie kräftige, muskulöse Thiere von gutem Ernährungs- zustande. Während ihres 6 9 monatlichen Aufenthalts im Rhein hungern die Lachse. Dabei zeigt sich, dass ihre Muskeln, besonders die des Rückens, enorm an Volumen abnehmen, während die Ge- schlechtsorgane sich ganz ausserordentlich entwickeln. Hier findet also ein Kampf ums Dasein unter den Gewebeelementen der Ge- schlechtsorgane und der Muskeln statt, in dem die ersteren sich über- legen erweisen und sich die Substanz der letzteren für ihren eigenen Bedarf aneignen. In ähnlicher Weise wird jedenfalls auch zwischen anderen Gewebeelementen und bei anderen Thieren im Inanitions- zustande ein Kampf um die Existenz stattfinden, wenn auch nicht in so augenfälliger Weise wie beim Lachs. Die letzte Folge alles Hungerns ist aber immer der Tod. Die Uhr läuft schliesslich ab, wenn sie nicht mehr aufgezogen wird.

Wenn wir den Tod als das Endergebniss alles Hungerns hin- stellen , so bedarf diese Behauptung allerdings noch einer gewissen Berichtigung. Sie gilt nur für die Organismen, solange sie sich im Zustande des actuellen Lebens befinden. Die Organismen im Zu- stande des latenten Lebens, wie die eingetrockneten Räderthierchen, Bärenthierchen , Bakteriensporen, Samenkörner etc., bedürfen keiner Nahrung, denn, wie wir sahen ^), ist bei ihnen auch mit den feinsten Hülfsmitteln kein Stoffwechsel nachzuweisen. Sie sterben also auch nicht, wenn die Nahrung in ihrer Umgebung fehlt. Hier ist die Uhr nur angehalten, aber nicht abgelaufen.

^) P. Mikschkr-Rüsch: In Amtl. Ber. über die internat. Fischereiausstellung in Berlin 1880. Wissensch. Abth. 2) pag. 135.

Von den allgemeinen Lebensbedingungen.

283

Um schliesslich noch eine Vorstellung zu gewinnen von den weit- gehenden Anpassungen einzelner Organismen an specieUe Lebens- bedingungen ganz ungewöhnlicher Art, soweit sie die Nahrung be- treffen, brauchen wir nur einen Blick auf die eigen thümlichen Lebens- verhältnisse gewisser Bakterienformen zu werfen , die in neuerer Zeit besonders durch die ausgezeichneten Arbeiten Winogradsky's bekannt geworden sind.

Die „Seh wefelbak ter ien" (Beggiatoa) bilden eine Mikroben- familie, die in faulenden Tümpeln und Pfützen des Süsswassers sowohl wie des Meerwassers lebt. Diese merkwürdigen Wesen, die als kurze Stäbchen oder lange Fäden (Fig. \2Q) im Wasser uraherwimmeln, können nur existiren, wenn ihnen nicht un- bedeutende Mengen von Schwefelwasserstoff zur Verfügung stehen. Den Schwefelwasser- stoff brauchen sie zu ihrem Stoffwechsel, indem sie aus ihm durch Oxydation freien Schwefel bilden, den sie in Gestalt von feinen, stark lichtbrechenden Körnchen in ihrem winzigen Zellleibe aufspeichern (Fig. 126), um ihn weiterhin durch fortgesetzte Oxydation in Schwefelsäure überzuführen und in dieser Form nach aussen wieder abzuscheiden. Bringt man die Schwefelbakterien in Brunnen- wasser, das keinen Schwefelwasserstoff ent- hält, so gehen sie, nachdem sie den in ihrem Körper vorhandenen Vorrath an Schwefel oxydirt und ausgeschieden haben, zu Grunde. Der Schwefelwasserstoff, ein Gas , das auf die meisten Organismen geradezu giftig wirkt, gehört also zu ihren nothwendigen Lebens- bedingungen. Ohne Schwefelwasserstoff kön- nen sie nicht dauernd existiren.

Eine ähnliche, ganz specielle Anpassung an eigenthümliche Lebensbedingungen hat WixoCtRad.sky bei den „E i s e n b a k t e r i e n" nachgewiesen^). Allgemein bekannt sind die in sumpfigen Gegenden weit verbreiteten „Raseneisensteinmoore" mit dem fettigen, bunt schillernden Häutchen an der Oberfläche ihrer flachen Wasserschicht und dem dicken röth- lichgelben Schlamm darunter. Das sind die

Wohnsitze der Eisenbakterien, und die Production von Raseneisenstein ist zum Theil i h r Lebenswerk. Die Eisenbakterien brauchen nämlich kohlensaures Eisen oxydul, das im Wasser gelöst ist, zu ihrem Stoff- wechsel. Dieses Eisencarbonat nehmen sie in sich aui und oxydiren es zu kohlensaurem Eisen oxyd, das sie nach aussen wieder abgeben. Das ausgeschiedene kohlensaure Eisenoxyd geht dann mit der Zeit in blosses Eisenoxyd über, das unlöslich ist und einen gelbbraunen Nieder- schlag auf den von den Bakterien ausgeschiedenen Gallerthüllen bildet, in denen ihre Leiber stecken. Cultivirt man die Eisenbakterien ohne kohlensaures Eisenoxydul, so werden ihre Lebenserscheinungen immer

Fig. 126. Formen bakterien im Innern

Verschiedene

von Schwefel-

Die Körnchen

sind Schwefel-

körnchen. Nach ScHEKK und Warmixg.

1) WixoGRADSKY : „Ucber Eisenbakterien." In Bot. Zeitschr. Bd. XL\1, Nr. 17.

284

Viertes Capitel.

geringer, und schliesslich scheint ein völliger Stillstand des Lebens einzutreten. Die Anwesenheit von kohlensaurem Eisenoxydul gehört also zu den Lebensbedingungen dieser merkwürdigen Mikroben.

Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie eigenartig die speci eilen Lebensljedingungen hinsichtlich der Nahrung sich bei den verschiedenen Organismen gestalten können. Weiter auf diese speciellen Verhältnisse einzugehen, ist hier nicht der Ort, das gehört in das Gebiet der speciellen Physiologie.

2. Das Wasser.

Die lebendige Substanz ist flüssig. Es ist noth wendig, dass wir uns an diese physikalische Fundamentaleigenschaft der lebendigen Substanz erinnern. Der flüssige, breiartige Zustand der lebendigen Substanz ist bedingt durch die Wassermenge, die sie ent- hält und von der man sich leicht durch Abdampfen von lebendiger Substanz über- zeugen kann. Nur flüssige Massen , nicht feste , nur Substanzen, die Wasser ent- halten, können lebendig sein, denn nur mit dem flüssigen Zustande ist ein Stofi'wechsel vereinbar. Daher sind im Organismus alle Substanzen, die fest und starr sind, wie die Bindesubstanzen der Zähne, der Knochen etc.,

nicht lebendig.

Desgleichen

sinkt die Lebensthätigkeit bei Wasserentziehung. An eingetrockneten Räder- oder Bärenthierchen , sowie an trockenen Samen sind keine Lebenserscheinungen mehr wahrzunehmen. Erst wenn die Samen durch Zufuhr von Wasser zum Aufquellen gebracht werden, erst wenn die Substanz ihrer Zellen

,,. .c,r, ^, , ,, . ,,. wieder flüssig wird, beginnt

Fisr. 127. Mesembryanthemum crystalli- _ , 9, '.. ^

num, eine Wüstenpflanze aus Südafrika. das Leben Sich ZU äussern. Der ganze Stengel und die Unterseite der Blätter Das Wasser gehört sind mit krystallhellen Wasserzellen besetzt. also ZU den allgemei-

nen Lebensbedingun- gen. Wo kein Wasser ist, da ist kein Leben.

Diese Schlussfolgerung ist sehr einfach und klar. Allein es giebt Fälle, wo auch an Orten der grössten Trockenheit dauernd organisches Leben existirt. Jene öden, sonnendurchglühten Wüsten Arabiens und Afrikas, die dem Reisenden als das gewaltigste und ergreifendste Bild ewiger Leblosigkeit erscheinen, deren trostlose Sandflächen kaum ein

Von den allgemeinen Lebensbcdinfjungen.

285

Mal im Jahre von spärlichen Regengüssen benetzt werden, beherbergen trotz ihrer Trockenhoit mannigtaltige Thier- und Ptlanzcnformen. Diese scheinbare Ausnahme beruht darauf, dass alle Wüstenorganismen in ganz eigenthümlicher Weise an das Leben in langer Trockenheit angepasst sind, indem sie mit dem wenigen Wasser, das ihnen in langen Zeiträumen zu Gebote steht, äusserst sparsam und haus- hälterisch wirthschaften. Man ist erstaunt, in der trockensten Wüste grüne Pflanzen zu treffen, die eine Fülle von Säften enthalten. Pflanzen (^I esem bry an themum cry stalli num), über und über mit Zellen besät, die solche Mengen von klarem Wasser beherbergen, dass sie wie kleine krystallhelle Tröpfchen erscheinen (Fig. 127). Diese Wüstenpflanzen halten das Wasser ungemein fest, indem sie entweder lösliche Stoffe von sehr grossem Wasseranziehungsvermögen in ihrem Zellsaft aufspeichern, oder indem sie mit einer feinen Wachsschicht an ihrer ganzen Obei-fläche überzogen sind, so dass bei geschlossenen Spaltöftnungen kaum eine Spur von Wasser durch Verdunstung aus dem Pflanzenkörper heraus- gelangen kann. Daneben be- sitzen sie meist sehr weit und flach unter dem Boden hinziehende reichverzweigte Wurzeln, die jede Spur von W^asser gierig aufsaugen, das gelegentlich einmal die Erde benetzt. Auch die Thiere, die durch ihre geringe Lo- comotionsfilhigkeit an ihre

a

Fig. 128. Bacillus butyricus bei der Sporenbildung, a Beginnende Sporenbildung, b reife, aber noch in den Bacillenstäbchen befind- liche Sporen, e Sporen nach Auflösung der Mutter- zellmenibran, d Sporen, die wieder zu keimen be- ginnen und Bacillen aus sich hervorgehen lassen. Nach MiGüLA.

trockene Heimath gefesselt sind, wie die Schnecken, schützen sich, indem sie ihre Wasserabgabe bis auf ein Minimum einschränken. Die Schnecken verschliessen ihre

Gehäuseöfinung mit einem doppelten, dichten Deckel, so dass kaum eine Spur von Wasser durch Verdunstung den Körper verlassen kann. Die Trockenheit der Umgebung erstreckt sich also in allen diesen Fällen nicht auf die lebendige Substanz der Wüstenorganismen. Diese ist vielmehr wie alle lebendige Substanz flüssig, und in der That haben alle Wüstenorganismen ein actuelles Leben, nicht ein latentes, wenn dasselbe auch bis auf ein Minimum herabgesetzt ist. Gerade hier zeigt sich, wie die Intensität des Lebens mit dem Steigen und Sinken des Wassergehalts zu- und abnimmt. Kommt einmal ein leichter Regenguss , so fängt sofort ein frisches Leben an sich zu regen , die Pflanzen wachsen und blühen, und die trägen Thiere erwachen aus ihrem Sommerschlaf.

In etwas anderer Weise wie die Wüstenpflanzen und Wüsten- thiere sind andere Organismen, die zeitweilig Wassermangel durch- machen müssen, an das Leben in der Trockenheit angepasst, indem sie in der Trockenheit sogenannte „Dauerformen" bilden, die gegen die Trockenheit geschützt sind. Solche Dauerformen kommen namentlich bei den einzelligen Organismen sehr weit verbreitet vor, wie die „Sporen" der Bakterien (Fig. 128) oder die „Cysten" der Rhizo- poden und Infusorien (Fig. 84 pag. 209), die in einer dichten, völlig

286 Viertes Capitel.

undurchlässigen Haut die lebendige Zellsubstanz einschliessen. Auch die Samen der Pflanzen gehören zu diesen Dauerzuständen der Organismen. Indessen bei allen diesen Dauerzuständen handelt es sich schon um latentes Leben, bei dem sich keine Spur von Lebens- erscheinungen auch mit den feinsten Hülfsmitteln mehr nachweisen lässt. Wie es scheint, steht in allen diesen Fällen das Leben in der That still wie eine aufgezogene Uhr, die plötzlich angehalten worden ist. Aus diesen Thatsachen geht zur Gentige die Bedeutung des Wassers für die Unterhaltung des Lebens hervor. Ohne Wasser existirt kein Leben. Mit Zu- und Abnahme des Wasser- gehalts der lebendigen Substanz innerhalb gewisser Grenzen steigt, sinkt und erlischt auch die Intensität des Lebens.

3. Der Sauerstoff.

Priestley, der Entdecker des Sauerstoffs, selbst war es, der die fundamentale Bedeutung dieses Gases für das Leben auf der Erde erkannte, indem er Mayow's genialem Vergleich der Athmung mit einem Verbrennungsprocess durch seine epochemachende Entdeckung des Sauerstoffs und seiner Eigenschaften einen realen Hintergrund gab. In der That wird bei der Athmung freier Sauerstoff von der lebendigen Substanz aufgenommen und dafür Kohlensäure wieder aus- geschieden. Es muss also ein Verbrennungsprocess, eine Oxydation des Kohlenstoffs in der lebendigen Substanz stattgefunden haben. Wenn daher, wie wir gesehen haben ^), alle Organismen ohne Aus- nahme athmen, solange sie leben , d. h. wenn die Oxydationsprocesse in der Kette der Stoffwechselvorgänge ein integrirendes Glied bilden, dann ergiebt sich mit Nothwendigkeit, dass die Anwesenheit von Sauerstoff zu den allgemeinen Lebensbedingungen der lebendigen Substanz gehört.

Bekanntlich ist die Zusammensetzung der Atmosphäre in ihren wesentlichen Bestandtheilen folgende: Stickstoff incl. Argon 79,02, Sauerstoff 20,95 und Kohlensäure 0,03 Volumentheile. Diese Zusammen- setzung ist stets und überall auf der Erdoberfläche die gleiche. Wenn wir daher die Landorganismen ins Auge fassen, an denen die meisten Untersuchungen über die Abhängigkeit vom Sauerstoff gemacht worden sind, so können wir sagen, dass sie dauernd in einer Atmosphäre leben, in der rund 21 "/o Sauerstoff vorhanden sind. Die ausgezeich- neten Untersuchungen von W. Mltller und Paul Bert haben aber gezeigt , dass die Organismen durchaus nicht an diesen Procentgehalt und an den Druck von einer Atmosphäre gebunden, sondern innerhalb gewisser Grenzen vom Par- tiardruck des Sauerstoffs unabhängig sind. W. Müller 2) hat nämlich gefunden, dass Säugethiere einerseits selbst mit 14*^/o Sauerstoff noch dauernd existiren können und erst bei 7 ^/o Störungen erfahren, bis bei 3*^0 der Erstickungstod eintritt, dass sie anderer- seits aber auch in reinem Sauerstoff bei dem Druck von einer Atmo- sphäre ausgezeichnet weiterleben. In entsprechender Weise geht aus

') pag. 147.

^) W. Müller: Iu Sitzuugsber. d. Wiener Akad. d. Wiss. Matheni.-naturwiss. Ciasso XXXIII. 1858.

Von den allgenieiuen Lebensbedingungen. 287

einer Versuchsreihe, welche Paul Bert ^) veröffentlichte, eine weit- gehentle Unabhängigkeit der Thiere vom Partiar druck des Sauer- stoffs hervor. In atmosphärischer Luft können Thiere noch bei einem Minimaldruck von ungefähr 250 mm Quecksilber und bei einem Maxinialdruck von 15 Atmosphären existiren, während in reinem Sauerstoff das Druckmiuinnini noch bedeutend niedriger liegt, dafür aber auch bereits ein Druck von zwei Atmosphären für Pflanzen und von drei Atmosphären für Thiere tödtlich wirkt. Ueberhaupt geht aus den Versuchen von Paul Bert hervor, dass die Wirkungen eines zu geringen Procentgehalts durch Erhöhung des Druckes und die Wirkungen eines zu hohen Druckes durch eine Herabsetzung des Procentgehalts des Sauerstoffs innerhalb gewisser Grenzen compensirt werden können. Die merkwürdige Thatsache, dass die Organismen in reinem Sauerstoff bei zu hohem Partiardruck zu Grunde gehen, und zwar, wie Paul Bert gezeigt hat, an Erstickung, hat uns Pflüger-) verständlich gemacht, indem er auf die Analogie der lebendigen Substanz mit dem activen Phosphor hiuAvies, der bekanntlich in atmosphärischer Luft sich lebhaft oxydirt, leuchtet und Dämpfe von phosphoriger Säure entwickelt, während er in reinem Sauerstoffsich überhaupt nicht oxydirt. So hört auch die lebendige Substanz in reinem Sauerstoff bei hohem Druck auf, sich zu oxydiren, und daher tritt die paradoxe Erscheinung des Todes durch Erstickung in reinem Sauerstoff ein.

Die Minima und Maxima des Procentgehalts und Partiardruckes des Sauerstoffs sind für verschiedene Organismen sehr verschieden und bisher nur in wenigen Fällen ermittelt. Allein diese Einzelheiten interessiren uns hier weniger. Dagegen ist es interessant, einen Blick auf die Folgen vollständiger Sauerstoffentziehung zu werfen.

Die letzten Folgen vollständiger Sauerstoffentziehung liegen auf der Hand. Wenn der Sauerstoff eine allgemeine Lebensbedingung ist, so muss alle lebendige Substanz nach vollständiger Sauerstoffentziehung zu Grunde gehen. Das haben auch die Experimente, die zum Theil an der einzelnen Zelle, zum Teil an Geweben, zum Theil an viel- zelligen Organismen angestellt wurden, gezeigt. Aber die ver- schiedenen Zellformen gehen in verschieden langer Zeit zu Grunde, manche sehr schnell, manche ganz allmählich, ebenso wie die ver- schiedenen Organismen auch bei Nahrungsentziehung in sehr ver- schieden langer Zeit zu Grunde gehen. Die Zellen des Nervensystems sind am empfindlichsten für Sauerstoffentziehung. Daher gehen die höheren Wirbelthiere, bei denen Athembewegungen, Herzthätigkeit etc. von den Zellen der Nerven centra abhängig sind, in sehr kurzer Zeit unter heftigen Reizerscheinungen zu Grunde. Andere Zellformen da- gegen bleiben auch in einem völlig sauerstofffreien Medium noch lange Zeit am Leben.

Man hat ein bequemes Mittel, um den Sauerstoff vollständig aus- zuschliessen, ohne andere schädigende Momente in den Versuch ein- zuführen. Wasserstoff ist nämlich ein für den Organismus durchaus indifferentes Gas. Da man nun in einem geschlossenen Räume die atmosphärische Luft, in welcher der Sauerstoff, wenigstens für thierische

^) Paul Bkrt: „Eecherches experimentales sur l'influence que les changements dans la pression barometrique exercent sur les phenomenes de la vie." In Comptes rendus 1873. Bd. LXXYI u. LXXVII.

^) Pflüger: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. X, 1875.

288

Viertes Capitel.

Zellen der allein wirksame Bestandtheil ist, sehr leicht durch Wasser- stoff verdrängen und ersetzen kann, braucht man nur in einem Kipp'schen Apparat chemisch reinen Wasserstoff zu entwickeln und ihn durch eine geschlossene Gaskammer zu leiten, wie sie am zweck- mässigsten Engelmann für mikroskopische Untersuchungen construirt hat (Fig. 129 I). In eine solche Gaskammer werden die zu unter- suchenden Zellen in einem hängenden Tropfen des flüssigen Mediums, in dem sie leben, gesetzt und beobachtet. Durch eine Reihe von Ver- suchen hat Kühne ^) gezeigt, dass nach Verdrängung der Luft durch Wasserstoff Arno eben erst nach etwa 24 Minuten allmählich ihre Bewegungen einstellen. Aus diesem Zustande können sie durch er-

II

Fig. 129. 1 ENGELMANN'sche Gaskammer. Ein ringförmiger Hohlraum ist unten von einer Glasplatte geschlossen und oben von einem Metalldeckel bedeckt, der in seiner Mitte ein Deckglas für die Untersuchung im hängenden Tropfen besitzt; a a' sind d J Heizröhren, die in den Hohlraum des

Ringes selbst münden, so dass der Ring durch durchströmendes warmes Wasser geheizt werden kann; b b' sind Röhren, die in die glasbedeckte Kammer selbst einmünden und zum Hindurchleiten des Gases dienen, so dass der am Deckglas hängende Tropfen mit seinem lebendigen Inhalt in der Kammer vom Gase umspült wird. II Versuchsanordnung zur Untersuchung in reinem Wasserstoff, a Kipp'scher Apparat zur Wasserstoffentwicklung, b zwei Waschflaschen zur Reinigung des Wasserstoffs, c Mikroskop, unter dem sich die Gas- kammer mit hängendem Tropfen befindet.

neute Zufuhr von atmosphärischer Luft wieder zum Leben gebracht werden. Dagegen sterben sie, wenn sie einige Zeit länger unter Sauerstoffabschluss verweilen. Grosse Myxomy cete nplasmodien stellen oft erst nach drei Stunden im sauerstofffreien Medium ihre Protoplasmabewegungen ein und sterben noch später.

Für das Studium der Frage, in welcher Weise die beiden Phasen der Contractionsbewegungen, die Expansions- und die Contractions- phase, durch die Sauerstoffentziehung beeinflusst werden, sind die marinen Rhizopoden mit ihren langen Pseudopodien, an denen die Bewegung jedes Protoplasmatheilchens auf eine sehr grosse Strecke hin ausgedehnt

^) Kühne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

Fig. 130. Rhizoplasma Kaiser i. 7 Individuum in normalem Zustande, mit aus- gestreckten Pseudopodien und lebhafter Protoplasmaströmung. // Individuum mit .Still-

II

stand der Protoplasmabewegung nach O-Entziehung. Das Protoplasma bildet auf den VerzweigungssteJlen der Pseudopodien kleine eckige Anhäufungen. Vervrorn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 19

290 Viertes Capitel.

istj die günstigsten Objecte'). Bringt man z. B. das Rhizoplasma K a i s e r i , ein nacktes Rhizopod, aus dessen einkernigem, orangerothem Zellkörper nach allen Seiten hin dünne anastomisirende Pseudopodien mit ungemein lebhafter Protoplasmaströmung ausstrahlen (Fig. 130 i), in die ENGELMANN'sche Gaskammer und leitet einen Wasserstoffstrom hindurch, so sieht man, dass erst nach 1^/2 3 Stunden die Wirkungen der Sauerstoffentziehung bemerkbar werden. Die centrifugale Proto- plasmaströmung, die vorher sehr lebhaft war, so dass sich die Pseudo- podien ausstreckten, wird schwächer und schwächer, bis sie schliesslich ganz aufhört. Statt dessen besteht die centripetale Strömung noch eine Zeit lang fort, so dass die Pseudopodien sich langsam verkürzen. Allmählich lässt aber auch die centripetale Strömung mehr und mehr nach, und bald ist sie kaum noch bemerkbar. Das Protoplasma hat sich an den VerzAveigungsstellen zu winzigen Anhäufungen gesammelt, die aber nicht kuglig und spindelförmig sind wie bei stärkerer contracto- rischer Erregung, sondern mehr spitzig, eckig und zackig. In dieser Form bleibt das Rhizoplasma schliesslich bewegungslos liegen (Fig. 1 30 II). Exemplare mit kürzeren Pseudopodien haben dieselben zuletzt ganz eingezogen. Es ist also durch dieSauerstoffentziehung zu- erst die Expansionsphase (die centrifugale Proto- plasmaströmung) und dann erst allmählich die Con- tractionsphase (die centripetale Protoplasmaströmung) zum Stillstand gekommen. Lässt man nunmehr von Neuem atmosphärische Luft hinzu, so treten bereits nach 5 Minuten wieder die ersten neuen Pseudopodienspitzen aus dem centralen Zellkörper hervor. Nach etwa 10 Minuten wird auch auf den alten Pseudopodien wieder eine lebhafte Strömung bemerkbar. Es kommt ein neuer Protoplasma- strom auf ihnen vom Centrum her, und die kleinen Anhäufungen zer- theilen sich, indem ihre Substanz theils centripetal, theils centrifugal weiter fliesst. Auf diese Weise glätten sich die Pseudopodien , ihre Strömung wird lebhafter, und nach ^,2 Stunde hat das Ganze wieder dasselbe Aussehen wie im Anfang des Versuchs.

Auch an Flimmerzellen konnte Engelmann feststellen, dass sie noch mehrere Stunden lang ohne Sauerstoff fortzuleben im Stande sind, und das Gleiche hat Hermann-) für den Muskel gezeigt, indem er von den beiden , vollständig gleichen Musculi gastrocnemii eines Frosches den einen in einen Cyliuder mit reinem Wasserstoff, den anderen in einen Cylinder mit sauerstoffhaltiger Luft brachte und mittelst elektrischer Reize, die gleichzeitig beide Muskeln trafen, ihre Erregbarkeit prüfte. Der Muskel im reinen Wasserstoff lebte noch mehrere Stunden, ehe er unerregbar wurde, während der andere Muskel im Sauerstoff dauernd unverändert leben blieb. Es geht aus allen diesen Versuchen hervor, dass gewisse Zellen und Ge- webe längere Zeitinsauersto ff fr eiem Medium am Leben bleiben können.

Man hat diese letztere Thatsache besonders in Hinsicht auf den Muskel verschiedentlich als Grundlage zu einer unberechtigten Schluss- folgerung benutzt. Da nämlich Hermann gezeigt hat, dass aus dem

1) Verworn: „Zellphysiologische Studien am rothen Meei-." In Sitzungsber. d. Kgl. Preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin XLVI, 1896.

2) Hermann: „Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven." I III. Berlin 1868.

Von den allgemeinen Lebenshe(lin',mugeu. 291

ausgeschnittenen, entbluteten Muskel kein freier Sauerstoff mehr mittelst der Gaspumpe ausgepumpt werden kann, so hat man den ►Schluss gezogen, dass der ]\Iuskel, wenn er doch noch längere Zeit unter äusserem Sauerstoffabschluss Bewegungen auszuführen im Stande ist, allein auf Kosten von Spaltungsprocessen arbeitet. Dieser Schluss ist deshalb unberechtigt, weil wir aus der Thatsache, dass sich aus dem Muskel kein freier Sauerstoff auspumpen lässt, noch nicht folgern dürfen , dass überhaupt kein für Oxydationsprocesse verfüg- barer Sauerstoff mehr im Muskel vorhanden ist. Es ist im Gegentheil sehr wahrscheinlich , dass im Muskel , vielleiciit im Sarkoplasma der Muskelfasern, gebundener Sauerstoff existirt, der von den contractilen Theilchen fortwährend zu ihrer Oxydation bei der Thätigkeit ver- braucht wird. Thatsächlich ist bei einigen wirbellosen Thieren, die in ihrem Blute kein Haemoglobin besitzen, Haemoglobin in den Muskeln gefunden worden. Vermuthlich werden wir uns also vorzu- stellen haben, dass bei den Zellen, die unter Sauerstoffabschluss noch längere Zeit am Leben bleiben , auch noch Oxydationsprocesse statt- finden, indem gewisse Atomcomplexe der lebendigen Substanz anderen, welche Sauerstoff locker gebunden enthalten, den Sauerstoff für ihre eigene Oxydation entziehen, bis schliesslich aller Sauerstoff verbraucht und in den Spaltungsproducten festgebunden ist. Wie dem aber auch sei, schliesslich gehen bei Sauerstoffabschluss nach kürzerer oder längerer Zeit doch alle lebendigen Organismen zu Grunde. Ohne Sauerstoff kann kein Leben auf die Dauer bestehen.

Dennoch giebt es einige scheinbare Ausnahmen, das sind Orga- nismen, die, wie es scheint, dauernd ohne Sauerstoff leben können.

Eine solche Ausnahme scheinen auf den ersten Blick alle grünen Pflanzen zu bilden, und es gab eine Zeit, wo man das wirklich ernsthaft glaubte. Die Pflanzen verhalten sich in gewisser Beziehung gerade umgekehrt wie die Thiere: sie nehmen Kohlensäure auf und geben Sauerstoff ab. Solange das Sonnenlicht auf ihre grünen Blätter wirkt, bedürfen sie keines Sauerstoffs. Man kann daher eine grüne Pflanze in einem sauerstofffreien Raum dauernd lebend erhalten, wenn man sie im Lichte stehen lässt und ihr Kohlensäure zufüiirt. Aber diese Kohlensäureaufnahme und Sauerstoffabgabe ist nicht der Athmungs- process der Pflanze. In Wirklichkeit athmet die Pflanze ebenso wäe jedes Thier Sauerstoff ein und Kohlensäure aus, wie wir schon bei anderer Gelegenheit sahen ^). Diese Thatsache ist nur verdeckt durch den Assimilationsprocess. Nachts dagegen , wo die Assimilation im Dunkeln aufhört, sehen wir, dass die Pflanze Sauerstoff einathmet und Kohlensäure ausathmet, und w^enn wir sie in einem geschlossenen Raum cultiviren, so lebt sie Nachts wieder von dem Sauerstoff, den sie bei Tage durch Spaltung der aufgenommenen Kohlensäure frei gemacht hat. Der Assimilationsprocess der Kohlensäure ist also scharf von der Athmung zu unterscheiden. Beides sind gänzlich von einander getrennte Vorgänge.

Viel weniger klar als bei den Pflanzen liegen aber die Verhältnisse bei einer eigenthtimlichen Art von Organismen, den sogenannten „Anaero bien". Die Anaerobien sind Organismen, besonders aus der Gruppe der Bakterien, welche unter völligem Abschluss von Sauer-

1) pag. 178.

19*

292

Viertes Capitel.

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Stoff dauernd leben können. Ja, viele von ihnen gehen sogar zu Grunde, wenn sie mit freiem Sauerstoff in Berührung kommen. Seit- dem Pasteur, der Vater der modernen Bakteriologie, die Existenz solcher seltsamen Wesen zuerst behauptete, ist deren wirkliches Vor- handensein zwar vielfach angezweifelt worden, doch kann in neuerer Zeit kein Zweifel an der Richtigkeit dieser Angabe mehr bestehen. So wachsen z. B. die Rauschbrand- und Tetanusbakterien anaerob

(Fig. 131). So vermögen auch die Cho- lera-Vibrionen unter Abschluss der Luft in alkalischen Nährmedien ausgezeichnet zu leben, wie sie sich ja denn auch im Darm, wo ihnen kaum Spuren von freiem Sauerstoff zur Verfügung stehen, rapide vermehren. Diese Thatsache ist um so auffallender, als die Cholerabakte- rien, mit der Luft in Berührung ge- bracht, sich als ungeheuer sauerstoffgierige Organismen erweisen. Da man indessen nicht annehmen kann, dass sie sich ohne Sauerstoffzufuhr in so enormer Weise zu vermehren vermögen, wie das im Darm geschieht, und da man andrerseits ihre Gier nach freiem Sauerstoff kennt, so bleibt nichts übrig, als die Annahme, dass die Cholerabakterien und ebenso die an- deren Anaerobien, wie z. B. die Teta- nusbakterien und Rauschbrand- bacillen die Fähigkeit haben, bei Ab- schluss von freiem Sauerstoff den Salzen der Alkalien, welche sich in ihrem Me- dium befinden, Sauerstoff zu entnehmen, d. h. also den Sauerstoff aus festen chemischen Verbindungen abzuspalten. Immerhin bedarf diese Annahme erst noch der experimentellen Entscheidung, und das gilt auch für die anderen anae- roben Darmparasiten , die wie z. B. die Spulwürmer nach den Untersuchungen von Bunge ^) in einem völlig sauerstoff- freien Medium bei lebhaften Bewegungen 4 5 Tage zu leben im Stande sind.

Schliesslich aber nehmen die Orga- nismen im Zustande des latenten Lebens, wie bei allen anderen Lebensbedingungen, welche direct den Stoffwechsel betreffen, so auch hier eine gesonderte Stellung ein. Sie brauchen keinen Sauerstoff, wie sie keine Nahrung und kein Wasser brauchen , und bleiben dabei doch lebensfähig. Die Erscheinung ist ohne Weiteres verständlich, denn wo sich kein Stoffwechsel nachweisen lässt, da finden wir auch keine Oxydationsprocesse.

Fig. 131. A Rauschbrandbak- terien-Cultur. Nach Migcla. Im Innern der Nährgelatine liegen, von der Luft abgeschlossen, die kugelförmigen Colonieen. ^ Te- tanusbakterien-Cultur. Die Bakterien haben den unteren Theil der Nährgelatine im Reagenzröhr- chen verflüssigt und eine Gasblase gebildet, die sich am oberen Ende der verflüssigten Masse befindet. Die Bakterien sind nur im unteren, von der Luft durch eine dicke Gelatineschicht getrennten Theile des Keagenzröhrchens gewachsen.

^) Bcnge: „Ueber das Sauerstoffbedürfniss der Dannparasiten. " physiol. Chemie Bd. 8, 1883.

In Zeitschr. f.

Vuu (leu allgemeinen Lebensbedingungen. 293

4. Die T em p e r a t u r.

Ausser den Bedingungen der Stoft'zut'uhr (Nahrung, Wasser, Sauer- stoflF) , von denen der Stoffwechsel unmittelbar abhängig ist, müssen nocli gewisse Bedingungen dynamischer Natur erfüllt sein, damit das Leben dauernd bestehen kann. Da/Ai gehört vor allen Dingen eine Temperatur innerhalb gewisser Grenzen.

Es ist bekannt, dass die chemischen Verbindungen in hohem Grade unter dem Einflufs der Temperatur stehen. Hohe Temperaturen führen im Allgemeinen zu Dissociationen von Verbindungen, die bei niederen Temperaturen sehr gut unverändert existiren können. Die lebendige Substanz ist ein Gemisch von zahlreichen chemischen Stoffen, unter denen sich hoch complicirte Verbindungen in äusserst labilem Zustande betinden. Es liegt also auf der Hand, dass auch die lebendige Substanz in hohem Grade von der Temperatur abhängig sein muss, dass das Leben nur innerhalb bestimmter Temperaturgrenzen bestehen kann. Diese Temperaturgrenzen, das Temperaturminimum und das Temperaturmaximum, sind freilich für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz durchaus verschieden. Temperaturen, bei denen die einen gedeihen, sind für andere Organismen schon tödtlich. Aber es interessirt uns hier nicht, für die einzelnen Organismenformen die obere und untere Temperaturgrenze festzustellen, sondern es kommt uns allein darauf an, zu prüfen, welches das Temperaturminimum und -Maximum ist, bei dem überhaupt noch Leben auf der Erdoberfläche existiren kann.

Es ist vielfach schon die Beobachtung gemacht worden, dass poikilotherme Thiere und Pflanzen einfrieren können, ohne ihre Lebens- fähigkeit dadurch zu verlieren. So sah John Franklin auf seiner Polarreise im Jahre 1820 Karpfen, nachdem sie steinhart gefroren waren, beim Erwärmen am Feuer wieder lebendig werden und um- herspringen, obwohl an den geschlachteten Exemplaren die Eingeweide so fest waren, dass sie als ein einziges Stück entfernt werden konnten. Ebenso brachte Duileril Frösche, die in kalter Luft von 4 "^ bis 12" hart gefroren waren, durch vorsichtiges Erwärmen Avieder zum Leben, und auch Preyer^), der eine Reihe diesbezüglicher Angaben gesammelt hat, machte die Beobachtung, dass fest gefrorene Frösche, wenn ihre Innentemperatur 2,5'^ C. nicht erreicht hatte, wieder be- lebt werden konnten. Aehnliche Beobachtungen konnte Romanes an Medusen (Aurelia aurita) machen, deren weicher, gallertartiger Körper von lauter feinen Eiskrystallen durchschossen war. Allein alle diese Angaben sind mit einiger Kritik aufzufassen. Zweifellos ist wohl die Thatsache, dass alle diese Thiere wirklich fest in Eis ein- frieren und dennoch nach vorsichtigem Aufthauen wieder ins Leben zurückkehren können; aber bei allen diesen Beobachtungen ist es. nicht entschieden, ob die lebendige Substanz der Zellen selbst eine Temperatur unter O'' C. besitzt. Bekanntlich produciren alle Zeilen eine gewisse Menge "Wärme durch ihren Stoffv\'echsel, und ihre Innen- temperatur ist, wenn sie eingefroren sind, in Folge dessen stets um ein Geringes höher, als die des umgebenden Eises. Es wäre daher mög- lich, dass die lebendige Substanz der Zellen selbst in allen diesen Be- obachtungen gar nicht eine Abkühlung auf 0 ^ oder unter 0 '' C. erfahren

^) Pbeyeb: „Xaturwissenschaftliche Thatsachen und Probleme." Berlin 1880.

294 Viertes Capitel.

hätte. Es bedurfte also genauerer Untersuchungen, um die Frage zu entscheiden, ob die lebendige Zelle selbst eine Abkühlung ihrer Sub- stanz bis auf oder unter C. ohne Schaden erträgt. Derartige Versuche hat Kühne und in neuerer Zeit am ausführlichsten Kochs angestellt.

Kühne ^) setzte in einem Uhrschälchen einen Tropfen Wasser, in dem sich viele Am o eben befanden, auf Eis und fand, dass allmählich, entsprechend der Abkühlung, die Bewegungen der Am o eben lang- samer und langsamer wurden, bis sie schliesslich ganz aufhörten und die A m o e b e n vollständig regungslos liegen blieben. Wurde der Tropfen dann wieder auf gewöhnliche Zimmertemperatur gebracht, so stellten sich die Bewegungen wieder ein. Die Amoeben waren also am Leben geblieben. Anders aber gestaltete sich der Erfolg, wenn Kühne den Tropfen mit den Amoeben selbst einfrieren Hess. Als- dann blieben die Amoeben auch nach dem Erwärmen regungslos und waren nicht mehr ins Leben zurückzurufen.

Sehr eingehende Versuche stellte in neuerer Zeit Kochs ^) an Fröschen und Wasserkäfern an. Er liess diese Thiere in Gläsern mit Wasser einfrieren. Dabei blieb aber, wenn die Temperatur nicht sehr niedrig war, um die Thiere herum, rings vom Eise umschlossen, eine flüssige Wassermasse, deren Temperatur, wie sich nach Durchbohrung der Eismasse zeigte, 2*^ über dem Kulipunkt war. Fror auch diese letzte Wasserschicht nach der Anbohrung noch ein, so konnten die Thiere noch durch Erwärmen zum Leben gebracht werden, wenn sie nicht länger als 5 6 Stunden eingefroren waren. Bei dem Durch- sägen derartiger Präparate stellte sich aber heraus, dass die Thiere innen noch nicht hart gefroren waren. Wurde der Versuch dagegen so weit ausgedehnt, dass auch das Innere der Thiere hart gefroren war, was eintrat, wenn sie in kalte Luft von 4" C. gebracht wurden, so waren alle Wiederbelebungsversuche vergeblich.

Nach diesen Versuchen musste die Annahme, dass Organismen stets zu Grunde gehen, wenn die lebendige Substanz ihrer Gewebe- zellen selbst hartfriert, die grösste Wahrscheinlichkeit für sich ge- winnen. Allein allen diesen Versuchen hat in jüngster Zeit Raoul PiCTET^) Thatsachen gegenübergestellt, nach denen wir, wie es scheint, nunmehr unsere Vorstellungen ganz verändern müssen.

Der bekannte Forscher, welcher uns bereits mit einer Anzahl ausserordentlich werthvoller Entdeckungen über die chemischen Wir- kungen der niedrigsten Temperaturen überrascht hat, stellte neuer- dings in seinem Laboratorium Versuche an über die physiologische Wirkung extrem niedriger Temperaturen. Die Versuchsobjekte wurden durch Holz vor der Berührung mit den Metallwänden des Kältegefässes, in das sie gebracht wurden, geschützt, so dass sie nur der niedrigen Lufttemperatur ausgesetzt waren. Dabei zeigte sich, dass sich die verschiedenen Thiere sehr verschieden verhielten. Fische, welche in einem Eisblock auf —15° C. abgekühlt wurden, blieben nach vor- sichtiger Erwärmung dennoch am Leben, obwohl ihre Versuchsgenossen

^) W. Kühne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

2) W. Kochs : .,Kann die Continuität der Lebensvorgänge zeitweilig unterbrochen werden?" In Biol. Centralbl. Bd. X, Nr. 22, 1890.

3) Raoul Pictet: „Das Leben und die niederen Temperaturen." In Revue scientifique LH, 1893.

Von den allgemeineu Lebensbedingungen.

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sich wie (las Eis selbst zu Pulver zerstampfen liessen Dagegen gingen die Fische bei einer Abkühlung aut -20" C. zu Grunde, t rösche ertrugen eine Temperatur von -28" C, Tausendtusser von -50" C. Li ichnecken soglar von -120" C-, ohne zu sterben ja Ba^^^^^^^ überstanden eine Temperatur von unter -200" C! ^ac \f ^««^^ überraschenden Versuchen durfte es jetzt kaum noch zweifelhaft sein, dassdie lebendige Substanz der Zellen selbst in einzelnen Fällen zu Eis gefrieren kann, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüssen. - u A^r.

Diese Erscheinungen legen die Frage nahe, ob es sich in den eingefrorenen Organismen wirklich um einen völligen Stillstand der Lebensprocesse handele, eine Frage, die Preyer bejahen zu müssen daubt Theoretisch würde diese Annahme durchaus^ mchts gegen sich haben; denn wenn wir sehen, wie mit sinkender Temperatur die Energie der Lebensprocesse immer mehr abnimmt, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass einmal ein Punkt eintritt, wo dieselben überhaupt aufhören. Die Möglichkeit, dass die Zellflüssigkeit selbst gefrieren kann, ohne die Lebensfähigkeit der Zelle zu vernichten, würde diese Annahme sogar noch unterstützen; denn wie wir sahen, kann das Leben ohne flüssiges Wasser nicht bestehen. Sobald also das flussige Wasser in der lebendigen Substanz in den festen Zustand übergegangen ist, müsste man erwarten, dass auch die chemischen Umsetzungen in der Zelle stehen blieben. Allein um mit Sicherheit diese Frage zu entscheiden, fehlen uns doch bis jetzt noch die entscheidenden Ex- perimente. Erst wenn sich herausstellen sollte, dass lebendige Substanz in gefrorenem Zustande Jahre lang lebensfähig erhalten werden kann, wie sich gewisse Organismen in getrocknetem Zustande Jahre, Jahr- zehnte, ia Jahrhunderte lebensfähig erhalten lassen, erst dann wurde die Wahrscheinlichkeit, dass das Leben in den gefrorenen Organismen wirklich stillsteht, der Gewissheit nahe kommen. Vorlaufig fehlen diese Feststellungen noch. Eine Thatsache lerner, welche der An- nahme eines völligen Stillstandes sehr ungünstig gegenübersteht, ist die von PiCTET gemachte Beobachtung, dass Organismen, die zu JI.18 gefroren sind, gegen ein weiteres Sinken der Temperatur über einen bestimmten P^nkt hinaus nicht mehr resistent bleiben. ^^^ «md nach dem Aufthauen nicht mehr zum Leben zurück zu rufen Stande das Leben wirklich absolut still, so wäre es schwer zu verstehen,^ weshalb ein weiteres Sinken der Temperatur noch von Emfluss sein sollte^ Wir müssen deshalb auf eine definitive Lösung der Frage nach dem absoluten Stillstand des Lebens in der Kälte vorläufig noch verzichten Auf ähnliche Schwierigkeiten, wie die Feststellung des Minimums der äusseren Temperatur, stösst auch die des Maxlmums^ Das Maximum ist in jedem Falle gegeben durch den Punkt, wo die E- weisskörper in der lebendigen Substanz der Zelle gerinnen Die E - Weisskörper spielen, wie wir wissen, im Leben der Zelle die wesent- lichste Rolle, und es ist begreiflich, dass, wenn das geloste Eiweiss m den festen Zustand übergeht, der Stoffwechsel, also das Leben, still- stehen muss. Hiernach könnte es sehr einfach scheinen, das iem- peratur-Maximum, bei dem noch Leben bestehen kann, zu ermitteln. Indessen ist einerseits die Gerinnungstemperatur für verschiedene Ei- weisskörper eine sehr verschiedene, andrerseits giebt es Berichte über Organismen, die selbst bei Temperaturen noch lebten, wo langst alles Eiweiss geronnen sein müsste.

296 Viertes Capitel.

Kühne ^) stellte in gleicher Weise, wie über das Temperatur- Minimum, auch über das Temperatur-Maximum an Am o eben Ver- suche an, bei denen er fand, dass sich die vorher lebhaft kriechenden Arno eben bei einer Temperatur von 35" C. contrahirten, aber noch lebensfähig blieben, dass sie dagegen nach einer Erwärmung auf 40 45 " C. nicht mehr durch Abkühlung zum Leben zurück zu rufen waren. Dabei konnte Kühne feststellen, dass ein Eiweisskörper der Amoebenzelle, den er für die contractile Substanz hält, bereits bei 40 ^ C, ein anderer erst bei 45 " C. gerinnt. Für Pflanzenzellen ermittelte Max Schultze ^) eine Temperatur von 47 ^ C. als den Punkt, wo der Tod eintrat. Dem gegenüber haben verschiedene andere Autoren Angaben gemacht von merkwürdigen Fällen, in denen Organismen noch unter viel höheren Temperaturgraden existiren. Die wunderbarste Angabe war bisher immer die Beobachtung von Ehrenberg ^), der in den heissen Quellen von Ischia bei einer Temperatur von 81— 85^^ C. zwischen Filzen von Oscillarien ciliate Infusorien und Räderthier- chen lebend antraf. Hoppe-Seyler*), der in Casamicciola auf Ischia diese Angabe Ehrenberg's einer Prüfung unterzog, fand freilich nur bedeutend niedrigere Temperaturen. Algen lebten , wenn sie heissen Dämpfen ausgesetzt waren, zwar bei 64,7" C, aber im Wasser betrug die höchste Temperatur, bei der sie existirten, nur 53 " C. Sicher ist also demnach zunächst, dass Organismen noch bei einer Wasser- temperatur von 53" C. zu leben vermögen.

Vor einiger Zeit sind aber von Neuem sehr eingehende Unter- suchungen in Amerika an den heissen Quellen des Yellowstone-Park unternommen worden, bei denen wieder lebendige Algen unter viel höheren Temperaturen gefunden wurden. Die alte Ehrenberg 'sehe Angabe scheint also doch nicht unrichtig gewesen zu sein.

Sind diese Angaben schon wunderbar genug, so kennen wir doch noch eine sicher verbürgte, leicht zu beobachtende Thatsache, die viel auffallender ist. Das ist das Verhalten gewisser Bakteriensporen gegenüber hohen Temperaturen. Koch, Brefeld u. A. haben gezeigt, dass die Spoi-en des Milzbrandbacillus (Bacillus Anthracis), so- wie des Heubacillus (Bacillus subtilis) Temperaturen von mehr als 100" C. ertragen können, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüssen.

Für diese räthselhaften Thatsachen fehlt uns vorläufig noch jede Erklärung. Wir können nur annehmen , dass die Eiweisskörper in diesen Organismen sich in einem Zustande befinden, in welchem sie durch hohe Temperaturen, ja, wie die Sporen der Heubacillen , selbst in der Siedehitze nicht zum Gerinnen gebracht werden können, denn die Annahme, dass die lebendige Substanz in diesen Organismen trotz der äusseren Hitze des umgebenden Mediums nicht bis zum Ge- rinnungspunkt des Eiweisses erwärmt werden sollte, ist eben so un- wahrscheinlich wie die, dass die Lebensfähigkeit trotz der Gerinnung der Eiweisskörper in ihnen erhalten bleiben sollte. Wir wissen vor- läufig noch nicht, in welchen molekularen Veränderungen das Wesen des Gerinnungsprocesses begründet ist, und von welchen Bedingungen

^) Kühne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

^J Max Schultze: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen." Leipzig 1863.

3) Ehrenberg: In Monatsber. d. Akad. d. "Wissensch. zu Berlin 1859.

*) Hoppe-Sevler: „Physiologische Chemie." Theil I. Berlin 1877.

Von (Ion allgemeinen Lebensbedingungen. 297

sein Eintreten, abgesehen von den bekannten Factorcn, noch sonst beeinfliisst Avird. Erst wenn wir über diese Fragen besser unterrichtet sein werden, wird vermuthbch auch einiges Licht auf die räthselhaften Erscheinungen fallen, die wir eben kennen gelernt haben.

5. Der Druck.

Wie die Temperatur hat auch der Druck, unter dem die Körper stehen, einen Einfluss auf ihre chemische Constitution. Dieser Einfluss macht sich besonders in gewissen Fällen bemerkbar, wo der chemische Körper in einem Medium sich befindet, mit dessen Stoffen er in chemischer Beziehung steht. Ist diese Bedingung erfüllt, betindet sich ein chemischer Körper in einem gasförmigen oder flüssigen Medium, das Stoffe ent- hält, die zu ihm chemische Affinität besitzen, so kann durch Erhöhung des Drucks eine chemische Verbindung zwischen dem Körper und den betreffenden Stoffen des Mediums eintreten , durch Verminderung da- gegen eine Spaltung in die früheren Bestandtheile. Diese Erscheinung beruht auf dem Antagonismus zwischen den Wärmeschwingungen der Atome und dem Druck. Bei einem grösseren Druck werden die Atome zusammen gedrängt. Es können also mehr Atome des Mediums mit den Atomen des betreffenden Körpers in Berührung treten, während bei Aufhebung des Druckes die Wärmeschwingungen der Atome wieder so gross werden, dass die Atome sich aus der lockeren Verbindung losreissen.

Die lebendige Substanz befindet sich in einem solchen Falle. Sie lebt in einem Medium, sei es Luft oder Wasser, mit dem sie in chemischem Stoftaustausch steht. Es ist also klar, dass der Druck, sei es der Luftdruck, sei es der Wasserdruck, eine grosse Bedeutung für das Leben haben wird, und dass ein Druck innerhalb bestimmter Grenzen zu den allgemeinen Lebensbedingungen der lebendigen Körper gehören muss.

Leider ist gerade diese Lebensbedingung bisher noch am wenigsten erforscht, und es ist zur Zeit erst zum Theil möglich, festzustellen, bei welchem Druck der Luft oder des Wassers überhaupt noch Leben existiren kann, zwischen welche Grenzen des Druckes das Leben auf der Erdoberfläche in seiner jetzigen Form eingeengt ist. Bei der experi- mentellen Erforschung dieser Probleme müsste aber wieder eingehend specialisirt, und es müssten die Werthe für die einzelnen Constituenten von Luft und Wasser, wie Sauerstoff, Kohlensäure etc., manometrisch gesondert bestimmt werden.

Wir haben bereits bei Besprechung des Sauerstoffes als allgemeiner Lebensbedingung die Bedeutung des Partiardrucks dieses Gases kennen gelernt^) und haben gesehen, dass reiner Sauerstoff bei einem Druck von mehr als drei Atmosphären auf homoiotherme Thiere schon tödt- lich wirkt, während der gleiche Erfolg in gewöhnlicher Luft erst bei einem Druck von 15 20 Atmosphären eintritt. Ebenso erfolgt der Tod, wenn der Partiardruck des Sauerstoffes allzusehr sinkt.

Man hat das gewagte Experiment der Luftballonfahrt benutzt, um Erfahrungen darüber zu sammeln, bei welcher Höhe in der Atmosphäre der Luftdruck so gering wird , dass für den Menschen

1) pag. 287.

298

Viertes Capitel.

Lebensgefahr eintritt. Berühmt geworden ist die Luftballonfahrt, die Spinelli, Sivel und Tissandier im Jahre 1875 von Paris aus machten. Sie stiegen ziemlich schnell in die Höhe und erreichten ohne irgend welche Störung eine Höhe von 7000 Metern. Bei etwa 7500 Metern dagegen, so erzählt Tissandier, fühlten sie eine immer mehr zu- nehmende Schwäche und Apathie, die sich bald zu vollständiger Be- wegungslosigkeit steigerte, obwohl der Geist zunächst noch klar blieb. Die willkürlichen Bewegungen konnten sie nicht mehr ausführen und selbst die Zunge nicht mehr zum Sprechen benutzen. Als Tissandier dann die Beobachtung gemacht hatte, dass der Ballon eine Höhe von 8000 Metern überschritten hatte, verlor er nach vergeblichen Versuchen, seinen beiden Genossen diese Thatsache mitzutheilen, das Bewusstsein. Als er wieder erwachte, war der Ballon bis 7059 Meter gesunken. Darauf warf Spinelli, der ebenfalls wieder erwacht war, Sand aus, um den Ballon nicht zu schnell fallen zu lassen. In Folge dessen stieg der Ballon Avieder, und die Luftschiffer verloren von Neuem ihr Be-

Fig. 132. Neoscopelus macrolepidotus, aus 1500 m Tiefe an die Oberfläche gebracht. Die Augen und die Ein- geweide quellen hervor und die Schuppen fallen durch die Ausdehnung der Haut vom Körper ab. Nach Keller.

wusstsein. Als Tissandier darauf zum zweiten Mal erwachte, waren sie bis zu 6000 Meter Höhe gesunken, und das Barometer zeigte an, dass der Ballon eine Höhe von etwa 8500 Metern erreicht hatte. Aber Tissandier war diesmal der Einzige, welcher das Licht wieder er- blicken sollte, seine beiden Gefährten erwachten nicht mehr.

Für Pflanzen und Thiere kann man das Luftdruckminimum, bei dem sie eben noch am Leben bleiben, unter der Luftpumpe bestimmen, wobei es sich für die Thiere hauptsächlich um den Partiardruck des Sauerstoffs, für die Pflanzen um den der Kohlensäure handelt.

Weit weniger Erfahrungen als über die Grenzen des Luftdrucks, bei dem lebendige Körper existiren können, haben wir über dieselben Werthe für den Wasserdruck. Die interessanten Tiefseeforschungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass, gegenüber früheren Vor- stellungen, selbst in den grössten Meerestiefen, wo ewiges Dunkel herrscht und ein Druck von mehreren Hundert Atmosphären auf den Körpern lastet, noch lebendige Organismen ein weltvergessenes Dasein führen. Der Druck, unter dem diese Thiere leben, ist so gross, dass sie bei der plötzlichen Druckerniedrigung, welche sie beim Herauf-

Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 299

ziehen erfahren, phitzen. Fische kommen aufgebläht, mit abstehenden Schuppen und aus dem Maul herausgequollenen P^ingewciden , an der Oberfläche an (Fig. 132), eine Erscheinung, die übrigens schon an den Fischen, welche in den Tiefen des Bodensees leben, beobachtet wird. Wie hoch der Druck noch steigen kann, bis alles Leben aufhört, ist bisher noch nicht untersucht worden. Die Verminderung des Wasserdrucks um den Druck der auf dem Wasser lastenden Atmo- sphäre mittels der Luftpumpe seheint auf alle im Wasser lebenden Organismen ohne Einfluss zu sein. Eine weitgehende Verminderung des Wasserdrucks aber ist, ohne die flüssige Natur des Wassers zu verändern, nicht möglich. An dieser Stelle geht die Frage nach dem Minimum des Wasserdrucks in die Frage nach dem Minimum des Luftdrucks und des Partiardrucks der darin enthaltenen Gase, Wasser- dampf, Sauerstoff" etc. üljer und knüpft an die Fragen nach der Be- deutung des Wassergehalts, des Sauerstoffes etc. als allgemeiner Lebens- bedingungen an.

B. Die allgemeinen inneren Lebensbedingungen.

Mit der Erfüllung der bisher besprochenen Bedingungen der Stoff"- zufuhr, bestimmter Temperaturgrade und eines gewissen Drucks ist die Reihe der allgemeinen Lebensbedingungen, welche im Medium ge- geben sein müssen, erschöpft. Andere Bedingungen, wie z. B. das Licht, die ebenfalls noch äussere Lebensbedingungen sind, stellen keine allgemeinen Lebensbedingungen vor, sondern gelten nur für bestimmte Organismen oder Organismengruppen.

Allein zu den allgemeinen äusseren Lebensbedingungen ge- sellen sich noch andere, die auch erfüllt sein müssen, damit Leben bestehen kann, die aber im Organismus selbst liegen. Das sind die allgemeinen inneren Lebensbedingungen.

Die selbstverständliche Ha u p t b e d i n g u n g für die Existenz des Lebens bei Erfüllung aller äusseren Lebensbedingungen ist die Anwesenheit lebensfähiger Substanz, an der die Lebenserscheinungen sich abspielen können. Wenn wir uns daher ein winziges Tröpfchen lebendiger Substanz denken in einem Medium, in dem die äusseren Lebensbedingungen sämmtlich erfüllt sind, so müssten war annehmen, dass es dann am Leben bliebe, solange nicht von aussen störende Momente hinzutreten. Aber dem widerspricht die Erfahrung durch das Experiment.

Wir können leicht eine kleine Menge lebendiger Substanz gewinnen, indem wir von einer lebendigen Zelle, etwa von einer Am oebe, unter dem Mikroskop mit einer feinen Lanzette ein winziges Stückchen des hyalinen Protoplasmas abschneiden. Das abgeschnittene Stückchen ist lebendig ; das erkennen wir daran, dass es auch nach der Operation noch eben solche Bewegungen ausführt, wie die ganze Amoebe. Die äusseren Lebensbedingungen ferner sind sämmtlich erfüllt, denn es befindet sich in demselben Medium und unter denselben äusseren Verhältnissen wie die ganze Amoebe. Und dennoch dauert es nur kurze Zeit, und das abgeschnittene Protoplasmatröpfchen ist todt und kann durch nichts mehr zum Leben zurückgeführt werden. Denselben Erfolg hat unfehlbar jedes gleiche Experiment an irgend einer anderen Zelle (Fig. 133). Hier haben wir also eine gewisse Menge lebendiger

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Viertes Capitel.

Substanz in einem Medium, in dem alle äusseren Lebensbedingungen erfüllt sind, und dennoch kann die Masse nicht dauernd am Leben bleiben. Es fehlt uns also noch ein Moment in der vollständigen Be- stimmung aller allgemeinen Lebensbedingungen.

Unser Versuch zeigt uns dieses Moment: es ist der natürliche Zusammenhang und die Wechselwirkung der wesent- lichen Theile eines Organismus, denn es existirt jetzt auf der ganzen Erde keine lebendige Substanz, die in allen ihren Punkten gleichartig wäre.

Das gilt vom Zellen st aat in gleicher Weise wie von der einzelnen Zelle. Zwar könnte man einwenden, dass man in vielen Fällen Theile, ja ganze Organe von einem Organismus abtrennen kann, ohne seine Existenz zu gefährden. Das ist richtig; aber in allen diesen Fällen handelt es sich immer nur um Theile, welche nicht

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Fig. 133. Stentor Eoeselii, eine Wimperinfuso- rienzelle. Die helle, langgestreckte, stabför- mige Masse im Innern ist der Kern, A bei * in zwei kei-nhaltige Stücke zer- schnitten, B und C, die kernhaltigen Stücke, ha- ben sich wieder zu ganzen Stentoren regenerirt und leben weiter.

unbedingt zur Erhaltung des Individuums noth wendig sind, sei es, weil sie in der Mehrzahl vorhanden sind und in ihrer Rolle durch andere vertreten werden können, sei es, weil sie mit den anderen Theilen nicht in engerer Wechselwirkung stehen, und daher auch ab- getrennt noch vollkommene Individuen vorstellen. Ein Polyp kann in zwei Theile geschnitten werden, die beide weiter leben, und von einem Polypenstock kann ein einzelner Polyp losgetrennt werden, ohne zu Grunde zu gehen. In unserem Experiment an der Amoebe bleibt der kernhaltige Zellkörper auch nach Abtrennung eines Stückes Proto- plasma noch am Leben, weil er noch eine grössere Menge von eben solchen Protoplasmatheilchen besitzt. Dagegen geht das abgeschnittene Stück Protoplasma zu Grunde , weil der Zusammenhang und die Wechselwirkung mit der Kernmasse aufgehoben ist.

Wir kennen die lebendige Substanz, welche jetzt auf der Erd- oberfläche existirt, nur in Form von Zellen, mögen die Zellen einzeln leben oder zu Zellenstaaten verbunden sein. Die Zelle aber enthält

Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 301

als ihre wesentlichen Bestandtheile zwei verschiedene Substanzen, das Protoplasma und den Zellkern ^). Wo noch ein wenig Protoplasma und ein wenig Kernsubstanz vereint existirt, da haben wir noch eine Zelle, und nur diese ist, wenn ihre äusseren Lebensbedingungen er- füllt sind, lebensfähig. Wir können daher auch eine grosse Zelle in viele lebensfähige Stücke theilen, solange wir nur darauf achten, dass jedes Stück etwas Protoplasma und ein wenig Kernsubstanz mitbe- kommt, und dass das Missverhältniss zwischen beiden Massen eine be- stimmte Grösse nicht übersteigt^). Das Experiment ist bei einiger Geschicklichkeit an grossen einzelligen Organismen gar nicht so schwer auszuführen. Wird aber eine Zelle so getheilt, dass der Kern vom Protoplasma getrennt wird, so gehen beide Theile unfehlbar zu Grunde. Da die Zelle also der allgemeine Elementar-Bestandtheil aller Organismen, das Individuum niedrigster Ordnung ist, so können wir als ganz allgemeine innere Lebensbedingung die Forderung des Zu- sammenhanges von Kern und Protoplasma in der Zelle aufstellen. Nur wo Kern und Protoplasma vereint sind, da kann Leben auf die Dauer existiren.

Eine physikalische Erscheinung tritt ein , wenn einerseits ein materielles Substrat vorhanden ist, an dem sie sich abspielen kann, und wenn andererseits gewisse äussere Bedingungen erfüllt sind. Dasselbe gilt von den Lebenserscheinungen. Die Lebenserscheinungen treten mit physikalischer Nothwendigkeit auf, wenn lebensfähige Substanz vor- handen ist, und wenn die äusseren allgemeinen und speciellen Lebens- bedingungen erfüllt sind. Die Lebenserscheinungen sind also mit anderen Worten Ausdruck der Wechselbeziehungen zwischen lebendiger Substanz und umgebendem Medium, oder, wie Claude Bernard ^j sagt: „les manifestations vitales resultent d'un conflit entre deux facteurs : la substance organisee vivante et le milieu."

Bei diesen engen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Fac- toren, zwischen lebendiger Substanz und umgebendem Medium, drängt sich die Frage auf: wie Avar es um das Leben bestellt zu einer Zeit, wo noch ganz andere Bedingungen auf unserem Weltkörper herrschten als jetzt? Konnte schon fi-üher Leben bestehen, wann konnte es ent- stehen, und wie entstand es?

II. Die Herkunft des Lebens auf der Erde.

Es gab eine Zeit, wo unser Erdball ein feuriger Körper war, seiner Mutter gleich, der Sonne, die jetzt noch unsere Tage mit den Strahlen ihrer glühenden Masse erwärmt und erhellt. Die härtesten Gesteine, die festesten Metalle, die heute die erstarrte Rinde unseres

^) Vergl. pag. 74.

2) Frank Lillie : „On the smallest part of Stentor capable of Regeneration. A Contribution on the limits of Divisibility of Living Matter." In Journ. of Morphol. Vol. XII. 1896.

^) Claudk Bernard : „Le9ons sur les phenomenes de la vie communs aux ani- maux et aux vegetaux." Tome II. Paris 1879.

302 Viertes Capitel.

Erdkörpers zusammensetzen, befanden sich damals in einem feurig- flüssigen Zustande, und eine Atmosphäre von glühenden Gasen umgab den flüssigen Kern. Nach Tausenden von Graden maass die Tempe- ratur in diesem glühenden Gemisch, in dem es in gewaltiger Be- wegung durcheinander wogte und wirbelte.

Die Vorstellung, dass unser Erdball einst einen solchen Zustand in seiner Entwicklung durchlaufen hat, ist jetzt ein unbestrittenes All- gemeingut aller einzelnen Zweige der Naturwissenschaften. Astronomie und Physik, Geologie und Entwicklungsgeschichte, Mineralogie und Chemie, alle trefl'en in diesem Punkte zusammen. In der That hat uns die moderne Forschung mit Hülfe des Fernrohrs und des Spectral- apparates direct vor Augen geführt, dass noch jetzt im Weltall überall sich derselbe Entwicklungsprocess wiederholt, den unser Erdball einst durchgemacht hat, dass wir noch jetzt überall im Weltenraum an anderen Weltkörpern die analogen Zustände zu jedem einzelnen Ent- wicklungsstadium der Erde finden, vom gasförmigen Nebelfleck an, durch die feurig-flüssige Kugel bis zur festen, in eisiger Kälte erstarrten Masse, dem Schicksal, das auch unserer Erde einst bevorsteht, und das uns unser treuer Gefährte, der Mond, täglich vor Augen hält.

Die Thatsache, dass unsere Erde sich einst in einem Zustande befand, in dem ihre Temperatur eine ungeheure war, in dem kein Tropfen Wasser existirte, kurz, in dem von den Lebensbedingungen, die wir heute als unerlässlich für die Existenz der Organismen kennen, keine Rede sein konnte, diese Thatsache wird immer ein wichtiges Moment sein, mit dem alle Speculationen über die Herkunft des Lebens auf der Erde zu rechnen haben. Betrachten wir hiernach die ver- schiedenen Ansichten, welche auf wissenschaftlicher Grundlage über die Herkunft des Lebens auf der Erde von verschiedenen Forschern geäussert worden sind, um uns danach selbst, wenn auch nur in all- gemeinen Zügen, eine Vorstellung bilden zu können.

A. Die Theorieen über die Herl(unft des Lebens auf der Erde.

1. Die Lehre von der Urzeugung.

Der Inhalt der modernen Urzeugungslehre (Lehre von der Archigonie, Abiogenesis, Generatio spontanea oder aequivoca etc.) in seiner allgemeinen Form gipfelt in folgendem Gedanken. Da es eine Zeit in der Entwicklung unseres Erdkörpers gab, wo die Existenz der lebendigen Substanz, die jetzt die erkaltete Erdoberfläche bewohnt, schlechterdings unmöglich war, so muss die lebendige Substanz zu irgend einem späteren Zeitpunkt der Erdentwicklung einmal aus leb- loser Substanz entstanden sein.

Es entsteht aber danach die Frage, wie die ersten Organismen beschafl'en waren, und unter welchen Bedingungen sie entstanden.

Dem Alterthum, ja selbst einem Geiste von so umfossender Natur- kenntniss wie Aristoteles machte die Vorstellung, dass selbst Thiere, wie Würmer, Insecten, sogar Fische aus Schlamm entstehen könnten, keine besonderen Schwierigkeiten. Erst in verhältnissmässig später Zeit, besonders im Anschluss an die Untersuchungen von Redi und SwAMMERDAMM über die Entwicklung der Insecten, Hess man diese rohen Urzeugungsideen als unvereinbar mit den festesten naturwissenschaft- lichen Erfahrungen fallen.

Von den allgemeinen Lebensbedinfjunf^en. 303

Einen neuen Anhaltsjjunkt gewann die Lelire von der Urzeugung aber wieder, als die Ertindung des Mikroskops zur Entdeckung einer bis dahin völlig unbekannten, überaus fbrnienreichen Welt führte, als man fand , dass in jedem Aufguss von Wasser auf eine todte orga- nisehe Substanz naeli kurzer Zeit eine Fülle von kleinen, lebendigen \\'e.sen sieh entwickelte, die wir noch jetzt deshalb als Aufgussthicrchen oder Infusorien bezeichnen. In den Infusorien glaubte man mit Sicher- heit Organismen gefunden zu haben, die durch Urzeugung aus den todten Stoften des Aufgusses sich bildeten. Das musste um so mehr Wahrscheinlichkeit für sich haben, als die Infusorien gleichzeitig die niedrigsten und einfachsten Wesen waren, die man überhaupt bis da- hin kannte. Allein auch in diesem Falle stellte sich heraus, dass die Organismen nicht durch Urzeugung erst entständen, sondern sich ent- wickelten aus Keimen, die schon vorher in den Stoffen enthalten waren oder durch die Luft in die Gefässe gelangten. Milne Edwards, Schwann, Max Schultze, Helmholtz u. A. zeigten nämlich, dass, wenn man die Substanzen durch Kochen vorher keimfrei gemacht hatte, und wenn man verhinderte, dass durch die Luft Keime in den Aufguss gelangen konnten, dass dann die Entwicklung von Infusorien stets unterblieb, man mochte den Aufguss stehen lassen, solange man wollte.

Als schliesslich in neuerer Zeit die kleinsten aller Mikroorganis- men, die Bakterien, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt in hohem Maasse auf sich zu lenken begannen, als man mit unseren verfeinerten Forschungsmethoden fand, dass diese winzigen Wesen oder ihre Keime überall in der Luft, in der Erde, im Wasser vor- handen sind, da bemächtigte sich die Urzeugungslehre auch dieser Organismen und liess sie als die niedrigsten noch heute fortwährend aus leblosem Material entstehen. Aber auch hier hat die moderne Bakteriologie mit den bew^underungswürdig feinen Methoden, die sie ihren Begründern, vor Allem Pasieur und Robert Koch, verdankt, die Urzeugungslehre zurückgewiesen, indem sie zeigte, dass unter Ab- schluss aller Keime, die von aussen auf das Präparat gelangen könnten, selbst der fruchtbarste Nährboden, der alle Stoffe für die Ernährung der Bakterien in günstigster Mischung enthält, bakterienfrei bleibt, dass sich dagegen eine ganze Welt der verschiedensten Bakterien- formen auf ihm entwickelt, sobald man ihn nur kurze Zeit offen an der Luft stehen lässt.

Mit diesem fortlaufenden Streit um die Urzeugungslehre Hand in Hand gingen die bis in die neueste Zeit reichenden Versuche, lebendige Organismen künstlich im Laboratorium herzustellen. In unserer Zeit sind diese Bemühungen besonders mit dem Namen Pouchet's verknüpft, welcher der letzte energische Vertreter der An- sicht war, dass es möglich sei, einzellige Organismen, wie Bakterien- formen, Hefepilze und ähnliche Mikroben, aus leblosen Substanzen künstlich zu erzeugen, indem man nur die nothwendigen Bestandtheile vermischt und unter günstige äussere Bedingungen bringt. Aber selbst wenn diese Versuche einmal zu positiven Resultaten geführt zu haben schienen, immer kamen wieder die Bakteriologen mit ihren kritischen Methoden und zeigten, dass es sich um die Entwicklung von Keimen handelte, die von aussen dazu gekommen waren oder sich schon vor- her in den Versuchsgefässen befunden hatten. Diese Bemühungen, aus todten Stoffen künstlich lebendige Mikroben zu erzeugen, sind im Grunde genommen nichts Anderes, als das Untei-nehmen des Famulus

304 Viertes Capitel.

Wagner, den Menschen selbst in der Retorte aus chemischen Gemischen zusammenzusetzen. Wie kann man hoffen, auch nur den einfachsten Organismus chemisch herzustellen, wenn uns die chemische Zusammen- setzung der wichtigsten Stoffe, aus denen alle lebendige Substanz besteht, die Zusammensetzung der lebendigen Eiweisskörper zur Zeit noch völlig unbekannt ist!

Das Verdienst, den gesunden Kern aus der absurden Hülle der früheren Urzeugungsideen herausgeschält und in einen i-ein wissen- schaftlichen Boden verpflanzt zu haben, gebührt Haeckel. Für ihn ist die Frage, ob jetzt noch lebendige Substanz durch Urzeugung irgendwo entsteht oder nicht, indifferent^). Heute, nahezu 30 Jahre später, nachdem die Kenntniss der niedrigsten Organismen und ihrer Fortpflanzung eine so enorme Entwicklung durchgemacht hat, ist die grösste Mehrzahl der Forscher geneigt, diese Frage in negativem Sinne zu beantworten. Dagegen hat Haeckel als der Erste in voller Schärfe den Schluss gezogen, dass die lebendige Substanz zu irgend einem Zeitpunkte der Erden twicklung einmal aus leb- losen Substanzen entstanden sein mnss , weil es eine Zeit gab, wo die Erde sich in einem Zustande befand, der jedes organische Leben ausschloss. Dieser Zeitpunkt kann nach Haeckel nicht früher datirt werden, als zu einer Zeit, wo sich der in der Atmosphäre ringsum suspendirte Wasserdampf in tropfbar-flüssiger Form niedergeschlagen hatte. Worauf Haeckel ferner mit Recht den grössten Werth legt, ist, dass die durch Ur- zeugung entstandenen Organismen noch keine Zellen, sondern die niedrigsten und einfachsten Organismen ge- wesen sein müssen, die wir uns vorstellen können, „voll- kommen homogene, structurlose, formlose Eiweissklumpen". Diese lebendigen Eiweissklümpchen kann man sich etwa entstanden denken aus der Wechselwirkung der im Urmeere gelösten Substanzen. Eine eingehendere Erörterung aber über das „Wie" der Entstehung weist Haeckel ausdrücklich zurück: „jede irgendwie ins Einzelne eingehende Darstellung der Autogonie ist vorläufig schon deshalb unstatthaft, weil wir uns durchaus keine irgendwie befriedigende Vorstellung von dem ganz eigenthümlichen Zustande machen können, den unsere Erdober- fläche zur Zeit der ersten Entstehung der Organismen darbot." Von den überaus einfachen und niedrigen, durch Urzeugung entstandenen Organis- men, die Haeckel eben ihrer Einfachheit wegen als „Moneren" bezeichnet, stammen dann durch lückenlose Descendenz die Zellen und sämmtliche Organismenformen ab, die heute noch die Erdoberfläche bevölkern.

Das ist im Wesentlichen die Urzeugungslehre in ihrer heutigen Form. Aber so einfach und einleuchtend ihre Schlussfolgerung auch ist, so hat sie doch von mehreren Seiten Widerspruch erfahren und zur Aufstellung anderer Theorieen über die Herkunft des Lebens auf der Erde Veranlassung gegeben.

2. Die Theorie von den Kosmozoen.

Die Theorie von den im Weltenraume umhertreibenden lebens- fähigen Keimen niedriger Organismen, oder, wie Preyer sie kurz ge- nannt hat, von den „Kosmozoen", war die erste, welche sich in neuerer

1) Ernst Haeckel: „Generelle Morphologie der Organismen." Bd. I. Berlin 1866.

Von (li'ii allfifcnieinen LeljonslK-dingungen. 305

Zeit zur Urzeugun^slehre in einen Gegensatz stellte. Ilir Bogriinder war H. E. Richter^). Ausgehend von der Vorstellung, dass sich überall im Weltenraum kleine Partikel fester Substanz umhertreiben, die bei dem raschen Dahinfliegen der Weltkörper von diesen fortwährend ab- gestreift werden, nimmt Richter an, dass gleichzeitig mit diesen festen Theik'hen und an ihnen haftend auch dauernd lebensfähige Keime von ^likroorganismen von solchen Weltkörpern, die bewohnt sind, ab- geschleudert werden und auf andere Weltkörper gelangen. Kommen solche Keime auf Weltkörper, deren Entwicklungszustand gerade günstige Lebensbedingungen, besonders massige Wärme und Feuchtig- keit aufweist, so beginnen sie hier sich zu entwickeln und werden Ausgangspunkt für eine reiche Organismenwelt. Irgendwo im Welten- raume, meint Richter, hat es immer Weltkörper gegeben, auf denen Leben e"xistirte, und zwar in Form von Zellen. Die Existenz von lebendigen Zellen in der Welt ist eine ewige. „Omne vivum ab aeternitate e cellula" sagt Richter, indem er den alten Harvey 'sehen Satz nach Virchow's Vorgange in neuer Weise modificirt. Das orga- nische Leben ist also niemals entstanden, sondern nur immer von einem Weltkörper auf den andern übertragen worden. Das Problem von der Herkunft des Lebens auf der Erde heisst also nach Richter gar nicht : wie ist das Leben auf der Erde entstanden ? sondern : wie ist es von anderen Weltkörpern auf die Erde gelangt? Und diese Frage beantwortet er durch die Theorie von den Kosmozoen.

Für die Möglichkeit, dass lebensfähige Keime vom Weltenraum her durch die Atmosphäre auf die Erdoberfläche gelangen, ohne dabei durch die in Folge der enormen Reibung entstehende Glühhitze zu Grunde zu gehen, glaubt Richter eine Stütze zu finden in der Be- obachtung, dass in manchen Meteorsteinen Spuren von Kohle, ja sogar Humus und petroleumartige Stoff'e vorkommen sollen. Wenn diese, ohne zu verbrennen, auf unsere Erde gelangen könnten, dann wäre es in der That möglich, dass auch lebensfähige Keime die Atmosphäre passiren, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüssen.

Dass organische Keime eine längere Reise durch den Weltraum von einem Himmelskörper auf den andern ohne Wasser und ohne Nahrung vertragen können, dürfen wir in keinem Falle bezweifeln, kennen wir doch in den scheintodten Organismen, wie sie ja auch die Sporen von Mikroorganismen vorstellen, in der That lebensfähige Substanz, die sehr lange Zeit ohne Wasser und ohne Nahrung in ihrem scheintodten Zustande verharren' kann, um erst wieder zu neuem Leben zu erwachen, sobald sie unter die erforderlichen Lebens- bedingungen geräth.

Unabhängig von Richter haben Helmholtz und William Thomson einige Jahre später die Frage erörtert, ob das Leben nicht etwa von anderen Himmelskörpern auf unsere Erde übertragen worden sei, und Beide haben diese Ansicht als nicht unwissenschaftlich bezeichnet. Helmholtz-) sagt: „Die Meteorsteine enthalten zuweilen Kohlen- wasserstoff'verbindungen ; das eigene Licht der Kometenköpfe zeigt ein Spectrum, welches dem des elektrischen Glimmlichtes in kohlen-

^) H. E. Richter: „Zur Darwin'schen Lehre." In Schmidt's Jahrb. d. ges. Med. CXXVI, 1865, und CXLVIII, 1870. Derselbe: „Die neueren Kenntnisse von den krankmachenden Schmarotzerpilzen." In Schmidt's Jahrb. d. ges. Med. CLI, 1871.

2) Hklmholtz: „Ueber die Entstehung des Planeten.systems." In Vorträge und Reden Bd. II. Braunschvveig 1884.

Verworii. Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 20

306 Viertes Capitel.

wasserstoffhaltigen Gasen am ähnlichsten ist. Kohlenstoff aber ist das für die organischen Verbindungen, aus denen die lebenden Körper aufgebaut sind, charakteristische Element. Wer weiss zu sagen, ob diese Körper, die überall den Weltraum durchschwärmen, nicht auch Keime des Lebens ausstreuen, so oft irgendwo ein neuer Weltkörper fähig geworden ist, organischen Geschöpfen eine Wohnstätte zu ge- währen ! Und dieses Leben würden wir sogar vielleicht dem unsrigen im Keime verwandt halten dürfen, in so abAveichenden Formen es sich auch den Zuständen seiner neuen Wohnstätte anpassen möchte." Dass Meteorite Träger solcher Keime sein können, hält Helmholtz für durchaus möglich, da grosse Metorsteine nur an ihrer Oberfläche stark erhitzt werden , indem sie die Atmosphäre der Erde passiren, während sie in ihrem Innern kühl bleiben. Helmholtz sagt ferner über die Kosmozoen-Theorie : „Ich kann nicht dagegen rechten, wenn Jemand diese Hypothese für unwahrscheinlich im höchsten oder aller- höchsten Grade halten will. Aber es erscheint mir ein vollkommen richtiges wissenschaftliches Verfahren zu sein, wenn alle unsere Be- mühungen scheitern, Organismen aus lebloser Substanz sich erzeugen zu lassen, dass wir fragen, ob überhaupt das Leben je entstanden, ob es nicht eben so alt Avie die Materie sei, und ob nicht seine Keime, von einem Weltkörper zum anderen herübergetragen , sich entwickelt hätten, wo sie günstigen Boden gefunden." „Die richtige Alternative ist offenbar: Organisches Leben hat entweder zu irgend einer Zeit angefangen zu bestehen, oder es besteht von Ewigkeit."

3. Pkeyer's Theorie von der Continuität des Lebens.

Durch Ueberlegungen anderer Art ist Preyer ^) zu einer Theorie über die Abstammung des Lebens gelangt, die sich sowohl zu der Urzeugungslehre als zu der Kosmozoentheorie in Gegensatz stellt.

Preyer kann sich zur Annahme der Urzeugungstheorie nicht ent- schliessen auf Grund folgender Betrachtung. Wenn man annimmt, dass zu irgend einer Zeit der Erdentwicklung einmal lebendige Sub- stanz aus lebloser durch Urzeugung entstanden sei, dann müsste man fordern, dass das auch heutzutage noch möglich sei. Das hat aber das Fehlschlagen der unzähligen Menge darauf gerichteter Versuche im höchsten Grade unwahrscheinlich gemacht. Nimmt die Urzeugungs- lehre dagegen an, dass die Urzeugung nur einmal in grauer Ver- gangenheit möglich war, aber jetzt nicht mehr vorkommt, so ist das ebenso unwahrscheinlich, „denn dieselben Bedingungen, welche zur Erhaltung des Lebens erforderlich und jetzt verwirklicht sind, mussten nothwendig auch bei der supponirten Entstehung des Lebendigen aus anorganischen Körpern verwirklicht sein, sonst hätte das Product der Urzeugung nicht am Leben bleiben können". Man begriffe also nicht recht, was jetzt fehlen sollte, so dass die Urzeugung in unserer Zeit nicht mehr möglich sei.

Die Kosmozoentheorie kann Preyer ebensowenig anzunehmen sich entschliessen, weil er darin nicht eine Lösung, sondern nur eine Ver- tagung des Problems sieht, d. h. eine Verschiebung von unserer Erde

^) W. Preyer: „Die Hypothesen über deu Ursprung des Lebens." In Xatur- wissenschaftliehe Thatsachen und Probleme. Berlin 1880.

Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 307

auf irgend einen anderen Weltkörper, bei der aber das Problem selbst immer noch bestehen bleibt.

Von der durch inductive Erfahrung gewonnenen Thatsache aus- gehend, dass alle Organismen stets von anderen Organismen abstammen, die ihnen ähnlich waren, dass bis jetzt niemals durch Beobachtung die elternlose Entstehung eines Organismus festgestellt werden konnte, wirft Preyer daher die Frage auf, ob nicht etwa das Problem der Urzeugung auf einer falschen Fragestellung beruhe, wenn es verlangt, dass die lebendige Substanz einst aus lebloser entstanden sein soll; ob nicht vielmehr umgekehrt die Frage lauten muss: ist vielleicht die leblose Substanz aus der lebendigen hervorgegangen? Alle Organis- men stammen immer nur wieder von anderen lebendigen Organismen ab; die anorganische, leblose Substanz dagegen sehen wir noch heute fortwährend nicht bloss von anderer lebloser Substanz, sondern auch von lebendigen Organismen abstammen, von denen sie als todte Masse ausgeschieden wird, oder von denen sie nach dem Tode übrig bleibt. Preyer stellt daher der Urzeugungslehre die Theorie gegenüber, dass das Primäre die lebendige Substanz sei, und dass die leblose Substanz aus der lebendigen Substanz erst secundär durch Ausscheidung hervor- gegangen sei ^). Er fordert dazu, dass die Continuität in der Abstam- mung der lebendigen Substanz niemals unterbrochen Avorden sei. „Wer die Reihe der aufeinander folgenden Generationen der Organismen durch die Setzung einer Generation ohne vorhergegangene Eltern unterbricht, wer also die Continuität des Lebens leugnet, macht sich der Willkür schuldig." „Omne vivum e vivo." Dieser Satz hat niemals eine ein- zige Ausnahme erlitten.

Sehr interessant sind die Consequenzen, die sich aus dieser Auf- fassung ergeben. Wenn das Leben auf der Erde niemals aus leblosen Stoffen entstanden ist, sondern immer wieder von lebendigen Sub- stanzen abstammte, so muss auch schon Leben existirt haben, als die Erde noch ein glühender Körper war. Diesen Schluss zieht Preyer in der That. Er muss deshalb den Lebensbegriff bedeutend weiter fassen, als es gewöhnlich geschieht, und nicht bloss die heutige lebendige Substanz als lebendig betrachten, sondern auch glühend-flüssige Massen, wie sie zu jener Zeit allein existirten, denn von protoplasmatischen Organismen, wie sie heute leben, konnte zu jener Zeit noch keine Rede sein. „Wenn man sich aber losmacht," sagt Preyer, „von dem ganz und gar willkürlichen und factisch durch nichts wahrscheinlich ge- machten Gedanken, als ob nur Protoplasma von der Beschaffenheit des gegenwärtigen leben könnte, und von dem alten, durch nichts als Bequemlichkeit im Denken genährten Vorurtheil, als wenn zuerst nui' Anorganisches existirt hätte, dann wird man den einen grossen Schritt weiter nicht scheuen, auch die einstmalige Urzeugung fallen zu lassen und die Anfangslosigkeit der Lebensbewegung anzuerkennen. Omne vivum e vivo!"

Auf Grund dieser Betrachtungen entwirft Preyer etwa folgendes Bild von der Abstammung des Lebens auf der Erde. Ursprünglich war die ganze feurig-flüssige Masse des Erdkörpers ein einziger riesiger Organismus. Die mächtige Bewegung, in der sich seine Substanz be- fand, war sein Leben. Als aber der Erdkörper anfing, sich abzukühlen, da schieden sich die Stofi'e, welche bei jener Temperatur nicht mehr

1) Vergl. pag. 124.

20*

308 Viertes Capitel.

in flüssiger Form verharren konnten, wie etwa die schweren Metalle, als feste Massen aus und bildeten, da sie nicht mehr an der Lebens- bewegung des Ganzen theilnahmen, die todte, anorganische Substanz. So entstanden die ersten anorganischen Massen. Dieser Process schritt fort. Zunächst Avaren es immer noch feurig-flüssige Massen , welche das Leben des Erdkörpers gegenüber der anorganischen Masse repräsen- tirten. „Dann erst, als auch diese Combinationen im Laufe der Zeit an der Oberfläche der Erdkugel erstarrten, d. h. starben und aus- starben, kamen Verbindungen der bis dahin noch gasig und tropfbar- flüssig gebliebenen Elemente zu Stande, die nun nach und nach dem Protoplasma, der Basis des Lebendigen unserer Tage, immer ähnlicher wurden. Immer complicirtere Verbindungen, chemische Sub- stitutionen, immer dichtere Körper, immer mehr verwickelte, ineinander greifende Bewegungen sich näher aneinander lagernder Theile mussten mit der Temperaturabnahme und Verminderung der Dissociationen ein- treten, und hierbei erst konnten die durch die fortschi'eitende Differen- zirung möglichen, sich gleichenden Anfangsformen des Pflanzen- und Thierreichs von Dauer sein."

„Wir sagen also nicht, dass das Protoplasma als solches von An- fang der Erdbildung an war, auch nicht, dass es als solches anfangs- los anderswoher von aussen aus dem Weltraum auf die abgekühlte Erde einwanderte, noch weniger, dass es sich aus anorganischen Körpern auf dem Planeten ohne Leben zusammengesetzt habe, wie es der Urzeugungsglaube will, sondern wir behaupten, dass die anfangs- lose Bewegung im Weltall Leben ist, dass das Protoplasma noth- wendig übrig bleiben musste, nachdem durch die intensivere Lebensthätigkeit des glühenden Planeten an seiner sich abkühlenden Oberfläche die jetzt als anorganisch bezeichneten Körper ausgeschieden worden waren , ohne dass sie wegen fortschreitender Temperatur- abnahme der Erdhülle in die nach und nach auch an Masse abnehmen- den heissen Flüssigkeiten wieder eintreten konnten. Die schweren Metalle, einst auch organische Elemente, schmolzen nicht mehr, gingen nicht wieder in den Kreislauf zurück, der sie ausgeschieden hatte. Sie sind die Zeichen der Todtenstarre vorzeitiger gigantischer glühender Organismen, deren Athem vielleicht leuchtender Eisendampf, deren Blut flüssiges Metall und deren Nahrung vielleicht Meteoriten waren."

4. Pflügek's Vorstelljung.

In einer der gedankenreichsten Arbeiten ^) der physiologischen Litteratur hat Pflügek sehr eingehend die Frage nach der Herkunft des Lebens auf der Erde erörtert, wobei er ebenfalls die Ansicht der Urzeugungslehre vertritt, dass die lebendige Substanz auf der Erde selbst aus leblosen Substanzen entstanden sei. Was aber die Pflüger- schen Ideen besonders werthvoll macht, das ist, dass sie das Problem im engsten Anschluss an physiologisch-chemische Thatsachen in streng wissenschaftlicher Weise erörtern und bis tief in seine Einzelheiten verfolgen.

Den Angelpunkt von Pflügek's Untersuchung bilden die chemi- schen Eigenschaften des Eiweisses als desjenigen Körpers, mit dem das

^) Pflüger: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organis- men." In Pflüger's Arch. Bd. 10, 1875.

A'un (1(11 ;ill;^emeiiicn Lebensbedingungen. 309

Wesen alles Lebens untrennbar verbunden ist. Es existirt ein funda- mentaler Unterschied zwischen dem todten Eiweiss, wie wir es etwa im Eiereiweiss haben, und dem lebendigen Eiweiss, wie es die lebendige Substanz aufbaut, das ist die Selbstzcrsetzung des letzteren. Alle lebendige Substanz zersetzt sich dauernd in geringerem Maasse von selbst und in grösserem Umfange auf äussere Einwirkungen hin, während das todte Eiweiss unter günstigen Bedingungen unbegrenzte Zeit un- zersetzt bleibt. Was die ungemeine Zersetzbarkeit des lebendigen Eiweisses bedingt, das ist nun vor allen Dingen der intramolekulare Sauerstoff, d. h. der Sauerstoff, der sich im lebendigen Eiweissmolekül selbst befindet und von ihm fortwährend durch die Athmung von aussen her aufgenommen wird. Dass der Sauerstoff wesentlich die Zersetzbarkeit bedingt, geht daraus hervor, dass bei der Zersetzung- fortwährend Kohlensäure gebildet wird, und dass die Kohlensäure nicht etwa durch directe Oxydation des Kohlenstoffs und einfache Abspaltung des Kohlensäure-Moleküls aus dem lebendigen Eiweiss hervorgeht, sondern durch Dissociation, d. h. durch innere Umlagerung der Atome und Trennung der neuen Atomgruppen voneinander. Die lebendige Substanz muss den Sauerstoff schon vorher im lebendigen Molekül ge- bunden enthalten, so dass er bei der Zersetzung nur eine Umlagerung erfährt, sonst wäre nicht zu begreifen, dass Thiere, wie es Pflüger z. B. von Fröschen gezeigt hat, länger als einen Tag ohne freien Sauerstoff in einer reinen Stickstoffatmosphäre existiren und dabei immer noch Kohlensäure ausathmen können. Warum aber durch die Einfügung des Sauerstoffs ein stabileres Molekül in einen labileren Zustand übergeführt wird, das wird klar, wenn man daran denkt, dass es, wie Keküle gezeigt hat, in der ganzen organischen Chemie kein einziges Molekül giebt, in dem so viel Sauerstoff enthalten wäre, dass er die Wasserstoffatome des Moleküls alle zu Wasser und die Kohlenstoffatome zu Kohlensäure oxydiren könnte. Die Moleküle sind aus diesem Grunde mehr oder weniger stabil und neigen nicht zur Dissociation, soweit nicht etwa andere chemische Ursachen eine gewisse Labihtät bedingen. Wird aber genügend Sauerstoff in das Molekül eingeführt, so dass die Möglichkeit gegeben wird, die Atome des Kohlenstoffs und Wasserstoffs durch intramolekulare Umlagerung zu Kohlensäure und Wasser zu oxydiren, so muss die Zersetzbarkeit da- durch gesteigert werden, denn die Aftinität des Kohlenstoffs und Wasserstoffs zum Sauerstoff ist eine sehr grosse. Kohlensäure und Wasser aber treten, sobald sie durch innere Umlagerung in einem Molekül entstanden sind, als selbständige stabile Moleküle aus. So ist also die grosse Neigung der lebendigen Substanz zum Zerfall wesentlich durch die Menge des intramolekularen Sauerstoffs bedingt.

Von grosser Wichtigkeit ist ein Vergleich der Zersetzungsproducte des lebendigen Eiweisses und der Zersetzungsproducte, die man bei künstlicher Oxydation des todten Eiweisses erhält. Dabei stellt sich nämlich die bedeutsame Thatsache heraus, dass die stickstoff- freien Zersetzungsproducte des todten Eiweisses mit denen des leben- digen Eiweisses im Wesentlichen übereinstimmen, dass dagegen „die stickstoffhaltigen in ihrer überwiegenden Menge gar keine ent- fernte Aehnlichkeit mit der Hauptmasse der im lebendigen Körper entstehenden haben". Daraus geht hervor, dass das lebendige Eiweiss im Bereiche seiner stickstofffreien Atomgruppen, seiner Kohlenwasser- stoffradicale nicht wesentlich vom todten EiAveiss verschieden sein kann,

310 Viertes Capitel.

dass aber eine ganz fundamentale Verschiedenheit bestehen muss im Bereiche der stickstoffhaltigen Radicale. Hier giebt nun einen neuen Anhaltspunkt für die weitere Betrachtung die Thatsache ab, dass die stickstoffhaltigen Zersetzungsproducte des lebendigen Eiweisses, wie Harnsäure, Kreatin und ferner die Nucleinbasen, Guanin, Xanthin, Hypoxanthin und Adenin, theils selbst das Cyan C N als Radical in sich enthalten, theils, wie das wichtigste von allen stickstoff'haltigen Zerfalls- producten des lebendigen Eiweisses, der Harnstoff, aus Cyanverbindungen, durch Umlagerung der Atome künstlich hergestellt werden können. Das weist mit grosser Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass das leben- dige Eiweiss das Cyan-Radical in sich enthält und sich dadurch vom todten oder Nahrun gseiweiss fundamental unterscheidet. PrLtJGER sagt daher: „Bei der Bildung von Zell- substanz, d. h. von lebendigem Eiweiss aus Nahrungseiweiss findet eine Veränderung desselben, wahrscheinlich mit gleichzeitiger bedeutender AVärmebindung, statt, indem die Stickstoffatome mit den Kohlenstoff- atomen in cy anartige Beziehung treten," Dass eine bedeutende Wärme- aufnahme bei der Bildung des Cyans entsteht, geht daraus hervor, dass das Cyan, wie die kalorimetrische Untersuchung desselben zeigt, ein Radical mit grosser innerer Energiemenge vorstellt. Durch Ein- fügung des Cyans in das lebendige Molekül wird also „ein Moment innerer starker Bewegung in die lebendige Materie eingeführt".

Danach erklärt sich die grosse Zersetzbarkeit des lebendigen Eiweisses in Folge der Sauerstoffaufnahme, denn da die Atome des Cyans in starken Schwingungen sind, wird das Kohlenstoffatom des Cyans bei gelegentlicher Annäherung zweier Sauerstoffatome aus der Wirkungssphäre des Stickstoffatoms heraus näher an die Wirkungs- sphäre der Sauerstoffatome kommen und mit diesen zu Kohlensäure vereinigt austreten. So liegt die Ursache der Kohlensäurebildung, d. h. des Zerfalls der lebendigen Substanz , im Cyan , und die Be- dingung dafür ist die intramolekulare Einfügung des Sauerstoffs.

Die Vorstellung, dass es das Cyan ist, Avelches dem lebendigen Eiweissmolekül vornehmlich seine charakteristischen Eigenschaften verleiht, wird noch besonders gestützt durch die vielen Analogieen, die zwischen dem lebendigen Eiweiss und den Cyanverbindungen be- stehen. Vor Allem ist es auch wieder ein Oxydationsproduct des Cyans, die Cyansäure HC NO, welche grosse Aehnlichkeit mit dem lebendigen Eiweiss besitzt. PflIjoer macht auf folgende interessante Vergleichspunkte aufmerksam. Beide Körper wachsen durch Poly- merisirung, indem sich gleichartige Atomgruppen chemisch zu grossen Massen kettenartig verbinden; so entsteht das Wachsthum der leben- digen Substanz, und so geht aus der Cyansäure HCNO das polymere Cyamlid H„C„N„On hervor. Beide Körper ferner zersetzen sich bei Anwesenheit von Wasser von selbst in Kohlensäure und Ammoniak. Beide liefern durch Dissociation , d. h. durch intramolekulare Um- lagerung, nicht durch directe Oxydation Harnstoff. Beide sind schliesslich bei niederer Temperatur flüssig und durchsichtig und ge- rinnen bei höherer, Cyansäure früher, lebendiges Eiweiss später. „Diese Aehnlichkeit," sagt PritiGER, „ist so gross, dass ich die Cyan- säure für ein halblebendiges Molekül bezeichnen möchte."

Von diesen Gesichtspunkten aus ergeben sich nunmehr die wichtigsten Andeutungen für die Frage, wie das Leben auf der Erde entstanden sei. „Wenn man an den Anfang des organischen Lebens

Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 311

denkt, muss man niclit Kohlensäure und Ammoniak primär in das Auge fassen. Denn beide sind das Ende des Lebens, nicht der An- fang." „Der Anfang liegt vielmehr im Cyan."

Das Problem von der Entstehung der lebendigen Substanz spitzt sich also auf die Frage zu: wie entsteht das Cyan. Hier führt uns aber die organische Chemie vor die höchst bedeutungsvolle Thatsache, dass das Cyan und seine Verbindungen, wie Cyankalium, Cyanammo- nium, Cyanwasserstoff, Cyansäure etc., nur entstehen in der Glühhitze, etwa wenn man die nöthigen stickstoffhaltigen Verbindungen mit glühenden Kohlen zusammenbringt oder das Gemenge zur Weissgluth erhitzt. „Es ist sonach nichts klarer als die Möglichkeit der Bildung von Cyan Verbindungen, als die Erde noch ganz oder partiell in feurigem oder erhitztem Zustande war." Dazu kommt, dass die Chemie uns zeigt, wie die anderen Avesentlichen Constituenten des Eiweisses, wie etwa Kohlenwasserstoffe, Alkoholradicale etc., ebenfalls synthetisch in der Hitze entstehen können.

„Man sieht, wie ganz ausserordentlich und merkwürdig uns alle Thatsachen der Chemie auf das Feuer hinweisen, als die Kraft, welche die Constituenten des Eiweisses durch Synthese erzeugt hat. Das Leben entstammt also dem Feuer und ist in seinen Grund- bedingungen angelegt zu einer Zeit, wo die Erde noch ein glühender Feuerball war."

„Erwägt man nun die unermesslich langen Zeiträume, in denen sich die Abkühlung der Erdoberfläche unendlich langsam vollzog, so hatten das Cyan und die Verbindungen, die Cyan- und Kohlenwasser- stoffe enthielten, alle Zeit und Gelegenheit, ihrer grossen Neigung zur Umsetzung und Bildung von Polymerieen in ausgedehntester Weise zu folgen und unter Mitwirkung des Sauerstoffs und später des Wassers und der Salze in jenes selbstzersetzliche Eiweiss überzugehen, das lebendige Materie ist."

PFLtJGER fasst daher seine Vorstellung in folgenden Sätzen zu- sammen :

„Demnach würde ich sagen, dass das erste Eiweiss, welches ent- stand, sogleich lebendige Materie war, begabt mit der Eigenschaft, in allen seinen Radicalen mit grosser Kraft und Vorliebe besonders gleichartige Bestandtheile anzuziehen, um sie dem Molekül chemisch einzufügen und so in infinitum zu wachsen. Nach dieser Vorstellung braucht also das lebendige Eiweiss gar kein constantes Molekular- gewicht zu haben, weil es eben ein in fortwährender, nie endender Bildung begriffenes und sich wieder zersetzendes ungeheures Molekül ist, das sich wahrscheinlich zu den gewöhnlichen chemischen Molekülen wie die Sonne gegen ein kleines Meteor verhält."

„In der Pflanze fährt also das lebendige Eiweiss nur fort zu thun, was es immer seit seinem ersten Entstehen that, d. h. sich fortwährend zu regeneriren oder zu wachsen, weshalb ich glaube, dass alles heute in der Welt vorhandene Eiweiss direct von jenem ersten abstammt. Deshalb zweifle ich an der Generatio spontanea in der gegenwärtigen Zeit; auch die vergleichende Biologie deutet unverkennbar darauf hin, dass alles Lebendige aus nur einer einzigen Wurzel seinen Ursprung genommen hat."

312 Viertes Capitel.

B. Kritisches.

1. Ewigkeit oder Entstehung der lebendigen Substanz.

Unter den Ideen über die Abstammung des Lebens auf der Erde, die in den eben aufgeführten Theorieen enthalten sind, stehen zwei Vorstellungen in scharfem Gegensatz zu einander. Dieser Gegensatz findet seinen Ausdruck in der schon von Helmholtz (1. c.) aufgestellten Alternative: „Organisches Leben hat entweder zu irgend einer Zeit angefangen zu bestehen, oder es besteht von Ewigkeit." Die erstere Vorstellung liegt der Urzeugungslehre zu Grunde, die letztere der Kosmozoentheorie und in gewissem Sinne auch der Theorie Preyer's. Beide sich gegenüberstehenden Vor- stellungen schliessen einander selbstverständlich aus. Nimmt man die eine an, so verwirft man damit zugleich die andere, und umgekehrt. Es fragt sich aber : welcher von beiden soll man sich anschliessen ?

Prüfen wir zunächst die Kosmozoentheorie. Sie sagt, dass das Leben nicht entstanden sei, sondern von Ewigkeit an im Weltall be- standen habe und nur von einem Weltkörper auf den andern über- tragen worden sei. Eine directe Widerlegung dieser Lehre, ein Un- möglichkeitsnachweis von unbedingt bindender Kraft dürfte sich bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse wohl kaum linden lassen. Solange unsere Erfahrungen nicht ausreichen, um den Transport lebensfähiger protoplasmatischer Keime von einem Weltkörper auf einen andern mit Sicherheit als unmöglich zu kennzeichnen, wird es überhaupt sehr schwer sein, die Kosmozoenlehre direct zu widerlegen. Aber wenn auch eine directe Widerlegung zur Zeit nicht möglich ist, so lässt sich doch der Gedanke, dass die lebendige Substanz von Ewigkeit her bestanden habe und nie aus anorganischer Substanz ent- standen sei, im höchsten Grade unwahrscheinlich machen.

Wie unsere vergleichende Betrachtung der Organismen und anorganischen Körper^) ergeben hat, bestehen die Organismen aus keinen anderen chemischen Elementarstoffen, als denen, die wir auch in der anorganischen Körperwelt finden, und unterscheiden sich von den letzteren nur durch die chemischen Verbindungen, aus denen sie aufgebaut sind. Die wesentlichen Verbindungen der lebendigen Substanz, die Eiweisskörper, stehen also keineswegs in einem prin- cipiellen Gegensatz zu den Körpern der anorganischen Natur und unterscheiden sich von diesen nicht mehr, als die verschiedenen an- organischen Verbindungen untereinander. Eine allgemeine Betrachtung, die man über die Abstammung der lebendigen Substanz, vor Allem des Eiweisses anstellt, muss daher mit derselben Berechtigung in ihren principiellen Gesichtspunkten auch auf die anorganischen Verbindungen, wie etwa die Mineralien, den Feldspath, den Quarz etc. , angewendet werden können. Hier aber zeigt sich deutlicher als bei der lebendigen Substanz, zu welchen unhaltbaren Consequenzen die der Kosmozoen- lehre zu Grunde liegende Idee führt; denn wenn wir annehmen, dass die complicirten Verbindungen der lebendigen Substanz, vor Allem die Eiweisskörper, nie entstanden sind, sondern von Ewigkeit an irgendwo im Welträume existirt haben und von dort auf unsere Erde gelangt sind, so müssen wir mit derselben Logik und derselben Wahrschein-

1) pag. 129.

Von den nllgcnicinen Lebensbedingungen. 313

lichkeit annehmen, dass auch die anorganischen VerLindungen, der Quarz, der Feldspath als solcher immer im Weltraum irgendwo vor- handen gewesen und nur durch den Weltraum von einem andern Weltkörper her auf unsere Erde gekommen seien. Und wenn man diese Betrachtung für alle chemischen Verbindungen durchführt, die unsere Erde /usammensetzen, und für die sie unerbittlich denseljjen Grad von Wahrscheinlichkeit beansprucht, wie für die Verbindungen der lebendigen Substanz, so würde man zu der absurden Consequenz gelangen, dass schliesslich alle Verbindungen der ganzen Erde als solche schon fertig von aussen her in unser Planetensystem ein- gewandert sein müssen. Diese Consequenz anzunehmen würde sich aber Avohl kaum ein Naturforscher entschliessen , denn jeder Geologe kennt Beispiele genug von Mineralien, die nachweislich als solche erst auf der Erde auf chemischem ^A'ege entstanden sind, und jeder Chemiker lässt täglich chemische Verbindungen aus einfacheren Stoffen im Laboratorium entstehen; ja kein denkender Chemiker zweifelt heut- zutage mehr daran, dass sogar die sogenannten chemischen Elemente ursprünglich nicht als solche existirt haben, sondern dass die Elemente mit höherem Atomgewicht erst später aus Elementen mit geringerem Atomgewicht durch Verdichtung entstanden sind. Zieht man aber die letzte Consequenz aus den angeführten Ideen, dann leugnet man damit zugleich auch jede Entwicklung, nicht nur der lebendigen Substanz, sondern des ganzen Erdkörpers ; denn Avenn alle Verbindungen von Ewigkeit her als solche existirt haben und niemals aus einfacheren Stoffen entstanden sind, dann fällt eben alle Entwicklung fort. Das ist eine unerbittliche Consequenz, wenn man nur daran festhält, dass dieselbe Betrachtung, welche für die Abstammung der Verbindungen in der lebendigen S^ibstanz angenommen wird, mit der gleichen Be- rechtigung und genau derselben Wahrscheinlichkeit auch auf die Ver- bindungen der leblosen Substanz angewendet werden kann. Man hat aber kein Recht, für den Feldspath ein anderes Princip der Ab- stammung anzunehmen, als für das Eiweiss. Beide sind Verbindungen von chemischen Elementen.

Auch eine fundamentale Thatsache der Pflanzen-Physiologie be- findet sich in kaum lö.sbarem Widerspruch mit der Annahme , dass das Leben niemals aus anorganischen Stoffen entstanden sei; das ist die Thatsache, dass noch heute in der Pflanzenzelle fortwährend lebendige Substanz aus den einfachsten anorganischen Verbindungen, aus Kohlensäure, Wasser, schwefel- und salpetersauren Salzen etc. ge- bildet wird. Wenn man das kleine Samenkorn im Frühjahr in die Erde steckt und im Sommer die mächtige Pflanze betrachtet, die sich dann aus ihm entwickelt hat, was für eine gewaltige Menge lebendiger Substanz findet man dann gebildet aus den rein anorganischen Stoffen ihrer Umgebung. Und fast die ganze Masse dieser lebendigen Substanz kehrt, wenn der Winter kommt, wieder in einfachere anorganische Verbindungen zurück. Hier sehen wir, wie untrennbar die Be- ziehungen der anorganischen und organischen Natur zu einander sind, wie lebendige Substanz fortwährend aus lebloser Substanz entsteht und fortwährend wieder in leblose Substanz zerfällt. Mit Recht sagt daher Nägeli^), einer der geistreichsten Botaniker: „Was wir sicher wissen

^) Nägeli : „Mechanisch-physiologische Theorie der Abstamraung.slehre." München und Leipzig 1884.

314 Viertes Capitel.

class das Unorganische in den Organismen zu organischer Substanz wird, und dass die organische Substanz wieder vollständig in un- organische Verbindungen sich zurückverwandelt , genügt, um ver- möge des Causalgesetzes die spontane Entstehung der organischen Natur aus der unorganischen abzuleiten." „Wenn in der materiellen Welt Alles in ursächlichem Zusammenhange steht, wenn alle Erschei- nungen auf natürlichem Wege vor sich gehen , so müssen auch die Organismen, die aus den nämlichen Stoffen sich aufbauen und schliess- lich wieder in dieselben Stoffe zerfallen , aus denen die unorganische Natur besteht, in ihren Uranfängen aus unorganischen Verbindungen entspringen. Die Urzeugung leugnen heisst das Wunder verkünden."

In einem ganz andern Sinne als die Kosmozoenlehre, die übrigens nur wenig Anklang gefunden hat, erklärt Preyer in seiner Theorie das Leben für anfangslos und ewig. Preyer sagt: Die lebendige Substanz, die jetzt die Erdoberfläche bewohnt, stammt in lückenloser Descendenz von den Substanzen ab, die einst als feurig-flüssige Massen den Erdball zusammensetzten. Die letzteren nicht als lebendig zu be- zeichnen wäre willkürlich, da sich keine scharfe Grenze feststellen lässt. Da diese Substanzen nun aber wieder von der Sonnenmasse abstammen, und letztere wieder nur einen Theil der Materie des Welt- ganzen bildet, die in ewiger Bewegung begriffen ist, so wäre danach das Leben, das selbst nur ein complicirter Bewegungsvorgang ist, eben- falls so alt wie die Materie.

Es liegt auf der Hand , dass die Differenz zwischen Preyer' s Theorie und der Lehre von der Urzeugung im Wesentlichen nur in der verschiedenen Fassung des Lebensbegriffs liegt. Die Urzeugungs- lehre bezeichnet dem Sprachgebrauch folgend als lebendig nur die lebendige Substanz, wie wir sie jetzt im Gegensatz zu der leblosen Substanz kennen, während Preyer den Lebensbegriff viel weiter fasst und auch glühende Gemenge als lebendig bezeichnet, die mit der jetzigen lebendigen Substanz nicht mehr die geringste Aehnlichkeit haben, ausser darin, dass sie auch in energischer Bewegung begriffen sind. Fassen wir den Lebensbegriff in dieser weiten Ausdehnung, dann lässt sich in der That nichts gegen die übrigen Consequenzen der PREYER'schen Theorie einwenden. Es fragt sich aber, ob es zweck- mässig ist, und ob wir überhaupt das Recht haben, den Lebensbegriff so weit auszudehnen.

Der Begriff der lebendigen Substanz, wie wir ihn heute wissen- schaftlich fixirt haben, ist hervorgegangen aus einer genauen Ver- glelchung der jetzt lebenden Organismen mit den jetzt existirenden anorganischen Körpern. Wie wir gesehen haben ^), giebt es da nur einen einzigen wirklich durchgreifenden Unterschied, der besteht in dem Stoffwechsel der Eiweisskörper. Kein anorganischer Körper be- sitzt E 1 w e i s s. Dagegen fehlt das Eiwelss in keinem einzigen Organis- mus, und was das Leben des Organismus ausmacht, worin er sich vom todten Organismus unterscheidet, das ist der Stoffwechsel des Ei weisses. Das ist, wenn auch kein principieller, elementarer, so doch ein durchgreifender Unterschied zwischen lebendigen Organismen und todten, anorganischen Körpern, der uns das einzige Mittel an die Hand giebt, die lebendige Substanz scharf zu charakterisiren. Lassen wir diesen Unterschied fallen, indem wir auch Körper, die kein Eiweiss

^) Vergl. pag. 140.

Von den .ill'.a'meiuen Lebensbedingungen. 315

enthalten können, wie die glühenden Massen des einst feurigen Erd- balls, als lebendige Substanz bezeichnen, so geben wir den ganzen Vortheil, den uns eine scharte Definition gewährt, wieder auf, und der Begriff der lebendigen Substanz zerHiesst uns zwischen den Fingern, wir können ihn nicht mehr fassen.

Allein hier kann man vom Standpunkt der PREVER'schen Theorie die Frage aufwerfen : wenn die lebendige Substanz von heute in lücken- loser Descendenz von feurig-flüssigen Gemengen abstammt, wo ist dann die Grenze, der Punkt, von dem an man die Substanz als ii'btiulig bezeichnet? Diese Frage macht eine Voraussetzung, die sich in keiner ^^'eise stützen lässt, das ist die Voraussetzung, dass über- haupt ein ganz allmählicher und lückenloser Uebergang zwischen den feurig-flüssigen Gemischen und den Eiweisskörpern vorhanden war. Wir haben zwar bisher immer den grössten Werth darauf gelegt, zu zeigen, dass kein principieller Unterschied zwischen lebendigen Körpern und leblosen Substanzen besteht; dass aber ein lückenloser Uebergang zwischen feurig-flüssigen Substanzen und Organismen bestände, lässt sich durchaus nicht beweisen. Wissen wir doch, dass bei zwei chemischen Verbindungen, die aufeinander einwirken, die resultirenden Substanzen durch keinerlei Uebergangsstufen mit den ursprünglichen Stoffen verbunden zu sein brauchen, Avie verschieden sie auch von ihnen sein mögen, Ueber die Verhältnisse aber, die etwa zur Zeit, als sich das Wasser in tropfbar-flüssiger Form nieder- schlug, auf der Erdoberfläche geherrscht haben mögen, können wir uns auch nicht eine annähernde Vorstellung machen. Danach hätte die Vorstellung, dass das lebendige Eiweiss aus der Einwirkung chemisch ganz von ihm verschiedener Körper ohne Uebergang entstanden sei, zu einer Zeit, avo die Bedingungen dazu gegeben waren, mindestens ebensoviel Wahrscheinlichkeit, als die Idee einer allmählichen und durch lückenlose Uebergänge verbundenen Descendenz.

Ferner macht Preyer die stillschweigende Voraussetzung, dass die glühenden Massen, auf welche er den Begriff des Lebens ausdehnt, einen Stoffwechsel gehabt haben. Auch diese Annahme lässt sich durch keinerlei Betrachtung stützen. Zwar wird man einerseits nicht daran zweifeln dürfen , dass diese glühenden Massen eine äusserst energische innere Bewegung besessen haben, und andererseits ist das Leben ebenfalls nichts Anderes als ein Bewegungscomplex, mit dem jeder andere molekulare Bewegungsvorgang im Princip verwandt ist. Aber dennoch ist die Lebensbewegung, der Stoffwechsel ein den lebendigen Organismus überaus scharf charakterisirender Bewegungs- complex, der darin besteht, dass die lebendige Substanz fortwährend von selbst zerfällt, die Zerfallsproducte nach aussen abgiebt und dafür bestimmte Stoffe von aussen wieder aufnimmt, die ihr das Material geben, sich wieder zu regen eriren und durch Neubildung gleichartiger Atomgruppen, d. h. durch Polymerisirung zu wachsen. Das ist ein ganz allgemeines Charakteristicum aller lebendigen Substanz. Dass aber dieser ganz eigenthümliche Bewegungscomplex bereits an den glühenden Gemischen des Erdkörpers bestanden und seitdem bis jetzt, bis auf die Tage unserer jetzigen lebendigen Substanz hin keine Unter- brechung erlitten habe, ist in hohem Grade zweifelhaft. Die glühenden Gemische des Erdinnern, welche wir noch heutzutage an Vulkanen zu beobachten Gelegenheit haben, wie die Laven, die beim Austritt aus einem Spalt des Kraters noch so dünn-flüssig sind, dass sie beim

316 A'iertes Capitel.

Herabstürzen über die Felsenabhänge dem Beobachter den wunderbar fesselnden Anblick eines glühenden Wasserfalls gewähren, selbst diese äusserst flüssigen Gemische, so beweglich sie auch sein mögen, zeigen doch keinen Stoffwechsel im wirklichen Sinne, und wir haben daher nicht das Recht, sie als lebendig zu bezeichnen. So imponirend und geistreich die PßEYER'sche Theorie auch ist, Avir können uns deshalb bei kühler Ueberlegung doch nicht entschliessen, die glühenden Massen, die einst den ganzen Erdkörper bildeten, als lebendig im wirklichen Sinne zu betrachten. Dann aber bleibt als einziger Unterschied der Preyer 'sehen Lehre von der Urzeugungstheorie nur die ganz un- wesentliche Frage übrig, ob die lebendige Substanz, allmählich und durch unmerkliche Uebergänge vermittelt, aus leblosen Substanzen hervorgegangen sei, oder ob sie sich mehr unvermittelt, wie die Producte bei einer chemischen Eimvirkung zweier verschiedener Körper im Reagenzglase, gebildet und ihre charakteristischen Eigenschaften angenommen habe. Auf keinen Fall aber werden wir dem Schlüsse entgehen, dass die lebendige Substanz einst aus Substanzen hervorgegangen ist, die wir als leblose zu bezeichnen gewöhnt sind.

2. DieDescendenz der lebendigen Substanz.

Auf Grund der von Pflitger entwickelten Ideen sind wir nun- mehr in der Lage, uns in groben Umrissen eine annähernde Vor- stellung von der Entstehung des Lebens auf der Erde zu machen. Die Wurzeln der lebendigen Substanz reichen hinab bis in jene Zeit, wo die Erdoberfläche noch glühend war. Die damals vorhandenen Cyanverbindungen sind das Avesentiiche Material, aus dem die lebendige Substanz ihren Ursprung nahm. Sie mussten bei ihrer leichten Zer- setzbarkeit in Wechselwirkung mit den verschiedensten anderen Kohlen- stoöVerbindungen treten, die ebenfalls der Glühhitze ihre Entstehung verdankten. Als das Wasser sich dann in tropfbar-flüssiger Form auf der Erdoberfläche niederschlug, gingen diese dem Feuer ent- sprossenen Verbindungen chemische Beziehungen ein mit dem Wasser und den darin gelösten Salzen und Gasen, und so entstanden die lebendigen Eiweisskörper, jene höchst labilen Verbindungen, die wie die anderen das Cyanradical enthaltenden Verbindungen sich durch ihre Neigung zur Zersetzung und zur Polymerisirung auszeichnen und die wesentlichen Bestandtheile der lebendigen Substanz bilden. Diese erste lebendige Substanz, welche durch Urzeugung aus leblosen Substanzen sich bildete, war jedenfalls noch sehr einfach und zeigte keinerlei Difterenzirungen. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, dass sie noch nicht den morphologischen Werth von Zellen hatte, d. h. dass ihre ]\Iasse noch nicht in verschiedene Substanzen, wie Kern und Protoplasma, geschieden, sondern vielmehr in allen ihren Theilen gleichartig war, wie es Haeckel für seine Moneren annimmt.

Das würde etwa die Vorstellung sein, die man sich heute mit einiger Wahrscheinlichkeit von der Entstehung der lebendigen Sub- stanz machen kann. Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass sie später einmal in ihren Einzelheiten noch bedeutend modiflcirt wird. Der Schauplatz, auf dem die lebendige Substanz zuerst auftrat, und die Verhältnisse, die auf demselben herrschten, sind uns zur Zeit nur

A'on (IfU ;illgein('iiieii Lebonsbedinf^uii^oii. 317

in so unbcstiimntcn Umrissen bekannt, tlass es wenig Wertli hat, über die Einzelheiten noch weiter zu specuh'ren. Mit dem Erseheinen der lebendigen Substanz auf der Bühne des Erdballs aber gewinnen wir wieder etwas festeren Boden, denn hier ist der Punkt, wo die von Lamarck und Darwin begründete und besonders von Haeckel, Weis- MANX und ihren Schülern ausgebaute Descendenzlehre einsetzt und uns die weiteren Schicksale der lebendigen Substanz bis in unsere Tage erläutert.

Den ganzen ungeheuren Ideencomplex, der zur Begründung der Descendenzlehre geführt hat, hier zu besprechen, würde ausserhalb des Rahmens dieser Blätter liegen. Es genügt uns, die Hauptmoniente anzudeuten , welche die Grundlage abgeben für die Descendenzlehre, an deren Richtigkeit übrigens heute wohl kein denkender Naturforscher mehr zweifelt.

Bekanntlich lehrt die Descendenztheorie, dass die ganze Formenfülle der Organismen, welche heute auf der Erdoberfläche leben und je gelebt haben, in ununterbrochener Descendenz abstammt von jener ersten und einfachsten lebendigen Substanz, die aus leblosen Stoffen entstanden ist, dass also alle Organismen in wirklichen verwandt- schaftlichen Beziehungen zu einander stehen. Für die historische Zeit bedarf die Continuität der Organismenreihen keiner besonderen Be- gründung, denn die einfache Beobachtung zeigt, dass jeder Organis- mus immer nur wieder von einem andern, ihm ähnlichen abstammt, dass die Continuität der Descendenz niemals eine Unterbrechung erfährt. Dagegen für die unendlich langen Zeiträume , die , Avie die Geologie gezeigt hat, seit der Entstehung der ersten Organismen bis zu historischer Zeit verstrichen sind, fehlt natürlich die directe Beobachtung, Allein hier hat uns die Natur gewisse Urkunden auf- bewahrt, in denen wir die Geschichte der Entwicklung des ganzen Organismenstammes, wenn auch mehr oder weniger lückenhaft, auf- gezeichnet finden.

Die erste Urkunde entziffert uns die Palaeontologie oder Versteinerungskunde. Es sind die Zeugnisse, welche die Natur über die Existenz und Beschaffenheit der früheren Organismen in den Schichten der Erdrinde selbst niedergelegt hat: die Versteinerungen oder Petrefacten. Mit der Erforschung der Versteinerungen, welche sich in den verschiedenen Schichten der Erdrinde finden, reconstruirt die Palaeontologie bis zu einem gewissen Grade die Organismenwelt, welche zu jenen Zeiten, als diese Schichten sich bildeten, die Erd- oberfläche bevölkerte. So lernen wir die Vorfahren unserer heutigen Organismen kennen und sehen, wie sie in den jüngsten Schichten den jetzt lebenden Thieren und Pflanzen noch sehr ähnlich sind, Avie sie aber um so unähnlicher werden , je tiefer wir bis zu den ältesten Schichten hinabsteigen, imd wie ganze grosse Organismengruppen, die wir heute für weit voneinander getrennt betrachten, in älteren Schichten gemeinsame Vorfahren haben, die gewisse charakteristische Eigen- schaften mehrerer Organismengruppen noch in sich vereinigen. In den allerältesten Schichten finden wir nur niedere Thiere und Pflanzen noch keine \^'irbelth^ere und Blüthenpflanzen, Für Jeden, der nicht einem blinden, supranaturalistischen Schöpfungsglauben huldigt und es nicht vorzieht, wie der biblische Schöpfungsbericht jede Organismen- form für sich aus der Hand eines persönlichen Schöpfers hervor- gegangen zu denken, für den giebt es nur eine einzige natürliche Er-

318

Viertes Capitel.

klärung aller palaeontologischen Thatsachen, das ist die, dass die ganze Organismenwelt, welche heute lebt und überhaupt je gelebt hat, einen einzigen grossen Stammbaum bildet, dessen Keim die erste lebendige Substanz war, welche auf der Erde entstand. Dieser Keim entwickelte sich zu einem gewaltigen Baum mit unzähligen Aesten und Zweigen und Blättern, deren letzte Sprossen wir in der heutigen Organismen- welt vor uns haben, deren ältere Aeste im Schooss der Mutter Erde begraben Hegen. Leider ist die palaeontologische Urkunde sehr lücken- haft, denn einerseits ist nur ein sehr kleiner Theil der Erdschichten

unserer Untersuchung zugänglich die grosse Masse der Erdrinde ist vom Meere bedeckt , und andererseits ist die Erhaltung der Organismen theilweise eine sehr unvollkommene , weil sie über- haupt nur unter ganz bestimmten Bedingungen eingebettet werden konnten, ohne vom Wellenschlage oder von der Fäulniss etc. zerstört zu werden; ja Organismen ohne schützende Skeletttheile sind fast gar nicht überliefert worden, weil ihr weicher Körper nach ihrem Tode sofort zerfallen musste. So kommt es auch, dass uns gerade bei der Erforschung der ältesten, einfachsten Organismen, die noch keine schützenden Skeletttheile besassen, die palaeontologische Urkunde im Stich lässt.

Die vergleichende Ana- tomie beschäftigt sich mit der zweiten Urkunde, die in den Ho- mologieen der einzelnen Organe der jetzt lebenden Organismen ge- geben ist. Wenn die vergleichende Anatomie durch Zergliederung der Organismen bis in ihre feinsten Theile und durch Ver- gleichung der einzelnen Organ- systeme und Organe verschiedener Organismengruppen untereinan- der die Erscheinung feststellt, dass gewisse Organismengruppen mit anderen in wesentlichen Organsystemen bis zu einem gewissen Grade übereinstimmen, so kann diese Thatsache auf natürliche Weise wieder nicht anders gedeutet werden, als durch eine natürliche Verwandtschaft dieser Organismen, die im Allgemeinen um so näher ist, je mehr Homologieen sich finden, um so entfernter, je mehr Unterschiede daneben vorhanden sind; denn die Homologieen können nur dadurch bedingt sein, dass die betreffenden Organismen m grauer Vorzeit einmal gemeinsame Vorfahren gehabt haben, die diese Merkmale besassen. Freilich ist auch die Urkunde der ver- gleichenden Anatomie nur sehr unvollständig, denn die heutigen Or-

Fig. 134. Archaeopteryx mac.rurus,

s. lithographicus. cl Clavieula, co Cora-

co'id, A Humerus, r Radius, u Ulna, c Carpus,

8c Scapula, I^IV Zehen. Nach Zittel.

^'(>n (Ifii nllp^'ini'iiieii Lebcnsbeding^ungen. 319

ganisraen sind ja nur die übrig gebliebenen Spitzen der verschiedenen Zweige des grossen Organismen - Stammbaums, zwischen denen die anderen Zweige und Aeste abgestorben sind. Aber hier ergänzt gerade die pahieontologische Urkunde die Thatsachen der v(!rgleichenden Anatomie bis zu einem bestimmten Grade in erfreulichster Weise, indem sie auch die ausgestorbenen Aeste der Vergleichung mit den noch lebenden zugänglich macht. Ein Beispiel wird das erläutern. Aus vergleichend-anatomischen Gründen war man zu der Ueberzeugung gekommen, dass die Vögel mit den Reptilien in nächster verwandt- schaftlicher Beziehung ständen; allein man kannte Formen, w^elche den gemeinsamen Vorfahren entsprächen oder nahe ständen, noch nicht. Da wurde in den Steinbrüchen des Sohlenhofener lithographischen Schiefers ein versteinertes Thier von etwa Taubengrösse entdeckt, der bekan nte A r c h a e o p t e r y x m a c r u r u s , das sowohl Vogel- als Keptiliencharaktere nebeneinander besass, denn es hatte ein Eidechsen- gebiss mit Zähnen und eine Eidechsenwirbelsäule mit einem langen Eidechsenschwanz, war aber auf seinem ganzen Körper mit Vogel- federn bedeckt, die auf dem Gestein in feinster Weise abgedrückt sind (Fig. 134). Durch diesen und ähnliche palaeontologische Funde wurde die aus der vergleichenden Anatomie gefolgerte Verwandtschaft der Vögel und Reptilien auf das Glänzendste bestätigt, und ähnliche Beispiele Hessen sich in unzähliger Menge anführen.

Die Embryologie oder individuelle Keimesentwicklung (Onto- genie) lehrt uns schliesslich die dritte wichtige Urkunde über die De- scendenz entziffern. Bekanntlich durchläuft der Keim der Pflanzen und Thiere von seinem einfachsten Zustande, der Eizelle an, eine lange Reihe von Entwicklungsstadien, ehe er dem Mutterorganismus, von dem er abstammt, ähnlich wird.

Da wir wissen, dass die Vorfahren stets ihre charakteristischen Eigenschaften auf ihre Nachkommen vererben, so gewinnen diese Ent- wicklungsstadien, welche der Organismus allmählich durchläuft, eine ausserordentlich grosse Bedeutung für die Erkenntniss der Vorfahren- reihe; denn da sie im Grossen und Ganzen von den Vorfahren her ererbte Formenverhältnisse vorstellen, so werden sie, wenn auch nur in groben Umrissen, die Entwicklimgsformen andeuten, welche in der Vorfahren- reihe einst nacheinander aufgetreten sind ; mit anderen Worten : die in der Keimesentwicklung oder Ontogenie eines Individuums auf- tretenden Formen recapituliren im Grossen und Ganzen die Formen- reihe der Vorfahren des betreffenden Organismus. Dieses von Haeckel begründete „biogenetische Grundgesetz", das wir bereits an anderer Stelle ^) ausführlicher besprochen haben , setzt uns also in den Stand, durch kritische Untersuchung aus der ontogenetischen Entwicklung eines Organismus seine phylogenetische Descendenz bis zu einem gewissen Grade zu reconstruiren.

Aus allen diesen Thatsachen der Palaeontologie, der vergleichenden Anatomie und der Embryologie, wiegen deren ausführlicherer Würdigung auf die einschlägigen und grundlegenden Werke von Daewin, Gegen- BAUR, Haeckel und ihren Schülern selbst verwiesen werden muss, er- giebt sich nicht nur mit Nothwendigkeit der Schluss, dass unsere jetzigen Organismen in lückenloser Descendenz von der ersten, aus leblosen Stoffen entstandenen lebendigen Substanz abstammen, sondern auch

') Vergl. pag-. 213.

320

Viertes Capitel.

zugleich der Weg, den die Entwicklung der lebendigen Substanz auf Erden genommen hat. Es ist der phylogenetischen Forschung unserer modernen Morphologie im Wesentlichen gelungen, diesen Weg in grossen Zügen festzustellen und so den Stammbaum der Organismen wenigstens in seinen groben Umrissen zu reconstruiren. Wie sehr auch Anfangs die provisorischen Stammbäume, welche Haeckel im Anschluss an die damals bekannten Thatsachen zuerst vor 30 Jahren aufstellte, Anfeindungen erfuhren, so wenig dürfte es jetzt noch Morphologen geben , die nicht in den wesentlichen Punkten Haeckel's Idee der Stammbäume angenommen hätten. In der That herrscht jetzt über das phylogenetische Verhältniss der grösseren Organismengruppen zu einander im Wesentlichen Uebereinstimmung, wenn auch über die kleineren Gruppen und die ganz speciellen Verhältnisse noch manche weitgehende Diiferenz besteht, die erst allmählich durch immer neue Erfahrungen beseitigt werden wird. Nach diesen Vorstellungen hat die moderne Morphologie auf Grund des jetzigen Standes ihrer Forschungen etwa folgendes Bild von dem Stammbaum der Organis- men entworfen.

Pflanzen,

(Metaphyta.)

Bedecktsamige

(Angiospermae)

Nacktsamige

(Gymnospermae)

Farne

(Filicinae)

Moose

(Muscinae)

Tange (Fucoideae)

\

Protophyten

Pilze

(Fungi)

T h i e r e,

(Metazoa.)

Wirbelthiere

(Vertebrata)

Stachel- Glieder- häuter thiere

(Ecliinodermata) (Arthropoda)

Mantel- Weich- thiere thiere

(Tvmicata) (MoHusca)

Pflanzenthiere Würmer

(Coeleiiterata) (Vermes)

\ . /

Urdarmthiere (Gastraeada)

Protozoen

Protisten Moneren.

Schema des Stammbaums der Organismen.

Aus den ersten lebendigen Massen, die Haeckel als Moneren bezeichnet, entwickelten sich durch Differenzirung der homogenen Substanz in Kern und Protoplasma die ersten einzelligen Organismen, die Protisten, Die Protisten biklen diejenige Organismengruppe, aus der sich nach der einen Seite die Pflanzen, nach der anderen die Thiere entwickelt haben, und welche die niedrigsten noch jetzt leben- den Organismen umfasst. Schon unter den Protisten aber fand eine

Von diu allgemeinen Lebensbedingungen. 321

Differenzirung der Art des Stoffwechsels statt , und die Protisten schieden sich in Protophyten, d. h. Protisten mit pflanzlichem Stoffwechsel, und Protozoen, d. li. Protisten mit thierischem Stoff- wechsel, indem die ersteren noch immer fortfuhren, aus anorganischen Stoffen ihre lebendige Substanz aufzubauen, während die letzteren den Stoffwechsel vereinfachten, indem sie gleich die von den ersteren gebildete organische Substanz selbst zum Aufbau ihres Körpers be- nutzten. Von den Protophyten stammen alle Pflanzen (Metaphyten), von den Protozoen alle Thiere (Metazoen) ab, und zwar in folgender Weise. Aus dem Protophytenstamm gingen zwei Aeste hervor, die Tange (Fucoideae) und Pilze (Fungi). Von diesen entwickelte sich der Ast der Tange weiter, und aus ihm entstanden in gerader Descendenz die Moose (Muscinae), aus diesen die Farne (Filicinae), aus diesen die Nacktsamigen (Gymnospermen), und aus den letzteren schliesslich die Bedecktsamigen (Angiospermen), Pflanzen, welche die höchste Differenzirung des ganzen Pflanzenreichs zeigen. Aus den Protozoen andererseits entstanden die Urdarm thiere (Gastraeaden), sehr ein- fache Thiere aus nur zwei verschiedenen Zellenschichten (Entoderm und Ectoderm) bestehend, von denen wahrscheinlich jetzt keine Ver- treter mehr leben, deren Vorhandensein in der Stammreihe aber aus dem ganz allgemeinen Auftreten des Gastrula-Stadiums in der Entwick- lung sämmtlicher Thiere mit Nothwendigkeit geschlossen werden muss. Aus den Urdarmthieren entwickelten sich einerseits die sogenannten Pflanzen thiere (Coelenteraten) und andererseits die Würmer (Vermes). Letztere gaben den vier Gruppen der Stachelhäuter (Echinodermen) , Gli e d erthiere (Arthropoden), Mantelthiere (Tunicaten) und Weic h thiere (Mollusken) den Ursprung, von denen die Mantelthiere schliesslich zu den Ahnen der Wirbelthiere Avurden, der am weitesten differenzirten Vertreter des ganzen Thier- reichs. Unsere heute lebenden Organismen bilden nur die letzten Spitzen aller dieser grossen Zweige des gewaltigen Organismen- Stammbaums.

Ein Ueberblick über die Stammesentwicklung der Organismen von ihrem ersten Entstehen bis in unsere Zeit zeigt uns, wie die lebendige Substanz im Laufe der Erdentwicklung eine ungemeine W^andlung ihrer Formen erfahren hat, wie die heutigen Organismen in Hinsicht auf ihre Form und Organisation sich weit nach den ver- schiedensten Richtungen hin differenzirt haben.

Eine natürliche Erklärung für das Verständniss dieser Erscheinung hat uns erst D akwin 's Selectionstheorie gegeben. Ausgehend von der Thatsache , dass alle Individuen derselben Organismenform, ja so- gar alle Nachkommen desselben Elternpaares in mehr oder weniger merkbarer Weise voneinander verschieden sind, einer Erscheinung, die als „individuelle Variabilität" bekannt und theils die Folge der geschlechtlichen Vermischung (Amphimixis Weismann's), theils die Folge der verschiedenen äusseren Einwirkungen ist, welche sich auf das Keimplasma der einzelnen Embryonen von Seiten ihrer Um- gebung, sei es im elterlichen Organismus, sei es ausserhalb desselben, geltend machen, zeigt Darwin, wie von diesen mehr oder weniger verschiedenen Individuen derselben Generation im „Kampf ums Dasein" (struggle for life) immer nur diejenigen am Leben bleiben, welche am meisten den äusseren Bedingungen angepasst sind, Avährend die, welche den äusseren Lebensbedingungen etwas -weniger entsprechen,

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 21

322 Viertes Capitel.

in Folge der Coneurrenz (Kampf ums Dasein) mit den passenderen zu Grunde gehen. So kommen nur die den jeweiligen äusseren Lebensbedingungen am meisten angepassten zur Fortpflanzung und können ihre Eigenschaften auf die Nachkommen vererben. In diesem Uebrigbleiben 7 in dieser Auswahl der passenderen Individuen besteht die „natürlicheZuchtwahl" (natural selection) Darwin's, und es liegt auf der Hand, dass bei fortgesetzter Selection immer die Or- ganismen den jeweiligen Lebensbedingungen in weitestgehendem Maasse angepasst sein müssen. Die Formgestaltung, die Organisation, über- haupt alle Eigenschaften der lebendigen Substanz stehen also in der engsten Correlation mit den äusseren Verhältnissen auf der Erdober- fläche*, verändern sich diese, so müssen sich auch die Eigenschaften der Organismen in entsprechender Weise umgestalten.

Allein es fragt sich, ob die natürliche Selection der einzige Factor ist, welcher die Veränderung der Organismen im Laufe der langen Zeiträume bedingt. Die Anpassung an die äusseren Verhältnisse in Folge der Selection setzt nur eine fortwährende Vererbung der an- geborenen Eigenschaften voraus, und Weismann ^) vertritt in der That die Ansicht, dass nur die Vererbung angeborener Eigenschaften für die Veränderung der Organismenwelt in Frage kommt. Da Darwin selbst die Ansicht hatte, dass auch erworbene Eigenschaften sich vererben , so ist Weismann als Vertreter der einseitigen Selections- theorie gewissermaassen noch darwinistischer als Darwin selbst. Andere dagegen, wie Haeckel^), Eimer ^), Herbert Spencer*), sind der Mei- nung, dass auch die Vererbung solcher Eigenschaften von grosser Be- deutung für die Umwandlung der Organismenformen ist, die w^ährend des individuellen Lebens erst erworben sind. Freilich kommt auch hier immer die Frage in Betracht, ob sie den äusseren Bedingungen in möglichst zweckmässiger Weise entsprechen oder nicht. Im letzteren Falle werden sie durch die Selection im Kampf ums Dasein ebenfalls bald beseitigt. Aber die Frage, ob sich nur angeborene oder auch erworbene Eigenschaften vererben, ein Punkt, um den sich augen- blicklich das Hauptinteresse der Vererbungs-Theoretiker dreht, ist trotz der vielen Erörterungen von beiden Seiten bis heute noch nicht entschieden und harrt noch ihrer definitiven Beantwortung^).

Werfen wir schliesslich noch einen kurzen Blick auf das Wesen der Veränderungen, w^elche die lebendige Substanz von ihrer Ent- stehung an bis jetzt durchgemacht hat, so tritt uns die Thatsache ent- gegen, dass sie von einfachen Formen an sich zu immer compli- cirteren Gestalten und Organisationen entwickelt hat, so dass wir unter den heute lebenden Organismen die am höchsten complicirten finden, wie etwa die Blüthenpflanzen und die Wirbelthiere, in denen sich besondere Theile in weitestgehender Weise selbst für die Ausübung der speciellsten Verrichtungen difi"erenzirt haben. Man hat im Hin-

') Weismaxx: „Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen." Jena 1892.

^) Häeckel: „Generelle Morphologie der Organismen." Bd. II, pag. 186. Berlin 1866.

^) G. H. Th. Eimer : ,.Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben er- worbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens.'" Jena 1888.

*j Herbert Spencer: „The inadequacy of natural selection." In Contemporary Eeview 1893.

^j Vergl. pag. 186.

Von den allf^eiiieinen Ijebeii.sln(liiij;inigen. 323

blick auf diese Thatsache häutig gesagt, dass sich in der Entwick- lungsreilic der Organismen von den ersten Anfangen an bis jetzt ein dauernder Fortsehritt, eine fortschreitende Vervollkommnung erl>licken lässt. Diese Auffassung verfällt in den Fehler, den zu vermeiden das ganze Streben der DAUWiN'schen Theorie war, nämlich in den Fehler der Teleologie. Der ßegrifl:' des Fortschritts, der Vervollkommnung involvirt ein Ziel, nach dem hin der Fortscliritt, die Vervollkommnung gerichtet ist. Ohne dieses Moment ist der Begriff Av^esenlos. In Wirklichkeit existirt aber für die Entwicklung der Organismen eben- sowenig ein vorbestimmtes Ziel, nach dem sie strebt, Avie für irgend eine chemische Keaction. Sie kann nur erfolgen und muss in ganz bestimmter Weise erfolgen , wenn die äusseren Bedingungen da sind. Ihre Veränderung ist lediglich bedingt von der Veränderung ihrer Umgebung. Wenn wir also den Begriff des Fortschritts, der Vervoll- kommnung etc. anwenden, so kann das nur geschehen von einem anthropocentrischen Standpunkt aus, indem wir selbst ein Ziel in die Entwicklung hineintragen. Mag man das thun, aus welchen Rück- sichten man will, auf jeden Fall muss man sich dabei bewusst bleiben, dass das Ziel dann ein künstlich gesetztes ist, nicht ein Ziel, das in der Natur selbst läge , denn die Annahme , dass der Mensch voll- kommener sei, als eine Amoebe, bleibt immer eine willkürliche, für welche die Wirklichkeit keine Berechtigung bietet, und wenn wir die Entwicklung eine Vervollkommnung nennen, so ist das nichts weiter als eine Convention. Die Welt selbst hat kein Ziel, nach dem sie strebt; hier existirt nur ewige Entwicklung, d. h. Veränderung ohne Ende.

Ziehen wir nunmehr das Facit aus unseren Erörterungen, so tritt uns klar und deutlich die Thatsache entgegen, dass das Leben von seinem ersten Beginn an durchaus bedingt war durch die äusseren Verhältnisse der Erdoberfläche. Das Leben ist eine Function d e r E r d e n t w i c k 1 u n g in mathematischem Sinne. Lebendige Substanz konnte nicht bestehen, solange die Erde ein feurig-flüssiger Ball ohne feste und kühle Rinde war ; sie musste aber entstehen, mit derselben unabwendbaren Nothwendigkeit wie eine chemische Ver- bindung, als die nöthigen Bedingungen gegeben waren, und sie musste ihre Form, ihre Zusammensetzung etc. ändern in demselben Maasse, wie sich die äusseren Lebensbedingungen im Laufe der Erdentwicklung änderten. Die lebendige Substanz ist lediglich ein Theil der Erdmaterie. Die Combination dieser Erdmaterie zu lebendiger Substanz war ebenso das noth wendige Pro- duct der Erdentwicklung wie etwa die Entstehung des Wassers: eine unausbleibliche Folge der fortschreiten- den Abkühlung jener Massen, welche die Erdrinde bildeten, und ebenso sind die chemischen, physikali- schen, morphologischen Eigenschaften der lebendigen Substanz von heute die noth wendige Folge der Einwir- kung u n s e r e r j e t z i g e n äusseren Lebensbedingungen auf die inneren Verhältnisse der früheren lebendigen Sub- stanz. Innere und äussere Lebensbedingungen stehen in e i n e r un t r e n n b a r e n W e c h s e 1 w i r k u n g , und d e r A u s d r u c k dieser Wechselwirkung ist das Leben.

21*

324 Viertes Capitel.

III. Die Gescliiclite des Todes.

Der Punkt, in dem unsere Betrachtung der Lebensbedingungen gipfelte, war die Thatsache, dass die Lebenserscheinungen nur be- stehen können, aber auch eintreten müssen, mit derselben unab- wendbaren Nothwendigkeit wie jede andere Naturerscheinung, wenn ein bestimmter Complex von Bedingungen erfüllt ist. Fehlen diese Bedingungen, so fehlt auch das Leben.

Die Entstehung des Lebens auf der Erde war nur die eine Con- sequenz aus dieser Thatsache. Die andere, die wir jetzt ins Auge fassen wollen, ist die Entwicklung des Todes.

A. Die Erscheinungen der Nekrobiose.

Fällt eine , mehrere oder alle Lebensbedingungen unter den speciellen Verhältnissen, unter denen sich irgend ein Organismus be- findet, aus, so hören die Lebenserscheinungen auf; das Leben steht still. Dieser Stillstand ist, abgesehen von den wenigen Fällen des Scheintodes, stets der wirkliche Tod. Aber, wie wir schon bei anderer Gelegenheit sahen ^), tritt der Tod nie unvermittelt ein. Es giebt keine scharfe Grenze, Avelche Leben und Tod voneinander scheidet, es findet vielmehr ein allmählicher Uebergang statt zwischen Leben und Tod; der Tod entwickelt sich. Gesundes Leben einerseits und Tod andererseits sind nur die äussersten Endglieder dieser Entwicklung, die durch eine Reihe von Zwischenstadien lückenlos miteinander ver- bunden sind. Beide Endstadien lassen sich wohl leicht und scharf voneinander unterscheiden , aber eine scharfe Grenze zu ziehen da, wo der Tod beginnt und das Leben aufhört, ist unmöglich. Deshalb bezeichneten wir mit einem Worte, das von K. H. Schultz und ViRCHOw in die Pathologie eingeführt Avurde, diesen Uebergang vom Leben zum Tod als „Nekrobiose". Zwar untersciieidet Virchow^) zwischen Nekrobiose und Nekrose nach äusseren Gesichtspunkten in der Weise, dass er von Nekrobiose spricht, wenn der betroffene Theil später in seiner Form vollständig zerstört und untergegangen ist, von Nekrose dagegen, wenn er in seiner ursprünglichen Gestalt im Tode noch bestehen bleibt; allein so praktisch dieser äussere Unterschied für die Beurtheilung grober Verhältnisse, ganzer Organe oder Ge- webe etc. sein mag, so wenig Bedeutung hat er für die theoretische Auffassung des Vorgangs selbst, denn es hängt häufig von ganz neben- sächlichen Momenten ab, ob der Enderfolg sich in dieser oder jener Weise gestaltet. Hat z. B. eine Zelle eine feste Membran, so bleibt ihre Form, während der Protoplasmakörper schon längst abgestorben ist, noch lange erhalten; ist ihr Protoplasma aber nackt, so zerfällt die Zelle in der Regel zu einem formlosen Häufchen von Körnern, und doch kann das Wesen des Processes, der zum Tode führt, in beiden Fällen das gleiche sein. Daher scheint es zweckmässiger, diese für grobe Verhältnisse praktische Unterscheidung fallen zu lassen und

1) Vergl. pag. 137.

^) E. ViRCHOw: „Die Cellularpatliologie in ihrer Begründung auf pliysiologische und pathologische Gewebelehre." 4. Auflage. Berlin 1871.

■\'on den allgemeinen Lebensbedingungen. 325

den Begriff der NekroLiose so weit zu fassen , dass er auch die so- genannten nekrotischen Processe mit einschliesst. Dann verstehen wir unter Nekrobiose diejenigen Processe, welche, mit einer unheilbaren 8childigung des normalen Leben s beginnend, schneller oder langsamer zum unvermeidlichen Tode fuhren. Der damit vielfach synonym gebrauchte Begriff der De- generation hat den Nachtheil, dass er nicht' eindeutig ist und auf viele ganz verschiedenartige Erscheinungen Anwendung findet.

Mit den Erscheinungen der Nekrobiose sind wir bereits auf ein Gebiet gelangt, das sich wegen seiner enorm praktischen Bedeutung als selbständige Wissenschaft entwickelt und einen ungeheuren Umfang angenommen hat; das ist die Lehre von den Krankheiten, die Patho- logie. Unsere folgende Betrachtung wird sich daher zum grossen Theil auf diesem Gebiete bewegen und die Wege aufsuchen, welche in das Schattenreich des Todes führen.

Da die Zelle der eigentliche Sitz des Lebens ist, so muss die Zelle ebenso, wie sie für die Erforschung der Lebenserscheinungen den Angriffspunkt vorstellt, auch das Object für die Untersuchung der Nekrobiose abgeben. Der Tod der grossen Organismen mit ihren weitdifferenzirten Organen und Geweben beruht ja lediglich auf dem Absterben der einzelnen Zellen, die den Zellenstaat des Organis- mus zusammensetzen. In den einzelnen Zellformen aber verlaufen die Erscheinungen, welche zum Tode führen, sehr verschieden. Das hängt einerseits von der Beschaffenheit der lebendigen Substanz ab, die jede einzelne Zellform charakterisirt, andererseits von der Art und Weise der Ursachen, die zum Tode der Zelle führen. Es liegt also auf der Hand , dass daraus eine grosse Mannigfaltigkeit der Absterbe- erscheinungen resultiren muss. Immerhin kann man die Erscheinungen der Nekrobiose in zwei grosse Gruppen bringen, die sich fundamental voneinander unterscheiden. Die eine Gruppe dieser Erscheinungen besteht darin, dass die nonnalen Lebensprocesse nach und nach aus- fallen, ohne vorher eine wesentliche Aenderung zu erfahren; wir können diese Processe als histolytische Processe bezeichnen. Die andere Gruppe ist dieser gegenüber dadurch charakterisirt, dass die normalen Lebensprocesse durch die tödtliche Schädigung in eine perverse Bahn gelenkt werden und entarten, ehe sie vollständig still- stehen. Diese Processe nennen wir metamorp hotische Processe.

1. Histolytische Processe.

Die einfachsten Formen der histolytischen Processe sind die „Atrophieen". Es sind meist chronisch verlaufende Processe, die darin bestehen, dass die aufsteigende Phase des Stoffwechsels der be- troffenen Zellen, also die Vorgänge, welche zum Aufbau und zur Neu- bildung der lebendigen Substanz führen, immer mehr und mehr an Umfang abnehmen, bis sie schliesslich ganz aufhijren. Die Folge da- von ist, dass die lebendige Substanz, die sich ja in gewissem Maasse fortwährend von selbst zersetzt, mehr und mehr an Menge einbüsst, so dass die Zelle immer kleiner wird, bis der Rest, wenn es zum Extrem kommt, schliesslich zerfällt. Man sagt: die Zelle oder das Gewebe „atrophirt".

Die Fälle von Atrophie eines Organs oder Gewebes sind im ganzen Organismenreich weit verbreitet und spielen sowohl in der normalen

326 Viertes Capitel.

Entwicklung der Thiere als auch unter pathologischen Verhältnissen eine grosse Rolle.

Unter den Fällen der Atrophie, die in der Entwicklung des normalen Organismus auftreten, sind vor Allem bekannt die Erschei- nungen der Histolyse oder Kückhildung embryonaler Organe, welche besonders für die Thiere mit ausgesprochener „Metamorphose" oder Larvenentwicklung charakteristisch sind. Diese histolytischen Processe sind in neuerer Zeit an dem atrophirenden Schwänze der Froschlarven (Kaulquappen) von Looss ^) genauer verfolgt worden. Die Histolyse verläuft in ihren wesentlichen Momenten bei den verschiedenen Zell- formen übereinstimmend. Zuerst macht sich eine Auflockerung der die Zellen untereinander zum Gewebe verbindenden Kittsubstanz be- merkbar, so dass die Zellen lockerer aneinander hängen. Während dessen aber beginnt auch schon eine sichtbare Veränderung im Proto- plasma der Zellen selbst. „Die Zells ubstanz giebt ihr e normale charakteristische Structur auf: Das ursprünglich in Form eines mehr oder weniger ausgeprägten Schwammgerüstes vorhandene, meist stärker färbbare Spongioplasma zieht sich zusammen, die einzelnen Balken werden gröber, und schliesslich zerfällt das Ganze in eine

Fig. 135. Histolyse der Muskelfasern im Schwanz der Froschlarven.

Nach Looss.

grössere oder kleinere Anzahl von kugelrunden Tröpfchen, die inner- halb des weniger oder gar nicht gefärbten Hyaloplasma liegen , das seinerseits ebenfalls zu einer einheitlichen Masse sich vereinigt hat." Die Grundsubstanz, in welcher diese Kügelchen liegen, beginnt sich zuerst aufzulösen, und erst später verflüssigen sich auch diese Kügel- chen selbst. So bleiben schliesslich vom ganzen Protoplasma nur noch einige unlösliche Körnchen übrig, die von den Leukocyten, welche als Fresszellen in allen Geweben umherkriechen, aufgefressen werden. Die Kerne der Zellen halten dem Zerfall meist bedeutend länger Stand, werden aber schliesslich auch Opfer eines ganz ähn- lichen Processes. Ihre Grundsubstanz verschwindet sehr bald, die chromatische Substanz und die Kernmembran schrumpfen mehr und mehr zusammen und zerfallen in einzelne Bröckel, die sich zuletzt ebenfalls auflösen. Ganz ähnlich verhalten sich auch die sonst ziemlich differenten Muskelfasern. Die einzelnen Fibrillen quellen auf und verkleben untereinander. Dabei beginnt sich die isotrope und anisotrope Substanz untereinander zu vermischen, so dass die Quer- streifung allmählich verschwindet. Auch die Doppelbrechung der anisotropen Schichten erlischt. Gleichzeitig zerfallen die Muskelfasern in kleinere rundliche Trümmer, die schliesslich ebenfalls der Auf- lösung anheimfallen (Fig. 135j. In ganz analoger Weise dürften die Processe der Histolyse auch in den meisten anderen Fällen verlaufen,

^) A. Looss: „Ueber Degenerationserscheinungen im Thierreich, besonders über die Reduction des Froschlarvenschwanzes und die im Verlaufe derselben auftretenden histolytischen Processe." In Preisschriften der Fürstlich Jablonowski'schen Gesellschaft. Leipzig 1889.

Von den allgemeinen Lebensbedingungen.

327

z. B. bei der Rückbildung der larvalen Organe der Insecten, der Muskehl des Lachses, der Thymusdrüse des Menschen etc. Jedoch geht aus den Untersuchungen von Metschnikoff ^) , Kowalevsky ^) und Anderen hervor, dass bei manchen Insecten, besonders bei Fliegen- UKuUm, wo die Kückbiklung der larvalen Gewebe ungeheuer schnell vor sich geht, die Histolyse wesentlich von den Lcukocyten mitbesorgt wird, indem diese kleinen „Phagocyten" die noch nicht zerfallenen Gewebezellen auffressen. Immerhin Avird man auch hier voraussetzen müssen , dass die Einleitung der Histolyse von Seiten der Gewebe- zellen selbst ausgeht, und dass die Leukocyten erst die bereits zu atrophircn beginnenden Zellen auffressen. Der ganze Unterschied liegt dann, wie das auch Korotneff^) hervorgehoben hat, darin, dass da, wo es sich um eine möglichst schnelle Be-

seitigung der Gewebe handelt, die Leukocy- ten eine energischere Thätigkeit entfalten und früher damit be- ginnen. Zu den Atro- pliieen im normalen Leben gehören ferner auch die Erscheinun- gen der „senilen Atro- phie", die in einer sehr langsamen und stetig fortschreitenden Rück- bildung der verschie- densten Gewebe be- steht und im höheren Greisenalter niemals ausbleibt.

Den normalen Atro- phieen reihen sich die pathologischen an, die am Organismus auf- treten, wenn Erkran- kungen die geeigneten

Bedingungen dafür geschaffen haben. So atrophiren z. B. die Mus- keln des Unterschenkels beim Menschen, wenn das Kniegelenk in Folge einer Erkrankung verknöchert und unbeweglich geworden ist. Solche Atrophieen , die in Folge des Nichtgebrauchs eines Organes eintreten, werden als „Inactivitäts-Atrophieen" bezeichnet. Die Pro- cesse bei diesen pathologischen Atrophieen sind im Grossen und Ganzen dieselben, die wir bereits kennen gelernt haben, doch zeigen sich bis- weilen noch einige merkwürdige Erscheinungen. So hat man z. B.

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Fig. 136. Muskelfaserfragmente bei der Meta- morphose der Fliegenmade von Leukocyten zerstört. Die dunkleren, grau gekörnten Zellen sind die Leukocyten. Nach Kowalevsky.

^) Metschnikoff: „Untersuchungen über die intracelluläre Verdauung bei wirbel- losen Thieren." In Arbeiten d. zool. Inst. d. Univ. Wien 1883.

^) Kowalevsky: „Beiträge zur nacliembryonalen Entwicklung der Museiden." In Zool. Anzeiger 188-5. Derselbe: „Beiträge zur nacliembryonalen Entwicklung der Museiden." Theil I. In Zeitschr. f. wiss. Zool. XLV, 1887.

^) A. Kokotneff: „Histolyse und Histogenese des Muskelgewebes bei der Meta- morphose der Insecten." In Biol. Ccntralbl. Bd. XII, 1892.

328

Viertes Capitel.

vielfach in Muskeln, die aus irgend einer Krankheitsursache atrophirten, eine ganz ungeheure Vermehrung der Muskelkerne gefunden, während Looss mit Sicherheit feststellen konnte, dass bei der Muskelatrophie des histolytischen Kaulquappenschwanzes die Kerne weder vermehrt noch vermindert waren. Ferner sind die aus Krankheitsursachen atrophirenden Gewebe in der Regel Anfangs viel fester und derber als die Gewebe, welche der normalen Histolyse verfallen, ein Umstand, der vielleicht in der bedeutend längeren Dauer der pathologischen Atrophie begründet ist, wobei die aufgelösten Massen mehr Zeit haben, abzu- fliessen. Allein das sind alles nur speciellere, accessorische Momente. Die Degeneration der Leukocyten hat besonders Gümprecht ^) vor Kurzem eingehend bei der acuten Leukaemie verfolgt. Sie ist insofern interessant, als sich dabei die Auflösung des Zellkerns in einer sehr einfachen Weise vollzieht. Die Kernmembran geht zu Grunde, der Inhalt des Kerns mischt sich mit dem Protoplasma, die chromatische Substanz wird blasser und blasser, bis der ganze Leukocyt eine homogene

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Fi^. 137. Degeneration der Leukocyten bei acuter Leukaemie.

/ und // normale Leukocyten, die dunkle Masse der Zellkern, der helle Saum das

Protoplasma. III F// Auflösungsstadien. Nach Gümprecht.

Masse vorstellt, die unter Aufquellung und Vacuolenbildung zer- fliesst (Fig. 137).

Den Atrophieen können wir eine Reihe von Absterbeprocessen anfügen, die in der Pathologie unter dem gemeinschaftlichen Namen der „Nekrosen"^) zusammengefasst werden, obwohl sie wenig Aehn- lichkeit untereinander haben, die aber im Allgemeinen mehr acut verlaufen, als die Atrophieen.

Unter den verschiedenen nekrotischen Processen können wir mehrere Hauptformen unterscheiden, die durch bestimmte Eigenthüm- lichkeiten charakterisirt sind. Eine dieser Hauptformen ist die Ver- trocknung oder der „trockene Brand". Bei dieser Form der Nekrose schrumpfen die Gewebezellen unter Flüssigkeitsverlust zu festen, lederartigen Massen zusammen, so dass die Gewebe trocken,

') Gümprecht: „Leukocytenzerfall im Blute bei Leukaemie und bei schweren Anaemien." In Deutsch. Arch. f. klin. Medicin 1896.

2) Vergl. Cohnheim: „Vorlesungen über allgemeine Pathologie." IL Auflage. Berlin 1882. Ernst Zieqler: „Lehrbuch der allgemeinen und speciellen patholo- gischen Anatomie und Pathogenese." Jena 1881.

Von den Jilljjemeim'ii Lebensbedingungen.

329

hart und bröckelig erscheinen , wenn der Process sein Ende erreicht hat. Die Vertrocknung kommt sowohl normal vor beim P^introcknen des Nabelsohn urrestes der neugeborenen Kinder, als auch unter patho- logischen Verhältnissen, wie z. B. nach Verbrennen oder Erfrieren der Finger- und Zehenspitzen, besonders im Greisenalter, sowie bei der ^lumitication von Eml)ryonen , die sich, statt im Uterus, in der Baucidiöhle dos Thieres oder Menschen selbst entwickeln und, da sie nicht geboren werden können, im Leibe der Mutter selbst absterben. Solche Embryonen nehmen allmählich eine harte, mumienartifze Con- sistenz an, weil die in ihnen enthaltene Flüssigkeit vom mütterlichen Körper resorbirt wird. Eine zweite Hauptform der Nekrosen ist die zuerst von Weigert^) eingehend untersuchte Coagulations- nekrose und besteht darin, dass die Eiweisskörper der betreffenden Gewebozellen gerinnen. Man kann zu den Coagulationsnekrosen schon die gewöhnliche Todtenstarre der ab- sterbenden Muskeln rechnen, obwohl Weigert selbst sie davon trennt, da er für das Zustandekommen der Coagula- tionsnekrosen die Mitwirkung von Lymphe für unerlässHch hält. Allein im Princip haben wir schon bei der Todtenstarre, welche den absterbenden Muskel unter allmählicher Contraction in ein starres Organ verwandelt und so die steife und starre Beschaffenheit der Leichen bedingt, wenn auch vorübergehend, den- selben Vorgang; denn das Myosin, der für den Muskel charakteristische Eiweiss- körper, welcher im lebendigen Muskel gelöst enthalten ist, gerinnt beim Ab- sterben und erzeugt so die Todtenstarre, die sich dann erst in Folge anderer Um- setzungen im Muskel unter Erschlaffung desselben wieder löst. Aber auch eine typische Coagulationsnekrose im Sinne Weigert's kommt unter pathologischen Verhältnissen, besonders im Anschluss an fieberhafte Krankheiten, Avie Typhus etc.,

beim Muskel vor: das ist die sogenannte „wachsartige Degeneration", die in einer Gerinnung der Muskelsubstanz unter Verlust ihrer Querstreifung und Zerklüftung in wächsern erscheinende Schollen besteht (Fig. 138). Aehnliche Coagulationsprocesse treten auch in anderen Gewebezellen, besonders bei starken Entzündungen der Schleimhäute, wie bei Diphtherie des Rachens etc. , auf. Zu den Coagulationsnekrosen im weiteren Sinne können wir schliesslich auch diejenigen Erscheinungen des Zelltodes rechnen, welche eintreten, wenn wir lebendige Gewebe behufs anatomischer oder histologischer Conservirung mit Gerinnung erzeugenden Flüssigkeiten, wie Mineralsäureu, Alkohol, Sublimat etc.,

Fig. 138. Wachsartige De- generation der Muskeln bei Typhus abdominalis, a Quer- gestreifte , normale Muskelfaser, b in wachsartige Schollen zer- fallene Fasern, c Muskelkeme, d Bindegewebe. Nach Ziegler.

^) Weigert: „Ueber pockenähnliche Gebilde in parenchymatösen Organen und deren Beziehungen zu Bakteriencolonieen." Breslau 1875. Derselbe: .,Ueber Croup und Diphtheritis. Ein experimenteller und auatomischer Beitrag zur Pathologie der specifischen Entzünduugsformen." In Virchow's Arch. Bd. LXX, 1877. Daselbst ferner Bd. LXXII u. LXXIX.

330 Viertes Capitel.

übergiessen. Das sind die acutesten Fälle des Zelltodes überhaupt, und gerade darum eignen sich diese Flüssigkeiten zum Abtödten und Con- serviren besonders gut, denn die lebendige Zelle wird hierbei plötzlich vom Tode überrascht, so dass sie nicht erst Zeit hat, sich in tiefer- gehender Weise zu verändern, sondern in einer den lebendigen Ver- hältnissen ziemlich ähnlichen Beschaffenheit momentan fixirt wird. Eine dritte Form der Nekrose, die Colliquation, verläuft so, dass eine vollkommene Verflüssigung der getroffenen Gewebezellen eintritt, indem ihr Protoplasma in einen körnigen Detritus zerfällt, und die Zellkerne und Zellgrenzen sich auflösen, bis das Gewebe in einen flüssigen Brei umgewandelt ist. Solche Erweichungen kommen nament- lich bei der Blasenbildung nach Verbrennungen zu Stande (Fig. 139)

Fig. 139. Colliquation ara Rande einer Brandblase, a Hornschicht der Epidermis, b Rete Malpighii der Epidermis, c normale Hautpapillen, d aufgequollene und zum Theil schon verflüssigte Zellen, o tlieilvveise noch normale Zellen, / Ver- flüssigungsherd, g und h aufgequollene Zellen mit zerstörtem Kern, i eingesunkene Papillen, k geronnenes Exsudat. Nach Ziegler.

und können sich häuflg mit Coagulations-Erssheinungen combiniren. Ueberhaupt kommen nicht selten verschiedene Formen der Nekrose combinirt vor, und besonders werden sie noch durch secundäre Momente complicirt, wie z. B. durch die Fäulniss. Im letzteren Falle entstehen die Erscheinungen des feuchten Brandes, der Gangrän, der Verwesung etc., die alle durch die Einwirkung von Fäulniss- bakterien auf nekrobiotische Gewebe hervorgerufen werden und zum Theil erst postmortale Erscheinungen vorstellen. Es sind ferner noch einzelne Formen der Nekrose mehr oder weniger gut von der Pathologie charakterisirt worden, indessen beruhen diese Begriffe der Pathologie weniger auf der Untersuchung der mikroskopischen Vor- gänge in der Zelle selbst als vielmehr auf der makroskopischen Erscheinung des Endergebnisses, das naturgemäss von den verschie- densten , nicht durch die reinen Erscheinungen des Zellentodes un- mittelbar bedingten Neben umständen abhängig ist.

Endlich können wir den Atrophieen und Nekrosen noch eine Reihe von Erscheinungen anschliessen, die sich beim Absterben von

Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 331

Zellen in wässerigen Medien in der ganzen Organismenwelt weit ver- breitet tinden: das sind die Erscheinungen des körnigen Zerfalls^). Das Gemeinsc'hat'tliche aller Arten des körnigen Zerfalls liegt darin, dass am Ende des Processes die betroffene Zelle einen mehr oder weniger lose zusammenhängenden Haufen von einzelnen Körnchen bildet.

Am leichtesten können wir den körnigen Zerfall bei manchen Infusorien beobachten, wenn ihr Protoplasma besonders wasserreich ist. Das ist z. B. bei dem grossen

walzenförmigen S p i r o s t o m u m am- jt*. ,-vj - ^v•.v-J^

biguum der Fall, das ausserdem eine .'•*■/■■■ .-:■. /i'.':-,'; "

sehr wenig feste Obei'flächen schiebt sei- nes Exoplasraas besitzt. Bringt man solchen Infusorien eine Wunde bei, in- dem man sie unter dem Mikroskop durch

einen Schnitt in zwei Theile schneidet, lilli'.'t ''' ' ' \

so ereignet es sich sehr häutig, dass die Theilstücke von der Wundfläche her förmlich zerstieben. Man kann den Tod

mit den Augen verfolgen, wie er einem

glimmenden Funken gleich, der an einer j j,

Zündschnur dahinläuft und nur ein losesAschenhäufchen hinter sich zurück- 1% }^^- .Körniger Zerfall. 1.. ^ .., 1 -r r- 1 .. -f fttuck eines fepirostomums

lasst, über den ganzen lufusorienkorper ^^^ ^^^ Wundstelle her zerfallend, kriecht, Theilchen nach Theilchen er- ii Pelomyxa auf Überreizung greifend, Wimper nach Wimper in ihrer '^on einer Seite her zerfallend, ungestörten Thätigkeit überraschend und

mitten aus dem frischen Leben zum ewigen Stillstand zwingend, bis in einen todten Körnerhaufen verwandelt ist, was eben noch in leben- diger Bewegung begriffen war (Fig. 140).

Indessen diese sehr acut verlaufenden Fälle an Infusorienzellen, die das Interesse jedes Beobachters fesseln , der sie zum ersten Male sieht, sind für das Studium der feineren Vorgänge im Protoplasma deshalb nicht sehr geeignet, weil es sich bei der schon von vornherein sehr körnerreichen Beschaffenheit des Protoplasmas nur schwer ent- scheiden lässt, Avie weit das Körnermaterial der zerfallenen Massen sich aus den schon präformirten Körnern recrutirt, und wie weit es als solches erst direct durch den Absterbeprocess gebildet wird. Ausser- ordentlich günstig sind dagegen in dieser Beziehung die vollkommen hyalinen und absolut körnerfreien Protoplasmamassen mancher Rhizo- poden, z. B. des marinen Hyalopus Dujardinii (Fig. 141 I). Schneidet man unter dem Mikroskop mit einem feinen Messer eines der glatten, klaren Pseudopodien ab, so beginnt dasselbe von der Schnittstelle her allmählich mehr und mehr zu zerfallen (Fig. 141 U und 111). Je nach der Dicke und Grösse der abgeschnittenen Masse sieht man dann entweder bald oder erst im Verlauf einiger Stunden statt der durchsichtigen Protoplasmamasse einen Haufen von kleinen Körnchen und Kügelchen, zwischen denen noch vereinzelt etwas grössere runde Tröpfchen von hyalinem Protoplasma (Fig. 141 111 D, b) sowie bisweilen eine oder Avenige matte runde durchsichtige

^) Veewokn: „Der kömige Zerfall. Ein Beitrag zur Physiologie des Todes." In Pflflger's Arch. d. ges. Physiol. Bd. 63, 1896.

332

Viertes Capitel.

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Von den allgemeinen Lebensbedingungen.

333

Fig. 141. Hyalopus (Gromia) Dujardinii, körniger Zerfall. I Ganzes Individuum. Aus der eiförmigen, membranartii^en Schale ragen zahlreiche Pseudopodien hervor, die links in Einziehung begriffen sind, //und /// abgeschnittene Pseudopodien, an denen sich der kürnij^e Zerfall entwickelt. Die Protoplasniakügelchen und -Tröpfchen werden nur noch durch eine lockere, schleimige Bindemasse lose zusammengehalten. Zwischen ihnen zerstreut liegen noch einzelne grössere hyaline Protoplasmatröpfchen (III B b), sowie einzelne grössere Schleimkugeln (III D a). JF Pseudopodium , das bei a abgeschnitten ist imd von hier aus körnig zerfiillt. Stärkere Vergrösserung. Bei a ist der körnige Zerfall schon vollständig, die Kugeln sind schon isolirt, bei b erst der Beginn des Zerfalls, der durch die Vacuolenbildung eingeleitet wird. Zwischen beiden Punkten alle Uebergangsstiifen. V Schalenöffnung des Hyalopus mit aus- gestreckten Pseudopodien, von denen drei an der Stelle des Pfeiles gereizt sind und einen höckerigen Contour angenommen haben. VI Keizstelle eines Pseudopodiums stärker vergrössert. Man sieht Vacuolen , deren Wandprotoplasma sich höckerig und klumpig zusammengezogen hat. Der Vergleich zeigt die Uebereinstimmung mit /F".

Blasen (Fig. 141 III D a) liegen, Alles locker zusammengehalten durch eine sehr feine, lose, schleimige Masse. Hier ist also jeder Zweifel ausgeschlossen, dass dieser Haufen von Körnchen und Kügelchen ent- standen ist durch Umbildung einer ursprünglich vollkommen klaren Masse lebendiger Substanz. Eine interessante Thatsache zeigt sich aber erst bei Untersuchung dieses Processes mit stärkeren Ver- grösserungen. Die Pseudopodien des Hyalopus lassen nämlich im normalen Leben der Zelle schon einen charakteristischen Unterschied in dem Verhalten ihres Protoplasmas bei der Expansionsphase einer- seits und der Contractionsphase andererseits erkennen. Während das Protoplasma bei der Ausstreckung vollkommen homogen erscheint, nimmt es bei der Einziehung die typische Wabenstructur im Sinne BtJTSCHLi's ^) an und wird, wenn die Contraction, z.B. in Folge einer Reizung, sehr stark wird , an der Oberfläche höckerig und wulstig (Fig. 141 V und VI). Bei der Entwicklung des körnigen Zerfalls zeigt sich nun genau dieselbe Erscheinung wie bei der Contraction : das Protoplasma beginnt Wabenstructur anzunehmen. Das ist die Einleitung des körnigen Zerfalls, denn die Wabenwände ziehen sich nun mehr und mehr höckerig und klumpig zusammen, zerreissen hier und da und runden sich schliesslich zu kleinen Kügelchen und Tröpfchen ab, die nur durch die schleimige Flüssigkeit der geplatzten Vacuolen, welche häufig zu einer grösseren Schleimblase zusammen- fliesst, als loser Körnerhaufen aneinandergehalten werden (Fig. 141 IV). So beruht der körnige Zerfall also auf einer über das Maximum hinaus entwickelten Contraction.

II

B

Fig. 142. I Arno ehe, A nonnal, B in der Nekrobiose. //Leukocyt, A normal, B in der Nekrobiose.

Diese Thatsache ist von grossem Interesse ; denn Avenn wir ver- gleichend die histolytischen Processe an verschiedenen Zellen ver- folgen, so finden wir das gemeinsame Gesetz, dass alle Elemente, deren

^) Vergl. pag.

334

Viertes Capitel.

Contractilität deutlich zum Ausdruck kommen kann, also vor Allem sämmtliche nackten Protoplasmamassen, wie Rhizopoden, Protoplasma- tropfen aus Gewebezellen etc., fener contractile Fibrillen, Muskel- fasern etc., ausnahmslos in der Contractionsphase absterben. Amoeben und Leukocyten nehmen (Fig. 142), wie bei jeder Contraction, mehr oder weniger vollkommene Kugelgestalt an (Fig. 142 jB); Rhizopoden mit langen Pseudopodien ziehen ihre Pseudopodien ein und werden klumpig, oder die fadenförmigen Pseudopodien Averden varikös und zerfallen selbst zu kleinen Kügelchen (Fig. 143). Protoplasmafetzen aus dem Innern irgend welcher formbeständigen Zellen, etwa Pflanzen- zellen oder Gewebezellen oder auch freilebender Zellen, runden sich

Fig. 143. Nekrobiose einer kernlosen Proto- plasmamasse von Orbitolites. a Die Proto- plasmamasse hat noch normale P.seudopodien aus- gestreckt; b die Pseudopodien werden varikös und theilweise eingezogen; c das Pi-otoplasma der nicht eingezogenen Pseudopodien ist zu Tropfen und Kugeln zerfallen.

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stets zu kugligen Tropfen ab (Fig. 34« pag. 97). Contractile Fibrillen und Muskelfasern gehen in Todtenstarre über, d. h. sie contrahiren sich noch ein letztes Mal (pag. 137), und erst wenn die Todtenstarre vorbei, wenn der Tod vollendet ist, werden sie passiv wieder gestreckt durch die Wirkung elastischer Elemente. Kurz, überall finden wir, dass alles Protoplasma, dessen Contractilität überhaupt zum Aus- druck kommen kann, im C o n t r a c t i o n s z u s t a n d e abstirbt. Es wäre ein sehr lohnendes Unternehmen, auch noch andere, allen histolytischen Processen gemeinsame Eigenthümlichkeiten durch eine vergleichende Untersuchung der nekrobiotischen Erscheinungen fest- zustellen, wobei, wie Israel ^) in jüngster Zeit in seinen Untersuchungen

M O. Israel: „Biologische Studien mit ßücksicht auf die Pathologie. III. Oligo- dynamische Erscheinungen an pflanzlichen und thierischen Zellen." In Virchow's Arch. f. pathol. Anat. u. Plivsiol. etc. Bd. 147, 1897. Derselbe: .,Ueber den Tod der Zelle." In Berl. klin. Wochenschr. 1897, No. 8.

Vüu (U'ii allfremciiien Lebciisljo(liii},'un{?en. 335

über den Tod der Zolle mit Keclit licrvorgelioben hat, die Art der Todesursache und die Dauer der Nekrobiosc besonders zu berück- sichtigen wäre. Nur durch eine vergleichende Geschichte des Todes kann ein Verständniss der nekrobiotischen Erscheinungen, das uns bis jetzt noch ziemlich verhüllt ist, mit der Zeit erhofft und damit zugleich auch die Kenntniss des Lebensvorgangs selbst gefördert werden.

2. Metamor}) ho tische Processe.

Die metamorphotischen Processe sind den einfachen histolytischen Vorgängen gegenüber sehr deutlich dadurch charakterisirt, dass der Stoffwechsel der Zelle nicht einfach nach und nach stehen bleibt, sondern dass er vorher in eine perverse Bahn einlenkt, in der Weise, dass Stoffe, die in der normalen Zelle entweder gar nicht gebildet werden oder nur als Zwischenstufen entstehen, in grösserer Menge in Folge der Stoffwechselstörung von der Zelle producirt werden und sich hier anhäufen, bis die Zelle zu Grunde gegangen ist. Die häufigsten, bekanntesten und für die Pathologie wichtigsten Formen der meta- morphotischen Processe sind die „fettige Degeneration" oder „Fett- metamorphose", die „schleimige Degeneration", die „amyloide Degene- ration" und die „Verkalkung".

Wenn wir zunächst die Erscheinungen der Fettmetamor- phose ins Auge fassen, so müssen wir einer Verwechselung mit schein- bar ähnlichen Vorgängen vorbeugen, nämlich mit der Fettablagerung oder Fettinfiltration bei der Mästung, bei der Fettsucht etc. Auch bei diesen letzteren Vorgängen finden wir eine grosse Anhäufung von Fett in den betreffenden Zellen , aber dieses Fett ist nicht durch eine Störung des Stoffwechsels der Zelle selbst entstanden und ab- gelagert, sondern das Fett oder seine Constituenten sind von aussen her in die betreffenden Zellen hineingelangt und hier abgelagert worden. Wird dem Körper durch die Nahrung viel Fett zugeführt oder Stoffe, aus denen Fett gebildet werden kann, so lagert sich dieses „Mästungs- fett" mit Vorliebe an bestimmten Orten innerhalb der Zellen ab, so z. B. in den Zellen des Unterhautbindegewebes , und so entsteht die Fettleibigkeit, der „panniculus adiposus". Freilich ist nicht aus- geschlossen, dass bei der Fettleibigkeit in vielen Fällen auch patho- logisch im Körper entstandenes Fett in die Zellen des Unterhaut- bindegewebes hineingelangt und dort abgelagert wird. Aber immer handelt es sich dabei um eine „Fettinfiltration" der Zellen von aussen her. Demgegenüber wird bei der „Fettmetamorphose" das Fett inner- halb der Zelle selbst und auf Kosten ihrer lebendigen Substanz ge- bildet und an Ort und Stelle angehäuft, bis die Zelle mit lauter feineren oder gröberen Fetttröpfchen durchsetzt ist und zu Grunde geht. Solche Fettmetamorphose, die mit dem Tode und Zerfall der Zelle endigt, kommt schon als normale Erscheinung im gesunden Körper an be- stimmten Stellen vor, so unter Anderem in den Zellen der Milchdrüsen zur Zeit, wenn dieselben Milch secerniren, wenn die Frau stillt. Zu dieser Zeit findet man , wie in den Drüsenläppchen der Brüste die älteren Zellen in ihrem Protoplasma mikroskopische Fetttröpfchen er- scheinen lassen (Fig. 144), die immer mehr und mehr an Zahl zu- nehmen, während das Protoplasma selbst allmählich abstirbt, bis die Zelle zu einem rundlichen Tröpfchen geworden ist, das voller kleiner

336

Viertes Capitel.

Milclikügelchen steckt. Das abgestorbene Protoplasma zerfällt all- mählich, die Fettkügelchen werden frei, und die ganzen Massen, d, h. die Fettkügelchen in ihrer Flüssigkeit, werden secernirt als „Milch", denn die Milch ist weiter nichts als eine Emulsion von Butterfett in einer Lösung von Salzen, Eiweisskörpern, Zucker etc. Den alten, fettig degenerirten und zerfallenen Drüsenzellen rücken die jüngeren nach, machen dieselben Veränderungen durch, und so geht der Process der Milchbildung ununterbrochen in grössteni Umfange weiter. Was in den Zellen der Milchdrüsen als normaler Process auftritt, kommt aber unter pathologischen Verhältnissen in viel grösserer Verbreitung in den verschiedensten Geweben vor und führt fast immer zu unheil- baren und tödtlichen Verlusten, weil durch jüngere, nachrückende Zellen in der Regel kein Ersatz geschaffen wird. „Wenn Jemand" sagt ViRCHOw ^j „statt in der Milchdrüse im Gehirn Milch fabricirt, so giebt dies eine Form der Hirnerweichung. Derselbe Process, welcher an einem Orte die glücklichsten, ja die süssesten Resultate liefert, bringt an einem andern einen schmerzlichen und bitteren Schaden mit sich." Namentlich treten solche fettigen Degenerationen bei langandauernden chronischen Krankheiten, wie Tuberkulose, Herz-

Fig. 144. Fettmet amorph ose bei der Milch bildung in den Drüsenläppchen der Brust- drüse. Nach ViRCHow.

Fig. 145. F e 1 1 m e t a m 0 r j:) h o s e der

Herzmuskelzellen. Die Körnchen

in den Zellen bestehen aus Fett. Nach

Ziegler.

144.

Fiff. 145.

krankheiten, Nierenkrankheiten etc., in Niere, Herz, Leber, Blut- gefässen etc. auf (Fig. 145), und ihre Ursachen liegen immer in Ernährungsstörungen, vor Allem in der Störung der Sauerstoffzufubr durch das Blut. Wird nämlich der Zelle nicht genug Sauerstoff zu- geführt, oder ist ihre Sauerstoffaufnahmefähigkeit aus anderen Gründen herabgesetzt, so wird das Fett, das in Spuren wahrscheinlich in den meisten Zellen entsteht, nicht, wie es normaler Weise geschieht, verbrannt, d. h. oxydirt, sondern kommt zur Ablagerung und häuft sich zu grossen Mengen an. Deshalb tritt auch bei Gewohnheitstrinkern und nach Phosphorvergiftung, wo in Folge des aufgenommenen Alkohols oder Phosphors die Sauerstoffaufnahme verringert ist, stets eine be- deutende Fettmetamorphose der Gewebe, besonders der Leberzellen, ein, und die Pathologie kennt eine ganze Reihe von Fällen, wo sich die Fettmetamorphose auf die gleichen Ursachen zurückführen lässt. Von dem Ursprung des Fettes schliesslich können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass er bei allen Processen der Fettmetamor- phose im Zerfall des Eiweisses liegt. Wir wissen , dass beim Zerfall des EiweissmoleküLs stickstof^'haltige und stickstofffreie Atomcomplexe auftreten. Wir haben ferner gesehen-), dass Fett aus Eiweiss ent-

^) Rudolf Virchow: .,Die Cellularpathologie" etc. IV. Aufl. Berlin 1871. 2) Vergl. pag. 169.

Von den allg^enicincn Lehensbcdinf^ungen.

337

stehen kann, und für den Fall der Fettmetamorphose naeh Phosphor- vcrK-it'tunff speciell hat Leo ^) gezeigt, dass das Fett erst im Körper Da man nun drittens gefunden hat, dass nach Phosphor- die Ausscheidung von Harnstoff bedeutend vermehrt ist wir nicht fehl gehen, wenn wir den Schluss ziehen, dass nach der l^hosphorvergiftung in stärkerem Maasse zer- ss der .stickstofffreie Atomcomplex, welcher beim Zerfall abgelagerte

entsteht Vergiftung so worden das Fi weiss fallt, und d

entsteht, das in den Zellen abgelagerte Fett ist, während der stick- stoffhaltige in Harnstoff umgewandelt nach aussen abgegeben wird. In ganz analoger Weise aber haben Avir uns jedenfalls überhaupt bei allen Fettmetamorphosen die Entstehung des Fettes zu denken.

Die Erscheinungen der Schleimmetamorphose bilden ein vollkommenes Gegenstück zu denen der Fettmetamorphose. Wie bei der letzteren aus der lebendigen Substanz der Zelle Fett gebildet wird, so entsteht bei der ersteren aus ihr Schleim. In vielen Fällen ist der entstehende Schleim echtes Mucin, in anderen sind es Mucinoid- substanzen, immer aber handelt es sich dabei um Verbindungen

von Ei Weisskörpern mit irgend welchen Kohlehydraten^) also, dass auch bei der Schleimmetamorphose der Ursprung des Schleimes wieder im Eiweiss Hegt. Auch die Schleimmeta- morphose kommt schon normaler Weise im ge- sunden Körper vor, be- sonders in den Zellen der Schleimhäute des Respi- rations- und Darmtractus, sowie des Urogenital- systems. Aber bei der

Wir sehen

B

Fig. 146. Schleimzellen. A Drei isolirte Schleimzellen. B Sieben zusammenhängende Schleimzellen, von denen die drei linken voll, die vier rechten entleert sind. Nach Schieffer-

Schleimbildung dieser Schleimzellen geht unter ^ deckek.

normalen Verhältnissen

nie die ganze Zelle zu Grunde, sondern es wird immer nur ein Theil ihres Protoplasmas in Schleim umgewandelt. Fast immer handelt es sich bei den Schleimzellen um cylindrische Zellen, deren Basis den Kern be- herbergt, deren oberes Ende die freie Schleimhautoberfläche begrenzt. Immer ist es das obere freie Ende des Zellkörpers, dessen Protoplasma sich dauernd und in verstärktem Maasse bei besonderen äusseren Ein- wirkungen in Schleim umwandelt, indem es zu einer durchsichtigen Masse mit einzelnen darin liegenden Protoplasmakörnchen aufquillt, die sich dann ohne Grenze mit den Schleimmassen der benachbarten Schleim- zellen zu einer zusammenhängenden Schleimdecke vereinigt. Der untere, den Kern beherbergende Theil des Zellkörpers bleibt dabei dauernd am Leben (Fig. 146) und schiebt nur immer neue Massen von schleim- bildender Substanz oder „Mucigen" nach oben nach, die in demselben Grade, wie sie nachrücken, wieder in Schleim verwandelt werden. Eine vollständige Umwandlung des ganzen Zellkörpers in Schleim

^) Leo: „Fettbildiing und Fetttransport bei Phosphorintoxication." In Zeitschr. f. physiolog. Chemie Bd. 9, 188-5. -) Vergl. pag. 111. Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 22

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Viertes Capitel.

unter Zugrundegehen der Zelle selbst kommt aber bei manchen niederen Thieren nach starken äusseren Insulten zu Stande und er- zeugt hier zum Theil überaus merkwürdige Erscheinungen. Am auffallendsten sind diese bei gewissen Formen der zu den Echino- dermen oder Stachelhäutern gehörigen Seegurken oder Holothurien, jenen plumpen Thierformen, deren gurkenähnlicher Körper von einer derben, braunen, lederartigen Haut bedeckt ist. Legt man z. B. die im Mittelmeer lebende Holothuria Poli an die Luft, so beginnt die dicke, harte Lederhaut sich allmählich in einen fadenziehenden Schleim zu verflüssigen und ist nach einigen Stunden bereits vollständig er- weicht. Wenn man ein herausgeschnittenes Stück der Lederhaut mit feinen Nadelstichen durchbohrt, kann man, wie Sempera) berichtet, diese schleimige Verflüssigung noch schneller herbeiführen, denn um jeden Stich herum beginnen die Zellen momentan unter Aufquell ung schleimig zu zerfallen, so dass das ganze Stück schliesslich in eine dickflüssige Masse verwandelt ist, die, wenn man sie berührt, seiden- glänzende Fäden zieht. Manche Arten der Holothuriengattung Stichopus sollen in ganz kurzer Zeit ihre Haut in einen zähen Schleim verwandeln. Es wäre äusserst interessant, diesen ganz einzig dastehenden Fall einer plötzlichen Schleimmetamorphose so fester und

derber Gebilde, wie sie die Holothurienhaut vorstellt, auch chemisch und mikroskopisch et- was genauer zu untersuchen, als es bisher von Keukenberg ^) allein geschehen ist. Bekannter sind die am menschlichen Körper, namentlich bei schweren Ka- tarrhen , auftretenden Schleim- metamorphosen der Epithel- zellen, Leukocyten etc., bei de- nen die betroffenen Zellen unter Aufquellung und Umwandlung ihrer lebendigen Substanz in Schleim zu Grunde gehen (Fig. 147).

Bei den Erscheinungen der Amyloid-Metamorphose handelt es sich den bisher betrachteten Processen gegenüber um die Bildung einer Substanz, die, soviel bisher bekannt, im normalen Körper überhaupt gar nicht vorkommt. Diese wachsartig oder speckartig glänzende Substanz, die der betreffenden Erkrankung auch den Namen der wachsartigen oder speckartigen Degeneration eingetragen hat, wurde von Virchow zuerst als Amyloid Substanz bezeichnet, weil sie sich bei Jodfärbung ähnlich wie pflanzliches Amylum und Cellulose verhält, indem sie unter gewissen Bedingungen durch Jod blau ge- färbt wird. Später hat man das Amyloid als einen eiweissähnlichen Körper erkannt, denn es enthält Stickstoff und giebt gewisse Eiweiss- reactionen, so dass man es vor der Hand in die Sammelgruppe der albuminoiden Stoffe einreiht. Sehr charakteristisch ist sein Verhalten gegen die Anilinfarbe Methylviolett, unter deren Einwirkung es eine

Fig. 147 Zellen.

II

Schleimig- m e t a m o r p h o s i r t e / Leukocyten, // Flimmerzellen. Nach Ziegler.

^) C. Semper: „Reisen im Archipel der Philippinen. Theil I, Bd. I: Holothurien. Leipzig 1868.

^) Krdkenberg : „Die Schutzdecken der Echiuodermen." In: Vergl.-physiol. Stud. 2. Reihe, I. Abtheilung. Heidelberg 1882.

Von den allgemeinen Lebensl)edingungen. 339

schön rubinrotlie Färbung annimmt, währond gesunde Gewebe nur blau gefärbt werden. Durch seinen Charakter als albuminoide Substanz deutet das Amyloid offen seinen Ursprung an. Es kann nur von den Eiweiss- körpern der Zelle abstammen , und wir werden, obwohl bisher über die Entstehung des Amyloids nichts Näheres bekannt ist, doch nicht fehl gehen, wenn wir es als einen metamorphosirten Eiweisskörper betrachten , der von der Zelle nach aussen ausgeschieden und ab- gelagert ist. Das Amyloid sciieint nämlich nie in der Zelle selbst zur Ablagerung zu gelangen, vielmehr finden wir es immer in den die Zellen verkittenden Bindesubstanzen, besonders in den Wandungen der kleinen Blutgefässe (Fig. 148). In demselben Maasse aber wie die Zellen das Amyloid absondern, gehen sie selbst zu Grunde, sei es, dass sie in Folge des perversen Stoffwechsels, dessen Product eben das Amyloid ist, absterben, sei es, dass sie passiv durch die sich zu beträchtlichen Massen anhäufende Amyloidsubstanz auseinander gerissen, erdrückt, erstickt, getödtet werden. Die Amyloidmetamorphose ist eine secundäre Krankheitserscheinung, die hauptsächlich im Anschluss an lange be- stehende chronische Krankheiten, wie Tuber- kulose, langwierige Eiterungen etc., in den Unterleibsorganen auftritt, vor Allem in Milz, Leber, Nieren, Lymphdrüsen. Das weist darauf liin, dass es sehr allmählich a

sich entwickelnde und tiefgehende Ernäh- : ";

rungsstörungen der Gewebe sind, welche die Zellen in den Zustand versetzen , wo sie ihr Eiweiss allmählich in Amyloid um- wandeln. Ln Uebrigen bleibt gerade die "x Amyloidmetamorphose noch immer einer der räthselhaftesten unter den metamorphotischen

Processen überhaupt, obwohl sie weit ver- ^^'-- \^^- Amyloide üege- , . . , .^ ' T-. T neration der Lebercapil-

breitet ist und eine grosse Bedeutung m ij^^en Die Zellen sind durch

der Pathologie besitzt. zwischen ihnen abgelagerte

In den Erscheinungen der Ver- Amyloidmassen anseinander- kalkung endlich haben wir in gewisser g«lrängt. Nach Z.eglek. Beziehung ein Gegenstück zu der Amyloid- metamorphose, denn, Avie dort Amyloidsubstanz, so werden hier Kalksalze von den Zellen gebildet und entweder nach aussen abgeschieden oder in der absterbenden Zellensubstanz selbst abgelagert. Für die erstere Form haben wir als Analogon im normalen Körper die Knochenbildung. Unsere grossen Skelettknochen entstehen nämlich aus einer knorpeligen Grundlage dadurch, dass die Knorpelzellen in die Grundsubstanz hinein Kalksalze, vor Allem phosphorsauren und kohlensauren Kalk, abscheiden, der sich in Krümchen immer mehr und mehr aneinander drängt, ver- frittet und so die feste Knochensubstanz liefert, in der die Knochen- zellen als sogenannte Knochenkörperchen weiter leben. Dieser selbe Vorgang, der in der Entwicklung des Wirbelthierorganismus durchaus iiothwendig erscheint, tritt aber auch unter pathologischen Verhält- nissen auf, besonders wenn im Greisenalter oder nach bestimmten Erkraiikungen die Knorpelscheiben der Gelenke verknöchern. Es treten dann dieselben Erscheinungen auf; nur gehen in der Regel die Zellen, von denen die Kalksalze ausgeschieden werden, später selbst zu Grunde. Neben dieser „Verknöcherung" kommt aber unter patho- logischen Umständen auch eine wirkliche Verkalkung der Zellen selbst

340

Viertes Capitel.

vor, wobei die Kalksalze innerhalb der absterbenden Zelle zur Ab- lagerung gelangen, bis zuletzt die lebendige Substanz vollständig ver- schwunden ist und ihre Stelle von einer zusammengekitteten Kalk- masse eingenommen Avird. Das geschieht z. B. in den Arterienwänden, so dass dieselben brüchig werden und zu Blutergüssen Anlass geben, die, wenn sie im Gehirn eintreten, Apoplexieen, d. h. sogenannte Schlaganfälle, bedingen. Ferner verkalken bei gewissen Gehirnkrank- heiten die Ganglienzellen des Gehirns selbst, und man findet z. B. im Gehirn von Blödsinnigen „versteinerte" Ganglienzellen im wahren Sinne des Wortes (Fig. 149 B).

^'^^St^^q^**'"^ .

A B

Fig. 149. Verkalkung von Zellen. A Verkalkte Zellen in der Wand eines Blut- geiässes. £ Verkalkte Ganglienzellen aus dem Gehirn eines Blödsinnigen. Nach Ziegler.

Ausser diesen hier angeführten Formen metamorphotischer Processe kennt die Pathologie noch eine Reihe anderer, wie die „Pigmenta- trophie", die „hyaline Degeneration", die „Colloidmetamorphose" etc., denen aber stets das gleiche Princip zu Grunde liegt, dass der Stoffwechsel der Zellen eine perverse Richtung einschlägt und Stoffe bildet, die normaler Weise gar nicht oder nur in geringem Maasse gebildet werden, so dass schliesslich die Zelle zu Grunde geht. Allein diese Stoffe und ihre Genese sind in den eben genannten Fällen zum Theil noch viel weniger bekannt, als in den besprochenen metamor- photischen Processen, so dass es an dieser Stelle nicht nöthig erscheint, näher darauf einzugehen.

Ueberhaupt bedürfen die metamorphotischen Processe, vor Allem die Genese der dabei entstehenden Stoffe und die Störungen des nor- malen Stoffwechsels, auf denen sie beruhen, noch sehr der Aulklärung, die freilich erst in dem Maasse zu erwarten ist, wie unsere Kenntnisse über den Stoffwechsel im Allgemeinen sich erweitern werden.

B. Die Ursachen des Todes.

So mannigfaltig wie die Erscheinungen, unter denen sich der Tod entwickelt, sind auch die Ursachen, die seinen Eintritt be- dingen. Einige der specieUen Ursachen haben wir bereits hier und dort berührt*, aber es ist unmöglich, die Ursachen in jedem ein- zelnen Fall zu behandeln. Dagegen ist es nothwendig, etwas genauer auf die allgemeinen Ursachen des Todes einzugehen, weil sich dai'an die interessante Fz*age knüpft, ob der Tod überhaupt für alle lebendigen Organismen jene „dira necessitas" ist, die er für den Men-

Voll den allgeiiiuiiieu Lebfusbediiijjuiigeii. 341

sehen bildet, mit anderen Worten, ob es auch Organismen giebt, deren Körper unsterbHeh ist.

1. Aeussere und innere Todesursachen.

Wenn wir von der Thatsache ausgehen , dass Leben einerseits nur bestehen k an 11 , andererseits aber auch bestehen muss, sobald ein bestimmter Complex von Bedingungen erfüllt ist, dann sind die Todes- ursachen damit schon in ihrer allgemeinen Form bestimmt, denn dann muss der Tod eintreten, sobald die allgemeinen Lebensbedingungen wegfallen. Entsprechend unserer Unterscheidung von äusseren und inneren Lebensbedingungen, müssen Avir demnach auch zwischen äusseren und inneren Todesursachen unterscheiden, je nachdem der Tod durch den AA'egfall der äusseren oder der inneren Lebens- bedingungen verursacht wird.

Wenn wir zunächst die äusseren Todesursachen ins Auge fassen, so bedarf es keiner eingehenderen Erörterung, dass Entziehung des Sauerstoffs, des Wassers, der Nahrungsstoffe, dass ferner Ueber- schreitung der nothwendigen Temperatur- und Druckgrenzen den Tod herbeiführt, abgesehen von den Organismen, die unter bestimmten Verhältnissen nur in den Zustand des Scheintodes übergehen. Allein damit sind doch die äusseren Todesursachen noch nicht erschöpft. Die angeführten Lebensbedingungen können alle erfüllt sein, und dennoch kann durch Einwirkung äusserer Ursachen der Tod herbei- geführt werden. Wir müssen also den Begriff der äusseren Lebens- bedingungen noch ergänzen, indem wir dazu auch das Fernbleiben solcher Einflüsse rechnen, welche die lebendige Substanz zerstören. Derartige Einflüsse sind vor Allem chemische und elektrische Einwirkungen.

Die chemischen Einflüsse, welche tödtliche Wirkungen hervorrufen, sind die Gifte, und ihre Zahl ist unermesslich. Alle chemischen Stoffe, welche in chemische Beziehung zu irgendAvelchen Avesentlichen Bestandtheilen der lebendigen Substanz treten , so dass der Mechanis- mus des Stoffwechsels dadurch eine Störung erleidet, bewirken theils schon nach kürzester, theils erst nach andauernder Einwirkung den Tod, sei es, dass derselbe sehr schnell erfolgt, sei es, dass er erst das Ende langer nekrobiotischer Veränderungen vorstellt. Wirken z. B. irgend welche Mineralsäuren oder Metallsalze auf die lebendige Sub- stanz der Zelle ein, so geht die Zelle unfehlbar zu Grunde, weil alles Eiweiss durch diese Stoffe gefällt oder chemisch gebunden wird, so dass der Stoftwechsel still stehen muss. Andere auf alle lebendige Substanz einAvirkende Gifte sind die Anaesthetica (Chloroform, Aether, Alkohol), deren Dämpfe bei dauernder Einwirkung schliesslich alle Lebenserscheinungen zum Stillstand bringen, mag es sich um Pflanzen, Thiere oder einzellige Wesen handeln ^). Auf welcher Veränderung der lebendigen Substanz aber diese eigenthümliche Wirkung der Anaesthetica beruht, das entzieht sich vorläufig noch vollkommen unserer Kenntniss, und dasselbe müssen wir von der grossen Mehrzahl aller Gifte sagen, die theils auf alle lebendige Substanz, theils nur auf ganz bestimmte Zellen wirken.

^) Claude Beenaed : „Le9ons sur les phenomenes de la vie communs aux auimaux et aux vegetaux.'" T. I. Paris 1878.

342 Viertes Capitel.

Wie die Gifte wirkt auch die Elektricität in grösserer Intensität dadurch schädlich auf die lebendige Substanz, dass sie chemische Ver- änderungen in derselben erzeugt. Es ist bekannt, dass man chemische Verbindungen, die sich in Lösung befinden, durch einen galvanischen Strom elektrolytisch zersetzen kann. Ebenso werden auch die Ver- bindungen der lebendigen Substanz durch starke galvaniche Ströme zersetzt, so dass die lebendige Substanz getödtet wird und zerfällt.

So liegen, wenn auch der speciellere Verlauf ihrer Folgen zum Theil noch wenig bekannt ist, die äusseren Todesursachen doch klar und deutlich an der Oberfläche.

Ganz anders ist es dagegen mit den inneren Todesursachen. Sie sind noch immer in tiefes Dunkel gehüllt. Ja, viele Forscher glauben, dass es gar keine inneren Todesursachen gäbe, die in den Eigenschaften der lebendigen Substanz selbst begründet sind, und er- klären den Eintritt des Todes im Greisenalter bei Leuten, die niemals krank gewesen sind, durch die allmähliche Anhäufung unmerklich kleiner Störungen während des ganzen Lebens. Das ist in der That diejenige Lösung des Problems, der man am häufigsten begegnet. Aber sie scheint doch sehr wenig zureichend. Schon Johannes Müller ^) fühlte sich nicht davon befriedigt. Es sagt in dem Abschnitt seines Handbuches über die „Vergänglichkeit der organischen Körper" : „Die Frage, warum die organischen Körper vergehen, und warum die organische Kraft aus den producirenden Theilen in die jungen, leben- den Producte der organischen Körper übergeht und die alten produ- cirenden Theile vergehen, ist eine der schwierigsten der ganzen all- gemeinen Physiologie, und wir sind nicht im Stande, das letzte Räthsel zu lösen, sondern nur den Zusammenhang der Erscheinungen darzustellen. Es würde ungenügend sein , hierauf zu antworten , dass die unorganischen Einwirkungen das Leben allmählich aufreiben; denn dann müsste die organische Kraft vom Anfang eines Wesens schon abzunehmen anfangen. Es ist aber bekannt, dass die organische Kraft zur Zeit der Mannbarkeit noch in solcher Vollkommenheit be- steht, dass sie sich in der Keimbildung multiplicirt. Es muss also eine ganz andere und tiefer liegende Ursache sein , welche den Tod der Individuen bedingt, während sie die Fortpflanzung der organischen Kraft von einem Individuum zum andern und auf diesem Wege ihre Unvergänglichkeit sichert." Derartige Einwände lassen sich noch viele machen. Wäre die Ansicht, dass der Tod durch Summation der Wirkungen von äusseren Schädlichkeiten herbeigeführt wird, richtig, so sollte man z. B. auch erwarten, dass es einem Menschen, der sehr regelmässig lebt und alle Schädlichkeiten möglichst vermeidet, gelingen müsste, ungeheuer viel älter zu werden, als Jemand, der unregelmässig lebt und sich vielen Strapazen aussetzt. Allein selbst wenn sich hier in manchen Fällen eine Difi"erenz herausstellte, so wäre sie doch immer nur verschwindend, denn die ältesten Menschen sind nicht viel über 120 Jahre alt geworden, und das waren durchaus nicht immer Leute von besonders regelmässigem Lebenswandel. Dazu kommt ein anderer Umstand. Bei allen Menschen ohne Ausnahme, mögen sie in ihrem Leben den grössten oder den geringsten Schädlichkeiten aus- gesetzt gewesen sein, mögen sie oft oder nie krank gewesen sein,

^1 Johannes Müllek: .,Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen." Bd. I, 4. Aufl. Coblenz 1844.

Von den allgcniciueu Lol)eusbodiiigiui<,'en. 343

iTKigen sie diese oder jene Krankheit gehabt haben, bei allen treten im Greisenalter dieselben Greisenerscheinungen ein, die in atropiiischen Processen fast aller Organe bestehen. Cohnheim ') bahnt daher, be- sonders im Hinblick auf" den letzteren Umstand, mit Recht eine andere Erklärung an, indem er sagt: „Gerade die Constanz, mit der im Greisenalter, gleichgültig, ob viel oder wenig, und besonders welche pathologischen Vorgänge im Leben eines Individuum gespielt haben, an sännntlichen Organen des Körpers eine mehr oder weniger ausgesprochene Atrophie sich einstellt, spricht meines Erachtens ganz evident dafür, dass die Bedingungen der senilen Atrophie, so zu sagen, physioh^gische sind." Auf denselben Standpunkt stellt sich auch Sedgwick Minot ^) in seinen Untersuchungen über das Wachsthum und die Alterserscheinungen. In der That, wenn man den Menschen nicht als etwas Fertiges, Unveränderliches betrachtet, wenn man vielmehr seine ganze Entwicklung ins Auge fasst, wie er, obwohl immer unter denselben äusseren Bedingungen lebend, sich auch nach der Geburt noch mehr und mehr verändert, Avie schon im Kindesalter normaler Weise manche Organe, wie die Thymusdrüse, atrophiren, obwohl nicht die geringsten Schädlichkeiten von aussen auf sie einwirken, wie später bei allen Frauen noch in ihrem kräftigsten Lebensalter die Genitalien sich zurückbilden etc. etc., dann wird man keinen Zweifel mehr hegen können, dass die senile Atrophie, die schliess- lich zum Tode aus Altersschwäche führt, nur das letzte Ende der langen Entwicklungs reihe ist, die der Mensch wie jedes T h i e r während seines individuellen Lebens durchlaufen muss. In Wirklichkeit giebt es keinen Stillstand im Leben des Organismus. Ebenso wie sich der erwachsene Organis- mus aus der kleinen Eizelle allmählich entwickelt, ohne dass seine äusseren Lebensbedingungen, wie das z. B. bei vielen im Wasser lebenden Thieren der Fall ist, sich auch nur im Geringsten verändern, ebenso entwickelt er sich auch, wenn auch mit verschiedener Ge- schwindigkeit, allmählich weiter zum greisen und schliesslich zum todten Organismus. Die Eizelle ist der Anfang, der sterbende Greis das natürliche Ende einer ununterbrochenen Entwicklung, deren Ur- sache in der eigenthümlichen Zusammensetzung der lebendigen Substanz liegt, die bereits die Eizelle auf ihren Lebensweg mit bekommen hat. Es dürfte daher richtiger sein, an die Stelle der landläufigen Ansicht, dass der Tod durch die dauernde Summation äusserer Ursachen be- dingt sei, die Vorstellung zu setzen, dass die Ursachen des sogenannten ., natürlichen" Todes im lebendigen Organismus selbst ge- legen sind.

Aus der Berechtigung dieser Vorstellung wird aber sofort eine Noth wendigkeit, wenn Avir uns nicht feloss auf den Menschen be- schränken, sondern wenn wir die Geschichte des Todes in der Orga- nismenwelt vergleichend betrachten. Dass die Auffassung des Todes als Endglied der Entwicklungsreihe erst so spät hervortreten konnte, liegt vor Allem an der Ansicht, dass der Mensch, wenn er erwachsen ist, seine Entwicklung vollendet habe und sich Jahre und Jahrzehnte

^) Cohnheim: „Vorlesungen über allgemeine Pathologie." Bd. I, 2. Aufl. Berlin 1892.

2) Charles Sedgwick Mixot: ,,0n certain phenomena of growing old." In Proceedings of the American assoeiation for the advancement of science." Vol. XXXIX, 1890. Ders.: „Senescence and rejuvenation." In .Journ. of Physiol. vol. XII, 1891.

344 Viertes Capitel.

lang- in einem stationären Zustande befinde. Diese Ansicht ist aber durchaus falsch und wird nur durch den Umstand erweckt, dass die Entwicklung des erwachsenen Menschen so ungemein viel langsamer geschieht, als die Entwicklung in seinen ersten Embryonal- und Jugend- stadien. In Wirklichkeit aber hört die Entwicklung nie auf. Die Ver- änderungen sehen wir ja auch deutlich genug, wenn wir die Zustände des Erwachsenen innerhalb längerer Zwischenräume vergleichen. Wenn auch keine neuen Organe mehr gebildet werden, so ist doch immerhin der Dreissiger ein anderer Mensch als der Vierziger, der Vierziger ein anderer als der Eünfziger und Sechziger u. s. f. Ein stationärer Zustand tritt nie ein, und wir wissen ja jetzt auch, dass die Zell- theilungen, auf denen von der Theilung der Eizelle an alle Entwick- lung beruht, auch beim Erwachsenen und selbst beim Greise noch stattlinden, nur immer langsamer und langsamer. Allein, was beim Menschen schwerer zu erkennen ist, das zeigt uns ein Blick auf die Verhältnisse, wie sie z. B. bei den Insecten bestehen, ohne Weiteres. Während beim Menschen die Lebenszeit des Erwachsenen gegenüber der Embryonalzeit eine ausserordentlich lange ist, haben wir bei den meisten Insecten das umgekehrte Verhältniss. Viele Insecten sterben sehr bald nach der Begattung oder der Eiablage, und nur die nicht zur Begattung gekommenen Individuen leben bisweilen länger. Das beste Beispiel liefern die Eintagsfliegen. Hier leben die erwachsenen und „fertig" ausgebildeten Insecten häutig nur Avenige Stunden. Sie sterben unmittelbar nach der Eiablage. Diese Thatsachen beweisen am allerschlagendsten , dass es nicht die summirte Wirkung vieler äusserlicher Schädlichkeiten sein kann, welche den Tod herbeiführt, sondern dass die Ursachen des Todes im Organismus selbst schon angelegt sind, und dass der Tod nur das natürliche Ende der Ent- Avicklung vorstellt. Das Problem der Entwicklung und das Problem des Todes gehören also untrennbar zusammen, das letztere ist nur ein Theil des ersteren.

Fassen wir das Ergebniss dieser Betrachtung noch einmal mit etwas anderen Worten zusammen. Unsere Vorstellung von den Ur- sachen des natürlichen Todes ist gegründet auf den wichtigen Satz, dass der Organismus sich von seiner individuellen Entstehung an bis zu seinem Tode ununterbrochen verändert. Die verschiedenen Theile des Organismus nehmen aber in sehr verschiedenem Grrade und mit sehr verschiedener Geschwindigkeit an den Veränderungen Theil. Auf diese Weise bildet sich im Leben eines jeden Organismus all- mählich ein Zeitpunkt heraus , wo das Getriebe seines Mechanismus durch die in seiner Entwicklung eintretenden Veränderungen der einzelnen Teile eine solche Störung erfahren hat, dass er dem Tode verfällt. Für den vielzelligÄi Organismus heisst das, dass die ver- schiedenen Zellen und Zeligruppen seiner Organe sich aus inneren Gründen in ihrer Entwicklung allmählich so verändern, dass bei dem engen Abhängigkeitsverhältniss, in dem alle Zellen, Gewebe und Organe zu einander stehen, die Störung des Zusammenwirkens immer grösser wird, bis der Organismus zu Grunde geht. Dabei können die un- mittelbaren Todesursachen für die verschiedenen Zellen des viel- zelligen Organismus sehr verschiedene sein. Ein grosser Theil der Zellen und Gewebe geht sogar stets durch ausser ihm, aber doch immer im Oi'- ganismus selbst gelegene Ursachen zu Grunde, Aveil die Theile, von denen diese Zellen abhängig sind, die zu ihren äusseren Lebensbedingungen

Von den allgfineinoii Lcbensbc{liiijjiiii>;-cu. 345

gehören, wie z. B. die Ncrvencentra, Störungen erlitten haben und zu Grunde gegangen sind. Sind z. V>. die Ganglienz(;llen, deren Thätig- keit die Athembewegung bcheri'scht, gestorben, so hört die Athmung auf, das Herz steht still, es cireulirt kein Blut mehr in den Geweben, die Gewebezellen Averden nicht mehr ei-nährt und die sämmtlichen Gewebe sterben früher oder später ebenfalls, weil ihre äusseren Lebens- bedingungen ihnen entzogen sind. Stirbt aber die einzelne Gewebe- zelle nicht durch äussere Todesursachen, so gilt für sie genau das- selbe, was für den Zellenstaat gilt: Der Zustand ihrer lebendigen Substanz verändert sich aus inneren Ursachen ununterbrochen, und es entwickelt sich allmählich ein Zeitpunkt, wo die Störungen in dem Zusammenwirken ihrer Bestandteile so gross geworden sind, dass das Leben aufhört. Damit sind zwar die speciellen Vorgänge in der lebendigen Substanz, deren Folge der Tod ist, noch nicht aufgedeckt, ebensowenig wie der Mechanismus der Entwicklung und des Lebens überhaupt; allein es ist doch zunächst eine Vereinfachung und eine schärfere Formulirung des Problems damit gegeben, die uns dem Ver- ständniss etwas näher bringt.

Das Problem der Entwicklung und das Problem des Todes ent- hält dieselbe Frage, die Frage: warum verändert sich die lebendige Substanz während ihres individuellen Lebens fortdauernd? Erst das tiefere Eindringen in den Chemismus der lebendigen Zelle wird im Stande sein, die speciellen Ursachen für diese Erscheinung auf- zudecken.

2. Die Frage nach der körperlichen Unsterblichkeit.

Betrachten wir den natürlichen Tod von dem eben gewonnenen Standpunkte, so drängt sich uns immer mehr eine Frage auf, die in dem letzten Jahrzehnt von naturwissenschaftlicher Seite lebhaft erörtert w^orden ist, das ist die Frage, ob es nicht Organismen giebt, für die der Tod keine Notwendigkeit ist.

Es lässt sich nämlich offenbar ein Organismus denken, dessen Entwicklung eine derartige ist, dass niemals eine Störung sich heraus- bildet, die das Zusammenwirken der einzelnen Theile unmöglich machte. Das wäre z. B. der Fall, wenn die Veränderungen, die während der Entwicklung des betreffenden Organismus ununterbrochen auftreten, eine Reihe von periodisch wiederkehrenden Gliedern bildeten. Eine solche Entwicklung könnte man sich bildlich etwa in Form der Auflösung eines unendlichen Bruches vorstellen, der in einen Decimal- bruch verwandelt, eine periodische Reihe gäbe, während sich die Entwicklung eines dem Tode geweihten Organismus der Auflösung eines endlichen Bruches vergleichen liesse. Ein solcher hypothetischer Organismus müsste theoretisch unter stets genau gleich bleibenden äusseren Bedingungen unsterblich sein. Es fragt sich aber, ob solche Organismen in Wirklichkeit existiren.

Weismann glaubt diese Frage bejahen zu müssen, und es ist in- teressant, seiner Erörterung zu folgen. Weismann ^) findet einen fundamentalen Unterschied zwischen den vielzelligen Organismen und den einzelligen Protisten. Ausgehend von dem Gedanken, dass man

^) A. Weismann: „Ueber die Dauer des Lebens." Jena 1882. Derselbe: „lieber Leben und Tod." Jena 1884.

346 Viertes Capitel.

von Tod nur da sprechen könne, wo nachher eine Leiche ist, be- trachtet er die sämmtlichen vielzelligen Organismen als sterblich, die einzelligen dagegen als unsterblich. Bei den vielzelligen Organismen ist kein Fall bekannt, wo der Körper nicht früher oder später zu Grunde geht, also stirbt. Bei den einzelligen dagegen ist das nicht der Fall. Ein einzelliges Infusorium z. B. liefert, wenn es nicht das Opfer einer äusseren Katastrophe wird, niemals eine Leiche. Es wächst und theilt sich, wenn es eine bestimmte Grösse erreicht hat, in zwei Hälften, aber jede von beiden Hälften wächst wieder ebenso und theilt sich später gleichfalls u. s. f., und Weismann ist der Ansicht, dass das unendlich oft sich wiederholt. Da aber beide Theilhälften voll- ständig gleich sind, und da die Art nur durch fortgesetzte Theilung erhalten werden kann, so findet man nie eine Leiche, und nie stirbt eine Theilhälfte ohne äussere Ursachen. Demnach sind die einzelligen Organismen nach Weismann's Vorstellung „unsterblich". Weismann bestreitet daher, dass der Tod eine im Wesen aller lebendigen Sub- stanz begründete Erscheinung sei, und glaubt nicht, dass er „auf rein inneren , in der Natur des Lebens selbst liegenden Ursachen" beruhe. Er hält vielmehr den Tod für eine A n p a s s u n g s e r s c h e i n u n g , die erst im Laufe der Organismenentwicklung auf der Erde als zweck- mässig sich herausgebildet habe, und stellt sich seine Entstehung in der Organismenreihe etwa folgendermaassen vor. Bei den einzelligen Protisten haben wir alle Functionen des Körpers, und auch die Function der Fortpflanzung noch in einer einzigen Zelle. Wäre der natürliche Tod daher eine Nothwendigkeit für den einzelligen Organismus, so wäre die Fortpflanzung mit seinem Tode zu Ende, und da bei der Gleichheit der Theilhälften für alle das Gleiche gilt, Avürde die be- treffende Organismenform nach kurzer Zeit ausgestorben sein. Der Tod ist also bei den Einzelligen deshalb nicht möglich, so stellt sich Weismann vor, weil die Art sonst aussterben Avürde. Bei den viel- zelligen Organismen dagegen bildet sich , je höher wir in der Orga- nismenreihe hinaufgehen, um so mehr ein Gegensatz heraus zwischen den Geschlechtszellen, die nur der Fortpflanzung, also der Erhaltung der Art dienen, und den Zellen des übrigen Körpers, die bei den höheren Thieren die Fähigkeit, die Art fortzupflanzen, vollständig ver- loren haben. Hier ist also die Möglichkeit des Todes gegeben, ohne dass die Erhaltung der Art darunter leidet; denn wenn nur Eine Fort- pflanzungszelle wirklich zur Fortpflanzung gelangt, wenn nur Ein Ei sich entwickelt, dann kann der ganze übrige Körper zu Grunde gehen, ohne dass die Art ausstirbt. Da nun, wie Weismann sagt, „eine un- begrenzte Dauer des Individuums ein ganz unzweckmässiger Luxus wäre", so hat sich nach den bekannten Principien der Selection die Unsterblichkeit als unzweckmässig verloren und der Tod entwickelt. „Bei einzelligen Thieren war es nicht möglich, den nor- malen Tod einzurichten, weil Individuum und Fort- pflanzungszelle noch ein und dasselbe waren, bei den vielzelligen Organismen trennten sich somatische und Pro pagationsz eilen, der Tod wurde möglich, und wir sehen, dass er auch eingerichtet wurde."

Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Ausführungen Weismann's sehr plausibel klingen, aber doch sind sie nicht frei von Angriffs- punkten und haben bereits mehrfach lebhaften Widerspruch hervor- gerufen.

Von (Ion allpfemeinen Lebensbedingungen. 347

Vor Allem ist immer die Berechtigung bestritten worden, die ein- zelligen Organismen nur deshalb für unsterblich zu erklären, weil ihr Körper niemals in ihrem Leben eine Leiche wird. j\Ian hat bei der Fixirung des Todesbegriüs den Ton mehr auf das Aufliören des individuellen Lebens gelegt und hat gesagt: wenn der einzellige Organismus sich in zwei Hälften theilt, dann ist damit seine indivi- duelle Existenz beendigt; wo aber die individuelle Existenz aufhört, da kann von einer Unsterblichkeit nicht die Rede sein, da ist in Wirklichkeit das Individuum gestorben; Tod und Fortpflanzung falle hier nur zusammen. Es liegt aber auf der Hand, dass es sich bei dieser Polemik nur um einen BegrifFsstreit handelt, der die Er- scheinungen selbst unberührt lässt ; denn es ist schliesslich Geschmacks- sache, ob man das wesentliche Moment des Todes in dem Entstehen einer Leiche oder allgemeiner in dem Ende der individuellen Existenz erblicken will.

Dagegen lässt sich die fundamentale Unterscheidung, die Weis- mann bezüglich der Unsterblichkeit zwischen einzelligen und viel- zelligen Organismen macht, von einer anderen Seite aus wirklich an- fechten. Die Theorie Weismann's von der Unsterblichkeit der ein- zelligen Organismen beruht, wie wir sahen, auf der Voraussetzung, dass die Fortpflanzung der Einzelligen durch Theilung ins Unendliche vor sich gehen könne, ohne dass jemals ein Rest, eine Leiche übrig bliebe. Allein es fragt sich, ob diese Voraussetzung richtig ist.

Maupas ^) hat vor wenigen Jahren an Infusorien eine Reihe aus- gezeichneter Untersuchungen ausgeführt, aus denen hervorgeht, dass das für die Infusorien nicht der Fall ist. Er züchtete nämlich In- fusorien in Culturen durch viele Generationen hindurch und fand, dass nach einer grossen Anzahl hintereinander folgender Theilungen die Infusorien allmählich Veränderungen zeigten, die unfehlbar zum Tode führten, wenn nicht nach einer längeren Periode von Theilungen, die oft zu Hunderten von Generationen führten, den Infusorien Gelegen- heit gegeben war, mit einander in Conjugation zu treten, d. h. jene Wechselbeziehung einzugehen, die bei den Einzelligen dem Befruch- tungsprocess der höheren Thiere entspricht^). Nur wenn einer Reihe von Theilungen eine Conjugationsperiode folgte, waren die aus der Conjugation sich trennenden Individuen wieder in der Lage, sich un- verändert weiter zu theilen, ohne allmählich dem Tode zu verfallen. Wenn die aus der Theilung hervorgehenden Individuen aber nach jeder Theilung immer wieder isolirt werden, so gehen sie nach einiger Zeit unrettbar zu Grunde. Hier haben wir also eine wirkliche Alters- erscheinung, die der „senilen Atrophie" der Gewebezellen beim Menschen und den höheren Thieren vollkommen entspricht, und Maüpas selbst sieht sich daher veranlasst, die Unsterblichkeitslehre Weismann's zu verwerfen. Aber an diesem Punkte ergreift Grüber ^) für Weismann das Wort, um die Unsterblichkeitslehre zu retten, und sagt: „Diejenigen Individuen, welche durch Zufall nicht zur Conjugation gelangen, gehen allerdings zu Grunde, die Materie der anderen aber lebt in der That ewig fort." Da nun die Conjugation in der Natur

J) Maupas: „Recherches experimentales sur la multiplication des infusoires eilies." In Arch. de zool. experimentale et generale, Tome 6, Serie 2.

2) Vergl. pag. 204.

3) Gruber: „Biologische Studien an Protisten." In Biol. Centralbl. Bd. IX, 1889,

348 Viertes Capitel.

meistens vorkommt denn sonst wären schon längst alle Infusorien ausgestorben , so, meint Grübek, sind die Infusorien wirklich un- sterblich. Indessen wenn wir auch die Berechtigung dieses Arguments anerkennen wollten, so würde doch noch eine andere Thatsache zu beachten sein. R. Hertwig ^) nämlich, der die Vorgänge bei der Conjugation sehr genau studirt hat, stellte fest, dass ein Theil jeder Zelle dabei zu Grunde geht, nämlich der Hauptkern und ein Theil der aus fortgesetzter Tiieilung der Nebenkerne hervorgegangenen Tochterkerne. Diese Zellbestandtheile zerfallen in kleine Trümmer, die schliesslich vollständig vom Protoplasma aufgelöst werden^). Hier haben wir also wirklich sterbende Theile des Individuums. , Dass das aus ihrem Zerfall stammende Material schliesslich Avieder von der Zelle verbraucht wird, wie die aufgenommene Nahrung, schafft die Thatsache nicht aus der Welt, dass diese Theile Avirklich sterben. Die bei der Histolyse des Kaulquappenschwanzes zerfallenden Zellen, deren Tod Niemand bestreiten wird , Averden ja ebenso Avieder als Material zum Aufbau anderer (Jrgane verwerthet. Haben Avir aber bei der Conjugation der Infusorien AA'irklich sterbende Theile, Avirkliche Leichentheile, so fällt der fundamentale Gegensatz zwischen einzelligen und vielzelligen Organismen, den Weismaxx aufstellt, fort, und der ganze Unterschied liegt nur in dem quantitatiA-en Verhältniss zwischen überlebender und sterbender Substanz, denn auch bei den vielzelligen Organismen sterben nur die Körperzellen, Avährend die Fortpflanzungszellen am Leben bleiben können. Ja, es AA^äre durchaus nicht einmal allgemein richtig, Avenn man sagen Avollte, dass bei den vielzelligen Organismen eine ungeheuer grosse Masse, nämlich der ganze Körper stirbt, und nur Avinzige Mengen, nämlich Eier oder Spermatozoen am Leben bleiben , AA'ährend bei den Infusorien der grössere Theil am Leben bleibt und der kleinere Theil stirljt. Fassen Avir nicht bloss den Menschen ins Auge, so haben Avir Beispiele unter den Thieren , avo das Verhältniss gar nicht von dem Verhältniss bei den Infusorien abAveicht. Ja, ein Froschweibchen z. B. producirt im Laufe seines Lebens eine Masse von Eiern , die im Verhältniss zu seinem Körper sogar bedeutend grösser ist, als die Masse von Zell- substanz, Avelche im Infusorienkörper bei der Conjugation am Leben bleibt, gegenüber der, Avelche zu Grunde geht. Ist daher der Frosch und überhaupt der \^ielzellige Organismus sterblich, so sind es die einzelligen Infusorien auch; in beiden Fällen ist es nur ein Theil der lebendigen Substanz des IndiAMduums, der auf die Nachkommen übertragen wird.

Aber nicht nur im Leben der Infusorien , sondern auch anderer einzelliger Organismen giebt es periodisch wiederkehrende Vorgänge, bei denen Theile ihres Körpers zu Grunde gehen. Eine grosse An- zahl von Protisten pflanzt sich z. B. durch Sporenbildung fort. Ver- folgen Avir bei einem grösseren Radiolar . etAva Thalassicolla, diesen Vorgang, der durch R. Hertavig und Brandt genauer be- kannt geworden ist, so finden wir, dass der Kern in der Central- kapsel in lauter kleine Kernchen zerfällt, die sich mit einer Proto- plasmamasse umgeben und zu Anelen kleinen SchAA'ärmsporen entwickeln.

') R. Hkrtwig: .,Ueber die Conjugation der Infusorien.'" In Abhandl. d. kgl. bayer. Akad. d. Wiss.,' II. Classe, XVII. Bd. Münclien 1889. 2) Vergl. pag. 205.

Von doli allgemeinen Lcbensbodingiinfjjon. 349

wülireiid der ganze inilchtige extrukiipsulüre Protoplasmakfirper und auc'li ein Tlieil des intrakapsularen Protoplasmas , das nicht bei der Sporenbildung' verbraucht wird, vollkommen zu Grunde geht. Hier haben wir ebenfalls wieder, und vielleicht noch augenfälliger als bei den Infusorien, Avirkliche Leichentheile. Wir sehen also : für die grosse ]\Iehrzahl aller einzelligen Organismen, für alle, deren Entwicklungs- gang bisher am eingehendsten studirt worden ist, stimmt die Weis- MANN'sche Auffassung nicht.

Schliesslich wäre die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass es Pro- tisten gäbe oder im Laufe der Stammesentwicklung der lebendigen Substanz einmal gegeben habe, deren Entwicklungskreis so einftich wäre, dass ihre lebendige Substanz ohne Conjugation und ohne Sporen- l)ildung immer nur wüchse und, wenn sie ein bestimmtes Volumen erreicht hätte, sich ohne Rest theilte, um wieder zu wachsen und sich wieder zu theilen, solange es die äusseren Verhältnisse ge- statten. Solche Protisten wären nach der WEiSMANN'schen Auf- fassung wirklich unsterbliche Wesen , aber gerade an diesem Punkte zeigt sich vielleicht am deutlichsten die schwache Stelle der Un- sterblichkeitslehre. Stellen wir uns nämlich auf den WEiSMANN'schen Standpunkt, dass nicht das Aufhören der Existenz des Individuums, sondern die Umwandlung von lebendiger Substanz in ^ eine Leiche, d. h. in leblose Substanz, maassgebend ist für den Begriff des Todes, dann fällt die Frage nach der Existenz unsterblicher Organismen mit der Frage nach der Unsterblichkeit der lebendigen Substanz überhaupt zusammen. Die lebendige Substanz aber für un- sterblich zu erklären, wird sich kaum Jemand entschliessen können, der die charakteristischste Eigenthümlichkeit der lebendigen Substanz im Auge behält, die Eigenthümlichkeit, dass sie fortwährend zerfällt, d. h. sich in todte Substanz verwandelt, also stirbt. Es giebt keine lebendige Substanz, die nicht, solange sie überhaupt lebt, fortwährend in einzelnen Theilen zerfällt, Avährend sie sich in anderen neu bildet. Kein lebendiges Molekül aber bleibt von diesem Zerfall verschont, nur ergreift der Zerfall nicht alle Moleküle gleichzeitig, sondern während das eine zerfällt, entsteht ein anderes u. s. f. Ein lebendiges Theil- chen liefert die Bedingungen für die Entstehung eines oder mehrerer anderer, stirbt aber selbst. Die neu entstandenen geben wieder neuen ihre Entstehung und sterben ebenfalls. Auf diese W^eise stirbt die lebendige Substanz fortwährend, ohne dass das Leben selbst jemals erlischt. Es ist also keine Unsterblichkeit der lebendigen Sub- stanz selbst, sondern nur eine C ontinui tat in ihrer Descendenz vor- handen. Nur das Leben, als Bewegungscomplex, ist seit seiner ersten Entstehung auf der Erde bis jetzt nicht ausgestorben, die lebendige Substanz dagegen, als Körper, stirbt fortwährend. Allein nicht einmal das Leben als Bewegungscomplex besitzt eine wahre Unsterblichkeit, ebensowenig w4e es von Unendlichkeit her be- steht. Wie wir wissen, dass unser Erdkörper in seiner Entwicklung eine Zeit durchgemacht hat, wo noch kein Leben bestehen konnte, ebenso Avissen Avir, dass er auch Avieder eine Zeit durchmachen wird, wo alles Leben erlöschen muss. Der Mond zeigt uns das Schicksal, das der Erde bevorsteht, schon jetzt. Als flüssiger Tropfen, der von der grossen glühenden Erdmasse einst abgeschleudert Avorden ist, hat er in kürzerer Zeit im Wesentlichen dieselbe Entwicklung durch- gemacht Avie die Erde, die ihm seine Entstehung gab. Die eisige

350 Viertes Capitel. Von den allgemeinen Lebensbedingungen.

Erstarrung, die jetzt den Mond beherrscht, wird auch die Erde einst ergreifen und alles Leben auf ihr vernichten. Nicht ein bestimmtes materielles System, wie die lebendige Substanz, n icht ein bestimmter Bewegung scomplex, wie das Leben, ist unsterblich, unsterblich und ewig ist von der ganzen K ö r p e r w e 1 1 nur die elementare AI a t e r i e und ihre Be- wegung.

Heraklit hat das Leben mit dem Feuer in Beziehung gebracht. In der That haben wir schon mehrfach Gelegenheit gehabt, den Ver- gleich des Lebens mit dem Feuer als einen sehr glücklichen kennen zu lernen. Die Betrachtung der Lebensbedingungen bestärkt uns darin. Sie hat uns gezeigt, dass das Leben wie das Feuer eine Naturerscheinung ist, welche eintritt, sobald der Bedingungs- complex für sie erfüllt ist. Sind die Bedingungen für die Erscheinung des Lebens alle verwirklicht, dann muss Leben entstehen mit der- selben Nothwendigkeit , wie Feuer entsteht , wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Ebenso muss das Leben aufhören, sobald der Complex der Lebensbedingungen eine Störung erfahren hat, und zwar mit derselben Nothwendigkeit, Avie das Feuer erlischt, wenn die Be- dingungen für seine Unterhaltung aufhören.

Stellen wir uns daher vor, dass wir alle Lebensbedingungen bis in ihre kleinsten Einzelheiten erforscht hätten, und dass es uns ge- länge, diesen Complex von Bedingungen genau künstlich herzustellen, dann würden wir Leben synthetisch erzeugen können, wie wir Feuer erzeugen, und das Ideal, das den mittelalterlichen Alchymisten in der Erzeugung des Homunculus vorschwebte, wäre wirklich erreicht.

Allein so wenig diese theoretische Möglichkeit zu bestreiten ist, so verkehrt muss jeder Versuch erscheinen, schon jetzt Leben künstlich erzeugen und den Act der Urzeugung, der in so tiefes Dunkel gehüllt ist, im Laboratorium nachahmen zu wollen. Solange unsere Kennt- niss, besonders der inneren Lebensbedingungen, d. h. der Zusammen- setzung der lebendigen Substanz, so verschwindend gering ist, wie jetzt, solange gleicht der Versuch , lebendige Substanz künstlich zusammen- zusetzen, dem Unternehmen eines Ingenieurs, eine Maschine zusammen- zusetzen, deren wichtigste Theile ihm fehlen. Die Aufgabe der Physiologie kann vorläufig nur in der Erforschung des Lebens bestehen. Erst wenn die Physiologie dieses Ziel Avirklich einmal er- reicht haben sollte, dann könnte sie daran denken, mit der künstlichen Herstellung von Leben die Probe darauf zu machen , ob die Lösung ihrer Aufgabe vollendet und richtig war.

Fünftes Capitel. Von den Reizen und ihren Wirkungen.

I. Das Wesen der Reizung.

A. Das Verhältniss der Reize zu den Lebensbedingungen.

1. Die Reizqualitäten.

2. Die Reizintensität.

3. Die trophischen Reize.

B. Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz.

1. Der Begriff der Reizbarkeit und die Art der Reiz- wirkungen.

2. Die Dauer der Reizwirkungen.

3. Die Reizleitung.

n. Die Reizerscheinungen der Zelle.

A. Die Wirkungen der verschiedeneu Reizqualitäten.

1. Die Wirkungen chemischer Reize.

a, Erregungserscheinungen.

b. Lähmungserscheinungen.

2. Die Wirkungen mechanischer Reize.

a. Erregungserscheinungen.

b. Lähmungserscheinungen,

3. Die Wirkungen thermischer Reize.

a. Erregungserscheinungen.

b. Lähmungserscheinungen.

4. Die Wirkungen photischer Reize.

a. Erreguugserscheinungen.

b. Lähmungserscheinuugen.

5. Die Wirkungen elektrischer Reize.

a. Erregungserscheinungen.

b. Lähmungserscheinungen.

B. Die bewegungsrichtenden Wirkungen einseitiger Reizung.

1. Die Chemotaxis.

2. Die Barotaxis.

3. Die Phototaxis.

4. Die Thermotaxis.

5. Die Galvanotaxis.

C. Die Erscheinungen der Ueberreizung.

1. Ermüdung und Erschöpfung.

2. Erregung und Lähmung. 8. Tod durch Ueberreizung.

352 Fünftes Capitel.

\\ enn der Physiker eine Naturerscheinung erforschen will, dann begnügt er sich nicht damit, die Bedingungen festzustellen, unter denen sie eintritt, sondern er sucht auch zu erfahren, wie sich die Er- scheinung gestaltet, wenn er die Bedingungen verändert.

Das Leben ist eine Naturerscheinung. Wir haben die Lebens- erscheinungen kennen gelernt, wir haben auch die Bedingungen fest- gestellt, unter denen sie eintreten, und wir haben die Folgen der gänzlichen Entziehung dieser Bedingungen gesehen. Was uns übrig bleibt, das ist: zu erfahren, wie sich die Lebenserscheinungen ver- halten, wenn wir die Lebensbedingungen nicht entziehen, sondern nur verändern, und wenn wir ausser den allgemeinen Lebensbedingungen andere, neue Bedingungen auf die lebendige Substanz einwirken lassen. Man hat die Lebenserscheinungen, wie sie eintreten, wenn alle äusseren Lebensbedingungen dauernd und unverändert erfüllt bleiben , als spontane Lebenserscheinungen bezeichnet und ihnen die- jenigen Erscheinungen, welche eintreten, wenn andere Einflüsse auf sie einwirken, als Reizerscheinungen gegenübergestellt. Wir können diese Unterscheidung beibehalten, allein wir müssen uns doch bewusst bleiben, dass die Spontaneität keine unbedingte ist, dass in Wirklichkeit die spontanen Lebenserscheinungen nicht minder auf einer AYechselwirkung der lebendigen Substanz mit der Aussenwelt beruhen, als die Reizerscheinungen. Die spontanen Lebenserscheinungen repräsentiren nur die Reaction der lebendigen Substanz auf die normalen äusseren Lebensbedingungen, die Reizerscheinungen da- gegen die Reaction der lebendigen Substanz auf die veränderten äusseren Lebensbedingungen. Aber es ist in vielen Fällen überhaupt nicht möglich, zu entscheiden, ob eine Erscheinung eine spontane oder eine Reizerscheinung in diesem Sinne ist. weil eben auch in der Natur die äusseren Bedingungen eines Organismus nicht continuirlich gleich bleiben, sondern sich häufig in einer Weise verändern, die sich selbst unseren feinsten Untersuchunofsmethoden entzieht. Um daher die Reizerscheinungen in unzweifelhafter Fonn zu studiren, wählen wir den Weg des Experiments und erzeugen sie künstlich, indem wir Reize auf die lebendige Substanz einwirken lassen. Dadurch ge- winnen wir den unschätzbaren Vortheil, dass wir die Bedingungen, unter denen die Reizerscheinungen eintreten, selbst in der Hand haben und genau controliren, so dass wir mit den Lebenserscheinungen wie mit jeder einfachen physikalischen Erscheinung experimentiren können.

I. Das Wesen der ßeizimg.

Die allgemeine Definition des Reizbegriffs ergiebt sich aus dem Gesagten ohne Weiteres : Jede Veränderung der äusseren Factoren, welche auf einen Organismus einwirken, kann als Reiz betrachtet werden. Trifft der Reiz auf einen Körper, der die Eigenschaft der Reizbarkeit besi.zt, d. h. die Fähigkeit, auf Reize zu reagiren, so haben wir den Vorgang der Reizung in seiner Vollständigkeit. Allein es ist doch nöthig, die all- gemeinen Eigenthümlichkeiten des Reizungsvorgangs im Einzelnen noch etwas näher ins Auge zu fassen.

Von den Reizen und ihren Wirkungen. 353

A. Das Verhältniss der Reize zu den Lebensbedingungen.

1. Die Reiz (jual i teil.

Wenn jede Veränderung der Factoren, Avelche von aussen her auf den (^)rganismus einwirken, als Reiz wirken kann, dann liegt es auf der Hand, dass der Arten von Reizen unzählige existiren. Nicht nur jede einzelne bestehende Lebensbedingung kann sich ändern; auch neue, vorher nicht bestehende Bedingungen können dazu kommen und auf den Organismus wirken. Dennoch lässt sich die Fülle der verschiedenen Reize wenigen grösseren Gruppen von Reizqualitäten unterordnen. Eine natürliche Eintheilung der Reize ergiebt sich nämlich von selbst aus den Energieformen, in deren Gebiet die verschiedenen Reize gehören, denn jede äussere Einwirkung auf einen Körper beruht auf einem Energiewechsel, Wir können daher die Reize nach der Form der Energie gi-uppiren , durch die sie mit dem Organismus in Beziehung ti'eten.

Als chemische Reize können wir nach diesem Princip alle Einwirkungen chemischer Natur zusammenfassen , also vor Allem die Veränderungen in der Zufuhr von Xahrung, Wasser, Sauerstoff, aber auch alle Einwirkungen von anderen chemischen Veränderungen, die sonst nicht mit dem Organismus in Berührung kommen. Zu den chemischen Reizen haben wir auch die Reize zu zählen, durch welche im thierischen Zellenstaat das Nervensystem auf die von ihm ab- hängigen Gwebezellen einwirkt, denn jede Xervenreizung hat eine chemische Umsetzung der Xervensubstanz zur Folge, die sich fort- pflanzt bis zur Gewebezelle, die also für die Gewebezelle als chemischer Reiz gilt. Die ältere Vorstellung , dass die Nervenreize lediglich elektrische Reize seien, und dass die Nei'ven nicht anders wie Kupfer- drähte sich verhielten, dürfte nach unseren modernen Vorstellungen über den Stoffwechsel der lebendigen Substanz kaum noch weitere Verbreitung haben.

Als mechanische Reize können wir dann alle rein mechani- schen Einwirkungen auf den Organismus bezeichnen, sei es, dass sie sich wie Stoss, Erschütterung. Druck, Zug, Tonschwingungen als Ver- änderungen der Druckverhältnisse geltend machen, sei es, dass sie sich in molekularen Attractionen . also in Cohäsions- oder Adhäsions- wirkungen des umgebenden Mediums äussern, sei es schliesslich, dass sie auf Wirkungen der Gravitationsenergie beruhen.

Als thermische Reize haben wir die Veränderungen der Temperatur, unter der sich der Organismus befindet, zu verzeichnen.

Als p hotische Reize gesellen sich dazu die Veränderungen in der Einwirkung der Lichtstrahlen.

Als elektrische Reize schliesslich würden wir die Einwirkung von Elektricität auf den lebendigen Organismus zu bezeichnen haben.

Damit sind aber diejenigen Energieformen, welche überhaupt in Beziehung mit dem Organismus treten, erschöpft. Wir sehen, es fehlt in dieser Aufzählung der Reizqualitäten noch der Magnetismus. Allein der Magnetismus ist eine Energieform, welche, wie Avir jetzt mit voller Sicherheit sagen können, überhaupt keine Wirkung auf die lebendige Substanz äussert, und welche wir füglich nicht als Reiz bezeichnen dürfen. Es gab eine Zeit, wo man dem Magnetismus den weitgehendsten und wunderbarsten Einfluss auf den lebendigen Organismus zuschrieb ; das

Verworn, AUgememe Physiologie. 2. Aufl. 23

354 Fünftes Capitel.

war die Zeit, als der Arzt Mesmek den sogenannten „thierischen Magnetismus" populär machte, und als man Menschen, Thiere und Pflanzen mit Magneten „magnetisiren" zu können glaubte. Indessen, die neuere Forschung, und zwar zuerst die Entdeckungen des schottischen Arztes James Braid ^), haben gezeigt, dass die Erscheinungen, die mau dabei in den Fällen, wo nicht ein blosser Betrug vorlag, in der That beobachtet hatte, Erscheinungen der Hypnose waren, Erscheinungen, die mit dem Magnetismus nicht das Geringste zu thun hatten, Er- scheinungen, für deren Zustandekommen ein Stück Glas, ein blanker Knopf, eine Gasflamme und jeder andere in die Augen fallende Gegen- stand dieselbe Bedeutung hat, wie ein Magnet. Dennoch hat es bei dem geheimnissvollen Reiz, den alles Mystische auf das menschliche Gemüth auszuüben pflegt, auch in unserer Zeit nicht bloss unter den phantasievollen Anhängern des Spiritismus, sondern sogar unter aus- gezeichneten Aerzten Männer gegeben, welche sich von der Wirkung starker Magnete auf gewisse Menschen, vor Allem auf hysterische Frauen, überzeugt zu haben glaubten. Aber allen diesen Beobach- tungen hat die nüchterne Forschung, sobald sie sich damit beschäftigte, immer den Schleier des Geheimnissvollen entrissen und sie entweder als Betrug von Seiten der „Medien" oder als Selbsttäuschung der Beobachter erkannt. In der That, so oft man in ein wandsfreier Weise Versuche über die Einwirkung von Magneten auf den lebendigen Organismus anstellte, ebenso oft haben dieselben immer mit durchaus negativem Erfolge geendigt. Selbst die ausgedehnten Versuche, welche in neuester Zeit von Peterson und Kannelly in Amerika mit den allerstärksten Elektromagneten angestellt wurden, haben nur die völlige Wirkungslosigkeit des Magnetismus auf die lebendige Substanz zu constatiren vermocht.

Als die einzigen Reizqualitäten können daher nur die chemischen, mechanischen, thermischen, photischen und elektrischen Veränderungen in der Umgebung eines Organismus gelten, und diesen wenigen Gruppen lassen sich in der That alle einzelnen Reize unterordnen.

2. Die Reizintensität.

Um die Vorstellung von dem Verhältniss der Reize zu den Lebens- bedingungen noch klarer zu gestalten, müssen wir, nachdem wir die Reizqualitäten kennen gelernt haben, nunmehr den Verhältnissen der Reizintensität unsere Aufmerksamkeit zuwenden.

Eine jede äussere Lebensbedingung kann in verschiedenem Grade erfüllt sein: Die Zufuhr von Nahrung, Sauerstoff etc. kann eine sehr geringe, aber auch eine sehr grosse, die Temperatur eine sehr niedrige, aber auch eine sehr hohe sein, kurz, jede Lebensbedingung kann graduell zwischen sehr weiten Grenzen schwanken, ohne dass das Leben dadurch gefährdet wird. Dennoch sind solche Grenzen von den meisten Lebensbedingungen bekannt, eine obere und eine untere, die wir als Maximum und Minimum bezeichnen. Nur zwischen diesen beiden Grenz werthen jeder Lebensbedingung ist das Leben dauernd möglich. Werden sie überschritten, dann entwickelt sich der Tod. Aber nicht alle Punkte zwischen den beiden Grenzwerthen sind in

*) James Braid: „Der Hypnotismus." Ausgewählte Schriften von J. Braid. Deutsch herausgegeben von W. Preyer. Berlin 1882.

Von den Reizen und ihren Wirkungen, 355

gleichem Maasse günstig für das Gedeihen des Lebens. Die Intensität des Lebensvorgangs ist eine gei'ingere, wenn die Lebensbedingung Werthe vorstellt, die nahe dem Maximum oder dem Minimum liegen, als wenn sie einen mittleren Werth besitzt. Denjenigen Werthgrad einer jeden Lebensbedingung, bei dem das Leben am besten gedeiht, bei dem die Intensität des Lebensvorgangs am grössten ist, bezeichnen wir als Optimum. Das Optimum liegt aber durchaus nicht immer in der Mitte zwischen Minimum und Maximum, in vielen Fällen näher dem Maximum, in anderen Fällen näher dem Minimum.

^Hinimiurv Optimunv .yffajcünunv

Tod Leberv Tod-

Nach diesem Schema der Lebensbedingungen lässt sich ohne Weiteres der BegrifF des Reizes veranschaulichen. Stelleu wir uns vor, ein Organismus befände sich im Optimum irgend einer Lebens- bedingung, etwa der Temperatur, so wirkt jede Schwankung der Temperatur, sei es nach der Richtung des Maximums, sei es nach der Richtung des :Minimums hin, als Reiz. Derjenige Werth jeder Lebens- bedingung, an den der Organismus angepasst ist, stellt sein Optimum vor, er bezeichnet den Indifferenzpunkt der Reizung ; hier ist der Reiz gleich 0. Aendern sich die Werthe der Lebensbedingung nach dem Maxiraum oder Minimum zu, so wächst damit auch die Intensität des Reizes, bis sie das Maximum oder Minimum erreicht. Die Intensität des Reizes hat also ein Minimum, das mit dem Optimum der be- treflfenden Lebensbedingung zusammenfällt, und zwei Maxima, das eine beim Minimum, das andere beim Maximum der betreffenden Lebens- bedingung. Bei übermaximaler Reizung entwickelt sich der Tod. Wenn wir daher das Schema für die Reizung entwerfen, so müssen wir dieselben Punkte verzeichnen, wie auf dem Schema für die Lebens- bedingungen, nur dass wir hier den Punkten andere Namen g-eben, denn das Optimum wird für den Reiz zum Nullpunkt, das Minimum und Maximum werden beide zu Maximis. Jede Intensitätsschwankung zwischen dem Nullpunkt und den beiden Maximis wirkt als Reiz.

Tod Leberv Tod

Dieses Schema umfasst alle Reizqualitäten, auch diejenigen, welche, wie gewisse chemische und die elektrischen Reize, unter normalen Verhältnissen überhaupt nicht mit dem Organismus in Beziehung treten. Die letzteren Reizqualitäten sind nur Factoren, welche unter den Lebensbedingungen in keinem Intensitätsgrade vertreten sind, deren vollständiges Fehlen also dem Optimum entspricht. Sie können daher nur ein Maximum haben, so dass für sie nur der rechte Theil des Schemas in Betracht kommt. Auch in der allgemeinen Definition des Reizes, die als Reiz jede Veränderung der äusseren Factoren be- zeichnet, welche auf einen Organismus einwirken, sind diese Reiz- qualitäten mit einbegriffen, denn diese Definition gilt ebensowohl für

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356 Fünftes Capitel.

die Factoren, welche, wie z. B, die Wärme, in einem bestimmten Intensitätsgrade selbst als Lebensbedingungen fungiren, als auch für diejenigen Factoren, welche, wie z. B. die Elektricität, unter gewöhn- lichen Verhältnissen gar nicht in der Umgebung des Organismus vorhanden sind, also überhaupt nicht als Lebensbedingungen existiren. Bei unserer Betrachtung der Reizintensität bedarf noch Ein Punkt der Erwähnung. Stellen wir uds vor , ein Organismus , etwa ein Muskel, befände sich unter Bedingungen, wo kein Reiz ihn berührt, und wir Hessen nun, von der Intensität 0 an aufwärts steigend, einen Reiz, der sich, wie etwa der galvanische Strom, bequem und fein in seiner Intensität abstufen lässt, auf ihn wirken. Dann sollten wir er- warten, dass, sobald wir die Intensität über 0 gesteigert haben, der Muskel Reizerscheinungen zeigt, d. h. eine Zuckung ausführt. Das ist aber nicht der Fall. Wir können die Intensität des Reizes vom Nullpunkt an noch beträchtlich steigern, ehe der Muskel auch nur die geringste Zuckung ausführt. Erst wenn die Intensität des Reizes eine bestimmte Höhe erreicht hat, sehen wir, dass der Muskel mit einer Zuckung auf den Reiz antwortet, und von hier an bleibt die Zuckung niemals aus und wird bis zu einem bestimmten Grade nur noch energischer, je weiter wir die Intensitätssteigerung treiben. Der Reiz wirkt also erst von einer bestimmten Intensität an, und diesen Punkt bezeichnen wir als „Reizschwelle". Unterhalb der Schwelle ist der Reiz wirkungslos. Andererseits aber steigert sich oberhalb der Schwelle auch die Reizwirkung mit zunehmender Intensität. Für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz ist der Schwellen- werth eines Reizes sehr verschieden. So werden z. B. Nervenfasern schon durch äusserst schwache galvanische Reize in Thätigkeit ge- setzt, während Am o eben sehr starke galvanische Ströme verlangen, ehe sie eine Reaction zeigen. Und das Gleiche gilt von allen anderen Reizqualitäten gegenüber den verschiedenen Formen der lebendigen Substanz.

3. Die trophi sehen Reize.

Unserer bisherigen Betrachtung lag, der Uebersichtlichkeit wegen, immer die Vorstellung zu Grunde , dass ein gewisser Gegensatz zwischen Lebensbedingung und Reiz existire , insofern die Lebens- bedingung einen stabilen, gegebenen Zustand repräsentire und der Reiz jede Veränderung dieses Zustandes. Allein diese scharfe Unter- scheidung lässt sich nicht durchweg aufrecht erhalten, und zwar aus dem Grunde, weil in Wirklichkeit die Lebensbedingungen durchaus nicht vollkommen stabile und continuirlich wirkende Factoren sind, sondern in der Xatur fortwährend Schwankungen erfahren. Daher können gewisse Lebensbedingungen unter Umständen auch als Reize betrachtet werden oder, was dasselbe ist, gewisse Reize als noth- wendige Lebensbedingungen fungiren. Ein paar concrete Fälle werden dieses Verhältniss ohne Weiteres klar machen.

Die Nahrung steht allen denjenigen Organismen, welche sich nicht in einem dauernd gleichbleibenden Nährmedium belinden, welche sich vielmehr ihre Nahrung selbst suchen müssen, nur in unregelmässigcn Zwischenräumen zur Verfügung. Es wechseln Perioden des Nahrungs- bedürfnisses und des Nahrungsübei-flusses miteinander ab. Hat ein solcher Organismus längere Zeit keine Nahrung bekommen, hat z. B. eine

Voll ili'u Iveizcu iiiid iliiLU Wirkungen. 357

Ainoebe, die sich von Algen nährt, längere Zeit ihre Nahrung ent- behrt, und kommt sie nun zufällig wieder an eine Stelle, wo sich Algen betindcn, so wirken diese Nalirungsorganisnu'n als Reiz auf die Amoebe und veranlassen sie, heranzukrieehen und zu fressen. Hier wirkt die Nahrung als lieiz, obwohl sie doch eine nothwendige Lebens- bedingung ist. Analoge Fälle haben wir im Zellenstaat, Das ein- fachste BcM'spiel bieten die grünen Pflanzen. Eine ihrer wichtigsten Lebensbedingungen bildet das Licht. Ohne Licht findet keine Spaltung der Kohlensäure , keine Stärkebildung , keine Assimilation in den grünen Theilen der Pfianze statt; die Pflanze geht zu Grunde. Den- noch ist diese Lebensbedingung den weitgehendsten Intensitäts- schwankungen unterworfen , denn Licht wechselt fortwährend mit Dunkelheit, wirkt also als Reiz. In der That können wir nicht nur den Assimilationsprocess als Reizerscheinung auffassen, sondern der Lichtreiz erzeugt daneben noch eine Reihe anderer, ganz augenfälliger Reizwirkungen, die sich in Bewegungserscheinungen äussern. Auch im thierischen Zellenstaat sind solche Fälle, in denen Reize geradezu Lebensbedingung sind, in grosser Zahl bekannt. Hier werden den Gewebezellen die Reizimpulse, welche im Centralnervensystem erzeugt werden, übermittelt durch die Nervenfasern. Ein Muskel z. B. bewegt sich nur, wenn ihm ein Reiz vom Gehirn oder Rückenmark her durch seinen Nerven zugeleitet wird. Schneiden wir aber den dazu ge- hörigen Nerven durch, oder machen wir ihn sonst auf irgend eine Weise unfähig, die Reizimpulse vom Centralnervensystem her auf den Muskel zu übertragen, dann finden wir, dass der Muskel, welcher sich nicht mehr bewegen kann, nach einiger Zeit atrophirt. Ja, in ge- ringerem Grade sehen wir schon einen Muskel schwächer Averden und an Masse abnehmen, wenn wir ihn Avenig gebrauchen, d. h. wenn wir ihm vom Centralnervensystem wenig Reizimpulse zusenden. Man spricht dann von einer ..Inactivitätsatrophie". Und das gilt nicht bloss von den Muskelzellen, sondern von allen Geweben, denen durch ihre Nerven keine Reizimpulse mehr zugeleitet werden. In Fällen, wo durch irgend eine Krankheit eine Nervenstrecke für die Reizleitung vorübergehend unwegsam geworden ist, sucht daher die ärztliche Be- handlung erfolgreich die Atrophie der dazugehörigen Gewebe zu ver- hindern, indem sie dieselben durch elektrische Ströme künstlich zu reizen sich bemüht , und gerade in dieser Wirkung des galvanischen Stromes dürfte überhaupt die einzige therapeutische Bedeutung der Elektricität liegen. Auch die Erstarkung eines Organs durch Uebung gehört in die Reihe dieser Erscheinungen. Durch fortgesetzte Uebung kann man einen Muskel von mittlerer Stärke, wie jeder Turner, Fechter, Ruderer, Bergsteiger weiss, in kui'zer Zeit in ein Organ von ganz bedeutender Stärke und Ausdauer verwandeln, dessen Masse mit der Uebung ganz beträchtlich gewinnt. Die Wirkung aller Uebung beruht ebenfalls nur darauf, dass dem betreffenden Organe fort- während Reizimpulse zugeführt werden , die es in Thätigkeit ver- setzen.

Aus allen diesen Beispielen geht mit Deutlichkeit hervor, dass gewisse Reize gleichzeitig sehr wichtige Lebensbedingungen sein können, und diese Reize, die zur dauernden Erhaltung des Lebens nothwendig sind, ohne welche die Ernährung, der Stoffwechsel der betreffenden Organe nicht dauernd ungestört bestehen kann, bezeichnen wir als trophische Reize.

358 Fünftes Capitel.

Die trophischen Reize stehen aber nicht etwa in einem Gegensatz zu den anderen Reizen, sondern der Begriff des trophischen Reizes bezeichnet lediglich eine besondere Eigenthümlichkeit ihrer Wirkung, und die verschiedenartigsten Reize können eine trophische Wirkung haben. Man hat im Hinblick auf die trophischen Reize, welche durch die Nerven im thierischen Organismus den Geweben übermittelt werden, geglaubt, besondere trophische Nervenfasern und Nervencentra neben den Nervenfasern und Centren von bekannter Wirkung an- nehmen zu müssen, Nervenfasern, die gar nichts mit der eigenthüm- licben Function der betreffenden Gewebe, die sie versorgen, zu thun haben , sondern lediglich ihre Ernährung und ihren Stoffwechsel reguliren sollten. Dieser Gedanke der sogenannten trophischen Nerven hat viel Unheil und Verwirrung in der Physiologie und in der Medicin angerichtet und noch in neuerer Zeit manchen Forscher zu den abenteuerlichsten Vorstellungen und vermeintlichen Entdeckungen ver- leitet. Und dennoch ist für jeden kritischen Forscher, der eine be- stimmte Anschauung mit den Begriffen zu verbinden gewöhnt ist, mit denen er umgeht , die unklare Idee der trophischen Nerven nichts Anderes als ein Stück vom alten Mysticismus der Vitalisten. Wir sehen denn auch, dass es durchaus nicht der Annahme besonderer trophischer Nerven und eigener trophischer Reize, die neben den anderen Reizen existiren, bedarf, um die Erscheinungen zu erklären, sondern dass die Nerven, welche die charakteristische Function eines jeden Gewebes beeinflussen, eben dadurch den Stoffwechsel der be- treffenden Zellen reguliren, mit anderen Worten, dass jeder Nerv für das Gewebe, das er versorgt, als trophischer Nerv dient, indem die Impulse, die er vermittelt, eben für das Gewebe eine Lebensbedingung vorstellen.

B. Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz.

1. Der Begriff der Reizbarkeit und die Art der Reiz Wirkungen.

Jeder Reizungsvorgang erfordert zwei Factoren : einerseits einen Reiz, andererseits einen Körper, welcher reizbar ist. Treten beide Factoren in Wechselwirkung miteinander , so resultirt daraus eine Reizerscheinung, eine Reizwirkung, ein Reizerfolg, eine Reaction. Die Reize haben wir eben genauer kennen gelernt, beschäftigen wir uns nunmehr mit der Reizbarkeit.

Wenn wir den Begriff der Reizbarkeit (Erregbarkeit, Irritabilität) in einer allgemein gültigen Form definiren wollen , können wir nur sagen : Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz ist ihre Fähigkeit, auf Veränderungen in ihrer Umgebung mit einer Veränderung ihres stofflichen und dynamischen Gleichgewichts zu reagiren. Alle anderen Momente, die man noch in die Definition aufnehmen wollte, würden nur auf specielle Fälle Anwendung finden. Dennoch hat man vielfach, mehr oder weniger unbewusst, den Begriff, ohne ihn fest zu definiren, mit einzelnen Specialfällen verknüpft. Indem man z. B. besonders das Verhältniss der Grösse des Reizes zur Grösse des Reizerfolges ins Auge fasste, hat man als Typus der Reizwirkung allein diejenigen Fälle angesehen, in denen durch die verschwindend geringe Energiemenge, welche als

Von den Heizen und ihren Wirkungen.

359

Reiz einwirkt, die Production einer enormen Menge von Energie als Reizwirkung hervorgerufen wird, und hat demgeniäss in einseitiger Auffassung als Reizbarkeit der lebendigen Substanz die Fähigkeit Itetrachtet, auf geringe Reize mit einer unverhältnissmässig grossen Energieentfaltung zu antworten. In der That ist dieser Fall, wenn er auch nur ein specielleres Verhalten repräsentirt, doch besonders augen- fällig und weit verbreitet, so dass es sich lohnt, auf das Energiegetriebe dabei etwas näher einzugehen.

Nehmen wir als reizbaren Körper einen Muskel mit seinem Nerven und als Reiz den mechanischen Reiz des Druckes, dann können wir folgende Anordnung treffen (Fig. 150j. Wir hängen den Wadenmuskel (Musculus gastrocnemius) eines Frosches , dessen Nerven (Nervus ischiadicus) wir frei präparirt haben, senkrecht an einem Muskelhalter auf, indem wir den (Oberschenkelknochen, an dem der Muskel mit seinem oberen Ende entspringt, in einer Klemme befestigen. Das untere Ende des Muskels ist mit der Achillessehne vom Knochen ab- geschnitten und in der Sehne selbst mit einem Schlitz versehen worden,

Fig. 1.50. Apparat zur Demonstration der Ungleichheit zwischen der Grösse des Reizes und Reizerfolges. In einem Myographen ist ein Nervmuskel- präparat eingespannt, dessen Muskel mit einem Gewicht von 100 gr belastet und dessen Nerv über eine mittels eines Stativs auf- gestellte Glasplatte gelegt ist. Auf dem Nerven ruht ein kleines Aluminiumschälchen mit scharfem Kiel an der Unterseite, in das ein 10 gr-Gewicht aus ca. 1 cm Höhe hinab- fällt. Im Moment dieser Reizung zuckt der Muskel und hebt das 100 gr-Gewicht etwa 1 cm in die Höhe.

in dem ein Haken mit einem längeren Faden befestigt ist. Dieser Faden ist über zwei leicht bewegliche Rollen geleitet und trägt an seinem anderen Ende in einer Schale ein Gewicht von 100 gr. Der Nerv des Muskelpräparats liegt auf einem horizontalen Stativ aus- gestreckt. Jede Reizung des Nerven veranlasst eine Zuckung des Muskels. Lassen wir jetzt aus der Höhe von etwa 1 cm ein Gewicht von 10 gr auf den Nerven herabfallen, so dass der Nerv durch den Druck mechanisch gereizt wird, so entsteht im Moment der Reizung eine Zuckung des Muskels, und der Muskel hebt das Gewicht von 100 gr etwa um 1 cm in die Höhe. Hier ist also die Energiemenge, welche der Arbeit des Muskels entspricht, etwa zehnmal grösser als die Energiemenge, welche als Reiz auf den Muskel eingewirkt hat, ja das Missverhältniss lässt sich unter günstigen Bedingungen sogar noch weit grösser gestalten. Nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie ist es klar, dass die beträchtliche Energiemenge, welche bei der Reaction nach aussen frei wird, nicht aus der Umwandlung der ge- ringen Energiemenge stammen kann, die im Reize dem Organismus zugeführt worden ist. Sie muss also aus dem Organismus selbst her-

360 Fünftes Capitel. '

rühren und muss schon vorher als potentielle Energie im Organismus aufgespeichert gewesen sein. Wir haben uns daher vorzustellen, dass die Reizbarkeit in diesem Falle darauf beruht, dass grosse Mengen potentieller Energie in der lebendigen Substanz des Muskels an- gesammelt sind, so dass es nur der Zufuhr einer kleinen Energie- menge bedarf, um sie in actuelle Energie zu verwandeln. Eine der- artige Reizbarkeit und Reizwirkung ist aber durchaus nicht auf die lebendige Substanz beschränkt. An leljlosen Körpern können wir analoge Verhältnisse herstellen. Wenn wir eine starke Feder spannen und durch einen dünnen Faden, der eben der Spannkraft das Gleich- gewicht hält, zusammenbinden, so stellt die Feder einen Körper vor, in dem eine grosse Menge potentieller Energie aufgespeichert ist, ob- wohl er sich vollkommen in Ruhe befindet. Berühren wir aber jetzt mit der Schneide eines scharfen Messers nur ganz leise den Faden, welcher die Feder zusammenhält, so schnellt die Feder mit grosser Gewalt auseinander und leistet nach aussen bedeutende Arbeit. Die potentielle Energie der Feder ist durch den kleinen Reiz, den das Zertrennen des Fadens repräsentirt , in actuelle Energie verwandelt worden ; das Zertrennen des Fadens hat, wie wir sagen, die Federkraft „ausgelöst". Um eine solche „Auslösung" handelt es sich auch bei den explosiblen Körpern, und da wir hier eine Auslösung chemi- scher Spannkraft vor uns haben, ist die Aehnlichkeit mit den Aus- lösungsvorgängen der lebendigen Substanz noch grösser, denn auch in letzterer ist die potentielle Energie nur in Form chemischer Spann- kraft aufgespeichert. In einer erbsengrossen Menge von Nitroglycerin ist eine solche Menge potentieller Energie enthalten, dass es nur eines schwachen Stosses bedarf, um eine wahrhaft zerschmetternde Wirkung auszulösen. Ebenso wie das Nitroglycerin-Molekül ist auch die lebendige Substanz explosibel, wenn auch in einer Weise, die nicht so vernichtende Wirkungen hervorruft.

Allein die Auslösungsvorgänge sind, wie gesagt, nur specielle Fälle der Reizwirkungen, und das Verhältniss zwisch«i Reiz und Reiz- erfolg kann in anderen Fällen ein durchaus anderes sein, denn es giebt einerseits Reize, die, wie etwa Herabsetzung der Temperatur, Entziehung von Nahrung, Abschluss von Sauerstoff etc. überhaupt nicht in der Einwirkung, sondern vielmehr in der Entziehung einer grösseren Energiemenge bestehen, und es existiren andererseits Reiz- M'irkungen, die gar nicht in einer Erhöhung, sondern vielmehr in einer Herabsetzung, ja in einer vollständigen Unterdrückung aller Energie- production zum Ausdruck kommen , wie etwa die Wirkungen der Narkotica. Demnach müssen wir es sogar als ein Charakteristicum des Reizvorganges betrachten, dass zwischen Reiz und Reizwirkung überhaupt kein bestimmtes Verhältniss bezüglich der Energiegrössen besteht, das Anspruch auf allgemeine Gültigkeit machen könnte. Wir können daher, wenn wir den Begriff der Reizbarkeit allgemein gültig fassen wollen, nur die obige Definition aufstellen. Dann müssen wir bezüglich der Reizwirkungen sagen: Die allgemeine Wirkung aller Reize auf die lebendige Substanz liesteht in einer Veränderung der spontanen Lebenserscheinungen.

Bei der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen je nach der Zusammensetzung der lebendigen Substanz und bei der grossen Fülle verschiedener Reize ist es daher von vornherein begreif- lich, dass die Reizerscheinungen im Einzelnen überaus mannigfaltig

Von den Koiziu und iliriii Wirkungen. 361

sein müssen. Dazu kommt, um die Mannigfaltigkeit der Reizwirkungen noch zu vermehren, dass nicht nur die verschiedenen Reiz- qualitäten, sondern auch die verschiedene Intensität, sowie der zeitliche und örtliche Umfang einer Reizung unter Umständen ganz verschiedene Erscheinungen hervorrufen können. Diese grosse Mannigfaltigkeit der Reizerscheinungen in Verbindung mit der Thatsache, dass die allgemeinen Reizwirkungen bisher noch nicht methodisch untersucht worden sind , lässt es zur Zeit noch sehr schwierig erscheinen, allgemeine Gesetze für die Reizwirkungen aus den Thatsachen abzuleiten. Dennoch ist es möglich, für einzelne Gruppen von Reizerscheinungen auch gemeinschaftliche Eigen thüm- lichkeiten emj)irisch festzustellen.

Die Veränderungen, welche die spontanen Lebenserscheinungen unter dem EinHuss von Reizen erfahren, sind verschiedener Art. Erstens können die spontanen Lebenserscheinungen in ihrer Qualität unverändert bleiben und nur quantitative Veränderungen erfahren. Das kann sich entweder in einer Steigerung, sei es aller, sei es ein- zelner Lebenserscheinungen äussern dann bezeichnen wir die Reiz- wirkung als „Erregung" , oder es kann in einer Herabsetzung aller oder einzelner Lebenserscheinungen zum Ausdruck kommen, dann sprechen wir von einer „Lähmung".

Zweitens aber können auch die spontanen Lebenserscheinungen in ihrer Art gänzlich verändert werden, so dass völlig neue Er- scheinungen auftreten, die sonst im Leben der Zelle gar nicht vor- kommen. Eine solche Reizwirkung haben wir z. B. vor uns in den metamorphotischen Erscheinungen der nekrobiotischen Processe^), wo unter mancherlei, zum Theil noch gar nicht bekannten Einwirkungen die Zellen des Körpers Stoffe bilden, die, wie die Amyloid- Substanz, ihnen im ungestfirten Leben völlig fremd sind. Allein diese Reiz- wirkungen sind noch recht wenig untersucht, und S(nveit man bis jetzt urtheilen kann, scheint es, als ob sie nur secundäre Eolgen der quanti- tativen Veränderungen von normalen Lebenserscheinungen sind. So kann man sich z. B. vorstellen, dass bei den metamorphotischen Pro- cessen das Auftreten von fremden Substanzen in der Zelle darauf be- ruht, dass ein oder mehrere Glieder der normalen Stoffwechselkette in Folge von chronischer Reizung allmählich herabgesetzt oder ganz ausgefallen sind, so dass Verbindungen, die sich auch normaler Weise bilden, die aber wegen sofortiger weiterer Umsetzung nicht zur An- häufung kommen, nunmehr in grösserer Menge sich aufspeichern, weil die Stoffwechselglieder, die zu ihrer Umsetzung nöthig sind, jetzt nicht mehr existiren. Indessen, das kann vorläufig nur Vermuthung bleiben. Unsere Betrachtung ward sich daher hauptsächlich mit den Erregungs- und Lähmungserscheinungen zu beschäftigen haben. Es ist jedoch nicht überflüssig, unsere Begriffsbestimmungen von Reiz, Er- regung und Lähmung, sowie das Verhältniss dieser Dinge zu einander vorher noch einmal scharf zu betonen, da in der Physiologie nicht selten durch die meist stillschweigend angenommene falsche Vorstellung, dass ein Reiz stets Erregung erzeugen müsse, eine grosse Verwirrung und Schwierigkeit in der Beurtheilung der Erscheinungen entstanden ist. Das können wir vermeiden, wenn wir folgende Definitionen fest im Auge behalten:

') Vergl. pag. 335.

362 Fünftes Capitel.

1. Reiz ist jede Veränderung in den äusseren Lebens- bedingungen eines Organismus.

2. Erregung ist jede Steigerung, sei es einzelner, sei es aller Lebenserscheinungen.

3. Lähmung ist jede Herabsetzung einzelner oder aller L e b e n s e r s c h e i n u n g e n.

4. Die Wirkung der Reize kann in Erregung oder inLähmungbestehen.

2. Die Dauer der Reiz Wirkungen.

Eine andere Frage, die bisher freilich noch viel weniger eine syste- matische Behandlung erfahren hat, die Frage nach der Dauer der Reiz- wirkungen, verdient nicht minder Interesse, denn sie steht in engster Beziehung mit Problemen, die, wie z.B. die Erscheinungen der Anpassung, der Lumunisirung etc., zum Theil eine weitgehende praktische Bedeutung besitzen. Es ist zu erwarten, dass diese Verhältnisse, die für eine experimentelle cellularphysiologische Untersuchung ein sehr dankbares Object abgeben, bald mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden. Vorläufig sind es nur wenige zusammenhangslose Erfahrungen ganz allgemeiner Natur, die wir hier verzeichnen können.

Im Allgemeinen können wir sagen, dass die Dauer der Reizwirkung in erster Linie von der Dauer und Intensität des Reizes abhängt, und dass sie nach dem Aufhören des Reizes um so schneller abklingt, je kürzer und schwächer der Reiz war, bis schliesslich der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt ist. Indessen verdienen doch einige specielle Fälle noch besondere Beachtung.

Fassen wir zunächst die Verhältnisse bei andauernder Reizung ins Auge, so sehen wir hier, dass gewöhnlich die Reizwirkung während der Dauer des Reizes eine Aenderung erleidet, und zwar je nach der Intensität des Reizes. Bei schwachen Reizen finden wir nach einiger Zeit ein Nachlassen und schliesslich ein Aufhören der Reizwirkung; es ist eine Ge wöhnu ng, eine Anpassung an den Reiz eingetreten. Derartige Erscheinungen sind sehr leicht an den verschiedensten Ob- jecten und bei Anwendung der verschiedenartigsten Reizqualitäten zu beobachten. So gelingt es z. B., Avie Engelmann ^) und Andere^) gezeigt haben, mannigfache einzellige Organismen an verhältnissmässig starke Salzlösungen zu gewöhnen , die Anfangs deutliche Reizerschei- nungen hervorrufen. Bringt man ein Actin osphaerium, das seine Pseudopodien sonnenstrahlenartig ausgestreckt hat, in eine schwache Lösung von Natriumbicarbonat, so zieht es allmählich alle Pseudo- podien ringsherum ein und wird zur Kugel. Bald aber treten wieder feine Pseudopodienspitzen aus der Oberfläche hervor, die sich strecken und verlängern, bis das Actinosphaerium wieder seine frühere Gestalt angenommen hat und vollkommen normal geworden ist. Durch successive Steigerung der Concentration kann man denselben Erfolg mehrmals hintereinander erzielen. Auch an schwache Giftlösungen, an hohe Temperaturen, an intensives Licht etc. treten solche Anpassungen

1) Engelmann: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Her- mann's Handbuch d. Physiol. Bd. I.

2) Verworn : „Psycho - physiologische Protistenstudien. Experimentelle Unter- suchune^en." Jena 1889.

Von den Keinen und ihren Wirkungen. 363

ein. Sind die Keize dagegen stark, so ündet keine Anpassung statt, sondern es entwickeln sich die Erscheinungen der Ermüdung und Erschöpfung, die wir an anderer Stelle noch näher kennen lernen werden. Die Reizbarkeit nimmt mehr und mehr al), und schliesslich ist der Tod die Folge. Diesen Erscheinungen der Anpassung einer- seits und der Ermüdung andererseits stehen einige Fälle gegenüber, in denen bei andauernder Reizung auch die Reizwirkungen dauernd in gleicher Stärke bestehen bleiben. Beispiele dafür liefern uns die Muskehl des Säugethierkörpers, die sich in einem gewissen Erregungs- zustande befinden, die, wie man sagt, einen „Tonus" besitzen. Es sind das besonders die Schliessmuskeln der Harnblase und der After- öffniing. Diese Muskeln sind dauernd in einem Zustande der Con- traction, der veranlasst wird durch Reize, welche ununterbrochen von den Zellen des Nervensystems her auf sie einwirken. Auch von den Skelettmuskeln wissen wir, dass sie dauernd einen schwachen Tonus besitzen, der unterhalten Avird durch die ihnen auf dem Wege des Nervensystems übermittelten, meist von der Peripherie kommenden, schwachen Reize.

Fig. 151. Meerschweinchen, bewegung-slus auf dem Rücken lieirend, mit tonisch Contrahirten Extremitätenmuskeln. Die Beine ragen starr in die Luft.

Bei kurzer Reizung pflegen die Reizwirkungen nach dem Aufhören des Reizes meist ziemlich bald wieder dem normalen Zustande des Organismus Platz zu machen, doch giebt es einzelne Fälle, in denen das Erlöschen der Reizwirkung nicht unmittelbar beginnt, sondern in denen sich eine längere, unter Umständen eine sehr lange Nach- wirkung des Reizes bemerkbar macht. So kommt es vor, dass ein einzelner, kurz dauernder Reiz gewisse Ganglienzellen und die von denselben innervirten Muskeln in eine langdauernde tonische Erregung versetzen kann. Ergreifen wir z. B. ein Meerschweinchen sicher, aber ohne es stark zu drücken, mit den Händen und drehen es plötzlich auf den Rücken, so macht es einige kurze Abwehrbewegungen und bleibt dann regungslos auf dem Rücken liegen. Dabei bemerken wir, dass die Muskeln der Extremitäten, die eben noch ihre abwehrenden Bewegungen ausführten, ziemlich stark contrahirt sind, so dass die Extremitäten starr in die Luft ragen (Fig. 151). Dieser Zustand der tonischen Er- regung kann, Avenn das Thier nicht gestört wird, eine halbe Stunde andauern.

Noch deutlicher sind die Erscheinungen eines andauernden Reflex- tonus nach kurzdauernder Reizung bei grosshirnlosen Fröschen zu

364

Fünftes Capitel.

sehen. Wenn man einen grosshirnlosen Frosch, der ruhig in seiner gewöhnlichen Hockstellung dasitzt (Fig. 152^1), sanft an beiden Seiten der Wirbelsäule zwischen zwei Fingern reibt, so erhebt er sich auf seine Extremitäten, indem er die Muskeln derselben contrahirt, und bleibt in dieser grotesken Stellung unter Umständen länger als eine Stunde stehen (Fig. 1521?). Durch geeignete Operationen kann man feststellen, dass dabei durch den mechanischen Hautreiz die Ganglien-

Fig. 152 a. Grosshi ru loser Frosch in g-ewölinlicher Hockstellung.

Fig. 152 i;. Gross hirnloser Frosch in der Stellung des allgemeinen Reflextonus.

Die Extremitätenmuskelu und die Riickeuniuskeln sind dauernd contrahirt, so dass der

Frosch auf erhobenen Beineu mit Katzenbuckelstellung' unbeweglich stehen bleibt.

Zellen der Mittelhirnbasis in einen tonischen Erregungszustand gerathen sind, der sich den sämmtlichen Körpermuskeln, die von hier aus innervirt werden, mittheilt ^).

Am interessantesten und praktisch am Avichtigsten aber sind die Nachwirkungen mancher chemischer Reize, vor Allem der Bakterien- gifte. Es ist eine alte Erfahrung, dass der Körper des Menschen und der Thiere nach dem Ueberstehen gewisser Infectionskrankheiten, wie

^) Vkrwoen ; Bd. 65, 1896.

„Tonische Reflexe." In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiologie

Von den Keizon und ihren Wiiltungcn. 365

Pocken, Scliarlach, jNIasern etc., immun wird für eine weitere Infection mit dem gleichen Krankheitserreger, liekanntlich ist auf dieser That- sache die moderne Thcrajjie und l*rc)]»hyhixe der Infectionskrankheiten begründet worden, insonderheit die Impf- und die Injectionsmethode von Jknnek, Koch, Pasteur, Behring, Roux und Anderen. Durch künstliche Einführung des abgeschwächten Injectionsstoffes oder der Stoifwechselproducte der betreti'enden Krankheitserreger oder schliess- lich des Blutserums von Thieren, welche der Infection ausgesetzt worden Avaren, hat man willkürlich eine Immunität hervorzurufen gewusst. Was bei allen diesen rein empirisch gefundenen Behandlungsweisen im Körper vorgeht, entzieht sich freilich noch vollkommen unserer Kenntniss ; nur so viel können Avir sagen, dass die einmalige Vergiftung mit den betreffenden Bakteriengiften an den Zellen des Körpers eine NachAvirkung erzeugt, die in manchen Fällen, Avie bei der Diphtherie, nur verhältnissmässig kurze Zeit, in anderen Fällen, aa^c bei den Pocken, aber viele Jahre und Jahrzehnte hindurch andauern kann. Man steht hier vor einer Erscheinung, deren Erklärung noch kaum angebahnt ist. Es ist aber zu erAA-arten, dass ihr Verständniss am meisten ge- fördert werden dürfte durch cellular- physiologische Versuche, w^elche die complicirten und unübersehbaren Bedingungen des Thier- und Menschenkörpers vorerst durch die einfachsten Verhältnisse ersetzen. In der That haben einige Versuche mit verschiedenen chemischen Stoffen bei einzelligen Organismen gezeigt, dass hier analoge Erschei- nungen zu erzielen sind. So hat z. B. Davenport ^) Infusorien durch Gewöhnung an schwache Sublimatlösungen für einige Zeit immun gemacht gegen Lösungen von solcher Concentration, die bei nicht immunisirten IndiA'iduen sofort tödtlich wirkten. Der cellular-physio- logischen Forschung eröffnet sich hier ein ungemein weites und frucht- bares Feld. Ueberhaupt hat gerade die methodische Erforschung der ReizAvirkungen an der einzelnen Zelle nicht bloss in theoretischer Hin- sicht, sondern auch für die praktische Medicin eine ganz fundamentale Bedeutung - ).

3. Die Reiz leitung.

Mit der Reizbarkeit untrennbar verknüpft ist eine andere Eigen- schaft der lebendigen Substanz, das ist die Reizleitung, Wird nämlich eine Masse lebendiger Substanz an irgend einem Punkte local gereizt, wie man das z. B. sehr einfach durch Berühren oder Stechen mit einer spitzen Nadel erreichen kann, dann bleibt die Reaction nicht auf den gereizten Punkt beschränkt, sondern der Reizerfolg breitet sich von der Reizstelle mehr oder AA^eniger AA^eit auch über die be- nachbarten Theile aus.

Auch die Fähigkeit der Reizleitung ist aller lebendigen Substanz eigenthümlich, nur in sehr verschiedenem Grade. Während die eine Form der lebendigen Substanz den Reizerfolg sehr schnell und sehr weit leitet, pflanzt ihn die andere Form sehr langsam und nur auf die allernächste Umgebung fort.

^) Davexport and Neal : „Studies in Morphogenesis V. On the acclimatization of organisms to poisonous chemical Substances." In Arch. f. Entwicklungsmechanik Bd. 2, 1896.

2) Vekworn: „Erregung und Lähmung." Vortrag, gehalten auf der 68. Versamml. deutscher Naturforscher u. Aerzte zii Frankfurt a. M. 1896.

366

Fünftes Capitel.

Am ausgeprägtesten ist die Fähigkeit der Reizleitung bei den- jenigen Gebilden, die ausschliesslich nur für den Zweck der Reiz- leitung entwickelt sind : das sind die thie- rischen Nervenfasern. Die Nerven leiten einen Reiz mit ungeheurer Geschwindig- keit auf meterweite Entfernungen hin. Helmholtz hat berechnet, dass im Nerven eines Frosches der Reiz mit einer Ge- schwindigkeit von 26 m in der Secunde fortgeleitet Avird. Beim Menschen ist die Geschwindigkeit noch grösser, etwa 34 m in der Secunde, beim Hummer dagegen, wie Leon Fredericq und van de Velde gezeigt haben, geringer und beträgt etwa 6 m in der Secunde. Man hat verschie- dene Methoden ersonnen , um die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit des Reizes im Nerven zu ermitteln, ein Unternehmen, das bei der grossen Schnelligkeit des Vorganges nicht leicht ist. Das Princip aller dieser Methoden beruht auf der Fest- stellung der Zeitdifferenz zwischen dem Eintritt einer Muskelzuckung, wenn der dazu gehörige Nerv sehr nahe dem Muskel gereizt wird, und dem Eintritt der Zuckung bei Reizung des Nerven an einer ent- fernteren Stelle. Zu diesem Zwecke kann man das Du Bois- REYMONü'sche Federmyographion benutzen, einen Apparat, der zur graphischen Darstellung einer Muskelbewegung dient. Der Apparat besteht aus einem Muskelhalter, in dem ein Wadenmuskel

Fig. 153. Musculus gastro- cnemius mit Nervus ischia- dicus vom Frosch. Das Prä- parat ist am Oberschenkelknochen, an dem der Muskel ansetzt, in einen Muskelhalter eingespannt und der Nerv wird ein Mal bei i, das andere Mal bei 2 ffereizt.

Fig. 154. Du Bois-Reymond's Federmyographion.

Von den Reizen und iliren Wirkungen.

367

vom Frosch, dessen Nerv frei präparirt ist, mit dem Obersclienkelknochen so befestigt wird, dass er mit einem Hebel in Verlnndung steht, der jede Zuckung des Muskels mitmacht und mittelst einer feinen Spitze auf einer ])lötzlich vorbeigeschncllten, berussten Glastafel verzeichnet. Die Glastafel gleitet in einem schlittenartigen Gestell in verticaler Ebene vor dem Schreibhebel vorbei und wird durch eine Feder in Bewegung gesetzt. Gleichzeitig mit der Auslösung der Federkraft wird auch ein elektrischer Reiz auf den Muskelnerven ausgelöst und ausserdem eine Stimmgabel zum Tönen gebracht, die ihre Schwingungen ebenfalls vermöge einer Schreibspitze auf der schwarzen Glastafel verzeichnet. Reizt man nun einmal den Nerven in einer Entfernung von etwa 3 cm vom Muskel und einmal unmittelbar in der Nähe des Muskels, so er- folgt die Zuckung das erste Mal um eine geringe Zeit später, als das zweite Mal, weil der Reiz beim ersten Mal eine längere Strecke zu durchlaufen hat, als beim zweiten Mal, ehe er auf den Muskel selbst wirken kann. Diese Differenz in der Zeit, welche in beiden Fällen vergeht vom Moment der Reizung bis zum Eintreten der Zuckung, kann man auf der schwarzen Tafel, auf der sich die Zuckung in Form einer Curve aufgezeichnet hat, ausserordentlich genau messen an

Fig. 155. Aufsteigender Schenkel der myograph isehen Curve mit dem

Federmy ogr aphion aufgenommen. R Moment der Reizung, 1 Beginn der

Zuckung bei Reizung des Nerven an einer entfernteren Stelle (Fig. 153), 2 Beginn der

Zuckung bei Reizung unmittelbar am Muskel. Darunter die Stimmgabelcui've.

der Anzahl der Stimmgabelschwingungen, welche sich gleichzeitig auf der Tafel verzeichnen. Da nämlich die Schwingungszahl der Stimmgabel in einer Secunde bekannt ist, kann man leicht die Dauer einer ein- zelnen Schwingung und aus der Anzahl der Schwingungen , welche zwischen dem Eintritt der zweiten und der ersten Zuckung liegen, die Zeit berechnen, welche vergeht, wenn der Reiz eine Nervenstrecke von 3 cm durchläuft. So findet man, dass die Reizleitungsgeschwindigkeit des Froschnerven unter normalen Bedingungen etwa 26 m in der Secunde beträgt.

Andere Formen der lebendigen Substanz leiten den Reizerfolg bedeutend langsamer und manche nur auf ganz kurze Entfernung hin, wobei der Reizerfolg mit der Entfernung allmählich erlischt. Bei sehr langsam leitenden Objecten ist die Geschwindigkeit der Reiz- leitung mit dem Auge zu verfolgen. So kann man z. B. bei Dif- flugia, einem Rhizopoden mit zierlichem, aus Sandkörnchen gebautem Gehäuse, die Leitungsgeschwindigkeit der Erregung unter dem Mikro- skop an den langen, fingerförmigen Pseudopodien sehr gut daran er- kennen, dass sich von der Reizstelle her fortschreitend an der Oberfläche des Pseudopodienplasmas tröpfchenartige Ausbuchtungen bilden. Reizt man ein solches Pseudopodium durch Berührung mit einer Nadel an

368

Fünftes Capitel.

der Spitze nur schwach, so breitet sich der Reizerfolg nur auf eine kurze Strecke hin aus, indem die Oberfläche des Pseudopodiums nur leicht wellig wird (Fig. 156 a). Reizt man dagegen stärker, so ist der Reizerfolg stärker und wird bedeutend weiter fortgeleitet (Fig. 156 &). Stets aber nimmt die Grösse des Reizerfolges mit der Entfernung von der Reizstelle ab und erlischt schliesslich ganz ^). Eine ungemein geringe Reizleitung findet man bei manchen Rhizopoden mit faden- förmigen Pseudopodien, z. B. bei Orbitolites (vergl. Fig. 98

pag. 242). Hier bleibt die Er-

regung Reizung, ^ schneidung

selbst

Fig. 156. Difflugia urceolata. Aus der von Sandkömchen gebauten urnenförmigen Schale treten 3 fingerförmige, hyaline Pseudo- podien heraus. Bei a schwach local gereizt, bei b etwas stärker local gereizt.

bei stärkster ; sie die Durch- eines Pseudopo- diums vorstellt, auf die aller- nächste Umgebung der Reiz- stelle beschränkt, indem sich das Protoplasma hier zu einem mehr oder weniger kleinen Kü- gelchen zusammenballt. Diese Kügelchen gleiten zwar auf dem Pseudopodienfaden , der sich dadurch zu verkürzen beginnt, in centripetaler Richtung ent- lang, und zwar eine sehr Aveite Strecke, indem sie sich all- mählich wieder auflösen und ihre Substanz in den Central- körper fliessen lassen (Fig. 157), aber ihre Fortbewegung ist nicht als eine Fortleitung der Erregung anzusehen ^), sondern lediglich der Ausdruck des Stofftransports der gereiz- ten Protoplasmamasse nach dem Zellkörper hin, denn das Protoplasma in der Umgebung der Kügelchen zeigt weiter keine Erregungserscheinungen, sondern strömt sogar ruhig in centrifugaler Richtung weiter

Aber zwischen der sehr geringen Reizleitungsfähigkeit und Reizleitungsgeschwindig- keit bei Orbitolites und der ungeheuren des Nerven finden sich bei den verschiedensten lebendigen Gebilden die mannigfaltigsten Uebergänge. Die quergestreifte Muskelfaser leitet schon bedeutend langsamer als der Xerv, die glatte Muskelfaser noch viel langsamer

1)Yerworn: ,.,Psycho - physiologische Protistenstudieii. Experimentelle Unter- suchungen." Jena 1889.

2) In der ersten Auflage ist das geschehen, doch haben mich neuere Studien an Khizopoden des rothen Meeres überzeugt, dass Erregungsleitung und Stotftransport bei den nackten Protoplasmamassen zu trennen ist. Vkrwokn : „Zellphysiologische Studien am rothen Meer." In Sitzungsber. d. kgl. preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1896, XLVI.

Von den Heizen und ihren Wirkungen.

369

als die querj^estreifte u. s. f. So Hessen sich die lebendigen Substanzen nach dem Grade ihrer Reizleitungsgeschwindigkeit zu einer langen Reihe mit den feinsten Uebergängen anordnen.

IL Die Reizerscheinungen der Zelle.

Nach dieser allgemeinen Erörterung der einzelnen Momente des Reizungsvorgangs können wir nunmehr zur Betrachtung der Reiz- erscheinungen selbst übergehen.

Da die einzelne Zelle nicht alle Lebenserscheinungen in gleichem Grade augenfällig erkennen, sondern je nach ihrer specitischen Leistung

Fig. 157. Pseudopodium von Orbitolites. a Bei * durchschnitten. b Reizerfolg (Kugelbildung des Protoplas- mas) nur auf die nächste Umgebung der Eeizstelle be- schränkt, c / Stofiftransport. Die gereizten Massen werden auf dem Pseudopodium entlang nach dem centralen Zellkörper transportirt, ihre Substanz brei- tet sich allmählich wieder aus (e, /), während das ungereizte Protoplasma keine Erregungs- erscheinungen zeigt, sondern centrifugal weiterfliesst, so dass sich das Pseudopodium bald wieder verlängert (e, /).

d

f

irgend eine Seite, sei es des Stoffwechsels, sei es des Formwechsels, sei es endlich des Energiewechsels, mehr in den Vordergrund treten lässt, so ist es zweckmässig, für jede Lebenserscheinung eine andere Zell- form zum Versuch auszuwählen, welche die betreffende Lebenserschei- nung gerade besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Dadurch ist wieder eine gesonderte Betrachtung der Stoffwechsel-, Formwechsel- und Energiewechsel-Erscheinungen an verschiedenen Objecten geboten, die uns aber nie verführen darf, diese verschiedenen Erscheinungs- gruppen als etwas von einander Unabhängiges zu betrachten. Des Bewusstsein, dass es sich nur um die gesonderte Betrachtung der ver- schiedenen Seiten eines und desselben Vorgangs handelt, darf uns dabei nie verlassen.

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 24

370 Fünftes Capitel.

A. Die Wirkungen der verschiedenen Reizqualitäten.

1. Die Wirkungen chemischer Reize.

Die Zahl der chemischen Körper, welche, mit der lebendigen Substanz in Berührung gebracht, überhaupt in chemische Beziehung mit ihren Bestandtheilen treten, ist eine ungeheuer grosse, aber nur ein geringer Theil von ihnen ist auf seine Reizwirkungen hin bisher untersucht worden. Eine umfassende, nach systematischen Gesichts- punkten unternommene, vergleichend cellularphysiologische Untersuchung der chemischen Reize und ihrer Wirkungen würde zwar eine sehr lange Zeit erfordern, dafür aber auch sicher sehr werthvolle Re- sultate liefern. Vorläufig sind unsere Kenntnisse der chemischen Reize und ihrer Wirkungen noch so lückenhafte, dass von einer methodischen Zusammenfassung derselben noch keine Rede sein kann. Wir müssen uns darauf beschränken, einige typische Erscheinungen zu betrachten.

a. Erregungserscheinungen.

Als chemische Reize, welche auf den Stoffwechsel erregend wirken, können wir allgemein die positiven Schwankungen in der Menge der zugeführten Nahrungsstoffe auffassen. Das beste Beispiel liefern uns die Zellen der verschiedenen Gewebe des menschlichen Körpers, deren wesentlichsten Nahrungsstoff das Eiweiss bildet. Wie VoiT ^) gezeigt hat, braucht ein kräftiger Mann, wenn er stark arbeitet, 118 gr. Eiweiss, um sein Stickstoffgleichgewicht aufrecht zu erhalten, d. h. um die aus dem Zerfall der lebendigen Substanz seiner Zellen stammende und durch den Harn abgeführte Stickstoffmenge wieder zu ersetzen. Wird nun diese als nothwendige Lebensbedingung geltende Menge von zugeführtem Eiweiss gesteigert, wie das im Durchschnitt bei den meisten in guten Verhältnissen lebenden Menschen der Fall ist, so wird die mehr zugeführte Eiweissmenge nicht etwa zum Aufbau neuer Zellen, zur Vermehrung der lebendigen Substanz verwerthet, sondern von den Zellen der Gewebe aus dem Blute aufgenommen, in lebendiges Eiweiss übergeführt und gespalten, um in den Stoffen der regressiven Eiweissmetamorphose (Harnstoff, Harnsäure, Kreatinin etc.) fast vollständig mit dem Harn den Körper wieder zu verlassen. Die Steigerung der Eiweisszufuhr über ein be- stimmtes Maass (118 gr) hinaus bewirkt also eine entsprechende Steigerung sowohl des assimilatorischen als des dissimilatorischen Stoff- wechsels der Gewebezellen.

Ein ähnliches Verhältniss haben wir im Pflanzenreiche. Die Kohlensäure der Luft dient den Pflanzen als Nahrung und wird in den Chlorophyllkörperchen der Blattzellen gespalten. Der frei werdende Kohlenstoff wird dann mit dem durch die Wurzeln auf- genommenen Wasser zusammen zur Synthese der Stärke, zur Assimi- lation verwendet. Wird nun der Pflanze mehr Kohlensäure zugeführt, als in der Luft enthalten ist, als ihre nothwendige Lebensbedingung ist, so steigert sich bis zu einem bestimmten Grade in gleichem Maasse auch die Kohlensäure-Spaltung und die Stärke-Assimilation.

') C. Voit: „Physiologie des allgemeinen StoflPwechsels und der Ernährung." In Hermann's Handh. d. Physiol. Bd. 6, 1881.

Von deu Heizen und ihren Wirkungen. 371

Die Steigerung der Nahrungsmenge bedingt also auch eine Steigerung des Stoffwechsels.

Allein das ist doch nicht ganz allgemein gültig. Vom Sauerstoff" wissen wir wenigstens, dass eine Steigerung seiner Menge über das zum Leben nothwendige Maass hinaus im Wesentlichen ohne Einfluss auf den Stoff'wechsel der Gewebezellen bleibt. Die Gewebezellen des menschlichen Körpers z. B. sind innerhalb weiter Grenzen vom Pro- centgehalt und Partiardruck des Sauerstoffs in der Luft unabhängig und zeigen keine Steigerung des Stoff"wechsels bei Erhöhung der Sauerstoff"zufuhr. Ob freilich das Gleiche auch für freilebende Zellen und die Zellen niederer Thiere gilt, bedarf noch erst der Untersuchung.

In manchen Fällen führt die gesteigerte Nahrungszufuhr mit der Steigerung des Stoffwechsels auch eine deutlich erkennbare Steigerung des Form wechseis herbei. Während nämlich, wie wir sahen, bei den Gewebezellen des menschlichen Körpers die über das nothwendige Maass hinaus zugeführte Nahrungsmenge unter normalen Verhältnissen bis auf einen verschwindend kleinen Bruchtheil vollständig wieder zersetzt und nicht zur Vermehrung der lebendigen Substanz gebraucht wird, findet bei vielen einzelligen Organismen, besonders bei Bakterien und Infusorien, durch Steigerung der Nahrungszufuhr vorwiegend eine Steigerung der assimilatorischen Processe und nicht in gleichem Maasse auch der dissimilatorischen Stoffwechselprocesse statt. Die Folge da- von ist eine Vermehrung der lebendigen Substanz, eine „Mästung", die sich in schnellem Wachsthum und fortwährender Zelltheilung äussert. Bringen wir z. B. Fäulnissbakterien (Bakterium termo, Spirillum undula etc.) aus einer Flüssigkeit, in der sie in spär- licher Individuenzahl leben, in eine gute Nährlösung, etwa in einen Heuaufguss, so fangen sie sofort an, sich in ganz enormer Weise zu vermehren, bis aus den wenigen Bakterien, mit denen wir die Nähr- lösung inficirten, eine Menge von vielen Millionen sich entwickelt hat. Setzen wir in einen solchen von Fäulnissbakterien wimmelnden Heuaufguss ein Paramaecium, ein Wimper-Infusor, das sich von Fäulnissbakterien nährt, so können wir aus diesem einen Infusor durch fortgesetzte Zelltheilung in wenigen Tagen Tausende entstehen sehen, so dass sie die Flüssigkeit milchig trüben. So enorm wird bei diesen Mikroorganismen der assimilatorische Stoffwechsel durch den Nahrungsüberfluss gesteigert !

Unter pathologischen Verhältnissen kommen auch an den Gewebe- zellen des menschlichen Körpers ähnliche Erscheinungen vor, und die moderne Pathologie kennt in den verschiedenen Arten von pathogenen „Neubildungen" oder Geschwülsten, zu denen auch die bösartigen Krebsgeschwülste gehören, eine ganze Reihe analoger Fälle. Diese Geschwülste (Karcinome, Sarkome, Myome, Fibrome etc.) entstehen dadurch, dass die Zellen eines normalen Gewebes, z. B. der Oberhaut (Epidermis), plötzlich anfangen, sich rapide zu theilen. So erfolgt an der betreffenden Stelle eine enorme Zellvermehrung, eine Wucherung, die zu einer häutig überaus umfangreichen Geschwulst führt und be- nachbarte Gewebe, in die sie hineinwächst, vollständig erdrückt, so dass sie lebensunfähig werden und zu Grunde gehen. Der Anlass zu dieser rapiden Zellvermehrung liegt in vielen Fällen zweifellos in chemischen Ursachen, welche auf die betreff"enden Zellen einwirken. Wenn es auch bisher noch immer eine off'ene Frage ist, ob die Ent- stehung der Geschwülste, vor Allem des Karcinoms, eine Folge von

24*

372

Fünftes Capitel

.(^

Infection durch bestimmte Mikroorganismen ist oder nicht, so neigt doch die Mehrzahl der Pathologen zu der Ansicht, dass sie auf eine Veränderung in der Ernährung der Zellen zurückzuführen ist.

Weit augenfälliger als die Wirkungen auf den Stoffwechsel und Formwechsel sind die Wirkungen der chemischen Reize auf den Energie Wechsel, besonders auf die Bewegung. Ueber die Wir- kungen chemischer Reize auf die amoehoiden Bewegungen der nackten Protoplasma- massen, wie sie die Rhizo- poden (Amoeben, Myxomy- eeten Polythalamien etc.) und die Protoplasmaleiber der Pflanzenzellen vorstellen, haben uns die classischen Untersuchungen von Max ScHULTZE ^) und Kühne ^) schon vor 30 Jahren Auf- schluss gegeben. Die am weitesten verbreitete Wir- kung ist hier die Auslösung einer Contraction, d. h. der Einziehung der Pseudopodien, nachdem häufig vorher im Beginn der Einwirkung die Protoplasmaströmung beschleunigt war. Die verschie- densten chemischen Stoffe können diese Reizwirkung erzeugen. Lässt man z. B. zu einem Tropfen Wasser, in dem sich viele Amoeben befinden, eine 1 2°/o Kochsalzlösung oder eine Lösung von 0,1*^/0

Fi<;-. 158. Amoebe. A Pseudopodien nach ver- schiedenen Richtungen ausstreckend, B mit langem Pseudopodium in Einer Richtung kriechend (Amoeba limax-Form), C auf chemische Reizung kugelig contrahirt.

A B C

Fig. 159. Actinosphaerium bei chemischer Reizung. A Ungereizt, B im Beginn der Reizung, C nach einiger Dauer der Reizung (die Pseudopodien sind fast

ganz eingezogen).

Salzsäure oder auch von 1 °/o Kalihydrat oder schliesslich auch andere Säuren, Alkalien und Salze in geringen Concentrationen zufliessen, so ziehen die Amoeben alsbald ihre Pseudopodien ein und nehmen Kugel-

*) Max Schultzk: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen." Ein Beitrag zur Theorie der Zelle." Leipzig 1863.

-) W. Kühnk: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

Vou deu lieizen und ihreu Wirkungen.

373

gestalt an. Dieselbe Wirkung übt die Kohlensäure aus, wenn man die Arno eben in einer Gaskammer^) einige Zeit der Wirkung dieses Gases aussetzt. Andere nackte Protoplasmamassen verhalten sich allen diesen chemischen Reizen gegenüber ebenso. So zieht das zierliche, mit seinen geraden , strahlenförmigen Pseudopodien wie eine kleine Sonnenkugcl erscheinende A ctinosphaerium Eichhornii, mit diesen Reizen in Berührung gebracht, ebenfalls mehr und mehr seine Pseudo])odien ein, indem das Protoplasma derselben sich zu lautei- kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt, die in centripetaler Richtung langsam in den Zellkörper hineinfliessen"J.

Ueber die Wirkung chemischer Reize auf die Flimmerbewegung haben besonders Engelmann ^) und Rossbach *) eingehende Unter- suchungen angestellt. Auch hier haben die verschiedenartigsten Stoffe, wie Säuren, Alkalien und Salze, ferner Kohlensäure und verschiedene Alkaloide, gleiche Wirkungen, die stets in einer Steigerung der Wimper- oder Geisselthätigkeit bestehen, indem die Schnelligkeit des Wimper- schlages bedeutend erhöht ward. Die Folge davon ist eine be- trächtliche Steigerung des moto- rischen Effects, die man nament- lich bei freilebenden Flimmer- zellen , wie sie die Infusorien vorstellen, in der starken Be- schleunigung ihrer Bewegung deutlich beobachten kann. Die Wimper-Infusorien rasen förmlich nach Zusatz chemischer Reagen- tien mit dem Schlage ihrer Wim- pern durch das Gesichtsfeld dahin.

Auf die verschiedenen Formen der Muskelfasern (Myoide, glatte Muskelfasern, quergestreifte Mus- kelfasern) wirken mannigfaltige chemische Reize in analoger Weise wie auf nackte Protoplasmamassen, indem sie Contractionen auslösen. Setzt man zu einem Tropfen Wasser, in dem sich viele Vorticellen behnden, die auf ihren aus- gestreckten Stielmuskeln anmuthig ihre Köpfchen wiegen, chemische Stoffe der oben genannten Art, so zucken sofort alle Vorticellen zusammen, indem sich ihre Stielmuskeln in ihrer elastischen Scheide

Fig. 160. Vorticella. a Ausgestreckt, b nach chemischer Reizung contrahirt (Stiel- muskel ist nicht zu sehenj, c ein Stück der Stielscheide mit dem Muskelfaden, stark vergrössert.

1) Vergl. pag. 288.

2) Verworx: „P.sycho-physiologische Protistenstudien." Jena 1889.

^) ExGKLiiANN : „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Her- mann's Handbuch der Physiologie Bd. I.

■*) Kossbach: .,Die rhythmischen Bewegungserscheinungen der einfachsten Orga- nismen und ihr Verhalten gegen physikalische Agentien und Arzneimittel." In Arbeiten a. d. zool. u. zoot. Inst, zu Würzburs: 1874.

374

Fünftes Capitel.

plötzlich contrahiren und zu zierlichen Spiralwindungen aufrollen (Fig. 160 b). Ebenso zucken quergestreifte Muskeln auf chemische Reizung plötzlich zusammen. Klemmt man z. B. den Schneidermuskel (Musculus sartorius) des Frosches, der ein schmales Band von nahezu parallelen, quergestreiften Muskelfasern bildet, mit dem daran befindlichen Unter- schenkelknochen in einen Muskelhalter ein und zieht durch den Beckenknochen, welchen der Muskel mit dem Unterschenkel verbindet, einen Faden, der über eine Rolle geleitet ist und durch ein kleines Gewicht in Spannung gehalten wird , so kann man an einem Signal- hebel, der an der Rolle befestigt ist, jede Bewegung des Muskels beob- achten. Bringt man nun ein Schälchen mit kohlensaurem Ammon unter den Muskel, so wird der Muskel durch die aufsteigenden Am- moniakdämpfe chemisch gereizt und führt Zuckungen aus, welche durch den Signalhebel deutlich angezeigt und auf einer berussten Trommel verzeichnet werden können. Eine sehr merkwürdige Er- scheinung beobachtete Biedermann ^) am Musculus sartorius , wenn er ihn bei einer Temperatur von 3 10° C. in einer Lösung von

Fig. 162. Erzeugung rhyth- Fig. 161. Chemische Reizung des Sartorius mische r Contractionen vom Frosch. ^™ Sartorius durch che-

mische Reizung.

5 gr Kochsalz, 2 gr alkalischem, phosphorsaurem Natron und 0,5 gr kohlensaurem Natron auf 1 Liter Wasser hängen Hess (Fig. 162). Dann zeigte nämlich der Muskel rhythmische Zuckungen, eine Er- scheinung, die sonst nie im Leben an diesem Muskel beobachtet wird und lebhaft an die rhythmische Bewegung der Herzmuskelfasern erinnert.

Die bisher besprochenen chemischen Reizwirkungen an den con- tractilen Substanzen waren Conti'actionswirkungen. Wir kennen aber auch chemische Reize, welche das Expansionsstadium herbeiführen. Das sind z. B. Nahrungsstoffe und vor Allem der Sauerstoff. Wir haben die hierher gehörigen Erscheinungen schon bei anderer Gelegen- heit kennen gelernt^). Sie bestehen hauptsächlich in der Thatsache, dass Araoeben und Meeresrhizopoden in einer sauerstofffreien Atmo- sphäre ihre Pseudopodienbildung einstellen und eine expansorische Lähmung erfahren, um erst wieder Expansionserscheinungen zu ent- wickeln, wenn ihnen neuer Sauerstoff zugeführt wird. Das Gleiche

^) W. Biedermann : „Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie." VI. Mittheilung. In Sitzungsber. d. Kaiserl. Akad. d. Wiss. in Wien. Bd. LXXXII, Abtheilung III, 1880.

2) pag. 290.

Von den Reizen und iliren Wirkungen.

375

hat KcnNE (1. c) an Myxomyceten , und zwar an den netzförmigen Plasmodien von D i dy m i u m , die auf foulen Blättern leben, beobachtet. Brachte er ein eingetrocknetes und daher völlig bewegungsloses Stück eines Plasmodiums in ein mit ausgekochtem, also sauerstofffreiem Wasser angefülltes Kölbehen, das durch Quecksilber von der Luft abgeschlossen wurde, so blieb es in vollkommener Ruhe verharren. Sobald er aber einige Blasen Sauerstoff zu dem D i d y m i u m treten Hess, fing dasselbe an, Pseudopodien auszustrecken und sich netzartig zu der Form eines zierlichen Bäumchens an der Innenfläche des Kölbchens auszubreiten. Aus diesen Versuchen geht aufs Deutlichste hervor, dass der Sauerstoff selbst als Reiz Avirkt, der die Expansions- phase der Protojjlasmabewegung bedingt.

Auch die Production anderer Energieformen, nicht nur der Be- wegung, wird durch chemische Reize erregt. Da es aber zu weit führen würde, alle Erregungswirkungen chemischer Reize zu be- trachten, so wollen wir uns dar- auf beschränken , nur noch die Erregung der Lichtproduction an- zuführen. Für diese Untersuchung" sind ebenfalls wieder die einzelli- gen Organismen am geeignetsten, denn bei ihnen sind alle Verhält- nisse am übersichtlichsten und einfachsten. Von vielen einzelligen Organismen, Bakterien, Radiola- rien etc. ist es bekannt, dass sie auf chemische Reize ebenso wie auf verschiedene andere Reize hin Licht entwickeln. Am häufig- sten und genauesten untersucht ist aber die Lichtproduction bei den eigenthümlichen Flagellaten, welche in unseren nordischen Meeren in der Regel das flächen- hafte Meerleuchten erzeugen, bei den Noctiluken (Fig. 163). Neuerdings hat Mässart ^) die

Wirkung chemischer Reize wieder ausführlich studirt. In ein Gefäss mit Meerwasser, in dem sich die Noctiluken ruhig, und ohne zu leuchten, an der Oberfläche aufhielten, setzte er vorsichtig mit einer Pipette verschiedene Stoffe, wie destillirtes Wasser, eine concentrirte Kochsalzlösung, eine Zuckerlösung etc., und Hess den Tropfen sich langsam an der Oberfläche des Meerwassers ausbreiten. Die Folge davon war, dass alle Noctiluken, zu denen nach und nach die zugesetzten Flüssigkeiten hindrangen, sobald sie mit denselben in Be- rührung kamen, plötzlich hell aufleuchteten, so dass der anmuthige Anblick eines langsam sich erweiternden leuchtenden Kreises an der Oberfläche des Meerwassers entstand. Die gleiche Lichtentwicklung kann man auch sehr gut an Radiolarien, besonders den grossen ThalassicoUen beobachten, die bei einer Concentrations - Aende-

Fig. 1*3. Xoctiluca miliaris, eine marine Geisselinfusorienzelle.

') Jeas Massakt: „Sur Tirritabilite des Noctiluques." In Bulletin scientifique de la France et de la Belgique Tome XXV, 1893.

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Fünftes Capitel.

ruiig des Meerwassers, in dem sie sich befinden, oder bei Uebertragung in Süsswasser ebenfalls lebhaft aufleuchten, und die verschiedenen Leuchtbakterien, welche z. B. das Leuchten der todten Seefische erizeugen, verhalten sich ebenso.

Schliesslich können wir auch die lebendige Substanz der Nerven und Ganglienzellen durch chemische Reize in Erregung versetzen. Freilich ist hier die Erregung an der Nervensubstanz selbst nicht ohne besondere Methoden sichtbar; dagegen haben wir einen deutlichen Ausdruck für die Erregung bei motorischen Nerven an der Zuckung der Muskeln, welche sie versorgen. Reizt man z. B. den Nervus ischiadicus eines Frosches, indem man ihn mit seinem centralen Ende in Glycerin oder eine concentrirte Kochsalzlösung, in eine Mineralsäure- oder in eine Alkalilösung, in eine Metallsalz- oder Zuckerlösung hängt, so treten an den Unterschenkelmuskeln des Frosches Zuckungen auf, ein Beweis, dass der Nerv in Erregung gerathen ist. Im Uebrigen kann man mit dem Galvanometer auch am herausgeschnittenen Nerven die Erregung durch chemische Reize an der Elektricitätsentwicklung bemerken, welche den vom ruhenden Nerven abgeleiteten Strom be- einflusst.

b. LähmungserscheinuDgen.

Den erregenden Wirkungen der eben genannten chemischen Reize gegenüber stehen die Wirkungen bestimmter chemischer Stoffe, welche die Lebenserscheinungen herabsetzen oder ganz lähmen. Diese Stoffe werden daher als „Narkotica" oder „Anaesthetica" bezeichnet.

Zu ihnen gehören vor Allem diejenigen, welche auf alle Formen der lebendigen Sub- stanz und auf alle Lebens- erscheinungen lähmend wir- ken : Alkohol, Aether, Chloro- form und Chloralhydrat. Zu diesen gesellt sich die grosse Gruppe der Alkaloide, de- ren Vertreter, wie Morphin, (Chinin, Veratrin , Digitalin, Strychnin, Curare etc., zum Theil eine unter den verschie- denen Formen der lebendigen Substanz weitverbreitete, zum Theil aber auch eine nur auf ganz bestimmte Zellformen, vor Allem auf die Zellen des Centralnervensystems, be- schränkte Wirkung besitzen. Die lähmenden Wirkun- gen der Narkotica auf die Stoffwechsel- E r seh ein un gen sind besonders von Claude Ber- nard ^) studirt worden. Der bekannte Pariser Physiologe hat gezeigt.

A

Fig. 164. Gährungsversuch. A Kohlensäure- entwicklung in einer Traubenzuckerlösung durch Hefezellen. £ Die Traubenzuckerlösung vergährt nicht, weil die Hefezellen durch Chloroformwasser narkotisirt sind.

') Claude Bkrnakd: „Le^ons sur les phenoraenes de la vie commune aux ani- raaux et aux vegetaux." Tome I. Paris 1878.

Von den Kt-izfii iin<l ilircu \\'irl\iingen.

377

dass der Stoffwechsel z. B. durcli Chloroformnarkose in den verschieden- artigsten Zellfornien unterdrückt wird. Bringt man II(;fezellen , die bekanntlich in ihrem Htoffweclisel Traul)en/Aicker in Kohlensäure und Alkohol spalten, in zwei Gährungsrührchen (Fig. 164), von denen das eine reim; Traubenzuckerlösung enthält, während in dem anderen der gleichen Traubenzuckerlösung etwas Chloroformwasser beigemischt ist, so tritt unter sonst vollständig gleichen Bedingungen im ersten Köhr- chen alsbald Gährung ein , wie aus der aufsteigenden und sich oben ansammelnden Kohlensäure ersichtlich ist (Fig. 154^), während im zweiten Rtihrchen jede Gährung vollkommen unterbleibt (Fig. 1647>). Lässt man aber den Inhalt des zweiten Köhrchens längere Zeit offen an der Luft stehen, so dass das Chloroform mit der Zeit verdampft, so tritt später auch in dieser Flüssigkeit wieder Gährung auf. Das Chloroformwasser hatte also nur den Stoff- wechsel der Hefezellen gelähmt, ohne sie zu tödten.

Auch an Pflanzenzellen ist die Lähmung des Stoffwechsels , und zwar besonders die Aufhebung der Kohlensäurespaltung im Chloro- phyll, sehr leicht festzustellen, Claude Bernard benutzte dazu die im Wasser lebende Faden- . alge Spirogyra, deren cylindrische Zellen der Länge nach zu feinen Fädchen aneinander gereiht sind und ein zierliches spiralig ge- wundenes Chlorophyll band besitzen (Fig. 105). Unter zwei Glasglocken, von denen die eine mit kohlensäurehaltigem Wasser, die andere mit

ebensolchem Chloroformwasser gefüllt war,

B

Fig. 165. Spirogyra, eine Faden alge. ^1 Stück eines Fadens, aus vielen an- einander gereihten Zellen bestehend. B Einzelne Zelle mit dem charakteristischen, sj)iralförmigen Chlorophyll- band und dem sternförmigen Protoplasmakörper.

brachte er je eine Portion der Spirogyra- fäden und setzte die Glocken dem Sonnen- lichte aus. Nach einiger Zeit hatten die Spirogy razellen der ersten Glocke eine be- trächtliche Menge Sauerstoff entwickelt, wäh- rend in der zweiten, mit kohlensäurehaltigem Chloroformwasser gefüllten Glocke die Sauer- stoffentwicklung, also die Kohlensäurespaltung vollständig ausgeblieben war.

Entsprechend der Aufhebung des Stoff'wechsels machen sich in der Narkose auch Lähmungen der F o r m w e c h s e 1 - Erschei- nungen geltend. Das Wachsthum und die Zelltheilung hört auf. Um die Lähmung des Wachsthums zu constatiren, stellte Claude Bernard folgende Versuchsordnung auf (Fig. 166). In zwei leere cylindrische Flaschen, welche unten einen Tubus besassen, der ebenso Avie die Flaschenhälse mit einem von Glasröhren durchbohrten Gummi- pfropfen verschlossen war, steckte er in halber Höhe einen feuchten Schwamm, auf dem sich keimende Pflanzensamen befanden. Der Tubus der einen Flasche communicirte durch einen Gummischlauch mit einem Glascylinder {t), welche- an seinem Boden eine Aetherschicht (S) enthielt und oben ebenfalls einen Pfropfen trug, durch den ausser dem Gummischlauch (F) noch ein offenes Glasrohr (a) von aussen bis zu halber Höhe hineinragte. Der Tubus der anderen Flasche communicirte durch ein Glasrohr {a) direct mit der äusseren Luft. An den Glasröhren, welche aus den Pfropfen der Flaschenhälse nach aussen

378

Fünftes Capitel.

führten, war ein gabeli'g getheilter Gummischlauch befestigt (b), der mit einer Aspirationsvorrichtung (P) in Verbindung stand. Wurde das Wasser der W^asserleitung (R) durch den Aspirator gelassen, so saugte dieser die Luft durch die beiden Glasflaschen , von denen nun die eine direct die reine Luft von aussen durch den Tubus a wieder er- gänzte, während die andere nur mit Aetherdämpfen geschwängerte Luft durch den Glascylinder t in sich aufnehmen konnte. Auf diese Weise ging ein continuirlicher Strom von reiner Luft durch die keimenden Samen des einen und ein Strom von Aetherdampf durch die Samen des anderen Cylinders. Nach einigen Tagen waren bei dieser Anordnung die Samen, welche in reiner Luft keimten, zu langen Keimlingen ausgCAvachsen (e), während die vom Aetherdampf um- spülten Samen überhaupt kein Wachsthum zeigten, ohne jedoch die Fähigkeit, in reiner Luft zu keimen, eingebüsst zu haben.

Fig. 166. Apparat zur Vergleichung keimender Pflanzensaraen in nor- malem Zustande und in der Narkose. Nach Claude Beknard.

Die lähmende Wirkung von Chloralhydratlösungen auf die Zell- theilung haben die Brüder Hertwig^) an Seeigeleiern untersucht. Liessen sie eine 0,2 0,5 '^ o-Lösung von Chloral auf die sich zur Ent- wicklung anschickenden Eier einige Zeit (5 Minuten bis 3 Stunden) einwirken, so ging die Zelltheilung nicht weiter. Sowohl der Zellkern verharrte dabei in dem Stadium der Theilung, in dem er sich gerade befand, als auch das Protoplasma, in dem die Strahlenbildungen um die Centrosomen vollständig ausblieben. Erst nachdem das Chloral längere Zeit mit reinem Meerwasser aus den Eiern ausgewaschen war, ging die Entwicklung und Zelltheilung wieder weiter.

^) O. u. R. Hertwig: „lieber den Befruchtungs- und Theilungsvorgang des this- rischeu Eies unter dem Einfluss äusserer Agentien." In „Jenaische Zeitschr. f. Natur- wissenschaft" 1887.

Von den Reizen und ihren Wirkungen.

379

Schliesslich werden auch die Energie wechsel-Ersch ei- nungen durch die Narkotica gelähmt. Sowohl die spontane Energie- production als die Fähigkeit, auf Reize zu reagiren, wird herabgesetzt und hört schliesslich ganz auf. Unter den Bewegungserscheinungen hat das für die Turgescenzbewegungen ^) derMimosa pudica eben- falls Claude Bernard gezeigt. Setzt man einen Blumentopf mit einer Mimose unter eine Glasglocke , unter der sich ein mit Aether ge- tränkter Schwamm befindet (Fig. 167), so hören die spontanen Be- wegungen auf, und ebenso gelingt es nach einiger Zeit nicht mehr, durch Reize die bekannten Bewegungen, die in dem Senken der Zweige und Zusammenklappen der Blätter bestehen, an der Pflanze hervorzurufen. Die Reizbarkeit ist erloschen, die Pflanze ist in Nar- kose. „Eh bien!" sagt Claude Bernard „chose singuliere, les

Fig. 167. Miraosa pudica in Aetheruarkose. Nach Claudk Bernard.

plantes commes les animaux peuvent etre anesthesi^es , et tous les ph^nomenes s'observent absolument de la meme maniere!"

Ebenso wie die Turgescenz-Bewegungen hören auch die Wachs- thumsbewegungen der Pflanzen in der Narkose auf, und die secre- torischen Bewegungen der Diatomeen , Oscillarien , Desmidiaceen ^) bleiben aus.

Auch die Contractionsbewegungen werden durch die Narkotica gelähmt; in der Regel aber ist im Beginn der Einwirkung zuerst ein kurzes Erregungsstadium bemerkbar, in dem die Bewegungen beschleunigt sind. Die Protoplasmabewegung der Arno eben wird sistirt, nachdem die Arno eben sich zur Kugel contrahirt haben.

') Vergl. pag. 232. 2) Vergl. pag. 235.

380

Fünftes Capitel.

Wie BiNz^) fand, besitztauf die amoeboi"den Bewegungen der Leukocyten besonders das Chinin eine stark lähmende Wirkung. Ueber die lähmende Wirkung der Narkotica auf die Flimmerbewegung hat Engelmann 2) ausgedehnte Untersuchungen angestellt. Liess er in einer Gaskammer auf die Flimmerzellen von der Rachenschleimhaut eines Frosches Aether- oder Chloroformdämpfe einwirken, so trat nach einem schnell vor- übergehenden Erregungsstadium, in dem die Bewegung beschleunigt war, ein Stillstand der Wimpern ein. War die Dauer der Ein- wirkung nicht zu lang gewesen, so trat die Bewegung nach Zufuhr von frischer Luft von Neuem wieder auf. Ebenso verhält sich die Geisseibewegung der Spermatozoen, die durch Aether- und Chloroform- dämpfe, sowie nach den Beobachtungen Hertwig's^) durch geringe

Fig. 168. Stentor coeruleiis A in der Ruhe ganz ausgestreckt, B im Zustande mittlerer Coutraction wie beim freien Schwimmen, C vollständig eontraliirt.

Dosen von Chinin und Chloralhydrat vollständig zum Stillstand ge- bracht werden, so dass die Befruchtung des Eies durch ihre BcAvegungs- losigkeit vermindert wird. Auch bei Infusorien wird durch Zufuhr von Chloroformwasser nach kurzem Excitationsstadium , in dem sie wie rasend durch das Wasser wirbeln , die WimperbeAvegung sistirt. An einem Stentor können wir neben dieser Thatsache auch gleich die Lähmung der Myoide durch das Chloroformwasser beobachten. Während die Stentoren in ihrem ungestörten Zustande, mit ihrem Afterpol am Boden angeheftet, zu zierlicher Trompetenform ausgestreckt sind

^) C. BiNz: „Ueber die Einwirkung des Chinin auf die Protoplasmabewegung." In Arch. f. mikr. Anat. Bd. III, 1867.

2) Engelmann : „Ueber die Flimmerbeweguug." In „Jenaische Zeiitschr. f. Natur- wissenschaft" Bd. IV, 1868.

^J 0. u. K. Hkrtwig: 1. c.

Von den Reizen iiud iJircii Wirkungen.

381

(Fig. 168 Ä) und nur von Zeit zu Zeit, theils spontan, theils in Folge von lieizung, sich durch die Contraction ihrer feinen , im Exophasma des ZoUkörper-s von oben bis unten verhuifenden Myoidfaden zu einer gestielten Kugel (Fig. 168 C) zusammenschnellen, nehmen sie in der Narkose nach plr»tzlichem Zusammenzucken im Beginn der Einwirkung ein Stadium mittlerer Contraction (Fig. 168 B) an, hören mit den Wim- pern auf zu schlagen und zucken weder spontan noch auf Reizung mehr zu einer Kugel zusammen, bis durch Uebertragung in frisches Wasser die Narkose wieder gehoben wird. Wie die Erregbarkeit der glatten Myoidfaden wird auch die Erregbarkeit der quergestreiften Skelett-

Fig. 169. Ganglienzellen von einem morphinisirten Hunde, nach der Methode

von GoLGi getlirbt. Bei ^ haben alle, bei £ die meisten Protoplasmafortsätze rosen-

kranzförmiges Aussehen angenommen. Nach Demook.

muskeln vollständig durch die Narkose aufgehoben. Ein Muskel vom Frosch, welcher vorsichtig und langsam von ätherdampfhaltiger Luft umspült wird, ist durch keinerlei Reize mehr zum Zucken zu bringen. Dennoch stehen die Lebensprocesse im Muskel nicht vollständig still, wie aus der von Biedermann ^) festgestellten Thatsache hervorgeht, dass die Elektricitätsproduction bei der Reizung des Muskels in der Narkose noch ebenso erfolgt, als wenn der Muskel im normalen Zu- stande sich contrahiert. Die gei'eizte Stelle, sowie der künstliche Quer- schnitt zeigt sich bei galvanometrischer Untersuchung ebenso wie

^) W. ßiEDERMAxx: .,Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Mujkelphvsiologie.'" XXII. Mittheilung. Im Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wiss. in Wien Bd. XCVII, 1888.

382

Fünftes Capitel.

unter normalen Verhältnissen elektrisch negativ gegenüber der ruhen- den Partie. Es müssen also auch in der Narkose noch gewisse StofF- wechselvorgänge unberührt bestehen bleiben, und vielleicht gilt diese Thatsache nicht bloss vom Muskel, sondern von den Narkosezuständen aller lebendigen Substanz.

Neuerdings hat Massart auch ^) die Lichtentwicklung derNocti- luken durch Alkohol vollständig aufheben können, indem er über das Gefäss mit Meerwasser, in dem sich die Noctiluken ruhig an der Oberfläche schwimmend befanden, einige Lagen mit Alkohol ge- tränkten Fliesspapiers legte, so dass die Alkoholdämpfe auf die Nocti- luken treffen mussten. Die Protisten waren dann nach kurzer Zeit durch keinen Reiz mehr zum Leuchten zu bringen.

A

Fig. 170. Araphistegina 1 e s s o n i i. Aus der linsen- förmigen Kalkschale treten durch die Schalenöffnung fadenförmige Pseudopodien hervor. A normal , B in Chloroformnarkose.

Am bekanntesten schliesslich sind die lähmenden Wirkungen der Narkotica auf die Thätigkeit der Ganglienzellen des Centralnerven- systems, sowohl auf die, welche motorische Impulse produciren, um da- durch die Muskeln zur Bewegung zu veranlassen, als auch auf die, welche zusammen Sitz der Sinnesempfindungen, des Bewusstseins sind. In der anaesthesirenden Wirkung auf die Zellen des Central- nervensystems liegt die ausserordentlich praktische Bedeutung der Narkotica. Sie sind durch die Aufhebung der Empfindung und be- sonders der Schmerzempfindung zu einer der grössten Wohlthaten der Menschheit geworden. Freilich zu einer gefährlichen Wohlthat, denn

1) Jean Massart: „Sur l'irritabilite des Noctiluques." In „Bulletin scientifique de la France et de la Belgique" Tome XXV, 1893.

Von den Keizon und ihren Wirkungen. 383

der Missbrauch der Narkotica, des Alkohols, des Morphiums zeitigt die verheerendsten Wirkunj.;en und verwandelt die Wohlthat in eins der grössten Uebel, weil der iStoflfwechsel der betroffenen Zellen dabei irreparable Schädigungen erfährt.

In neuerer Zeit haben eine Reihe von Forsehern, wie Mevnert, Lepine, Duval, Solvay und Andere die Ansicht aufgestellt, dass die Ganglienzellen eine amoeboide Bewegungsfähigkeit besitzen, in- dem sie ihre Protoplasmafortsätze oder Dendriten verkürzen und verlängern können. Es ist daher in hohem Grade interessant, dass es jüngst Demoor ^) gelungen ist, zu zeigen, dass in der That unter dem Eintluss des Morphiums in der Narkose, aber auch unter der Einwirkung anderer Reize sich deutliche Contractionserscheinungen auf den Dendriten der Ganglienzellen oder Neurone bemerken lassen, die genau den Contractionserscheinungen entsprechen, welche starke Reize auf den verzweigten Pseudopodienfäden der Rhizopoden erzeugen. Beide Bilder sind vollkommen übereinstimmend (vgl. Fig. 1Ö9 ^ u. B). Die Dendriten der Neurone, etwa im Gehirn eines Hundes, nehmen ebenso wie die Pseudopodien der Rhizopoden ein sehr charakteristisches perlschnurartiges Aussehen in der Morphium- oder Chloralnarkose an, indem sich ihr Protoplasma zu lauter kleinen Kügelchen und Spindel- chen zusammenballt. Offenbar aber ist diese Erscheinung, die nur durch eine contractorische Erregung erzeugt sein kann, eine Wirkung des Excitationsstadiums, das die Narkotica, wie wir sahen, auch an anderen Formen der lebendigen Substanz herbeiführen, ehe die Lähmung beginnt. In diesem Zustande werden dann die Ganglien- zellen allmählich gelähmt und behalten nun während der Narkose diese Form der Pseudopodien bei, wie das auch bei Rhizopoden (Fig. 170), z. B. Amphistegina, Orbitolites, Rhizoplasma etc., in der Narkose leicht zu beobachten ist-).

2. Die Wirkung mechanischer Reizung.

Als mechanische Reize können wir alle Veränderungen in den molekularen Druckverhältnissen bezeichnen, unter denen die lebendige Substanz in ihrer Umgebung steht. Davon sind die Wirkungen der Verminderung des Drucks bisher noch nicht genauer untersucht worden. Es kommen also für unsere Betrachtung ausschliesslich die Wirkungen der Erhöhung des Drucks in Frage.

Die Erhöhung des Drucks kann in überaus mannigfaltigen Formen auftreten, von der leisen Berührung bis zum kräftigen Quetschen oder bis zum völligen Zerdrücken der lebendigen Substanz, vom kurzen Stoss bis zum continuirlichen und andauernden Druck, von der un- regelmässigen Erschütterung bis zu den rhythmisch-intermittirenden Stössen, wie sie die Stimmgabel erzeugt,

a. Erregungserscheinungen.

Unter den erregenden Wirkungen der mechanischen Reize auf die Stoff Wechsel- Erscheinungen können wir am deutlichsten die

^) Demoor: „La plasticite morphologique des neurones cerebraux." In Arch. de Biologie Tome XIV, 1896.

^) Verworn: „Zellphysiologische Studien am rothen Meer." In Sitzungsber. d. Kgl. Preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1896.

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Fünftes Capitel.

Erregung der Stoffproduction, der Secretion an einzelligen Organismen beobachten. Ein Actino sphaeri um z. B., das in völliger Ruhe im Wasser schwebt, liat viele, gerade nach allen Richtungen hin aus- gestreckte Pseudopodien, die von Secret vollkommen frei sind. Letzteres geht daraus hervor, dass Wimper-Infusorien aus der Gruppe der Hypo- trichen, die nur an ihrer Bauchseite Wimpern tragen, mit denen sie wie Asseln auf Gegenständen im Wasser umherlaufen, nicht selten ungestört auf den gerade ausgestreckten Pseudopodien entlang promeniren, ohne auf ihnen festzukleben. Prallt dagegen ein solches Infusor einmal in heftiger Schwimmbewegung gerade an ein Pseudopodium an, so ge- nügt dieser mechanische Reiz, um an der Berührungsstelle die Secre-

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Fig. 171. Thalassicolla nucleata, eine kngelförmig-e Radiolarienzelle. A Unver- letztes Individuum im Querschnitt. In der Mitte liegt die von schwarzem Pigment umafebene Central- kapsel mit dem Zellkern. Ji Centralkapsel heraus- präparirt. Sie hat sich schon wieder mit einem neuen Pseudopodienkranz umgeben. C Dieselbe Centralkapsel nach starker Reizung. Die Pseudo- podien sind etwas eingezogen, und zwischen ihnen ist eine dichte Schleimmasse secernirt worden. 7? und C stärker vergrössert.

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tion eines klebrigen Stoffes hervorzurufen, der das Infusor als Beute festhält 1). Ebenso ruft ein einzelner starker Erschütterungsstoss die Schleimsecretion auf den Pseudopodien hervor, so dass kleine im Wasser suspendirte Partikel daran kleben bleiben. Diese Schleimsecretion als Wirkung mechanischer Reizung ist bei den nackten Protoplasma- körpern der Rhizopoden weit verbreitet. Direct sichtbar wird der Schleim z. B. bei dem grossen, im Meere lebenden Radiolar Thalassi- colla. Wenn man aus dem runden, erbsengrossen Körper der Thalassicolla die von äusserst feinen Poren durchborte Central- kapsel mit ihrem Inhalt von Protoplasma und Zellkern ohne Verletzung

') Verworn: „Psycho -physiologische Protistenstudien. sucliLuigen." Jena 1889.

Experimentelle Unter-

Von (k'ii Keizeii und ihren Wirkunp-cn.

385

exstirpirt liat, was mit geringer Mühe gelingt, dann fängt naeh kurzer Zeit clieae Centralkapsel an, sich zu einem vollstän(lig(!n Radiolar zu regeneriren, d. h. Pseudopodien, Gallert- und Vaeuolenschicht neu zu bilden (vergl. Fig. 171). Nachdem die Pseudopodien wie ein Kranz von Sonnenstrahlen aus dem gelben Kugelkörper herausgetreten sind, bemerkt man zwischen ihnen einen äusserst feinen, noch überaus dünn- riüssigen Schleim, der von den Pseudopodien ausgeschieden wird und die Anlage der neuen Gallertschioht repräsentirt. Erschüttert man in diesem Stadium das Radiolar durch einen starken Stoss, so sieht man, wie sich die dünne Schleimmasse vermehrt und zugleich fester und derber wird, was noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wenn die Erschütterung wiederholt wird ^). Die mechanische Reizung befördert also die Schlcimsecretion in sichtbarer Weise.

Erregende Wirkungen mechanischer Reize auf die Fo r m w e c h s e 1 - Erscheinungen, auf Wachsthum und Theilung der Zellen sind bisher nicht bekannt geworden.

Fig. 172. Mi mos a pudica. A Ein Zweig in ungereiztem Zustande ausgestreckt. £ Ein Zweig in gereiztem Zustande gesenkt mit zusammengefalteten Blättern. Nach

Detmek.

Dagegen sind die erregenden Wirkungen auf die Energie- wechsel-Erscheinungen sehr ausführlich untersucht worden, und es liegt ein grosses, hier und dort zerstreutes Beobachtungsmaterial darüber vor, aus dem wir hier die typischen Erscheinungen heraus- greifen können.

Den Mittelpunkt des Interesses bilden auch hier wieder die Be- wegungs-Erscheinungen, welche durch die mechanischen Reize aus- gelöst werden. Allgemein bekannt ist die Auslösung der Turgescenz- Bewegungen an den sogenannten sensitiven Pflanzen, wie etwa an der zierlichen Mimosa pudica. Die einem kleinen Akazienbäumchen ähnliche Mimose hält am Tage und in ungestörtem Zustande ihre Blattstiele erster Ordnung, welche vom Stamme entspringen, schräg nach oben gerichtet. Die Blattstiele zweiter Ordnung, welche die Blätter-

1) Verworn: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns." In Pflüger's Arch. Bd. LI, 1891.

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 25

386

Fünftes Capitel.

reihen tragen, sind Aveit auseinander gespreizt, und die Blättchen selbst stehen horizontal weit ausgebreitet (Fig. 172 Ä). Sobald aber der Topf, in dem das Bäumchen Avächst, einen Erschütterungsstoss erfährt, ändert sich das Bild fast momentan. Die Blattstiele erster Ordnung sinken in Folge der Abnahme des Turgors ihrer Basalpolsterzellen schlaff nach unten, die Blattstiele zweiter Ordnung wenden sich näher an- einander, und die Blättchen selbst erheben sich und legen sich mit ihren oberen Flächen zusammen (Fig. 172 B). In dieser Stellung ver- harrt die Pflanze, wenn sie ferner in Ruhe gelassen wird, einige Zeit und kehrt dann ganz allmählich, indem der Zellturgor an den be- treffenden Stellen der Gelenkpolster wieder steigt, in ihre ursprüng- liche Stellung zurück. Auch an einem einzigen Blättchen kann man durch ganz sanfte locale Berührung die Reizstellung auslösen. Be-

Fig. 173. Difflugia. Aus dem Sandgehäuse ragen drei fingerförmige Pseudopodien her- vor. A Ungereizt, S gereizt durch eine schwaclie Erschütterung.

rührt man zu stark , so sieht man die folgenden Blätter nacheinander wie eine Reihe Zinnsoldaten umklappen und hat daran einen überaus augenfälligen Ausdruck für die Fortpflanzung des Reizes in der Sinnpflanze.

Unter den Contractionsbewegungen kennen wir als Wirkung mechanischer Reize mit Sicherheit bisher nur die Auslösung des Contractionsstadiums, obwohl es nicht unwahrscheinlich ist, dass sehr feine Berührungsreize, wie z. B. der Contact einer amoeboiden Proto- plasmamasse mit seiner glatten Unterlage, durch Cohäsionswirkung in manchen Fällen auch die Expansion der Pseudopodien beeinflussen könnten.

Bei den nackten Protoplasmakörpern der Rhizopoden bringt an den ausgestreckten Pseudopodien ein einzelner Erschütterungsstoss, wie er etwa durch einen starken Schlag auf dem Objectträger unter dem Mikroskop erzeugt werden kann, je nach dem sehr verschiedenen

Von den Ivcizen und iliien Wirknniren.

387

Grade ihrer Keizbarkei't, mehr oder weniger starke Contractioii-s- erseheinungen hervor '). Eine A m o e b e , ein A c t i n o s p h ae r i u m etc., die in dieser Weise gereizt werden, sistiren ihre centrifugale Proto- plasmaströmung, d. h. die Ausstreckung ihrer Pseudopodien, momentan, bei starker Reizung kann sogar eine theilweise Einziehung der Pseudo- podien, eine vorübergehend centripetale Protoplasmaströmung eintreten. Andere Formen dagegen, wie die mit zierlichem, aus Sandkörnchen gebautem Gehäuse versehenen Difflugien (Fig. 173j, reagiren energischer auf die mechanische Reizung. Schon bei einer schwachen Erschütterung werden die Pseudopodien langsam mehr oder weniger weit retrahirt, wobei ihr vorher glatter Contour runzelig wird (Fig. 1731^). Bei stärkerer Erschütterung aber werden die Pseudo- podien häutig mit solcher Gewalt in den Protoplasmaleib hineingezogen, dass ihre Enden , da das Protist durch ein klebriges Secret an seiner Unterlage festhaftet, durch den energischen Zug abreissen. Bei stärkerer Reizung macht sich gleichzeitig die Veränderung, welche die Pseudo- podien erffihren, noch in viel ausgeprägterem Maasse geltend, als bei der schwächeren: die Pseudopodien werden nicht bloss runzelig.

Fig. 174. Contrac- tion eines Pseu- dopodiums von Difflugi.a lobo- stoma nach star- ker Erscliütte- rung. Sieben auf- einanderfolgende Stadien der Retrac- tion.

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sondern es quellen aus ihrer ganzen Oberfläche über den glatten Contour hinaus kleine Tröpfchen hervor^), die, je weiter die Reizwirkung sich entwickelt, um so grösser werden, zu einer myeliuartigen Masse zusammenfliessen und sich deutlich von einem stark lichtbrechenden, in der Axe des Pseudopodiums sichtbar Averdenden Strange sondern (Fig. 174), bis das Pseudopodium ganz eingezogen ist und seine Masse mit dem übrigen Körperprotoplasma vermischt. Auch unter den Poly- thalamien der See finden sich viele Formen mit sehr grosser Reizbar- keit, die schon auf einen einzigen Erschütterungsstoss hin ihr ganzes reich verzweigtes Pseudopodiennetzwerk einziehen.

In der gleichen Weise kann man auf dem Objectträger unter dem Mikroskop die Wirkungen eines Erschütterungsstosses auf die Geissel- und Wimperbewegung beobachten. Verfolgen wir z. B. eine Pera- nema unter dem Mikroskop auf ihrem Wege, so finden wir, dass dieses kleine Infusorium lediglich durch die regelmässigen Peitschen- schwingungen seines vorderen Geisselendes gerade und ungestört sich durch das Wasser bewegt (Fig. 175). Führen wir aber jetzt einen kurzen Schlag auf den Objectträger aus, so erfolgt sogleich ein

^) Verwohn: „Psycho-physiologische Protistenstudien.'' ^) Vergl. auch Fig. 156 pag. 368.

Jena 1889.

25'

388

Fünftes Capitel.

energischer Peitschensclilag der ganzen Geissei, der dem Flagellat eine andere Bewegungsrichtung giebt. Darauf setzt es wie vorher ruhig, nur das Ende seiner Geissei schwingend, seinen Weg wieder fort. Der mechanische Reiz hat also eine Verstärkung des Geisseischlages zur Folge gehabt. Dasselbe können wir bei der FlimmerbeAvegung der Wimper- Infusorien beobachten. Folgen wir unter dem Mikroskop einem recht ruhig und nicht zu schnell dahin schwimmenden Paramaecium, das sich durch das Spiel seiner Wimpern wie durch un- zählige kleine und schnell schlagende Ruder durch das Wasser bewegt, so sehen wir, wie es auf einen Erschütterungsstoss hin seine Bewegung plötzlich beschleunigt, um aber sofort Avieder zu seiner vorhergehenden Geschwindigkeit zurück- zukehren. Viel deutlicher aber ist diese Wirkung bei Pleuronema chrysalis zu beobachten, einem kleinen, bohnenförmigen Infusor, das in der Regel lange Zeit ganz still im Wasser liegt und seine langen, strahlenförmigen Wimpern vollkommen ruhig hält (Fig. 176), im Moment einer ganz geringen Erschütterung aber plötzlich eine oder einige wenige, sehr energische Schläge mit den Wimpern ausführt, so dass es einem Floh ähnlich durch das Wasser springt, um gleich darauf wieder an einem andern Orte ruhig

Fig. 175. Peranema, eine Geisselinfuso- rienzelle. «Ungestört schwimmend , b durch Erschütterung gereizt.

A B

Fig. 176. Pleuronema chrysalis. A Still liegend, B im Begriff, auf einen Er- schütterungsreiz zu springen. Die Wimpern sind im Schlag begriffen.

Hegen zu bleiben. Aehnliche Fälle giebt es in der sanguinischen In- fusorien-Welt in grosser Fülle. Ueberall finden wir, dass mechanische Reize energische Wimperschläge auslösen.

Von den Reizen und ilircn Wirknnjren.

389

Auch um die Wirkungen mechanischer Reize auf die Muskel- bewegung zu beobachten, bietet das Infusorienlcben unzählige Gelegen- heiten. Die glatten IMuskelfjidcn (Myoide) sind unter den Infusorien weit verbreitete Organoide, und wie überliau})t Alles im Leben dieser in ewiger Aufregung belindlichen Protisten mit grosser Schnelligkeit geschieht, so reagiren auch die contractilen Fäden auf die geringste Erschütterung mit einer plötzliciien, heftigen Contraction. Es giebt wenig Anblicke in der mikroskopischen Welt, die so anmuthig und fesselnd sind, wie das Zusammenzucken eines weitverzweigten Vorti- cellinenbäumchens nach jeder kleinen Erschütterung (Fig. 177). Im Moment des Stosses contrahiren sich gleichzeitig und blitzschnell die sämmtlichen Sticlmyoide der einzelnen Individuen, und die Stiele legen sich in zierliche Sprungfedertouren (Fig. 177 J?). Auch Stentor, der in der Ruhe seine schöne Trompetenform entfaltet hat, zuckt durch die Contraction seiner vielen, in der äusseren Körperschicht gelegenen Myoidfäden auf jede Erschütterung plötzlich zu einer gestielten Kugel

Fig. 177. Carchesium polypinum, eine verzweigte Vorticellinen-Colonie.

A Ungereizt, B durch Erschütterung gereizt. Die einzelnen Individuen sind durch

Contraction ihres StielmyoMs zusammengeschnellt.

zusammen (Fig. 168 pag. 380). Ebenso verhalten sich die quergestreiften Muskeln der höheren Thiere, ohne freilich den gleichen hohen Grad der Reizbarkeit zu besitzen. Es bedarf schon eines stärkeren Schlages auf die Muskelsubstanz selbst, um z. B. einen Froschmuskel durch mechanische Reizung zum Zucken zu bringen.

Die Erregung der Lichtproduction durch mechanische Reize ist Jedem bekannt, der eine Reihe schöner, ruhiger Sommernächte am Meer verbracht hat. Die eigenartige glashelle Thierwelt, welche bei ruhigem Wetter die oberflächlichen Schichten des Meeres belebt, hat, gleichgültig, welchen Thierklassen ihre verschiedenen Mitglieder an- gehören, die wundervolle Fähigkeit, bei jedem Schaukeln des Bootes, bei jeder Ruderbewegung, bei jedem Wellenschlag hell aufzuleuchten. Wo viele kleine Organismen, wie Noctiluken, Radiolarien, Ktenophoren- eier etc., im Meere als Plankton treiben, kann man sich den physiologi- schen Genuss eines magischen Funkensprühens im Wasser des Abends sogar im Zimmer verschaffen. Bei jedem Umrühren des Meerwassers im Glase blitzen diese einzelligen Wesen im Moment der Berührung mit dem Glasstabe hell auf, um sofort wieder in Dunkelheit zu versinken.

390

Fünftes Capitel.

Hundertfach sprühen die Funken im Grlase und bieten einen ästhe- tischen Anblick von solcher Schönheit, dass selbst das so viel ge- schmähte verhärtete Gemüth des Vivisectors davon nicht unberührt bleibt.

Ehe wir uns von der Betrachtung der erregenden Wirkungen mechanischer Reize abwenden, verdient noch eine Gruppe von Er- scheinungen unsere Aufmerksamkeit; das sind die Folgen rhyth- misch sich wiederholender Erschütterungen. Hierbei kommen die Erscheinungen, welche bei einmaliger Erschütterung sich nur unvollkommen entwickeln, durch Summation in ihrem stärksten Grade zum Ausdruck, vorausgesetzt, dass die einzelnen Erschütterungs- stösse einander folgen, ehe der Reizerfolg jedes einzelnen schon wieder vorübergegangen ist. Am deutlichsten ausgesprochen finden wir diese Thatsache bei den Contractionsbewegungen, wo sich eine Contraction über die andere „superponirt", so dass gar keine Expansion dazwischen Zeit hat, sich zu entwickeln, sondern ein vollständiger Contractions- krampf entsteht, den wir als „mechanischen Tetanus" bezeich- nen. Die Eigenthüm- lichkeit des Tetanus besteht darin, dass er, obwohl distinuirlich aus lauter einzelnen Contractionen zusam- mengesetzt, doch we- gen der schnellen Auf- einanderfolge dersel- ben den Eindruckeines continuirlichen Vor- gangs macht. Die ein- fachste Methode, um rhythmische Erschüt- terungen zu erzeugen, ist die, dass man die Objecto entweder in einem flachen Näpfchen durch ein rotirendes Zahnrad mit weiten Speichen erschüttert oder auf einem dünnen Glasplättchen an dem einen Zinken einer Stimmgabel von geeigneter Tonhöhe befestigt und den andern Zinken mit einem Geigenbogen anstreicht. Die sofort im Moment der Beendigung des Versuches angestellte Beobachtung zeigt dann, dass Amoeben, Actinosphaerium und andere Rhizopoden ihre Pseudopodien vollständig eingezogen haben und sich im Stadium stärkster Contraction, d. h. in mehr oder weniger voll- kommener Kugelform, befinden (Fig. 178). Unterbricht man den Ver- such schon nach kurzer Dauer der Erschütterung, so kann man je nach dem Zeitpunkt der Unterbrechung die verschiedenen Stadien der Entwicklung des Tetanus beobachten. Die Pseudopodien sind dann erst unvollkommen eingezogen. Charakteristisch sind dabei die Erschei- nungen an langen, fadenförmigen Pseudopodien, z. B. des Actino- sphaerium oder Orbitolites (Fig. 179 u. 180). Bei ganz schwachen Erschütterungsstössen bleiben hier die Pseudopodienfäden glatt und gerade, wie sie im ungestörten Zustande waren, und ihr Proto- plasma fliesst langsam, aber stetig ausnahmslos in centripetaler Rich- tung. Sind die Erschütterungsstösse aber heftiger, dann nehmen die

Fi ff. 178.

B

Amoebe. A Normal, B nach tetaniselier Reizung auf der Stimmgabel.

Von den Keizeii und ilireu "Wirkuii'jeu.

391

vorher glatten Pseudo])odien ein variköses Aussehen an, indem das centripetal strömende Protoplasnm derselben sich zu lauter kleinen Spindek'iien und Kügelchen sammelt, von denen die kleineren in die niichstliegenden grösseren hineinfliessen, die grösseren sich immer mehr dem centralen Protoplasmakörper niihern, bis schliesslich nach längerer Dauer der Einwirkung alles Protoplasma in den Zellkörper

Fig. 179. Actinosphaerium. A Ungestört, B im Beginn stärkerer tetanischer Reizung, C im vollkommenen mechanischen Tetanus.

A B

Fig. 180. Orbitolites. Ein Theil der Schalenoberfläche mit ausgestreckten, faden- förmigen Pseudopodien. A Ungereizt, B nach stärkeren Erschütterungsstössen.

selbst hineingeflossen ist ^). Diese eigenthümliche Tröpfchenbildung auf den Pseudopodien ist eine bei den mit fadenförmigen Pseudopodien ver- sehenen Rhizopoden allgemein verbreitete Eigenthümlichkeit des stark und dauernd gereizten Protoplasmas, die nur ein specieller Fall der

^) Verworn: „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend-physio- lojrische Untersuchuncr der Contractionserscheinungen." Jena 1892.

392 Fünftes Capitel.

allgemeinen Erscheinung ist, class stärkere Reize nackte Protoplasmamassen zur Annalime der Kugel form ver- anlassen. Dasselbe Bestreben der Kugelbildung, wel- ches alles gereizte Protoplasma als Ganzes zeigt, macht sich auch in seinen einzelnen Th eilen bemerk- bari).

Die Flimmerbewegung wird durch rhythmisch iutermittirende Erschütterungen zu grosser Energie gesteigert, so dass Infusorien, welche auf diese Weise gereizt sind, noch eine beträchtliche Zeit lang nach der Reizung wie rasend durch das Wasser stürmen. Zur Ent- wicklung eines wirklichen Tetanus, bei dem die Wimpern in Con- tractionsstellung gekrümmt stehen blieben, scheint es indessen hierbei nicht zu kommen, wenigstens sind solche Beobachtungen bis jetzt noch nicht gemacht worden. Die rhythmische Bewegung der Flimmerhaare bleibt dauernd bestehen und wird nur in ihrer Geschwindigkeit und Amplitude verändert.

Dagegen können wir beim Muskel sehr leicht einen mechanischen Tetanus erzeugen. Vorticellen, in der oben beschriebenen Weise gereizt, verfallen sofort in Tetanus. Der Stielmuskel bleibt dauernd contrahirt. Ja, der Tetanus ist häufig so stark, dass sich die Zell- körper der Vorticellen von den Stielen ablösen und frei durch das Wasser davonschwimmen. Kurze Zeit nach dem Aufhören der Reizung strecken sich dann die isolirten Stiele wieder, bleiben aber selten noch einige Zeit am Leben. Den quergestreiften Muskel kann man durch ein rhythmisch thätiges Hämmerchen, das man vorsichtig auf den Muskel schlagen lässt, ebenso in mechanischen Tetanus versetzen, so dass er während der Dauer des Reizes contrahirt bleiljt.

Der äusseren Erscheinung nach könnte man verführt werden, den Tetanus der cojitractilen Substanzen für eine Lähmungserscheinung zu halten, denn die Amoebe, das Actin osphaeri um, der Muskel etc. befinden sich während des tetanischen Zustandes an- scheinend in völliger Ruhe und Bewegungslosigkeit, wie die gleichen Objecto, wenn etwa ein Narkoticum auf sie eingewirkt hat. Allein beide Zustände haben durchaus nichts miteinander zu thun. Der Unterschied ist vielmehr fundamental; das zeigt eine genauere Unter- suchung des Verhaltens der Stoffwechselvorgänge. Während nämlich in der Narkose die Stoffwechselvorgänge eine wirkliche Lähmung er- fahren, haben die Stoffwechseluntersuchungen am tetanisirten Muskel ergeben, dass im Tetanus der Stoffwechsel bedeutend gesteigert ist. Die Menge der Zerfallsproducte der lebendigen Substanz, wie Kohlen- säure, Milchsäure etc., erfährt eine ausserordentliche Zunahme; gewisse Stoffe, die im Muskel aufgehäuft sind, wie Glykogen, werden im Tetanus verbraucht, und die Wärmeproduction des Muskels steigt während des tetanischen Zustandes in beträchtlichem Maasse. Daraus geht hervor, dass im tetanischen Zustande der Lebensvorgang eine be- deutende Steigerung erfährt, dass also der Tetanus durchaus keine Lähmungs-, sondern im Gegentheil eine wirkliche Erregungs- erscheinung ist.

Analog dem Tetanus der contractilen Substanzen erscheint auch die Lichtproduction der Noctiluken bei intermittirender Reizung als

^) Vergl. hierzu die Ersehe iimnofeu der Xekrobiose ])ag. 333 Fig. 142.

Vdii (k'U lieizeii und iliruii Wirkuiigt-u. 393

ein continuirlic'lici' Vorgang. Freilifli nininit dieselbe nach kurzer Zeit schon ganz bedeutend an Intensität ab 'j.

b. LähmungserscheinungeD.

So mannigfaltig und weit verbreitet die erregenden Wirkungen mechanischer Reize sind, so spärlich sind die Lähmungserscheinungen, welche durch mechanische Reize hervorgerufen werden, und sogar diese spärlichen Erscheinungen sind zum Theil noch Avenig untersucht.

So liatHoRVATH^) und später übereinstimmend mit ihm Reinke^) die ?Angabe gemacht, dass Bakterien, wenn sie dauernd regel- mässigen Erschütterungen in ihren Culturen ausgesetzt Averden, eine Beeinträchtigung ihrer Vermehrung erfahren, mit anderen Worten, dass eine Lähmung des Wachsthums stattfindet. Später ist von anderen Seiten die Beweiskraft der betreffenden Experimente wieder angefochten werden; aber neuerdings hat Meltzer*) in einer ausführ- lichen Versuchsreihe die Beobachtungen von Horvath und Reinke im Wesentlichen bestätigt, indem er zeigte, dass regelmässige Vibrationen nicht bloss eine Hemmung des Wachsthums, sondern unter bestimmten Verhältnissen sogar den vollständigen Tod und körnigen Zerfall des Protoplasmas herbeiführen können.

Ferner machte Engelmann ^) die Beobachtung, dass die Bewegung der Diatomeen und Oscillarien nach Erschütterungen stillsteht. Allein hier bleibt die Frage unentschieden, ob dieser Stillstand der Bewegung als Lähmungserscheinung oder vielmehr als Ausdruck teta- nischer Erregung, wie etwa der Stillstand der Protoplasmabewegung bei den tetanisirten Arno eben, zu deuten sei.

Endlich haben wir aber in der Drucklähmung der Nerven jeden- falls eine wirkliche Lähmungserscheinung vor uns, die den Lähmungs- erscheinungen, welche die Narkotica hervorrufen, an die Seite zu stellen ist. Diese Drucklähmung, welche eintritt, wenn ein Nerv einige Zeit, aber nicht zu stark, comprimirt wird, ist als „Gefühl des Einschlafens" der Extremitäten allgemein bekannt. Ausser in den subjectiven Ei'- scheinungen äussert sich das „Eingeschlafensein" darin, dass die Reiz- leitungsfähigkeit des gedrückten Nerven herabgesetzt oder ganz unter- brochen ist, so dass die Muskeln, welche von dem betreffenden Nerven versorgt werden, eine Zeit lang nicht durch den Nerven zur Con- traction erregt werden können. Kurze Zeit nach Aufhebung des Druckes stellt sich dann die Leitungsfähigkeit wieder ein.

Damit dürften aber auch ziemlich alle Thatsachen erschöpft sein, welche als Lähmungswirkungen mechanischer Reize aufgefasst werden können.

M Massart: „Sur rirritalnlite des noctiluques." In „Bull, scientif. de la France et de la Belg'iqne" Tome XXV.

2) Horvath : „Ueber den Einfluss der Ruhe und der Bc\ven:ung auf das Leben." In Pflüger' s Arch. Bd. XVII, 1878.

^) J. Reinke: „Ueber den Einfluss mechanischer Erschütterung auf die Entwick- lung der Spaltpilze." In Pflüger's Arch. Bd. XXIII, 1880.

4) Meltzer: „Ueber die fundamentale Bedeutung der Erschütterung für die lebende Materie." In „Zeitschr. f. Biologie" Bd. XII, 1894.

5) Engklmann: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Hermanns Handbuch der Physiologie Bd. I. Leipzig 1879.

394 Fünftes Capitel.

3. Die Wirkungen thermischer Reizung.

Die AnAvenclung der thermischen Reizung lässt bei Weitem weniger Modificationen zu, als die Anwendung mechanischer oder gar chemischer Reize, denn wir können lediglich als Reiz eine Temperatur- Erhöhung oder Temperatur-Erniedrigung auf die lebendige Substanz einwirken lassen. Rhythmische Temperaturschwankungen von einiger Geschwindigkeit lassen sich der Natur des thermischen Reizes entsprechend nicht leicht erzielen, da die Wärme zu lange Zeit braucht, um sich einem Körper mitzutheilen oder aus ihm zu ver- schwinden. Daher ist es z. B. nicht möglich, einen dem mechanischen Tetanus entsprechenden Wärme-Tetanus zu erzeugen. So gestaltet sich denn die thermische Reizung überaus einfach, und ebenso einfach er- weisen sich die Wirkungen derselben.

a. Erregungserscheinungen.

Wenn wir ausgehen von der Durchschnittstemperatur, unter der sich eine Zelle normaler Weise befindet, die also das Optimum der Lebensbedingung vorstellt, so finden wir als allgemein gültiges Gesetz, dass bis zu einem bestimmten Punkte aufwärts die Erregung mit zunehmender Temperatur steigt. Das gilt für die verschiedensten Lebenserscheinungen und für die ver- schiedensten Formen der lebendigen Substanz.

Als Beispiel der Stoffwechsel-Erregung durch steigende Temperatur wählen wir am besten die Thätigkeit der Hefezellen, weil sich aus der Menge der Kohlensäure, die aus der Trauben- zuckerspaltung hervorgeht, am besten ein Maassstab für die Steige- rung des Stofi'wechsels ergiebt. Da finden wir denn , dass die Kohlensäure-Entwicklung in einer hefehaltigen Traubenzuckerlösung mit steigender Temperatur immer lebhafter Avird , bis sie bei ca. 30 bis 35 '^ C ganz stürmisch verläuft ^). Die Kohlensäurebläschen steigen im Gährungsrohr auf wie im perlenden Sect. Ebenso bietet auch das Pflanzenleben eine grosse Anzahl von deutlichen Beispielen dafür, wie mit steigender Temperatur innerhalb bestimmter Grenzen die Lebens- erscheinungen, wie Kohlensäurespaltung, Stärkebildung, Eiweiss- bildung etc., an Intensität zunehmen, wobei man findet, dass die Temperaturen, mit denen die Erregung ihr Maximum erreicht, nicht nur für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz, sondern auch für die einzelnen Theilerscheinungen des Stoffwechsels an dem- selben Object sehr verschieden sind. Schliesslich beobachtet man auch im Thierreich, dass der Stoffwechsel proportional der Temperatur zu- nimmt, und bereits Spallanzani hat für die Kaltblüter, speciell für die Schnecken, gezeigt, dass der Sauerstoffverbrauch mit steigender Tem- peratur wächst. Wie auch im Einzelnen der Stoffwechsel beschaffen sein möge, überall in der lebendigen Welt, wo wir auch hinblicken, gilt das Gesetz, dass die Intensität des Stoffwechsels mit wachsender Temperatur zunimmt.

Es darf indessen nicht unerwähnt bleiben, dass es anscheinend von diesem allgemeinen Gesetz eine Ausnahme giebt. Das ist das

M JusTus VON LiEBiG : „Uebei" Gährung, über Quelle der Muskelkraft und Er- nährung." Leipzig und Heidelberg 1870.

Von den Reizen und ihivn \Viikiin;;xu. 395

Verhalten der liomoiothermen (warmblütigen) Thiere. Es ist eine be- kannte Thatsaclie, dass die Warmblüter mit steigender Tempei*atur eine Abnahme des Stoffwechsels erfahren. Der jMensch hat im Winter einen viel regeren Stoffwechsel als im Sommer; er verljraucht am meisten Nahrung bei den niedrigsten und am wenigsten bei den höchsten Temperaturgraden. Dieses merkwürdige Paradoxon ist bis- her noch wenig aufgeklärt, und Pflüger'), der sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt hat, kommt auch nur auf Grund gewisser Hypothesen zu einer Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs. Das Charakteristicum des Warmblüters liegt bekanntlich gegenüber allen anderen Thieren darin, dass er in seinem Nervensystem Mechanismen besitzt, welche auf reflectorischem Wege die Temperatur des Körpers reguliren und auf gleicher Höhe erhalten, mag die Aussentemperatur noch so grossen Schwankungen unterworfen sein. Der Stoffwechsel, welcher ja die Quelle der Wärmeproduction im thierischen Organismus ist, steht aber bei den Warmblütern im Dienste der Wärmeregulation. Ist die Aussentemperatur sehr niedrig, so wird auf dem Wege durch das Nervensystem reflectorisch von der Haut her der Stoffwechsel und damit die Wärmeproduction gesteigert, um die stärkeren Wärme- verluste des Körpers wieder zu decken, und umgekehrt, ist die Aussen- temperatur sehr hoch, so erfährt der Stoffwechsel und damit die Wärme- production, ebenfalls auf reflectorischem Wege, eine entsprechende Herab- setzung. Die Stoffweehselsteigerung der Zellen bei der Kälte und die Stoffwechselherabsetzung bei der Wärme wird also nicht direct durch die Temperatur hervorgerufen, sondern durch Reize, die vom Central- nervensystem her kommen. Aber damit ist das Paradoxon doch noch nicht beseitigt, sondern nur verschoben. Die Erregung des Central- nervensystems, welche die Reize liefert, wird ja erst von der Kürper- oberfläche, von der Haut her durch Abkühlung oder Erwärmung auf dem Wege der Teraperaturnerven ausgelöst, und so bleibt uns immer noch die Frage offen, wie steigende Temperatur eine Herabsetzung und sinkende Temperatur eine Steigerung der Erregung im Central- nervensystem hervorrufen kann. Um diese Frage in Uebereinstimmung mit dem allgemeinen Temperaturgesetz zu lösen und so das anscheinende Paradoxon zu beseitigen, hat sich Pflü-ger^) folgende sehr plausible Hypothese gebildet. Er stellt sich vor, „dass das Centralorgan des Temperatursinnes zwei Substanzen enthalte als Substrate zweier ver- schiedener specifischer Energieen; die Erregung der einen dieser Sub- stanzen offenbart sich dem Bewusstsein als Wärmegefühl, die Erregung der andern als Kältegefühl. Man hätte sich dann weiter vorzustellen, dass beide Substanzen in solchen Leitungsbeziehungen stehen, denen zu Folge die Erregung der einen Substanz abnimmt, wenn die der andern steigt und umgekehrt". Solche Verhältnisse kennen wir in der That mehrfach in unserem Centralnervensystem. Unter dieser Voraussetzung ist es klar, dass mit steigender Aussentemperatur das Wärmecentrum erregt und umgekehrt das Kältecentrum gelähmt werden muss, während mit sinkender Temperatur das Wärmecentrum gelähmt und umgekehrt das Kältecentrum erregt wird. Steht daher das Kälte- centrum mit den den Stoffwechsel beeinflussenden Nervenbahnen in

M Pflüger: .,Ueber Wärme und Oxydation der lebendigen Materie." In Pflüger's Arch. Bd. XVIII, 1878. -) Pflüger, 1. c.

396

Fünftes Capitel.

Verbindung, so muss Lähmung des Kältecentrums durch erhöhte Aussentemperatur eine Herabsetzung des Stoffwechsels zur Folge haben und umgekehrt. Damit wäre das allgemeine Temperaturgesetz in seiner Allgemeingültigkeit gewahrt. Indessen ist diese Vorstellung doch zunächst nur hypothetisch.

Die Steigerung der Lebenserscheinungen durch zunehmende Tem- peratur macht sich auch am Fo rm Wechsel bemerkbar, wo sich der- selbe überhaupt deutHch ausprägt, also vor Allem an Organismen, die in der Entwicklung begriffen sind, an Zellen, deren lebendige Sub- stanz sich vermehrt und fortpflanzt. So fangen Pflanzensamen erst bei einer bestimmten Temperatur an zu keimen : der Mais etwa bei 9 ^ C, Dattelkerne erst bei etwa 15 "^ C. \). Von diesen Punkten an nimmt mit steigender Temperatur das Wachsthum immer mehr zu bis etwa gegen 30 40''C. Ebenso sind zahlreiche Beobachtungen an Bakterien ge- macht worden, die das- selbe Verhältniss ge- zeigt haben. Der Heu- bacillus z. B. wächst nach den Untersuchun- gen von Brefeld erst von einer Temperatur von 6 "^ C. an und ver- mehrt sich mit steigen- der Temperatur immer schneller bis zu 30 ^ C. Der Tuberkelbacillus beginnt, wie Koch ge- zeigt hat, erst bei 28" C. zu wachsen und pflanzt sich am schnell- sten fort bei 37 bis 38^' C. Dass der Tu- berkelbacillus erst bei so hoher Temperatur anfängt zu wachsen, ist auf seine parasitische Lebensweise in den Geweben der warmblütigen Thiere zurückzuführen, mit deren Körpertemperatur auch das Optimum seines Wachsthums zusammenfällt. Eine Anzahl ähnlicher Beispiele aus dem Leben der Bakterien hat De Bary ^) in seinen Vorlesungen über Bakterien zu- sammengestellt. Untersuchungen an anderen Objecten, wie z. B. an thierischen Eizellen, Leukocyten etc., würden voraussichtlich ganz ana- loge Resultate ergeben.

Am unmittelbarsten aber machen sich wieder die erregenden Wir- kungen auf die Energie wechsel-Erscheinungen bemerkbar, insbesondere auf die Bewegung. Auch hier zeigt sich allgemein eine Zunahme der Bewegung mit steigender Temperatur. Um diese Er- scheinungen an einzelnen lebenden Zellen zu verfolgen, können wir uns am besten des von Max Schultze zu diesem Zwecke construirten heizbaren Objecttisches bedienen, der aus einer hufeisenförmigen Messing-

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181. Heizbarer Objecttiscli. Schultze.

Xach Max

') JcLios Sachs: „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. '^ Leipzig 1882. ■-'; Di; Barv : ..Vorlesungen über Bakterien.'^ 2. Aufl. Leipzig 1887.

Von den IJoizcn und ilireii Wiikiiiis'cii. 397

platte bestellt, die an ihrer KrUmmun;:," zu einer gn'is.soren Flüche erweitert ist (Fij^". 181). Unter dieser Fläche, die von einem l)ia))hragina durchbohrt ist, befindet sich ein sjuralig aut'j;e\vundenes Thermonieter- rohr, dessen oberes Ende auf einer Scala zwischen dan beiden Aesten des Hufeisentisches emporragt (Fig. 181), Das Ganze wird auf dem Objecttisch eines Mikroskops befestigt, und unter die beiden Enden der Hufeisenästc werden Spirituslampen gestellt, welche den Objecttisch langsam erwärmen. An dem Thermometer kann man die Höhe der Temperatur, die in der Mitte des Objecttisches herrscht, leicht controlliren.

Auf diese Weise können wir uns von der Erscheinung überzeugen, dass die Protoplasmabewegung der Arno eben, wie bereits Engel- mann ^) fand, mit steigender Temperatur immer lebhafter wird, und dass diese Protisten, wie Kühne') zuerst feststellte, bei 35 " C. in heftige Contraction verfallen, indem sie Kugelform annehmen, wie nach heftiger chemischer oder mechanischer Reizung (vergl. Fig. 183 7j pag. 400). Ganz analog verhalten sich die anderen Rhizopoden , wie Actino- sphaerium, Orbitotiles etc. (vergl. Fig. 179 u. 180 pag. 891), sowie die Leukocyten der verschiedenartigen Thiere, und auch die Protoplasmaströmimg der Pflanzenzellen zeigt dieselben Erscheinungen. Max 8chultze^) und Nägeli'^) maassen die Geschwindigkeit der Körnchenströmung in den Protoplasmafäden der Zellen von Trades- cantia und Nitella bei zunehmender Temperatur und sahen, wie sie mit steigender Temperatur immer grösser wird, und Kühne (1. c.) stellte fest, dass das Protoplasma in den Zellen der Staubfädenhaare von Tradescantia bei einer Temperatur von 45" C. heftige Contractions- erscheinungen zeigt, indem es sich in der typischen Weise zu Kugeln zusammenballt (vergl. Fig. 35 pag. 98).

Bei der erregenden Wirkung steigender Temperatur auf die Protoplasmabewegung ist eine wichtige Thatsache zu berücksichtigen, die für die Erklärung mancher, noch später zu behandelnder Er- scheinungen von grosser Bedeutung ist: das ist die Thatsache, dass die beiden Phasen der Bewegung, die Expansions- phase unddieContractionsphase, durch aus nicht gleich- massig erregt werden^). Man kann diese Thatsache am besten an marinen Rhizopoden mit langen, fadenförmigen Pseudopodien feststellen, bei denen die Protoplasmatheilchen einen sehr langen Weg zurück- zulegen haben. Beobachtet man z. B. die Wirkung steigender Temperatur auf Rhizoplasma (Fig. 130 pag. 289), so sieht man, dass bis zu etwa 31 32*^ C. hinauf zwar beide Phasen mehr und mehr erregt werden, so dass die Protoplasmabewegung beschleunigt Avird, dass aber dabei stets die Expansionsphase die Contractionsphase überwiegt, so dass sich die Pseudopodien mehr und mehr und immer reichlicher strecken.

') Engeljiann : „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Hermauii's Handbuch d. Physiol. Bd. I, 1879.

2) Kühnk: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1868.

^) Max Schcltze: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen." Leipzig 1863.

*) Nägki.i: „Die Bewegung im Pflanzenreiche." Beiträge zur wissensch. Botanik Heft 2, 1860.

^) Veeworn: „Erregung und Lähmung." Vortrag, gehalten auf der 68. Vers, deutsch. Naturf. u. Aerzte zu Frankfurt a. M. 1896. Derselbe: „Zellphysiologische Studien am rothen Meer." Sitzungsber. d. Kgl. Preuss. Akad. d. Wiss. XLVI, 1896.

398

Fünftes Capitel.

Bei etwa 31 32^ C. ist die Erregung beider Phasen gleich stark. Steigert man die Temperatur noch mehr, so sieht man, dass jetzt die Contractionsphase mehr und mehr die Expansion überwiegt, und dass bei sehr langsamer Zunahme der Temperatur bis gegen 39 und 40 ^ C. hin die Pseudopodien schliesslich ganz eingezogen werden. Die Er- regungscurven für die Expansionsphase und Contractionsphase fallen also nicht zusammen, gehen auch nicht parallel, sondern haben beide an verschiedenen Stellen ihr Maximum. Zweifellos ist ein ähnliches Verhalten auch bei anderen contractilen Objecten und im Gebiete anderer Reize zu beobachten, und es wäre eine sehr dankbare Aufgabe, in dieser Richtung weitere Studien zu machen.

Die Flimmerbewegung wird, wie Enoelmann ^) an Fliramer- epithelien und Rossbach ^) an Infusorien beobachtet haben, mit steigen- der Temperatur ebenfalls mehr und mehr bis zu einem bestimmten Grade erregt. Ein bequemes Object für die Beobachtung der Flimmer- bewegung eines Epithels liefert uns die Rachenschleimhaut des Frosches. Es gelingt leicht, ein etwa quadratcentimeterbreites Stück dieser Flimmerhaut, deren Wimperschlag nach der Speiseröhre hin gerichtet ist, vom Gaumen loszulösen und abzuschneiden. Spannen wir

dieses Stück dann mit vier Nadeln auf einem Kork- rahmen (Fig. 182) aus und bedecken die ausgespannte Flimmerschleimhaut mit ei- nem Deckgläschen, so kön- nen wir an diesem Object, wenn es vor Vertrocknung geschützt wird, Tage lang die Flimmerbewegung beob- achten und ihre Geschwin- digkeit, sei es direct unter dem Mikroskop, sei es an dem Fortgleiten aufgelegter Blutgerinnsel oder Kohlenstaubpartikelchen, untersuchen. So ist es leicht, festzustellen, Avie die Geschwindigkeit und Energie der Bewegung mit steigender Temperatur wächst. Ebenso leicht und vielleicht noch augenfälliger kann man an Infusorien auf dem heizbaren Objecttisch die Flimmerbewegung und ihre Erregung durch steigende Temperatur beobachten. Rossbach, der zuerst diese Untersuchungen an verschiedenen Wimperinfusorien gemacht hat, be- schreibt, wie die FJimmerbewegung dieser Protisten an Geschwindigkeit immer mehr zunahm, so dass die Infusorien bei 25 '^ C. „pfeilschnell hin und her zu schiessen" begannen, bis ihre Bewegungen bei 30 bis 35 *^ C. förmlich rasend wui'den.

Analog verhält sich schliesslich auch der Muskel. Hängen wir z. B. einen Froschmuskel in eine Kochsalzlösung von 0,5 ^/o, deren Temperatur schnell gesteigert wird, so verkürzt sich der Muskel von etwa 28 ^ C. an mit zunehmender Temperatur immer mehr, bis seine Contraction bei etw^a 45'' C. ihren Höhepunkt erreicht. Tauchen wir

Fig. 182. Eachenschleimhaut des Frosches auf einen Kork rahmen gespannt.

^) Engelmann, 1. c.

^) Eossbach: „Die rliytlimischen Bewegungserscheinungen der einfachsten Orga- nismen und ihr Verhalten gegen physikalische Agentien und Arzeneimittel." 1871. In „Arbeiten des zool.-zoot. Inst, zu Würzburg" 1874.

Von den Keizcn iiinl ilncii Wirkungen. 399

aber den Muskel pliitzlicli in eine Koclisalzlösung" von 45" C, so tritt sofort eine ])lötzlielie Oontraction ein. Aucii die Erregbarkeit des Muskels wird mit steigender Temperatur erhöht.

So finden w i r i n d e r g a n ze n 1 e b e n d i g e n N a t u r ü b e r all das allgemeine Gesetz, dass innerhalb gewisser Grenzen steigende T e m p e r a t u r erregend a u f a 1 1 e L e b e n s Vorgänge w i r k t.

b. Lähmungsersoheinungen.

Die entgegengesetzten Wirkungen wie die steigende hat die sinkende Temperatur, ^^'enn wir von der Durchschnittstemperatur, unter der sich ein Organismus normaler Weise befindet, abwärts- gehend die Terapei'atur immer mehr und mehr herabsetzen, so finden wir, dass auch die Lebenserscheinungen an Energie mehr und mehr abnehmen, und dass sie von einem bestimmten niedrigen Temperatur- grade an, der für die verschiedenen Organismen und für die ver- schiedenen Lebenserscheinungen sehr verschieden hoch liegt, gar nicht mehr wahrnehmbar sind. So sehen wir Hefepilze bei Tenipcraturen unter 10"^ C. den Traubenzucker nicht mehr spalten, Seeigeleier, welche in Theilung begriffen waren, bei einer Abkühlung auf 2 bis C in ihrer Entwicklung stillstehen, Arno eben bei wenig über 0 ° C. ihre Bewegung einstellen und, wenn die Abkühlung schnell er- folgt, in der Form, die sie gerade hatten, erstarren (Fig. 183 0). Das Protoplasma wird bei einem bestimmten niederen Temperaturgrad kälte starr. Indessen genügt eine Erwärmung über diesen Punkt, um die Kältestarre wieder zu lösen und die Lebenserscheinungen wieder sichtbar auftreten zu lassen. Wird dagegen die Temperatur unter diesen Punkt noch mehr herabgesetzt, so gelangen wir schliess- lich an einen Temperaturgrad, bei dem die Lebensfähigkeit vernichtet wird, von dem an keine Erwärmung mehr das Leben zurückrufen kann. Dieses Temperaturminimum liegt freilich bei den verschiedensten Organismen in sehr verschiedener Höhe. So hat, wie wir sahen. Kühne gezeigt, dass Amoeben schon beim Einfrieren, also bei Ab- kühlung bis auf wenig unter 0" C. sterben, während Pictet für Bakterien fand, dass sie eine Abkühlung auf mehr als 200*^ C ertragen können, ohne ihre Lebensfähigkeit zu verlieren ^). Die Frage, ob bei der Abkühlung irgend welcher lebendigen Substanz einmal ein Punkt erreicht wird , avo die Lebens processe vollkommen still stehen, ohne dass die Lebensfähigkeit erloschen ist, lässt sich zur Zeit ebensowenig entscheiden, wie die Frage, ob die Lebens Vorgänge in der Narkose vollständig zum Stillstand gebracht werden können ohne Vernichtung der Lebensfähigkeit. Die Zustände der Kälte- starre und der Narkose sind ganz analog : in beiden sind keine Lebens- erscheinungen mehr wahrnehmbar, aus beiden Avird durch Zurück- führung unter normale Bedingungen die lebendige Substanz wieder zum Leben gerufen, und aus beiden geht sie durch höhere Steigerung des Zustandes, d. h. durch tiefere Narkose und weitere Abkühlung, in den irreparablen Tod über. Gerade diese letztere Thatsache, dass gesteigerte Narkose und Abkühlung die Lebensfähigkeit der gelähmten Organismen vernichtet, dürfte mehr für die Ansicht sprechen, dass in diesem Lähmungszustande die Lebensvorgänge noch nicht vollständig

1) Vergl. pag. 295.

400

Fünftes Capitel.

erloschen sind, dass noch eine „vita minima" besteht. Immerliin fehlen vorläufig noch die entscheidenden Experimente, um diese Frage sicher zu beantworten ^).

Diese Lähmungserscheinungen durch Kälte sind aber nicht die einzigen, welche durch Temperaturveränderungen herbeigeführt werden. Ebenso wie hohe Kältegrade, lähmen auch hohe ^^'ärmegrade die Lebenserscheinungen. Wir haben gesehen, dass eine Steigerung der Temperatur zunächst erregend wirkt, und dass die Lebensprocesse bei einer Temperatur von bestimmter Höhe sogar einen stürmischen Ver- lauf nehmen können. Gehen wir aber über diesen Punkt noch mit der Temperatursteigerung hinaus, so nimmt die Intensität der Lebens- processe plötzlich ausserordentlich schnell ab, und die Lebenserschei- nungen werden unmerkbar. Hefezellen, über 40 '^ C. erwärmt, lassen keine Kohlensäure-Entwicklung in einer Traubenzuckerlösung mehr er-

Fig. 183. K ö r p e r fo r m e n der Amoeba limax bei verschiedenen Tem- peraturen: A bei 25 " C. Die Amoeben haben langgestreckte Keu- lenform und zeigen lebhafte

Protoplasmaströmung ; B bei 40^ C. Die Amoeben haben Kugelform angenom- men und verharren in Wärmestarre ;

C bei 2" C. Die Amoeben zeigen einen klumpigen Zell- körper, aus dem zahlreiche kleine Pseudopodien hervor- ragen. Die Bewegung ist nur bei sehr langdauernder Beobachtung noch bemei-k- bar.

kennen ; Seeigeleier, die in Theilung oder Befruchtung sich befanden, über 30 ° C. erwärmt, verharren in dem Moment der Veränderung, in dem sie sich gerade befanden; Amoeben, über 35 " C. erwärmt, ver- harren in ihrem kugelförmigen Zustande, die Wimpern der Flimmer- zellen bleiben bei der gleichen Temperatur in stark gekrümmter Stellung, d. h. im Contractionszustande, stehen, kurz, das Protoplasma verfällt in Wärme starre (Fig. 183^). Werden die Objecte nach kurzer Einwirkung dieser hohen Temperaturen wieder abgekühlt, so erholen sie sich langsam; dauert die Einwirkung aber zu lange, oder steigt die Temperatur noch ein wenig, so ist eine Rückkehr zum Leben ausgeschlossen. Der Punkt, wo die Lebensprocesse am intensivsten verlaufen, d. h. das Stoffwechsel-Maximum, ist also dem Punkte der Wärmestarre und dem Temperatur-Maximum, nach dessen Ueber- schreitung der Tod eintritt, ungemein nahe, während er von dem

1) Vergl. pag. 381.

Von den Reizen und ihren Wirkungen.

401

Punkte der Kältestarre und dem Temperatur -Mininmm sehr weit entfernt ist. Im Uebrigen ist die Analogie zwischen Kiiltestarre und Warniestarre vollkommen; beide sind Lähmungserscheinungen. Es ist daher unzweckmässig und erweckt unrichtige Vorstellungen, wenn man für Kältestarre und Wärmestarre auch den Ausdruck Kältetetanus und Wärmetetanus anwendet, Avie das bisweilen gescliehen ist. Die Starre ist gerade das Gegentheil vom Tetanus: Die Starre ist eine Lähniungs-, der Tetanus eine Erregungs-Erscheinung. Ein Kälte- oder' Wärnietetanus kann überhaupt nicht erzeugt werden, da zum Begriff des Tetanus das rhythmische Intermittiren des Reizes gehört, das bei der Temperatur wohl kaum erzielt werden kann. Eine Vermischung beider Begriffe kann daher nur zu irrthümlichen Auffassungen führen. So ist das Leben zwischen zwei Temperaturpunkte, den Punkt der Kältestarre und den Punkt der Wärmestarre, eingeschlossen, an denen die Lebensprocesse ein Minimum haben oder ganz still stehen. Zwischen diesen Punkten aber spielen sich die Lebenserscheinungen in wahrnehmbarer Weise ab, um so lebhafter, je mehr die Temperatur

Kältestarr&

IVärmesüzrre.

Fig. 184. Ciirve der Erregung bei steigender Temperatur, giebt die Temperatur, die Ordinalen die Erregung an.

Die Abscisse

vom Punkt der Kältestarre an steigt, bis nahe an den Punkt der Wärmestarre. Kurz vor dem Punkt der Wärmf starre haben die Lebens- processe ihr Maximum. Von hier an sinkt ihre Intensität mit steigender Temperatur plötzlich ab bis zum Punkte der ^A'ärmestarre. Es wäre daher möglich, wenn wir einen exacten Maassstab hätten für die In- tensität eines jeden Stoffwechselprocesses, so etwa, wie wir ihn in der Menge der abgespalteten Kohlensäure bei der Hefegährung besitzen, die einzelnen Theile des Lebensvorgangs und damit die einzelnen Lebens- erscheinungen als eine mathematische Function der Temperatur in Form einer Curve darzustellen, deren Abscissen die Temperatur, deren Ordinaten die Intensität der betreffenden Lebenserscheinung angäben (Fig. 184). Da die einzelnen Theile des Lebensvorganges, d. h. sowohl die zum assimilatorischen als die zum dissimilatorischen Stoffwechsel gehörigen Processe, in sehr verschiedenem Grade von der Temperatur abhängig sind, so würde man in der Construction dieser einzelnen Curven die ungemein complicirten Verhältnisse des Stoffwechsels bei jeder Temperaturveränderung am übersichtlichsten und anschaulichsten zum Ausdruck bringen können.

Verworn. Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 26

402 Fünftes Capitel.

4. Die Wirkungen photischer Reizung.

Wenn in der Physiologie vom Lichtreiz gesprochen wird, so ist darunter nur die chemische, nicht die thermische Wirksamkeit der Lichtstrahlen gemeint. In diesem Sinne gefasst steht der Lichtreiz den anderen Reizqualitäten in gewisser Weise eigenthümlich gegen- über insofern, als man gefunden hat, dass nicht alle lebendige Sub- stanz auf Lichtreize reagirt, während chemische und mechanische, thermische und galvanische Reize auf alle lebendigen Substanzen Wirkungen hervorrufen.

Bei den höheren Thieren sind es fast ausschliesslich die Sinnes- zellen der Sehorgane, welche die Fähigkeit, auf Licht zu reagiren, besitzen. Die meisten Gewebezellen sind, soweit bisher die Unter- suchungen ergeben haben, nicht für Lichtreize empfänglich. Bei einigen niederen Wirbelthieren , wie z. B. dem merkwürdigen in den Bächen der Adelsberger Grotten lebenden 01m (Proteus an- guineus) dagegen hat, wie Raphael Dubois gezeigt hat, noch die ganze Haut die Fähigkeit, durch Lichtstrahlen erregt zu werden, und bei vielen wirbellosen Thieren, wie z. B. beim Regenwurm, fehlen so- gar die Augen vollständig, und nur die Zellen der Haut sind für Lichtreize empfänglich. Dagegen unter den Einzelligen besitzen viele, auch solche, die keine besonders für die Lichtperception entwickelten Organe haben, die Fähigkeit, auf Lichtreize zu reagiren, und bei den chlorophyllhaltigen Protisten und Pflanzen schliesslich ist die Licht- reizbarkeit allgemein verbreitet.

Demnach giebt es genug Zellformen, wie z. B, die Mehrzahl aller Gewebezellen und aller Wimper-Infusorien, die nach unseren bisherigen Erfahrungen durch Lichtreize, sofern deren thermische Wirkung aus- geschaltet ist, nicht im Geringsten afficirt werden. Allein man hat in neuerer Zeit eine Beobachtung gemacht, die im Hinblick auf die Frage nach der Lichtreizbarkeit solcher Zellen, die bisher für un- empfänglich galten, doch grosse Beachtung verdient.

Seit der Entwicklung unserer modernen Elektricitäts-Technik hat man Mittel kennen gelernt, um elektrisches Licht von ganz ungeheurer Stärke zu erzeugen, Licht, das an Intensität die Strahlen des Sonnen- lichtes weit, weit hinter sich lässt, Licht, das mit dem Beiwort „blendend" nicht mehr genug charakterisirt erscheint. „Zerstörend" oder „zerleuchtend" müsste man sagen, denn in Elektricitätswerken, wo Arbeiter solchem Lichte ausgesetzt sind, hat man mehrfach beobachtet, dass die Haut dieser Leute an den unbedeckten Körper- stellen echte Nekrose-Erscheinungen zeigt. Die Zellen der Epidermis sterben ab, die oberen Hautschichten schälen sich, und die tieferen Hautschichten zeigen heftige Entzündungserscheinungen und Ge- schwürsbildungen, ähnlich wie bei Verbrennungen. Und dennoch sind es nicht die thermischen Wirkungen des Lichtes, welche in diesen Erscheinungen zum Ausdruck kommen, sondern die chemischen Wirkungen der kurzwelligen Strahlen des Spectrums, wie man durch Zwischenschaltung von wärmeabsorbirenden Medien feststellen konnte. Es kann also kein Zweifel sein, dass wir es hier mit einer sehr starken Lichtwirkung zu thun haben an Zellen, deren lebendige Substanz durch die Intensität der Lichtstrahlen, die unter gewöhn- lichen Verhältnissen die Erdoberfläche treffen, nur in sehr geringem Maasse afficirt wird.

Von (k'u Reizen uml iliieii Wirkungen. 403

Diese Thatsache ist solir beachtenswerth, denn es mu.ss sich nun- mehr die Frage orhebcai, ob nicht aucli Zellenformen, deren lebendige Substanz als ganz uncni})tanglich für Licht von unseren gewöhnlichen Intensitätsgraden gehalten worden ist, bei höheren Lichtintensitäten doch etwa auf den Lichtreiz reagiren, ja ob nicht schliesslich alle lebendige Substanz ebenso , wie sie auf Wärme reagirt, auch durch Licht bceinriusst wird, nur in verschiedenem Grade, die eine schon durch Strahlen von sehr geringer, die andere erst durch Strahlen von ungeheurer Intensität. Diese Möglichkeit muss entschieden erwogen werden. Indessen, solange die Experimente fehlen, die uns über diese Frage Aufschluss geben, und die nn't geringen Schwierigkeiten in einem grossen Elektricitätswerk ausgeführt werden können und sicher auch in kurzer Zeit ausgeführt werden , solange müssen wir uns allein an die bis jetzt bekannten Thatsachen halten.

Als IndifFerenzpunkt, d. h. als diejenige Lichtintensitilt, bei der von einer lleizwirkung nicht die Rede sein kann, betrachten wir am besten die absolute Dunkelheit. Von hier an beginnt mit zunehmender Intensität des Lichtes auch seine Reizwirkung.

a. Erregungserscbeinungen.

Die Stoff Wechsel- Wirkungen des Lichtes sind es, welche der ganzen organischen W^elt, die heute die Erdoberfläche in unab- sehbarer Formenfülle bevölkert, das Leben gewähren. Nicht mit Un- recht, wie wir sehen , haben die alten Naturphilosophen in gewissem Sinne die Thiere als Parasiten der Pflanzenwelt charakterisirt. Zwar nähren sich die Fleischfresser von thierischen Stoffen, aber diese thierische Nahrung stammt von Pflanzenfressern, und so sind auch die Fleisch- fresser auf die Pflanzenwelt angewiesen. Die Pflanzenwelt aber kann nicht existiren ohne die Einwirkung des Lichtes. Die Sonnenstrahlen geben den Reiz, welcher die Chlorophyllkörper der Pflanzenzelle ver- anlasst, die Kohlensäure der Luft in Kohlenstoß" und Sauerstoff zu spalten und aus dem Kohlenstoff mit dem durch die Wurzeln auf- genommenen Wasser synthetisch die erste organische Substanz, das erste Product des assimilatorischen Stoffwechsels, die Stärke, zu er- zeugen. Noch mehr. Die Sonnenstrahlen geben auch den Anstoss zur Entstehung des grünen Chlorophyllfarbstoffes selbst, wie aus der Thatsache hervorgeht, dass Pflanzensamen, die man im Dunkeln keimen lässt, ein weisses oder hellgelbliches Pflänzchen entwickeln , das zwar auf Kosten der in den Pflanzensamen aufgespeicherten Reservestoffe eine Zeit lang wächst, das aber erst ergrünt, wenn es dem Lichte aus- gesetzt wird. Erst nach dem P^rgrünen ist die Pflanze im Stande, Kohlensäure zu spalten und Stärke zu bilden. So ist die Entstehung des ersten organischen Productes, aus dem alle andere organische Sub- stanz sich herleitet, die Wirkung des Lichtreizes der Sonnenstrahlen.

Diese assimilatorische Wirkung des Sonnenlichtes kommt nicht allen Lichtstrahlen in gleichem Maasse zu. Wie wir bereits an anderer Stelle ^) gesehen haben, sind es die Strahlen des rothen Lichtes, welche von allen bei gleicher Intensität die stärkste assimilatorische Wirkung entfalten.

1) Verg-l. pag. 222.

26 =

404 Fünftes Capitel.

Von den Wirkungen des Lichts auf die Netzhautzellen im Auge des Menschen und der Thiere, welche man objectiv wahrnehmen kann, ist bis jetzt zum grössten Theil noch nicht sicher, ob sie auf directer Reizung der betreffenden Zellen selbst oder auf reflectorischer Er- regung durch das Nervensystem beruhen : Immerhin müssen Stoffwechsel- Avirkungen in den Retinazellen vorhanden sein, da wir ihre Folgen im Centralnervensystemj auf das sich die Erregung durch den Sehnerven fortpflanzt, subjectiv als Farben empfinden und objectiv an anderen Menschen oder Thieren an den Bewegungen erkennen, die bei Licht- reizung durch Vermittelung des Centralnervensystems ausgelöst werden.

Ueber die erregenden Wirkungen des Lichts auf den Form Wechsel sind bisher noch keine augenfälligeren Erfahrungen bekannt geworden.

Dagegen kennen wir zahlreiche Wirkungen auf den Energie- wechsel, vor Allem auf die Bewegungserscheinungen.

Im süssen Wasser einzelner Teiche und Pfützen, verborgen zwischen Schlamm und Sand, führt träge in mattem Dämmerlicht ein unbehol- fenes Rhizopod sein Dasein , die amoebenähnliche Pelomyxa. Der klumpige, nackte, nicht selten fast 2 mm grosse Protoplasmakörper

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Fig. 185. Pelomyxa pulustris. A Ungereizt kriechend, £ gereizt contrahirt.

dieses merkwürdigen Wesens enthält neben einer grossen Anzahl runder Zellkerne eine Fülle von kleinen Sandkörnchen und Schlammtheilchen, so dass er völlig undurchsichtig erscheint. Die Bewegungen der Pelomyxa sind genau die einer trägen Amoebe. Der klumpige Protoplasmatropfen lässt ab und zu hier und dort ein flaches, hyalines Pseudopodium über den dunklen Körpercontour meist ruckweise vor- fliessen, in das dann die Innenmasse mit ihren Kernen, Sandkörnchen etc. nachströmt. In der Regel bildet sich, wenn man das Protist ungestört sich selbst überlässt, nach einiger Zeit wie bei Amoeba limax^) eine bestimmte Kriechrichtung heraus, so dass das Protoplasma nur immer in einer Richtung vorfliesst, und der Körper dadurch eine lang- gestreckte Gestalt annimmt (Fig. 185 J.). Wird aber die Pelomyxa beim Kriechen mechanisch durch Erschütterung oder chemisch durch Zusatz von Salzlösungen oder thermisch durch Erwärmen gereizt, so contrahirt sie sich sofort und nimmt, wie alle nackten Protoplasma- massen, Kugelform an (Fig. 185 _B). An diesem originellen Wesen konnte Engelmann 2) eine ausgesprochene Lichtreizbarkeit feststellen, und zwar zeigte sich, dass, Avenn die Pelomyxa im Dunkeln un- gestört in ihrer langgestreckten Form träge dahinkroch, eine plötzliche

') Vergl. pag. 372 Fig. 158.

2j Engelmann: ,. Ueber Reizung contractilen Protoplasmas durcli plötzliche Be- leuchtunjj." In PflügeVs Arch. Bd. XIX, 1879.

Von (k'ii Ivfi/tii mul iliicii Wirlviiui^eu.

405

Boliolituu^ (l('nsell)eii Keizerfolg' hatte, wie wii- ilin eben von der clu'niisrlieu , niechanisclicn und tlierniisclien Reizung- kennen lernten. Der rrot<)i)l:i.sniak(')rper contraliirte sicli plötzlicl» zur Ku^el, und alle Bewegung' hörte auf, um aber bei Verdunkelung alsbald wieder ein- zutreten. Langsamere Steigerung der Lichtinten.sität vom Dunkeln an hatte dagegen keinen deutlichen Einfluss. CJanz ähnlich verhalten sich auch die Protoplasmamassen mancher Myxomyceten, die ebenfalls auf Liciitreizung Contractionser.scheinungen beobachten lassen.

Enoelmann, der sich viele Verdienste um die Physiologie der einzilligon Organismen erworben hat, entdeckte auch ein eigenthüm- liches Bakterium, das sich als ausserordentlich em))fänglich für Licht- reize erwies. Dieses Bakterium, das Engelmann') Bacterium photoni etr ic um nannte, bewegt sich durch den Schlag des Geissel-

Fig. 186. Pleuronema clirysalis. ^ Ungereizt, still liegend, B gereizt, im Be- gritl", durch Winiperschlag zu springen.

fadens, den die Enden jedes beweglichen Bakterienkörpers tragen, lebhaft im Wassertropfen umher. Allein diese Bewegung dauert nur so lange, als das Bakterium der Einwirkung des Lichtes ausgesetzt ist. Wird es dagegen ins Dunkle gebracht, so hört allmählich die Bewegung auf, und das Bakterium bleibt still liegen. Sobald aber wieder Licht einwirkt, beginnt die Bewegung der Bakterien von Neuem, und zwar konnte Engelmann mittels eines Spectralapparats feststellen, dass es die Strahlen des Orange und des Ultraroths sind, welche besonders diese erregende Wirkung auf die Bewegung der Bakterien ausüben.

Auch unter den Wimper- Infusorien, die sich im Allgemeinen bisher als nicht Hchtreizbar gezeigt haben, finden sich vereinzelte Vertreter,

') Engelman.n: „Bacterium photometricum. Ein Beitrag zur vergleichenden Physio- logie des Licht- und Farbensixms." In Pflüger's Arch. Bd. XXX.

406

Fünftes Capitel.

deren Wimperbewegung durch Lichtreize erregt wird. Wir lernten schon bei anderer Gelegenheit') Pleuronema chrysalis kennen, das im ungestörten Zustande still im Wasser liegt, ohne seine langen Sprungwimpern zu bewegen und nur von Zeit zu Zeit durch einen plötzlichen Schlag derselben einen schnellen Sprung ausführt. Wenn diese kleinen Infusorien , die man in der Regel in grösserer Menge zusammen beobachtet, an einer Stelle auf dem Objectträger still liegen, so kann man schon bei gewöhnlichem Tageslicht durch Wegnahme der Blende des Mikroskops eine Sprungbewegung auslösen, die sich öfter wiederholt, wenn die Blende nicht wieder eingeschoben wird ^). Wie eine Heerde aufgeregter Flöhe springen diese Wimperzellen wild durch- einander, bis sie wieder beschattet werden. Dabei tritt die Schlag- bewegung der Wimpern nicht unmittelbar im Momente ein , wo das Licht plötzlich auffällt, sondern erst nach einem Stadium latenter Reizung, das etwa 1 2 Secunden dauert. Durch Einschalten von farbigen Gläsern und Flüssigkeiten zwischen Lichtquelle und Object-

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Fig. 187. Spectra von verschiedenen Medien. 1 8pectrum eines rothen Glases,

2 Spectrum eines Kobaltglases, 3 Spectrum eines grünen Glases, 4 Spectrum einer

Kalibichromatlösnng, 5 Spectrum einer Kupferoxyd-Ammoniaklösung.

tisch des Mikroskops, und zwar von solchen, deren Durchlässigkeit für Strahlen ganz bestimmter Wellenlänge spectroskopisch vorher fest- gestellt w^orden ist (Fig. 187), kann man sich leicht überzeugen, dass es nicht etwa eine Wärmewirkung des Lichtes ist, welche in dieser Sprungbewegung zum Ausdruck kommt, sondern dass es gerade die Strahlen des blauen und violetten Lichtes, also die thermisch am wenigsten wirksamen Strahlen sind, Avelche diese Reizwirkung am stärksten hervorrufen. Auch durch Wärmestrahlen freilich kann man dieselbe Wirkung erzielen, aber dann reicht nicht das gewöhnliche Tageslicht dazu aus , sondern es bedarf Sonnenlichtes von grösserer Wirksamkeit, wie man es nur durch Concentration directen Sonnenlichts mittels eines Hohlspiegels erhalten kann, um die Sprungbewegung auszulösen.

Von der Bewegung der quergestreiften Muskeln ist bisher kein Fall bekannt geworden, in dem sich eine Beeinflussung durch

1) Vergl. pag. 388.

2j Verworn : „Psycho - physiologische Protistenstudien. Experimentelle Unter- suchungen." Nachschrift. Jena 1889.

Von den Keizen und ihren Wirkungen. 407

Licht mit Sicherheit ergeben hätte. Dagegen hat Steinach ^) vor einiger Zeit gezeigt, dass gewisse glatte Muskelfasern durch Licht- reize zur Contraction gebracht werden können. Der Sphinkter iridis bei Fischen und Amphibien, ein Muskel, welcher die Pupille des Auges durch seine Contraction verengert, ist, Avie Steinach fand, zusammengesetzt aus glatten Muskelfasern, die ein braunes Pigment enthalten. Diese glatten Muskelfasern werden durch Licht direct ohne Vermittelung des Centralnervensystems erregt, wie daraus hervorgeht, dass selbst der herausgeschnittene Muskel noch durch Beleuchtung zur Zusammenziehung veranlasst werden kann.

Ebenso , wie die Contractionsbewegungen in manchen Fällen durch den Lichtreiz erregt werden, kann auch die eigenthUmliche Bewegung der Diatomeen in gewissem Sinne vom Lichte beeinflusst werden. Wie Engelmann-) gefunden hat, hören die eigenthümlichen Bewegungen der Diatomeen auf, wenn man sie unter Sauerstoffabschluss in einem dunklen Raum aufstellt. Sie beginnen aber alsbald wieder, wenn man Licht auf sie einwirken lässt. Diese Erscheinung ist, wie Engelmann zeigte, nämlich darauf zurückzuführen, dass unter Sauer- stoffabschluss der zur Bewegung der Diatomeen nöthige Sauerstoff bald verbraucht wird. Befinden sich diese Algenzellen daher im Dunkeln, so stellen sie alsbald ihre Bewegungen ein; werden sie dagegen ins Licht gebracht, so spalten sie vermittels ihres dem Chlorophyll ver- wandten gelben Farbstoffs Kohlensäure in Kohlenstoff und Sauerstoff und produciren sich auf diese Weise den Sauerstoff, den sie zur Be- wegung nöthig haben, selbst, so dass sie ihre Bewegungen von Neuem wieder aufnehmen können.

b. Lähmungserscheinungen.

Sind schon die erregenden Wirkungen des Lichtes, wenigstens bei der unter gewöhnlichen Verhältnissen an unserer Erdoberfläche vorhandenen Intensität, nach unseren bisherigen Erfahrungen durchaus nicht allgemein bei aller lebendigen Substanz verbreitet, so sind die lähmenden Wirkungen der Lichtstrahlen noch ungemein viel seltener. Ja, die wenigen Lähmungserscheinungen des Lichtes, die bekannt geworden sind, müssen sogar auch noch mit grosser Vorsicht als solche aufgenommen werden , denn da sie bisher Avenig untersucht worden sind, ist ihre Deutung als Lichtlähmungserscheinungen recht zweifelhaft.

Man könnte z. B. die Erscheinung, dass das Wachsthum der Pflanzen im Licht ein geringeres ist, als im Dunkeln, für eine Lähmungserscheinung halten; man könnte sich vorstellen, dass das Licht direct gewisse Stoffwechselprocesse, welche zum W^achsthum nothwendig sind, hemmt. Allein das Wachsthum der Pflanzen ist eine sehr complicirte Erscheinung, bei der viele verschiedene Fac- to ren eine Rolle spielen, und wie bereits Sachs ^) hervorgehoben hat.

*) E. Steinach : „Untersuchungen zur vergleichenden Physiologie der Iris." In Pflüger's Arch. Bd. 52, 1892.

2) Engelmann: „Ueber Licht- und Farbenperception niederster Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. 29.

^) Jui.iüs Sachs: „Ueber den Einfluss der Lufttemperatur und des Tageslichts auf die stündlichen iind täglichen Aenderungen des Längenwachsthums der Internodien." In Arb. d. bot. Inst, in Würzbnrg Bd. 1.

408 Fünftes Capitel.

ist es zur Zeit noch nicht möglich , zu beurtheilen , wie weit das Licht als solches in das Zustandekommen dieses Erscheinungscomplexes eingreift.

Eine andere Lähmungswirkung des Lichts könnte man in seinem Einfluss auf die Lichtproduction mancher leuchtender Seethiere suchen. Es ist nämlich mehrfach die Angabe gemacht worden, dass pelagische Thiere , wie Ktenophoren , Siphonophoren etc. , aus dem Hellen ins Dunkle gebracht, nicht leuchten und erst, nachdem sie einige Zeit im Dunklen gestanden haben , durch Reize zu einer Anfangs schwachen, später stärkeren Lichtentwicklung veranlasst werden können. Die Lichtproductionsfähigkeit dieser Organismen scheint also durch Licht- einwirkung gelähmt zu wei'den, und da sich auch die einzelligen Noctiluken ebenso verhalten sollen , so dürften wir nicht annehmen, dass es sich um eine secundäre Wirkung des Lichtes handelt, die erst durch Sinnesorgane und Centralnervensystem vermittelt würde. Allein auch dieser Fall einer lähmenden Wirkung des Lichtes ist noch recht unsicher, da die fragliche Erscheinung zwar von mehreren Autoren beobachtet, aber bisher noch niemals untersucht worden ist.

Da viel mehr überhaupt nicht von lähmenden Wirkungen des Lichts bekannt sein dürfte, so muss einstweilen die Frage, ob das Licht überhaupt Lähmungserscheinungen hervorzurufen im Stande ist, noch in der Schwebe bleiben.

5. Die "\A^ i r k u n g e n elektrischer Reizung.

Der elektrische Reiz steht den anderen Reizqualitäten in mancher Beziehung eigenartig gegenüber. Einerseits kommt der elektrische Reiz wohl in der freien Katur nur in Ausnahmefällen mit den leben- digen Organismen in Berührung, was sonst nur noch von manchen chemischen Reizen gilt. Andererseits aber besitzt er mancherlei Eigen- schaften, die seine Anwendung auf die lebendige Substanz ganz be- sonders leicht und bequem gestalten. Der elektrische Reiz lässt sich so bequem wie kein anderer in seiner Intensität abstufen, mit einer Feinheit, die den höchsten Anforderungen entspricht. Ferner lässt er sich zeitlich auf jede beliebige Weise in seiner Anwendung begrenzen. Diese grossen Vorzüge, die mit der genial entwickelten elektrischen Reizmethodik ihre höchste praktische Bedeutung erlangt haben, sind die Ursache geworden , dass man in der speciellen Physiologie der Wirbelthiere überall, wo es sich um die Untersuchung von Reiz- wirkungen auf bestimmte Organe handelt, fast ausschliesslich den elektrischen Reiz verwendet. So ist in der speciellen Physiologie der Wirbelthiere der elektrische Reiz zum Reiz „par excellence" , zum alleinherrschenden Reiz geworden.

Von den verschiedenen Methoden , Elektricität zu erzeugen (Rei- bung, Influenz, Berührung, Induction), wenden Avir zu Reizzwecken in der Physiologie ausschliesslich den durch Berührung oder Induction gewonnenen galvanischen Strom an, weil dieser durch seine Constanz und Zuverlässigkeit, durch seine bequeme Handhabung und Anwend- barkeit, durch seine feine Abstufbarkeit an Intensität und Dauer die grössten Vortheile bietet. Da die Methodik der galvanischen Reizung sich aber bis zu einer überaus grossen Complication und Feinheit entwickelt hat, wird es zweckmässig sein, erst kurz auf einige der wichtigsten Apparate einzugehen.

Villi (li'ii Koi'/.iii iiml ilirc'ii Wirkiiiio-en.

409

Wie wir bereits a. a. O. M sahen, entsteht eine galvanische iSpannmij;', wenn wir zwei Streifen von verschiedenartigen Metallen oder gewissen anderen Körpern mit je einem Ende in eine scliwach angesäuerte Flüssigkeit eintauchen. Haben wir z. B. einen Streiten von Kupfer und einen Streifen von Zink, die mit ihren unteren Knden in ein (Jefilss mit verdünnter Schwefelsäure tauchen, während die oberen Enden frei in die' Luft ragen, so haben wir die primitivste P"'orm eines galvanischen Elements (Fig. 188), in welchem zwischen den beiden freien Enden des Zinks imd Kupfers eine Spannung besteht in der Weise, dass sich das freie Kupferende elek- trisch positiv, das freie Zinkende elektrisch negativ verhält. Verbinden wir die beiden freien Metallenden durch einen metallischen Leiter, z. B. einen Draht, so kann sich im Moment, wo diese Verbindung hergestellt wird, die elektrische Spannung ausgleichen. Da sie aber an der Berührungsstelle der Metalle mit der Flüssigkeit immer wieder von Neuem ent- steht, so resultirt auf diese Weise eine continuirliche Ausgleichung der Spannung, die wir als einen cons tauten galva- nischen Strom bezeichnen. Die Con- tinuität von Ku])fer, Draht, Zink, Flüssig- keit, Kupfer bildet gewissermaassen einen geschlossenen Kreis, in dem der Strom fliesst. Dieser galvanische Strom hat immer die gleiche Richtung; er fliesst, wenn wir die ausserhalb der Flüssigkeit befindlichen Enden der Metalle ins Auge fassen, vom Kupfer, dem positiven Pole, durch den Draht zum Zink, dem negativen Pole. In der Flüssigkeit selbstverständlich umge- kehrt: vom Zink durch die Flüssigkeit wieder zum Kupfer zurück. Da wir aber conventioneil immer die ausserhalb der Flüssigkeit befindlichen Pole als jiositiven und negativen Pol bezeichnen, so ist jeder Irrthum ausgeschlossen : das Kupfer ist der positive, das Zink der negative Pol, oder, wie wir, um die Stromesrichtung im Namen zum Ausdruck zu bringen, auch sagen, das Kupfer (-f) ist die Anode, das Zink (— ) die Kathode.

Diese Form des primitiven galvanischen Elements, wie sie z. B. in geringer Modification dem sehr starken Chromsäure-Tauchelement zu Grunde liegt, bei dem Kohle und Zink in verdünnte Chromsäure tauchen, diese Form hat sich für manche Zwecke als unbrauchbar herausgestellt. Wenn man nämlich den Stromkreis lange Zeit ge- schlossen lässt, d. h. die metallische Verbindung zwischen beiden Metallenden lange Zeit nicht unterbricht oder, wie man sagt: den Strom nicht „öffnet", so findet man, dass er nach längerer Zeit nicht mehr so stark ist, als Anfangs. Das beruht darauf, dass sich an den

Fig. 188. Galvanisches Ele- ment. Der freie Zinkpol ( ) ist mit dem freien Kiipferpol (-|-) durch einen Draht verbunden, so dass ein Stromkreis entsteht, in dem die Richtung des Stromes durch die Pfeile angegeben ist.

') Vergl. pag. 268.

410

Fünftes Capitel.

beiden in der Flüssigkeit befindlichen Metallenden durch elektrolytische Zersetzung gewisse Stoffe, sogenannte Polarisationsproducte, gebildet und angehäuft haben, die nun ihrerseits durch Berührung mit der

Flüssigkeit zur Entstehung eines galvanischen Stromes Anlass geben, der dem ursprünglichen Strome entgegengesetzt ist, ihn also allmählich mehr und mehr schwächt. Um die Entstehung dieses „Polarisationsstromes" zu verhindern und so den ursprünglichen Strom auf möglichst constanter Intensität zu erhalten, hat man den Ausweg gefunden, dass man beide Metalle in verschiedene Flüssigkeiten taucht, die durch eine poröse Thonscheidewand voneinander ge- trennt und so beschaffen sind, dass sie die sich bildenden Polarisationsproducte im Moment ihrer Entstehung gleich wieder unwirksam machen. So kann sich kein Polarisationsstrom entwickeln, und die elektromotorische Kraft des Elements bleibt constant. Solche „constante Elemente" sind in verschiedenen Formen im Gebrauch. Die bekanntesten und in der Phy- siologie am meisten benutzten sind die von Daniell, bei denen Zink in verdünnte Schwefel- säure und Kupfer in concentrirte Kupfersulfat- lösung taucht, ferner die von Bünsen (Fig. 189), bei denen Zink in verdünnte Schwefelsäure und Kohle (die das Kupfer vertritt) in concentrirte Salpetersäure taucht, und schliesslich die von Grove, bei denen Zink in verdünnte Schwefel- säure und Platin (statt des Kupfers) in concentrirte Salpetersäure taucht. Der freie Zinkpol ist bei allen die Kathode.

Fig. 189. BuNSBN'sches Element. Die Kohleplatte (-f-) steht in einem Thon- cylinder mit coTiceutrirter Salpetersäure. Die cylin- clrische Zinkplatte ( ) um- giebt den Thoncylinder und steht in einem Gefäss mit verdünnter Schwefelsäure.

-^^

y

II

Fig. 190. /Stromkreis, abgeleitet von dem Element £ zu dem Nerven iV eines Nervmuskelpräparats. Im Stromkreis befindet sich der Schlüssel S. 7/ Quecksilber- schlüssel.

In diesen galvanischen Elementen besitzen wir nunmehr Elek- tricitätsquellen , von denen wir jeden Augenblick einen galvanischen Strom in bequemster Weise ableiten können, wohin wir ihn haben wollen. Um irgend ein lebendiges Object, etwa ein Nerv- Muskel-

Von den Ivii/.cu luul iliiiii Wirliiiiigfii.

411

prä])<ir;it vom Frosch, galvanisch zu reizen, brauchen wir daher nur den Draht, welcher die beiden IMetalle eines Elements verbindet, zu durchsclineiden und zwischen seine Enden das Präparat einzuschalten ; dann Hiesst der Strom durch das Präparat (Fig\ 190/). Um aber be((uem jeden Augenblick den Stromkreis unterbrechen und wieder schliessen und so die Einwirkung des Reizes auf das Präparat willkürlich be- herrschen zu können, schalten wir in den einen Draht noch einen sogenannten „S trom Schlüssel" ein, der aus einem in isolirenden Hartgummi eingelassenen Quecksilbernäpfchen besteht, in welches das eine Drahtende eintaucht, während das andere mit einem kleinen Hebel in metallischer Verbindung steht, den man beliebig jeden Augenblick in das Quecksilber tauchen oder herausheben kann, so dass die metallische Leitung jeden Augenblick hergestellt und wieder unter- brochen oder, mit anderen Worten, der Strom geschlossen und geöffnet werden kann (E'ig. 190 //).

Fig. 191. Eine unpolari sirbare Elektrode. In einem beweglichen Stativ steckt eine Glasröhre, die mit einem Thonpt'ropfen verschlossen und mit concentrirter Zinksulfatlösung ge- füllt ist. In dem Tlionpfropfen steckt ein feuchter Pinsel, und in die Lösung ragt ein Zinkstab, zu dem der Draht geleitet wird, lieber die Pinsel zweier solcher Elektroden wird der Nerv des Präparats gelegt.

Wenn man länger einwirkende Ströme auf ein Präparat anwendet, so darf man nicht die Metalldrähte selbst als Elektroden an den Nerven oder Muskel etc. anlegen, da sonst an der Berührungsstelle des Metalls mit dem Präparat, das ja einen feuchten Leiter vorstellt, wieder Anlass zur Entstehung von Polarisationsströmen gegeben Aväre, die das Präparat selbst reizen und so den Versuch stören würden. Um diesen Uebelstand zu vermeiden , hat man daher sogenannte „unpolarisirbar e Elektroden" construirt, die an der Be- rührungsstelle mit dem Präparat keinen Polarisationsstrom entstehen lassen ^). Diese unpolarisirbaren Elektroden bestehen in ihrer be- quemsten Form je aus einer kurzen Glasröhre, die unten mit einem Pfropfen von plastischem Thon verschlossen ist, in welchem ein kurzer, weicher Pinsel steckt, während das Lumen der Röhre mit einer con- centrirten Zinksulfatlösung gefüllt ist, in welche ein mit dem Zu- leitungsdraht verbundener Zinkstab eintaucht (Fig. 191). Diese Elektroden stecken in verstellbaren Stativen und können ungemein leicht gehandhabt und an das Präparat mit ihren spitzen Pinseln an- gelegt Averden.

1) Vergl. pag. 272.

412 Fünftes Caprtel.

Nachdem wir in den galvanischen Elementen eine zuverlässige Quelle von Elektricität kennen gelernt haben, handelt es sich nun- mehr darum, die Intensität des galvanischen Stromes beliebig fein abzu- stufen. Zu diesem Zwecke müssen wir das Grundgesetz, welches die Intensitätsverhältnisse der Elektricität formulirt, etwas näher ins Auge fassen. Es ist das OnM'sche Gesetz, welches sagt, dass die Intensität eines Stromes proportional ist der elektro- motorischen Kraft der Stromquelle und umgekehrt

proportional den Widerständen: /= ,„

Die elektromotorische Kraft hängt ab von der Art und der Zahl der Elemente. Manche Elemente haben nur geringe elektromotorische Spannung, andere sehr hohe, und koppelt man zwei oder mehrere Elemente so an einander, dass die ungleichnamigen Pole mit einander verbunden werden, so hat man einen bedeutend stärkeren Strom, als ihn ein einziges Element liefert. Nach dem OnM'schen Gesetz wird also das Hauptmittel, um die Intensität I eines Stromes zu steigern oder zu schwächen, darin liegen, dass man die Zahl der P^lemente vermehrt oder verringert, denn dadurch wird die elektromotorische Kraft E vergrössert oder vermindert. Aber diese Abstufung durch die Veränderung der elektromotorischen Kraft ist eine sehr rohe und lässt keine feineren Intensitätsänderungen zu. Deshalb benutzen wir, wo es sich um feinere Abstufungen der Intensität handelt, den zweiten Factor, von dem, wie das OflM'sche Gesetz sagt, die Intensität ab- hängig ist: das sind die Widerstände W. Die Widerstände sind von zweierlei Art: einerseits innere Widerstände, d, h. Wider- stände, die im Element selbst durch die Flüssigkeit etc. gegeben sind, denn die Flüssigkeit ist ein feuchter und daher schlechter Elektri- citätsleiter ; andererseits äussere Widerstände, die in der Art, der Länge und dem Querschnitt der Leitung ausserhalb des Elements gelegen sind. Die letzteren sind es hauptsächlich, welche wir in feinster Weise abstufen können.

Gute Leiter sind die Metalle; deshalb wählen wir zu unseren Leitungen ausserhalb des Elements immer Metalldrähte, am besten Kupferdrähte. Ihr Widerstand ist um so geringer, je kürzer die Leitung und je grösser ihr Querschnitt ist. Um den Widerstand zu erhöhen und dadurch die Intensität des Stromes zu schwächen, haben wir also ein sehr feines und leicht abstuf bares Mittel in der Hand: wir verlängern die Drahtleitung und nehmen Drähte von recht ge- ringem Querschnitt.

Auf diesen Thatsachen basirt ein Princip, das bei den Apparaten, welche zur Abstufung der Stromesintensität construirt worden sind, allgemein zur Verwendung kommt: das ist das Princip der Nebenschliessung. Leiten wir z. B. von einem Element E (Fig. 192 I) durch Kupferdrähte einen Kreis ab zu einem Präparat N, so fliesst durch das Präparat, wenn es auch als feuchter Leiter einen beträchtlichen Widerstand giebt, doch ein galvanischer Strom von einer bestimmten Intensität, die sich leicht messen lässt. Bringen wir aber in diesem Stromkreise eine „Nebenschliessung" an, indem wir zwei gegenüber liegende Punkte der metallischen Leitung durch einen Querdraht verbinden, so wird dadurch von dem grofsen Stromkreis noch ein kleiner Kreis {E A B) abgezweigt, in dem die Widerstände

Von den Heizen und ilinn Wiikuntrin.

413

bedeutend geringer sind, als in dem grossen Kreise, weil seine Leitung einerseits nur aus metallischen Leitern besteht und anderei*- seits auch kürzer ist, als in dem grossen Kreise. Die Folge davon ist, wie das ÜHM'sche Gesetz ohne Weiteres lehrt, dass in dem grossen Kreise nur noch ein Strom von verschwindend geringer Intensität kreist, der so schwach ist, dass er unter Umständen gar keine Wirkung meiir auf das Präparat ausübt, während in dem kleinen Kreise ein Strom von beträchtlicher Intensität sich bewegt. Wir haben also zwei Extreme der Intensität in dem grossen Kreise, in dem sich das Präparat befindet, einmal bei unterbrochener Nebenschliessung einen Strom von bemerkenswerter Intensität und das zweite Mal bei ge- schlossener Nebenschliessung einen Strom von ganz verschwindend geringer Intensität. Zwischen diesen beiden Extremen können wir nun die Stromesintensität in der feinsten Weise abstufen, indem wir die Widerstände in der Nebenschliessung successive vergrössern, bis

Fig. 192. Princip der Nebenschliessung. I Ein einfacher Stromkreis, II Strom- kreis mit Xebenschliessung. E Element, J\' Xervmuskelpräparat, A B Nebenschliessung.

dieselben so gross werden, dass die Nebenschliessung fast gar nicht mehr leitet. Dann geht wieder nahezu der ganze Strom durch den grossen Kreis und das Präparat.

Dieses Princip der Nebenschliessung hat Du Bois-Reymond be- nutzt zu seinem „Rh eochord'^, einem Apparat, der dazu dient, die Intensität in dem Stromkreise eines Präparats durch Einschaltung von bestimmt abgemessenen Widerständen in eine Nebenschliessung beliebig zu steigern. Als Widerstände sind dabei dünne Drähte von ganz bestimmter Länge benutzt, die nach und nach in die Nebenschliessung eingeschaltet werden können. Der Apparat (Fig. 193) besteht nämlich in seinen wesentlichen Theilen aus einer dicken Messingleiste, die in bestimmten Abständen in ihrer Continuität unterbrochen ist, so dass sie eigentlich eine Reihe selbständiger Metallklötze vorstellt, die aber alle durcli Einfügen metallischer Verbindungsstücke wieder zu einer einzigen Leiste verbunden werden können. Jeder dieser Messingklötze steht ferner mit dem benachbarten Klotz durch einen sehr dünnen Draht von bestimmter Länge in Verbindung, und auf dem Draht, der die ersten beiden Metallklötze verbindet, kann ein metallischer Schieber

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Fünftes Capitel.

hin und her geschoben werden, so dass die leitende Drahtstrecke, welche die beiden ersten Messingklötze verbindet, durch Hinaulschieben des Schiebers verkürzt oder ganz ausgeschaltet werden kann. Dieser ganze Apparat wird als Nebenschliefsung in den Stromkreis ein- geschaltet, in dem sich das Präparat befindet, in der Weise, dass von der Stromquelle die beiden Poldrähte zu der Messingleiste und von dort zwei andere Drähte zum Präparat geleitet werden. Sind nun die Verbindungsstücke der Metallklötze sämmtlich zwischen die Klötze eingefügt, so dass die Messingleiste eine Continuität bildet, so haben wir denselben Fall wie in Fig. 192. Es geht also durch den kleinen Kreis ein starker Strom, weil hier wenig Widerstände sind, während

durch den grossen Kreis nur ein sehr schwacher Strom fliesst, da hier das Prä- parat einen beträchtlichen Widerstand bietet. Wir können nun aber mittels unseres Apparats in bequemster Weise den geringen Strom, der durch den Prä- paratkreis geht, verstärken, indem wir die Widerstände in dem Kreise der Neben- schliessung erhöhen, und das erreichen wir, indem wir den Schieber zunächst immer weiter und weiter hinabschieben, so dass der Strom eine immer grössere Strecke des ersten Rheochorddrahtes durchlaufen muss, die an einer Skala zu messen ist. Dann aber können wir die Widerstände noch mehr verstärken , in- dem wir nach und nach auch noch die Verbindungsstücke zwischen den Metall- klötzen herausnehmen. Die Folge davon ist, dass der Strom ausschliesslich in der Nebenschliessung die ganzen Rheochord- drähte durchlaufen muss, die bei ihrer Dünne und Länge einen ganz beträcht- lichen Widerstand bilden. Je mehr aber die Widerstände im Kreise der Neben- schliessung wachsen , um so mehr steigt die Intensität des Stromes, der durch den Präparatkreis geht, und da die Wider- stände genau abgemessen sind, so kann man auf diese Weise die Stromesintensität im Präparatkreise in der feinsten Weise abstufen.

Es bleibt uns schliesslich noch übrig, Mittel kennen zu lernen, die es ermöglichen, einen Strom von momentaner Dauer auf ein Präparat einwirken zu lassen , und die es ferner gestatten , solche Ströme von momentaner Dauer in schneller, rhythmischer Aufeinander- folge zu erzeugen. Diese Mittel geben uns die Erscheinungen der Induction an die Hand. Es ist dazu nur nöthig, dass wir uns die Gesetze der Inductionsströme kurz vergegenwärtigen. Haben wir eine Drahtspirale, in deren Nähe, aber ohne sie zu berühren, sich eine zweite Drahtspirale befindet, und lassen wir durch die erste, die so- genannte „primäre Spirale", einen constanten Strom fliessen (Fig. 194), so entsteht im Moment der Schliessung dieses primären Stromes in der zweiten, der „secundären Spirale", ebenfalls ein Strom. Dieser „In-

Fig. 193. Du Bois-Reymond's Rheochord.

Von den Keizen und ihren Wirkungen.

415

ductionsstrom" ist von ganz kurzer Dauer; er entsteht nur im Moment der Schlielsung des primären ►Stromes, um sofort wieder zu ver- schwinden. Solange der primäre Strom durch die primäre Spirale fliesst. ist nicht der geringste Strom mehr in der socundären Spirale vorhanden. Dagegen entsteht sofort wieder ein kurzer Inductions- strom in der secundären Spirale, sobald der primäre Strom geöffnet wird. Also nur im Moment der Schliessung und der Oeffnung des primären Stromes entsteht ein Inductionsstrom. Der Schlicfsungs- Inductionsstrom ist aber in gewisser Beziehung ganz wesentlich von dem Oeffnungs-Inductionsstrom unterschieden. Während der Schliessungs- Inductionsstrom die entgegengesetzte Richtung hat wie der primäre Strom, ist der Oeffnungs-Inductionsstrom dem primären Strome gleich gerichtet. Diese Thatsache ist wichtig, denn sie erklärt uns gleichzeitig einen andern Unterschied zwischen dem Schliessungs- und Oeffnungsschlag. Wird nämlich der Strom in der primären Spirale geschlossen, so inducirt er bei seinem Entstehen nicht nur in der secundären Spirale, sondern auch in den Windungen der eigenen Spirale einen entgegengesetzt gerichteten Strom, und dieser ihm ent- gegenlaufende „Extrastrom" hemmt das Anschwellen des primären

I

Fig. 194. Inductionsstrom. I Primäre Spirale. E Element, S Schlüssel, cundäre Spirale. N Präparat.

7JSe-

Stromes, bis letzterer die Höhe seiner Intensität erreicht hat, womit die Inductionswirkung aufhört. Das ist bei der Oeffnung des primären Stromes aber anders, denn der Extrastrom, welcher bei der Oeffnvmg des primären Stromes in den Windungen der primären Spirale ent- steht, ist diesem gleich gerichtet. Daher macht sich auch in der secundären Spirale ein wesentlicher Unterschied zwischen demlnductions- schliessungsschlag und dem Inductionsöffnungsschlag bemerkbar, inso- fern beim Schliessungsschlag die elektrische Spannung wegen des langsameren Anschwellens des primären Stromes sich allmählicher aus- gleicht, als beim Oeffnungsschlag, wo der Ausgleich ganz plötzlich erfolgt. Wo es sich daher darum handelt, einen recht plötzlichen Strom auf ein lebendiges Object einwirken zu lassen, da werden wir ausschliefslich den Inductions-Oeffnungsschlag verwenden. Abstufen lässt sich die Intensität der Inductionsschläge durch die Abstände, welche man zwischen primärer und secundärer Spirale lässt. Bei grösserem Abstand ist die Intensität geringer, bei kleinerem grösser, am grössten aber, wenn man die secundäre Drahti'olle, die man immer etwas grösser wählt, über die primäre ganz hinüberschiebt.

Ein derartiger Apparat zur Erzeugung von Inductionsströmen ist das zum allernothwendigsten Handwerkszeug des Physiologen gehörige

416

Fünftes Capitel.

„Schlitten-Incluctorium" von Du Bois-Reymond. Dieser Apparat, der die secundäre Drahtrolle auf einer sclilittenartigen Bahn verschieben lässt (Fig. 196), ist gleichzeitig dazu eingerichtet, einzelne Inductions- schläge schnell und rhythmisch hintereinander zu erzeugen. Die Vor- richtung, welche das ermöglicht, ist der NEEF'sche oder WAGNER'sche Hammer (Fig. 195) und beruht auf folgendem Prinzip. Bekanntlich hat der galvanische Strom die Eigenthümlichkeit, ein Stück weichen

Eisens, das er umfliesst, S T Pin einen Magneten zu ver-

wandeln, solange er ge- schlossen bleibt. Wird der Strom geöffnet , so ver- schwindet der Magnetis- mus auch wieder aus dem weichen Eisen. Beim Neef' sehen Hammer ha- ben wir nun eine Messing- säule S, welche eine grade gestreckte Feder trägt. Diese Feder, an deren freiem Ende ein kleiner Hammer aus weichem Ei- sen befestigt ist, berührt in ihrer Ruhelage eine Stellschraube T, welche mit einem Draht P in Verbindung steht, der in Windungen um einen weichen, senkrecht unter dem Federhammer befindlichen Eisenstab herumläuft und in einer zweiten kleinen Messingsäule endigt. Die beiden Messingsäulen tragen Klemm- schrauben, um die zuleitenden Drähte vom Element E her zu befestigen. Wird der galvanische Strom des Elements geschlossen, so geschieht

Figr. 195. Neef' sc her oder Wagner' seh er Hammer.

Fisr. 196. Du Bois-Keymosd"s Schlitten-Inductor ium.

Folgendes. Der Strom tritt durch die Messingsäule S ein, geht durch die Feder, von hier aus in die Schraube T, dann weiter durch die Drahtrolle P, von hier um den Eisenstab herum und zur zweiten, kleineren Messingsäule, von wo er zum Element zurückkehrt. Die Folge davon ist, dass der weiche Eisenstab magnetisch wird und den über ihm schwebenden Hammer anzieht. Dadurch wird der Contact der Feder mit der Schraube T aufgehoben. Durch die Aufhebung dieses Contacts aber ist der Strom unterbrochen; folglich hört der

Von den Kciztii und iliiLii Wirkungen. 417

Magnetismus in dem weielien Kisenstab auch wieder auf, und der Hammer schnellt vermöge der Federkraft der Feder wieder in die Höhe. In P^olge dessen berührt die Feder wieder die Schraube T, und der Strom ist von Neuem geschlossen. So wird durch diese sinnreiche Einrichtung, solange das Element eingeschaltet bleibt, der Strom fort- während geschlossen und unterbrochen in schneller, rhythmischer Aufeinanderfolge. Beim Du Bois-IxEVMOND'schen Schlittenapjnirat (Fig. 19G) ist ein derartiger Hammer in den primären Stromkreis ein- geschaltet, und indem der Hammer spielt, bekommen wir bei jeder Oeffnung und jeder Schliessung im secundären Kreise einen Inductions- schlag, so dass eine schnelle Aufeinanderfolge von Inductionsschlägen entsteht, die geeignet ist, ein Präparat durch schnelle, intermittirende Reize zu tetanisiren.

Wir verdanken die Construction der meisten dieser Apparate allein Du Bois-Reymond's Ertindergabe, die uns eine Methodik ge- schaffen hat, Avelche in vielen Gebieten der Physiologie unentbehrlich geworden ist und unentbehrlich bleiben wird.

Gehen wir nach diesem Excurs über die Technik der galvanischen Reizung zu den Wirkungen über, welche der galvanische Reiz auf die lebendige Substanz ausübt.

a. Erregungserscheinungen.

Es ist eine bemerkenswerthe Thatsache, dass die elektrische Reizung, obwohl sie in der Physiologie zu den gewöhnlichsten und alltäglichsten Handhabungen gehört, dennoch fast ganz ausschliesslich auf die Nerven- und Muskelfaser und nur nebenbei gelegentlich auch auf Pflanzenzellen und einzellige Organismen angewendet worden ist. Diese Erscheinung hängt eng mit der einseitigen Entwicklung unserer Wissenschaft als Organphysiologie der Wirbelthiere zusammen. Wenn man sich auf die Organe des hochentwickelten Thierkörpers beschränkt, dann ist es bei der Abhängigkeit fast aller GeAvebe vom Nerven- system bei diesen Objecten von selbst geboten und in den meisten Fällen sogar unvermeidlich, die verschiedenen Gewebe nur indirect durch die dazu gehörigen Nerven zu reizen, da man die Betheiligung der zwischen allen Gewebezellen ungemein fein verzweigten Nerven- fasern bei der Reizung kaum ausschalten kann. Nur für den Muskel haben wir im Curare, jenem äusserst merkwürdigen Pfeilgift der mexikanischen Indianer, ein Mittel kennen gelernt, um ihn der Ein- wirkung des Nervensystems vollständig zu entziehen. Die Zellen der Drüsengewebe, der Schleimhäute, des Bindegewebes etc. dagegen sind von dem Einfluss der sie versorgenden Nerven nicht zu befreien, und wenn wir daher einen elektrischen Strom auf sie einwirken lassen, so bekommen wir bei der viel höhei'en Erregbarkeit der Nervenfasern nie eine directe Reizung der betreffenden Gewebezellen allein, sondern immer zugleich eine Reizung der Nervenfasern, die nun ihrerseits wieder ihre eigene Erregung auf die Drüsenzelle, Bindegewebe- zelle etc. übertragen. Um ein Gewebe durch Reizung in Thätigkeit zu versetzen, genügt es freilich und ist es sehr bequem, dasselbe in- direct durch den Nerven zu reizen; die Wirkungen einer directen Reizung des Gewebes selbst aber lassen sich dabei nicht studiren. So kommt es, dass es sich bei allen unzähligen elektrischen Reiz-

Verworn, AUgemeine Phj-siologie. 2. Aufl. 27

418 Fünftes Capitel.

versuchen am W irbelthierkörper fast ausnahmslos immer nur um Nerven- oder Muskelreizung gehandelt hat.

Dieser Umstand hat in der Physiologie zu mancherlei irrthümlichen Vorstellungen über die erregenden Wirkungen der galvanischen Reizung geführt. Indem man sich hauptsächlich auf die Reizung des Muskels, sei es direct, sei es indirect durch den Nerven, beschränkte, gewöhnte man sich daran, die Muskelzuckung als Ausdruck der Erregung im Muskel zu betrachten. Das war auch zweifellos richtig. Was aber nicht richtig war, das war der mehr oder weniger klare Gedanke, dass nur da, wo eine Zuckung auftritt, auch eine Erregung bestehe, und dass da, wo keine Contraction besteht, auch keine Erregung vorhanden sei. Diese Auffassung hat sehr viele Irrthümer hervorgerufen, die zum Theil noch jetzt nicht beseitigt sind. So ist es eine Vorstellung, die noch heute von einem Theil der Physiologen vertreten wird, dass nur die Intensitätsschwankungen des galvanischen Stromes und auch diese nur, wenn sie mit einer gewissen Geschwindigkeit erfolgen, erregend wirken, d. h. dass nur eine mit einer gewissen Geschwindigkeit sich vollziehende Steigerung oder Verminderung der Stromstärke Reiz- wirkungen erzeugt, dass aber ein auf constanter Intensität dauernd verharrender Strom , oder ein Strom , der nur sehr allmählich an Intensität zu- oder abnimmt, keine Erregung hervorruft. Man glaubte diesen Schluss aus folgenden Thatsachen ziehen zu müssen.

Wenn man durch einen Muskel oder seinen zugehörigen Nerven einen constanten Strom fliessen lässt, so zuckt der Muskel nur im Moment der Schliessung, wo also die Intensität des Stromes plötzlich anschwillt, um sich sofort wieder zu strecken und während der ganzen Dauer des Stromes gestreckt zu bleiben , bis er im Moment der Oeffnung, wo die Intensität plötzlich abfällt, eine zweite Zuckung aus- führt. Ferner, wenn man einen Strom von einer noch unwirksamen Stärke durch das Präparat fliessen lässt und dann die Intensität des Stromes ganz allmählich steigert, so kann man auf diese Weise einen Strom von ganz bedeutender Intensität sich in das Präparat „ein- schleichen" lassen, wie man zu sagen pflegt, ohne dass der Muskel die geringste Zuckung ausführt. Liessen wir dagegen einen Strom von der gleichen Intensität plötzlich auf das Präparat einwirken, so wäre die Folge eine energische Zuckung bei der Schliessung dieses Stromes. Ebenso bekommen wir bei der Einwirkung von Inductions- schlägen stets eine viel stärkere Zuckung bei Oeffnungs-Inductions- schlägen, bei denen, wie wir sahen, sich die elektrische Spannung viel plötzlicher ausgleicht, als bei Schliessungsschlägen, bei denen der Aus- gleich langsamer erfolgt. Diese und ähnliche Erscheinungen verführten zu der Vorstellung, dass nur eine bestimmte Stromschwankungs- geschwindigkeit als Reiz wirke, nicht aber die Dauer eines constant bleibenden Stromes, und es machte sich sogar die Neigung geltend, diese Vorstellung auch auf das Gebiet anderer Reizqualitäten zu über- tragen. Dass man in diesen Irrthum verfiel, ist sehr begreiflich, da man als einziges Object für die Ableitung dieses Satzes die Er- scheinungen am Muskel zur Verfügung hatte, an dem die Contraction den einzigen in die Augen fallenden Ausdruck der Erregung re- präsentirt. Eine feinere Untersuchung hat freilich gezeigt, dass auch der Muskel während der Dauer eines constanten Stromes in einen eigenthümlichen Zustand geräth, den Du Bois-Reymond als „Electro- tonus" bezeichnet hat, und in dem die Erregbarkeit des Muskels in

Von den Weizen um! iliren Wirkun<^oii. 419

chanikteristisc'lier Weise verändert ist; auch weiss man längst, dass bei Anwendung etwas stärkerer Ströme der Muskel nach der Schliessung sich nicht vollständig wieder streckt, sondern in einer schwachen „Sc h 1 i ess ungs- Dane reo n traction" während der ganzen Dauer des Stromes verharrt; aber diese, sowie mancherlei andere Thatsachen, die dafür sprachen, dass der Muskel in Erregung sein könne, ohne eine plötzliche Zuckung oder dauernde Contraction zu zeigen, wurden mit grosser Gezwungenheit und Mühe in anderer Weise zu deuten gesucht. Hätte man sich nicht auf den Muskel oder Nerven beschränkt, hätte man andere Objekte, wie z. B. einzellige Organismen, an denen man einen mannigfaltigeren Ausdruck der Erregung besitzt, zu Versuchen benutzt und die Frage vergleichend verfolgt, so wäre der Irrthum, dass nur die Stromschwankung und nicht der Strom an sich erregend wirkt, voraussichtlich vermieden worden.

Noch zu einer anderen irrthümlichen Auffassung hat das ein- seitige Studium der galvanischen Reizung des Muskels und Nerven geführt, das ist das allgemeine Gesetz der polaren Erregung der lebendigen Substanz durch den constanten Strom. Lässt man einen Constanten Strom durch ein lebendiges Object fliessen, so zeigt sich, dass nicht die ganze vom Strom durch- flossene Strecke gleichzeitig erregt wird, sondern dass die Erregung an der Eintritts- resp. Austrittsstelle des Stromes, also an der Anode resp. Kathode primär ent- steht und von hier erst secundär als Erregung durch die Continuitätder lebendigen Substanz sich über das ganze Object ausbreiten kann. Anode und Kathode sind also die Stellen, wo der Strom überhaupt allein direct er- regend wirkt, aber wann Anode und wann Kathode Ausgangs- punkt der P]rregung ist, das ist einer ganz bestimmten Gesetzmässig- keit unterworfen, und diese Gesetzmässigkeit rindet ihren Ausdruck in dem Gesetz der polaren Erregung.

Wenn man durch einen motorischen Nerven einen constanten Strom schickt, so wird der Nerv bei der Schliessung an der Kathode erregt, und von hier aus pflanzt sich die Erregung durch Nerven- leitung bis zum Muskel fort, der dann eine Zuckung ausführt. Bei der Oeffnung des Stromes dagegen findet die Erregung des Nerven an der Anode statt und pflanzt sich von hier aus zum Muskel fort, dass er zuckt. Dieses Gesetz der polaren Erregung des Nerven hat Pflüger ^) bereits im Jahre 1859 begründet. Man überzeugt sich von seiner Richtigkeit auf verschiedene Weise, am besten durch folgenden Versuch. Man lässt einen constanten Strom in verschiedener Richtung durch den Nerven eines Nerv-Muskelpräparats fliessen, einmal in ab- steigender Richtung, d. h. so, dass die Anode dem centralen Ende, und die Kathode dem Muskel näher liegt, und das andere Mal in auf- steigender Richtung, d. h. umgekehrt, so dass die Anode dem Muskel und die Kathode dem centralen Ende des Nerven am nächsten liegt, und lässt beide Male die Zuckung des Muskels auf einer Myographion- tafel-) aufzeichnen. Dann findet man aus der Länge des Stadiums der latenten Reizung, dass bei der Schliessung des absteigenden

^) Pflüger: „Untersuchungen über die Physiologie des Electrotonus." Berlin 1859. ^) Vergl. pag. 366 Fig. 154.

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420 Fünftes Capitel.

Stromes der Muskel früher zuckt, als bei der Schliessung des auf- steigenden Stromes, dass dagegen bei der Oeffnung das umgekehrte Verhältniss stattfindet, und zwar beträgt die Differenz in der Zeit gerade so viel, als die Dauer der Reizfortpflanzung in der intrapolaren Nervenstrecke. Daraus geht hervor, dass die Erregung bei der Schliessung von der Kathode, bei der Oeffnung von der Anode aus- gehen muss. Dieses selbe Gesetz der polaren Erregung wurde als- bald auch von Bezold ^) für den quergestreiften Muskel als gültig erkannt, und Engelmann ^) zeigte, dass es auch auf den glatten Muskel Anwendung findet. Nachdem dann spätere Untersuchungen, besonders von Biedermann^), noch eine Anzahl neuer Beweise für die Gültig- keit dieses Gesetzes geliefert hatten, nahm man stillschweigend an, dass ebenso wie der Nerv und der Muskel überhaupt alle lebendige Sub- stanz durch den galvanischen Strom bei der Schliessung an der Kathode und bei der Oeffnung an der Anode erregt würde. Allein hier zeigte sich wieder, wie die einseitige Untersuchung des Nerven und Muskels zu Irrthümern zu führen geeignet ist, die bei einer vergleichend-physiologischen Untersuchung vermieden werden können, denn die Prüfung anderer Formen der lebendigen Substanz, und zwar der verschiedenartigsten freilebenden Zellen, ei-gab, dass überhaupt nicht ein allgemein gültiges Gesetz der polaren Er- regung für die lebendige Substanz besteht. Da die be- treffenden Erscheinungen an den einzelligen Organismen uns zugleich ein ausgezeichnetes Beispiel dafür liefern, dass nicht nur die Strom- schwankungen, sondern auch die Dauer des constanten Stromes Er- regung erzeugen, so wollen wir hier noch etwas näher darauf ein- gehen.

Schon im Jahre 1864 machte Kühne ^) die eigenthümliche Beobachtung, dass das Actinosphaerium Eichhornii (Fig. 198) einem ganz abweichenden Erregungsgesetze gehorche. Allein die Beobachtung Kühne's blieb mehr als zwei Jahrzehnte lang vereinzelt und unbeachtet. Erst als man gewisse andere Wirkungen des gal- vanischen Stromes, die „Galvanotaxis", entdeckte, wurde die Kühne'- sche Beobachtung wieder beachtet und mit vollkommneren Metho- den bestätigt. Daran schloss sich die Beobachtung einer langen Reihe von freilebenden Zellen, welche sämmtlich ein vom Nerven und Muskel in verschiedener Weise abweichendes Gesetz der polaren Er- regung befolgen'^).

Um unter dem Mikroskop auf dem Objectträger galvanische Reiz- versuche mit unpolarisirbaren Elektroden vorzunehmen, bedienen wir uns am zweckmässigsten eines Objectträgers (Fig. 197), auf dem zwei Leisten von porösem Thon, wie er in den Thonzellen der galvanischen Elemente Verwendung findet, parallel nebeneinander (a und a) auf- gekittet und an ihren Enden durch je einen kleinen Wall isolirenden

*) Bezold: „Untersuchung über die elektrische Erregung der Nerven und Muskeln." Leipzig 1861.

2) Engelmann: „Beiträge zur Allgemeinen Muskel- und Nervenphysiologie." In Pflüger's Arch. Bd. III.

^) W. Biedermann: „Beiträge zur Allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie." In Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wiss. III. Abth. Wien 1879, 1883, 1884, 1885.

*) W. Kühne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

'') Verworn: „Die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom." In Pflüger's Arch. Bd. XLV, 1889.

Von dtii KeizL-n uml iliruu Wirkungen.

421

Kittes (Coloplioiiiiim und Wachs) verbunden sind {h und h), so dass ein kleines offenes Kiistchen auf dem Objectträger entsteht, in das man die Wassertropten mit den zu untersuchenden Objecten hinein- bringen kann. An die beiden parallelen Thonlcisten werden die Pinsel der gewöhnlichen unpolarisirbaren Elektroden angelegt. Mittelst

Fi"-. 197. Objectträger mit Kästchen für galvanische Reizung mikro- skopischer Objecte. a und a, Leisten von gebranntem Thon, b und b, isolirende Kittwälle, welche mit den Leisten zusammen ein Kästchen abgrenzen, in das die

Objecte gebracht werden.

dieser kleinen Vorrichtung gelingt es, die mikroskopischen Objecte nahezu parallel zu durchströmen und die Wirkungen der Reizung gleichzeitig unter dem Mikroskop zu beobachten. Reizt man auf diese Weise das A ctinosph a eri um, wenn es seine Pseudopodien wie

Fig. 198. Acti- n o s p h a e r i u m Eichhornii in vier aufeinander folgenden Stadien der polaren Er- regung durch den Constanten Strom. Von der Anode her zerfällt das Protoplasma.

L'^P.ö'o-.--.- 1^

Sonnenstrahlen geradlinig aus dem kugelförmigen Körper heraus- gestreckt hat, durch einen constanten Strom, so findet man, dass im Moment der Schliessung an den Pseudopodien, welche in der Richtung der Anode und der Kathode ausgestreckt sind, sich Contractions- erscheinungen bemerkbar machen, indem das Protoplasma der Pseudo- podien sich zu kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt und dem Körper zuströmt (Fig. 198). Die Pseudopodien, welche senk-

422

Fünftes Capitel.

recht zur Stromesrichtung ausgestreckt sind, bleiben dagegen in Ruhe. Wir haben also im Moment der Schliessung eine con- tractorische Anoden- und Kathoden-Erregung. Die Er- regung an der Anode ist von beiden die stärkere. Während der Dauer des Constanten Stromes macht sich das auch bemerkbar. Die Er- regungserscheinungen an der Kathode verschwinden nämlich nach der Schliessung allmählich wieder, und die Pseudopodien nehmen hier ihr glattes Aussehen wieder an, während au der Anodenseite die Erregung fortdauert, solange der Strom geschlossen bleibt. Das äussert sich in den immer weiter fortschreitenden Contractionserscheinungen. Das Protoplasma zieht sich immer mehr von der Anodenseite her nach dem Kfjrper zurück; bald sind die Pseudopodien ganz eingezogen.

Jetzt macht sich die Con- traction am Körper selbst , bemerkbar: das Protoplasma

der Vacuolenwände zieht sich mehr und mehr nach dem Innern zurück, dabei zer- platzen die Vacuolen, und das Protoplasma selbst zer- fällt zum Theil in seine Körn- chen. Dieser Einschmelzungs- und Zerfallsprocess dauert so lange fort, wie der Strom hindurchfliesst, nimmt aber allmählich etwas an Intensität ab. Es kann also kein Zweifel bestehen, dass der constante Strom auch während seiner Dauer Erregung er- zeugt. Im Moment, w^o der Strom geöffnet wird, hört dagegen auch der Einschmel- zungsprocess des Protoplasmas an der Anode sofort auf. Statt dessen machen sich an der Kathode geringe Erre- gungserscheinungen bemerk- bar, indem die Pseudopodien hier wieder Contractionserscheinungen zeigen und ihr Protoplasma zu Kugeln und Spindeln zusammenfliessen lassen. Diese Wirkung hört aber nach einiger Zeit allmählich auf, und es kommt meist nicht zu einer vollständigen Einziehung der kathodischen Pseudopodien. Oeffnet man den Strom nicht, so zerfällt der Körper des A c t i n o s p h a e r i u m von der Anode her immer weiter, aber im Laufe der Zeit immer lang- samer, bis der Zerfall schliesslich, wenn der Strom nur schwach war, ganz stehen bleibt. War der Strom dagegen stärker, so schreitet der Zerfallsprocess schnell fort, bis der ganze Körper in einen leblosen Körnerhaufen zerfallen ist. Das Actinosphaerium wird also bei der Schliessung des constanten Stromes an der Anode und an der Kathode, bei der Oeffnung nur an der Kathode contractorisch erregt.

Fig-. 199. Amphistegina 1 e.ssonii (vergl. Fig. 170 pag. 382j. Die linsenförmige Kalk- schale steht auf der scharfen Kante und entsendet aus der zum Boden gerichteten Schalenöfifnung nach allen Seiten hin fadenförmige Pseudopodien, die am anodischen Pol sehr starke, am kathodi- schen Pol etwas schwächere contractorische Er- regung deutlich erkennen lassen.

Von den Heizen unrl ilircn Wirkungen.

423

Ganz ebenso wie Actinosphaeri um werden auch viele marine Rhizopoden, wie Orbitolites, Amphistegina (Fig. 199) u. a., hei der Schliessung des Stromes an der Anode stark, an der Kathode schwach contractorisch erregt, eine Erscheinung, die auf den langen fadenförmigen Pseudopodien noch viel deutlicher in ihrer Reinheit hervortritt als bei Acti n osph aerium, indem sich auf den Pseudo- podienfäden die für alle starke contractorische Erregung so überaus charakteristischen Kügelchen und Spindelchen an beiden Polen ganz besonders schön entwickeln^).

An Flimmerepithelien von Wirbelthieren sah Kraft 2) gleichfalls, dass beim Durchfiiessen des constanten Stromes die Flimmerbevvegung bei der Schliessung an beiden Polen beschleunigt wurde. Ueber die polare Wirkung der Oeffnung konnte er nicht zu einem definitiven Ergebniss gelangen. Schliesslich hat Loeb^) in neuester Zeit gefunden, dass auch bei Amblystoma, einer amerikanischen Schwanzlurch- form, die Hautdriisenzellen bei der Schliessung des Stromes an der Anode erregt werden, so dass am anodischen Pol die Ausscheidung eines weisslichen Secrets stattfindet, gleichgültig in welcher Richtung der Strom durch den Körper geschickt wird.

Fig. 200. Peloniyxa palustris. I Xor- mal , kuglig coiitra- hirt. II Im Moment der Schliessung be- ginnt an der Anode das Protoplasma zu zerfallen.

'^:A +

Etwas anders, aber auch vom Muskel abweichend, verhält sich Pelomyxa^). Wenn man dieses Protoplasmaklümpchen mit einem constanten galvanischen Strom reizt, so tritt im Moment der Schliessung nur an der Anode eine Erregung ein , die sich in einer plötzlichen, ruckartigen Contraction mit sofort darauf folgendem Zerfall der Anoden- seite äussert (Fig. 200). Bei der Oeffnung des Stromes erfolgt die gleiche Erscheinung an der Kathodenseite, während der Zerfall an der Anode sofort sistirt wird. Lässt man dagegen den Strom länger ge- schlossen, so zerfällt schliesslich der Körper von der Anodenseite her allmählich in eine todte Masse. Also Pelomyxa zeigt ebenfalls, dass auch die Dauer des constanten Stromes als Reiz wirkt. Dabei wird, je länger der Strom geschlossen bleibt, die Er- regbarkeit immer geringer. Wird nach einiger Zeit der Einwirkung der Strom geöffnet, so wirkt häufig die Oeffnung gar nicht mehr er- regend, und um bei der Schliessung einen neuen Erfolg zu bekommen.

^) Verworn: „Untersuc-liungcn über die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den constanten Strom." III. Mittheilung. In Pflüger's Arch. f. d. ges. Pliysiol. lid. 62, 1896.

2) H. Kraft: „Zur Physiologie des Fliramerepithels bei Wirbelthieren." In Pflüger's Arch. Hd. XLVII, 1890,

^) J. Loeb: „Zur Theorie des Galvanotropismus. III. Ueber die polare Erregung der Hautdrüsen von Amblystoma durch den constanten Strom." In Pflüger's Arch. Bd. 65, 1896.

*) Vergl. pag. 404.

424

Fünftes Capitel.

muss man jetzt Vjedeutend stärkere Ströme anwenden, als zuvor. Die Abnahme der Erregbarkeit bei längerer Einwirkung des Stromes ist auch der Grund, wcslialb am Acti n osphaer i um bei gleiclibleiben- der Intensität des durchfliessenden Stromes der Einsciimelzuiigsprocess immer mehr an Intensität abnimmt. Die lebendige Substanz verliert eben bei längerer Einwirkung eines Reizes an Erregbarkeit. Das Erregungsgesetz der Pelomyxa ist also folgendes: Pf-lomyxa wird bei der Schliessung an der Anode und bei der Ooffnung an der Katliode contrac to- risch erregt.

Wieder eine andere Eorm der polaren Erregung, die aber viel- leicht noch interessanter ist, zeigt uns die Amoeba proteus^j. Schickt man durch den Amoebenkörper, wenn er nach verschiedenen Richtungen hin seine Pseudopodien ausstreckt, einen constanten Strom, so sieht man, dass er alsbald die typische Form der Amoeba limax

y

■o

Fig. 201. Amoeba proteus. Links ungereiztos Inflividuum mit zahlreichen Pseudo- podien, rechts zwei Individuen durch den ^galvanischen Strom gereizt. An der Anode zeigt sich eine typische Contraction, an der Kathode eine starke Expansion des Proto- plasmas, was besonders deutlich Ijei plötzlicher Wendung der Stromrichtung bemerk- bar wird.

annimmt, d. li. dif; langgestreckte Form, bei der das Protoplasma in einer einzigen Richtung fliesst, so dass der ganze Körper gewisser- maassen ein einziges dickes, grosses Pseudopodium bildet. Dabei zeigt sich, dass der langgestreckte Körper an der Anode contractorisch erregt ist, denn hier entwickeln sich die charakteristischen Bütschli- schen Vacuolen im Protoplasma, und dasselbe zieht sich stark von der Anodenseite zurück, während an der Kathode im Gegentheil eine expansorische Erregung besteht, denn hier breitet sich das Proto]>lasma zu einem breiten Lappen aus, der Kathode entgegen. Man sieht die Erscheinungen am besten, wenn man plötzlich die Richtung des Stromes wendet, so dass nunmr-hr Kathode wird, was vorher Anode war und umgekehrt (Fig. 201 ).

Ganz analoge Erregungsverhältnisse hat Ludloff-j vor Kurzem an Paramaecium nachgewiesen. Bei der Schliessung des Stromes

') Vkrvvorx: „Die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den constanten Strom." IV. Mittheilung. In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 65, 1896.

2) Ludlokf: „Untersuchungen über den Galvanotropismus." In Pflüger's Arch. Bd. 59, 1895.

Villi (k'ii Ivcizon und ilircii \Virl<iiii'''i'ii.

425

kommen auch liier zunächst schon in (ler iiussorcii Körjjert'orm an der Anode ContractioHserscheinun^en zum Ausdruck, indem das anodische Körperende hei starken Strömen sieh zipi'eltorniig zusammenschnürt und seine Trichocysten-Fliissi^'keit auspresst, so dass die geronnenen Flüssigkeitsstralden wie Fäden das betrellende Körperende umgeben (Fig. 202 J)*). Viel charakteristischer aber äussert sich die polare Erregung an der \\'ini])erbewegung. Es werden nämlich die Wimpern

B =3i

C

B

^^^^^-

Yh^. 202. Paramaecium aurelia, polare Er reguiigsersch einungen. A Ungereiztes Individuum. B Wirkung eines starken Stromes: das anudisclie Ende hat sich zipfelförmig zusammengeschnürt und seinen Trichocysten-Inhalt ausgestossen. C Schwinglage der Wimpern (es ist nur der Körperumriss gezeichnet): an der Anode sind die Wimpern stärker nach dem spitzen hinteren Körperpol gebogen, an der Ka- thode mehr nach dem stumpfen Vorderende. JD Dasselbe bei umgekehrter Körperlage.

Nach LuDLOFF.

an beiden Körperpolen in entgegengesetztem Sinne erregt, und zwar die anodischen Wimpern contractorisch, indem sie stärker nach dem Hinterende des Körpers schlagen , und die kathodischen Wimpern expansorisch , indem sie stärker nach dem Vorderende des Körpers hin schwingen , gleichgültig in welcher Lage zur Stromrichtung der Körper fixirt sein mag (Fig. 202 C). Wir sehen also, dass bei der Amoebe sowohl wie beim Paramaecium die Schliessung des Stromes an beiden Polen entgegen- gesetzte Wirkungen erzeugt, und z w a r an der Anode

426 Fünftes Capitel.

eine contractorische, an der Kathode eine expansorisehe Erregung.

Die polaren Wirkungen des galvanischen Stromes sind aber auch beim Muskel, wie uns besonders die neueren Untersuchungen von Biedermann ^) an glatten und quergestreiften Muskeln gezeigt haben, in Wirklichkeit noch complicirter, als es das Erregungsgesetz des Muskels in der Form, wie es bisher ausgesprochen wurde, angiebt. Wir müssen auch hier den Begriff „Erregung" specialisiren und ihn nicht nur, wie es bisher geschehen ist, auf die Steigerung der Vor- gänge anwenden, die bei den contractilen Substanzen in der Con- tractionsphase ihren Ausdruck finden, sondern auch auf die Vor- gänge, die in der Expansionsphase zum Ausdruck kommen. Die Expansion (Erschlaffung) als eine Lähmungserscheinung zu bezeichnen, wie das häufig geschieht, ist durchaus unstatthaft, denn ihr liegt ebenso eine Steigerung gewisser Lebensvorgänge zu Grunde, wie der Contraction. Da aber eine Steigerung eines normalen Lebensvorganges eine Erregung und keine Lähmung repräsentirt, so müssen Avir mit dem gleichen Recht den Begrift' der Erregung auf Expansions- wie auf Contractionserscheinungen anwenden. Eine Lähmung dagegen ist eine Herabsetzung oder völlige Aufhebung irgend einer Lebenserscheinung, wie z. B. der Zustand der Narkose. Es ist nöthig, die beiden Begriffe der Erschlaffung und Lähmung, deren Verwechslung zu vielen Irr- thümern und falschen Vorstellungen in der Physiologie führt, streng auseinander zu halten. Aus den Untersuchungen von Biedermann geht hervor, dass der constante Strom am Muskel bei der Schliessung nicht nur eine contractorische Erregung an der Kathode, sondern gleichzeitig eine expansorisehe Erregung an der Anode bewirkt. Am Muskel, der sich auf der Höhe seiner Ausstreckung befindet, kann die expansorisehe Erregung an der Anode begreiflicher Weise nicht zum Ausdruck kommen , denn der vollständig ausgestreckte Muskel kann nicht noch zu einer weiteren Ausstreckung gebracht Averden. Dass aber die Anode bei der Schliessung expansoriscli erregend wirkt, wird sofort sichtbar, wenn man die Reizung an glatten oder quer- gestreiften Muskeln ausführt, die sich in partiellem Contractionszustande befinden. Im Moment der Schliessung erfolgt alsdann unmittelbar an der Anode sofort eine locale Expansion. Ebenso konnte Biedermann am Herzmuskel feststellen, dass umgekehrt bei der Oeffnung ausser der contractorischen Erregung an der Anode auch noch eine expan- sorisehe Erregung an der Kathode sich einstellt. Demnach ergiebt sich die interessante Thatsache, dass die Wirkungen bei der Oeffnung an beiden Polen die entgegengesetzten sind, wie bei der Schliessung. Die Erscheinungen am Nerven liefern dazu ein vollständiges Analogen. Am Nerven haben wir nämlich auch zwei entgegengesetzte '\^'irkungen an beiden Polen. Das kommt in der Veränderung der Erregbarkeit zum Ausdruck, welche an den Polen eintritt, wenn der Nerv von einem galvanischen Strom durchflössen wird. Reizversuche an solchen Nerven, die sich im „elektrotonischen" Zustande befinden, haben nämlich gezeigt, dass bei der Schliessung des Stromes die Erregbarkeit an der Kathode gegen die Norm erhöht, an der Anode dagegen herab-

M W. BncDKRMAXN: „Zur Pliysiologie der glatten Muskeln." In Pfiüo-er's Arcli. ]5d. XLVI, 1890. Derselbe: .,Zur Lehre von der elektrischen Erregung quergestreifter Muskeln.'- In Pflüger's Arch. VA. XLVII, 1890.

V(Pii den licizeii und ihren Wirkungen. 427

gesetzt ist, und dass sich dieses Verhältniss Lei der < )efruun^ des Stromes vollkommen nndcelirt, so dass noch kurze Zeit nach der C)effnung' eine Krrejj,barkeitssteigerung' an der Anode und eine Er- regbarkeitsherabsetzung an der Kathode bemerkbar ist. Wir haben also an der Kathode und Anode bei der Schliessung entgegengesetzte Processe, die sich bei der Oeffnung an beiden Polen in ihr Gegen th eil umkehren. Ob sich auch bei manchen freilebenden Zellen ähnliche VerliiUtnisse zwischen den Wirkungen von Schliessung ,und Oetl'nung einerseits und denen der beiden Pole andererseits werden auffinden lassen, müssen spätere Versuche zeigen. Dass aber dieser Gegensatz, wie er beim Muskel und Nerven besteht, nicht für alle lebendige Substanz verallgemeinert werden darf, zeigt einfach die Thatsache, dass z. B. beim Actin o- sphaerium, bei Orbitolites, bei Am phis tegina ein Gegensatz in den Wirkungen beider Pole bei der Schliessung gar nicht vorhanden ist, dass vielmehr hier sowohl an der Anode als an der Kathode nur contractorisclie Erregung entsteht.

Fassen wir das Ergebniss unserer Erfahrungen über die polaren Wirkungen des galvanischen Stromes kurz zusammen, so können av i r nur sagen, dass die primären Wirkungen des con stauten Stromes an der Eintritts- stelle (Anode) und an der A u s t r i 1 1 s s t e 1 1 e (Kathode) der lebendigen Substanz localisirt sind, dass aber die Art der erregenden Wirkungen bei den verschiedenen For- men der lebendigen Substanz an der Kathode und an der Anode bei derSchliessungundbei der Cef fnungsehr ver- schieden ist, und dass sich demnach kein allgemein gül- tiges Gesetz der polaren Erregung für alle lebendige Substanz aufstellen lässt.

Verlassen wir jetzt die Betrachtung der polaren Wirkungen des galvanischen Stromes, und fassen wir zum Schluss noch die ver- schiedenen Arten von Erregungserscheinungen ins Auge, welche die elektrische Reizung hervorbringt, so haben wir uns schon mit den Wirkungen auf die contractilen Substanzen beschäftigt. Gehen wir auf die contractilen Substanzen, oder besser gesagt auf die lebendigen Substanzen, deren Contractilität sich in Bewegungserscheinungen nach aussen hin bemerkbar macht, aber noch etwas näher ein.

Die expansorischen Wirkungen der galvanischen Reizung treten in der äusseren Erscheinung meist in den Hintergrund, und wir haben ja bereits gesehen, dass es nur in gewissen Fällen möglich ist, die- selben überhaupt zu beobachten. Dagegen machen sich die con- tractorischen Wirkungen überall bemerkbar. Schon am Actino- sphaerium und der Amphistegina sahen wir die typischen Con- tractionserscheinungen in der Kugel- und Spindelbildung des Proto- plasmas der erregten Pseudopodien. Arno eben und Leukocyten ziehen auf einzelne Inductionsschlnge hin, wie Golubew^) und Exgel-

^) GoLUiJEw: „Ueber die Erscheinungen, welche elektrische Schläg-e an den so- genanuteu farblosen Bestandtheilen des Blutes hervorbringen." In >Sitzungsber. d. Wiener Akad. LVII, 1868.

428

Fünftes Caiiitel.

MANN^) gezeigt haben, ihre Pseudopodien ein und nehmen Kugelform an. Das Protoplasma der Pflanzenzellen Avird, wie Klihne^) an den Zellen der Staubfädenhaare von Tradescantia virginica nachwies, durch wiederholte Schliessung und Oeflfnung des constanten Stromes oder durch einzelne Inductionsschläge ebenso zur Bildung von Kugeln veranlasst, wie sie auch für die nackten Protoplasmaformen charakte- ristisch als Reizerscheinung ist, eine Wirkung, die auch bei localer Anwendung der Reize local erzielt werden kann. Die Thätigkeit der Fliramerhaare wird, wie Engelmann ^) und in neuerer Zeit Kraft*) an Flimmerepithelien beobachtet haben, durch den galvanischen Strom zu grösserer Geschwindigkeit gesteigert, indem besonders die Frequenz

a h

Fig. 204.

Fig. 203. Tradescantia virginica. Eine Zelle aus den Stanbtadenhaaren. A Ungereizt, B durch den Inductions- strom gereizt. Das Protoplasma ist bei ff, 5, c, d zu Kugeln und Klumpen zusammengeflossen. Nach Kühne.

P^ig. 204. Peranenia, einGeissel- infusor. n Kuhig schwimmend, b durcli einen Inductionsschlag gereizt.

und. Amplitude des Wimperschlages und damit der Nutzeffect beein- flusst wird. Auch am einzelnen Geisselfaden der Flagellatenzelle, z. B. von Peranema, kann man die erregende Wirkung des elek- trischen Reizes beobachten, die sich z. B. bei Einwirkung eines einzelnen Inductionsschlages in einem energischen Schlage der sonst gleichmässig

^) Engelmann: „Beiträge zur Physiologie des Protoplasma." In Pflüger's Arch. Bd. II, 1869.

-) Kühne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

^) Engelmann: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Her- mann's Handbuch der Physiologie Bd. I, 1879.

■*) H. Kraft: „Zur Physiologie des Fliramerepithels bei Wirbelthieren." In Pflüger's Arch. Bd. XLVII, 1890.

Von den Keizen uml iliicii Wirkuii'^cji.

429

rliythnii.sch schwingenden Oeissel äut^sert. Bei den Myoiden der In fusorien, wie z. B. beim JStiehnyoid der Vortieellen, ferner bei den ghitten

Muskelzellen und schliesslich fasern kommt die Erregung elektrischen Reiz, etwa einen einer Zuckung zum Ausdruck, Skelettmuskeln mittelst eines zeichnen kann.

bei den ([uergestreiften Muskel- durch einen einzelnen kurzen einzelnen Inductionsschlag, in die man bei quergestreiften Myographions graphisch ver-

Fig. 205. J Myographien. iJZuckungscurve. Nach Helmholtz. a Moment der Reizung durch einen Inductionsschlag.

Fig. 206. Muskelschreiber. In dem Muskelhalter ist das Nerv- muskelpräparat befestigt, dessen Nerv durch zwei Platinelektroden- spitzen gereizt wird und dessen Muskel durch Uebertragung auf einen Schreibliebel seine Bewegung auf eine rotirende schwarze Trom- mel aufzeichnet.

Ehe wir aber die Betrachtung der Reizwirkungen an den con- tractilen Substanzen verlassen, verdient noch die Wirkung schnell auf- einander folgender galvanischer Reize unsere Aufmerksamkeit. Wir haben nämlich in den rhythmisch sich folgenden Inductionsschlägen des Du Bois-REYMOND'schen Schlittenapparates bei thätigem Hammer das beste Mittel, um ein contractiles Gebilde in tetanische Dauer- contraction zu versetzen. EineAmoebe, einLeukocyt etc. bleiben unter rhythmisch aufeinander folgenden Inductionsschlägen, solange die

430

Fünftes Capitel.

Einwirkung dauert, im Contractionsstadium, d. h. sie behalten Kugel- form. Ebenso bleibt der Muskel unter der Einwirkung rhythmisch intermittirender Inductionsströme dauernd contrahirt. Am Muskel aber haben wir die günstigste Gelegenheit, die Entstehung des Tetanus zu

Fig. 207. Myographische Curven vom Gastrociiemiiis des Frosches. I Einzelne Zuckungen, hervorgerufen durch einzelne Inductionsöfinungsschläge. // Un- vollkommener Tetanus, hervorgerufen durch schneller aufeinander folgende Inductions- öifnungsschläge. /// Vollkommener Tetanus, hervorgerufen durch sehr schnell auf- einander folgende Inductionsschläge.

verfolgen und uns besser als bei mechanischer Reizung davon zu überzeugen, dass die tetanische Contraction aus distinuirlichen Einzel- zuckungen entsteht, die sich nur so schnell folgen, dass zwischen den einzelnen Contractionen dem Muskel keine Zeit bleibt, sich wieder zu strecken. Um die Einzelheiten der tetanischen Contraction zu studiren,

Von den Heizen und ihrtn Wirkungen. 431

bedienen wir uns eines Myographions (Fig. 206), dessen Schreibliebel uns die Bewegung des Muskels bei der Reizung in Gestalt einer Curve auf einer rotirenden Trommel verzeiehnet. Reizen wir den Muskel mittelst eines einzigen, nicht zu starken Induotionsschlages, so dass er nur eine massige Zuckung ausführt, so bekommen wir eine einzelne Zuckungskurve, deren aufsteigender Schenkel die Contractions- phase, deren absteigender Schenkel die Expansionsphase darstellt (Fig. '201 1). Lassen wir aber mehrere Inductionsschläge nacheinander auf den ^luskel einwirken , und zwar in regelmässigen Intervallen in der Weise, dass der folgende Reiz den jNIuskel immer in dem Moment trifft, wo er eben wieder beginnt, sich zu strecken, so finden wir, dass sich die ersten Zuckungen s uper jjon ir en, d. h. dass die Verkürzung des Muskels mit jeder folgenden Zuckung grösser wird, so, als ob der Verkürzungsgrad, den der Muskel noch von der vorhergehenden Zuckung hatte, dem Ruhepunkt des Muskels entspräche, von dem an sich die Verkürzung der nächsten Zuckung erhebt. So steigt die Ver- kürzung treppenartig mit jedem folgenden Reiz bis zu einer bestimmten Höhe, auf der sie sich dann erhält, aber doch noch deutlich die regel- mässigen Schwankungen zwischen den einzelnen Reizen erkennen lässt (Fig. 201 II). Lassen wir aber schliesslich schneller aufeinander folgende Inductionsschläge auf den Muskel einwirken, wie sie beim Spiel des NEEp'schen Hammers in der secundären Spirale entstehen, dann ist die Wirkung jedes einzelnen Reizes nicht mehr als solche zu unterscheiden, sondern wir bekommen eine glatte Curve, die ziemlich steil ansteigt und sich dann, wenn die Reizung nicht zu lange ausgedehnt -wird, als gerade Linie auf gleicher Höhe erhält (Fig. 207 777). So können wir von voll- kommen ausgebildeten Einzelzuckungen an, indem wir die Geschwindig- keit der Aufeinanderfolge der Reize steigern, durch alle Uebergangs- formen des unvollkommenen Tetanus hindurch die Entstehung des voll- kommenen Tetanus verfolgen und damit den Beweis liefern, dass der Tetanus in Wirklichkeit eine distinuirliche Contraction ist. Ebenso wie der künstlich erzeugte Tetanus sind aber auch alle andauernden Contractionen, die wir unter Nerveneinfluss in unserem Körper aus- führen, distinuirliche, aus lauter schnell aufeinander folgenden Einzel- zuckungen zusammengesetzte Erscheinungen.

Schliesslich darf es nicht unerwähnt bleiben, dass es Formen der lebendigen Substanz giebt, die überhaupt nicht durch Inductions- schläge, weder durch einzelne, noch durch schnell oder langsam auf- einander folgende, mögen sie noch so stark sein, beeinflusst. werden. Solche Objecte sind z.B. Orbitolites, Amph istegina und andere Meeresrhizopoden. Ihr Protoplasma verlangt eine längere Reizdauer, um zu reagiren, als sie der blitzartige Inductionsschlag besitzt^).

Gehen wir noch kurz auf die anderen Erregungswirkungen der galvanischen Reizung ein, so finden wir, dass der galvanische Reiz nicht nur an den contractilen Substanzen mechanische Bewegungs- effecte auslöst, sondern z. B. auch an den Pflanzen, welche sich wie die Mimosa durch Turgescenzveränderungen bewegen. Lässt man auf eine mit ausgespreizten Zweigen und Blättern dastehende Mimosa einzelne Inductionsschläge einwirken, so haben diese ganz dieselbe

') Verwohn : „Untersuchungen über die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den Constanten Strom." III. Mittheilung. In Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 62, 1896.

432 Fünftes Capitel.

Wirkung wie etwa mechanische Reizung: die Pflanze senkt sofort ikre Zweige und klappt die Blätter zusammen in der typischen Form, die wir schon früher kennen lernten.

Auch die Production anderer Energieformen wird durch galva- nische Reize ausgelöst. So haben genaue thermoelektrische Messungen am Muskel ergeben, dass sich derselbe bei der Thätigkeit erwärmt, wenn auch in sehr geringem Maasse, und dass im Allgemeinen die Wärmeproduction im umgekehrten Verhältniss zu der Arbeitsleistung steht.

Dass auch Elektricitätsproduction bei der durch galvanische Reizung bewirkten Muskelzuckung erfolgt, ist nach unseren früheren Erfahrungen bereits klar, da ja zwischen jeder contrahirten Stelle und jeder ruhenden Stelle des Muskels eine elektrische Spannung eintritt, in der Weise, dass die contrahirte Stelle sich zur ruhenden Stelle negativ verhält. Läuft also eine Contractionswelle über den ruhenden Muskel von einem Ende zum andern, so kann man im Moment, wo dieselbe beginnt, von beiden Enden des Muskels einen „Actionsstrom" ableiten, da das andere Ende sich noch in Ruhe befindet, während das eine sich eben contrahirt.

Schliesslich wissen wir auch, dass durch galvanische Reizung bei pelagischen Leuchtthieren, wie bei Radiolarien und Noctiluken, Lichtentwicklung erzeugt werden kann.

Dass aber alle diese Formen der Energieproduction zugleich mit einer Erregung des Stoffwechsels verbunden sein müssen, ist nach unseren früheren Betrachtungen selbstverständlich, und hier ist es hauptsächlich der so viel untersuchte Muskel gewesen, der uns das direct gezeigt hat. Der durch Reizung irgend welcher Art zu dauernder Thätigkeit erregte Muskel verbraucht mehr Sauerstoff als der ruhende, er verbraucht das in ihm aufgespeicherte Glykogen, er producirt mehr Kohlensäure als der ruhende und nimmt statt der neutralen oder alkalischen Reaction des ruhenden Muskels eine saure Reaction an. Alle diese Veränderungen zeigen aufs Deutlichste, dass im Muskel, wenn er durch Reize in Thätigkeit versetzt wird, eine bedeutende Er- regung des Stoffwechsels eintritt.

b. Lähmungserscheinungen.

Auch bei der elektrischen Reizung treten wiederum die lähmenden Wirkungen gegenüber den Erregungserscheinungen ganz in den Hintergrund. So vielfach und genau die Erregungserscheinungen, welche durch den galvanischen Strom erzeugt werden, bisher unter- sucht worden sind, so wenig sind die Lähmungserscheinungen bekannt. Dennoch scheint es Fälle zu geben, in denen der galvanische Strom namentlich bei längerer Einwirkung oder bei höherer Intensität Läh- mungserscheinungen zu erzeugen im Stande ist. Ob freilich die Herab- setzung der Erregbarkeit des Nerven, die bei der Schliessung starker Ströme an der Anode und bei der (Jeffnung an der Kathode Platz nimmt, und die bis zu einer vollständigen Leitungsunfähigkeit der betreffenden Stelle führen kann, ohne dass eine wirkliche Zerstörung eintritt, als eine Lähmungserscheinung aufgefasst werden darf, ist mehr als zweifelhaft und bedarf noch ausgedehnterer, besonders auf diesen Punkt gerichteter Versuche. Dagegen sind von der Flimmer-

Von den Keizen und ihren Wirkungen. 433

bewe^amg durch En(;elmann*) und Kraft-) anscheinend wirklich echte L{ihmuni;'s\virkungen des galvanischen Stromes bekannt geworden.

Die Kienienleisten der zweiklapi)igen Muscheln sind mit einem FUninierepithel bekleidet, dessen Wimpern sich durch ilire Länge be- sonders gut zur Beobachtung der Flimmerbewegung eignen. Reizte Enoklmann diese Flimmerleisten mittels eines einzelnen stärkeren Inductionsschlages, so vertielen die Wimpern in Starre, genau so, wie nach stärkerer thermischer Reizung die Wimpern der Infusorien und Flimmerepithelien in Wärmestarre verfallen. Sie krümmten sich in der Schlagrichtung hakenförmig um , stellten ihre Bewegung ein und verharrten in dieser Stellung um so länger, je stärker der Inductions- schlag gewesen war.

Eine analoge Beobachtung machte Kraft bei länger dauernder Einwirkung des constanten Stromes auf die Flimmerepithelien der Wirbelthiere. Hier trat im Beginn der Einwirkung zunächst an den beiden Polen, dann aber durch Fortleitung der Erregung im Gewebe auch in der ganzen intrapolaren Strecke eine Beschleunigung des Wimperschlages ein, die aber bei längerer Dauer des Stromes all- mählich abnahm und einer Herabsetzung der Wimperthätigkeit bis zum völligen Stillstand in der ganzen intrapolaren Strecke Platz machte. \^'ir haben hier also, Avie es scheint, dasselbe Verhältniss wie auch bei anderen, z. B. den chemischen Lähmungen, dass der betreffende Reiz zunächst ein Stadium der Erregung und dann bei stärkerer oder längerer Einwirkung eine Lähmung hervorruft. Indessen sind alle diese Verhältnisse noch zu wenig untersucht, um eine definitive Deutung zu gestatten.

B. Die bewegungsrichtenden Wirkungen einseitiger Reizung.

Unter den physikalischen Unterhaltungen, die uns in den Cultur- ländern schon in früher Kindheit geboten werden, pflegt die Be- schäftigung mit den Erscheinungen des Magnetismus eine grosse An- ziehungskraft auf den kindlichen Geist auszuüben. Die merkwürdige Erscheinung , dass sich die freischwebende Magnetnadel unter allen Umständen immer wieder mit ihrem einen Ende nach dem Nordpol der Erde einstellt, dass die mit einem Eisenstift versehenen Schiffchen und Thierchen, die das Kind im W^asserbecken schwimmen lässt, wie von einem Zauber gebannt den feinsten Bewegungen des Magnetstabes mit unfehlbarer Sicherheit folgen, dass die auf Papier gestreuten Eisen- feilspähne sich über einem darunter befindlichen Magneten in ganz charakteristischen Curven anordnen alles das hat uns als Kinder im höchsten Grade gefesselt. Auch auf die glühende Phantasie der Völker des Orients, die sich in vieler Beziehung noch jetzt kindliche Züge erhalten haben, mussten die Erscheinungen der Magnetwirkung den gleichen tiefen Eindruck machen. Unter den färben- und formen- prächtigen Märchen der berückenden Scheherazade haben wir in den unheimlichen Erzählungen vom Magnetberg, dem Schrecken der See- fahrer, die ihr Schiff, von der unsichtbaren Gewalt angezogen, unrett-

') Engklmann : „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Her- mann's Handbuch der Physiologie Bd. I, 1879.

^) H. Kraft : „Zur Physiologie des Flimmerepithels bei Wirbelthieren." In Pflüger's Arch. Bd. XLVII, 1890.

Verworn, AHgemeiue Physiologie. 2. Aufl. 28

434 Fünftes Capitel.

bar an dem glatten Erzfelsen zerschellen sehen , einen sprechenden Ausdruck, der das Kinderherz noch immer mächtig ergreift.

Dem Erwachsenen ist durch Gewöhnung an die eigenthümlichen Wirkungen des Magneten der Sinn für das Wunderbare und Fesselnde derselben meist abhanden gekommen, aber die alten Empfindungen unserer Kindheit werden wieder wach, wenn wir die analogen Wir- kungen, wie sie der Magnet auf die Magnetnadel ausübt, die Anziehung und Abstossung, als Wirkungen der verschiedensten Reize in die lebendige Natur übersetzt finden, wenn wir sehen, dass die Reize eine Wirkung auf die Organismen auszuüben im Stande sind, die sie unter Umständen mit derselben unwiderstehlichen Gewalt und der gleichen unfehlbaren Sicherheit wie der Magnetismus das Eisen zwingt, sich der Reizquelle zu- oder sich von ihr abzuwenden.

Die Motte fliegt mit tödtlicher Sicherheit immer wieder dem Lichte zu, und obwohl sie sich bereits unzählige Male ihre Flügel gesengt hat, kann sie der fascinirenden Gewalt des Lichtes nicht widerstehen, bis sie todt in die Flamme fällt. Da aber bei den höheren Thieren in Folge der Mitwirkung des Nervensystems diese Erscheinungen eine Complication erfahren, die ihre UebersichtHchkeit ganz bedeutend erschwert und die Sicherheit der Reaction nicht selten beeinträchtigt, so werden wir auch diese Erscheinungen zweckmässiger Weise vor- wiegend cellularphysiologisch betrachten.

Was zu ihrem Zustandekommen unumgänglich nothwendig ist, das ist die Bedingung, dass Difi'erenzen in der Reizung an verschiedenen Körperstellen bestehen. Wirken die Reize allseitig, so beobachten wir zwar alle im vorhergehenden Abschnitt geschilderten Reizwirkungen, aber eine bewegungsrichtende Wirkung kann nicht zu Stande kommen. Nur ungleich massige Reizung kann die Bewegungs- richtung beherrschen.

1. Chemotaxis^.

Unter „Chemotaxis" verstehen wir die Erscheinung, dass Or- ganismen, die mit activer Bewegungsfähigkeit begabt sind, sich unter dem Einfluss einseitig einwirkender chemischer Reize entweder zu der Reizquelle hin- oder von der Reizquelle fortbewegen. Im ersteren Falle, wo eine Annäherung an die Reizquelle stattfindet, sprechen wir von einer positiven, im letzteren Falle, wo eine Entfernung von der Reizquelle erfolgt, von einer negativen Chemotaxis. Eine einseitige Reizung ist aber bei chemischen Reizen nur da realisirt, wo die Con-

^) Ich habe mich nach langem Zaudern entschlossen, die Worte „Chemotropismus", „Heliotropismus" etc., obwohl sie bereits lange eingebürgert sind, in dieser Auf läge des Buches doch gegen die Worte „Chemotaxis", „Phototaxis" etc. zu vertauschen, weil sie nicht bloss schwerfallig klingen, sondern auch vom sprachlichen Standpunkt aus Bedenken erregen müssen. Ich habe mich aber dazu um so schwerer entschlossen, als ich selbst seit lauger Zeit bestrebt gewesen bin, im Anschluss an die wenigen bereits früher bekannten „Tropismen" auch die betreffenden Erscheinungen in andern Reiz- gebieten mit dieser gemeinsamen, einheitlichen Terminologie zu bezeichnen und dazu neue „Tropismen" einzubürgern, um gleich im Ausdruck die Zusammengehörigkeit aller dieser Erscheinungen anzudeuten. Heute, wo die Erkenntniss von der voll- kommenen Analogie aller dieser Erscheinungen im Gebiete der verschiedensten Reiz- qualitäten allgemein durchgedrungen ist, glaube ich nunmehr zweckmässiger die un- glücklichen Wortbildungen durch die bereits vielfach verwendeten Ausdrücke „Chemo- taxis", „Thermotaxis" etc. ersetzen zu dürfen.

Von den Reizen und ihren Wirkungen. 435

centration des betreffenden Stoffes vom lebendigen Object her nach Einer Richtung hin alhnählich steigt.

Von Eno.elmann zuerst an Bakterien entdeckt, von Stahl bei Myxoniyceten beobachtet, von Pfeffer in griJsserer Ausdehnung metho- disch stutlirt und in neuerer Zeit von Massart, Leber, Gabritchevsky, Metschnikoff und Anderen bei Leukocyten verfolgt, ist die Chemo- taxis jetzt als eine Erscheinung von ungemeiner Verbreitung unter den verschiedensten freilebenden Zellen und von ausserordentlicher Bedeutung niclit bloss für die einzelligen Organismen, sondern auch für das Leben im Zellenstaate erkannt worden.

Unter den nackten Protoplasmamassen Avurden die chemo- taktischen Erscheinungen zuerst von Stahl ^) an den Myxomyceten beobachtet. Die gell)en, netzförmig sich ausbreitenden Plasmodien des in der Gerberlohe lebenden Aethalium septicum Hess Stahl auf feuchte Fliesspapierstreifen kriechen und hängte dann einen solchen Streifen mit dem einen Ende in sauerstofffrei gemachtes Wasser, das durch eine Oelschicht, die sich völlig indifferent verhielt, von dem Sauer- stoff'der Luft abgegrenzt war, während das andere Ende des Plasmodiums mit der Luft in Berührung stand. Die Folge war die, dass das Proto- plasma der in das Wasser tauchenden Stränge allmählich ganz aus dem Wasser herausströmte und sich oberhalb der Oelschicht auf dem nassen Fliesspapier an der Luft ansammelte. Es war also nach dem Sauer- stoff der Luft positiv-chemotaktisch. Dass es nicht das Wasser selbst war, welches die Plasmodien zu meiden suchten, wie man etwa ver- muthen könnte, geht aus der Thatsache hervor, dass die Plasmodien sogar positiv-chemotaktisch nach Wasser sind und vom Trockenen her immer ins Feuchte kriechen, so dass man sogar von einer be- sonderen „Hydrotaxis" gesprochen hat. Man muss daher die Fliesspapierstreifen zu dem Versuch auch stets feucht erhalten, damit nicht die Chemotaxis nach Wasser mit der Chemotaxis nach Sauer- stoff intercurrirt. Auch anderen Stoffen gegenüber verhielten sich die Plasmodien chemotaktisch, vor Allem gegenüber der ihnen zur Nahrung dienenden Lohe. So krochen in den Versuchen Stahl's die Protoplasmamassen stets nach Lohestückchen oder nach Papier- kugeln, die mit einem Loheaufguss getränkt waren, hin und häuften sich hier an, eine Form der positiven Chemotaxis, die Stahl als „Trophotaxis" bezeichnet hat, weil sie zur Aufsuchung der Nahrung, unter den einzelligen Organismen weit verbreitet, eine wichtige Rolle spielt. Leber-), Massart ^), Metschnikoff*), Büchner^) und Andere haben dann auch an den Leukocyten der Wirbelthiere chemotaktische Eigenschaften festgestellt, und zwar hat sich hier ein Verhältniss gefunden, das für die Stellungnahme des Organismus

1) Stähl: „Zur Biologie der Myxomyceten." In Bot. Zeitung 1884-

2) Leber: „Ueber die Entstehung der Entzündung und die Wirkung der entzün- dungserregenden Schädlichkeiten." In Fortschritte der Medicin 1888. Derselbe: „Die Entstehung der Entzündung und die Wirkung der entzündungserregenden Schäd- lichkeiten." Leipzig 189L

^) Jean Mässakt et Charles Bobdet: „Eecherches sur l'irritabilite des leucocytes et sur I'intervention de cette irritabilite dans la nutrition des cellules et dans l'inflam- mation." In Journal public par la societe royale des sciences medicales et naturelles de Bruxelles, 1890.

*) Metschnikoff: „Lecjons sur la pathologie comparee de rinflainmation." 1892.

^) H. Bcchser: „Die chemische Reizbarkeit der Leukocyten und deren Beziehung zur Entzündung und Eiterung." In Berl. klin. Wochenschr. 1890, No. 47.

28*

4.36 Fünftes Capitel.

gegenüber den Infectionskrankheiten von allergrösster Bedeutung ist. Wie wir an anderer Stelle^) bereits sahen, scheiden die Bakterien gewisse Stoffwechselproducte aus, die, wie z. B. die Toxine, in neuerer Zeit vielfach die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gelenkt haben. Diese Stoffwechselproducte der Bakterien üben eine ganz hervor- ragende chemotaktische Wirkung auf die Leukocyten aus und veran- lassen sie, in grossen Schaaren nach der Stelle im Organisnius hinzukriechen, wo eine Einwanderung und Vermehrung von Bakterien stattgefunden hat. So findet an dem Herde der Infection eine dichte Anhäufung von Leukocyten statt, die in gewissen Fällen,^ wie Metsch- NiKOFF gezeigt hat, die Bakterien auffressen und den weiteren Verlauf der Infection zum Theil bestimmen. Ist die Einwanderung und Ver- mehrung der Bakterien nicht zu stark, so können sie im Kampf mit den Leukocyten, die gewissermaassen die Polizei des Körpers gegen- über den unbefugten Eindringlingen repräsentiren, unterliegen, und die Infection wird coupirt. Erweisen sich die Bakterien als die Stärkeren, so findet eine Ausbreitung der Infection und eine allgemeine Er- krankung des Organismus statt, deren Verlauf dann durch andere Momente bestimmt wird.

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Fig. 208. Chemotaxis von Leukocyten nach Eiterkokken. Die Leukocyten

sind in die Capillarröhre, welche die Cultur von Staphylokokken enthält, in dichten

Schaaren eingewandert, wie besonders an der Oeffnung der Röhre zu sehen ist.

Um uns von der positiv-chemotaktischen Wirkung der Bakterien- producte auf die Leukocyten zu überzeugen, können wir mit Massakt folgenden Vei'such anstellen. Nach einer von Pfeffer zuerst ersonnenen Methode füllen wir ein kurzes Capillarröhrchen mit einer Cultur des eitererregenden Staphylococcus pyogen es albus und schmelzen das eine Ende des Köhrchens zu. Darauf legen wir das Röhrchen in die Bauchhöhle oder unter die Haut eines Kaninchens und lassen es etwa 10—12 Stunden liegen. Nach Ablauf dieser Zeit finden wir bei der mikroskopischen Betrachtung des Röhrchens, dass von der offenen Seite her ein dichter Schwärm von Leukocyten in das Innere ein- gedrungen ist, der wie ein dicker weisser Pfropfen die Oeffnung ver- schliesst (Fig. 208). Die Leukocyten sind also, durch die Bakterien- stoffe veranlasst, aus den Geweben der Thiere in die Capillarröhre hineingekrochen. Ein gewissenhafter Forscher muss indessen sofort den Einwand machen, dass es vielleicht die Nährlösung, in welcher die Bakterien cultivirt werden, sei, welche chemotaktisch auf die Leuko- cyten wirke. Aber dieser Einwand lässt sich widerlegen, wenn wir, wie das Massart gethan hat, zur Controlle ein gleiches Capillar- röhrchen, mit derselben Nährflüssigkeit, aber ohne Bakteriencultur in das Thier hineinbringen. Die Einwanderung der Leukocyten bleibt in diesem Falle aus. Auch dass es nicht bloss die Bakterienkörper selbst, sondern die von ihnen abgeschiedenen Stoffwechselproducte sind, welche die chemotaktische Wirkung hervorrufen, lässt sich be-

1) Vergl. pag. 180.

Vou den Reizen und ihren Wirkungen. 437

weisen, indem wir eine sterilisirte und von Baktcricnleibcrn vollständig befreite CulturllUssigkcit zum ^''er^)uch verwenden, in der sieh also nur die gelüsten Ötoffwechselproduete der betreffenden Bakterien be- linden. Der Erfolg ist dann der gleiche, wie wenn die Cultiir direct zum Versuch benutzt wäre: das Röhrchen hat sich nach einiger Zeit mit eingewanderten Leukocyten gefüllt. Was aber von den Culturen des Stapliy lococcus pyogen es albus gilt, das hat man auch bei vielen anderen pathogenen Bakterienformen gefunden, und es ist zweifellos, dass weiter fortgesetzte Untersuchungen über die Be- ziehungen zwischen Leukocyten und Bakterien noch Klarheit über eine ganze Reihe von Punkten verbreiten werden, die bisher in der Geschichte der Infectionskrankheiten in tiefes Dunkel gehüllt ge- wesen sind.

Uebrigens zeigen sich die Leukocyten nicht bloss chemotaktisch gegenüber den Stoffwechselproducten der Bakterien, sondern, wie BccHNER gefunden hat, auch gegenüber den Eiweisskörpern der Bakterienleiber selbst und gegenüber einer ganzen Reihe von Stoffen nicht bakterieller Abkunft. So fand Buchner, dass Weizenmehl- und P^rbsenmehlbrei besonders stark chemotaktisch wirksam sind. Schlies.s- lich hat Sicherer \) kürzlich gezeigt, dass die Leukocyten von Warm blütern unter geeigneten Bedingungen auch ausserhalb des Thierkörpers ihre chemotaktischen Eigenschaften gegen die verschiedensten Stoffe noch lange Zeit ebenso deutlich äussern, wie im lebendigen Thier- körper selbst.

Eine wichtige Rolle spielt die Chemotaxis der Leukocyten ferner in der Entwicklung vieler Thiere. Das geht besonders aus den schönen Untersuchungen Kowalevsky's") an Insecten hervor. Wenn sich die Fliegenmade in die fertige Fliege umwandelt, eine Meta- morphose, die ziemlich schnell erfolgt, werden die alten Organe des Madenkörpers, wie die Kriechmuskeln etc., überflüssig und beginnen zu degeneriren. Die mit Beginn dieser Degeneration auftretenden Stoffe wirken aber in hohem Grade chemotaktisch auf die Leukocyten, die in grossen Schaaren in die degenerirenden Organe einwandern, um als echte Phagocyten die zerfallenden Massen aufzufressen und so die Beseitigung derselben beschleunigen zu helfen (Fig. 209). Es ist charakteristisch, dass die Phagocyten nur bei solchen Lisecten, wo die Metamorphose sehr schnell erfolgt, diese Thätigkeit entfalten, dass sie dagegen bei anderen Insecten, wie bei der Motte etc., und ferner bei der Degeneration des Kaulquappenschwanzes etc. nicht betheiligt sind. Dagegen konnte Metschnikoff die analogen Erscheinungen wieder in der Entwicklung der Seesterne nachweisen.

Weit verbreitet ist die Chemotaxis bei den ge isseltragenden Bakterien, Infusorien und Schwärmsporen. An Bakterien wurde diese Erscheinung von Engelmann ^) zuerst entdeckt und auch

^) O. V. Sicherer: „Chemotropismus der Warmblüterleukocyten ausserhalb des Körpers." In Münchener medic. Wochenschr. XLIII, 41.

^) Kowalevsky: „Beiträge zur Kenntniss der nachembryonalen Entwicklung der Museiden." In Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 45, 1887.

^) EsGELMANX: ,.Neue Methode zur Untersuchung der Sauerstofiausscheidung pflanzlicher und thierischer Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. XXV. Derselbe: „Die Erscheinungsweise der Sauerstoffausscheidung chlorophyllhaltiger Zellen im Licht bei Anwendung der Bakterienmethode." In Verhandl. d. Kon. Akad. van Weteusch. te Amsterdam. II. Sect., 3. Theil. 1894.

438

Fünftes Capitel.

gleich in genialer Weise praktisch verwendet. Engelmann beobachtete nämlich, dass gewisse Bakterienformen, die in faulenden Aufgüssen leben, sich in grossen Massen in der Nähe von Sauerstoffquellen an- sammeln. So findet unter dem Mikroskop im offenen Tropfen eine dichte Ansammlung dieser Mikroben an den Tropfenrändern statt, w^o der Sauerstoff der Luft den nächsten Zutritt hat. Unter dem Deckglas sammeln sich die Bakterien ebenfalls in der Nähe des Deck- glasrandes an und bilden einen dichten, parallel dem Deckglasrande hinziehenden Wall. Auch Luftbläschen, die sich unter dem Deckglas befinden, sowie Pflanzenzellen, deren Chlorophyll im Lichte Sauerstoff abspaltet, wirken in derselben Weise, namentlich wenn man durch Abschluss der Deckglasränder mit einer Oelschicht eine gewisse Sauer-

Fig. 209.

Fig. 209. Leukocytenbei der Metamorphose der Fliegenmaden die Mus- keln zerstörend. Die ge- körnten Massen sind Leuko- cyten, die gestreiften sind Muskelbruchstücke. Nach

KOWALEVSKV.

Fig. 210. Leukocyt, ein Milzbrandbakterium fressend. Nach Metschnikoff.

stoffnoth unter dem Deckglas erzeugt hat. Engelmann hat diese über- aus grosse Erregbarkeit der Bakterien durch Sauerstoff benutzt, imi darauf eine Methode zum mikroskopischen Nachweis kleinster Sauer- stofiinengen zu gründen, die für die Erkenntnis der assimilatorischen Wirkung verschiedener Lichtarten in der grünen Pflanzenzelle von maassgebender Bedeutung geworden ist^). Li der That erkennt man bei äusserem Luftabschluss in einem bakterienhaltigen Tropfen die Stellen, wo auch nur die geringsten Spuren von Sauerstoff vorhanden sind, sofort an der dichten Anhäufung dieser Mikroben. Ein schönes Beispiel dafür liefert folgende Beobachtung-). In einem Tropfen unter dem Deckglas befand sich im Gesichtsfelde eine grosse Diatomee

1) Vergl. pag. 222.

2)Verworn: „Psycho -physiologische Protistenstudien. Experimentelle Unter- suchungen." Jena 1889.

Von (Ion IJeizen luul ilireii Wirkunfrun.

439

(Pinn ul ar i a), welche, da sie im Lichte durcli ihre Cliromophyll- thäti;;keit SaucrstofF abschied, direct mit einem Wall von bewegungs- los dalii'gfMiden S p i roc hae ten umgeben war. Im übrigen Theil des Gesichtsfeldes waren fast keine Spiro- chaeten sichtbar. Da fing plötzlich

II

III

Fig. 211. Chemotaxis von Bakterien nach Sauerstoff, der von Algenzellen im Lichte entwickelt wird. 7 Diatomee im Sonnenlicht Sauerstoff entwickelnd und von Spirillen umschwärmt. // Diatomee zur Hälfte beschattet, zur Hälfte beleuchtet. Die Bakterien haben sich in der beleuchteten Hälfte gesammelt, wo der Sauerstoff entwickelt wird. III Algenzelle von Bakterien umschwärmt, A im Dunkel, £ im Hellen. II und /// nach Engelmann.

die Diatomee an, eine Strecke weiter zu gleiten, bis sie wiederum ganz still liegen blieb. Die Bakterien, auf diese Weise von ihrer SauerstofFquelle im Stich gelassen, lagen zunächst noch einige Augen- blicke ruhig. Alsbald aber trat eine lebhafte Bewegung unter ihnen ein, und in dichten Schaaren schwammen sie wieder zu der Diatomee

440

Fünftes Capitel.

hinüber. In ein bis zwei Minuten waren fast alle wieder um dieselbe versammelt und umgaben sie Avie bisher bewegungslos in dichtem Haufen (Fig. 2111). Aehnliche Beobachtungen hat Engelmann vor Kurzem abgebildet (Fig. 211, II u. III).

Die ausgezeichneten und methodischen Untersuchungen Pfeffer's^) über die Chemotaxis hatten ihren Ausgangspunkt in Beobachtungen an den Spermatozoen von Farnen, bei denen sich chemotaktische Be- ziehungen zur Eizelle herausstellten, die, wie man jetzt weiss, fast in der ganzen lebendigen Natur Analoga finden und für die Befruchtung der Eizelle durch das Spermatozoon bei Thieren wie bei Pflanzen als unentbehrliche Bedingung fungiren. Das Spermatozoon sucht die Eizelle auf und Avird auf den richtigen Weg geführt fast überall in der lebendigen Welt durch die chemotaktische Wirkung, welche die Stoffwechselproducte der Eizelle auf die freibewegliche Spermatozoen- zelle ausüben. Dass unter den unzähligen Schaaren von Spermatozoen der verschiedensten Thiere, welche an manchen Stellen das Meer be- völkern, jede Art die richtige, zu ihr gehörige Eizelle findet, eine

Fig. 212. Zwei pflanzliche Eizellen, umschwärmt von Spermatozoen.

Nach Stkasburger.

Thatsache, die sonst überaus wunderbar erscheinen müsste, ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine unmittelbare Folge der Chemo- taxis und erklärt sich sehr einfach dadurch, dass jede Spermatozoen- art chemotaktisch ist nach den specifischen Stoffen, welche die Eizelle der betreff"enden Art charakterisiren. Wir haben hier eine Anpassungs- erscheinung der einfachsten Art, die uns von Neuem eine Vorstellung giebt^ wie ganz ausserordentlich tief die Erscheinungen der Chemo- taxis in alle Verhältnisse des Lebens hineingreifen.

Der Versuch Ppefper's an den Spermatozoen der Farnkräuter war folgender. Pfeffer füllte ein einseitig zugeschmolzenes Capillar- röhrchen mit einer Lösung von ca. 0,05 ^lo Apfelsäure und legte es in einen Tropfen, der eine grössereMenge von Farnspermatozoen ent- hielt, so dass die Apfelsäure aus der Mündung der Capillare allmäh- lich in den Tropfen hinaus diffundiren musste und dadurch eine ein- seitig wirkende Reizquelle abgab. Bei der mikroskopischen Beob-

^) W. Pfeffer: „Locomotorische Eichtungsbewcgungen durch chemische Reize." In Unters, aus dem bot. Inst, zu Tübingen Bd. I, 1884. Derselbe: „lieber chemo- taktische Bewegungen von Bakterien, Flagellaten und Volvocineen." In LTnters. aus dem bot. Inst, zu Tübingen Bd. II.

Von den Reizen und ihren Wirkungen. 441

achtung zeigte sicli. dass die 8j)ermatozo('n sofort anfingen, auf die Mündung der Oapillare loszusteuern und in dieselbe liineinzuschwimmen. Nach '/2 Minute waren bereits gegen 60 und nach 5 Minuten bisweilen etwa 600 Spermatozoon in die Capillare hineingewandert. Nach 12 Mi- nuten waren in einem Versuch von 24 Spermatozoen alle bis auf eins, das sich ausserhalb zur Ruhe gelegt hatte, in der Capillare versammelt. Die Apfelsäure Avii-kt also im höchsten Grade chemotactisch auf die Spermatozoon der Farne, die sich dagegen allen anderen Stoffen gegen- über, Avelche Pfeffer noch auf ihre chemotaktische Wirksamkeit prüfte, völlig indifferent verhielten. Das legte die Vermuthung nahe, das es auch in dem die Eizelle bergenden Archegonium Apfelsäure sei, welche die Spermatozoon zur Annäherung und Einwanderung ver- anlasste. Nun konnte zwar Pfeffer wegen der Kleinheit der Objecte und des Mangels mikrochemischer Reactionsmethoden die Apfelsäure im Inhalt der Archegonien selbst nicht nachweisen; dafür gelang es ihm auf makrocheraischem Wege, in den ganzen die Geschlechtspro- ducte tragenden Pflanzentheilen die Anwesenheit von Apfelsäure fest- zustellen, so dass die Vermuthung, es sei die Apfelsäure, welche auch im Archegonium die Einwanderung der Spermatozoon veranlasst, eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit gewinnt. Die Spermato- zoen der Laubmoose verhielten sich gleichgültig gegen Apfelsäure, dagegen waren sie in ausgezeichnetem Grade chemotaktisch nach schwachen Rohrzuckerlösungen.

O Reizschwelle Opamum, \

I \ 1 1

Fig. 213. Schema der chemotaktischen Reiz Wirkung. Die Concentration

nimmt von links nach rechts zu; bei 0 Nullpunkt der Concentration, bei -f- Tödtungs-

punkt. Die Pfeile geben die Bewegungsrichtung an.

Pfeffer dehnte später seine Untersuchungen auf eine grosse Zahl von Bakterien und Geissel-Infusorien aus und gelangte dabei zu einer Reihe von Ergebnissen, die im höchsten Grade interessant sind. Es zeigte sich bei diesen Untersuchungen, dass die verschiedensten Stoffe in ganz verschiedener Weise auf die verschiedenen Mikroorganismen- formen wirken. Stoffe, auf welche die einen reagirten, erwiesen sich für andere als unwirksam. Manche Stoffe wirkten nur positiv-, andere nur negativ - chemotaktisch. Im letzteren Falle entfernten sich die betreffenden Organismen von der Reizquelle, und die Capillare blieb leer. Die Reizschwelle, d. h. derjenige Concentrationsgrad, bei dem die chemotaktisch wirksamen Stoffe eben ihre Wirkung zu äussern be- ginnen, liegt für die verschiedenen Stoffe und verschiedenen Organismen sehr verschieden hoch. Was aber das Interessanteste ist, das ist die Thatsache, dass viele Stoffe, welche in schwächerer Concentration positiv-chemotaktisch wirken, bei höheren Concentrationsgraden eine negative Chemotaxis bei den gleichen Organismen veranlassen. Es existirt also ein Reiz-Optimum, dem die Organismen von beiden Seiten, sowohl aus der geringeren als aus der höheren Concentration, zustreben. Wird die Concentration bei diesen Stoffen zu stark, so tritt natürlich der Tod ein. Wir können also vier wichtige Concentrationsgrade fixiren : den Nullpunkt, wo der be-

442

Fünftes Capitel.

treffende Stoff noch gänzlich fehlt, die Reizschwelle, wo seine Con- centration eben wirksam wird, das Optimum, dem die Organismen aus allen Concentrationsgraden oberhalb der Reizschwelle zustreben, und den Tödtungspunkt, bei dem die Concentration zu stark ist, um ^1 das Leben noch zu gestatten (Fig. 214). Das Optimum liegt bei dem ' gleichen Stoff für verschiedene Organismen meist auch bei einem ver- schiedenen Concentrationsgrad. Dafür hat Massart ^) ein hübsches Beispiel in dem verschiedenen Verhalten einer Bakterienform, S p i - rillum, und einer Wimper-Infusorienform, Anophrys, gegenüber dem Sauerstoff gefunden. Wenn er beide Organismenformen in grösserer Zahl unter dem Deckglas hatte, so sammelten sie sich zwar

II

III

Fig. 214. Chemotaxis von Bakterien und Infusorien. / Luftblase unter dem Deckglas, umgeben von zwei Zonen, von denen die nähere aus Anophrys, die entferntere aus Spirillen besteht. JJ Rand des Deckglases. Anophrys und Spirillen bilden die gleichen Zonen. III Zwei Wassertropfen, die durch eine Wasserbrücke miteinander verbunden sind. Im oberen Tropfen liegt Kochsalz. Die im Tropfen befindlichen Anophrj^s wandern in den reinen Wassertropfen über, je mehr sich das Kochsalz löst. Nach Massart.

beide als Wall an den Deckglasrändern oder um Luftblasen herum an, aber nicht unmittelbar an der Grenze zwischen Luft und Wasser, sondern jede Form in einer andern Entfernung von der Sauerstoff- quelle, die Anophrys näher, die Spirillen etwas entfernter von der Grenze. So kam das Sauerstoff-Optimum für beide auf die deut- lichste Weise in der Entfernung ihrer Anhäufung von der Sauerstoff- quelle zum Ausdruck (Fig. 214/ u, II).

Unter den Wimper-Infusorien sind die chemotaktischen Er- scheinungen bisher weniger bekannt geworden, doch hat bereits Massart auch hier für einige Formen chemotaktische Eigenschaften gegenüber verschiedenen Stoffen nachweisen können. Es sei z. B. noch die nega-

^) Jean Massart: „Kecherches sur les organismes inferieurs." In Bulletins de l'acad. royale de Belgique 3™'-' serie, t. XXII, 1891.

Von den Reizen und iliren Wirkungen. 443

tive Chemotaxis der Lereits genannten Int'usori(!ntbrm Anophrys gegen Koclisalz angeführt, die sieli in sehr eintaeher Weise anschau- lieh niaclien lässt. Massart legte an den Ranrl eines Tropfens, in dem sieh zahlreiche A n oph ry s befanden, einige Kochsalzkryställchen und verband den Tropfen auf der gegenüberliegenden Seite durch eine schmale Wasserbrücke mit einem gleichgrossen Tropfen destillirten Wassers (Fig. WSTIII). Die Folge war, dass die Infusorien die Stelle, wo das Kochsalz lag, um so mehr flohen, als das Salz sich löste und in seine Umgebung diffundirte, bis sie schliesslich sämmtlich durch die schmale Verbindung in den andern Tropfen hinübergewandert waren. Neuerdings hat Jenninos ^) sehr umfassende und systematische Untersuchungen über die Chemotaxis der Paramaecien gemacht und dabei eine Methode angeAvandt, die in mancher Beziehung grosse Vortheile bietet. Jennings stellt die Versuche auf dem Objectträger unter einem grossen Deckglase an, das von zwei Glasstäbchen unter- stützt ist, so dass eine ziemlich dicke Schicht W^asser mit Para- maecien zwischen Objectträger und Deckglas sich befindet. In diese Schicht, die frei sein muss von allen Beimengungen, bringt er mittels einer zu capillarer Spitze ausgezogenen Pipette vorsichtig einen Tropfen der Lösung, die auf ihre chemotaktischen Wirkungen untersucht werden soll (Fig. 215). Die Stoffe dieser Lösung diffundiren als- bald in die umgebende Flüssigkeit, in der sich die Paramaecien gleichmässig zerstreut bewegen. Dadurch werden je nach der Wirkungsart der betreffenden Stoffe ganz charakteristische Wirkungen unter dem Deckglas erzielt. Sind die betreffenden Stoffe unwirksam, wie z. B. Zuckerlösungen, so schwimmen die Paramaecien un- gestört in den Tropfen hinein, und nach wenigen Secunden ist die gleichmässige Vertheilung der Infusorien unter dem Deckglas wieder hergestellt. Wirkt der Tropfen negativ chemotaktisch, wie z. B. die Alkalien, so bildet sich an der betreffenden Stelle ein Kreis, der voll- kommen frei ist von Paramaecien (Fig. 215^). Wirkt der Tropfen aber positiv chemotaktisch, wie z. B. die meisten Säuren, so schwimmen sämmtliche Paramaecien, die sich unter dem Deckglas befinden, in den Tropfen hinein (Fig. 215 1>). Ist die wirksame Substanz dabei in einer Concentration im Tropfen enthalten , die über dem Optimum liegt, so sammeln sich die Infusorien in einer Ringzone um den Flüssigkeitstropfen an (Fig. 215 C). Auffallend ist es, dass die Para- maecien, wie nach anderen Säuren, so auch nach Kohlensäure positiv chemotaktisch sind. Bringt man unter das Deckglas eine Blase chemisch reiner Kohlensäure und gleichzeitig zur Controlle eine ge- wöhnliche Luftblase, so sammeln sich die Paramaecien in dichter Masse um die Kohlensäureblase, während sie die Luftblase frei lassen (Fig. 215 D). In demselben Maasse aber, wie die Kohlensäure in das Wasser hinein diffundirt und sich zu einer über das Optimum hinaus- gehenden Concentration anhäuft, ziehen sich die Paramaecien in ge- schlossenem Kreise von der Kohlensäureblase zurück, weil sie gegen höhere Concentrationen von Kohlensäure negativ chemotaktisch sind. Dadurch entstehen dann sehr charakteristische Bilder (Fig. 215 £"). Da ferner die Paramaecien wie alle Organismen auch selbst Kohlensäure pro- duciren, so werden dort, wo sich viele Paramaecien aus irgend

*) Die Arbeit von Jennings wird in Kurzem erscheinen. Inzwischen ist der Ver- fasser so liebenswürdig gewesen, mir einige Abbildungen zu überlassen.

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Fünftes Capitel.

einem Grunde angesammelt haben, immer noch mehr Individuen durch die von der Versammlung producirte Kohlensäure herbeigelockt. Wir haben hier also einen sehr interessanten Fall von Gesellschaftsbildung einfach auf Grund positiver Chemotaxis. In der That kann man durch Uebertragung eines Tropfens reinen Wassers aus einer solchen An- sammlung unter ein anderes Deckglas mit Paramaecien eine neue chemotaktische Ansammlung derselben erzielen, wie sie Fig. 2155 zeigt.

B

E

Fig. 215. Chemotaxis von Paramaecium aurelia. A Chemotaktisches Deck- glaspräparat: Mit einer Capillarpipette ist ein Flüssigkeitstropfen unter das Deck- glas geführt worden, der negativ cliemotaktisch wirkt. B Positiv chemotaktische An- sammlung. C Desgleichen bei zu hoher Concentration der betrefl'enden Lösung: Die Paramaecien haben sich ringförmig im Optimum der Concentration angesammelt. I) Eine Kohlensäure- und eine Luftblase sind unter dem Deckglas : Die erstere (links) wirkt positiv chemotaktisch; die letztere ist indifferent. E Dasselbe Präparat einige Minuten später: Die Kohlensäure ist in das umgebende Wasser dilfundirt und hat durch ihre zu hohe Concentration die Paramaecien vertrieben bis dahin, wo sie ihr Kohlensäure- Optimum finden. Nach Jennings.

Von den Reizen und iliren Wirkunfren. 445

Schliesslicli geben uns die cheniotaktisclien Elrscheinnngen ein Mittel an die Hand, um uns annähernd einen JJegrifF davon zu machen, wie verschwindend kleine ßeizgrössen es sind, die auf die lebendige Substanz noch eine sichtbare Wirkung auszuüben im Stande sind. Pfeffer fand in seinen Versuchen, dass die Farnkrautspermatozoen noch eine deutliche Chemotaxis bekundeten, wenn er das Cai)illar- röhrchen mit einer Lösung von 0,001 " o Apfelsäure beschickt hatte. Bedenkt man nun, dass die Apfelsäure erst in den Tropfen diffundiren muss, um ihre chemotaktische Wirksamkeit zu entfalten, so ergiebt sich, dass die Menge, welche auf die Spermatozoon einwirkt, eine noch weit geringere sein muss. Allein noch nicht genug. Um eine chemotaktische Wirkung zu erzeugen, kommt es ja nicht darauf an, dass eine bestimmte Menge des betreffenden Stoffes in der Umgebung des Organismus gleichmässig vertheilt ist, sondern darauf, dass ein Concentrationsabfall von einer Stelle her stattfindet. Es ist also die Grösse der Differenz in der Concentration an den beiden Enden des Spermatozoons, welche für das Zustandekommen der chemotaktischen \Mrkung maassgebend ist. Da aber der Spermatozoenfaden nur die winzige Länge von 0,015 mm besitzt, so kann man sich ungefähr eine Vorstellung machen, wie ganz ausserordentlich gering die Con- centrationsdifferenz an beiden Polen des Spermatozoons, mithin die Reizgrösse sein muss, die noch eine chemotaktische Wirkung hervor- ruft. So geben uns gerade die chemotaktischen Erscheinungen und, wie wir sehen werden, auch die analogen Erscheinungen aus der Wir- kungssphäre anderer ßeize besser als alle übrigen Reizwirkungen eine Vorstellung davon, wie überaus schwache Reize noch eine merk- liche Wirkung auf die lebendige Substanz hervorrufen. Die lebendige Substanz ist ein ganz ausserordentlich feines Reagens auf die geringsten Einwirkungen, und wenn die Homoeopathie die Wirksamkeit sehr kleiner Mengen von gewissen Arzeneistoffen behauptet, so ist diese Behauptung durchaus gerechtfertigt, wieviel auch sonst Aberglaube in der homoeopathischen Lehre stecken mag.

2. Barotaxis.

Alle mechanische Reizung der lebendigen Substanz besteht in einer Veränderung der Druckverhältnisse, unter denen sie sich be- findet. Von der Einwirkung der continuitätstrennenden Zerquetschung oder Zerschneidung an bis zur leisesten Berührung und bis zur feinsten Veränderung des Luft- oder Wasserdruckes kann jede Abstufung der Druckverhältnisse als Reiz wirken. Bei einseitiger Einwirkung von Druckreizen, also in allen den Fällen, wo Druckdifferenzen an zwei verschiedenen Stellen des Körpers eines Organismus bestehen, sehen wir daher der Chemotaxis entsprechende Erscheinungen zu Stande kommen, die wir, da sie sämmtlich das Gemeinsame haben, dass sie durch ungleichseitig M^irkenden Druck (ßagog) hervorgerufen werden, als „Barotaxis" bezeichnen können. Auch die Barotaxis. von der wir je nach der Art des Druckes verschiedene Arten unter- scheiden können, kann eine positive oder negative sein, je nach- dem der Organismus sich nach der Seite des höheren oder niederen Druckes hinwendet.

Unter „Thigmotaxis" können Avir alle diejenigen Fälle der Barotaxis zusammenfassen, die durch mehr oder weniger starke Be-

446

Fünftes Capitel.

rührung der lebendigen Substanz mit festeren Körpern zu Stande kommen. Die einfachste Form derselben zeigen uns die nackten Protoplasma- massen, wie Rhizopoden, Leukocyten etc., und zwar liefern diese uns gerade ausgezeichnete Beispiele dafür, wie die schwache Berührung positive, die heftige Berührung negative Thigmotaxis hervorruft, wie also auch hier analog der Chemotaxis die verschiedene Intensität des Reizes von wesentlicher Bedeutung ist. Lassen wir z. B. einen marinen Rhizopoden, etwa den schon mehrfach erwähnten Orbito- lites (Fig. 98 pag. 242), ruhig in einem Glasschälchen mit Seewasser liegen, so beginnen nach einiger Zeit aus den kleinen Löchern der Kalkschale Pseudopodien herauszutreten, die, zunächst ganz kurze

Fädchen vorstellend, frei im Wasser flottiren. Bald aber, indem sie länger und schwerer werden, senken sie sich mit den Enden auf die Unterlage, haften mittels eines feinen Se- crets hier fest, und nun beginnt das Protoplasma lebhaft auf der Unterlage entlang zu strömen, ohne sich je wieder frei ins Wasser zu erheben. Die lebendige Substanz der Rhizopoden verhält sich also der leisen Berüh- rung mit der Unterlage gegenüber positiv- thigmo- taktisch und wendet sich der Unterlage zu. Die Ausstreckung und reiche Ausbreitung der Pseudo- podien findet, abgesehen von den frei schwimmen- den Radiolarien , Helio- zoen etc., immer im Con- tact mit irgend einem Körper, sei es mit der Unterlage, sei es mit dem Deckglas oder dem Ober- flächenhäutchen des Wassers, sei es schliesslich mit irgend welchen im Wasser liegenden Gegenständen, statt. Umgekehrt können wir durch starke mechanische Reizung der Spitze eines lang ausgestreckten Orbi tollten -Pseudopodiums, am besten, wenn Avir es mit einer Nadel drücken oder mit einem Messer an der Spitze durchschneiden, eine negative Thigmotaxis seiner lebendigen Substanz hervorrufen, indem sich das Protoplasma an der Reizstelle zu kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt und von der Reizstelle hinwegströmt (Fig. 216)^). Noch deutlicher ist die gleiche Erscheinung bei einer

\

\

CL

h

O

d

e

f

Fig. 216. Pseudopodium von Orbitolites, in

a bei * durchschnitten, b, c, d, e, f aufeinander

folgende Stadien der Keizwirkung,

1) Yeuwoex: „Die Bewegung der lel »endigen Substanz. Eine vergleichend-physio- logische Untersuchung der Contractionserscheinungen." Jena 1892.

Von doli Keizen und ihren Wirkung;en.

447

sc-lineller reagironden Rliiz()i>0(lontonn des süssen Wassers, der gehäusc- tragenden (' v])h od er ia, zu becjbacliteii, wo das Protoi)lasina des Pseudopodiums von der Keizstelle sich mit grosser Geschwindigkeit zurückzieht (Fig. 217).

Die thigmotaktischen Erscheinungen sind weit verbreitet. Am bekanntesten sind sie im PHanzcnreich bei den Schlingpflanzen und Rankengewjiclisen, deren Stengel und Kanken sich den Gegenständen, mit denen sie in Berührung kommen, zuwenden, um in ste- tem Contact mit ihnen weiter zu wachsen (Fig. 218). Allein schon in dem ziemlich gleichmässig gebauten Zellenstaat der Pflanze sind die Verhältnisse so complicirt, dass sich

Fig. 217. Cyphoderia mit lang ausgestreckten

Pseudopodien. Bei =^>- gereizt. Das Protoplasma

fliesst von der Eeizstelle weg.

Fig. '218. Positive Thigmo- taxis einer Pflanze, a Stab, b, b, e, d Ranken. Nach Sachs.

bei diesen Erscheinungen das Verhalten der lebendigen Substanz in der einzelnen Cellulosekapsel gegenüber dem Reiz nicht ohne \A'eiteres übersehen lässt so dass Avir bisher noch nicht sicher wnssen, in welcher Weise die einzelne Zelle an dem Zustandekommen der thigmotaktischen Rankenkrümmung betheiligt ist.

448

Fünftes Capitel.

An den Spermatozoen der Küchenschabe (Per i plane ta orien- talis) hat Dewitz ^) eine positive Thigmotaxis entdeckt. Bringt man die Spermatozoen dieses Thieres in eine Kochsalzlösung von 0,6 *^/o zwischen Objectträger und Deckglas, so haben sich nach kurzer Zeit alle Individuen theils auf der Unterseite des Deckglases, theils an der Ober- fläche des Objectträgers angesammelt und beschreiben hier durch den Schlag ihrer Geissel kreisförmige Bahnen, deren Richtung ausnahmslos dem Sinne der Uhrzeigerbewegung entgegengesetzt ist. Die Dicke der Fltissigkeitsschicht bleibt vollständig frei von den Spermatozoen, welche die Flächen des Glases, nachdem sie dieselben einmal erreicht haben, nicht wieder verlassen. Legt man eine Kugel in den Tropfen, so wird auch die Kugeloberfläche von ihnen aufgesucht. Auch wenn man eine mit Spermatozoen bevölkerte Kochsalzlösung in den Hohlraum einer Kugel bringt, ist nach kurzer Zeit die ganze Innenfläche von ihnen bedeckt und die Mitte der Flüssigkeit völlig verlassen. Die aus-

\^.

Fig. 219. Oxytricha, ein Wimperinfusor ium. A Von unten, B von der Seite gesehen, C auf einem Muschelei umherlaufend.

gesprochene Thigmotaxis dieser Spermatozoen ist ähnlich wie die positive Chemotaxis vieler anderer von grösster Bedeutung für die Befruchtung der Eier.

Ein Gegenstück zu diesem Verhalten der Spermatozoen von Periplan eta liefert uns folgende Beobachtung an der Wimper- infusoriengattung Oxytricha, deren flacher, biegsamer Körper an seiner Unterseite mit Wimpern besetzt ist, die das Infusor ähnlich wie eine Assel als Beine benutzt, um damit auf den Gegenständen im Wasser umherzulaufen. Immer sieht man diese Infusorien auf dem Objectträger oder am Deckglas oder auf Schlammtheilchen, die im Wasser liegen , geschäftig und rastlos umherlaufen , ohne dass sie jemals von selbst den Contact mit diesen Gegenständen verliessen. Die Episode aus dem Leben einer Oxytricha, um die es sich hier handelt, illustrirt aber diese positive Thigmotaxis ganz besonders. Es

^) J. DüWiTz: „Ueljer Gesetzmässigiceit in der Ortsveränderung der Spermatozoen und in der Vereinigung derselben mit dem Ei." In Pflüger's Arch. Bd. XXXVIII, 1886.

Von den Reizen und iliren Wirkungen.

449

lagen in einem flachen Schälchen mit Flusswasser einige kugelrunde Eier der Flussniuschel Anodonta, und gleichzeitig befand sich eine Oxytricha im Wasser. Diese war auf irgend eine Weise beim Ein- giessen in Berührung mit einem der Eier gekommen und rannte nun unermüdlich auf der Kugeloberfläche des Eies umher, oline dieselbe verlassen zu können (Fig. 219 C), da das Ei nur mit einem Punkte auf der ebenen Unterlage ruhte. Stundenlang lief das Infusor so auf der Eikugel umher und niuss seinen Weg auf eine gerade Linie über- tragen — eine ganz enorme Strecke zurückgelegt haben. Nach vier Stunden endlich war es durch Vermittlung eines Schlammtheilchens, das an die isolirt daliegende Eikugel gelangte, in der Lage, seinen Zwangsaufenthalt wieder zu verlassen. Experimente, die darauf mit anderen Oxytrichen künstlich die gleichen Verhältnisse nachahmten, ergaben ganz analoge Resultate.

Einen andern typischen Fall von positiver Thigmotaxis hat jüngst Jenninos an Paramaecium entdeckt'). Bringt man nämlich unter ein Deckglas, unter dem sich zahlreiche Para- m a e c i e n gleichmässig im Wasser zerstreut be- finden, ein Fliesspapier- Stückchen oder einen an- dern Stoff" mit rauher Oberfläche, so sieht man, ~ dass nach einiger Zeit

Fig. 220. Thigmotaxis von Para- maecium. A Ein Individuum in Berührung mit einer Fliesspapierfaser. Die Wimpern, welche die Faser direkt berühren, stehen vollkommen still. B Ansammlung von Paramaecien um ein Fliesspapierstückchen unter dem Deckglas. Nach Jexnings.

dieser Körper mit einem dichten Saum von Paramaecien besetzt ist, die ihn mit ihren Wimpern berühren, ohne sich vom Platze zu bewegen. Bei AuAvendung von stärkeren Vergrösserungen zeigt sich, dass diejenigen Wimpern, welche in direkter Berührung mit dem Fremdkörper sind, grade ausgestreckt vollkommen still stehen (Fig. 220 A), und dass auch die Wimperthätigkeit am ganzen übrigen Körperum- fange stark herabgesetzt eventuell ganz aufgehoben ist. Wir haben hier also eine sehr ausgeprägte Thigmotaxis der Paramaecien vor uns. Bemerkenswerth ist übrigens nebenbei, dass die thigmotaktische An- sammlung der Paramaecien durch ihre Kohlensäureproduction immer neue Individuen chemotaktisch herbeilockt, so dass schliesslich die sämmtlichen Individuen des Tropfens (meist schon im Verlauf von 5 10 Minuten) um den Fremdkörper versammelt sind, ohne dass es den meisten überhaupt möglich wäre, in direkte Berührung damit zu treten, da derselbe von einem undurchdringlichen Wall

^) Die Untersuchungen von Jenxisgs werden demnächst veröfifentlicht werden. Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 29

450 Fünftes Capitel.

thigmotaktisch gefesselter Individuen umgeben ist (Fig. 220 7i). Die Thigmotaxis, welche die zufällig anschwimmenden Individuen ver- anlasst zu bleiben, ist nur die erste Ursache für die Ansammlung; die Chemotaxis nach der von ihnen producirten Kohlensäure macht die Ansammlung dann vollständig.

Eine zweite Form der Barotaxis, bei welcher der Druckreiz nicht wie bei der Thigmotaxis durch Berührung mit einem festen Körper, sondern durch den sanften Strom langsam fliessenden Wassers erzeugt wird, ist die von Schleicher entdeckte und von Stahl ^) genauer untersuchte „Rheotaxis", d. h. die Eigenthümlichkeit gewisser Orga- nismen, fliessendem Wasser gegenüber eine der Strömungsrichtung entgegengesetzte Bewegungsrichtung einzuschlagen. Da diese Orga- nismen demnach sich der Seite des Druckreizes zuwenden, so haben wir in der Rheotaxis nur eine specielle Form der positiven Barotaxis zu erblicken. Die Rheotaxis ist bisher nur bei wenigen Organismen bekannt geworden. Am besten brachte sie Stahl bei Myxomyceten- plasmodien, und zwar bei Aethalium septicum durch folgenden Versuch zur Anschauung. Er hängte einen schmalen Fliesspapier- streifen in ein mit Wasser gefülltes Becherglas, das etwas erhöht aufgestellt war, in der Weise, dass das eine Ende des Streifens in das Wasser eintauchte, während das andere über den Rand lang nach unten herabhing. Auf einem solchen Streifen besteht, wie man sich durch Anbringen einer Farbstoffmarke überzeugen kann, ein continuirlicher, langsamer Wasserstrom, der nach dem herabhängen- den Ende zu gerichtet ist. Dieses Ende legte Stahl auf einen Lohe- haufen, in dem sich Plasmodien von Aethalium befanden. Die Folge war, dass die Plasmodien langsam von dem Lohehaufen an dem Streifen in die Höhe krochen und sich schliesslich über den Becher- glasrand hinüber an der Innenseite des Glases abwärts, bis an die Wasseroberfläche hin ausbreiteten. Durch geeignete Controlversuche konnte sichergestellt werden, dass es in der That nur das strömende Wasser war, das den Reiz für diese Erscheinung lieferte.

Leider sind die rheotaktischen Eigenschaften anderer Organismen noch wenig untersucht. Es ist aber sehr wahrscheinlich , dass die Rheotaxis weiter verbreitet ist. Unter Anderem lag es nahe, anzu- nehmen, dass auch die menschlichen Spermatozoon rheotaktisch sind und vermöge ihrer Rheotaxis den Weg zur Eizelle finden, denn wenn die Spermatozoon in die Uterushöhle des Weibes hineingelangt sind, so treffen sie hier auf einen ihnen entgegen kommenden Strom schleimiger Flüssigkeit, da das Flimmerepithel, welches die Uterus- höhle auskleidet, eine nach dem Muttermunde hin gerichtete Schlag- richtung besitzt, mithin einen nach aussen gerichteten Strom erzeugt. Dass es eine Chemotaxis der Spermatozoon nach dem Ei wäre, welche ihnen in diesem Falle den Weg wiese, wird sehr unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Spermatozoon auch dann im Uterus in die Höhe wandern, wenn das Ei den Eierstock-Follikel noch gar nicht verlassen hat. In der That ist es denn auch Roth ^) gelungen, experimentell zu zeigen, dass die Spermatozoon und ebenso gewisse Bakterien rheotaktisch sind, indem er unter dem Deckglas eine schwache

M Stahl: „Zur Biologie der Myxomyceten." In Bot. Zeitung 1884. 2) Roth: „Ueber das Verhalten beweglicher Mikroorganismen in strömender Flüssigkeit." In Deutsche medic. Wochenschr. 1893, No. 15

\'i(ii den Reizen und ihren Wirkunjjen.

451

continuirliche »Strömung erzeugte und dabei sah, dass diese einzelligen Organismen sieh der Strömung entgegen bewegten.

Als eine dritte Form der Barotaxis schliesslieh haben wir die „Geotaxis" aufzufassen, d. h. di(^ Erscheinung, dass sich gewisse Organismen mit ihrer Medianaxe in ganz bestimmter Kichtung zum Erdmitteli»unkt einstellen und bewegen. Den Druckreiz liefern in diesem Falle die minimalen Druckdifferenzen, welche sich sowohl im Wasser als auch in der Luft an Punkten verschiedener Höhe finden.

Die geotaktischen Erscheinungen sind am längsten in der I3otanik bekannt, denn die Pflanzen sind sämmtlich in ausgezeichneter Weise geotaktisch. Die Wurzeln wachsen dem Erdmittelpunkt zu und sind pos i ti v-geotaktisch, die Stengel und Stämme wachsen vom Erd- mittelpunkt weg, sind also negati v-geotaktisch, und schliesslich sehen wir in dem Verhalten der Blätter und in vielen Fällen der Zweige, die stets im Wesentlichen tangential zur Erdoberfläche wachsen, eine transversale Geotaxis.

An freilebenden Zellen sind besonders von Schwarz^), Aderhold-), Massart ^) und Jensen*) geotaktische Eigenschaften festgestellt Avorden, indem sie fanden, dass Infusorien und Bakterien in Glas- gefässen mit Wasser theils in die Höhe steigen und sich ansammeln , theils die Tiefe aufsuchen und sich am Boden schaaren. Bringt man z. B. in eine senkrecht stehende Glasröhre Wasser, in dem sieh zahlreiche Paramaecien beflnden, so steigen diese Infusorien, Avie Jensen fand, in kurzer Zeit in die Höhe und sammeln sich am oberen Ende an (Fig. 221), mag dasselbe offen oder verschlossen sein. Die Para- maecien sind also negativ-geotaktisch. Umgekehrt verhalten sich, wie Massart beobachtete, manche Bakterienformen, die sich bei gleicher Versuchsordnung am unteren Ende der Röhre versammeln. Diese Bak- terien sind demnach positi v-geotaktisch.

Man hat sich bis in die neueste Zeit entweder gar keine oder halb mystische Vorstellungen darüber gemacht, wie die Schwerkraft die geotaktischen Er- scheinungen erzeuge, bis Jensen zeigte, dass es die Druckdifferenzen an den Punkten verschiedener Höhe sind, welche diese Wirkungen hervorrufen. Bekanntlich ist der hydro- statische Druck in einer Wassersäule oben bedeutend geringer als unten. Der höhere Druck wirkt daher z. B. auf die P a r a m a e c i e n als Reiz und veranlasst sie, sich von den Stellen höheren Druckes abzuwenden und die Stellen des geringsten Druckes aufzusuchen. Andere Unterschiede sind, wie jede Ueberlegung ohne Weiteres zeigt, zwischen dem oberen und dem unteren Theil der Flüssigkeitssäule in der senkrecht stehen-

Fig. 221. Glas- röhre h e n mit Paramaecien, die sich in Folge ihrer negativen Geotaxis am obe- ren Ende ange- sammelt haben. Nach Jensen.

1) F. Schwarz: „Der Einfluss der Schwerkraft auf die Bewegungsrichtung von Chlamydomonas und Euglena." In Sitzungsber. d. Deutschen bot. Ges. Bd. II, Heft 2.

2") Aderhold: „Beiträge zur Kenntniss richtender Kräfte bei der Bewegung niederer Organismen." In Jenaische Zeitschr. f Naturwiss. 1888.

") Mass.vht: „Kecherches snr les orgauismes inferieurs." In Bulletin de Tacad. royale de Belgique 3^« serie, t. XXII, 1891.

*) Pauf. Jensen: „Ueber den Geotropismus niederer Organismen." In Pflügers Arch. Bd. LIII, 1892.

29*

452 Fünftes Capitel.

den Glasröhre nicht vorhanden. Ein unbefangener Beobachter muss also sofort in den geotaktischen Erscheinungen eine Druckwirkung erkennen. Dass sie das aber in der That auch sind, konnte Jensen durch Versuche auf der Centrifugalscheibe zeigen, indem er an horizontal liegenden Röhren, in denen unter gewöhnlichen Verhält- nissen keine geotaktische Ansammlung der Paramaecien eintreten kann, durch Centrifugiren in der Richtung des Centrifugalscheiben- Radius den Druck am peripheren Ende gegenüber dem centralen Ende steigerte und so künstlich die Verhältnisse nachahmte, die nach den Gesetzen der Erdschwere in einer senkrecht stehenden Röhre herrschen. Der Erfolg war der, dass sich auch auf der Centrifuge die Paramaecien bei nicht zu schnellem Drehen an den Stellen des niedrigeren Druckes, d, h. an dem centralen Ende der Röhre, ansammelten, eine Erscheinung, die Jensen der Geotaxis als „Cen- trotaxis" an die Seite stellt. Die Ansammlung stellt sich mit derselben, ja bei geeigneter Geschwindigkeit häufig mit noch grösserer Sicherheit ein, wie in der senkrecht stehenden Röhre. Wird zu schnell centrifugirt, so werden natürlich die Infusorien passiv als specifisch schwerere Körper nach der Peripherie hin geschleudert.

Wir müssen hiernach auch die Geotaxis, die in der Botanik so lange Zeit eine eigene Stellung eingenommen hat, als einen speciellen Fall der barotaktischen Erscheinungen betrachten.

3. Photo taxis.

Es liegt in der physikalischen Natur der Lichtbewegung, dass sich der Lichtstrahl von einer Lichtquelle aus in gerader Richtung durch den Raum fortpflanzt und mit der Entfernung an Intensität ver- liert. Demnach haben zwei in der Richtung eines Lichtstrahls ge- legene Punkte verschiedene Lichtintensität, der Punkt, welcher der Lichtquelle näher liegt, grössere, der, welcher entfernter gelegen ist, geringere. Der Lichtstrahl erfüllt also in vollkommener Weise die Bedingungen, welche zum Zustandekommen einseitiger Reizung er- forderlich sind, ja, es dürfte sogar auf die grössten Schwierigkeiten stossen, Bedingungen herzustellen, unter denen ein Organismus durch Licht allseitig gleichmässig gereizt würde. In Folge dessen bringt auch die Lichtreizung sehr ausgesprochene bewegungsrichtende Wir- kungen hervor, die als „Phototaxis" ^) bezeichnet worden sind und das vollkommene Analogon zur Chemotaxis und Barotaxis bilden.

Am längsten bekannt sind die Erscheinungen der Phototaxis wieder bei den Pflanzen, wie ja die Pflanzenphjsiologie wegen der geringeren Complication der Objecte sich überhaupt viel früher zu einer methodischen Vollkommenheit entwickeln konnte, als die Thier-

') Die frühere Unterscheiduug von Heliotropismus und Phototaxis, bei der man mit dem ersteren Wort die Stellung, Biegung und Wendung festgewaclisener Organismen, mit dem letzteren die Bewegung freibeweglicher Organismen der Lichtquelle gegenüber bezeichnete, ist nicht nur überflüssig, sondern erweckt auch leicht die falsche Vorstellung, dass es sich bei beiden um verschiedene Dinge handle. Es ist daher durchaus noth- wendig, eine solche doppelte Bezeichnungsweise für Vorgänge, denen dasselbe Princip zu Gninde liegt, zu vermeiden und die alte, aus rein äusseidichen Gesichtspunkten entsprungene Unterscheidung jetzt, wo wir eine bessere Erkenntniss der betreffenden Vorgänge besitzen, als unwissenschaftlich fallen zu lassen, wie das ja auch schon von manchen Autoren geschehen ist.

Von den Reizen und ihren Wirkungen.

453

Physiologie. Jeder, der Blumen im Zimmer zieht, hat die Thatsache der positiven Phototaxis täglich vor Augen. Er sieht, wie die im Wachsthum begriffenen Theile sich immer und immer wieder dem Lichte zuwenden, und muss, um eine gerade in die Höhe wachsende Pflanze zu bekommen, den Topf von Zeit zu Zeit umdrehen, damit die phototaktische Krümmung nach der andern Seite wieder com- pensirt wird. Manche Pflanzen sind so ausgesprochen phototaktisch, dass sie bei hellem Sonnenschein im Garten in einem Tage den ganzen Lauf der Sonne durch ihre phototaktische Krümmung begleiten. Wer z. B. an einem schönen Sommertage ein Beet von blauen Gentianen beobachtet, sieht, dass die Pflanzen ihre prachtvollen Blüthen sämmtlich mit der breiten offenen Fläche der Sonne zukehren und die langsame Bewegung der Sonne in dieser Stellung verfolgen, so dass ihre Blüthen am Abend fast die entgegengesetzte Richtung haben, wie am Morgen. Bei manchen Pflanzen wird, wie Stahl ^) an Schachtelhalmen gezeigt hat, die Wachsthumsrichtung bereits an der Sporenzelle durch das Licht in sehr interessanter Weise beeinflusst, indem bei der Theilung der Sporenzelle die erste Scheidewand, welche sie in zwei Theile zerschnürt, senkrecht zur Richtung der auffallenden Lichtstrahlen ge- bildet wird, und zwar macht sich schon hier ein charakteristischer Unterschied in der Art der Phototaxis beider Hälften bemerkbar, so dass die Rhizoidzelle , aus der die späteren Wurzeln sich entwickeln, stets von der Licht- quelle abgewendet, die Prothalliumzelle, aus der sich die oberirdischen Theile bilden, da- gegen der Lichtquelle zugekehrt ist (Fig. 222).

Im Thierreich haben in neuerer Zeit die Untersuchungen von Loeb^) und Driesch^) ebenfalls weit verbreitet phototaktische Er- scheinungen nachgewiesen. Allein da das Zu- standekommen dieser Erscheinungen, wenn es schon beim Zellenstaat der Pflanze nicht ganz übersichtlich ist, noch viel mehr im complicirten Zellenstaat des Thierkörpers

wegen der mannigfaltigen Betheiligung der Sinnesorgane, des Nerven- systems, der Bewegungsorgane etc. an Uebersichtlichkeit verliert, so ist es zweckmässig, wenn wir auch hier wieder unsere Betrachtung vor Allem an die einfachsten Verhältnisse, wie sie in der freilebenden Zelle bestehen, anknüpfen.

Von Priestley und Ehrenberg bereits beobachtet, wurden die phototaktischen Erscheinungen der einzelligen Organismen von Naegeli, Hofmeister, Baranetzky, Stahl, Klebs, Cohn und anderen Botanikern weiter verfolgt, aber erst die grundlegenden Arbeiten von Strasbürger gaben uns ein genaues Bild von der Gesetzmässigkeit dieser Erscheinungen.

Fig. 222. Theilung der Öporenzelle eines Schachtelhalms unter dem Einfluss des Lichts. Der Pfeil giebt die Richtung der Lichtstrahlen an. a Lage der Zelltheilungswand, b Rich- tung der Kerntheilungsfigur. Nach Stahl.

*) Stahl : „Einfluss der Beleuchtungsrichtung auf die Theilung der Equisetum- Sporen." In Ber. d. Deutsch, bot. Ges. 1885, Bd. III.

-) Loeb: „Der Heliotropismus der Thiere und seine Uebereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen.*" Würzburg 1890.

^) Deiesch: „Heliotropismus und Hydroidpolypen." In Zool. Jahrb. Bd. Y, 1890.

454 Fünftes Capitel.

Strasbübger ^) machte seine Untersuchungen hauptsächlich an Schwärmsporen von verschiedenen chlorophyllhaltigen Algen und beobachtete ihr Verhalten gegenüber dem einseitig vom Fenster ein- fallenden Lichte im hängenden Tropfen. Dabei zeigten sich bei den Geisseischwärmern der verschiedensten Art im Wesentlichen die gleichen Erscheinungen. Als Typus kann uns das Verhalten der Uloth rix- Schwärmer dienen. Im diffusen Tageslicht von einer ge- ringen Intensität, eilen diese kleinen Geisseizellen in geraden Bahnen nach dem Rande des Tropfens, welcher dem Lichte zugekehrt ist, und sammeln sich hier in grossen Schaaren an. Steigert man die Inten- sität des Lichtes, was Strasburger dadurch erreichte, dass er das Präparat dem Fenster näherte oder directes Sonnenlicht einwirken liess, so beginnen von einer bestimmten Intensität an die Schwärm- sporen den „positiven Tropfenrand", d. h. den Rand, welcher der Lichtquelle zugekehrt ist, zu verlassen und sich nach dem „negativen", d. h. dem gegenüberliegenden Tropfenrand zu begeben, bis bei weiter gesteigerter Lichtintensität alle am negativen Tropfenrand versammelt sind. Es existirt also ein Lichtintensitätspunkt, dem die Schwärmer zueilen, indem sie sich sowohl von höherer als auch von geringerer Intensität her nach ihm hin begeben, eine Erscheinung, die Stras- BüRGER als „Photometrie" bezeichnet. Wir haben hier ein vollständiges Analogon zur Chemotaxis, die bis zu einer bestimmten Concentration des wirksamen Stoffes positiv ist, von da an aber bei steigender Concentration negativ wird, so dass wir auch von einer „Chemometrie" sprechen könnten. Ganz analog den Uloth rix- Schwärmern verhalten sich die Schwärmer von Chaetomorpha, Ulva, Haematococcus und einigen anderen Algen, sowie das Geisselinfusor Chilomonas Paramaecium und die farblosen Schwärmer der Chy tridien, die sämmtlich bei geringerer Lichtintensität positiv-, bei höherer Intensität negativ-phototaktisch sind. Indessen giebt es auch Formen, die, wie z. B. die Schwärmer von B o t r y d i u m g r a n u 1 a t u m , bei allen Licht- intensitäten positive Phototaxis zeigen.

Diesen Untersuchungen Strasbukger's schliesst sich eine ganze Reihe von Beobachtungen anderer Forscher an , die bei den ver- schiedenartigsten Mikroorganismen phototaktische Erscheinungen fest- stellen konnten. So untersuchte Stahl ^) die schon von Hopmeister und Baranetzky beobachtete Phototaxis der Myxomyceten-Plasmodien und fand, dass junge Plasmodien von Aethalium septicum im Halbdunkel positiv-phototaktisch sind und an die Oberfläche der Gerber- lohe kriechen, bei stärkerer Beleuchtung dagegen negativ-phototaktisch werden und wieder in das Innere der Lohehaufen zurückfliessen. Ferner fand Engelmann ^) in Bacterium chlorin um und B ac- te rium photometricum zwei Bakterienformen, die photo taktische Eigenschaften besitzen und sich im Lichte ansammeln. Engelmann*),

^) Strasborger: „Wirkung des Lichtes und der Wärme auf Schwärmsporen." In Jenaische Zeitschr. f. Naturwiss. Bd. XII.

2) Stahl: „Zur Biologie der Myxomyceten." In Bot. Zeitung 1884.

^) Engelmann: „Zur Biologie der Schizomyceten." In Pflüger's Arch. Bd. XXVI. Derselbe: „Bacterium photometricum. Ein Beitrag zur vergleichenden Physiologie des Licht- und Farbensinns." In Pflüger's Arch. Bd. XXX.

*) Engelmann : „Ueber Licht- und Farbenperception niederster Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. XXIX.

Von (ii'u Koizeii uiiil iliriMi Wirkmitri'n.

455

Stahl ^), Aderhold ^) und Andere^) stellten die phototaktischen Er- scheinungen auch bei den Diatomeen und 0 s c i 1 1 a r i e n faden fest, die sich genau wie die Algenschwärnier verhalten und sehr aus- gesprochene Ansammlungen bilden (Fig. 223). Schliesslich wiesen Stahl (1. c), Klebs*) und Aderhold (1. c.) auch bei den Desmidiaceen phototaktische liewegungen nach und zeigten, dass diese Algenzellen sich mit ihrer Längsaxe parallel zum Einfall der Lichtstrahlen ein- stellen und sich in dieser Stellung durch Absonderung ihres Secretes in ihrer eigenthümlichen Weise nach der Lichtquelle hin oder bei stär- kerer Intensität von der Lichtquelle her auf der Unterlage fortschieben (Fig. 224), so dass in einem Präparat mit lebendigen Closterien^) oder Pleurotaenien alle Individuen mit ihrer Längsaxe parallel untereinander und zur Einfallsrichtung der Lichtstrahlen eingestellt

Tis. 223.

Fig. 224.

Fig. 223. Pliototaxis der Diatomeen. In einem Tropfen liegt in der Mitte ein Schlamm- fetzen , der mit Diatomeen dicht besetzt war. Die Diatomeen sind sämmtlich nach dem der Sonne zugekehrten Tropfenrande gekrochen.

Fig. 224. Phototaxis von Closterium.

Das Licht fällt von rechts her ein. Der Pfeil

giebt die Gleitrichtung des Closteriums an.

sind. So finden wir, dass die Phototaxis unter den einzelligen Or- ganismen, soweit sie überhaupt durch Lichtstrahlen reizbar sind, eine weit verbreitete Erscheinung ist.

Nachdem die phototaktischen Erscheinungen festgestellt worden waren, musste dis Frage aufgeworfen werden, ob die verschiedenen Strahlen des Spectrums in gleicher Weise phototaktisch wirksam seien, eine Frage, die am leichtesten durch Einschaltung von farbigen Gläsern und Lösungen zwischen Lichtquelle und Object entschieden werden konnte. Die dabei verwendeten Medien waren so gewählt, dass sie nur Strahlen eines bestimmten Theiles des Spectrums durch- liessen , so dass nur Strahlen von gewissen Wellenlängen auf die

^) Stahl: „Ueber den Einfluss von Richtung und Stärke der Beleuchtung auf einige Bewegungserscheinungen im Pflanzenreich." In Bot. Zeitung 1880.

2) Adebhold: „Beitrag zur Kenntniss richtender Kräfte bei der Bewegung niederer Organismen." In Jenaische Zeitschr. f. Xaturw. 1888.

^) Verwors : „Psycho-physiologische Protistenstudieu." Jena 1889.

■*) Klebs: „Ueber die Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen." In Biol. Centralblatt Bd. V.

^) Vergl. pag. 236.

456

Fünftes Capitel.

Organismen fallen konnten (Fig. 225). Auf diese Weise stellte bereits CoHN und später Strasburger fest, dass allgemein die kurzwelligen Strahlen des Spectrums, also besonders die blauen und violetten, wirk- samer sind, als die langwelligen , etwa die rothen, die bei nicht zu hohen Intensitätsgraden wie völlige Dunkelheit wirken.

Noch ein Punkt verdient schliesslich bei der Besprechung der phototaktischen Erscheinungen Erwähnung. Nach unserer ganzen bis- herigen Betrachtung und nach Analogie mit den bewegungsrichtenden Wirkungen der anderen Reize Hegt es auf der Hand, dass nur die Differenz in der Intensität der Belichtung an verschiedenen Körper- stellen eine bewegungsrichtende Wirkung hervorbringen kann, denn wo der Reiz von allen Seiten in gleicher Intensität auf die Körper- oberfläche einwirkt, da fällt der Grund für eine bestimmte Axen- einstellung fort, Avie das am deutlichsten bei der allseitigen Einwirkung chemischer Reize zu beobachten ist. Obwohl diese Ueberlegung ohne Weiteres einleuchtet, haben dennoch einzelne Forscher, wie Sachs

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Fig. 225. Spectra von verschiedenen Medien. 1 Spectrum eines rothen Glases,

2 Spectrum eines Kobaltglases, 3 Spectrum eines grünen Glases, 4 Spectrum einer

Kalibichromatlösung, 5 Spectrum einer Kupferoxyd-Ammoniaklösung.

und LoEB, geglaubt, nicht sowohl die Intensitätsdifferenzen als viel- mehr die Richtung der Lichtstrahlen für das Zustandekommen der phototaktischen Erscheinungen verantwortlich machen zu sollen. Es ist schwer, sich davon eine Vorstellung zu machen, denn da eine Axeneinstellung nur möglich ist, wo Differenzen an zwei verschiedenen Punkten der Körperoberfläche bestehen, so bleibt es völlig mystisch, wie die „Richtung" der Strahlen, die an allen Punkten des Körpers dieselbe ist, eine solche Wirkung hervorrufen könnte. In der Natur freilich fällt unter gewöhnlichen Bedingungen die Intensitätsabnahme mit der Richtung der Strahlen zusammen, und in Folge dessen sehen wir immer die phototaktischen Bewegungen innerhalb der Rich- tung der Lichtstrahlen erfolgen. Allein experimentell lässt sich doch der Intensitätsabfall von der Fortpflanzungsrichtung der Lichtstrahlen sehr gut trennen. Eine sehr geeignete Anordnung hat zu diesem Zwecke Oltmanns ^) mit Benutzung einer bereits von Strasburger ver- wendeten Idee aufgestellt. Oltmanns stellte sich aus zwei Glasplatten,

^) F. Oltmanns: „Ueber die photometrischen Bewegungen der Pflanzen." In Flora, .Jahrg. 1892.

'N'on den Keizcn und ilin.'n Wlrkuii;;en. 457

die unter einem spitzen Winkel von 2" zu einander geneigt waren, einen Keil her, indem er den Raum zwisclien beiden Platten mit einer von Tusche getrübten Gelatineschicht füllte. Diese Keilplatten Hessen an ihrem dünnen Ende nahezu alles Licht hindurch, während sie an ihrem dicken Ende, wo die Tuschgelatineschicht am dunkelsten war, sehr viel Licht absorbii'ten. Fällt daher das Licht senkrecht zur Fläche der Keilplatten auf diese auf, so liegt für die in einem dunklen Kästchen dahinter befindlichen Objecte der grösste Intensitätsabfall senkrecht zur Einfallsrichtung der Lichtstrahlen. Mittels dieser Platten lässt sich denn in der That bei Anwendung geeigneter Lichtstärken experimentell beweisen, dass es nicht die Richtung, sondern lediglich die Intensitätsdifterenz an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche ist, welche die phototaktischen Erscheinungen erzeugt, wie das von vornherein bei einfacher Ueberlegung nicht anders zu erwarten ist.

4. T h e r m 0 1 a X i s.

Wie das Licht gestattet auch die W^ärme eine sehr leichte An- wendung einseitiger Reizung, da die Wärme, sei es, dass sie sich durch Leitung, sei es, dass sie sich durch Strahlung fortpflanzt, immer mit der Entfernung von der Wärmequelle abnimmt, so dass in der gleichen Richtung von der Wärmequelle an zwei verschiedenen Punkten des Mediums stets Temperaturdifferenzen bestehen.

Die erste Beobachtung thermotaktischer Eigenschaften machte Stahl ^) an den Plasmodien von Aethalium septicum. Er stellte zwei Bechergläser, deren eines mit Wasser von 7", deren anderes mit Wasser von 30 " gefiült war, nebeneinander auf und legte einen Streifen Fliesspapier, auf dem sich das Myxomycetenplasmodium aus- gebreitet hatte, in der Weise über ihre Ränder, dass das eine Ende des Plasmodiums in das kühlere, das andere in das wärmere Wasser tauchte. Alsbald fing das Protoplasma des Plasmodiennetzwerkes an, aus dem kühlen Wasser heraus- und in der Richtung nach dem wärmeren Wasser hinüberzuströmen, obgleich es vor dem Versuch die entgegengesetzte Kriechrichtung befolgte. Schliesslich hatte sich die ganze Protoplasmamasse nach dem warmen Wasser hinübergezogen. Wir haben also hier einen Fall von positiver Thermotaxis.

Eine negative Thermotaxis können wir bei Amoeben-) be- obachten, wenn wir auf eine Körperstelle eine Temperatur von min- destens 35 ^ C. einwirken lassen , während der übrige Protoplasmaleib sich unter niedrigerer Temperatur befindet. Das ist mittels geleiteter Wärme kaum zu erreichen. Wir benutzen daher strahlende Wärme und treffen folgende Anordnung. Ein grösserer Wassertropfen, der viele Amoeba limax enthält, wird auf ein grosses und dünnes Deckglas gebracht und über eine mit schwarzem Papier beklebte Glasplatte gelegt. Das schwarze Papier dieser Platte besitzt in der Mitte einen kleinen, sehr scharfrandigen Ausschnitt. Unter dem Mikroskop, dessen Concavspiegel so eingestellt ist, dass er das grelle Sonnenlicht auffängt und durch das Diaphragma reflectirt, wird nach Zwischenschaltung einer undurchsichtigen Platte zwischen Objecttisch und Spiegel bei auffallendem Lichte eine A m o e b e gerade so ein-

^) Stähl : „Zur Biologie der Myxomyceten." In Bot. Zeitung 1894. ^) A^kuwokn: ,,Psyclio-pliysiologisclie Protistenstudien." Jena 1889.

458

Fünftes Capitel.

gestellt, dass sie im Verfolg ihrer Kriechrichtung über die Grenze des schwarzen Papiers kriechen muss. Sobald die Amoebe mit ihrem vorderen Ende die Grenze des Ausschnittes überschritten hat, wird plötzlich die undurchsichtige Platte zwischen Spiegel und Objecttisch entfernt, so dass nun die concentrirten Sonnenstrahlen auf das vordere Ende der Amoebe fallen, während das hintere sich noch im Schatten des schwarzen Papiers befindet. Die Folge ist, dass die Amoebe sogleich ihre bisherige Kriechrichtung ändert und Avieder in den Schatten zurückfliesst (Fig. 22ö). Dass es sich hier um eine reine Wärmewirkung und nicht um eine Lichtwirkung der Sonnenstrahlen handelt, ist ohne Weiteres zu entscheiden, wenn man entweder die chemisch wirksamen Lichtstrahlen durch Zwischenschaltung einer absorbirenden Lösung von Jod in Schwefelkohlenstoff oder die

II

Fig. 226. Negative Thermotaxis der Amoebeii. 7 Auf einem grossen Deckglas befindet sich eine Wasserniasse mit vielen Amoeben. Das Deckglas liegt über einem schwarzen Grunde, der in der Mitte einen scharfen viereckigen Ausschnitt hat. Durch Verschieben des Deckglases kann eine Amoebe gerade so eingestellt werden, dass sie beim Verfolg ihrer Kriechhahn über die Grenze des Ausschnitts kriecht, II A. Wird dann plötzlich das concentrirte Sonnenlicht vom Mikroskopspiegel durch den Ausschnitt gelassen, so kriecht die Amoebe sofort wieder in das kühle Dunkel zurück, II B. Die Pfeile geben die Kriechrichtung an.

Wärmestrahlen durch Einschaltung von Eis- oder Alaunplatten aus- schliesst. Im ersteren Falle ist die thermotaktische Wirkung ebenso deutlich wie im reinen Sonnenlicht; im letzteren fehlt sie trotz der grossen Helligkeit der Beleuchtung. Ueberhaupt sind die Amoeben, Avie sich bei genauerer Prüfung zeigt, nicht durch Licht reizbar. Dagegen zeigt eine thermometrische Messung der Temperatur im Tropfen direct über dem Ausschnitt des schwarzen Papiers, dass mindestens eine Temperatur von 35" C. erreicht sein muss, wenn die Wirkung eintreten soll.

Die thermotaktische Wirkung verschiedener Temperaturgrade lässt sich am besten an Wimperinfusorien studiren, die man, wie Paramaecium, in grossen Massen züchten und zum Versuch be- nutzen kann. Bringt man auf eine Metallplatte eine kleine Ebonit- wanne und breitet auf dieser die paramaecienhaltige Flüssigkeit aus, so kann man durch einseitiges Erwärmen oder Abkühlen mittels Eis an beiden Enden der Flüssigkeitsfläche thermometrisch messbare

\nn den Kcizcii iiml ilircii WirliMiij^cMi.

-i:.'.»

Teraperaturdifferenzen herbeiführen, die eine ausgeprägte thermo- taktische Wirkung zur Folge haben. Der unten abgebildete, von Mendelssohn') eonstruirte Apparat gestattet (nne Ilci/iuig und Ab-

26*

■46''

Fig. 227. Thermo taxis von Param aec i n m. In einer scliwarzen Ebonitwanne von 10 cm Läupe befinden sich zahlreiche Paramaecien, die sich hei einseitiger Erwärmung der Wanne auf über 24—28** alle nach der kühleren Seite hin bewegen.

Nach Mendelssohn.

Fig. 228. Apparat zur Untersuchung der Thermo taxis. Auf einer Metall- platte befindet sich, in eine Vertiefung eingelassen, eine flache Wanne aus schwarzem Ebonit (Fig. 227), in der die paramaecienhaltige Flüssigkeit ist. Die Metallplatte besitzt 3 Köhren, durch die von einem Becherglase aus mittels eines Schlauches Wasser von beliebiger Temperatur hindurchgelassen werden kami. Ueber der Wanne sind an einem Stativ Thermometer angebracht, die in die paramaecienhaltige Flüssig- keit tauchen und es gestatten, die Temperatur, die hier an versciiiedenen Stellen herrscht, jeden Augenblick abzulesen. Nach Mkndki.ssohs.

kühlung mit heisseni oder kühlem Wasser (Fig. 228). Dabei zeigt sich, dass die Paramaecien bei Temperaturen von mehr als ca. 21 28 ^ C.

') Mendelssohn: „Ueber den ThermotropismiLS einzelliger Organismen." Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 60, 1890.

In

460 Fünftes Capitel.

negativ- thermotaktisch sind, d. h. von der wärmeren Seite in Schaaren wegschwimmen , während sie bei Temperaturen unterhalb dieser Grenze positive Thermotaxis zu erkennen geben, indem sie die ab- gekühlte Seite verlassen. Wir haben also hier eine der Chemotaxis und Phototaxis, bei der die Organismen ebenfalls einem bestimmten Intensitätsgrade des Reizes sich von beiden Seiten her zuwenden, vollkommen analoge Erscheinung, Wie gering übrigens die Tempe- raturdifferenz an beiden Körperpolen des Paramaeciums sein kann, um dennoch eine thermotaktische \A'irkung zu erzielen, ergiebt sich aus einer einfachen Berechnung, wenn man die Länge der Flüssigkeitsfläche, die geringsten noch wirksamen Differenzen an ihren beiden Enden und die Länge des Parama ecienkörpers kennt. Jensen fand bei dieser Berechnung, die freilich immer nur annähernde Werthe ergeben kann, dass die Paramaecien noch thermotaktisch sind, wenn an den beiden Enden ihres ca. 0,2 mm langen Körpers ein Temperaturunterschied von 0,01 ^ C. herrscht. Es spricht sich darin eine Feinheit der Unterscheidung von Keizgrössen aus, die in den von Pfeffer für die Chemotaxis ermittelten Zahlen, sowie in den geringen bei der Phototaxis wirksamen Peizunterschieden zwar ein Analogon findet, die aber die Unterscheidungsfähigkeit unseres Bewusstseins weit hinter sich zurücklässt.

5. Galvanotaxis.

Es ist die charakteristische Eigenschaft des galvanischen Stromes, dass er stets polare Erregungserscheinungen hervorruft. In Folge dessen ist die Reizung mit dem constanten Strome ganz besonders geeignet, um bewegungsrichtende Wirkungen auszuüben. Da wir ferner den galvanischen Strom in feinster Weise in seiner Intensität abstufen und in seiner Richtung beherrschen können, so besitzen wir in ihm das vollkommenste Mittel, um bewegungsrichtende Reizwirkungen in ihrer exactesten Form und mit der präcisen Sicherheit physikalischer Er- scheinungen experimentell zu erzeugen. In der That sind es denn auch die galvanotaktischen Erscheinungen der freibeweglichen Orga- nismen , welche am meisten an die Wirkungen des Magneten auf Eisentheilchen erinnern.

Die ersten galvanotaktischen Erscheinungen an Thieren wurden von Hermann ^) an Froschlarven und Fischembryonen entdeckt. Er machte die Beobachtung, dass diese Thiere, wenn durch das Gefäss, in welchem sie sich befanden, ein galvanischer Strom geleitet wurde, sich sämmtlich bei der Schliessung des Stromes mit ihrer Längsaxe in der Richtung der Stromcurven einstellen, und zwar so, dass sie mit dem Kopfe nach der Anode und mit dem Schwanz nach der Kathode gerichtet sind. In dieser Stellung verharren sie, ohne sich vom Flecke zu rühren. Die analogen Wirkungen sind dann in neuerer Zeit von Nagel -J, Blasius und Schweizer^) und jüngst von Loeb*) an verschiedenen anderen, höheren Thierformen beobachtet worden.

') Hkkm^xn: „Einwirkung galvanischer Ströme auf Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. XXXVII, 1885.

2) Nagel: Pflüger's Arch. f. d. ges. Phjsiologie Bd. 51, 53 u. 59. ^) Blasius und Schweizer: Ebenda Bd. 53. *) Loeb: Ebenda Bd. 63 u. 65.

Von (li'ii Ki'izfii und ilnxMi W'irkuii'rcn.

461

Auch an Pflanzen sind galvanotaktische Erscheinungen auf- gefunden worden, und zwar an den Wurzelspitzen nianclier Pflanzen, die sich bei längerer Durchströmung mit dem constanten Strome nach der Kathode hin krümmen.

Am frappirendsten aber und theoretisch am interessantesten sind die galvanotaktischen Erscheinungen bei den freilebenden einzelligen Organismen, wie Khizopoden, Leukocyten, Infusorien etc. ^)

9

Fig. 229. Unpola- risirbare Elek- trode, die statt des Pinsels eine Spitze aus gebranntemThon trägt.

Fig. 230. Galvano- taxis von Para- maecien. Der Pfeil giebt die Schwimm- richtung der Para-

Fig. 230^.

Fig. 230 £.

maecien an, die sich in £ bereits alle an der kathodischen Elektrodenleiste angesammelt haben. A Mikroskopisches Bild, £ makroskopisches Bild.

Um die Galvanotaxis dieser Organismen zu untersuchen , bedienen wir uns am besten wieder des oben beschriebenen Objectträgers mit den unpolarisirbaren Thonleistenelektroden oder auch unpolarisirbarer Elektroden, die den Pinselelektroden analog eingerichtet sind, aber

^) Verwohn: „Die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom." In Pflüger's Arch. Bd. 45 u. 46, 1889, Bd. 62 u. 65, 1896. Ludloff: „Untersuchungen über den Galvanotropismus." Ebenda Bd. 59, 1895.

402 Fünftes Capitel.

statt der Pinsel .Spitzen aus gebranntem Tlion tragen, die in die zu durchströmende Flüssigkeit eingetaucht werden können (Fig. 229).

Bringt man zwischen die parallelen Elektrodenleisten des Object- trägers (Fig. 230 J5) einige Tropfen \^'assers, in dem sich viele Para- maecien befinden, und lässt man dann aus zwei an die Thonleisten angelegten Pinselelektroden einen constanten Strom durch die Flüssig- keit gehen, so stellen sich im Moment der Schliessung alle Para- raaecien mit dem vorderen Körperpol nach der Kathode hin ein und schwimmen in dichter Schaar auf dieselbe los. In wenigen Secunden ist die Anode vollkommen von ihnen verlassen, und an der Kathode befindet sich ein dichtes Gewimmel, das bestehen bleibt, so- lange der Strom geschlossen ist. Wendet man jetzt den Strom in die entgegengesetzte Richtung, so dass zur Kathode wird, was vorher Anode war, und umgekehrt, so rückt die ganze Schaar in einheit- lichem Haufen wieder nach der gegenüberliegenden Seite hinüber und bildet, Avie vorher, eine Ansammlung an der neuen Kathode. Man kann dieses Ex})eriment, das durch die grosse Exactheit der Reaction jeden Beschauer im höchsten jNIaasse fesselt, beliebig oft wiederholen. Oeffnet man den Strom schliesslich, so zerstreut sich die Ansammlung von der Kathode her, und die Paramaecien vertheilen sich wieder

Fig. 231. Galvano taktische S c h w i m m c u r V e n von P a r a m a e c i u m ^ li e i Anwendung von spitzen Elek- troden im Wasser- tiopfen. A Jieginn

des Schwimmens, P, vollendete Ansamm- lung.

gleichmässig in der ganzen Flüssigkeit, Thut man die Paramaecien in einem grossen Tropfen auf eine Glasplatte, und taucht man in den Tropfen die Spitzenelektroden ein, so stellen sich die Paramaecien bei Schliessung des Stromes wie die Eisenfeilspähne über einem Älagneten in die Richtung der Stromcurven ein und schwimmen in dieser Richtung (Fig. 281), bis sie die Kathode erreicht haben, hinter der sie sich in dichter Schaar anhäufen, Macht man die kathodische Elektrode beweglich, so dass man ihre Lage im Tropfen beliebig ver- ändern kann, so gelingt es, die Paramaecien mit der Elektroden- spitze wie blecherne Fische im Wasser mit dem Magneten zu diri- giren, Avohin man sie haben will. Da die Bew^egung der Para- maecien auf die Kathode hin gerichtet ist, kann man diesen Fall als kathodische Galvanotaxis bezeichnen.

Wie Paramaecium ist die Mehrzahl aller Wimperinfusorien kathodisch-galvanotaktisch. Unter den anderen Protisten, die noch die gleiche Erscheinung zeigen, mögen nur noch die Am o eben ge- nannt sein. Amoeba limax beginnt, wenn der Strom geschlossen wird, sofort nach der Kathode hin zu kriechen, indem sie ihre ur- sprüngliche Kriechrichtung aufgiebt und ein Pseudopodium nach der Kathode zu vorfliessen lässt, in das die ganze Protoplasmamasse nach- strömt, bis der Körper wieder die typische langgestreckte Kriechform hat, in der er unentwegt der Kathode zufliesst. Ganz ebenso ver-

Null (Ion IviMüou und iliien Wirkungen.

463

halten sich auch andere Am oeben formen, wie Amoeba proteus

(Fig. 232 ), A m () (^ b a verrucosa und Amoeba d i f f 1 u e n s (Fig. 233 ).

Das entf^cgengesetzte Verlialten wie die eben genaimtcni (Jrga-

nismen zeigen vieh^ Geisseiinfusorien. Lassen wir z. B. einen consüinten

Ox

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Fig. 2.32. Galvano tax is von Amoeba proteus. Links Amoeba i)roteus iinj^ereizt mit zahh-eichen Pseudopodien. Rechts (oben) nach .Schliessung des Stromes und (unten) nach Wendung des geschlossenen Stromes. Die Pfeile geben die Kriechrichtung an.

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A B

Fig. 2.3.3. Galvanotaxis von Amoeba diffluens. A Amoeba diffluens ungereizt kriechend, B nach Schliessung des constanten Stromes. Der Pfeil giebt die Kriech- richtung an.

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Fig. 284. Galvanotaxis von Polytoma uvella. A Polytoma uvella ruhig liegend, B nach Schliessung des constanten Stromes zur Anode schwimmend.

Strom durch einen Tropfen gehen, in dem sich eine grössere Menge von Individuen der kleinen, eiförmigen Polytoma uvella betindet, die mit ihren zwei Geissein (Fig. 234) sich unter beständigen Axen- drehungen durch das Wasser bewegen, so drehen sich bei Schliessung des Stromes sofort alle Individuen mit ihrem vorderen, geisseltragenden

464

Fünftes Capitel.

Ende nach der Anode zu und schwimmen in ihrer gewöhnlichen Be- wegungsweise gerade auf diesen Pol los, avo sie sich in dichten Schaaren sammeln. Nach der Oeffnung des Stromes vertheilen sie sich wieder gleichmässig im ganzen Tropfen. Polytoma verhält sich also den beiden Elektroden gegenüber genau umgekehrt wie Paramaecium; sie ist im Gegensatz zu diesem anodisch-galvano- taktisch.

Einen sehr fesselnden Anblick hat man, wenn man in einer Flüssigkeit anodisch-galvanotaktische Infusorien, etwa eine Flagellaten- form, Avie Polytoma, und kathodisch-galvanotaktische, etwa eine kleine Ciliatengattung, wie H a 1 1 e r i a oder Pleuronema, zusammen der Einwirkung des Stromes aussetzt. Das vorher unentwirrbare Durcheinanderwimmeln der beiden Infusorienformen löst sich sofort nach der Schliessung des Stromes. Die Ciliaten sammeln sich an der Kathode, die Flagellaten an der Anode. Die Mitte der Flüssigkeit ist nach kurzer Zeit vollständig frei, und die beiden Haufen sind scharf von einander geschieden. Wendet man jetzt den Strom, so dass die bisherige Anode zur Kathode wird und umgekehrt, so rücken die beiden Infusorienhaufen wie zwei feindliche Heere aufeinander los, kreuzen sich und sammeln sich an den entgegengesetzten Polen von

Fig. 235. Galvano- taxis von Spiro- s tom um ambi- giiuni. Die Infuso- rien haben sich nach Schliessung des Stro- mes mit ihrer Längs- axe seokrecht zur Stromesrichtung ein- gestellt.

Neuem wieder an. Es giebt wenige physiologische Experimente, die so anmuthig und zierlich sind, wie der galvanotaktische Tanz der Infusorien.

Eine dritte Form der Galvanotaxis schliesslich zeigt das Wimper- infusorium Spirostomum ambiguum^). Wenn man diese lang- gestreckten Infusorien, die mit blossem Auge bereits als kleine, ca. 2 mm lange weisse Fädchen Avahrgenommen werden können, in ihrem Wasser zwischen die parallelen Thonleisten-Electroden bringt, so bemerkt man, dass sie bei Schliessung des constanten Stromes durch die plötzliche Contraction ihrer Myoidfäden zusammenzucken, aber nicht, wie man etwa erwarten könnte, nach dem einen oder andern Pole hinschwimmen. Statt dessen drehen sie sich unter mehrfachen Körperbiegungen durch ihre Wimperbewegung allmählich so, dass sie mit ihrer Längsaxe senkrecht zur Richtung des Stromes eingestellt sind, eine Richtung, die sie, Avenn auch unter AA'iederholten Biegungen und Knickungen des langen Körpers, dauernd beibehalten (Fig. 235). Wir können daher diese Form der Galvanotaxis im Gegensatz zu der anodischen und kathodischen als transversale

') Vkrworn: In den Berichten des zweiten internationalen Pliysiologen-Congresses in Lüttich 1892. Derselbe in Pflüger's Arch. Bd. 62, 1896.

Von deu Reizen imd ihren AVirkungeu. 465

Galv.inotaxis bezeichnen. Bei anderen Organismen ist bisher die

transversale Galvanotaxis noch nicht beobachtet worden, obwohl es

kaum zweifelhaft ist, dass sie auch noch bei anderen einzelligen Organismen vorkommen wird.

C. Die Erscheinungen der Ueberreizung.

Als das kleine Häuflein tapferer Athener unter der Führung des MiLTiADES den glänzenden Sieg bei Marathon erfochten hatte, eilte, noch warm vom Kampfe, einer der Streiter vom Schlachtfelde nach Athen, um der Erste zu sein, der seinen Landsleuten die Kunde des Sieges überbrachte. Das dramatische Geschick dieses Läufers von Marathon erzählt Plütarch^), der uns die Anekdote überliefert hat. Als EuKLES so war der Name des patriotischen Mannes von der Anstrengung des langen Laufes erschöpft, in Athen eintraf, hatte er eben noch die Kraft, um seinen Landsleuten mit den Worten: X a / ^ £ r £ , xalgof-ievl'' die Siegesbotschaft zuzurufen, worauf er todt zusammenbrach. Einer unserer modernen Bildhauer, Max Kruse, hat diese Erzählung durch seine, in der Nationalgallerie zu Berlin befindliche Darstellung des Läufers von Marathon in künstlerischer Weise versinnlicht und den physiologischen Erscheinungen totaler Er- müdung an diesem classischen Zeugen einen ergreifenden Ausdruck verliehen.

Was das tragische Ende des Eükles herbeiführte, war die über- mässige Anstrengung seiner Muskeln. Es treten nämlich unter dem Einfluss langer Dauer oder hoher Litensität der einwirkenden Reize in der lebendigen Substanz allmählich Veränderungen ein, die, wenn sie einen gewissen Grad erreicht haben, schliesslich zum Tode führen. Auf diese, in Folge von Ueberreizung sich entwickelnden Er- scheinungen wollen wir aber im Folgenden etwas ausführlicher eingehen.

1. Ermüdung und Erschöpfung.

Wird ein lebendiges Object entweder durch lange andauernde oder durch oft wiederholte oder auch durch sehr starke Reize eiregt, so geräth es nach einiger Zeit in den Zustand der Ermüdung. Das allgemeine Charakteristicum der Ermüdung besteht darin, dass die Erregbarkeit der lebendigen Substanz allmählich abnimmt. Das äussert sich vor Allem in dem Umstände, dass mit zunehmender Ermüdung der Reiz- erfolg bei gleichbleibender Reizintensität immer ge- ringer wird.

Einige Beispiele für diese Thatsache lernten wir bereits bei Be- trachtung der galvanischen Reizung") kennen. Lassen wir einen con- stanten galvanischen Strom von mittlerer Stäi'ke durch ein Actino- sphaerium fliessen, so beginnen im Moment der Schliessung an der Anode starke Contractionserscheiuungen aufzutreten. Das Proto- plasma der Pseudopodien fliesst centripetal, bis die Pseudopodien ein- gezogen sind; dann zerplatzen die Wände der Vacuolen, und es erfolgt

^) Pldtarchi Moralia Tom II, 1. 2) Vergl. pag. 422 u. 423. Verworn, AUgemeiue Plij-siologie. 2. Aufl. oO

466 Fünftes Capitel.

ein körniger Zerfall des Protoplasmas, der von der Kathode her während der Dauer des Stromes immer weiter vorrückt. Allein dieser Zerfall, der zuerst mit grosser Energie begann, wird, je länger der Strom schon durchfliesst, um so langsamer und geringer, bis er nach einiger Zeit ganz still steht. Die lebendige Substanz des Actino- sphaeriums ermüdet also im Laufe der andauernden Reizung und nimmt an Erregbarkeit ab , so dass der Anfangs heftige Zerfalls- erscheinungen hervorrufende Reiz schliesslich gar keinen Reizerfolg mehr erzeugt. Noch viel schneller wie Actin osphaeriuni er- müdet Pelomyxa. Eine Reizdauer von wenigen Secunden genügt, um die Pelomyxa für Ströme gleicher Intensität vollständig un- erregbar zu machen, so dass es viel höherer Reizintensität bedarf, um wieder den gleichen Reizerfolg zu erzielen, wie Anfangs.

Gegenüber diesen sehr schnell ermüdenden Formen der lebendigen Substanz haben wir in den Nerven ein Object, das unermüdbar zu sein scheint; es ist bisher noch nicht gelungen, durch andauernde Reizung am Nerven wahrnehmbare Ermüdungserscheinungen nach- zuweisen. Dass der Nerv wirklich unermüdbar sei, ist im höchsten Grade unwahrscheinlich. Da der Nerv, wie alle lebendige Substanz, einen Stoffwechsel hat, solange er lebt, und da mit seinem Leben auch seine Erregbarkeit erlischt, müssen wir annehmen, dass seine Erregbarkeit an seinen Stoffwechsel gebunden ist, und dass jede Erregung auch eine Aenderung seines Stoffwechsels herbeiführt. Möglicher Weise sind diese Aenderungen so gering, dass eine Er- müdung sich durch die bisherigen Methoden überhaupt nicht nach- weisen lässt. Aus der anscheinenden Unermüdbarkeit des Nerven also zu folgern, dass seine Function ganz unabhängig vom Stoffwechsel sei, wie etwa die Leitungsfähigkeit eines Kupferdrahts für galvanische Ströme, wäre mindestens völlig unberechtigt. Dagegen wäre es wichtig, die Frage zu untersuchen , ob nicht etwa beim Nerven die durch die Reizung erzeugten Veränderungen des Stoffwechsels in dem- selben Maasse, wie sie entstehen, durch den Stoffwechsel auch wieder compensirt werden, so dass nach aussen hin innerhalb begrenzter Zeit keine Ermüdungserscheinungen bemerkbar werden. Dass der letztere Fall sehr wohl möglich ist, zeigt uns das Verhalten eines anderen Objects, nämlich des Herzmuskels. Obwohl der Herzmuskel von lange vor der Geburt bis zum Tode ununterbrochen arbeitet, ermüdet er unter normalen Verhältnissen nicht, weil die durch die Arbeit ent- stehenden Veränderungen in gleichem Maasse im Stoffwechsel wieder compensirt werden. Dennoch ist der Herzmuskel ermüdbar, wenn er aus irgend einem Grunde angestrengter arbeiten muss, als es normaler Weise geschieht. Das ist z. B. bei gewissen Krankheiten der Fall. Zwar machen sich dann die Ermüdungserscheinungen nicht sofort, wohl aber im Laufe längerer Zeiträume bemerkbar, und selbst die Substanz des Herzmuskels verändert sich in tiefgehender Weise, bis er seine Bewegungen ganz einstellt. Dann erfolgt der Tod durch Herzlähmung.

Haben wir im Herzmuskel ein nur schwer ermüdendes Object, so haben wir in den Skelettmuskeln Gewebe, an denen die Er- müdungserscheinungen sehr leicht hervorzurufen sind. Die Ermüdung ist daher auch an den quergestreiften Skelettmuskeln der Wirbelthiere am eingehendsten und häufigsten studirt worden. Da man die Muskel- bewegung mittels der graphischen Methode in exacter Weise ver-

Von den Keizcn und ilircu Wirkuiitruii.

467

zeichnen und in ihren einzelnen Momenten anschaulich machen kann, so kann man die tortsciireitendc Ermüdung eines Muskels sehr be- quem an der Veränderung der Muskelcurve studiren, die der zuckende

Fig. 236. Ergograph von Mosso. Nach Mosso.

Muskel aufzeichnet. Mosso ^) hat dies am lebenden Menschen mittels seines Ergographen gethan und die Ergebnisse in seinem vortrefflichen und fesselnden Buche über „die Ermüdung" mitgetheilt. Der Ergo- graph ist ein kleiner Apparat, in dem der Arm eines Menschen mittels eines Armhalters befestigt wird, während ein Finger sich frei bewegen kann. Dieser Finger steht durch einen Faden mit ei- nem Schreibhebel in Verbindung, der alle willkürlich oder auf elektrische Reizung unwillkürlich erfolgenden Bewegungen des Fingers auf einer in Rotation be- griffenen schwarzen Trommel verzeich- net. An den Faden kann ferner ein Gewicht gehängt und dadurch die Ar- beitsleistung der Fingerbeugemuskeln beliebig verändert werden (Fig. 236). Mittels dieses Apparates kann man sich in anschaulichster Weise davon über- zeugen, dass bei gleichbleibender In- tensität der in gleichmässigen Zwischen- räumen aufeinander folgenden elektri- schen Inductionsschläge , welche zur Reizung dienen, die Arbeitsleistung der Muskeln immer mehr abnimmt und schliesslich gleich 0 wird. Das kommt an der Zuckungscurve , welche nur die

Fig. 237. Ermüdungscurve. Abnahme der Curvenhöhe bei zahl- reichen hintereinander folgenden Contractionen der Fingerbeuge- muskeln. Nach Mosso.

') Mosso: „Die Ermüdung." Deutsche Originalausgabe von J. Glinzer. Leipzig 1893.

30*

468 Fünftes Capitel.

Grösse der Contraction angiebt, in der beständigen Abnahme der Hubhöhe zum Ausdruck (Fig. 237). Es würde bedeutend stärkerer Reizung bedürfen, um nach Ablauf der einen Versuchsreihe wieder gleich hohe Zuckungen der ermüdeten Muskeln zu erzielen, wie Anfangs. Die Einzelheiten der Veränderungen werden aber besser sichtbar, wenn man, wie dies Marey ^) schon vor längerer Zeit gethan hat, an einem Myographien Zuckungscurven eines Froschschenkels vom Anfang der Versuchsreihe an übereinander aufzeichnet. Dann stellt sich heraus, dass, wie Helmholtz bereits fand, mit zunehmender Ermüdung nicht nur die Höhe der Curve abnimmt, sondern der Verlauf der Curve auch gestreckter wird, wobei besonders der ab- steigende Schenkel der Curve eine Verlängerung erfährt. Mit anderen Worten: Die Arbeitsleistung des Muskels wird geringer, während die Dauer der Zuckung zunimmt. Die letztere Erscheinung beruht hauptsächlich auf einer zunehmen- den Dauer des Expansionsstadiums. Der ermüdete Muskel braucht mehr Zeit, um sich wieder zu seiner vollständigen Länge auszustrecken.

Fig. 238. Tetanus curve eines ermüdeten Frosclimuskels.

Vielleicht noch deutlicher als bei der Einwirkung einzelner In- ductionsschläge treten die Ermüdungserscheinungen hervor bei Reizung mit dem tetanisirenden Strom. Zeichnet man auf einer rotirenden Trommel die Tetanuscurve eines nicht zu kräftigen, mit einem Gewicht belasteten Wadenmuskels vom Frosch auf, so sieht man, wie die Curve zuerst längere Zeit auf ihrer anfänglichen Höhe bleibt und gradlinig fortläuft. Nach einiger Zeit aber beginnt sie langsam zu sinken, und zugleich machen sich nicht selten kleine Unregelmässigkeiten in ihrem Verlauf bemerkbar, die darauf beruhen, dass der Muskel zu zittern anfängt. Dann sinkt die Curve allmählich mehr und mehr. Unterbricht man jetzt die Reizung, so fällt die Curve meist nicht bis auf das Niveau ihres Ausgangspunktes hei'ab, sondern bleibt eine Strecke über dem- selben und kehrt erst im Laufe längerer Zeit wieder zu ihrem Aus- gangsniveau zurück. Es bleibt also ein ziemlich grosser „Verkürzungs- rückstand" nach Beendigung der Reizung am ermüdeten Muskel zurück, und nur ganz langsam nimmt der ermüdete Muskel seine ur- sprüngliche Länge wieder an.

^) Marey: „Du mouvement dans les fonctions de la vie." Paris 1868.

Von den Reizen und iliruu WirkunKon.

469

^^

Es ist von grossem Interesse, dass man auch mikroskopische Ver- änderungen am ermüdeten Muskel beobachtet hat. H. M. Bernard ^) hat von einer Anzahl vollständig gleicher blauer Schmeissfliegen (M u s c a V 0 m i 1 0 r i a) einige durch unausgesetztes Hetzen in fortwährender Bewegung er- halten, bis sie vollständig er- schöpft zu Boden fielen. Die ermüdeten Fliegen wurden so- fort und gleichzeitig mit dem anderen Theil, der inzwischen in völliger Ruhe geblieben war, getödtet. Beide Theile wurden dann der gleichen Behandlung unterworfen. Dabei ergab sich ein durchgreifender Unter- schied zwischen beiden. Wäh- rend bei den ausgeruhten Fliegen die Fibrillen deutliche Querstreifung und Unterschiede der Streifen im Tinctionsver- mögen zeigten, waren bei den

n

u

Fig. 239. Flugmuskeln von der Schmeiss fliege (Musca vomitoria). A In der Ruhe, B in der Ermüdung. Die Schichtung der Muskelsegmente ist unsichtbar geworden, und die Sarkosomen zwischen den Fibrillen sind enorm vergrössert. Nach H. M. Bernakd.

B

Fig. 240. Ganglien- zellen von der Katze A In normalem Zustande £ nach fünfstündiger Rei- zung. Nach HoDGE.

ermüdeten Fliegen nur eben noch die Zwischenscheiben der einzelnen Muskelsegmente deutlich zu sehen ; der ganze Inhalt des einzelnen Segments färbte sich gleichmässig hell, ohne die Differenzirung

*) Henry M. Bersard: „On the Relations of the isotropous to the anisotropous Layers in striped Muscles." In Zool. Jahrb. Abth. f. Anat. Bd. VII, 1894.

470 Fünftes Capitel.

der Schichten bemerken zu lassen (Fig. 239). Besonders aber waren ferner die im Sarkoplasma zwischen den einzehien Fibrillen liegenden Körnchen oder „Sarkosomen" im ermüdeten Muskel gegen- über dem ausgeruhten ganz enorm vergrössert. Es würde aber zu weit führen, hier auf die Deutung dieser Veränderungen näher ein- zugehen. Uebrigens haben Hodge^), Gr. Mann^) und Lugaro^) vor Kurzem auch an Ganglienzellen von Säugethieren, Vögeln und In- secten mikroskopisch deutliche Ermüdungserscheinungen, besonders an ihren Zellkernen, festgestellt. So besitzen nach Hodge beim Sper- ling am Morgen nach der Ruhe die Ganglienzellen der Brachial- ganglien, welche die Flugmuskeln innerviren, helle, runde, bläschen-

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Fig. 241. Ganglienzellen des Sperlings. "

A Morgens, B Abends. Nach Hodge. p.^ nu) p

Fig. 242. Parotis des Kaninchens. A In der Ruhe. Die Zellkerne sind gezackt. B Nach Reizung durch den Sympathiciis. Die Zellkerne sind rund geworden. Nach

Heidenhain.

förmige Zellkerne (Fig. 241 A), während sie am Abend nach der An- strengung des Tages einen gezackten Contour haben (Fig. 241 JB). Ebenso sind bei der Katze nach Reizung von einigen Stunden die Kerne der Ganglienzellen, die vorher bläschenförmig und rund waren, geschrumpft und unregelmässig contourirt, während die Anordnung des Inhalts sich wesentlich verändert hat (Fig. 240). Nach Mann und in Uebereinstimmung mit ihm nach Lugaro besteht die Veränderung

') C. F. Hodge: .,A inicroscopieal Studj of changes due to funetional activity in Nerve cells." In Journal of Morphology Vol. VII, 1892.

^) Gustav Mann: „Histological changes indueed in sympathetic njotor and sensoiy nerve cells by funetional activity.'" In .Journal of Anat. and Physiol. 1894.

^) LuGARcj : „Sülle niodificazioni delle cellule nervöse nei diversi stati funzionali." In Lo sperim. giornalo medico An. XLIV, sec. Biol. F. 11, 1895.

Von den Keizeii und ilirtii Wirkuiigeu. 471

(Ut Ganglicnzelle wühreiul ihrer Activität im Wesentlichen in einer Tiirgcsceiiz dos l'rotoj)lasmas sowie des Zellkerns, während in der Ruhe wieder eine Vuhmienverminderung eintritt. Dabei wird der Zellkern während der Arbeit immer ehromatinärmer, und der Nucleolus kann, wie Lugaro fand, durch Ermüdung ganz zum Verschwinden gebracht werden. Hierher gehören übrigens auch die Ermüdungs- veränderungen, welche Heidenhain \) schon vor langer Zeit an Speicheldrüsen nach der Reizung beobachtet hat, deren Zellkerne, die in der Ruhe pseudopodienartige Ausläufer aussenden, nach der Reizung Kugelform annehmen (Fig. 242). Doch kehren wir zum Muskel zurück.

Die ermüdeten Muskeln erholen sich wieder, sobald die Reizung aufhört, und zwar um so schneller, je geringer der Grad der Er- müdung war. In der Erholung nimmt die Erregbarkeit allmählicli wieder zu, die einzelnen Erscheinungen der Ermüdung, wie man sie an der Zuckungscurve sehen kann, treten mehr und mehr zurück, und schliesslich sind die Muskeln wieder in demselben Zustande wie vor der Ermüdung.

Was besonders interessant erscheint, ist die schon von Valentin-) und Eduard Weber ^) entdeckte Thatsache, dass auch ausgeschnittene Muskeln, wie z. B. der iso- lirte Wadenmuskel des Frosches, der Erholung fähig sind. Auch das lässt sich am besten durch die graphische Dar- stellung der Muskelbewegung veranschaulichen. Ermüden wir z. B. einen Wadenmuskel in der Weise, dass wir ihn immer abwechselnd etwa 5 Secunden lang tetanisiren und 5 Secunden ausruhen lassen, so wird nach einiger Zeit, bei immer gleichbleibender Intensität des Reizes, die Tetanuscurve immer niedriger, bis schliesslich der Reiz gar keine Contraction des Muskels mehr erzeugt, der in einem durch den Verkürzungsrückstand bedingten Zustande geringer Contraction ruhig verharrt. Unterbrechen wir jetzt die Reizung und überlassen wir den Muskel längere Zeit, vor Vertrocknung geschützt, sich selbst, so köimen wir alsdann von Neuem mit der gleichen Reizstärke nahezu gleichstarke Contractionen des Muskels auslösen, wie vor der Ermüdung. Allerdings ermüdet der Muskel jetzt schneller als zuvor. Von Interesse ist bei der Erholung ein Moment, das neuerdings in Richet's Labo- ratorium von J. JoTEYKO'^) festgestellt worden ist, dass nämlich der ausgeschnittene Muskel sich nur erholt, Avenn ihm Sauerstoff zur Ver- fügung steht, dass er dagegen unter Sauerstoffabschluss nach voll- ständiger Ermüdung nicht wieder zur Thätigkeit veranlasst werden kann. Der Sauerstoff ist also zur Wiederherstellung der Erregbarkeit des Muskels unbedingt erforderlich. Die Thatsache aber, dass auch der ausgeschnittene Muskel nach starker Ermüdung in einem sauer- stoffhaltigen Medium sich wieder zu erholen im Stande ist, beweist, dass die Muskelsubstanz, ebenso wie sie unabhängig vom durch- strömenden Blute längere Zeit noch Contractionen ausführen kann, auch unabhängig von dem die Nahrungsstoffe zuführenden und die Excretstoffe abführenden Blutsti'om in sich selbst die Factoren be-

^) Heidenuain: „Physiologie der Absonderungsvorgänge." In Herraann's Handb. Physiol. Bd. V. Leipzig 1883.

'^) Valentin: „Lehrbuch der Physiologie." IL Aufl. Braunschweig 1847.

^) Weber: In „Wagner's Handwörterbuch der Physiologie". III, 1846.

"•) Jotevkü: „La fatigue et la respiration elementaire du muscle." Paris 1896.

472 Fünftes Capitel.

sitzen muss, welche im Verein mit Sauerstoff zur Restitution der Erreg- barkeit erforderlich sind.

Wenden wir uns von den äusserlich am Muskel selbst wahrnehm- baren Erscheinungen der Ermüdung zu den Erscheinungen, welche sich secundär als Folgen sehr grosser Muskelanstrengung im Körper entwickeln, so finden wir hier einige Thatsachen, die uns in der Kennt- niss der Ermüdung noch um einen Schritt weiter bringen.

Beobachten wir die Erscheinungen, welche sich im Laufe starker Muskelanstrengungen an unserem Körper entwickeln, so bemerken wir zunächst eine bedeutende Beschleunigung und Vertiefung der Athmung. Gleichzeitig wird die Frequenz des Herzschlages gesteigert. Die durch die Muskelthätigkeit erhöhte Wärmeproduction wird auf reflectorischem Wege durch Ausbruch starken Schweisses, dessen Ver- dunstung die Temperatur herabsetzt, im Wesentlichen compensirt. Ist die Muskelthätigkeit eine sehr angestrengte gewesen, so tritt, besonders wenn der Körper vorher lange Zeit keine Muskelanstrengungen durch- gemacht hatte, nicht selten im Gefolge der Anstrengung ein leichtes Fieber ein. Die Temperatur steigt, Anfälle von Schüttelfrost treten auf, und es macht sich eine gewisse Erregbarkeitssteigerung des Centralnervensystems bemerkbar. Diese Thatsache ist so bekannt, dass man sogar von einem „Turnfieber" spricht, das nach allzu starken Anstrengungen beim Turnen eintritt. Auch nach sehr er- müdenden Gebirgstouren und nach langen Ritten wird dieses Er- müdungsfieber sehr häufig beobachtet. Unter den subjectiven Symptomen, die sich im Gefolge sehr starker Muskelanstrengung einstellen , sind die bekanntesten die während des Fieberstadiums, z. B. am Abend nach einem anstrengenden Marsch, eintretende Aufregung, Schlaflosig- keit, Appetitlosigkeit und ferner die meist erst am nächsten Tage oder noch später sich einstellenden starken Muskelschmerzen.

Fasst man diese Erscheinungen alle zusammen, so erhält man einen interessanten Symptomencomplex, der den Arzt aufs Lebhafteste an das Krankheitsbild acuter Lifectionskrankheiten erinnern muss. Die Vermuthung liegt daher nahe, dass dieses ganze im Gefolge der Muskelermüdung auftretende Symptomenbild auch auf ähnliche Weise zu Stande kommt, wie der charakteristische Symptomencomplex der Infectionskrankheiten. Von letzterem wissen wir durch die neueren Forschungen auf dem Gebiete der Bakteriologie, dass er die Folge einer Vergiftung vorstellt, welche durch gewisse von den eingewanderten Bakterien ausgeschiedene giftige Stoffwechselproducte, die sogenannten Toxine ^), hervorgerufen wird. Wie die Bakterien scheiden aber auch die verschiedensten anderen Formen der lebendigen Substanz giftige Stoffe in ihrem Stoffwechsel aus, und es ist daher nicht ungerecht- fertigt, anzunehmen, dass auch die Muskeln in ihrem Stoffwechsel solche Toxine produciren, die innerhalb der gewöhnlich vorhandenen Menge keine Wirkungen hervorrufen, die aber wirkliche Vergiftungs- erscheinungen erzeugen, sobald sie sich bei angestrengter Muskel- thätigkeit in grösserer Menge im Körper anhäufen. Dass diese Ver- muthung in der That richtig ist, haben denn auch verschiedene Ver- suche direct bewiesen.

Die ersten wichtigen Vei'suche waren die von Ranke ^), welcher fand, dass er einen ermüdeten Muskel wieder leistungsfähig machen

1) Vergl. pag. 180.

2) Ranke: „Tetanus." Leipzig 1865.

Von den Keizen und ihren WirUanj^en. 473

konnte, wenn er ihn mit einer verdünnten Koehsalzlösung, die be- kanntlich vollkümmen indifferent für lebendifjje Gewebe ist, auswusch. Es mussten also im ^luskel durch die Thiitigkcit gewisse „Ermüdungs- stoffe" entstanden und aufgeliäuft sein, welche auf die Muskelsubstanz selbst lähmend wirkten, nach deren Fortschaffung aber der Muskel seine Arbeitsfähigkeit wieder gewinnt. Das konnte Kanke durch folgenden Versuch thatsächlich bestätigen. Er machte ein wässriges Extract aus Muskeln, die stark ermüdet waren, und spritzten dasselbe einem frischen Muskel durch die Blutgefässe ein. Die Folge davon war, dass dieser Muskel alsbald seine Leistungsfähigkeit verlor und sich ganz ähnlich wie ein ermüdeter Muskel verhielt. Es ist also durch diesen Versuch in der That bewiesen, dass Ermüdungs- erscheinungen durch das Anhäufen gewisser Stoffwechselproducte im Muskel entstehen und durch das Ausspülen derselben wieder beseitigt werden können. In neuerer Zeit hat Mosso \) einen dem KANKE'schen analogen Versuch am Hunde angestellt. Wenn er einem in Narkose befindlichen Hunde Blut von einem anderen normalen Hunde ein- spritzte, blieb derselbe ebenfalls vollständig normal. Nahm er aber statt dessen zur Einspritzung Blut von einem ermüdeten Hunde, dessen Muskeln durch Tetanisiren mit dem elektrischen Strom auch nur zwei Minuten lang in heftige Contraction versetzt worden waren, so traten sofort charakteristische Ermüdungserscheinungen ein: die Athmung wurde beschleunigt bis zur Atheranoth. und das Herz begann heftig zu schlagen. Die im Muskel erzeugten „Ermüdungsstoffe" bleiben also nicht im Muskel, sondern werden vom Blut aufgenommen und gelangen so zu den Organen des ganzen Körpers. Daher kommt es auch, dass nach einem anstrengenden Marsche nicht nur die Bein- muskeln, sondern auch die Muskeln der Arme Ermüdungserscheinungen zeigen. Indem die giftigen Ermüdungsstoffe aber mit dem Blute auch zu den Centren des Gehirns gelangen, Avelche die Athmung und Herz- bewegung beherrschen, erzeugen sie hier zunächst eine Erregung, die eine heftige Steigerung der Athem- und Herzthätigkeit zur Folge hat, dann aber bei zu grosser Anstrengung schliesslich eine Lähmung, die zu einem Herzstillstand führt und den Tod veranlasst. Die Geschichte des Läufers von Marathon ist das classische Beispiel für diese Folge von Erscheinungen.

Wir dürfen indessen der Entstehung und Anhäufung von Er- müdungsstoffen im Muskel nicht übertriebene Bedeutung für das Zustandekommen der Muskelermüdung selbst beilegen, Avie das nicht selten geschehen ist. Wenn es auch zweifellos ist, dass Ermüdungs- erscheinungen durch das Anhäufen von Ermüdungsstoffen hervorgerufen werden können, so ist dies doch nicht die einzige Ursache. Das Hauptmoment beim Zustandekommen aller Ermüdung bildet doch immer der fortschreitende Verbrauch der zur Thätigkeit noth wendigen Stoffe. Demnach können im Lluskel und wahrscheinlich in aller lebendigen Substanz zwei verschiedene Ursachen der Ermüdung ein- treten. Wir sehen Ermüdungserscheinungen einerseits, wenn gewisse Stoffe, die zum Leben nothwendig sind, durch die angestrengte Thätigkeit schneller verbraucht als zugeführt oder neu gebildet werden, andererseits, wenn gewisse Stoffe, die als Zerfallsproducte durch

^) Mosso: „Die Ermüdung." Deutsche Originalausgabe v. J. Glinzer. Leipzig 1892.

474 P'ünftes Capitel.

die Thätigkeit entstehen, sich in solcher Menge an- häufen, dass sie eine lähmende Wirkung hervorrufen. Wegen dieser fundamentalen Verschiedenheit in der Genese der betreffenden Erscheinungen erscheint es daher zweckmässig, dieselben auch durch die Benennung zu unterscheiden und die durch Aufbrauch der noth- wendigen Stoffe eintretenden Lähmungserscheinungen als „Erschöpfung", die durch Anhäufung und Vergif- tung mit den Z e r s e t z u n g s p r o d u c t e n entstehenden Läh- mungserscheinungen dagegen als „Ermüdung" zu be- zeichnen. Beiden aus so verschiedenen Ursachen ent- stehenden Erscheinungs reihen ist aber der Enderfolg gemeinsam. Beide sind charakterisirt durch die Läh- mung der Erregbarkeit und Thätigkeit der lebendigen Substanz.

2. Erregung und Lähmung.

Halten wir zunächst daran fest, dass Erregung und Lähmung nur quantitative Gegensätze sind. Beide stellen nur verschiedene Grade einer und derselben Erscheinung, des Lebens, vor, und zwar die Er- regung eine Steigerung, die Lähmung eine Herabsetzung der normalen Intensität der Lebenserscheinungen.

Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass durch Ueberreizung Lähmungserscheinungen hervorgerufen werden können. Diese That- sache ist wichtig, denn sie zeigt uns, dass dieselben Reize, die bei geringer Intensität oder kurzer Dauer Erregung hervorrufen, bei höherer Intensität und län- gerer Dauer gerade die entgegengesetzten Wirkungen, d. h. Lähmungen, erzeugen können.

Die Ermüdungserscheinungen, die wir soeben kennen gelernt haben, sind aber nur ein einzelnes Beispiel für dieses Verhältniss zwischen Erregung und Lähmung, das im Uebrigen viel weiter ver- breitet ist. Die erregenden und lähmenden Wirkungen der Beize, die wir früher kennen lernten, liefern uns noch eine Reihe anderer Bei- spiele dafür. Ein vollständiges Analogon zu den Ermüdungserschei- nungen bilden in dieser Richtung die Wirkungen der Anaesthetica. Es ist, wie es scheint, eine allgemeine Eigenschaft dieser Stoffe, dass sie in sehr geringen Dosen oder bei sehr kurzer Dauer der Einwirkung Erregungserscheinungen erzeugen, während mit steigender Einwirkung mehr und mehr sich Lähmungserscheinungen bemerkbar machen, die anscheinend zu einem vollständigen Stillstand des Lebens führen können '). Der Pharmakologie ist diese Thatsache wohlbekannt. Morphium in sehr geringen Dosen und Morphium im Beginn seiner Einwirkung erzeugt stets ein Excitationsstadium, in dem die Patienten unruhig und aufgeregt sind, nicht schlafen können und von allerlei Phantasiebildern verfolgt werden. Ist die verabreichte Dosis Morphium dagegen grösser, und ist das bei Beginn der Wirkung eintretende Excitationsstadium vorüber, so stellt sich tiefer Schlaf mit vollständiger Bewegung»- und Empfindungslosigkeit ein. Dieselbe Folge von Wir- kungen sehen wir auch bei anderen Narkoticis und bereits an der

1) Vergl. pag. 3S0 und 383.

Von den Keizon und ilirou Wirkiin<?en. 475

einzelnen Zelle. Durch geringe oder kurzdauernde Einwirkung von Aether- oder Oliloroformdämpten auf Wimperintu.sorien sehen wir die Wimperbewegung bis zu rasender Schnelligkeit gesteigert. Die Er- regung dieser Winiperzellen erreicht einen so hohen Grad, dass sie pfeilschnell vermöge ihres beschleunigten A\'imperschlages durch das Wasser schiessen. Wird die Dosis oder die Dauer der Einwirkung des Narkoticums aber nur wenig gesteigert, so wird die Winiperbewegung langsamer und langsamer, bis schliesslich vollständige Lähmung erfolgt und das Infusorium bewegungslos liegen bleibt. Dieselben Erscheinungen sind bei den verschiedensten Anacstheticis und an den mannigfaltigsten Formen der lebendigen Substanz beobachtet worden.

Ein anderes Beispiel dafür, dass mit steigender Reizintensität die Erregung zunächst steigt, dann aber von einem bestimmten Punkte an einer Lähmung Platz macht, liefert uns der Wärmereiz ^). Alle Lebenserscheinungen erfiihren mit zunehmender Temperatur eine Steigerung bis zu einem gewissen Temperaturgrade, der für die ver- schiedenen Formen der lebendigen Substanz und für die verschiedenen Lebenserscheinungen derselben Form sehr verschieden hoch gelegen ist. Hier erreicht die Erregung ihr Maximum, ^^'ird aber dieser Temperaturgrad überschritten, so nimmt die Erregung schnell ab und macht einer vollkommenen Lähmung, der Wärmestarre, Platz. Die Gährungsthätigkeit der Hefezellen, das Wachsthum und die Entwick- lung der Eizellen, die Protoplasma- und Flimmerbewegung der ein- zelligen Organismen liefern deutliche Beispiele dafür.

Aus dem Gebiete anderer Reize würden sich leicht ebenfalls Bei- spiele für die Thatsache finden lassen, dass steigende Reizintensität zunächst steigende Erregung, dann Lähmung erzeugt.

Allein dieses V e r h ä 1 1 n i s s von Erregung und Läh- mung gilt nur für diejenigen Reize, die, wie z. B. die Zunahme der umgebenden Temperatur, in einer Steige- rung der Facto ren bestehen, welche unter normalen Verhältnissen als Lebensbedingungen auf den Orga- nismus einwirken, oder die, wie z. B. die G i f t r e i z u n g e n , in einem Zutritt fremder Facto ren bestehen. Die- jenigen Reize dagegen, die, wie z. B. die Abnahme der Umgebungstemperatur, auf einer Herabsetzung der Lebensbedingungen beruhen, scheinen im Allgemeinen ohne vorhergehende Erregung die Lebenserscheinungen mit fortschreitender Intensität zu lähmen. ]\Iit Sicherheit lässt sich freilich bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse ein Gesetz noch nicht aufstellen, denn es bedarf der vorsichtigsten Kritik einer grösseren Zahl von Erscheinungen , um Verallgemeinerungen abzuleiten. Immerhin spricht eine grosse Zahl von Erfahrungen gerade in diesem Sinne.

So sehen wir z. B. mit zunehmender Kälte die Energie der Lebens- erscheinungen sinken, bis bei bestimmten niederen Temperaturgraden, die ebenfalls bei den verschiedensten Objecten sehr verschieden sind, anscheinend vollständige Lähmung eintritt. Die Versuche Kühxe's-) an Amoeben, bei denen die Protoplasmabewegung um 0^ C. in

1) Vergl. pag. 401.

^) Kühne: „Untersncliuug-eu über das Protoplasma und die Contractilität." Leipzig 1864.

476 Fünftes Capitel.

Kältestarre vollkommen still stand, sowie eine Reihe anderer, früher besprochener Erscheinungen liefern Beispiele dafür. So sehen wir ferner mit Abnahme der Feuchtigkeit die Intensität der Lebenserscheinungen sinken, bis sie zum vollständigen Stillstand gelangen. Das Ver- halten der eingetrockneten scheintodten Organismen kann hierfür als Beleg dienen. So sehen wir schliesslich mit Abnahme der Nahrung und des Sauerstoffes die Lebenserscheinungen erlahmen und, wie z. B. die Protoplasmabewegung der Amoeben bei KtJHNEs Versuchen, in einer reinen Wasserstoffatmosphäre zum Stillstand gelangen.

Freilich darf nicht übersehen werden , dass Fälle bekannt sind, in denen mit sinkender Temperatur, wie bei der Wärmeregulirung der Warmblüter, oder mit Abnahme des Wassergehalts, wie beim aus- trocknenden Nerven und Muskel, oder schliesslich mit Abnahme des Sauerstoffes, wie bei der Erstickung der Warmblüter im sauerstoff- leeren Raum, sich Erregungserscheinungen bemerkbar machen. Aber der Mechanismus des Zustandekommens dieser Erscheinungen, der wegen der Complication der Verhältnisse im Zellenstaat nur schwer zu erforschen ist, bleibt bisher zum grossen Theil noch in Dunkel ge- hüllt, und es bedarf noch vieler eigens auf diesen Punkt gerichteter Untersuchungen, besonders an der einzelnen Zelle oder am ein- fachen Gewebe, ehe wir Klarheit darüber gewinnen, ob die in so vielen Fällen beobachtete Erscheinung, dass mit Abnahme der Fac- toren, welche zu den Lebensbedingungen gehören, eine allmähliche Lähmung der Lebenserscheinungen ohne vorhergehende Erregung ein- tritt, wirklich eine allgemeine Verbreitung besitzt. Mit anderen Worten : Die Frage, ob innerhalb der beiden äussersten Grenzen der Lebens- bedingungen die lebendige Substanz stets nur ein Maximum der Er- regung besitzt, verdient entschieden ein tiefergehendes Interesse. Zweifellos giebt es eine grosse Zahl von Fällen, in denen sowohl eine Steigerung wie eine Herabsetzung der Lebensbedingungen Lähmung erzeugt, und in denen zwischen diesen beiden Punkten die Erregung zu Einem Maximum ansteigt.

3. Tod durch Ueberreizung.

Der Enderfolg andauernder oder starker Ueber- reizung ist schliesslich stets der Tod; doch ist die Art, wie er sich entwickelt, je nach den Umständen im ein- zelnen Fall verschieden.

Bei andauernder, nicht allzu starker Reizung entwickelt er sich ziemlich allmählich, und man kann hierbei am besten die Stadien des Reizerfolgs verfolgen. Als Beispiel mag uns die Wirkung der Nar- kotica dienen. Setzen wir z. B. eine Infusorienzelle, etwa das Wimper- infusorium Spirostomum, der Einwirkung von Aether- oder Chloro- formdämpfen aus, so sehen wir zuerst das Stadium der Erregung, in dem die Wimperbewegung stark beschleunigt wird. Allmählich lässt bei andauernder Einwirkung die Erregung mehr und mehr nach; und es beginnt das Stadium der Lähmung, bis vollständiger Stillstand des Wimperschlages eingetreten ist. Aus diesem Stadium lässt sich durch Unterbrechung der Reizwirkung und Wiederherstellung der normalen Lebensbedingungen das Leben noch zurückrufen. Dauert

Von den Heizen und ihren Wirkungen. 477

dagegen die Einwirkung noch weiter fort, so ist dies nicht mehr mög- lieh : die Narkose ist unmittelbar in den Tod übergegangen. Dasselbe sehen wir bei der ^lorphiumvergit'tung an den Ganglienzellen des Menschen. Im Beginn der Einwirkung tritt ein Excitationsstadium ein, das bald einer vollständigen Lähmung der Ganglienzellen Platz macht. Bei zu starker Dosis schliesslich erfolgt der Tod der Ganglien- zellen, was sich an dem Stillstand der von ihnen abhängigen Lebens- erscheinungen (Herzbewegung, Athmung etc.) bemerkbar macht. Die gleiche Folge von Wirkungen zeigt bei stetiger Zunahme seiner Intensität der \A'ärmereiz. Die Protoplasmabewegung der Amoeben nimmt mit steigender Temperatur zu bis gegen 35 ^ C. Hier nimmt die Bewegung plötzlich ab; die Amoeben verharren im Contractions- stadium und machen höchstens noch ganz schwache Bewegungen, die bei wenig höherer Temperatur ganz aufhören. Das ist der Punkt der Wärmestarre. Nach Abkühlung von diesem Temperaturgrad kehrt die Bewegung wieder zurück. Steigt aber die Temperatur über 40*^, so geht die \Värmelähmung in den Tod über. Bei der Wärme- reizung haben wir von dem Temperatur- Minimum be- ginnend bis zum Temperatur-Maximum hinaufdieganze Folge der Reiz Wirkungen in grösster Deutlichkeit vor uns: Stillstand d er Lebensersch ei nungen in Kälte starre, steigende Erregung, Lähmung in Wärmestarre und schliesslich Tod.

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B C

Fig. 243. Pelomyxa palustris. A Kriechend, £ infolge schwacher chemischer Eeizung contrahirt, C bei längerer Reizwirkung körnig zerfallend.

Nicht immer ist die ganze Erscheinungsreihe bis zum Tode in dieser Weise entwickelt. Sehr häufig fehlt das eine oder das andere Stadium ganz. Das hängt theils von der speciellen Beschaffenheit der lebendigen Substanz, theils von der Art und Weise der Pteizung ab. Namentlich werden bei Einwirkung sehr hoher Reizintensitäten oft alle Stadien übergangen, und es erfolgt sogleich der Tod. Bisweilen ti'itt erst ein kurzes Erregungsstadium ein, aber die hochgradige Er- regung wird sogleich vom Tode gefolgt. Wenn wir Pelomyxa, während sie ruhig kriecht, nur schwach mit Säuren, Alkalien, Chloro- form etc. chemisch reizen, so zieht sie sich in wenigen Secunden kuglig zusammen (Fig. 2435), zeigt also den Ausdruck hochgradiger contractorischer Erregung. Erst im Verlauf längerer, gleichbleibender Einwirkung des Reizes beginnt der Protoplasmakörper von der Peri- pherie her körnig zu zerfallen (Fig. 243 Cj. Lassen wir dagegen den chemischen Reiz gleich von vornherein in grösserer Intensität auf den in ruhiger Ausstreckung befindlichen Körper einwirken, so hat der Ausdruck eines Erregungsstadiums gar nicht erst Zeit zu seiner Ent-

478

Fünftes Capitel.

Avicklung. Der Körper beginnt, ohne sieh vorher zur Kugel zu con- trahiren, in der Form, die er im Moment der Reizung hatte, sofort körnig zu zerfallen (Fig. 244 B). Hier tritt also in Folge der Reizung unmittelbar der Tod ein, während die anderen Stadien der Reizwir- kung nicht Zeit haben, sich äusserlich zu entwickeln. Dasselbe sehen wir bei galvanischer Reizung. Reizen wir A c t i n o s p h a e r i u m mit schwachen galvanischen Strömen, so treten die typischen Erscheinungen contractorischer Erregung an der Anode ein. Die Pseudopodien zeigen centripetale Strömung ihres Protoplasmas, das sich zu kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt und dem Körper zufliesst, bis die Pseudopodien eingezogen sind. Wenden wir dagegen sogleich einen starken galvanischen Strom an, so hat das Protoplasma nicht erst Zeit, Contractionserscheinungen zur Ausbildung zu bringen, sondern es tritt sofort Zerfall des Protoplasmas an der Anodenseite ein.

Der äusserlich sichtbare körnige Zerfall des Protoplasmas in Folge übermaximaler Reizung ist ein werthvoUes Zeichen, wenn es sich, wie z. B. bei der Reizung mit dem galvanischen Strom, darum handelt, die Localisation einer Erregung festzustellen an Objecten, die sonst nicht ohne Weiteres einen deutlich sichtbaren Ausdruck der Erregung

A B

Fig. 244. Pelomyxa palustris. A Kriechend, B infolge starker chemischer

Reizung körnig zerfallend.

erkennen lassen. In solchen Fällen braucht man nur übermaximale Stromintensität anzuwenden, und man erkennt an dem körnigen Zerfall des Protoplasmas sofort die Stelle, an Avelcher die Erregung localisirt war. Fi-eilich ist das auch nur bei solchen Formen der lebendigen Substanz möglich, die überhaupt im Moment des Todes den körnigen Zerfall zeigen. Es giebt aber eine grosse Zahl von Zellformen, be- sonders solche, die mit einer festen Membi-an versehen sind, welche beim Absterben überhaupt nicht körnig zerfallen. Hefezellen z. B. kann man auf verschiedene Weise tödten durch Ueberreizung, ohne dass der Körper zerfällt. Ihr Tod wird nur indirect dadurch angezeigt, dass zugleich mit ihm die Fähigkeit, Traubenzucker in Kohlensäure und Alkohol zu spalten, verloren gegangen ist. Auf die verschiedenen Er- scheinungsformen, unter denen der Tod eintritt, brauchen wir indessen hier nicht mehr näher einzugehen, da wir dieselben bereits früher kennen gelernt haben ^). Die Ueberreizung in ihrer allgemeinsten Be- deutung ist nichts Anderes als das, was wir an anderer Stelle als äussere Todesursachen bezeichnet haben. Es bedarf daher auch nicht erst besonderer Erwähnung, dass die Ueberreizung nicht nur, wenn sie in einer Steigerung, sondern auch, wenn sie in einer Herab-

Vergl. pag. 324.

Voll (ii'ii Iviiztn uml iliiiu Wirkuiij^i-n. 479

Setzung der als Lebensbedingungen wirkenden P^actoren besteht, schliesslich stets den Tod zur Folge hat. Wir haben ja bereits gesehen, dass sowohl eine Ueberschrcitung des ^linimunis als des Maximums der Lebensbedingungen zu tödtlicheni Ausgange führt.

Wir haben das Leben in einem früheren Capitel als eine Natur- erscheinung aufzufassen gelernt, die wie alle Naturerscheinungen zu Stande kommt, wenn ein bestimmter Complex von Bedingungen er- füllt ist. Werden die Bedingungen verändert, so ändert sich auch die Erscheinung; fallen sie ganz fort, so hört auch die Erscheinung auf. In den Reizen haben wir nunmehr solche Veränderungen der Lebensbedingungen kennen gelernt. Unter dem Einflüsse der Reize verändern sich die Lebenserscheinungen und hören ganz auf, w^enn die Reize eine bestimmte Grenze überschreiten.

Sehen wir ab von der geringen Zahl der bisher noch wenig er- klärten Fälle, wo, wie in den metamorphotischen Processen der Nekro- biose, unter dem Einflüsse von Reizen die Lebensorscheinungen in eine perverse Bahn gedrängt und qualitativ verändert werden, so be- merken wir, dass die Reize innerhalb gewisser Grenzen nur eine einzige Art der Wirkung entfalten, die darin besteht, dass sie die Lebenserscheinungen nur quantitativ, nur graduell verändern, in- dem sie ihre Intensität entweder steigern oder herabsetzen. Die Reize rufen also in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht neue Er- scheinungen hervor, sondern erzeugen nur eine Erregung oder Lähmung der schon bestehenden allgemeinen Lebenserscheinungen.

Dabei ist besonders bemerkenswerth, dass die verschiedenartigsten Reizqualitäten vollkommen gleiche Wirkungen an demselben Object hervorrufen. Eine Amoebe können wir durch chemische, mecha- nische, thermische, galvanische Reize zur Einziehung ihrer Pseudo- podien und Annahme der Kugelgestalt veranlassen; die Zellen eines Flimmerepithels können wir auf chemische, mechanische, thermische, galvanische Reizung mit einer Beschleunigung der FHmmerbewegung antworten sehen, und bei Noctiluken können wir durch chemische, mechanische, thermische, galvanische Reize Lichtentwicklung erzeugen.

Diese wichtige Thatsache zeigt uns, dass in jeder lebendigen Substanz eine ausserordentlich grosse Neigung zu einer ganz specifi- schen Folge von Processen bestehen muss, und zwar zu derselben Folge von Processen, die in geringerem Maasse schon spontan sich ununterbrochen an der betreffenden Form der lebendigen Substanz abspielt und in den Lebenserscheinungen ihren Ausdruck findet, so dass die leisesten Anstösse der verschiedensten Art sofort die Auslösung dieser charakteristischen Folge von Processen befördern. Wie das Nitroglycerinmolekül durch mechanische sowohl als durch galvanische oder durch thermische Einwirkungen zum explosiven Zerfall in stets gleiche Bestandtheile veranlasst werden kann, so kann auch in jeder Form der lebendigen Substanz durch die verschiedenartigsten Reize immer die Folge ihrer specifischen Lebensprocesse in gesteigertem Maasse ausgelöst werden.

Was Johannes Müller's grosse Entdeckung der spe- cifischen Energie der Sinnessubstanzen für die mit

480 Fünftes Capitel. Von den Reizen und ihren Wirkungen.

Sinnesorganen versehenen Thiere gelehrt hat^), das ist also eine Erscheinung, die ganz allgemeine Verbreitung hat und tief im Wesen aller lebendigen Substanz be- gründetist. Alle lebendige Substanz besitzt eine spe- ci fische Energie im Sinne Johannes Mltller's, denn inner- halb gewisser Grenzen rufen ^anz verschiedenartige Reize an der gleichen Form der lebendigen Substanz die gleichen Ersch einungen hervor, während umgekehrt der gleiche Reiz an verschiedenartigen Formen der lebendigen Substanz eine ganz verschiedene und für jede Form charakteristische Wirkung e r zeugt '•^j.

^) Vergl. pag. 22 und 47.

^) Vergl. hierzu E. Hering: „Ueber die specifischen Energieen des Nervensystems.'' In Lotos, Jahrl). f. Naturw. Prag, neue Folge Bd. V, 1884.

Sechstes Capitel. Vom Mechanismus des Lebens.

I. Der Lebens Vorgang.

A. Der StoftVechsel der Biogene.

1. Die Biogene.

2. Der Biotonus.

B. Die Wirkling der Reize auf den Stoffwechsel der Biogeue.

1. Die Veränderung des Biotonus bei totaler Reizung.

2. Die Interferenz von Reizwirkungen.

3. Die polare Veränderung des Biotonus und der Mecka- nismus der Axeneinstellung bei einseitiger Reizung.

II. Die Mechanik des Zelllebens.

A. Die Rolle von Kern und Protoplasma im Leben der Zelle.

1. Die Theorie von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle.

2. Kern und Protoplasma als Glieder in der StoflTwechsel- kette der Zelle.

B. Ableitung der elementaren Lebenserscheinungen aus dem Stoffwechsel der Zelle.

1. Die Stoffwechselmechanik der Zelle.

a. Stoffwechselschema der Zelle.

b. Mechanik der Aufnahme und Abgabe von Stoffen.

2. Die Formwechselmechanik der Zelle.

a. Das Wachsthum als Grunderscheinung des Form- wechsels.

b. Entwicklungsmechanik.

c. Structur und Flüssigkeit.

d. Vererbungsmechanik.

3. Die Energiewechselmechanik der Zelle.

a. Der Energiekreislauf in der organischen Welt.

b. Das Princip des chemischen Energiewechsels in der Zelle.

c. Die Quelle der Muskelkraft.

d. Theorie der Contractions- und Expansions - Be- wegungen.

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. A\ifl. Ol

482 Sechstes Capitel.

III. Die Verfassungsverliältuisse des Zellen Staates.

A. Selbständigkeit und Abhängigkeit der Zellen.

B. Differenzirung und Arbeitstheilung der Zellen.

C. Centralisation der Verwaltung.

Ein Princip, das schon die mythischen Vorstellungen der alten Culturvülker in poetischer Personiiication als die Ursache des ge- sammten Weltlebens hinstellten, ist es, welches auch nach dem Stande unserer heutigen wissenschaftlichen Erkenntniss den sämmtlichen Lebenserscheinungen zu Grunde liegt. Es ist dasselbe Princip, das bei den meisten Völkern in der Allegorie eines wechselnden Kampfes zweier feindlicher Gewalten einen uralten Ausdruck gefunden hat. Es ist das Leben und Sterben, das der alte Aegypter in den Gestalten des HoRus und Typhon personificirte, es ist das Blühen und Welken, das der Germane in die Sage vom Balduk und Loki kleidete, es ist der Kampf des Ahriman mit dem Ormuzd, in dem sich der Perser den Wechsel des Guten mit dem Bösen im Leben versinnlichte, es ist der Zwiespalt zwischen Gott und dem Teufel, in dem der mittel- alterliche Christ das alles erschaffende, positive Element in seinem Gegensatz zum alles zerstörenden „Geist, der stets verneint", erblickte, es ist endlich der ewige Wechsel von Werden und Vergehen, von Aufbau und Zerfall, der jedes lebendige Wesen beherrscht und alles lebendige Geschehen in der Welt erzeugt.

In der fortwährenden Bildung und Zersetzung von lebendiger Substanz, oder kurz in dem ununterbrochenen Stoffwechsel haben wir den eigentlichen Lebens Vorgang erkannt, der den körperlichen Lebenserscheinungen zu Grunde liegt. Jetzt, nachdem wir diese Lebenserscheinungen kennen gelernt, nachdem wir die Bedingungen, unter denen sie eintreten, untersucht, nachdem wir die Veränderungen, welche sie unter dem Einfluss äusserer Einwirkungen erfahren, fest- gestellt haben, jetzt sind wir an dem Punkte angelangt, wo wir versuchen müssen, die Brücke zwischen dem Lebens Vorgang und den Lebens- erscheinungen zu schlagen und, soweit es der jetzige Stand unserer Erfahrungen gestattet, die Lebenserscheinungen mechanisch aus dem Lebensvorgang abzuleiten, denn die Erforschung des Lebens- mechanismus bildet den Kernpunkt der ganzen Physio- logie der körperlichen Lebenserscheinungen.

I. Der Lebens Vorgang*.

Die Erfahrungen über die einzelnen Momente des Stoffwechsels der lebendigen Substanz sind, wie uns unsere frühere Behandlung dieses Gegenstandes ^) gezeigt hat, bisher leider noch sehr lückenhaft. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass wir von einer vollstän- digen Erforschung des Mechanismus der körperlichen Lebenserschei- nungen noch weit entfernt sind, und dass wir uns diesem Ziele in der Physiologie nur langsam nähern können. Ein Avesentlicher Fort- schritt in dieser Richtung ist aber nur von dem ein- gehenden Studium der Vorgänge in der Zelle zu erwarten,

') Vergl. pag. 103.

\'()Ui Älcclianisnms des [^clu'us. 483

denn die Zelle ist der Ort, wo der Lebens Vorgang selbst seinen Sitz hat, und wo wir bereits die sänimtlichen Lebenserscheinungen in ihrer einfachsten Form vor- finden. Solange sich die bisherige Orgaiipliysiologic, die nur die groben Leistung(3n des coniplicirten Zellenstaates zu erklären im Stande ist, nicht zu einer Cellnlari)liysiülogie weiter entwickelt, solange können wir nicht Jiofien, der Erkonntniss des feineren Lebensmecha- nismns wesentlich näher zu rücken. In dieser Richtung sind aber bisher nur die ersten Schritte gethan.

Versuchen wir es dennoch, uns auf Grund der bisherigen Er- fahrungen , soweit es möglich ist, ein Bild von dem Lebensvorgang in der lebendigen Substanz zu machen, so kann es begreiflicher Weise nur eine Skizze sein, in der die allgemeinsten Momente in groben Zügen angedeutet sind, eine Skizze, die aber für eine planmässige Weiterforschung unabweisbares ßedürfniss und nothwendige Grund- lage ist.

A. Der Stoffwechsel der Biogene.

1. D ie Biogene.

Wir haben in einem früheren Capitel gesehen, dass die Charak- teristik der lebendigen Organismen den scheintodten sowohl wie den todten gegenüber ganz allgemein betrachtet in dem Stoffwechsel liegt, dessen Ausdruck eben die Lebenserscheinungen sind. Es ist aber nothwendig, von dieser allgemeinen Thatsache aus noch einen Schritt weiter zu gehen.

Wenn wir uns erinnern, dass wir bei der Feststellung der che- mischen Verbindungen, welche die lebendige Substanz zusammensetzen, ausschliesslich auf die Untersuchung der todten Zelle angewiesen waren, so bleiben uns jetzt zur Vervollständigung unseres Bildes von der lebendigen Substanz noch zwei Fragen zu beantworten, nämlich erstens: kommen die chemischen Verbindungen, die wir in der todten Zelle ge- funden haben, auch in der lebendigen Zelle als solche vor, und zweitens : haben war in der lebendigen Zelle noch andere Verbindungen, die in der todten Zelle nicht mehr vorhanden sind, die also mit dem Leben der Zelle untrennbar verbunden waren?

Die erste dieser Fragen ist verhältnissmässig leicht zu entscheiden. Eine sorgfältige Vergleichung besonders der geformten Körper, die als Reservestoffe lange Zeit unverändert in der lebendigen Zelle zu ünden sind, mit den entsprechenden Stoffen der todten Zelle zeigt uns, dass sowohl Eiweisskörper, als Kohlehydrate, als auch Fette, also die drei Hauptgruppen der organischen Verbindungen, und ebenso deren Zersetzungsproducte, kurz die wesentlichen Stoffe, die wir in der todten Zelle gefunden haben, sämmtlich auch in der lebendigen Zelle vor- kommen.

Es bleibt also nur die Frage übrig, ob daneben auch noch Ver- bindungen in der lebendigen Substanz existiren, die sich beim Tode der Zelle zersetzen, so dass sie in der todten Zelle nicht mehr zu finden sind. Eine Vergleichung des chemischen Verhaltens der leben- digen und der todten Zellsubstanz zwingt uns in der That zu dieser Annahme. Die physiologische Chemie hat gezeigt, dass zwischen der

31*

484 Sechstes Capitel.

lebendigen und der todten Zellsubstanz ganz wesentliche chemische Unterschiede existiren, Unterschiede, die beweisen, dass die lebendige Substanz beim Sterben tiefgreifende chemische Veränderungen erfährt. Ein weit verbreiteter Unterschied zwischen der lebendigen und der todten Zellsubstanz besteht z. B. in ihrer Keaction, Die fast ausnahms- los alkalische oder neutrale Reaction der lebendigen Substanz geht mit dem Tode in der Regel in die saure Reaction über. Sehr be- merkenswerthe Veränderungen erfahren ferner gewisse Eiweisskör])er, die in der lebendigen Zellsubstanz in Lösung sind , wie z. B. das Myosin des Muskels. Diese Eiweisskörper gerinnen mit dem Tode und gehen in den festen Zustand über, der für weitere chemische Um- setzungen sehr ungeeignet ist. Aehnliche Veränderungen beim Sterben der lebendigen Substanz hat uns die physiologische Chemie in grösserer Zahl gezeigt. Alle diese Erfahrungen beweisen aber, dass in der lebendigen Substanz gewisse chemische Verbin- dungen beim Absterben Umsetzungen erfahren, so dass in der That in der lebendigen Zellsubstanz Stoffe exi- stiren, die in der todten Zell Substanz nicht mehr zu finden sind.

Der Umstand, dass diese chemischen Verbindungen nur in der lebendigen Substanz vorhanden sind und mit dem Tode zerfallen, zwingt uns zu dem Schluss, dass der Lebensvorgang aufs Engste mit ihrer Existenz verknüpft sein muss. Eine wichtige Eigenschaft dieser Stoffe ist jedenfalls ihre grosse Neigung zu Umsetzungen, die für das Leben ein unentbehrliches Moment bildet. Wenn wir daran denken, wie geringe Ursachen es sind , die den Tod der lebendigen Substanz herbeiführen können, wie fast alle chemischen Stoffe, die überhaupt in Wasser löslich sind , in chemische Wechselwirkung mit der leben- digen Zellsubstanz ti'eten, während sich die todte Zellsubstanz gegen die gleichen Einwirkungen meist ganz indifferent verhält, so müssen wir sagen, dass die Stoffe, welche die lebendige gegen- über der todten Zellsubstanz auszeichnen, eine sehr lockere Constitution besitzen.

Noch viel deutlicher werden wir zu diesem Schluss gedrängt, wenn wir die Thatsache des Stoffwechsels ins Auge fassen. Der Stoff- wechsel zeigt uns, dass die lebendige Zellsubstanz fortwährend zer- fällt und sich neu bildet, wie aus der fortwährenden Abgabe und Aufnahme von Stoffen hervorgeht. Dem gegenüber können wir die todte Zellsubstanz unter günstigen Bedingungen ausserordentlich lange aufbewahren, ohne dass sie nur eine Spur von den Stoffen ausscheidet, welche die lebendige Zellsubstanz dauernd abgiebt. Es muss also die lebendige Zellsubstanz gegenüber der todten durch den Besitz von Atomcomplexen ausgezeichnet sein , die sehr grosse Neigung zu che- mischen Umsetzungen haben und sich dauernd von selbst zersetzen. Die grosse Labilität dieser Atomcomplexe geht ferner auch aus der Thatsache hervor, dass ihre Umsetzungen durch geringe Einwirkungen von aussen noch bedeutend gesteigert werden können, wie die Erregung des Stoffwechsels durch Reize deutlich zeigt. Da aber der Stoff- wechsel den eigentlichen Lebensvorgang bidet, so sehen wir ohne ^A'eiteres, dass das Leben direct auf der Existenz dieser labilen Atomcomplexe beruht. Es ist daher gerechtfertigt, auf diese Stoffe näher einzugehen und ihrer Natur noch etwas weiter nachzuforschen.

Vom Mecliauismus des Lebens. 485

lieini Aufsuchen dieser bedeutsuineii Verbindungen lassen wir uns am besten von der Art der beim Stolfweehsel ausgeschiedenen Zer- setzungsj)roductt' leiten. Da hnden wir, dass sich unter anderen Stoften, Avie Kühlensäui'e, ^^'asser, Milchsäure etc., die nur die Kiemente Kohlen- stoff, Wasserstoff und Sauerstoff enthalten, auch Verbindungen linden, die stickstoffhaltig sind. Die stickstofffreien Zersetzungsproducte könnten möglicher Weise aus der Zersetzung von Kohlehydraten, Fetten etc. stammen, die stickstoffhaltigen dagegen können nur aus Umsetzung von Eiweisskörpern oder ihren Derivaten hervorgehen, denn diese sind die einzigen stickstoffhaltigen Körper, die in jeder lebendigen Substanz vorhanden sind. Dieser wichtige Umstand lenkt unsere Aufmerksamkeit also zunächst auf die Ei- weisskörper.

Dass wir damit in der That auf dem richtigen Wege sind, wn'rd sofort klar, wenn wir hier an die Reihe von Erfahrungen über die Eiweisskörper erinnern , die wir im Laufe unserer früheren Betrach- tungen gewonnen haben. Diese Erüihrungen zeigen uns zweifellos, dass es die Eiweisskörper sind, Avelche im Mittelpunkt des ganzen organischen Lebens stehen.

Eine Avichtige Thatsache ist schon die, dass die Eiweisskörper in allen Fällen, wo nicht grosse Mengen von Reservestoffen, Avie Fett, Stärke, Glykogen etc., in der Zelle aufgehäuft sind, bei Weitem die grösste Masse der organischen Verbindungen in der lebendigen Substanz ausmachen. Das Aveist bereits darauf hin, dass sie eine bedeut- same Rolle im Leben der Zelle spielen müssen. Die dominirende Stellung der EiAveisskörper unter den chemischen Verbindungen der lebendigen Substanz Avird aber ohne Weiteres klar durch den Umstand, dass die EiAveisskörper die einzigen Stoffe sind, die ausnahmslos mit Sicher- heit in jeder Zelle gefunden werden können. Dazu kommt ferner, dass die EiAveisskörper und ihre Verbindungen von allen AA'ichtigeren Stoffen der Zelle die höchste Complication ihrer chemischen Zusammensetzung aufweisen, dass die Eiweisskörper und ihre Ver- bindungen die grösste Anzahl verschiedenartiger Atome in ihren Mole- külen A'ereinigen. Dieser dominirenden Stellung der EiAveisskörper in der lebendigen Substanz entsprechen denn auch die Erfahrungen, welche Avir über die chemischen Beziehungen der stickstofffreien orga- nischen Stoffe, vor Allem der Kohlehydrate und Fette, zu den Eiweiss- körpern geAvonnen haben, denn Avir wissen, dass diese Stoffe, soAA^eit Avir ihr Schicksal überhaupt kennen, entweder zum Aufbau des Eiweiss- moleküls verbraucht werden oder aus den Umsetzungen des Eiweiss- moleküls hervorgehen. Das erstere zeigt uns naturgemäss am deut- lichsten die Pflanze, in der ja überhaupt alle organischen Verbin- dungen erst synthetisch aus einfacheren anorganischen Stoffen her- gestellt Averden. In der grünen Pflanzenzelle sehen AA'ir aus Kohlen- säure und Wasser das erste organische Product, die Stärke, synthetisch entstehen. Dieses Kohlehydrat bildet die organische Grundlage, aus der auf complicirtem, zum Theil noch unbekanntem Wege unter Mit- hülfe der aus dem Boden aufgenommenen Stickstoff- und schwefel- haltigen Salze sich das EiAveissmolekül synthetisch entwickelt. Auch vom Fett wissen wir, dass es in der Pflanze durch Umsetzungen zum Aufbau der Kohlehydrate dienen kann, die dann weiter das Material für die Bildung der Eiweisskörper abgeben, denn in den mit fetten Oelen erfüllten Samen der Paeonia verschwindet z, B. nach längerem

48(5 Sechstes Capitel.

Liegen an der Luft alles Oel, und dafür tritt Stärke an seine Stelle. Sehen wir einerseits in der Pflanze am deutlichsten, wie die verschie- denen Stoffe zum Aufbau des Eiweissmoleküls dienen, so können wir uns andererseits im Thier am besten von der Thatsache überzeugen, dass die wichtigsten stickstofffreien Atomgruppen der lebendigen Sub- stanz, vor Allem Kohlehydrate und Fette, auch aus dem Zerfall des Eiweissmoleküls stammen können ^). So hat Leo durch seine Phos- phor-Vergiftungsversuche an Fröschen und Franz Hofmann durch seine Versuche über die Ernährung von Fliegenmaden mit fettfreiem Blut gezeigt, dass Fett aus Eiweiss hervorgehen kann. So hat ferner schon Claude Bernard und neuerdings Merino an Hunden, die durch Hungern glykogenfrei gemacht waren, bewiesen, dass nach Ei- weissnahrung wieder Glykogen in grösserer Menge gebildet wird, dass also dieses Kohlehydrat aus Umsetzung des Eiweisses hervorgehen kann. So hat endlich Gaglio festgestellt, dass die Milchsäure im Körper aus dem Umsatz des Eiweissmoleküls stammt, da ihre Menge im Blut nur von der Menge des verzehrten Eiweisses abhängig ist. Von den stick- stofFhal tigen Ausscheidungsproducten des Körpers aber liegt es ohne Weiteres auf der Hand, dass sie nur aus dem Umsatz der Eiweiss- körper und ihrer Verbindungen herrühren können, da sonst unter den wesentlichen organischen Verbindungen der lebendigen Substanz keine stickstoffhaltigen weiter vorhanden sind. Den schlagendsten Beweis aber dafür, dass überhaupt alle Stoffe, sowohl stickstofffreie wie stickstoffhaltige, welche in der leben- digen Substanz der Zelle zum Leben nothwendig sind, aus ehemischen Um Setzungen derEiweisskörper stammen können, liefert uns eine der bedeutsamsten Thatsachen derPhysiologie, das ist die Möglichkeit, Fleischfresser mit reiner Eiweissnahrung dauernd am Leben und, wie Pflüger-) neuerdings gezeigt hat, bei grosser Leistungs- fähigkeit erhalten zu können. Keine Erscheinung be- leuchtet besser als diese Thatsache die Herrscher- stellung des Eiweissmoleküls im Lebensprocess.

Ergiebt sich also auf der einen Seite aus der Thatsache des StoflP- wechsels die Existenz sehr labiler Atomcomplexe in der lebendigen Substanz, mit deren Anwesenheit das Leben untrennbar verknüpft ist, so sehen wir auf der anderen Seite, dass es die Eiweisskörper sind, deren Vorhandensein die allgemein nothwendige Voraussetzung und den Angelpunkt des Lebens bildet. Suchen wir aber diese beiden Momente miteinander zu vereinigen, so entsteht die unvermeidliche Forderung, in der lebendigen Zell- substanz neben den bekannten Ei weisskörjDern, die sich auch in der todten Zellsubstanz vorfinden, noch gewisse Eiweisskörper oder Verbindungen von Eiweiss körpern anzunehmen, die nur im Leben vorhanden sind und mit ihrem Zerfall das Leben beschliessen.

Todtes Eiweiss, wie wir es etwa im todten Hühnerei finden, oder wie es z. B. in Fonn von Vitellinen in grösserer Menge auch in lebendigen Eizellen aufgespeichert ist, können wir, wenn es vor Bak- terien geschützt ist, ausserordentlich lange stehen lassen, ohne dass

1) Vergl. pag. 169.

^) Pflcger: „Die Quelle der Muskelkraft." In Pflügers Arch. Bd. L, 1891.

Vom Mocliiiiiisiims drs L(!l)eiis. 487

die geringste Zersetzung daran auftritt. Dagegen zersetzen sieh ge- wisse Eiweisskörper oder Kiweissverbindungen der lebendigen Substanz fortwährend von selbst, auch wenn sich dieselbe unter völlig nor- malen Bedingungen befindet, und die geringste Einwirkung von Reizen steigert die Zersetzung noch mehr, wie aus den abgegebenen Zerfalls- produeten hervorgeht. Pflüger*) hat daher, wie wir bereits an anderer Stelle'-) gesehen haben, schon vor längerer Zeit in seiner inhaltreichen Arbeit über die Oxydaticm in der lebendigen Substanz auf diesen wichtigen Unterschied zwischen dem Eiweiss in der todten und dem Eiweiss in der lebendigen Zellsubstanz aufmerksam gemacht und das letztere als „lebendiges Eiweiss" vom todten Eiweiss scharf ge- tremit. Der fundamentale Unterschied zwischen dem todten und dem „lebendigen Eiweiss" besteht eben darin, dass das todte Eiweissmolekül sich in einem stabilen Gleichgewichtszustande seiner Atome be find et, während das lebendige Eiweissmolekül eine sehr labile Con- stitution besitzt,

M'^enn wir uns so mit Pplüger zu der Annahme eines „leben- digen Eiweisses" gezwungen sehen, das die lebendige Zellsubstanz von der todten unterscheidet, und auf dessen lockerer Constitution der Schwerpunkt des ganzen Lebens beruht, so müssen wir uns doch sagen, dass dieses sogenannte „lebendige Eiweiss" ein Körper von wesentlich anderer Zusammensetzung sein muss, als die todten Eiweiss- körper, wenn auch, Avie aus der Beschaffenheit seiner Zersetzungs- producte hervorgeht, gewisse charakteristische Atomgruppen der Ei- weisskörper in ihm enthalten sind. Die grosse Labilität, welche ihn den anderen Eiweisskörpern gegenüber auszeichnet, kann nur bedingt sein durch eine wesentlich andere Constitution. Ferner wird ein kritischer Kopf mit Recht Anstoss daran nehmen, diese hypothetische Verbindung, die im Mittelpunkt des Lebensprocesses steht, als ein „lebendiges Eiweissmolekül" zu bezeichnen, denn es liegt ein gewisser Widerspi'uch darin , ein Molekül als lebendig zu bezeichnen. Lebendig kann nur etwas sein, was Lebenserscheinungen zeigt. Der Ausdruck „lebendige Substanz" ist daher wohl gerechtfertigt, denn die lebendige Substanz als Ganzes lässt ja Lebenserscheinungen sehen. Ein Molekül aber kann schlechterdings keine Lebenserscheinungen zeigen, solange es als solches existirt; denn treten irgend welche Ver- änderungen an ihm auf, so ist es schon nicht mehr das ursprüng- liche Molekül, und bleibt es als Molekül unverändert, so fehlen eben die Lebenserscheinungen an ihm. Die Lebenserscheinungen, die ja auf chemischen Vorgängen beruhen, können nur mit dem Auf- bau oder mit dem Zerfall des betreffenden Moleküls verbunden sein, und so ist es aus doppelten Gründen wohl gerechtfertigt, die Ver- bindung, die im Angelpunkt des Lebens steht, mit einem anderen Namen zu belegen. Um diesen Körper einerseits von den todten Eiweisskörpern zu unterscheiden und andererseits seine hohe Bedeu- tung für das Zustandekommen der Lebenserscheinungen anzudeuten, scheint es zweckmässig, den Namen „lebendiges Eiweiss" zu ersetzen durch die Bezeichnung „Biogen". Die Ausdrücke „Plasmamolekül",

^) Pflüger : „Uebei* die physiolog^ische Verbrennung in den lebendigen Organismen." In Pflüger's Arch. Bd. X, 187-5.' 2) Vergl. pag. 308.

488 Sechstes Capitel.

„Plassonmolekül", „Plastidul" etc^ die Elsberg i) und Haeckel^) an- gewendet haben, und die sich begrifflich ziemlich mit dem Ausdruck „Biogenmolekül" decken, sind insofern weniger zweckmässig, als sie leicht den Anschein erwecken, dass das Pro to pl asma ein chemisch einheitlicher Körper wäre, der aus lauter gleichartigen Molekülen be- stände, eine Anschauung, die ausdrücklich zurückgewiesen werden muss. Protoplasma ist nur ein morphologischer Begriff, kein chemischer^).

Was wir von den Biogenen wissen, ist ausserordentlich wenig, und wir dürfen uns nicht verhehlen, dass wir uns hier bereits auf einem noch sehr dunklen Gebiet der Physiologie befinden. Allein da wir noch nicht einmal die Constitution der Eiweisskörper selber einigermaassen sicher kennen, die wir doch jeden Augenblick chemisch zu untersuchen in der Lage sind, ist es begreiflich, dass wir über die Biogene, deren Zusammensetzung wir überhaupt nur aus ihren Zer- fallsproducten erschliessen können, noch viel -v^^eniger Erfahrungen be- sitzen. Was wir von ihnen behaupten können, ist eigentlich nur ihre ungemeine Labilität, die ihnen eine gewisse Aehnlichkeit mit ex- plosiblen Körpern giebt. Dennoch hat Pplitger'^) in höchst geistreicher Weise gewisse Thatsachen zu verwerthen gewusst, um daraus Schlüsse auf einzelne Eigenthümlichkeiten der Biogene zu gewinnen, die auch die grosse Labilität des Biogenmoleküls gegenüber dem todten Eiweiss- molekül verständlich machen.

Der Ausgangspunkt für Pflüger's Erörterungen ist eine Ver- gleichung der Zersetzungsproducte, welche fortwährend von selbst entstehen bei der Oxydation des lebendigen Eiweisses, wie sie in der Athmung stattfindet, mit denen, welche durch künstliche Oxydation des todten Eiweisses gewonnen werden. Dabei zeigt sich die wichtige Thatsache, dass die stickstofffreien Zersetzungsproducte in beiden Fällen im Wesentlichen übereinstimmen, während die Stickstoff h a 1 1 i g e n nicht die geringste Aehnlichkeit besitzen. „Daraus folgt zunächst, dass das lebendige Eiweiss im Bereiche seiner Kohlenwasserstoff-Radi- cale nicht wesentlich verschieden vom Nahrungseiweiss ist." Der wichtige Unterschied zwischen beiden liegt vielmehr in der Anord- nung der stickstoffhaltigen Atomgruppen. Prüfen wir aber die stick- stoffhaltigen Zersetzungsproducte des lebendigen Eiweisses, wie Harn- stoff, Harnsäure, Kroatin etc., sowie die Nukleinbasen : Adenin, Hypoxanthin, Guanin und Xanthin, so finden wir, dass sie im Gegen- satz zu den stickstoffhaltigen Zerfallsproducten, die bei Oxydation des todten Eiweisses auftreten, theils aus Cyanverbindungen künstlich hergestellt werden können, theils selbst das Cyan CN als Radical enthalten. Es ist also im höchsten Grade wahrscheinlich, dass der Kohlenstoff und der Stickstoff im Biogen- molekül zu Cyan vereinigt sind, ein Radical, das den todten Ei Weisskörpern fehlt.

Damit ist ein ganz fundamentaler Unterschied in der Constitution der Biogene und der todten Eiweisskörper gegeben, der auch die grosse

^) Elsberg: In Proceedings of the American Association. Hartford 1874.

2) Haeckel: „Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenbewegung der Lebenstheilchen." Berlin 1876.

^) Vergl. pag. 83.

*) Pflüger: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen." In Pflüger s Arch. Bd. X, 1875.

Vom Mci-liaiiisinus des Lebens. 489

Labilität dos Biogeiiniolcküls erklärt, denn das Cyan ist ein Kadical, das eine grosse innere Knergienienge enthält, so dass die Cyan- verbindungen sämmtlich starke Neigung zum Zerfall besitzen. Diese Thatsaclie giebt uns auch ein Verständniss des Athmungsprocesses, denn wenn im Biogenniolekül zwei Sauerstoftatome in den Bereich des sehr labilen Cyanradieals kommen, so wird sich bei den lebhaften intramolekularen Sehwingungen des Kohlenstoff- und Stickstoilatoras im Cyan das Kohlcnatom mit denselben zu dem sehr stabilen Kohlen- säuremolekül vereinigen. In der That ist auch das Cyan sehr leicht verbrennlich und liefert Kohlensäure bei der Verbrennung. )So stellt sich Pflüger vor, dass die fortwährende Aufnahme von Sauerstoff" und Abgabe von Kohlensäure seitens der lebendigen Substanz auf der Anwesenheit des Cyanradieals beruht, und dass der intramolekulare Sauerstoff' die Zersetzbarkeit der lebendigen Substanz wesentlich mit bedingt.

Nach diesen Betrachtungen gewinnen Avir einen Anhaltspunkt für die Art und Weise, wie die Bildung eines Biogenmoleküls aus der aufgenommenen Nahrung in der thierischen Zelle erfolgt. Das mit der Nahrung eingeführte todte Eiweissmolekül erfährt in der Zelle durch Mitwirkung der schon vorhandenen Biogene eine Umlagerung seiner Atome in der Weise, dass unter Wasseraustritt sich immer ein Stickstoftatom mit je einem Kohlenstoftatom zum Cyanradical gruppirt. Die Veränderungen, die dabei notlnvendig im Bereich der übrigen Atomgruppen des Eiweissmoleküls auftreten, entziehen sich zwar vor- Ululig ganz unserer Kenntniss, scheinen aber, wenn wir nach der wesentlichen Uebereinstimmung der stickstofffreien Zersetzungsproducte des lebendigen und des todten Eiweisses urtheilen dürfen, nicht von einschneidender Bedeutung zu sein. Durch die intramolekulare Ein- fügung des eingeathmeten Sauerstoffs gelangt schliesslich das Biogen- molekül auf den Höhepunkt seiner Zersetzbarkeit, so dass es nur sehr geringer Anstösse bedarf, um die Vereinigung der Sauerstoffatome mit dem Kohlenstoffatom des Cyans herbeizuführen. Das Material der bei dem explosiven Zerfall des Biogenmoleküls abgesprengten stickstoff- freien Atomgruppen kann vom Rest des Biogenmoleküls leicht Avieder auf Kosten der in der lebendigen Substanz vorhandenen Kohlehydrate und Fette, die solche Gruppen enthalten, regenerirt werden, und in der That sahen Avir ja auch, dass die letzteren zum Aufbau der EiAveiss- körper verbraucht Averden. „Das ist wahrscheinlich die wesentliche Bedeutung dieser Satelliten des Eiweissmoleküls", wie Pflüger sehr treffend die Kohlehydrate und Fette bezeichnet. Stirbt die lebendige Substanz endlich ab, so geht die labile cyanartige Bindung des Stick- stoffs unter Wasseraufnahme Avieder in den stabileren Zustand des Ammoniakradicals über, indem sich der Stickstoff mit dem Wasserstoff des Wassers vereinigt. Dann haben Avir wieder die stabilen Verbin- dungen des todten Eiweisses, wie es zur Nahrung gedient hat. Das sind in Kurzem einige wesentliche Punkte von dem abgekürzten Wege, den die Nahrung bis zum Aufbau des Biogenmoleküls in der thie- rischen Zelle durchläuft. Der viel längere Weg, der in der Pflanzenzelle A^on der Aufnahme der einfachsten anorganischen Verbindungen über die Synthese der ersten Kohlehydrate bis zum Auf- bau der Biogene führt, ist zur Zeit noch in viel grösseres Dunkel gehüllt.

Müssen Avir uns auch immer Avieder vergegenAvärtigen , dass die hier entAvickelten Vorstellungen zum. Theil noch erst ihrer Bestätigung

490 Sechstes C;ipitel.

durch das Experiment harren, und dass sie noch viele grosse Lücken enthalten, die sich nur langsam werden ausfüllen lassen, so liefern sie uns doch wenigstens einen ersten Anhaltspunkt für das Verständniss der fundamentalen Vorgänge in der lebendigen Substanz. Wir linden, dass der Stoffwechsel der lebendigen Substanz, der die Basis des ganzen Lebens bildet, bedingt ist durch die Existenz gewisser sehr labiler Verbindungen, welche den Eiweisskörpern am nächsten stehen und wegen ihrer elementaren Bedeutung für das Leben am besten als Biogene bezeichnet werden. Die Biogene zerfallen in gewissem Maasse fortwährend von selbst, wie sich auch andere organische Körper, z. B, die Blausäure, fortwährend von selbst zersetzen. Be- deutend umfangreicher aber wird der Zerfall der Biogene, wenn auch nur geringe äussere Reize auf die lebendige Substanz einwirken. Wir haben uns den Zerfall etwa so zu denken , dass bei den äusserst lebhaften intramolekularen Schwingungen der Atome, die den labilen Zustand hervorrufen, gewisse Atome theils von selbst, theils in Folge äusserer Erschütterungen in die Wirkungssphäre anderer gerathen, zu denen sie grössere Affinität besitzen, als zu ihren ursprünglichen Nachbarn, so dass auf diese Weise stabilere Atomgruppirungen ent- stehen und als selbständige Verbindungen abtreten. Wir können die Biogene in dieser Beziehung den explosiblen Körpern vergleichen, die ebenfalls einen sehr labilen Gleichgewichtszustand ihrer Atome besitzen und bei Erschütterungen explodiren , d. h. ihre Atome in stabilere Verbindungen übergehen lassen, Avie z. B. das zum Dynamit ver- wendete Nitroglycerin oder Salpetersäure-Triglycerid, das auf mecha- nische Stösse oder elektrische Schläge hin in Wasser, Kohlensäure, Stickstoff und Sauerstoff zerfällt:

2 C3H5(ON02)3 = 5 H2O -i- 6 CO2 4- 6 N 4- O.

Allein den anderen explosiblen Körpern gegenüber müssen wir offen- bar den Biogenen die Eigenthümlichkeit beilegen, dass nicht das ganze Molekül beim Zerfall zu Grunde geht, sondern dass nur ge- wisse, durch die Umlagerung sich bildende Atomgruppen abgesprengt werden, während sich der zurückbleibende Biogenrest auf Kosten der in seiner Umgebung befindlichen Stoffe wieder zu einem vollständigen Biogenmolekül regenerirt, ebenso wie sich bei der Fabrikation der englischen Schwefelsäure^) die aus der Salpetersäure durch Abgabe von Sauerstoff entstandene Untersalpetersäure mit Hülfe des Sauer- stoffs der Luft immer wieder zu Salpetersäure regenerirt. Die neben den Biogenen in der lebendigen Substanz noch vorhandenen Stoffe sind nur die „Satelliten" des Biogenmoleküls und dienen entweder zum Aufbau oder stammen aus den Umsetzungen desselben. Es sind bisher keine Stoffe in der lebendigen Substanz bekannt geworden, die nicht zu der Geschichte der Biogene in irgend welcher näheren oder weiteren Beziehung ständen. Dagegen müssen wir aus der Ver- schiedenheit der Zersetzungsproducte, die von verschiedenen Zell- formen im Stoffwechsel der lebendigen Substanz ausgeschieden werden, mit grösster Wahrscheinlichkeit folgern, dass das Biogenmolekül nicht in allen Zellen genau die gleiche chemische Zusammensetzung hat, sondern dass es verschiedene Biogenkörper giebt, und dass sogar nicht bloss die Biogene verschiedener Zellen, sondern auch verschiedener

1) Vergl. pag. 128.

Vom Meclianisinus des LeljLiis. 491

DiflForonzirun^cii derselben Zell»-, wie z. li. des Exoplasmas, der Myoide oder eoutraetilen Faden, di-r Mii.skflribrillen, der \\'impern etc., auch verschiedene Constitution haben werden, wenn sie aucli im wesentlichen Bau übereinstimmen. DieBiogene sind also die eigentlichen Träger des Lebens. In dem fortwährenden Zerfall und Wiederaufbau derselben besteht der Vorgang des Lebens, dessen Ausdruck die mannigfachen L e ij e n s - e r s c ii e i n u n ir e n s i n d.

2. Der Bi o to n u s.

Nachdem wir in dem Aufbau und Zerfall der Biogene den ein- fachsten schematisehen Ausdruck des elementaren Lebensvorgangs kennen gelernt haben , müssen wir nunmehr gewisse Verhältnisse des Stoffwechsels, welche sich daraus ergeben, noch etwas näher ins Auge fassen und einige Begriffe fixiren, die zur Klärung der Vorstellungen über den Stoffwechsel von Wichtigkeit sind.

Wir erinnern uns, dass wir im Stoffwechsel zwei verschiedene Phasen unterschieden, die Assimilation nnd die Dissimi lation. Unter der Assimilation verstanden wir die Eigenschaft der lebendigen Substanz, aus den aufgenommenen Nahrungsstoffen fortwährend ihres- gleichen aufzubauen ; unter Dissimilation , fortwährend wieder in die von ihr ausgeschiedenen Producte zu zerfallen. Nach unserer obigen Feststellung können wir aber diesen Begriff in einer festeren Form fassen und sagen: die Assimilation ist die Gesammtheit aller der- jenigen Umsetzungen, welche zum Aufbau der Biogene führen, während die Dissimilation alle diejenigen Umsetzungen umfasst, welche vom Zerfall der Biogene bis zur fertigen Bildung der ausgeschiedenen Producte reichen.

Eine solche feste Definition dieser beiden Grundbegriffe der ganzen Stoöwechsellehre ist durchaus nothwendig, denn wenn wir einen Blick auf die Geschichte derselben werfen, finden wir, dass sie vielfach in sehr verschiedener Bedeutung angewendet wurden. Der Begriff der Assimilation, der ursprünglich ganz allgemein die Bildung lebendiger Substanz aus der todteu Nahrung im Organismus be- zeichnete, ist von den Botanikern bald in einem ganz speciellen Sinne gebraucht worden. Die Pflanzenphysiologie bezeichnet noch heute zum grossen Theil mit Assimilation ausschliesslich die Synthese der Stärke aus Wasser und Kohlensäure in den Chlorophyllkörpern der grünen Pflanzenzelle. Dieser eng gefasste Begriff' ist aber allmählich, und zwar auf thierphysiologischer Seite, erweitert und nicht bloss für die Synthese des ersten organischen Products, sondern auch für den Aufbau der complicirteren Verbindungen der lebendigen Substanz, vor Allem der jeder Zellform eigenthümlichen Eiweisskörper, aus den aufgenommenen Nahrungsstoffen angewendet worden. Dem gegenüber hat Ewald Hering M den Begrift' der Assimilation wieder enger ge- fasst und in einer inhaltreichen kleinen Arbeit die Assimilation scharf vom Wachsthum getrennt, wobei er unter Assimilation nur die chemische Veränderung schon vorhandener Tlieilchen in qualitativer Hinsicht, und zwar die Vervollständigung der Tlieilchen zum Höhe-

^) E. Hering: „Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz." In Xotos", Bd. IX. Prag 1888.

492 Sechstes Capitel.

punkt ihrer Constitution versteht, unter Wachsthum dagegen keine qualitative Veränderung, sondern eine nur quantitative Vermehrung der vorhandenen Theik'hen begreift. Dazu hat Hering zuerst den Begriff der Dissimihition geschaffen und ihn der Assimilation an die Seite gestellt, Avobei er wieder die entsprechende Unterscheidung zwischen Dissimilation und Schwund wie zwischen Assimilation und Wachsthum traf und als Dissimilation nur die mit der Abtrennung gewisser Stoffe aus den vorhandenen Theilchen verbundene qualitative Veränderung, als Schwund dagegen die nur quantitative Verminderung der Theilchen bezeichnete. Allein diese scharfe Trennung von Assi- milation und Dissimilation einerseits und Wachsthum und Schwund andererseits dürfte sich, wenigstens sofern die ersteren auf rein quali- tativen, die letzteren auf rein quantitativen Veränderungen der leben- digen Substanz begründet gedacht Averden, doch kaum aufrecht er- halten lassen. Wir wissen, dass die Bildung lebendiger Substanz nur unter Mithülfe schon vorhandener lebendiger Substanz stattfindet. Nur wo lebendige Substanz schon existirt, können sich neue Mengen lebendiger Substanz bilden. Das gilt selbst von der Pflanzenzelle, in der die lebendige Substanz in grossem Maassstabe erst aus rein anor- ganischen Stoffen producirt wird. Wir müssen daraus schliessen, dass das Biogenmolekül selbst es ist, welches beim Wachsthum die zur Bildung von lebendiger Substanz nothwendigen Elementarstoffe aus der Nahrung an sich zieht und chemisch bindet, sich also beim Wachsen qualitativ verändert. Die Neigung der Eiweisskörper überhaupt und ebenso der vermuthlich im Biogenmolekül vorhandenen cyanhaltigen Atomgruppen zur Polymerisation lässt uns, wie schon PflIjoer betont hat, dieses Wachsthum durch chemische Bindung ohne Weiteres ver- stehen. Andererseits ist auch der Schwund nicht anders denkbar als durch chemischen Zerfall, also durch qualitative Veränderung der lebendigen Theilchen. Aber selbst wenn Avir demnach die Regeneration gCAA'isser Theile des Biogenmoleküls A^on der Neubildung ganzer Biogenmoleküle sowie dementsprechend die Absprengung einzelner Atomgruppen A^on dem vollständigen Zerfall des Moleküls unterscheiden können und sogar unterscheiden müssen, so sind das doch immer chemische Veränderungen, die entAveder auf den Aufbau oder auf den Zerfall von fertigen Biogenmolekülen gerichtet sind. Die Regene- ration ist nur e i n T h e i 1 a^ o r g a n g der Bildung eines neuen B i 0 g e n m 0 1 e k ü 1 s , und ebenso ist die Abspaltung ge- wisser A 1 0 m gr u p p e n nur eine T h e i 1 e r s c h e i n u n g des voll- ständigen Zerfalls. Auch Hatschek^) hat in einer Hypothese über das Wesen der Assimilation das Wachsthum mit diesem Vorgang in Beziehung gesetzt, indem er annimmt, dass das einfache Molekül des lebendigen EiAveisses beim Wachsen fortwährend Elementarstoffe aus der Nahrung an sich zieht, bis es zu einem polymeren Molekül gcAvorden ist, um dann gelegentlich Avieder in die einfachen Moleküle zu zerfallen, die A'on Neuem durch Bindung der nöthigen Atome und Atomgruppen sich chemisch allmählich zu einem polymeren Molekül entAvickeln u. s. f. Hatschek sieht also ebenfalls im Wachsen einen chemischen Vorgang, der nicht principiell von der Regeneration ver- schieden ist. Nach alledem scheint es zAveckmässig, die Begriffe der

^) B. Hatschek: „Hypothese über das Wesen der AssimiLitiou, eine vorläufige Mittheilung." In „Lotos'-'Bd. XIY. Prag 1S94.

Vom Mechauismns des Lebens. 493

Assimilation und der Dissimilation in dem allgemeineren Sinne an- zuwenden, dass darunter aueli die Bildung neuer und der Schwund alter Moleküle einbegriffen ist, und ihnen die obige feste Fassung zu geben :

Assimilation ist die Gesammtheit aller derjenigen Umsetzungen, welche zum Aufbau der Biogen c führen, während die Dissimilation alle diejenigen Umsetzungen umfasst, welche vom Zerfall derßiogene bis zur fer- tigen Bildung der ausgeschiedenen Producte reichen.

Es ist aber wichtig, auf das Verhältniss von Assimilation zu Dissimilation etwas näher einyAigehen. Wir Avissen, dass die lebendige Substanz fortwährend in Dissimilation und Assimilation begriffen ist. Hering stellt sich dabei vor, dass diese Processe, die den Stoffwechsel der lebendigen Substanz ausmachen, „in allen kleinsten Theilen des letzteren zugleich stattfinden". Auch hierin hat bereits Hatschek eine abweichende Ansicht ausgesprochen und die Schwierigkeit der Vor- stellung betont, „dass das Eiweissmolekül gleichzeitig Kohlenstoff aufnehme und abspalte". In der That ist es, wenn man nur ein ein- zelnes Theilchen ins Auge fasst, sehr schwierig, sich diesen Vorgang anschaulich vorzustellen, denn die Abspaltung und die Regeneration irgend welcher Atomgruppen von einem Molekül schliessen sich zeitlich aus und können, wenn auch momentan, so doch genau genommen immer nur nach einander stattfinden, falls man nicht annehmen Avill, dass die entsprechenden Atomgruppen, die sich an einer Stelle vom Molekül abtrennen, sich an einer anderen wieder anlagern, eine Vor- stellung, die aber Hering selbst zurückweist, indem er gerade betont: „wir dürfen uns nicht verführen lassen, uns die lebendige Substanz etwa wie eine innerlich ruhende Masse vorzustellen, welche nur von der einen Seite her verbraucht und von der andern Seite her wieder aufgebaut wird". Wenn Avir uns nun zwar die Dissimilation und Assimilation des einzelnen kleinsten Theilchens oder Biogenmoleküls nicht absolut gleichzeitig vorzustellen vermögen , so kann dennoch innerhalb einer grösseren Masse lebendiger Substanz sehr wohl Assimilation und Dissimilation gleichzeitig stattfinden. Aber in diesem Falle sind es stets verschiedene Moleküle, die im gleichen Zeit- moinent zerfallen und sich aufbauen, denn immer nur die im gegebenen Moment vorhandenen Biogenreste können sich regeneriren, und um- gekehrt können immer nur die vorhandenen fertigen Biogenmoleküle zerfallen.

Bleiben wir bei einer grösseren Menge lebendiger Substanz, wie sie etwa in einer Zelle enthalten ist, und fassen Avir das quantitative Verhältniss von Assimilation zu Dissimilation ins Auge, so finden wir dasselbe sehr wechselnd und schon ohne Einwirkung von Reizen innerhalb Aveiter Grenzen schAA^ankend. Dieses Verhältniss A'on Assimi- lation zu Dissimilation in der Zeiteinheit, das AA'ir durch den Bruch

A

zpT ausdrücken können und der Kürze Avegen als „Biotonus" be- zeichnen wollen, ist A^on elementarer Bedeutung für die verschiedensten Erscheinungen des Lebens. Die Schwankungen in der Grösse des

Bruches =r sind es, welche allen Wechsel in den Lebensäusserungen eines jeden Organismus hervorbringen.

494 Sechstes Capitel.

A

Wenn wir den Biotonus durch den Bruch ^z ausdrücken, so ist

das freilicli nur eine allgemeine Form. In ^Wirklichkeit sind die Assimilation und Dissimilation keine einfachen Processe, vieiraehr sind die Vorgänge, welche zum Aufhau des Biogenmoleküls und zur Bildung der Zerfallsproducte führen, sehr complicirt und bestehen aus vielen, eng miteinander verflochtenen Gliedern. Daher müssen wir, wenn wir den Biotonus in einer specialisirten Fassung ausdrücken wollen, dem

Bruch die Form geben j— j t^— p— ; ,^ ' ' ', wobei a, a.^, Ho, ag

d 4- cii -r CI2 -f clg -]- . . .

u. s. w. , sowie d , dj , dg , dg u. s. w. die Theilprocesse vorstellen,

welche alle zum Aufbau des Biogenmoleküls und zur Bildung der

einzelnen Zersetzungsproducte führen.

Bei unserer ausserordentlich geringen Kenntniss von den specielleren Umsetzungen, die in der lebendigen Substanz stattlinden, ist es zur Zeit gänzlich ausgeschlossen, die mannigfaltigen Möglich- keiten, welche sich aus der Aenderung der einzelnen Glieder des Biotonusquotienten ergeben, auch nur annähernd zu übersehen. Wir wollen daher hier auch nur einige der wächtigeren von den bekannten Fällen anführen.

Wenn die Summe der sämmtlichen Glieder der A-Reihe gleich der Summe der Glieder der D-Reihe ist, d. h. wenn Assimilation und Dissimilation gleich gross sind in der Zeiteinheit, so ist der Bruch

A

Y^ = 1. Wir haben diesen Fall in dem Zustande, den wir als Stoff- wechsel-Gleichgewicht bezeichnen. Das heisst, es ist in der Zeiteinheit die Summe der ausgeschiedenen Stoffe jeder Art gleich der Summe der aufgenommenen Stoffe.

Werden die einzelnen Glieder der A-Reihe in gleichem Verhält- niss zu einander grösser, w^ährend die Glieder der D-Reihe gleich bleiben oder abnehmen, so dass in der Zeiteinheit die Summe der A-Glieder grösser ist, als die Summe der D-Glieder, so wird der Stoff-

A

Wechselquotient :j=:r>> 1. Dieser Fall ist verwirklicht im Wachsthum,

wo die Neubildung von lebendiger Substanz den Zerfall überwiegt.

Wachsen dagegen umgekehrt die Glieder der D-Reihe proportional zu einander, während die der A-Reihe unverändert bleiben oder auch

A

kleiner werden, so wird der Biotonus y-<<l. Dieses Verhältniss liegt

der Atrophie zu Grunde und führt schliesslich zum Tode.

Allein es ist durchaus nicht nothwendig, dass sich die sämmt- lichen Glieder der einen oder der anderen Reihe immer gleichzeitig und einander proportional verändern, vielmehr können auch einzelne Glieder unabhängig von anderen zu- oder abnehmen. So kann z. B. in einem Organismus der Kohlenstoffwechsel gesteigert sein, ohne dass der Stickstoffwechsel eine entsprechende Steigerung erfährt. So ent- steht z. B. die Bildung und Anhäufung von Reservestoffen, die später wieder verbraucht werden. Auf derartigen Aendo'ungen einzelner Glieder der beiden Reihen beruhen alle die Erscheinungen, welche im Laufe der Entwicklung an einem Organismus auftreten. Es besteht also, wie gerade am besten die während der Entwicklung auftretenden Veränderungen zeigen, in vielen Fällen eine gewisse Unabhängigkeit

Vom Rlecliiiiiisimis des Lelii-ns. 495

tlcr einzelnen Glieder des Sti)ffweeh.scls von einander. Dem j:?ep^eniiber giebt es sehr viele Fälle, in denen nielit nur die einzelnen Glieder einer jeden Reihe, sondern auch die beiden Reihen selbst von einander in der Weise abhängig sind, dass jede Veränderung der einen Reihe aueh die gleiehsinnige Veränderung der anderen Reilie zur Folge hat. Haben wir z. B. Stoirweehselgleiehgewicht, und wächst der Zähler des Bruches, so wächst aueh dm- Nenner in gleichem Maasse. Ninnnt der Nenner ab, so thut d(!r ZiUder dasselbe. Älit andt;ren Worten: jede Steigerung der Assimihition hat eine ents})recliende Steigerung der Dissimilation zur Folge. Auf diese Weise bleibt der StofFwechsel-

quotient vr stets -= 1 , d. h. es bleibt trotz der absoluten Aenderung

der Stoffwechselgrösse doch immer Stoffwechselgleiehgewicht bestehen. Sehr treftend bezeichnet Hering diese Erhaltung des Gleichgewichts als „innere Selbststeuerung. des Stoffwechsels der leben- digen Substanz". Eine solche Selbststeuerung des Stoffwechsels innerhalb bestimmter Grenzen ist z. B. beim Menschen verwirklicht in dem Verhalten des Körpers gegenüber dem eingeführten Stickstoff. Von einer bestimmten Menge des eingeführten Eiweisses an, die Voit auf etwa 118 gr für den arbeitenden Mann ermittelt hat, besteht dauernd Stickstoffgleichgewicht, d. h. je mehr Stickstoff im Eiweiss eingeführt wird , um so mehr wird auch im Harn wieder ausge- schieden, ein Zeichen, dass die Dissimilation des Eiweisses in demselben Maasse Avächst wie die Assimilation.

Allein dieses letztere Beispiel führt uns schon hinüber zu der Wirkung der Reize auf den Biotonus, die war etwas ausführlicher be- trachten müssen.

B. Die Wirkung der Reize auf den Stoffwechsel der Biogene.

1 . Die Veränderung des B i o t o n u s bei totaler Reizung.

Wir haben gesehen, dass die Biogene sehr labile Verbindungen mit grosser intramolekularer Wärme sind, mit anderen Worten, dass die Atome ihres Moleküls sich in lebhaften Schwingungen belinden, in Folge deren gewisse Atome gelegentlich in die Anziehungssphäre anderer gelangen, mit denen sie, zu einer festeren Verbindung ver- einigt, sich als selbständiges Molekül abtrennen. So erfolgt auf Grund der grossen intramolekularen Wärme die spontane Dissimilation des Biogenmoleküls. Die durch den Austritt der abgetrennten Atomgruppen verfügbar gewordenen chemischen Afünitäten haben aber an den Stoffen der aufgenommenen und in mannigfacher Weise umgeformten Nahrung die Möglichkeit, sich gelegentlich wieder zu binden, so dass sich der Biogenrest wieder zu einem ganzen Biogenmolekül regeneriren kann. So erfolgt im Anschluss an die spontane Dissimilation die spontane Assimilation des Biogenmoleküls.

Da die Dissimilation der Biogene durch die intramolekularen Schw^ingungen der Atome bedingt ist, so liegt es auf der Hand, dass alle Factoren, welche die intramolekularen Schwn'ngungen der Atome ver- stärken, den Dissimilationsprocess unterstützen müssen. So erklärt sich der erhöhte Zerfall der lebendigen Substanz, der bei Einwirkung chemischer, mechanischer, thermischer, photischer, galvanischer Reize

496 Sechstes Capitel.

eintreten kann. Sind die äusseren Einwirkungen so stark, dass ein tiefergreifender Zerfall des Moleküls vor sich geht, und kein regene- rationsfähiger Rest mehr zurückbleibt, so erfolgt eine Abnahme der lebendigen Substanz und bei Ueberreizung schliesslich der Tod. Dem gegenüber werden alle Factoren, welche die intramolekularen Schwingungen der Atome im Biogenmolekül vermindern, Avie z. B. Abkühlung, ferner Einwirkung solcher Stoffe, die einzehie Atome in bestimmter Lage durch chemische Anziehung fixiren etc., den Dissimi- lationsprocess lähmen. Wir wollen alle diese Reize, die den Dissimi- lationsvorgang entweder erregen oder lähmen, als dissimi- latorische Reize bezeichnen.

Auf der anderen Seite ist es klar, dass auch die Assimilation durch äussere Einwirkungen befördert werden kann. Da der Assimi- lationsvorgang auf der Bindung chemischer Affinitäten beruht, die sowohl der Biogenrest, als auch das fertige Biogenmolekül selbst besitzt, Avie aus seiner Neigung zur Polymerisation hervorgeht, so können alle diejenigen Factoren, Avelche die zur Bindung der vorhan- denen Affinitäten nothwendigen Stoffe herbeischaffen und in die geeignete Form bringen, den Assimilationsvorgang steigern. Vor Allem wird also in dieser Richtung Marken die erhöhte Zufuhr von Nahrungsmaterial und Sauerstoff, ferner bei grünen Pflanzenzellen die Einwirkung von Lichtstrahlen, die zur Spaltung der Kohlensäure und Verfügbar- machung des Kohlenstoffs nöthig ist, dann alle die Reize, welche die Production von Fermenten anregen, die zur Lösbarmachung fester Nahrungsstoffe erforderlich sind u. s. w. Aber umgekehrt wird es auch Factoren geben, welche den Assimilationsprocess lähmen. Das wird vor Allem ein Mangel an Nahrung und Sauerstoff, bei Pflanzen- zellen Mangel an Licht das Fehlen von Fermenten etc. sein. Wir wollen alle diese Factoren, die den Assimilationsvorgang entweder erregen oder lähmen, als assimilatorische Reize bezeichnen.

Wir können dann vier Avichtige Fälle der Reizwirkungen unter- scheiden. Die Reize können erzeugen :

1. Dissimilatorische Erregung,

2. Dissimilatorische Lähmung,

3. Assimilatorische Erregung,

4. Assimilatorische Lähmung.

Allein damit sind die Möglichkeiten nicht erschöpft. Bei der ausserordentlich engen Correlation, in der die einzelnen Vorgänge in der lebendigen Substanz untereinander stehen, und die, wie wir sahen, in gewissen Fällen eine vollkommene „innere Selbststeuerung des Stoffwechsels" bedingt, so dass z. B. jede Veränderung der Assimi- lation eine gleich starke Veränderung der Dissimilation zur Folge hat, ist es möglich, dass ein Reiz gleichzeitig eine dissimilatorische und assimilatorische Erregung oder eine dissimilatorische und assimi- latorische Lähmung herbeiführen kann. Wir müssen also den obigen vier Fällen noch hinzufügen:

5. Totale Erregung,

6. Totale Lähmung,

wobei noch zu berücksichtigen ist, dass die Erregung oder Lähmung verschiedene Glieder der Stoffwechselkette in ungleichem Maasse be- treffen kann.

Vum Mechanismus des Lebens. 497

Der Mög^liclikeiten sind aber noch mehr denkbar. Die ^innere Selbststeuerunji; des StortVeclisels" besteht niclit ül^erall und, wo sie besteht, nur innerhalb bestimmter Grenzen, denn witre sie immer und überall wirksam, so würde ein ewiges StofFwechselgleichgewicht be- stehen, untl kein Wachsthum, keine Entwicklung, kein Schwund wäre möglich. Wenn also die Selbststeuerung des Stoffwechsels nur in be- stimmten Füllen besteht, so sind andere Falle denkbar, in denen ein Reiz gleichzeitig eine assimilatorische Erregung und eine dissimilato- rische Lähmung oder umgekehrt eine assimilatorische Lähmung und eine dissimilatorische Erregung erzeugt. Es würden also als letzte denkbare Fälle der Keizwirkung zu den sechs vorstehenden noch hinzukommen :

7. Assimilatorische Erregung -f- dissimilatorische Lähmung,

8. Assimilatorische Lähmung -|- dissimilatorische Erregung.

Diese verschiedenen Möglichkeiten der Reizwirkung, die Hering ^) in seiner kleinen Abhandlung über die Vorgänge in der lebendigen Sub- stanz ausführlicher behandelt hat, geben uns schon einen Begriff davon, in wie mannigfacher Weise sich der Biotonus der lebendigen Substanz unter dem Einfluss verschiedener Reize ändern kann. Und doch sind die Verhältnisse in Wirklichkeit noch viel complicirter. Wenn wir uns erinnern, dass der Zähler sowohl wie der Nenner des Bruches

A .

=^ eine ganze Reihe von einzelnen Gliedern repräsentirt, die sich in

gewissem Grade auch unabhängig von einander ändern können, dann erst gewinnen wir ein annäherndes Bild von der ganz ausserordent- lichen Mannigfaltigkeit der Wirkungen, welche die Reize in der leben- digen Substanz hervorrufen können.

Als wir die Wirkungen, welche die Reize an der lebendigen Zelle erzeugen, kennen lernten, da konnten war sie ihrer äusseren Er- scheinung nach in wenige Gruppen sondern. Wir fanden, dass die Veränderungen der spontanen Lebenserscheinungen , die durch die Reizung erzeugt werden, entweder quantitativer oder qualitativer Art waren. Die quantitativen Veränderungen bezeichneten wir, wenn sie in einer Steigerung der Lebenserscheinungen bestanden, als Er- regung; wenn sie durch eine Herabsetzung derselben charakterisirt waren, als Lähmung. Nach unserer vorstehenden Betrachtung ge- winnen wir nunmehr eine annähernde Vorstellung, wie ungemein complicirt in Wirklichkeit die Vorgänge sind, deren äusseren Aus- druck wir schematisch als Erregung und als Lähmung bezeichneten. Den Höhepunkt der Complication aber haben wir jedenfalls in den- jenigen Reizwirkungen zu sehen, welche den qualitativen Ver- änderungen der normalen Lebenserscheinungen zu Grunde liegen. Die metamorphotischen Processe der Nekrobiose, wie etwa die Amyloid- metamorphose, die uns als Typus dafür dienen kann, zeigen uns deut- lich, dass sich hier einzelne Glieder der A- und D-Reihe unab- hängig von einander langsam mehr und mehr verändern müssen; sonst könnten nicht Anhäufungen von einzelnen Stoffen entstehen, die normaler Weise gar nicht in der Zelle vorkommen. Wir haben in den metamorphotischen Processen eine Reizerscheinung, die durch

*) E. Herixg: „Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz." In ,Lotos" Bd. IX. Prag 1888.

Verworn, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 32

498 Sechstes Capitel.

ganz analoge Veränderungen des Biotonus bedingt ist, wie die Er- scheinungen , welche sich spontan in der Entwicklung abspielen. Wenn sich aus der Eizelle im Laufe der Entwicklung Drusenzellen, Muskelzellen, Nervenzellen etc. differenziren , so müssen diese Er- scheinungen ebenfalls auf Veränderungen einzelner Glieder der A- und D-Reihe beruhen, die von einander unabhängig sind, nur dass diese Veränderungen bei der Entwicklung spontan entstehen, in der Amyloidmetamorphose und analogen Erscheinungen dagegen durch äussere Einwirkungen veranlasst werden.

Bei unserer überaus lückenhaften Kenntniss der speciellen Glieder beider Stoffwechselreihen liegt es auf der Hand, dass wir bis jetzt noch sehr weit davon entfernt sind, auch nur ungefähr die speciellen Veränderungen zu übersehen, welche der Biotonus im con- creten Fall bei der Einwirkung eines Reizes erfährt. Es bleibt uns vorläufig nichts Anderes übrig, als den äusseren Ausdruck dieser Ver- änderungen, den wir schematisch als Erregungs- und Lähmungs-, sowie als metaraorphotische Erscheinungen bezeichnen, nur ganz allmählich. Schritt für Schritt, zu analysiren , eine Aufgabe , deren Lösung die Physiologie um so näher rücken wird, je mehr sich die Methoden der Zelluntersuchung entwickeln werden.

2. Die Interferenz von Reiz Wirkungen.

Eine Frage, die mit Rücksicht auf eine Reihe von sehr wichtigen Erscheinungen aus der speciellen Physiologie der Wirbelthiere ein ganz besonderes Interesse verdient, ist die Frage nach den Interferenz- wirkungen zweier verschiedener Reize. Leider fehlt es auf diesem Gebiet bisher noch vollständig an einer methodischen Behandlung der Probleme, und es ist zur Zeit nur möglich, einige wenige Andeutungen zu machen, welche auf den Zusammenhang dieser Frage mit gewissen Thatsachen aus den verschiedensten Gebieten der Physiologie hinweisen.

Da der Biotonus durch die verschiedenen Reize in sehr ver- schiedener Weise beeinflusst werden kann, je nachdem diese oder jene Glieder desselben von dem betreffenden Reiz erregt oder gelähmt werden, so muss bei einer methodischen Untersuchung der Interferenz- wirkungen zweier Reize die Frage, wie jeder einzelne derselben wirkt, den Ausgangspunkt bilden. Vor allen Dingen ist für das Ver- ständniss einer jeden Interferenzwirkung die Frage zu entscheiden, ob die beiden Reize im gleichen Sinne, d. h. erregend resp. lähmend, wirken oder nicht, und auf welche Glieder des Biotonus sich ihre Wirkung erstreckt, ob auf Assimilation oder Dissimilation etc. Nur durch Beantwortung dieser Fragen ist daran zu denken, allgemeine Gesetze der Interferenzwirkungen zu gewinnen.

Haben wir zwei mittelstarke Reize, die beide in gleichem Sinne, also beispielsweise erregend, und die beide auf die gleichen Glieder des Biotonus, also beispielsweise auf die Dissimilationsphase, wirken, so werden wir im Allgemeinen eine Summation der Erregungen haben, die allerdings in Bezug auf Einzelheiten sich zunächst nicht ohne Weiteres vorausbestimmen lässt, weil die Intensität der Reize, die ver- schieden starke Beeinflussung der einzelnen D-Glieder, die Dauer der Reize, die Thatsache der Selbststeuerung des Stoffwechsels etc. Factoren sind, die unter Umständen eine grosse Rolle beim Zustandekommen des

Vom Mic'li.uüsimis dos Lebens. 499

Enderfolges spielen können. Hierher gehört z. I*. die ganze Fülle der Erscheinungen, die wir namentlich in der Nerven- und Muskelphy.sio- logie als Falle der „E r r e g b a r k e i t s s t e i g e r u n g" kennen gelernt haben. Durch die Einwirkung eines erregenden Reizes, sagen wir eines chemischen oder thermischen Reizes, auf einen Nerven ist seine Erregbarkeit für einen zweiten, sagen wir für einen galvanischen Reiz erhöht, und die letztere erzielt eine stärkere Reizwirkung, als wenn er allein einwirkte.

Ein Gegenstück dazu liefern die Erscheinungen, welche resultiren, wenn zwei Reize auf die lebendige Substanz einwirken, die beide in entgegengesetztem Sinne, also der eine lähmend, der andere erregend, auf die gleichen Glieder des Biotonus einwirken. Hier haben wir gewöhnlich eine E rregbark ei ts her absetz ung " als Resultat. Lassen wir beispielsweise auf eine Zelle ein Narkoticum wirken, oder lähmen wir sie durch Ueberreizung, so wird jeder erregende Reiz einen geringeren Reizerfolg erzielen, als wenn er allein einwirkte, die Zelle wird unter Umständen vollständig unerregbar sein.

Viel interessanter aber sind die Erscheinungen, die sich ergeben, wenn zwei Reize zwar in demselben Sinne , beispielsweise erregend, aber auf verschiedene, vor Allem auf antagonistische Glieder des Biotonus einwirken, also der eine vorwiegend auf die Dissimilation, der andere auf die Assimilation. Hierbei sehen wir, dass durch den einen Reiz die Wirkung des andern gehemmt, verhindert, paralysirt wird M. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür liefert uns die polare Wirkung des galvanischen Stromes an den contractilen Substanzen, etwa an einer Amoebe. Der constante Strom wirkt an beiden Polen antagonistisch auf die Amoebenzelle, indem er sie an der Anode con- tractorisch, an der Kathode expansorisch erregt. An Süsswasser- amoeben von einiger Grösse kann man diese Thatsache mit über- raschender Deutlichkeit constatiren. Lässt man nun durch eine Amoebe, die man mit starken Reizen zu kugliger Contraction ver- anlasst hat, einen constanten Strom hindurchfliessen, so beginnt im Moment der Schliessung an der Kathode die Contraction zu weichen, und Expansionserscheinuugen greifen Platz, d. h. ein mächtiges Pseudo- podium fliesst vor, während am entgegengesetzten Pol die Contractions- erscheinungen noch deutlicher werden. Jetzt genügt eine plötzliche Wendung der Stromrichtung, um die Processe an beiden Enden des Amoebenkörpers sofort zu sistiren und die Expansion durch eine Con- traction, die Contraction durch eine Expansion zu verdrängen. Die analogen Erscheinungen, nur mit Verwechselung der Pole, zeigt uns der Muskel. Subjectiv können wir die interessanten Erscheinungen, die durch Erregung antagonistischer StofFwechselprocesse zu Stande kommen, am Auge beobachten. Nach der HERiNo'schen Farbentheorie ist die Wahrnehmung der Farben der psychische Ausdruck für die Stoffwechselprocesse der Sehsubstanz, in der Weise, dass je zwei Complementärfarben antagonistischen Phasen des Stoffwechsels ent- sprechen. Bringen wir daher zwei Complementärfarben auf der roti- renden Scheibe des Farbenkreisels zur Mischung, so heben sich beide in ihren Wirkungen auf, und die schwirrende Scheibe erscheint in farblosem Grau. Diese Thatsachen zeigen, dass zwei miteinander

1) Veravors: „Erregung und Lähmung." Vortrag, gehalten auf der 68. Versamm- lung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a. M. 1896. (iJeutsche medic. Wochenschr. 1896, Nr. 40.) 39*

500 Sechstes Capitel.

interferirende Erregungen antagonistischer Stoffwechselglieder sich in ihren äusseren Wirkungen hemmen oder aufheben können. Es g i e b t also zwei ganz verschiedene Wege, auf denen die Unter- drückung, die Hemmung einer Lebenserscheinung er- reicht werden kann: einerseits durch Lähmung der ihr zu Grunde liegenden Glieder, andererseits aber auch durch Erregung der antagonistischen Glieder des Biotonus,

Schliesslich wäre es auch denkbar, dass zwei Reize interferiren, die beide in entgegengesetztem Sinne, d. h. der eine erregend, der andere lähmend, auf antagonistische Glieder des Biotonus wirken. Die äussere Folge davon wäre dann eine Steigerung derjenigen Lebens- erscheinungen , welche den erregten Biotonusgliedern entsprechen. Allein es ist fraglich, ob dieser Fall wirklich in der Natur realisirt ist.

Auf Grund der verschiedenen Fälle, die bei der Interferenz zweier Reize eintreten können, resultirt eine sehr grosse Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, die zur Zeit im einzelnen Fall noch gar nicht analysirt worden sind, aber durch die vorstehenden Erwägungen neues Licht bekommen dürften. Vor Allem Avird eine Gruppe von Erscheinungen aus dem Leben des Centralnervensystems dem Verständniss etwas näher gerückt werden, die bisher zu den dunkelsten Erscheinungen der Nervenphysiologie gehörten, die sogenannten „Hemmungs- erscheinungen".

Schon die einfache Thatsache der willkürlichen Unterbrechung einer Bewegung, etwa das blosse Sinkenlassen des erhobenen Armes, hat bisher der physiologischen Erklärung bedeutende Schwierigkeiten bereitet. Zum gi-össten Theil dürfte die Unklarheit in den Problemen der Hemmungserscheinungen Avohl auf einer ungenügenden Schärfe in der Trennung der Begriffe beruhen. Man hat vielfach die Begriffe der Hemmung und Lähmung auf Grund rein äusserlicher Merkmale miteinander vermischt, und doch braucht, wie wir sahen, ein Hemmungs- erfolg an der Zelle nicht immer durch Lähmung zu entstehen, sondern kann ebensowohl in der Erregung von Processen seine Ursache haben, die den bestehenden entgegenwirken. Die Sistirung oder Ver- hinderung einer Muskelbewegung von einer motorischen Ganglienzelle aus kann daher der Ausdruck von zwei sehr verschiedenen Vorgängen sein. Nach der allgemeinen Anschauung wird ja bekanntlich die Contraction eines Muskels verursacht durch eine dissimilatorische Erregung in seinen motorischen Ganglienzellen. Eine Expansion kann also auf zweierlei Weise in der Ganglienzelle begründet sein: einer- seits in einer Lähmung derselben und andererseits in einer assi- milatorischen Erregung. Beide haben in Bezug auf den Muskel den gleichen Erfolg. Es ist also unbedingtes Erforderniss, von Fall zu Fall zu entscheiden, welche Processe in den betheiligten Ganglien- zellen bestehen. Unter den mannigfaltigen Erscheinungen der Be- wegungshemmung sind zweifellos beide Fälle vertreten. Der Frosch, dessen hintere Extremitäten unmittelbar nach einer höheren Rücken- marksdurchschneidung für einige Zeit durch die stärksten Reize zu keiner Reflexbewegung zu veranlassen sind, hat offenbar eine vorüber- gehende Lähmung seiner Rückenmarks- Ganglienzellen durch Ueber- relzung erfahren, wie ja auch beim Shock der Chirurgen in Folge eines schweren operativen Eingriffes das Nervensystem gelähmt ist. Die willkürliche Erschlaffung eines contrahirten Muskels aber wird man

Vom Mechanismus des Lebens.

501

kaum mit einer Liihmun^^ in Zusamnienliang bringen können. Hier kann es sidi nur um Hemmung der Cuntraction durch Erregung ant- agonistischer, d. h. expansorisch wirkender Processe iiandeln.

Es scheint nun gerade die T h a t s a c h e , d a s s der A u s - d ruck eine r Er regungdurchdieEr regung antagonistisch wirkender S t offwec hselp rocesse aufgehoben werden

Fig. 245. I X a j a h aj e (ägyptische Brillenschlange). Experiment der ägyptischen Schlangenbeschwö- rer. Links oben die Haje in erregter Angriffsstellung (Schildstellung). Rechts oben dieselbe durch einen Druck in die Nackeugegend bewegungslos gemacht und auf den Kücken gelegt. Unten dieselbe

bewegungslos gemacht grade- ausgestreckt auf dem Bauch liegend. II Huhu, durch sicheres Zugreifen b e - w egungslos gemacht und auf den Kücken gelegt. Experimentum mirabile des Pater Kircher.

II

kann, imLeben der GangHenzellen eine ungemein wich- tige Rolle zu spielen und ein sehr fruchtbares Moment für die Erklärung vieler Vorgänge im Centralnerven- system zu liefern.

Besonders die Erscheinungen des Schlafes und der Hypnose bei Thieren und Menschen dürften in ihren wesentlichen Momenten auf die Hemmung einer bestehenden Erregung durch antagonistische Stoff-

502 Sechstes Capitel.

wechselprocesse zurückzuführen sein. Es mag genügen, hier nur an einige bekannte Erscheinungen zu erinnern. Das uralte Experiment der ägyptischen Schlangenbeschwörer, das schon vor mehr als 3000 Jahren Moses und Aakon vor dem ägyptischen Pharao ausführten, gehört jedenfalls hierher. Durch einen leichten Druck in die Nackengegend gelingt es, die wild erregte, zischende, hochaufgerichtete H a j e (Brillen- schlange) plötzlich bewegungslos zu machen, so dass man das ge- fährliche Thier nunmehr in jede beliebige Stellung bringen kann, ohne seinen todbringenden Biss fürchten zu müssen (Fig. 245, 1). Auch das bekannte „Experimentum mirabile de iraaginatione gallinae" des Pater Kircher beruht jedenfalls auf den gleichen Ursachen. Ergreift man ein Huhn, wenn es noch so erregt ist, plötzlich mit sicherem Griff, und legt man es vorsichtig auf den Rücken, so bleibt das Thier nach wenigen kurzen Abwehrversuchen bewegungslos liegen (Fig. 245 //), und ebenso verhalten sich Meerschweinchen (Fig. 151 pag. 363), Kaninchen, Tauben, Frösche, Eidechsen, Krebse und zahllose andere Thiere. Die Hypnose des Menschen beruht ebenfalls im Wesentlichen auf der Thätigkeitshemmung der Ganglienzellen in der Grosshirnrinde, wir sagen : auf einer Hemmung des eigenen Willens, und im Schlaf ist die Hemmung der Thätigkeit aller höheren Gehirncentren evident. Um Lähmungsei'scheinungen kann es sich in allen diesen Fällen nicht handeln; dazu sind die Reize, welche als Ursachen für ihren Eintritt wirken , zu schwach. Wir werden also in diesen wie in zahllosen anderen Hemmungserscheinungen den andern Fall erblicken müssen, d. h. die Hemmung einer bestehenden Erregung durch Erregung antagonistischer Glieder des Biotonus in den betheiligten Ganglienzellen. Indessen, es bleibt eine lohnende Aufgabe der Zukunft, die Interferenzwirkungen der Reize methodisch zu untersuchen und ihre Beziehungen zu den interessanten Vorgängen im Centralnervensystem zu ermitteln.

3. Die polaren Veränderungen des Biotonus und der Mechanismus der Axe nein Stellung bei einseitiger

Reizung.

Wir haben bisher nur die Veränderungen des Biotonus bei all- gemeiner Reizung der lebendigen Substanz ins Auge gefasst. Die Veränderungen, welche bei localer Reizung auftreten, sind aber werth, besonders betrachtet zu werden, w^eil sie in gewissen Fällen zu ganz charakteristischen äusseren Folgen Anlass geben. Das sind bewegungsrichtende Wirkungen der Reize an frei beweglichen Organis- men, die wir als Chemotaxis, ßarotaxis, Thermotaxis, Phototaxis und Galvanotaxis kennen gelei-nt haben. Diese interessanten Erscheinungen werden, wie wir sahen, sämmtlich durch einseitige resp. ungleich- massige Reizung hervorgerufen und kommen zu Stande durch Be- einflussung der Thätigkeit contractiler Elemente. Es handelt sich also in allen diesen Fällen von Reizwirkungen um die Veränderungen derjenigen Glieder der A- und D-Reihe des Biotonus, welche die Contraction und Expansion der contractilen Elemente vermitteln. Nur wo Differenzen des Contractions- oder des Expansionszustandes an zwei verschiedenen Stellen des Zellkörpers bestehen, kann eine bestimmt gerichtete Wirkung zu Stande kommen. Da in Bezug auf den Bewegungseffect Contraction (c) und Expansion (e) zwei

Vom ML'tliauisiiiu.s dos Lobcus. 503

antagonistische Phasen des liewegungsvorj^anges sind, so können wir uns (las Vcrhältniss dieser beiden Gliedi-r des liiotoiius in analoger W^eise wie den Hiotonus selbst durch einen Bruch veranschaulichen, ohne damit aber auszudrücken, zu welcher der beiden ßiotonusreihen die Glieder c und e gehören. Wir können uns dann die Zustände, welche in einer ruhenden Zelle an zwei verschiedenen Partieen des Körpers bestehen, in folgender Weise veranschaulichen:

wobei das Verhältniss von Contraction zu Expansion bezeichnet,

das an zwei gegenüberliegenden Polen eines einzelligen Organismus herrscht.

Denken wir uns denjenigen Zustand einer Zelle, wo c und e gleich gross sind, und wo allseitig eine gleich starke Neigung zur Contraction und Expan- sion besteht, so kann nach keiner Seite hin eine Be- wegung erfolgen. Das ändert sich aber sofort, wenn an zwei Stellen der Oberfläche Differenzen im Bio- tonus auftreten, wenn c oder e unter dem Einfluss eines einseitig wirkenden Reizes an einem Pol grösser oder kleiner wird, als am andern. In diesem Falle ist die Ursache für eine einseitig gerichtete Bewegung g egeben.

Da die merkwürdigen Erscheinungen der Chemotaxis, Barotaxis, Thermotaxis, Photo taxis und Galvanotaxis noch jetzt vielfach als ganz räthselhafte „Anziehungen" und „Abstossungen" der einzelligen Or- ganismen von Seiten der Reizquelle betrachtet werden, deren Zustande- kommen bisher noch nicht mechanisch erklärt werden konnte, so ist es von grossem Interesse, zu sehen, wie sich auf Grund von polaren Differenzen im Biotonus der Mechanismus dieser eigenthümlichen Er- scheinungen mit zwingender Nothwendigkeit aus der speciellen Be- wegungsart einer jeden Zellform von selbst ergiebt. Eine derartige Betrachtung muss um so mehr Interesse fordern, als viele der genannten Erscheinungen , vor Allem die Chemotaxis der Bakterien und Leu- kocyten, auch in der Pathologie des menschlichen Körpers eine weit- gehende Bedeutung besitzen.

Wenn man folgende drei Factoren: die specielle Bewegungsart eines jeden Organismus (Protoplasma-, Geissei-, Flimmerbewegung etc.), dann die Veränderung dieser Bewegung unter dem Einfluss der Reize und schliesslich die Stelle des Körpers, wo bei einseitiger Reizung die Wirkung in jedem Fall localisirt ist, ins Auge fasst, dann erscheint der Mechanismus dieser durch ihre grosse Gesetzmässigkeit imponirenden Bewegungserscheinungen so einfach, dass seine Analyse sich Jedem, der sich überhaupt Bewegungsmechanismen im Geiste in ihre Theile zu zerlegen gewöhnt ist, geradezu von selbst aufdrängen muss.

Stellen wir uns vor, ein einzelliger Organismus, der nach einer Längsaxe differenzirt ist, bewegte sich ungestört nach beliebigen Richtungen durch das Medium, in dem er sich befindet, und es wirkte plötzlich von irgend einer Seite her ein Reiz auf ihn ein, so wäre zum Zustandekommen einer Annäherung an die Reizquelle oder einer Entfernung von derselben vor Allem eine bestimmte Axeneinstellung

504 Sechstes Capitel.

des Organismus erforderlich, so dass er mit dem vorderen oder hinteren Pol seiner Längsaxe nach der Reizquelle gerichtet würde. Nun ist es eine allgemeine Regel, dass alle einaxig difFerenzirten Organismen sich in der Richtung ihrer Längsaxe bewegen. Ist daher diese Axeneinstellung einmal ausgeführt, so muss durch die gewöhnliche Locomotionsart des Organismus eine Bewegung nach der Reizquelle hin oder von ihr fort zu Stande kommen, und die weitere Einwirkung des Reizes verhindert oder corrigirt nur gelegentliche Abweichungen von dieser Bewegungs- richtung, die etwa durch spontane Impulse erzeugt werden. Das wesent- liche Moment bei allen bewegungsrichtenden Reizwirkungen ist also die Axeneinstellung des Zellkörpers, und der Kernpunkt der Mechanik dieser Erscheinung liegt in der Erklärung der Axeneinstellung. Ver- folgen wir daher den Mechanismus der Axeneinstellung bei verschiedenen Typen freilebender Zellen etwas genauer.

Die einfachsten und durchsichtigsten Verhältnisse haben wir wie immer bei den nackten Protoplasmamassen, wie sie z. B. die Zellen der Amoeben und Leukocyten vorstellen. Denken wir uns eine Amoebe in Kugelform, die im Begriff ist, zu kriechen, und stellen wir uns vor, dass an einer Stelle in Folge eines einseitig wirkenden Reizes eine contractorische Erregung einträte (Fig. 246a), so würde an der gegenüberliegenden Stelle der Kugeloberfläche die con- tractorische Erregung am geringsten sein. Hier würde das Proto-

oo

Fig. 246. Schema der Axen- einstelliang einer Amoebe bei contr actorischer Erregung von rechts her. Die Dicke des Contours deutet die Erregung an. Die Pfeile bezeichnen die Kriech- richtung.

plasma ungehindert vorfliessen, während an der gereizten Seite die starke Contraction kein Vorfliessen des Protoplasmas gestatten würde. Das Protoplasma der Amoebe würde also nach der ungereizten Seite hin ein Pseudopodium bilden (Fig. 246 6). So würde eine Amoebe, die sonst unter ringsherum gleichen Bedingungen nach allen Seiten hin Pseudopodien ausstreckt und bald hierhin, bald dorthin kriecht, eine axial diff"erenzirte Gestalt annehmen (Fig. 246 c), wie es bei den Amoeben der Fall ist, die man unter dem Namen der A m o e b a lim a'x als besondere Form bezeichnet hat. Bei andauernder Reizung von derselben Seite her müsste unter diesen Umständen ein allmähliches Fortkriechen der Amoebe von der Reizquelle eintreten, wie wir es ja in der That bei der negativen Chemotaxis und Thermotaxis der Amoeben, Myxomyceten, Leukocyten etc. vor uns haben. Umgekehrt : stellen wir uns vor, dass auf die kugelförmige Amoebe von einer Seite her ein Reiz einwirke, der local eine expansorische Er- regung erzeugt, so Avird das Protoplasma nach dieser Seite am stärksten vorfliessen, so dass sich die Amoebe bei andauernder Reizung der Reizquelle nähern muss. So erklärt sich die positive Chemotaxis der Leukocyten, Amoeben, Myxomyceten und anderer nackter Protoplasma- massen. Wirkt von der einen Seite ein expansorischer, von der andern ein contractorischer Reiz auf die Amoebe ein, so muss der Erfolg sich natürlich in gleichem Sinne äussern, d. h. die Amoebe muss von der contractorisch erregten Seite weg und nach der expansorisch erregten

Vom Meehauismus des Lebens. 505

Seite hin kriechen. Die Galvanotaxis der Arno eben h'efert einen ungemein deutlichen Beleg dafür (vergh Fig. 232 jjag. 463).

Ein wenig coniplicirter ist der Mechanismus der AxeneinsteUung bei denjenigen Mikroorganismen , die nicht mehr formwechselnde Protoplasmamassen vorstellen, sondern wie die Bakterien und In- fusorien einen formbeständigen , axial differenzirten Körper ]>esitzen, der sich mit besonderen Bewegungsorganoiden, den Geissein und Wimpern, durch das Wasser bewegt. Durch rhythmisches Schlagen der Geissein oder Wimpern wird der Körper dieser Organismen nach Art eines Ruderbootes durch das Wasser getrieben. Die Analogie der Bewegungen mit dem Mechanismus eines durch lluder bewegten Bootes ist in der That vollkommen und lässt sich bis in die feinsten Einzel- heiten durchführen. Es sind völlig die gleichen Mittel, welche die Bewegungen des geruderten Bootes und die Bewegungen der frei- schAvimmenden Flimmerzelle in feinster Weise lenken und richten, und wir können uns das eigenthiimliche Verhalten der Bakterien und Infusorien bei ihrer AxeneinsteUung gegenüber einseitig wirkenden Reizen nicht besser versinnlichen, als wenn wir an das Bewegen und Lenken eines Bootes mittels der Ruder denken. Unter den verschiedenen Formen, welche durch Geissei- oder Wimperschlag ihren j langgestreckten Körper durch das Wasser treiben, können wir als wichtigste drei Typen unterscheiden, nämlich Formen, die durch eine einzige Geissei, Formen, die mit zwei Geissein, und Formen, die mit mehreren oder sehr vielen Wimpern ihren Körper bewegen, entsprechend einem durch ein, zwei oder viele Ruder getriebenen Boote.

Fassen wir zunächst die Formen mit einer Geissei ins Auge, wie sie viele Bakterien und pj™ 247. Schema Geisseiinfusorien vorstellen, und wählen wir als des Geisselschla- Vertreter das zierliche grüne Geisselinfusor Eu- ges einer Geissel- glena, das im Sommer mit seinen ungezählten mfusonenzelle. Schaaren das Wasser stehender Pfützen in eine tiefgrüne Flüssigkeit verwandelt. Die Geissei der Flagellaten befindet sich am vorderen Körperpol und bewegt sich in schraubenförmiger Bahn durch das Wasser. Indessen brauchen wir, ohne einen Fehler zu begehen, die Bewegung der Geissei der Einfachheit halber nur in einer einzigen Ebene zu betrachten. Dann sehen wir die Geissei durch abwechselnde Contraction rhythmisch nach rechts (b) und nach links (b ,) um die grade Mittellage (a) herum pendeln, und zwar entspricht die Schwingung aus der Mittellage (a) in eine der beiden extremen Schlaglagen (b oder b,) der Contractionsphase , die Rückkehr aus einer der extremen Schlaglagen in die Mittellage (a) dagegen der Expansionsphase (Fig. 247) der Geisseibewegung. Die Geissei wirkt also wie ein Ruder, das am Vorderende des Bootes abwechselnd nach rechts und nach links bewegt wird. Es liegt auf der Hand, dass der Infusorienkörper in gerader Richtung nach vorn sich bewegen muss, wenn das Infusor ungestört unter ringsumher gleichen Bedingungen die Geissei gleich stark nach reclits und links schlagen lässt, d. h. wenn Contraction und Expansion nach rechts ebenso schnell verlaufen, wie nach links. Wirkt aber von einer Seite her plötzlich ein contractorischer Reiz auf das Flagellat ein,

506

Sechstes Capitel.

und ist die Längsaxe des Körpers nicht schon von vornherein in der Richtung des einfallenden Reizes mit dem hinteren Körperpol nach der Reizquelle zu eingestellt, so wird diese Einstellung durch einige Schläge der Geissei von selbst herbeigeführt, denn da die Geissei bei jeder schrägen oder queren Lage der Längsaxe auf derjenigen Seite, von welcher der Reiz einfällt, stärker contractorisch erregt wird, als auf der entgegen-

Fig. 248. Schema der Axeueinstelluiig einer Geissei infusorienzelle bei coiitractorischer Erregung von rechts her. Die Seite, nach welcher die Con- cavität der Geissei gerichtet ist, ist die contractorisch erregte. Die Pfeile bezeichnen

die Drehungsrichtung.

gesetzten Seite, so führt sie nach der Reizseite stärkere Schläge aus, als nach der entgegengesetzten Seite, und bewirkt so, dass sich der Vordertheil des Körpers von der Reizquelle abwendet (Fig. 248). Wir haben hier genau das gleiche Verhältniss Avie bei dem mit einem einzigen Ruder bewegten Boot. Auch das Vordertheil des Bootes wendet sich, wenn es auf der einen Seite stärker abgestossen wird, nach der entgegengesetzten Seite. Die ungleiche Stärke des Geisselschlages nach beiden Richtungen dauert aber so lange an, und der Vordertheil des Körpers wendet sich so lange immer mehr von der Reizquelle ab, bis der Körper seine Längsaxe in der Richtung des einfallenden Reizes eingestellt hat (Fig. 248 r/). Dann werden beide Seiten der Geissei gleich stark erregt, und das Protist schwimmt, solange der Reiz an-

Fig. 249. Schema der Axeneinstellung einer Infusorienzelle mit zwei

Geissein bei contractorischer Erregung von rechts her. Die stärkere Con-

cavität der einen Geissei deutet die stcärkere contractorische Erregung an. Die Pfeile

bezeichnen die Drehungsrichtung.

dauert, geradeaus. So ergiebt sich eine negative Chemotaxis, Photo- taxis etc. bei eingeisseligen Bakterien und Flagellaten als nothwendige Folge einer einseitigen contractorischen Erregung des Geisselschlages. Hiernach ist es sehr leicht, sich die Verhältnisse der Axen- richtung auch bei zweigeisseligen Formen vorzustellen, wie Avir sie z. B. in dem Geisselinfusor Polytoma (Fig. 249) vor uns haben.

Vom Mecliauisimis des Lebens. 507

Befinden sich zwei Geissoln am Vorderende der Zelle, so entsprochen dieselben einem Boote, das am Vorderende mit zwei Rudern bewegt wird. Ist der Schlag beider Kuder gleich stark, so bewegt sich das Boot geradeaus. Dasselbe muss auch bei der Geisselzelle der Fall sein. Schlägt dagegen das eine Kuder stärker, so dreht sich das Boot mit dem Vorderende nach der entgegengesetzten Seite. Das Gleiche wird also bei der zweigeisseligen Flimmerzelle eintreten, wenn von einer Seite her ein contractorischer Reiz einwirkt, der die eine Geissei zu stärkerem Schlagen veranlasst (Fig 249 a b c). Das Vorderende der Geisselzelle muss sich dann von der Reizquelle wegdrehen, bis die Längsaxe in der Richtung des einfallenden Reizes mit dem Vorder- ende von der Reiz([uelle abgewendet ist. In dieser Richtung werden beide Geissein gleich stark contractorisch erregt (Fig. 249 r?), und das Flagellat schwimmt in Folge dessen gerade von der Reizquelle fort. So entsteht auch bei den zweigeisseligen Formen negative Chemotaxis etc. durch einseitige contractorische Erregung.

Was sich bei Polytoma und anderen Formen aus der Thätig- keit zweier Geissein ergiebt, das kommt bei den Wimperinfusorien schliesslich durch den Schlag zahlreicher Wimpern zu Stande. Hier haben Avir z. B. in den Bewegungen von Paramaecium das

Fig. 250. Schema der Axeneinstellung eines W i m p e r i n f u s o r i u m s bei expansorischer Er- regung: von rechts her. Die stärkere Concavität der .^ Wimpern nach hinten deutet die stärkere contractorische Erregung an. Die Pfeile

bezeichnen die Richtung der Drehung und befinden sich am vorderen Körperpol.

Analogen zu den Bewegungen eines langen, vielruderigen Bootes. Schlagen alle Ruder auf beiden Seiten vollkommen gleich stark, so schwimmt das Boot geradeaus; schlagen die Ruder auf einer Seite stärker, so dreht sich das Boot nach der entgegengesetzten Seite. Dasselbe gilt von der Wimperbewegung beim Paramaecium. Schlagen die Wimpern auf beiden Seiten gleich stark, so schwimmt das Infusor in gerader Richtung vorwärts; wirkt dagegen von einer Seite her ein contractorisch erregender Reiz, so dass die Wimpern auf der einen Seite des Körpers zu stärkerem Schlagen veranlasst werden, als auf der andern (Fig. 250«), so muss sich der Körper so lange von der Reizquelle mit dem Vorderende abwenden, bis er mit seiner Längsaxe in der Richtung des einfallenden Reizes eingestellt ist. Dann erst werden die Wimpern an correspondirenden Punkten der beiden Körperlängsseiten gleich stark erregt, und die Zelle schwimmt in gerader Richtung von der Reizquelle fort. So ergiebt sich schliess- lich auch bei Wimperinfusorien negative Chemo-, Baro-, Thermo-, Phototaxis aus einseitiger contractorischer Erregung.

Ebenso einfach ist der Mechanismus der Axeneinstellung bei der positiven Chemo-, Thermo-, Phototaxis etc. der Flimmerzellen. Die Axeneinstellung bei diesen Reizwirkungen kann z. B. hervorgerufen werden durch eine einseitige expansorische Erregung. Denken wir uns, dass ein Reiz von einer Seite her expansorisch erregend wirkt, so wird die Expansionsphase des Wimperschlages, d. h. die Rückkehr der Geissein

508 Sechstes Capitel.

oder Wimpern in die Ruhelage, auf dieser Seite energischer erfolgen, als auf der gegenüberliegenden Seite des Körjjers. Die Folge davon wird die umgekehrte sein, als wenn die Contractionsphase energischer wird, d. h. das Vorderende des Körpers wird sich nach der Seite des ein- fallenden Reizes hinwenden, bis die Längsaxe in der Richtung des Reizes eingestellt ist. Es hängt dann allein von der relativen Grösse der Con- tractions- und Expansionsphase der Wimpern ab, ob der motorische Effect so gerichtet ist, dass die Zelle in dieser Axeneinstellung sich auf die Reizquelle zu oder rückwärts von ihr fortbewegt. Diese Axen- einstellung aber muss immer eintreten, mag sich die Zelle durch eine, zwei oder viele Flimmerhaare bewegen (Fig. 251).

Wirkt schliesslich von einer Seite her ein contractorisch erregender, von der andern ein expansorisch erregender Reiz auf die Infusorien- zelle ein, so liegt es auf der Hand, dass beide bezüglich der Axen- einstellung des Körpers in gleichem Sinne wirken müssen, d. h. so, dass der Körper sich mit dem Vordertheil nach der Seite des expan- sorischen Reizes einstellt. Ob in dieser Axeneinstellung eine Be- wegung in der einen oder in der andern Richtung oder gar ein Still- stand am Ort stattfindet, das hängt dann ganz von der Grösse und Richtung des motorischen Effects ab, den der Wimperschlag an beiden

Fig. 251. Scliema der Axeneinstellung ei- nes Wimperinfuso- riums bei expanso- rischer Erregung von rechts her. Die Pfeile befinden sich am vorderen Körperj)ol und geben die Drehungsrichtung an. Die stärkere Coneavität der Wimpern nach vorn deutet die expansorische Erregung an.

entgegengesetzten Körperenden hat. Dass alle drei Möglichkeiten realisirt sind, zeigt am schönsten die Galvanotaxis, wo man je nach der Intensität des galvanischen Stromes Vorwärtsschwimmen, Stillstand am Ort oder endlich Rückwärtsgehen erzielen kann.

Auch der Mechanismus der Axeneinstellung bei contractorischer und expansorischer Lähmung auf einer Seite des Körpers ist nach den vorstehenden Betrachtungen ohne Weiteres verständlich, denn es liegt auch hier eine Differenz in der Tliätigkeit der Bewegungs- organoide auf beiden Seiten des Körpers vor, die nach den bekannten Principien eine Axendrehung herbeiführen muss, bis die Differenz auf beiden Seiten der Längsaxe ausgeglichen ist.

Veranschaulichen wir uns an unserem ersten Schema, von dem wir ausgingen, die verschiedenen durch contractorische oder expansorische Erregung oder Lähmung des einen Körperpols veranlassten Axenein- stellungen eines vorübergehend oder dauernd polar differenzirten Zell- körpers, so bekommen wir folgende Fälle, wobei die Pfeilspitze die Lage des vorderen Körperendes bezeichnet:

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Vom Moc'lianisiniis des Lehens. 509

I n \^' 0 r t e II h e i s s t das: Bei c o n t r a c t o r i s c h e r E r r e g u n g oder e X p a n s 0 r i s c h e r Lähmung von einer Seite her wendet s i eil der vordere K ö r p e r jj o 1 von der R e i z q u e 1 1 e ab; bei c ontractori scher Lähmung oder expansori scher Erregung von einer Seite her wendet sich der vordere Kor per pol der K(M /quelle zu.

üb sich die Zelle in dieser Axeneinstellung vorwärts oder rück- wärts bewegt oder stillsteht, hängt im gegebenen Falle von dem Intensitätsverhältniss der Contractions- zu der Expansionsphase an der ganzen Zelle ab.

So ergeben sich die interessanten und i m g e s a m m t e n organischen Leben so überaus wichtigen Erscheinungen der positiven und negativen Chemotaxis, Barotaxis, Thermotaxis, Piiototaxis und Galvano taxis mit mecha- nischer Nothwendigkei t als einfache Folgeerschei- nungen aus den Differenzen im Biotonus, die an zwei verschiedenen Polen der freilebenden Zelle durch Ein- wirkung von Reizen hervorgerufen werden.

Indem wir den Kernpunkt des Stoffwechsels mit PflIjcer in dem fortwährenden Aufbau und Zerfall gewisser eiweissartiger Verbin- dungen von sehr labiler Constitution erblickten, die wir, obwohl sie sich chemisch bisher nur ungenügend charakterisiren Hessen, wegen ihrer hohen Bedeutung für das Leben kurz als Biogene bezeichneten, haben wir den Lebensvorgang selbst in einer schematisch einfachen Form definirt: Der Lebensvorgang ist die Summe aller der Processe, welche mit dem Aufbau und Zerfall der Bio- gene verknüpft sind.

Die in die lebendige Substanz von aussen her eintretende todte Materie wird durch compHcirte Umsetzungen in der lebendigen Sub- stanz fortwährend selbst zu lebendiger formirt, aber sie stirbt auch fortwährend und wird wieder als todte Materie von der lebendigen Substanz ausgeschieden. So besteht das Leben aus einem ewigen Lebendigwerden und Sterben, das ununterbrochen und nebeneinander in jedem Augenblicke in aller lebendigen Substanz sich abspielt.

Die Gesammtheit aller Processe, die zum Aufbau lebendiger Substanz führen, bildet die Assimilationsphase, die Gesammtheit der mit dem Zerfall der lebendigen Substanz verknüpften Pi'ocesse die Dissimilationsphase des Lebens. Assimilation und Dissimilation sind die Grundlage alles Lebens. Ihr Verhältniss zu einander, das wir als Biotonus bezeichneten, beherrscht die Lebenserscheinungen. Vom Beginn der Entwicklung bis zum Tode ändert sich der Biotonus un- unterbrochen von selbst, indem einzelne Glieder der Assimilations- oder Dissimilationsreihe andere Werthe annehmen, und damit ändern sich die Lebenserscheinungen im Einzelnen ebenfalls. Desgleichen ändert sich der Biotonus, wenn Reize auf die lebendige Substanz ein- wirken, und dementsprechend verändern sich auch die Lebens- erscheinungen unter dem Einfluss der Reize. So sind die Lebens- erscheinungen bestimmt durch die einzelnen Glieder der langen Stoff- wechselkette, die zusammen den eigentlichen Lebensvorgang bilden.

510 Sechstes Capitel.

IL Die 3Iechanik des Zelllebens.

Nachdem wir den Stoffwechsel als den elementaren Lebensvorgang erkannt haben, entsteht nunmehr die Aufgabe, die Lebenserscheinungen, die wir als Ausdruck des Lebensvorgangs auffassen müssen, mecha- nisch aus dem Stoffwechsel abzuleiten.

Wir haben gesehen, dass alle lebendige Substanz, die jetzt die Erdoberfläche bewohnt, die Form von Zellen besitzt, dass also die Zelle der eigentliche Sitz des Lebensvorgangs ist. In der Zelle linden Avir zugleich die allgemeinen Lebenserscheinungen in ihrer elementaren Form. Eine mechanische Analyse der Lebenserscheinungen muss da- her, wenn sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben will, die Zelle selbst zu ihrem Untersuchungsobject machen. Dabei harrt zuerst die Frage, wie sich der Stoffwechsel der lebendigen Substanz, den wir uns bisher nur schematisch an einem gleichförmigen Substrat vorgestellt haben, in der Zelle mit den charakteristischen Differenzirungen ihres Inhalts gestaltet, ihrer Beantwortung, ehe wir daran denken können, die verschiedenen Lebenserscheinungen der Zelle mechanisch aus ihrem Stoff- wechsel abzuleiten. Sind wir auch bei unseren sehr geringen Kennt- nissen der einzelnen chemischen Processe in der Zelle noch immer weit entfernt davon, uns ein detaillirtes Bild von dem feineren Stoff- wechselgetriebe in der Zelle zu machen, so haben uns doch die Unter- suchungen der letzten zehn Jahre genügend Material geliefert, um eine Vorstellung von den allgemeinen Verhältnissen des Stoffwechsels in der Zelle zu gewinnen. Vor allen Dingen haben uns die Untersuchungen des letzten Jahrzehnts mit einer grossen Anzahl von Thatsachen bekannt gemacht, die uns über die viel erörterte Bedeutung der beiden wesent- lichen Zellbestandtheile, des Kerns und Protoplasmas, sowie über die Art ihrer Beziehung zu einander sicheren Ausschluss verschaffen.

A. Die Rolle von Kern und Protoplasma im Leben der Zelle.

1. Die Theorie von der Alleinherrschaft des Kerns

in der Zelle.

Die klassischen Untersuchungen der älteren Protoplasmaforscher, unter denen nur Düjakdin und Max Schultze genannt seien, waren darauf gerichtet, das Protoplasma als Träger aller Lebensthätigkeiten hinzustellen. Mit dem Zellkern wusste man in der älteren Zellenlehre nichts anzufangen, denn da man alle wahrnehmbaren Lebenserschei- nungen sich am Protoplasma abspielen sah, hielt man den Kern für unwesentlich und beschäftigte sich nicht weiter mit ihm.

Es ist psychologisch interessant und eine charakteristische Er- scheinung in der Geschichte des menschlichen Denkens, dass die Er- kenntniss der Wahrheit erst nach beiden Seiten um den Mittelpunkt der Wahrheit herum pendelt, ehe sie an demselben stehen bleibt. Eine extreme Anschauung, die sich im Laufe der Zeit als unhaltbar heraus- stellt, führt einen Umschlag in das gegentheilige Extrem herbei, und erst allmählich wird durch eine gesunde Reaction die wahre Mitte ge- funden. So geschah es in der Zellenlehre. Die ursprüngliche Vor- stellung von der alleinherrschendeu Rolle des Protoplasmas in der

Vom Mechanismus des Lebens. 511

Zelle schlug in neuerer Zeit, naciideni innn ji^efunden hatte, dass der Kern besonders bei der Fortpflanzung- der Zelle durch Theilung- und bei der Betruchtung des Eies tiefgreifende Veränderungen erfährt, während das Protoplasma scheinbar ruhig bleibt, in die gegentheilige Vorstellung von der Alleinherrschaft des Kerns um, d. h. in die Vor- stellung, dass der Kern den Avesentlichen Träger des Zelllebens vor- stelle, während das Protoj)lasma nur eine accessorische Rolle im Zellleben spiele. Was man in der älteren Zelllehre ausschliesslich dem Protoj)lasma zuschrieb, das schreibt man in der neueren Zelllehre allein dem Zellkern 7ai, und erst seit den letzten Jahren beginnt sich eine gesunde Keaction gegen diesen Umscldag in das andere Extrem geltend zu machen.

Es ist nicht möglich, auf alle einzelnen Thatsachen einzugehen, welche in neuerer Zeit bezüglich der Rolle des Zellkerns und Proto- plasmas zusammengetragen worden sind. Es wird genügen, wenn wir einige der wichtigeren Beobachtungen und Versuche anführen, die zu bemerkenswerthen Schlussfolgerungen Anlass gegeben haben.

Die Vorstellung, dass der Zellkern eine Alleinherrscherrolle in der Zelle spiele, hat in unserer Zeit eine ziemlich weite Verbreitung gewonnen und ist in verschiedener Form zum Ausdruck gekommen. Vor Allem hat im Hinblick auf die überraschend complicirten und regelmässigen Veränderungen, welche die neuere Morphologie bei den Erscheinungen der Befruchtung und Theilung der Eizelle am Zell- kern nachgewiesen hat, die von hervorragenden Forschern, wie Weis- mann, Hertwig, Boveri u. A. vertretene Ansicht an Boden gewonnen, dass der Zellkern der Träger der „Vererbungsstoffe" sei, und dass die Vererbung nur durch die Uebertragung gewisser Stoffe des Zellkerns auf die Nachkommen er- folge, Avährend das Protoplasma keine für die Ver- erbung not h igen Stoffe enthalte.

Die Thatsache, dass bei der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle nur eine verschwindend geringe Protoplasmamenge von Seiten der letzteren auf die Nachkommen übertragen wird , da das Spermatozoon zum überwiegenden Theil aus Kernmasse besteht, hat dazu verführt, diese geringe Protoplasmamenge des Spermatozoons vollständig zu vernachlässigen und damit die Uebertragung der väterlichen Eigenschaften auf die Nachkommen allein dem Kern des Spermatozoons zuzuschreiben. Das war um so naheliegender, als die geringe Protoplasmamasse des Spermatozoons, die hauptsächlich in der Geissei enthalten ist, nach dem Eindringen desselben in die Eizelle sich nicht mehr weiter vom Protoplasma der letzteren unterscheiden lässt, während die charakteristischen und tiefgehenden Veränderungen, die durch die Befruchtung bedingt werden, allein am Kern in die Er- scheinung treten. Indessen, kritischeren Köpfen war die Hinfälligkeit der Argumente, auf welche sich die Alleinherrschaftstheorie des Kerns bei der Vererbung stützte, peinlich, und so suchten sie nach unzwei- deutigen Beweisen für dieselbe.

Die fundamentale Thatsache, welche Nussbaum^) an Infusorien festgestellt hatte, dass kernlose Theilstücke einer Zelle nach einiger

^) Nüssbaum: „Ueber spontane und künstliche Theilung- von Infusorien." In Verh. d. naturhist. Ver. d. preuss. Eheinlande. Bonn 1884. Derselbe: „Ueber die Theilbar- keit der lebendigen Materie. I. Die spontane und künstliche Theilung der Infusorien." In Arch. f. mikr. Anat. Bd. XXVI, 1886.

512 Sechstes Capitel.

Zeit unfehlbar zu Grunde gelien, Avährend kernhaltige sich zu voll- ständigen Zellen regeneriren und durch Zelltheilung weiter fortpflanzen, wurde durch Gruber ^) auf experimentellem Wege an anderen In- fusorien bestätigt und als directer Beweis für die Alleinherrschafts- theorie des Kerns ins Feld geführt. Gruber ^) sagt: „Auf rein empiri- schem Wege werden wir hier vor die unumstössliche Thatsache ge- stellt, dass der Kern der wichtigste, dass er der arterlialtende Be- standtheil der Zelle ist, und dass man ihm mit Recht die höchste Be- deutung bei den Vorgängen der Befruchtung und Vererbung zu- schreibt." Gruber vergisst aber dabei, dass man, um den Kern allein als arterhaltenden Bestandtheil der Zelle hinstellen zu dürfen, auch noch das umgekehrte Experiment ausführen, nämlich auch den Kern ohne Protoplasma untersuchen muss. Bleibt dann der Kern am Leben, regenerirt er sich einen neuen Protoplasmakörper, und vervollständigt er sich zu einem ganzen Individuum, so wäre sein Versuch in der That ein „unumstösslicher Beweis" für die Ansicht von der allumfcissenden Bedeu- tung des Kerns gewesen. Geht aber der protoplasmaberaubte Kern ebenso ohne Regeneration zu Grunde wie das kernberaubte Proto- plasma, so liegt kein Grund vor, dem Kern mehr zuzuschreiben, als dem Protoplasma; man könnte dann mit demselben Recht das Proto- plasma als den arterhaltenden Bestandtheil der Zelle ansprechen. Ein Experiment in dieser Richtung zeigt aber, dass der protoplasmaberaubte Kern ebenso zu Grunde geht, wie das kernlose Protoplasma. Man kann bei dem grossen Radiolar Thalassicolla (Fig. 171 pag. 384) den mit blossem Auge sichtbaren Zellkern durch eine geschickte Operation mit feinen Instrumenten aus dem Protoplasma der Central- kapsel unverletzt herausnehmen und isolirt beobachten. Die Folge zeigt, dass der Kern, selbst wenn er vor allen Schädlichkeiten ge- schützt ist, nach einiger Zeit stets, ohne auch nur eine Spur von Regenerationserscheinungen sehen zu lassen, zu Grunde geht^). Das Gleiche kann man bei Infusorien constatiren. Damit ist aber die Be- weiskraft des GRUBER'schen Arguments gebrochen.

Ein anderes Experiment, das der Alleinherrschaftstheorie des Kerns zur Stütze dienen sollte, stellte Boveri^) an Seeigeleiern an. Im Anschluss an die von den Brüdern Hertwig^) beobachtete That- sache, dass auch kernlose Protoplasmastücke von Seeigeleiern durch Spermatozoon noch befruchtet werden, fand Boveri, dass diese befruch- teten Stücke sich auch noch weiter entwickeln , und zwar zu einer Zwerglarvenform, die, abgesehen, von ihrer Kleinheit, im Uebrigen voll- kommen den normalen Larven gleicht. Diese Thatsache benutzte BovERi zu Kreuzbefruchtungsversuchen von kernlosen Eistücken einer Seeigelform mit Spermatozoon einer andern Form, nämlich von kern- losen Eistücken des Sphaerechinus granularis mit Spermato-

^) A. Gruber: „lieber künstliche Theilung der Infusorien." In Biol. Centralblatt Bd. IV u. V, 1885.

-) Gruker: „Beiträge zur Kenntniss der Physiologie und Biologie der Protozoen." In Ber. d. naturforsch. Ges. zu Freiburg i. B. Bd. I, 1886.

^) Verwürn: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns." In Pflüger's Arch. Bd. LI, 1891.

*) Boveri: „Ein geschlechtlich erzeugter Organi.smus ohne mütterliche Eigen- schaften." In Sitzungsber. d. Ges. f. Morphol. u. Physiol. zu München 1889.

^) O. u K. Hertwig: „Untersuchungen über den Vorgang der Befruchtung und Theilung des thierischen Eies unter dem Einfluss äusserer Agentien." In Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1887.

Vom Mechanismus des Lebens. 513

zoön von E c h i n u s m i k r o t u b e r c u 1 a t u s. Kr .schüttelte eine Anzahl Eier von 8p haerech inus in einem Keagenzglase, wobei immer kern- lose rrotoi>lasmastücke abgesprengt werden, und befruchtete die ge- schüttelte Flüssigkeit mit Sperma von Echinus. Isolirte kernlose Theilstücke zu befruchten, gelang nicht, da eine Kreuzbefruchtung zwischen den beiden Formen nur verhältuissmässig sehr selten eintritt. Unter den nur durch die Befruchtung erzielten Larven befanden sich;

a. Bastardformen , wie sie bei der Kreuzung der beiden Arten immer erhalten wurden.

b. Zwergbastardformen, die Boveri von der Befruchtung kernhaltiger Theilstücke herleitet.

c. Zwergformen mit echtem Ech inus -Charakter, die Boveri von der Befruchtung kernloser Theilstücke ableitet.

Das Vorkommen der letzten Larvenformen besitzt nun nach Boveri's Auffassung directe Beweiskraft für die Alleinherrschaftstheorie des Kerns, denn da von der einen Seeigelart nur kernloses Protoplasma der Eizelle, von der andern dagegen auch der Kern des Spermatozoons übertragen sei, so sei durch den Erfolg, welcher Larven von der väterlichen Form ergeben habe , bewiesen , dass nur der Kern der Trager der Vererbungsstoffe sein könne. Bei einer kritischen Be- trachtung indessen ergiebt sich, dass dieser Versuch, der bisher viel- fach als die festeste Stütze der Alleinherrschaftstheorie betrachtet worden ist, in mehr als einer Beziehung völlig unbrauchbar für den ge- nannten Zweck erscheint. Zunächst nämlich lässt sich die Abstammung der Zwerglarven vom Typus der väterlichen Art bezweifeln. Da die Befruchtung kernloser Eistücke der einen mit Spermatozoon der andern Art nicht isolirt gelang, so bleibt es sehr fraglich, ob die in Frage stehenden Larven auch wirklich aus einer solchen Befruchtung stammten. Es wäre denkbar, dass sich auch aus der Befruchtung von kernhaltigen Eistücken oder ganzen Eiern der einen mit den Spermatozoon der andern Form Larven von überwiegend väterlicher Form entwickeln können; sehen wir doch, dass sich auf die Nach- kommen sehr häutig ganz vorwiegend die Eigenschaften des Vaters oder der Mutter übertragen. Die verschiedenen Larvenformen, welche Boveri in seinem Versuch erhielt, besitzen aber in dem betreffenden Entwicklungsstadium noch so wenige charakteristische Unterscheidungs- merkmale, dass man aus dem Vorhandensein dieser wenigen Eigen- thümlichkeiten durchaus nicht mit Sicherheit auf eine einseitige Ab- stammung Schlüsse ziehen darf. Aber selbst in dem Falle, dass man die Deutung, welche Boveri von der Abstammung der betreffenden Larven giebt, annehmen wollte, wäre der Versuch doch nichts weniger als beweisend. Er wäre beweisend nur dann, wenn nicht das ganze Spermatozoon, sondern nur der Kern desselben sich mit dem kern- losen Protoplasma der Eizelle vereinigt hätte. Wären in diesem Falle Larven vom Charakter des Vaters entstanden, so müsste man in der That annehmen, dass der Kern allein Träger der Vererbung sein könne. Da aber das Spermatozoon eine vollständige Zelle mit Kern und Protoplasma ist, so ist durch nichts bewiesen, dass nicht auch das Protoplasma an der Vererbung Theil nähme. Dass &ich ganz überwiegend oder ausschliesslich väterliche Charaktere an den betreffenden Larven bemerkbar machen, darf doch wohl kaum verwundern , da ja von väterlicher Seite eine ganze Zelle in die Be-

Vei'worn, Allgemeiue Physiologie. 2. Aufl. 33

514 Sechstes Capitel.

fruclitung eingegangen sein soll, von mütterlicher Seite aber nur ein Stückchen Protoplasma, das bekanntlich durch den Verlust seines Kerns dem Tode geweiht ist und seine charakteristischen Eigenschaften nicht mehr dauernd behaupten, mithin auch nicht vererben kann. Die Ansicht BovERi's, dass in seinem Versuch auch mütterliche Eigen- schaften hätten vererbt werden müssen, wenn das Protoplasma ebenso an der Vererbung betheiligt wäre, wie der Kern, erscheint also im Hinblick auf die fundamentale Thatsache des unfehlbaren Absterbens kernloser Protoplasmamassen als gegenstands- los. Nach alledem können wir nicht umhin, auch den Versuch Boveri's für die Entscheidung der Frage, ob im Kern allein die charakter- bestimmenden Eigenschaften der Zelle enthalten sind, als völlig in- different zu betrachten.

Eine andere Form der Alleinherrschaftstheorie spricht sich in der Ansicht von Eimer ^), Hofer ^) u. A. aus, dass der Kern nach Art eines nervösen Centralorgans die Lebenserscheinungen der Zelle, vor Allem die Bewegungen des Protoplasmas, beherrsche. Eimer stützt sich dabei auf verschiedene, nicht ganz unangefochtene morphologische Beobachtungen über die Endigung von Nervenfasern in Kernen, sogar in Kernkörperchen von Zellen. Allein selbst wenn diese Verhältnisse sich wirklich bestätigen sollten, so würde darin doch immer noch kein Grund liegen, dem Kern allein die Regulirung der Bewegungen des Protoplasmas zuzuschreiben. Hoper dagegen glaubt aus Experimenten an Amoeben den Schluss ziehen zu dürfen, dass „der Zellkern ein regulatorisches Centrum für die Bewegung darstellt". Hofer zerschnitt nämlich den Körper von grossen Amoeben in einen kernhaltigen und einen kernlosen Theil. Während der kernhaltige Theil sich darauf und auch weiterhin ganz wie eine vollständige Amoebe verhielt, zeigte das kernlose Stück nur noch etwa 15 20 Minuten normales Verhalten. Dann wurden die Bewegungen unregelmässig, insofern die Pseudopodienbildung abnorme Formen zeigte, und hörten schliesslich ganz auf. Daraus zieht Hofer den Schluss, dass das Protoplasma zwar die Fähigkeit der Bewegung besitzt, aber dass der Kern ein Centrum vorstelle, welches die Bewegungen des Protoplasmas regulire. Dass diese Vorstellung sich nicht halten lässt, geht schon aus den aus- gezeichneten Experimenten Balbiani's^) hervor, der beobachtete, dass kernlose Theilstücke von Infusorien unter günstigen Bedingungen noch viele Tage lang mit völlig unveränderten Bewegungen am Leben bleiben. Umfassende Versuche an verschiedenen Rhizopoden und Infusorien'*), besonders aber an solchen Wimper-Infusorien, die recht complicirte und charakteristische Bewegungen ausführen, sind schliess- lich speciell gerade darauf gerichtet gewesen, die Frage, ob man den Kern als Bewegungscentrum im Sinne der Centra des Centralnerven- systems bei den höheren Thieren auffassen dürfe, zu entscheiden. Den Erfolg können wir uns am besten durch einen vivisectorischen Versuch an dem Infusorium Lacrymaria vor Augen führen.

') Eimer : „Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eig-en- sehaften nach den Gesetzen organischen Wachsens." Jena 1888.

^) B. Hofer: „Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss des Kerns auf das Protoplasma." In Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1889.

^) Balbiani: „Recherches experimentales sur la merotomie des Infiisoirs cilies." In recueil zoologique Suisse Tome V, 1888.

*) Verworn: „Psycho -physiologische Protistenstudien. Experimentelle Unter- suchungen." Jena 1889.

Vom Mechanismus des Lebens.

515

Lacryniaria olor wird zu den holotrichen Ciliaten gerechnet und zeichnet sich durch ihre höchst charakteristi.sciien Bewegungen aus, weshalb sie für Versuche über den Eintluss des Kerns auf die Bewegung ein ausgezeichnetes Object abgiebt. Das Protist ist in mittlerem Contractionszustande flaschenförmig und lässt einen Körper-, Hals- und Kopftheil un- terscheiden (Fig. 252 a u. h). Ist das Protist ungestört, so ist es in rastloser Bewegung, wo- bei jedem Theil des Zellleibes seine eigen- thümliche Tiiätigkeit zu- kommt. DerKörpertheil macht fortwährende Ge- staltveränderungen von peristaltischem Charak- ter. Der Hals streckt sich bald zu einem äusserst langen und dünnen Fa- den aus, der mit seinem Vorderende sich ver- längert, verkürzt, um- biegt und zwischen den Schlammtheilchen hier- hin und dorthin tastet (Fig. 252 a), bald schnellt er wieder wie ein aus- gespannter Gummifaden plötzlich zusammen, um nach Kurzem sein Spiel von Neuem zu beginnen. Das Kopfende schliess- lich tastet mit den langen Wimpern seines Mund- theils überall auf den Gegenständen im Was- ser umher, gleichsam als wenn die Wimpern wie Füsschen darauf entlang liefen. Dabei ist das ganze Protist durch die wechselnde Richtung des Wimperschlages in ei- nem ewigen Vorwärts- und Rückwärtszucken

begriffen, so dass es nur wenig von der Stelle kommt und haupt- sächlich den langen Hals und Kopf mit rastlosem Eifer umhersuchen lässt. Wird es gereizt, so zuckt es plötzlich zusammen und schwimmt in mittlerem Contractionszustande zuerst eine weitere Strecke rück- wärts, nimmt dann wieder die Richtung nach vorn an und wirbelt in rasender Geschwindigkeit unter beständiger Axendrehung vorwärts durch das Wasser.

33*

Fig. 252. Vivisectorische Zertheilung von

Lacrymaria olor. Die schwarzen Linien geben

die Schnitttiihrung an.

516 Sechstes Capitel.

Der Kern mit dem dicht anliegenden Nebenkern liegt im mittleren Abschnitt des Körpertheils.

Bei einiger Geduld gelingt es nun, unter dem Mikroskop durch scharfe Schnitte die einzelnen Körpertheile abzutrennen, Avobei der Kopftheil, der Halstheil und das hintere Endstück des Körpers stets kernlos sind, während der Körpertheil immer die beiderlei Kerne ent- hält. Der Erfolg der Durchschneidung ist zunächst bei jedem Theil- stück der, dass die Wimperbewegung sehr beschleunigt ist. Die Stücke wirbeln daher alle im Contractionszustand mit rasender Geschwindig- keit unter Axendrehung durch das Wasser. Allmählich lässt die enorme Steigerung der Wimperthätigkeit nach, und bald benimmt sich jedes Theilstück genau so, wie es sich benahm, als es noch im Zu- sammenhang mit dem ganzen Protist stand. Der kernhaltige Körper- theil setzt seine metabolischen Bewegungen fort, durch Wechseln in der Richtung des Wimperschlages bald vorwärts, bald rückwärts zuckend, der Halstheil zieht sich bald lang aus (Fig. 252 f?) und tastet ruhelos umher, obwohl er weder Kopf- noch Körpertheil mehr besitzt, bald schnellt er wie eine Gummischnur zusammen (Fig. 252 c) und streckt sich wieder aus, der Kopftheil endlich läuft, da er jetzt vom Körper befreit ist, wie ein selbständiges Individuum auf den Schlammtheilchen im Wasser umher unter ganz denselben Wimperbewegungen wie am unverletzten Protist (Fig. 252 e). Kurz, jedes Theilstück verhält sich in seinen Bewegungen noch genau so wie am Körper der normalen Lacrymaria. Auf Reize tritt bei allen Theilstücken Zusammen- zucken durch Contraction der Myoide ein und Beschleunigung des Wimperschlages, die zur Wirbelbewegung unter Axendrehung führt, also ganz, wie sie auf Reizung beim unverletzten Protist eintritt. Dieses normale Verhalten der Bewegung bleibt bei den kernlosen Theilstücken in der Regel nahezu einen Tag lang bestehen. Alsdann tritt der Unterschied zwischen kernlosen und kernhaltigen Stücken hervor, dass die kernlosen zu Grunde gehen, während die kernhaltigen sich bereits zu ganzen Individuen regenerirt haben.

Das Verhalten der kernlosen Theilstücke von Zellen lässt sich also dahin charakterisiren, dass nach Ueber- windung eines durch den Reiz der Operation ver- ursachten Erregungsstadiums jedes Stück fortfährt, die ihm am unverletzten Protist eigenthümlichen Be- wegungen auszuführen und auch auf Reize in derselben Weise zu reagiren, wie vor der Operation. Erst diezum Tode führenden Erscheinungen der Nekrobiose, welchen das kernlose Protoplasma anheimfällt, ändern auch das normale Verhalten der Bewegungen.

Wie in diesem, so zeigt sich in sämmtlichen vivisectorischen Ver- suchen, dass die Bewegungen kernloser Protoplasmastücke nach Ueber- windung eines durch die Operation verursachten Erregungsstadiums stets noch längere Zeit, häufig mehrere Tage lang, in vollkommen un- veränderter Weise fortbestehen und erst im Verlauf der Nekrobiose des Theilstücks Störungen und schliesslich Stillstand erfahren. Damit stimmen auch die thatsäc blichen Befunde Hofer's vollständig überein. Wenn aber die normale Bewegung des Proto- plasmas nach Entfernung des Kerns noch Tage lang fortbesteht, so kann der Kern kein regulatorisches Centrum für die Bewegung sein, und damit fällt die (]! e n t r u m s t h e 0 r i e in sich zusammen.

Vom Mccliauisnms des Lebens. 517

2. Kern und Protoplasnia als Glieder in der Stoff- wechsel k e 1 1 e der Zelle.

Wenn aus den eben angestellten Erörterungen hervorgeht, dass die neueren Vorstellungen von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle, mögen sie in dieser oder in jener Form auftreten, ebenso wenig l^erechtigung haben, wie die .älteren Vorstellungen, welche im Proto- plasma allein den wesentlichen Träger des Lebens erblickten, so liegt nach alledem die Vermuthung nahe, dass die Wahrheit zwischen l)eiden Ansichten in der Mitte gelegen ist, d. h. dass weder der Kern noch das Protoplasma allein die Hauptrolle im Leben der Zelle spiele, sondern dass beide in gleicher Weise am Zustandekommen der L e b e n s e r s c h e i n u n g e n betheiligt seien.

In der That zeigt uns die ganze Fidle aller bisherigen Versuche und Beobachtungen über die Beziehungen zwischen Zellkern und Protoplasma, dass diese Vermuthung richtig ist. Da es zu weit führen würde, das ganze hierhergehörige Thatsachenmaterial anzu- führen, so mögen nur die wichtigeren Erscheinungen an diesem Orte Platz finden.

Die erste und bedeutsamste Thatsache ist die bereits erwähnte, durch alle bisherigen vivisectorischen Expe- rimente an den verschiedenartigsten Zellen fest- gestellte Erscheinung, dass kernlose Protoplasma- massen ebenso wie protoplasmaberaubte Kerne nach längerer oder kürzerer Zeit unfehlbar zu Grunde gehen. Damit ist unzweideutig der Beweis geliefert, dass die Lebens- erscheinungen der Zelle nur durch die ungestörte Wechselwirkung beider Zelltheile, des Kerns und des Protoplasmas, zu Stande kommen. Dass diese Wechselbeziehungen Stoffwechselbeziehungen sein müssen, liegt von vornherein schon auf der Hand, da ja die Lebenserscheinungen nur Ausdruck des Stoffwechsels der Zelle sind. Durch die Erscheinungen, welche an kernberaubten Protoplasma- massen bis zu ihrem Tode sich einstellen, überzeugen wir uns aber auch an specielleren Thatsachen von dieser Wahrheit. In der oft ziemlich langen Zeit, die von der Entfernung des Kerns bis zum Tode der entkernten Protoplasmamasse verläuft, machen sich nämlich nach und nach gewisse Ausfallserscheinungen im Stoffwechsel bemerkbar, während manche Lebenserscheinungen noch bis in die letzte Zeit vor dem Tode bestehen bleiben. Diese Ausfallserscheinungen zeigen uns direct, dass durch die Ausschaltung des Kerns der Stoff- wechsel des Protoplasmas eine Störung erlitten hat.

Die eine Reihe von Ausfallserscheinungen bezieht sich auf die VerarbeitungderaufgenommenenNahrung und ist besonders gut an dem nackten Protoplasma der Rhizopoden zu beobachten. Hat man von einer Polystomella, deren zierliche, schneckenförmige Kalkschale mit einem gewöhnlich nur einkernigen Protoplasmakörper erfüllt ist, durch einen geschickten Schnitt ein Stück der Schale mit kernlosem Protoplasma-Inhalt abgeschnitten, so bildet das Protoplasma nach einiger Zeit wieder ganz normale Pseudopodien und verhält sich noch Tage lang wie eine unversehrte Polystomella. An den mit einem feinen klebrigen Secret überzogenen Pseudopodien fangen sich auch noch kleine Infusorien, die der Polystomella zur Nahrung

518 Sechstes Capitel.

dienen, ja diese Infusorien können unter Umständen auch noch durch die Einwirkung des sie umfliessenden Protoplasmas der Pseudopodien getödtet werden; aber es findet keine Verdauung derselben mehr statt ^). Die gleiche Beobachtung kann man sehr gut an den grossen Radiolarien machen, die, wie Thalassicolla, mit Leichtigkeit ihrer Centralkapsel mit Kern beraubt werden können. Der ganze grosse kernlose Protoplasmakörper verhält sich nach dieser Operation zunächst wie eine ganze Thalassicolla. Die Pseudopodien halten an- sclnvimmende Nahrungs-Infusorien fest und umgeben sie mit ihrem Protoplasma. Auch werden die Infusorien noch getödtet und bisweilen sogar in ihrer Gestalt noch deformirt ; aber eine vollständige Verdauung tritt nicht mehr ein 2). Das Gleiche beobachtete Hofek^) bei grossen Exemplaren von Am 0 eben. Wenn er Amoeben, die Infusorien gefressen hatten, so unter dem Mikroskop theilte, dass in die kern- haltige sowohl wie in die kernlose Hälfte des Protoplasmas Nahrungs- Infusorien zu liegen kamen, so wurden dieselben in der kernlosen Hälfte nur schwach angedaut, blieben dann aber unverändert liegen, während sie in den kernhaltigen Hälften vollständig verdaut wurden, wie in einer unversehrten Amoebe. Aus allen diesen Versuchen geht also hervor, dass die Assimilation der aufgenommenen Nahrung im Protoplasma nach Ausschaltung des Zellkerns aufhört.

Ebenso wie der Verbrauch fällt auch die Production ge- wisser Stoffe von Seiten des Protoplasmas nach Entfernung des Kerns aus. Eine kernlose Protoplasmamasse von Polystomella scheidet keinen kohlensauren Kalk mehr aus, um ihre Kalkschale zu ergänzen, während die kernhaltigen Stücke den Defect ihrer Kalk- schale alsbald durch Anlagerung neuer Kalkmassen an der Wundstelle wieder ausbessern^). Die Secretion von Schleim seitens des nackten Protoplasmas der Amoeben ist, wie Hofer ^) gezeigt hat, an kern- losen Massen nicht mehr zu beobachten, so dass die Stücke nach der Entkernung frei im Wasser flottiren, ohne sich an die Unterlage an- heften zu können, während die kernhaltigen Protoplasmamassen sich bald nach der Operation wie unverletzte Amoeben wieder mit einer feinen Schleimschicht an der Unterlage ankleben und weiterkriechen. Bei den kernlosen Pseudopodien von Difflugia findet zwar Anfangs noch eine Schleimsecretion statt, hört aber bald nachher auf, und die Protoplasmamassen verlieren das Vermögen sich anzuheften nach einigen Stunden ebenfalls*). Eine sehr chai'akteristische Erscheinung schliesslich ist der Ausfall der Cellulosepi'oduction zur Bildung einer Zellwand , den Klebs ^ ) bei Pflanzenzellen beobachtete. Klebs be- nutzte zu seinen Versuchen die Thatsache, dass unschädliche Lösungen wasserentziehender Stoffe den Protoplasmakörper der Pflanzenzelle zur Zusammenziehung und dabei oft zum Zerfall in einzelne Protoplasma- kugeln veranlassen, ein Vorgang, der von den Botanikern als Plasmo-

^) Verworn: „Biologische Protistenstudien I." In Zeitschr. f. wissensch. Zool. Bd. XLVI, 1888.

2) Verworn: .Die physiologische Bedeutung des Zellkerns." In Pflüger's Arch. Bd. LI, 1891.

^) B. Hofer: „Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss des Kerns auf das Protoplasma." In Jen. Zeitschr. f. Naturw. Bd. XVII, 1889.

*) Verwohn: „Biologische Protistenstudien II." In Zeitschr. f. wissensch. Zool. Bd. L, 1894.

^) G. Klebs: „Ueber den Einfluss des Kerns in der Zelle." In Biol. Centralbl. No. 7, 1887.

Vom Meclianismus des Lebens. 519

lyse bezeichnet wird. Setzte er Fäden von Zygnema oder Spiro- gy ra in eine 16 " o Rohrzuckerlösung, so zei'fiel der Protojilasmakörper der Zellen in vielen Fällen in zwei oder mehrere Kugeln, von denen nur eine den in der Einzahl vorhandenen Zellkern enthielt. Sowohl kernhaltige als kernlose TheilstUcke blieben lange Zeit am Leben, selbst die kernlosen in vielen Fällen bis zu 6 Wochen. Aber es zeigte sich während dieser Zeit an beiden ein durchgreifender Unterschied: Die kernhaltigen Stücke umkleideten sich alsbald mit einer neuen Cellulosemembran, während die kernlosen stets nackt blieben. Es geht aus diesem Versuche hervor, dass der Zellkern mit seinem Stoff- wechsel wesentlich an der Bildung der Cellulose betheiligt ist. Der Versuch ist aber besonders deshalb so interessant, weil er in jüngster Zeit eine wünschenswerthe Ergänzung erfahren hat durch einen andern Versuch, den Demoor^) an den Zellen der Spirogy rafäden ange- stellt hat. In analoger Weise, wie man nämlich durch vivisectorische Operationen den Einfluss des Kerns auf das Protoplasma ausgeschlossen hat, gelang es Demoor, durch geeignete Einwirkung verschiedener Agentien, wie Chloroform, Wasserstoff. Kälte etc., das Leben des Proto- plasmas zum Stillstand zu bringen, während der Kern noch thätig blieb, mit anderen Worten also die Thätigkeit des Protoplasmas aus- zuschliessen. Der Erfolg war der, dass der Kern ziemlich lange un- gestört am Leben blieb, ebenso wie in den vivisectorischen Theilungs- versuchen das Protoplasma nach Ausschaltung des Kerns noch lange Zeit normale Lebenserscheinungen zeigt, ehe es zu Grunde geht. Die Lebensthätigkeit des Kerns äusserte sich nun in Demoor's Versuchen wie im normalen Zellleben vorwiegend in den Erscheinungen der Kerntheilung. Indem der Kern, wie im ungestörten Zellleben, fort- fuhr, sich zu theilen und die bekannten complicirten Theilungsfiguren zu bilden, entstanden alsbald zwei Zellkerne, die sich voneinander trennten. Während sich aber im ungestörten Zellleben bei der Trennung beider Zellkerne im Protoplasma stets sofort eine neue Cellulosemembran bildet, Avelche die Theilung der ganzen Zelle in zwei Tochterzellen vollkommen macht, blieb in den Versuchen Demoor's die Bildung einer Cellulosemembran stets unfehlbar aus, obwohl der Kern auch weiterhin noch seine normalen Lebenserscheinungen zeigte. Wenn also einerseits die Versuche von Klebs beweisen, dass der Kern zur Bildung der Cellulose nothwendig ist, so zeigen andererseits die Versuche von Demoor, dass auch das Protoplasma an dieser Production betheiligt ist. Mit anderen Worten : Die Cellulose kann nur beim Zusammenwirken von Kern und Protoplasma entstehen.

Diesen Ergebnissen der Versuche steht eine ganze Reihe von morphologischen Beobachtungen an den verschiedenartigsten Zellen zur Seite, die sämmtlich auf einen regen Stoffaustausch zAvischen Kern und Protoplasma hinweisen. Von hohem Interesse sind die von Haberlandt ^) an Pflanzenzellen und von Korschelt an thierischen Zellen nachgewiesenen Lagebeziehungen des Kerns zu gewissen von der Zelle erzeugten und aufgenommenen Stoffen. Die Untersuchungen von

') Jean Demoor: ,,Contribution a Tetude de la cellule." In Arch. de Biologie Tome XIII. Liege 1894.

^) Haberlandt: „Ueber die Beziehungen zwischen Function und Lage des Zell- kerns bei den Pflanzen." Jena 1887. Derselbe: „Ueber Einkapselung des Proto- plasmas mit Rücksicht auf die Function des Zellkerns." In Sitzungsber. d. Kais. Akad. d. Wiss. in Wien Bd. XCVIII, Abth. I, 1889.

520

Sechstes Capitel.

Habeklandt betreffen die Waehsthumserscheinungen der Zellmembran. An einem umfangreichen Material hat Haberlandt festgestellt, dass in

Fig. 253. A E pi- der miszelle eines Laubblattes vou L u z u 1 a m a X i 111 a. Der Zellkern liegt in der Mitte der Zelle. Jj E p i d e r m i s z e 1 - len eines Blattes von Cypripediuni

insigne. Die obere Zellwand verdickt sich. Die Kerne liegen der oberen Zellwand an. 6'Epidermiszelle eines Blattes von Aloe verrucosa. An der oberen Zellwand bildet sich ein Wulst. Der Kern liegt diesem Wulste an. Nach Haberlandt.

den Fällen, wo es sich um locale Waehsthumserscheinungen der Zell- wand bei ihrer endgültigen Ausgestal- tung handelt, wie etwa bei den Ver- dickungen an der Aussenseite der Epidermiszellen oder bei der Bildung der Leisten an den Spaltöffnungszellen oder wie bei der Anlage der durch Spitzenwachsthum entstehenden Wur- zelhaare der Keimwurzeln, oder auch wo Regenerationen der künstlich ver- letzten Zellwand eintreten, kurz, dass in allen Fällen, wo eine besondere Entwicklung des Zellwandmaterials stattfindet, der Kern sich immer der Stelle anlagert, an welcher diese Wachsthumsvorgänge localisirt sind (Fig. 253 u. 254). Vor Beginn und ebenso nach Ablauf dieser mannigfal- tigen Waehsthumserscheinungen da- gegen nimmt der Kern keine bestimmte Lage in der Zelle ein (Fig. 253 J.).

Den umfassenden Beobachtungen von Haberlandt stehen auf zoologi- schem Gebiet die ausgezeichneten Untersuchungen von Korschelt^) zur Seite. KoRscHELT hat hauptsächlich Eizellen und secernirende Zellen von Insecten studirt. In den Eiröhren der Ovarien von D y t i s c u s m a r g i n a 1 i s , einem grossen Wasserkäfer, liegen die einzelnen Eizellen, je zwei durch ein sogenanntes Nährfach voneinander ge- trennt, perlschnurartig hintereinander. Das Nährfach besteht aus Zellen, welche Nährmaterial für die Eizelle produciren und an diese abgeben. Das Verhalten

Fig. 254. A Zellenreihe aus der Wurzel vonPisum sativum. An der rechten Seite ist an drei Stellen die Bildung eines Wurzelhaai-es im Gange. Der Zellkern liegt diesen Stellen an. £ Drei Zellen aus der Wurzel von Cucurbita pepo. An jeder Zelle beginnt sich ein Wurzelhaar zu bilden. Der Zellkern liegt dei .stelle an, wo das Wurzelhaar sich ausstülpt. C Wurzelhaar von Cannabis sativa. Der Zellkern liegt in der Spitze des Haares, wo das Wachsthum stattfindet. Nach Haberlandt.

^) Koeschelt: „Beiträge zur Morphologie und Physiologie des Zellkerns." In Zool. Jahrb. von Spengel Bd. IV, 1889.

Vdiii Moclianisnuis des Lebens.

521

und die Lage des Kerns der Eizelle zu diesem Nährmaterial ist nun sehr chnrakteri;?tisch (Fig. 255). Von dem Nährfach zieht eine Körner- masse, das Nährmaterial, in die Eizelle hinein, und zwar lagert es sich hier derartig, dass es direct mit dem Kern in engste Berührung kommt. Das Interessanteste aber, was die Activität des Kerns dem Nähr- material gegenüber ganz augenfällig macht, ist, dass der Kern in die Körnermasse hinein und zwar nur nach der Seite hin, wo dieselbe ihn berührt, spitze pseudopodienartige Ausläufer entsendet und so seine Oberfläche an der Berührun<i:sstelle mit dem Nährmaterial in aus-

giebigster Weise vergrüssert.

Umgiebt ihn das

Nährmaterial an seiner ganzen Oberfläche, so zeigt auch die ganze Obei-fläche pseudopodien- artige Ausläufer. Ein ähnliches Verhalten, be- sonders was die Lagerung des Kerns betrifft, schildert Korschelt von einer ganzen Reihe von Arthropoden- und Coelenteraten- Eizellen. Ein Gegenstück zu diesen Erscheinungen der Stoffauf nähme von Seiten des Kerns bildet das interessante Verhalten der Kerne in secer- nirenden Zellen gegenüber den secernirten Stoffen. Hier finden sich gegenüber den produ- cirten Stoffen ganz analoge Beziehungen wie in den Eizellen gegenüber den aufgenommenen Stoffen. An den Eiern einiger Wasserwanzen,

Nepa und Ranatra, befinden sich eigenthümliche chitinöse Anhänge, die sogen. „Eistrahlen". die von eigens dazu differenzirten Zellen ge- bildet werden. Diese Zellen , von denen je zwei sich zu einer von

Flg. 255. Eizelle von Dytiscus margin alis, darüber zwei Nähr- zellen. Aus den Xähr- zellen tritt Nährmaterial in die Eizelle hinein, und der Kern der Eizelle sen- det spitze Pseudopodien nach diesem Material aus. Nach Korschelt.

11

^y

Fig. 256. Gestalt des Zellkerns in secernirenden Zellen. /Doppelzellen mit je zwei Kernen aus den Eifollikeln von Nepa cinerea. Zwischen beiden Kernen wird Chitinmasse

zur Bildung eines Eistrahls ausgeschieden, und die beiden Kerne haben nach dieser

Seite hin Pseudopodien ausgestreckt, so dass die ausgeschiedene (kömige Chitinmasse

ringsherum von Kernpseudopodien eingeschlossen ist. II Secerairende Zellen aus den

öpinndrüsen von Kaupen. Nach Korschelt.

Korschelt als „Doppelzelle bezeichneten einheitlichen Zelle mit zwei Kernen vereinigen, nehmen eine beträchtliche Grösse an und scheiden innerhalb ihres Körpers selbst die Chitinmasse aus. Dabei ist das Verhalten der beiden Kerne sehr charakteristisch (Fig. 256 T). Sie

522 Sechstes Capitel.

entsenden nämlich nach der Mitte, wo die Chitinausscheidung statt- findet, zahlreiche, häufig verzweigte, pseudopodienartige Fortsätze, welche eine sehr bedeutende Oberflächenvergrösserung bewirken, wäh- rend die ganze übrige Oberfläche der Kerne glatt bleibt. Derartige Oberflächenvergrösserungen der Kerne sind bei den secernirenden Zellen der Insecten überhaupt weit verbreitet (Fig. 256 II) und weisen darauf hin, dass der Stoff'austausch zwischen Protoplasma und Kern bei der Secretion ein sehr reger sein muss. Dem entspricht auch die von Heidenhain ^) beobachtete Thatsache, dass sich die Kerne der Speicheldrüsenzellen im Zustande der Ruhe und im Zustande an- gestrengter Secretion wesentlich verschieden verhalten, indem nämlich in der Ruhe der Kern zackige Ausläufer in das umgebende Proto- plasma entsendet, während er nach anhaltender Reizung eine runde Gestalt mit glatter Oberfläche besitzt. Ferner hat Baum^) gefunden, dass die Kerne ruhender Drüsenzellen sich mit Kernfärbemitteln viel dunkler ftlrben, als die Kerne solcher Drüsenzellen, die stark secernirt haben, ein Zeichen, dass das chromatische Nuclein bei der Secretion zersetzt sein muss. Auch Lily Huie^) hat neuerdings sehr tiefgehende

fi^yT£2^Mr^/-r-£~r. (S^'^i^:.<^'s-. .-S*^ ^^^- ^^'^- Speichel-

^^^ W - *l4. %\'^M^^^>t-^Kt drüsenzellen.

^-■s* *v*^- /7r^'*^{^*'-*'^«''%'%. ?■*''%.. / In der Ruhe. Die

^i^7*«-*is:^ > -, 9).^ Zellkerne haben sternförmige Gestalt. ifa I © "■ ' *):?^^^i'af-^__ II Nach Reizung der Drüse. Die Kerne sind rund. Nach Heidenhain.

.%'

I II

Veränderungen des Zellkerns im Zustande gesteigerter Thätigkeit der Zelle gefunden , und zwar bei den secernirenden Zellen der insecten- fressenden Sumpfpflanze Drosera, wenn dieselbe mit Eiereiweiss gefüttert wurde. An dem coloniebildenden Infusor Carchesium hat Greenwood^) ebenfalls Veränderungen des Kerns beobachtet, die parallel mit der Ernährung der Zelle sich entwickeln. Die Ermüdungs- erscheinungen, die Hodge, Lugaeo, Mann und Andere an Ganglien- zellen bei angestrengter Thätigkeit festgestellt haben, und die wir bereits früher^) kennen lernten, gehören in dieselbe Gruppe von Thatsachen, und das Gleiche gilt von der Beobachtung O. Hert-

1) Heidenhain : „Physiologie der Absonderungsvorgänge." In Hermann's Handb. d. Physiol. Bd. V, 1883.

^) H. Baum: „Die morphologisch -histologischen Veränderungen in den ruhenden und thätigen Leberzellen." In Deutsche Zeitschr. f. Thiermedicin u. vergl. Pathologie Bd. XII, 1886.

^) LiLY Huie: „Changes in the Cell-organs of Drosera rotundifolia, produced by Feeding with Egg-albumen." In Quaterly Journ. of microsc. science Vol. 39, N. S.

*) Gkeentvood : „On structural change in the resting nuclei of Protozoa. Part I. The macronucleus of Carchesium polypinum." In Journ. of Physiol. Vol. XX, 1896.

5) Vergl. pag. 470.

Vom Mtclianisinus des Lebens. 523

wig's '), dass in dotterreichen Eizellen der Kern sich immer nach der Stelle der grössten Protoplasma.-in.sanimlung' ln'ii])eweiL^t. Schliesslich kann bei den verschiedenartigsten Zellfornien während des ZelUcbens vielfach ein bemerkenswerther Wechsel in der Grösse des Kerns beobachtet werden ^) , der nur dadurch zu Stande kommen kann, dass der Kern Stoffe aus dem Protoplasma aufnimmt und an dasselbe abgiebt.

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird wegen der Existenz einer Kernmembran nur der Austausch flüssiger Stoffe zwischen Kern und Protoplasma möglich sein. In manchen Fällen aljer, wo durch das Fehlen oder Verschwinden der Kernmembran die Möglichkeit eines Austausches von geformten Massen gegeben ist, haben eine ganze Reihe von Beobachtern, wie Frommann, Auerbach, Leydig, Brass, Stuhlmann u. A., auch direct eine Aufnahme oder Abgabe von Körn- chen und Schollen seitens des Kerns beobachtet. Ja in gewissen Stadien des Entwicklungskreises mancher Zellen kommt regelmässig ein Zerfall des Kerns in viele kleine Partikel vor, die vom Protoplasma resorbirt werden. So erinnern wir uns z. B. an das von K. Hertwig^) beobachtete Verhalten der Kerne bei der Conjugation der Wimper- Infusorien^), wo die ansehnlichen Massen der Makro nuclei im Proto- plasma zu lauter einzelnen Partikeln zerfallen und vollständig resorbirt werden , während die Mikronuclei durch Stoffaufnahme bedeutend wachsen, ihre Substanz differenziren , sich theilen und einerseits neue Mikronuclei', andererseits neue Makronuclei hervorbringen, die ganz bedeutende Grössenzunahme im Protoplasma erfahren.

Es ist nicht nöthig, die Aufzählung von Thatsachen noch weiter auszudehnen. Aus den angeführten Versuchen und Be- obachtungen geht zur Genüge hervor, dass zwischen Protoplasma und Kern ein wechselseitiger Austausch von Stoffen besteht, ohne den keiner von beiden Zell- theilen auf die Dauer existiren kann. Mit anderen Worten: Kern und Protoplasma sind beide am Stoff- wechsel der ganzen Zelle bet heiligt und für sein Be- stehen unentbehrlich.

B. Ableitung der elementaren Lebenserscheinungen aus dem Stoff- wechsel der Zelle.

1. Die Stoffwechsel-Mechanik der Zelle, a. Stoffwechselschema der Zelle.

Durch die Einfügung des Kerns und Protoplasmas in den Stoff- wechselkreislauf nimmt der Mechanismus des Stoffwechsels in der Zelle eine ausserordentliche Complication an. Wenn wir uns auch bei unserer mangelnden Kenntniss der speciellen chemischen Processe in der lebendigen Substanz zur Zeit noch keine Vorstellung davon machen

^) O. Heetwig: „Welchen Einfluss übt die Schwerkraft auf die Theilung der Zelle?" Jena 1884.

^) F. Schwarz: „Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des pflanzlichen Zellkerns nach der Theilung." In Beitr. z. Biol. d. Pflanzen von Ferd. Cohn. Breslau 1884.

^) ß. Hertwig: „lieber die Conjugation der Infusorien." In Abhandl. d. kgl. bayr. Akad. München 1888.

*) Vergl. pag. 205.

524 Sechstes Capitel.

können, wie der Stoffwechsel der Biogene sich im Schema der Zelle mit differenzirtem Kern und Protoplasma gestaltet, wie die einzelnen Glieder dieses Stoffwechsels auf beide Zelltheile vertheilt sind, ja ob wir nicht sogar eine grössere Zahl von verschiedenartigen Biogenen im Kern und im Protoplasma annehmen müssen , deren Stoffwechsel eng miteinander verflochten ist, Avenn wir auch die Lösung aller dieser Fragen einer späteren Zukunft überlassen müssen, so können wir uns doch auf Grund der bisherigen Erfahrungen wenigstens ein Bild von der grossen Complication des Stoffwechselgetriebes macheu, indem wir uns die Beziehungen zwischen dem umgebenden Medium und der Zelle mit ihrem Protoplasma und Kern in einem Schema veranschaulichen. In diesem Schema müssen die Wechselbeziehungen zwischen den drei Factoren, dem äusseren Medium, dem Protoplasma und dem Kern, verzeichnet sein.

Zu diesem Zweck ist es nöthig, noch einige neue Thatsachen kennen zu lernen. Wenn sich aus den Ausfallserscheinungen, die wir an kernlosen Protoplasmamassen einerseits und an kernhaltigen Zellen mit ausgeschaltetem Protoplasma andererseits feststellen konnten, be- züglich vieler Stoffwechselvorgänge eine weitgehende Abhängigkeit des Kerns und des Protoplasmas voneinander ergiebt, so geht für manche andere Erscheinungen aus einigen Versuchen eine gewisse Unabhängig- keit beider Zellbestandtheile voneinander hervor. Es giebt nämlich gewisse Vorgänge, die auch nach Entfernung des Kerns am Protoplasma noch lange Zeit bestehen bleiben. Allein wir haben unter diesen Vor- gängen zwei Gruppen voneinander zu unterscheiden. Die einen näm- lich dauern nur deshalb noch eine Zeit lang fort, weil auch nach dem Herausnehmen des Kerns aus dem Protoplasma immer noch gewisse Mengen vom Kern abgegebener Stoffe, die wir kurz als Kern Stoffe bezeichnen wollen, im Protoplasma vorhanden sind; denn da ja der Kern fortwährend Stoffe an das Protoplasma abgiebt, so finden sich im Protoplasma selbst stets noch gewisse Mengen dieser Stoffe vor, die mit der Herausnahme des Kerns nicht entfernt werden können. Auf Kosten dieser noch aus der Zeit vor der Entkernung im Proto- plasma vorhandenen Stoffe können also gewisse Vorgänge, zu deren Zustandekommen die Kernstoffe durchaus noth wendig sind, noch eine Zeit lang fortbestehen. Erst mit dem Verbrauch dieser Stoffe hören dann auch die betreffenden Vorgänge auf. Etwas anders aber verhält es sich mit der andern Gruppe von Stoffwechselvorgängen, die auch nach der Entfernung des Kerns im Protoplasma bestehen bleiben. Sie sind nicht unmittelbar von der Anwesenheit der Kernstoffe abhängig, d. h. die vom Kern an das Protoplasma abgegebenen Stoffe sind nicht unmittelbar zu ihrem Zustandekommen erforderlich. Dass solche Vorgänge existiren, zeigen uns die von Klebs \) an plasmolysirten Zellen von Spirogyra gefundenen Erscheinungen, welche Gerassi- MOPF^) neuerdings in vollem Umfange bestätigt hat. Wenn Klebs die Zellen eines Spirogy rafadens durch Plasmolyse in einer 16 '^/o Rohr- zuckerlösung zum Zerfall in einzelne Protoplasmaklumpen brachte, so entstanden häufig Protoplasmastücke, die keinen Kern, aber noch

^) G. Klebs: „Ueber den Einfluss des Kerns in der Zelle." In Biol. Centralbl. No. 7, 1887.

2) Gkrassimoff: „lieber die kernlosen Zellen bei einigen Conjugaten.' In Bullet, de la Societe Imperiale des Naturalistes de Moscou 1892.

Vom Mi-clianisnms des Lebens.

525

Fetzen von dem Chlorophyllband der Zelle besassen. Gerassimüfp^) hat kürzlich auch durch Anwendung von Narkoticis auf Spirogyra- zelleu, die in Theilung begriffen waren, vollständig kernfreie Zellen erhalten. Solche kernlose Protoplasmamassen lebten in den Versuchen von Klebs unter günstigen Verhältnissen noch Wochen lang weiter. Wie wir bereits früher sahen , hatten sie im Gegensatz zu den kern- haltigen Protoplasmamassen die Fähigkeit, eine neue Cellulose-Menibran zu bilden, verloren. Dagegen blieben bei ihnen, wie Klebs fand, andere Lebenserscheinungen noch unverändert erhalten. Die kernlosen Protoplasmamassen verbrauchten nämlich, wenn sie im Dunkeln ge- halten wurden, die in ihnen enthaltene Stärke vollständig vmd bildeten,

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U

Y\or. 258. / EKGELMAsx'sche G 8 s k a ni lu e r. Ein ring^förmiger Hohlraum ist unten von einer Glasplatte geschlossen luad oben von einem Metalldeckel bedeckt, der in seiner Mitte ein Deckglas für die Untersuchung im hängenden Tropfen besitzt; a a' sind a J Heizröhren, die in den Hohlraum des

Ringes selbst münden, so dass der Ring durch durchströmendes warmes Wasser geheizt werden kann: b V sind Röhren, die in die glasbedeckte Kammer selbst einmünden und zum Hindurchleiten des Gases dienen, so dass der am Deckglas hängende Tropfen mit seinem lebendigen Inhalt in der Kammer vom Gase umspült wird. II Versuchsanordnung zur Untersuchung in reinem "Wasserstoff, a Kipp"scher Apparat zur Wasserstoffentwicklung, b zwei Waschflaschen zur Reinigung des Wasserstoffs, c Mikroskop, unter dem sich die Gas- kammer mit hängendem Tropfen befindet.

falls sie noch ein Stück Chlorophyll besassen, im Licht von Neuem Stärke. Das heisst mit anderen Worten : die Synthese der Stärke aus Kohlensäure und Wasser, sowie der weitere Verbrauch der Stärke ist bis zu einem geAvissen Grade unabhängig vom Einfluss des Kerns. „Bis zu einem gewissen Grade", denn wenn die anderen durch die Entfernung des Kerns bedingten Ausfallserscheinungen einen bestimmten Umfang erreicht haben , werden selbstverständlich auch die stärke- bildenden Chlorophyllkörper in Mitleidenschaft gezogen werden; sie werden selbst Veränderungen erfahren, keine Stärke mehr bilden und schliesslich zu Grunde gehen. Aber das tritt in dem vorliegenden

^) Geeassimoff: „Ueber ein Verfahren, kernlose Zellen zu erhalten." In Bullet, de la Societe Imperiale des Xaturalistes de Moscou 1897.

526 Sechstes Capitel.

Falle erst verhältnissmässig spät, häufig erst nach mehreren Wochen ein. Insofern also mit der Störung des ganzen Stoffwechsels durch Entfernung des Kerns auch der Stoffwechsel der Chlorophyllkörper gestört Avird, ist die Stärkebildung auch in gewisser Weise, aber nur mittelbar, vom Kern abhängig.

Ebenso wie in der Pflanzenzelle kernlose Protoplasmamassen, falls sie nur noch ein Stück Chlorophyllkörper haben, Kohlensäure spalten und Stärke synthetisch erzeugen, ebenso vermag auch das kernlose Protoplasma noch lange Zeit zu athmen. Den Beweis dafür, dass die Athmung an kernlosen Protoplasmastücken noch in demselben Maasse fortdauert, wie an kernhaltigen Stücken oder ganzen Zellen, liefert uns folgender Versuch^). Wir bringen in den hängenden Tropfen einer ENGELMANN'schen Gaskammer^) eine Anzahl von kernhaltigen und kernlosen Theilstücken von Infusorien zusammen mit unverletzten Individuen und lassen von einem Kipp'schen Apparat her (Fig. 258) einen Strom reingewaschenen Wasserstoffs durch die Gaskammer streichen, der die in der Kammer befindliche Luft in kurzer Zeit ver- drängt. Dann sehen wir, dass in der Regel schon nach 5—10 Minuten die kernlosen Theilstücke sowohl wie die kernhaltigen als auch die unverletzten Infusorien anfangen, körnig zu zerfallen. Wird dann sehr schnell der Wasserstoff abgestellt und frische Luft statt dessen eingelassen, so gelingt es häufig, den vollständigen Zerfall noch zu verhüten, der sonst unfehlbar nach kurzer Zeit eintritt. Daraus geht hervor, dass auch in den kernlosen Protoplasmamassen noch ebenso Oxydationsprocesse stattfinden, wie in den kernhaltigen und in der unverletzten Zelle. Auch die Athmung ist also in gewissem Maasse unabhängig vom Einfluss des Kerns. Das wird durch die Versuche von Demooe ^) vollkommen bestätigt, der Zellen von Spirogyra in reinen Wasserstoff setzte und fand, dass das Protoplasma bald vollständig alle Lebenserscheinungen einstellte, während der Kern keine Störungen zeigte und ruhig fortfuhr, sich zu theilen. Es scheint demnach, als ob die Athmung ausschliesslich im Protoplasma localisirt wäre, als ob der Kern nicht an den Oxydationsprocessen direct theilnähme.

Nach diesen Erfahrungen an kernlosen Protoplasmamassen wäre es wünschenswerth , auch an protoplasmaberaubten Kernen analoge Versuche darüber anzustellen, ob noch gewisse Stoffwechselvorgänge nach Ausschaltung des Protoplasmas längere Zeit ungestört fortdauern. Allein die Entscheidung dieser Frage stösst auf grosse Schwierigkeiten aus dem einfachen Grunde, weil wir am Kern nur schwer ein äusser- lich wahrnehmbares Kriterium für seinen Stoffwechsel auffinden können. Dennoch geht aus den Versuchen von Demoor^) deutlich hervor, dass auch der Kern nach Ausschaltung des Protoplasmas noch längere Zeit Lebenserscheinungen zeigt. Demoor narkotisirte Zellen von Spirogyra mit Chloroform, so dass das Protoplasma vollständig gelähmt war, und fand, dass der Kern trotzdem ungestört seine complicirten Theilungs- stadien durchlief und die charakteristischen Veränderungen zeigte, die er in der unversehrten Zelle bei der Zelltheilung bemerken lässt. In den Leukocyten des Frosches besitzt der Kern amoeboide Beweg-

•) Veeworn: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns." In Pflüger's Arch. Bd. LI, 1891.

2) Vergl. pag. 288.

^) Jean Demoor: „Contribution ä l'etude de la cellule." In Arch. de Biologie Tome XIII. Liege 1894.

Vom MeehaiMsmus des Lebens.

527

Hclikeit, und Demoor konnte durch Narkose mit Chloroform das Proto- phisma lähmen, ohne dass der Kern seine amoeboiden Bewegungen einstellte (Fig. 259). Diese Erfahrungen lassen erkennen, dass auch einzelne Vorgänge im Kern in gewissem I\Iaasse unaljhängig vom Ein- fluss des Protoplasmas stattfinden. Freilich lässt sich vorläufig nicht entscheiden, ob diese Vorgänge nur deshalb noch fortbestehen, weil

Fig. 259. Lenk o c y t ^• o m F r u s c li in einem Grade der Chlorotbrm- narkose, wo das Protoplasma voU- stäudi<i: (jcläliiiit ist, während der Kern nocii amoeboide Bewegungen macht. Vergl. a, b, c u. d. Nach Dkmuuk.

auch nach der Ausschaltung des Protoplasmas immer noch Proto- plasmastoffe im Kern enthalten sind, die erst verbraucht werden müssen, ehe die betreffenden Vorgänge aufhören, oder ob diese Vorgänge in der That nicht unmittelbar von den Stoffen des Protoplasmas abhängig sind. Vermuthlich werden auch hier beide Fälle verwirklicht sein, denn auch die letztere Möglichkeit hat sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich, wenn wir daran denken, dass der Kern jedenfalls auch directe Stoffwechselbeziehungen zu dem äusseren Medium besitzt, die ohne Vermittlung des Protoplasmas verlaufen. Ohne Zweifel giebt es Stoffe, die vom äusseren Medium durch das Protoplasma hindurch un- verändert in den Kern gelangen, um hier für den Stoffwechsel benutzt zu werden. Sicher ist dies von einer bestimmten Wassermenge der Fall, die ja unbedingt zu jedem Lebensprocess nothwendig ist. Das Wasser kann auch beständig durch die Zellmembran ins Proto- plasma und durch die Kernmem- bran in den Kern hinein diffan- diren. Mit dem Wasser aber wer- den möglicher Weise auch manche Stoffe, die in ihm gelöst sind, von aussen indenKern hinein gelangen, um hier zu chemischen Umsetzun- gen verbraucht zu werden.

Schliesslich ist anzunehmen, dass nicht alle Stoffe, die der Kern nach aussen abgiebt, vom Proto- plasma zu Umsetzungen benutzt werden, sondern dass auch einige als unbrauchbar das Protoplasma passiren und nach aussen beför- dert werden.

Um eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen, wie eng und fest der Kern in den Stoffwechsel der Zelle verwebt ist, und welche Com- plicationen des Stoffwechsels in der Zelle durch die Einfügung des Kerns in seinen Kreislauf bedingt sind, ist es zweckmässig, die ex- perimentell gewonnenen Thatsachen zu einem Schema zu vereinigen, "wie es die vorstehende Fig. 260 zur Anschauung bringt.^) Das

Fig. 260. Schema des Stoffwechsels

der Zelle. Die Pfeile geben die Richtimg

der StoffwanderuDcr an.

^) Verwokn: „Psyche-physiologische Protistenstudien." Jena 1889.

528 iSeehstes Capitel.

Schema stellt eine Zelle mit Kern vor, in der jeder Pfeil eine Summe von Stoffen auf ihrem Wege im Stoffkreislauf bezeichnet.

Die Zelle nimmt gewisse Stoffe von aussen auf, von denen ein Theil (ö) bereits im Protoplasma beim Zusammentreffen mit den im Protoplasma vorhandenen Stoffen Spaltungen und Synthesen erfährt. Von den aus diesen Umsetzungen hervorgehenden Stoffen wird ein Theil (b) als unbrauchbar alsbald wieder ausgeschieden; ein anderer Theil (c) bleibt im Protoplasma und wird hier weiter verwendet; ein dritter Theil (d) wird dagegen dem Kern zugeführt. Der Kern erhält ausserdem noch einen Theil der von aussen aufgenommenen und un- verändert durch das Protoplasma gegangenen Stoffe (e). Die in den Kern eintretenden Stoffe (d -{- e) erfahren ihrerseits wieder im Kern gewisse Umsetzungen, aus denen wieder Stoffe resultiren, die zum Theil nach aussen abgegeben werden, ohne vom Protoplasma verändert zu sein (/'), zum Theil in das Protoplasma gelangen, um hier weitere Verwendung zu finden (Ä), und zum Theil im Kern selbst bleiben (g).

Wenn wir uns nun klar machen, dass jeder Pfeil eine ganze Summe von Stoffen repräsentirt, dass die vom Kern an das Proto- plasma abgetretenen Stoffe mit den von aussen eingetretenen auch wieder Umsetzungen eingehen, dass endlich die aus diesen Umsetzungen hervorgehenden Stoffe zum Theil wieder dem Kern zugeführt werden, so erhalten Avir ungefähr einen Begriff, wie eng die Stoffwechsel- verkettung des Kerns mit dem Protoplasma ist.

Ferner müssen wir uns erinnern, dass bei allen unseren Betrach- tungen Kern und Protoplasma eine grosse Summe von verschiedenen, in vielen Fällen sogar morphologisch differenten Körpern vorstellt, dass in dem Begriff „Kern" auch alle als Nebenkerne, Mikronuclei etc. bezeichneten Gebilde zusammengefasst sind, dass unter „Protoplasma" die ganze Summe von verschiedenen Differenzirungsproducten , auch Chlorophyllkörper etc., verstanden ist. Erst wenn wir berücksichtigen, dass alle die differenten Körper der Kernsubstanz und ebenso die Körnchen, Chlorophyllkörper etc. des Protoplasmas wenigstens zeit- weilig selbst am Stoffwechsel betheiligt sind, dass jeder ein Glied des gesamraten Stoffwechsels bildet, erst dann gewinnen wir eine annähernde Vorstellung von der Complication des Stoffwechsels in der Zelle und von den unendlich vielseitigen Beziehungen, mit denen Kern und Protoplasma untereinander verknüpft sind.

Aus diesen engen Stoffwechselverknüpfungen ergiebt sich eine weitgehende Correlation zwischen den einzelnen Elementen der Zelle, speciell zwischen dem Kern und dem Protoplasma. Das eine ist durch das andere bedingt. Eines ist auf die Stoffe, die das andere producirt, angewiesen. So erklären sich die tiefgreifenden Verände- rungen, Avelche das Leben der Zelle erfährt, wenn sich einzelne Glieder der grossen Stoffwechselkette, sei es spontan im Laufe der Entwick- lung, sei es in Folge der Einwirkung von äusseren Reizen, verändern. Jede Veränderung eines Gliedes im Biotonus hat auch eine Verände- rung vieler anderer Glieder zur Folge, und fällt ein Glied aus irgend welchem Grunde gänzlich fort, so ist die Stoffwechselkette durch- brochen, und es beginnt die Nekrobiose, die schliesslich mit dem Tode endigt.

*

Vom Meclianismus des Lebens.

529

b. Mechanik der Aufnahme und Abgabe von Stoffen.

Nachdem wir hiermit ein allgemeines Bild von den vielver- schlung-enen Wegen des StoftVechsels in der Zelle gewonnen haben, bleibt uns noch die Frage übrig, Avie dieses Getriebe mechanisch unterlialten wird. Da es sich bei den StofFwechselbeziehungen zwischen dem Kern und dem Protoplasma ebenso wie zwischen der ganzen Zelle und dem Äledium um die Aufnahme und Abgabe von Stoffen handelt, so liisst sich die Frage auch einfach in dem Problem zusammenfiissen, wie die Aufnahme und Abgabe von Stoffen seitens der Zelle mechanisch zu Stande kommt.

Es ist zweckmässig, dabei die Zellen, welche nur gelöste Stoffe, und die Zellen, welche auch geformte Stoffe aufnehmen und abgeben, gesondert zu betrachten.

Man hat lange Zeit den Austausch von gelösten Stoffen zwischen Zelle und umgebendem Medium, und zwar sowohl die Resorption wie die Secretion, für Erscheinungen gehalten, die sich ohne Weiteres aus den Gesetzen der Filtration und Diffusion ergeben. Allein in neuerer Zeit ist man auf ver- schiedene Thatsachen aufmerksam gewor- den, die beweisen, dass die Filtration in den meisten Fällen wohl überhaupt keine Rolle bei den Vorgängen der Resorption und Secretion spielt, und dass auch die Diffusion oder Osmose allein nicht aus- reicht, um diese Erscheinungen zu er- klären. Besonders durch die neueren Untersuchungen Heidenhain's^) wissen wir jetzt, dass der Lebensvorgang in der Zelle selbst beim Austausch gelöster Stoffe zwischen Zelle und Medium die bedeu- tendste Rolle spielt, denn die Diffusion allein ist nicht im Stande, die Triebkraft zu erklären, mit der z. B. das Secret vieler Drüsenzellen ausgestossen wird, oder die beträchtliche Energie, mit der

z. B. gewisse Nahrungsstoffe von Seiten der Darmepithelzellen auf- genommen werden. Wir müssen also zur Erklärung des Mechanismus der Resorption und Secretion beide Mo- mente im Auge behalten, die Diffusion und den Che- mismus der Zelle.

Unter Diffusion oder Osmose versteht man bekanntlich die Thatsache, dass sich zwei verschiedene Gase oder Flüssigkeiten, welche miteinander mischbar sind, von selbst zu einem gleichartigen Gemenge mischen, wenn sie miteinander in Berührung gebracht werden. Man spricht in der Regel von Diffusion, wenn die Gase oder Flüssigkeiten unmittelbar sich berühren, von Osmose, wenn sie durch eine organische Membran von einander getrennt sind. Wir haben diesen Vorgang bereits oben kennen gelernt. Erinnern wir uns wieder an den Versuch, der uns die Osmose veranschaulichte (pag. 107), und variiren wir denselben

Fig. 261. Dialysator.

') Hkidenhain : „Neue Versuche über die Aufsaugung^ im Dünndarm." In Pflüger's Arch. Bd. LVI, 1894.

Verworn, Allgemeine Physiologie. 2. Aufl. 34

530 Sechstes Capitel.

etwas, so können wir uns daran gleichzeitig die grosse Bedeutung klar machen, welche das zweite Moment , der Chemismus der Zelle, bei bestehender Diffusion oder Osmose besitzt. Haben wir in dem grösseren Gefäss eine diffusible Salzlösung, in dem Cylinder dagegen die Lösung eines Stoffes , der nicht durch die Membran diffundirt, so wird aus der Lösung des grossen Gefässes in die Flüssigkeit des Cy- linders eine bestimmte Menge Salz hineindiffundiren , während vom Cylinder keine Substanz in das grössere Gefäss übertreten kann. Stellen wir uns aber vor, dass die Substanz im Cylinder chemische Affinität zu dem Salz hat, so wird das in den Cylinder hineindiffun- dirende Salz sofort chemisch gebunden. Denken wir uns nun die so entstandene chemische Verbindung continuirlich entfernt und durch neue Lösung von der Art, wie sie im Cylinder war, ersetzt, so wird die Salzlösung im grossen Gefäss immer dünner und dünner werden, bis schliesslich alles Salz in den Cylinder hineindiffundirt, gebunden und entfernt ist, so dass im grossen Gefäss sich nur noch reines Wasser befindet.

Dieser Fall ist realisirt bei der Aufnahme gasförmiger und ge- löster Stoffe von Seiten der lebendigen Substanz, Die lebendige Sub- stanz ist mischbar mit den gasförmigen und gelösten Nahrungsstoffen, denn sie hat ja chemische Affinität zu ihnen. Die Zellmembran, wo überhaupt eine solche vorhanden ist, vertritt die Membran des Cylin- ders, der Zellinhalt den Inhalt des Cylinders, und die gasförmigen oder gelösten Stoffe vertreten die Stelle der Salzlösung des grossen Gefässes. Diese Stoffe müssen diffusibel sein, soll überhaupt eine Auf- nahme stattfinden; dagegen kann die lebendige Substanz nicht durch die Zellmembran diffundiren, da ja die Eiweisskörper etc. zu den so- genannten „Colloidsubstanzen" gehören. Es werden also die Nahrungs- stoffe in die Zelle eintreten, die lebendige Substanz aber nicht aus- treten können. Da indessen die lebendige Substanz chemische Affi- nität zu den Nahrungsstoffen hat, muss sie dieselben gleich nach ihrem Eintritt in die Zelle binden. Gleichzeitig zerfällt aber dauernd die lebendige Substanz, giebt Stoffe nach aussen ab und bildet sich wieder neu; also werden die aufgenommenen Nahrungsstoffe immer wieder verbraucht, so dass niemals ein dauernder Ausgleich zwischen innen und aussen stattfinden kann, und immer wieder neue Massen hinein- diffundiren müssen. In analoger Weise muss die Abgabe von Stoffen erfolgen. Stellen wir uns also vor, eine von einer Membran umgebene Zelle läge in einem Medium, das Nährstoffe enthält, also etwa eine Bakterienzelle läge in einer Nährflüssigkeit, so müssen auf Grund der Osmose und des Chemismus der Zelle die Stoffe der Nährflüssigkeit, welche überhaupt mit dem Zellinlialt mischbar sind und nicht zu grosse Moleküle besitzen , durch die Zellwand hindurch in die Zell- substanz und umgekehrt die Stoffe der Zellsubstanz, welche sich mit der Nährflüssigkeit mischen und die Zellwand passiren können, aus der Zelle in die Nährflüssigkeit treten, soweit sie nicht durch andere Kräfte auf der einen oder andern Seite festgehalten werden. Dieser Austausch müsste so lange dauern, bis ein Ausgleich der transportablen Stoffe zwischen Zellinhalt und Medium eingetreten wäre. Dann müsste der Stoffwechsel aufhören. Allein dieser Zustand tritt in der leben- digen Zelle niemals ein, da wir in der lebendigen Substanz Verbindungen haben, die fortwährend zerfallen und sich von Neuem aufbauen. Es kann zwischen der lebendigen Zelle und dem Medium niemals zu

Vom Mechauisnms des Lebens. 531

einem Ausgleich der transportablen Stoffe kommen, weil einerseits die Störte, welche die Zelle vom Medium aufgenommen hat, immer gleich ■wieder verbraucht und in andere Verbindungen umgesetzt werden, und weil andererseits die Stoffe, welche die Zelle an das Medium abgegeben hat, immer wieder in neuen Mengen gebildet werden. Es muss daher der Austausch zwischen Zelle und Medium so lange fortdauern, wie die Zelle einerseits noch in genügender Menge Nährstoffe aus dem Medium aufnehmen und andererseits in genügendem Maasse Excretstoffe an das Medium abgeben kann. Ist daher die Menge und Beschaffenheit des Mediums eine bestimmt gegebene, die nicht von aussen her ver- ändert wird, so muss die Zelle nach einiger Zeit zu Grunde gehen, und zwar in dem Moment, wo entweder die Menge der darin ent- haltenen Nährstoffe verbraucht ist, oder wo das Medium schon so mit Excretstoffen gesättigt ist, dass die Abgabe derselben von Seiten der Zelle vermindert oder aufgehoben ist. Beide Fälle sind sehr leicht in Bakterienculturen experimentell zu erzeugen. Die Bakterien sterben entweder an Nahrungsmangel oder an der Anhäufung ihrer eigenen Stoffwechselproducte , Aveil der osmotische Stoffaustausch zwischen Bakterienzelle und Nährflüssigkeit durch allmählichen Ausgleich der Stoffe zwischen Zelle und Medium schliesslich aufhört.

In manchen Fällen wird aber der Mechanismus des Stoff- austausches zwischen Zelle und Medium noch etwas complicirter. Wenn nämlich die Nährstoffe im umgebenden Medium nicht in diffu- sibler Form vorhanden sind, d. h. wenn sie entweder geformt sind oder so grosse Moleküle haben, dass sie die Poren der Zellwand nicht passiren können, dann müssen sie erst löslich und diffusibel gemacht werden, ehe sie die geschlossene Zelloberfläche passiren können. Das geschieht durch die Wirkung der Fermente, welche die Zelle produ- cirt und in manchen Fällen nach aussen abgiebt. In Berührung mit diesen Fermenten werden z. B. die polymeren Moleküle des Eiweisses, des Leims, der Stärke etc., sowie die geformten Massen dieser Stoffe gespalten und in Lösung gebracht und können nunmehr durch die Zell wand ins Innere der Zelle hineindiffundiren. Gerade bei Bakterien- zellen kann man auch diesen Vorgang sehr gut verfolgen. Bringen wir z. B. eine Bakterienzelle auf eine mit fester Nährgelatine bedeckte Glasplatte, so beginnt die Zelle allmählich die Gelatine in ihrer Um- gebung zu verflüssigen, d. h. die festen Stoffe in Lösung zu bringen, und aus dem so entstehenden Flüssigkeitshofe, welcher die Bakterien- zelle umgiebt , können die gelösten Nährstoffe in die Zelle hinein- diffundiren. Bei membranlosen Zellen mit nackter Protoplasmaober- fläche ist natürlich eine extracellulare Verdauung nicht erforderlich, weil ja hier die Nahrungsstoffe, selbst wenn sie nicht diffusibel sind, ohne Weiteres mit der Oberfläche des Protoplasmas in chemische Be- ziehung treten können.

Diese Ueberlegungen lassen es uns mechanisch im Wesentlichen begreifen, wie sich die Resorption und Secretion an der lebendigen Zelle fortwährend von selbst vollziehen kann. Auch die hohen Energie- werthe, die sowohl die Resorption als die Secretion erreichen kann, werden verständlich, wenn wir den Chemismus der lebendigen Zelle genügend berücksichtigen; denn bestehen in einer Zelle sehr starke chemische Affinitäten zu den Nahrungsstoffen, und findet ein sehr leb- hafter Stoffumsatz statt, dann ist es sehr gut denkbar, dass diese hohe chemische Energie in der Resorption wie in der Secretion zu ganz

34*

532 Sechstes Capitel.

beträchtlichen Leistungen führen kann. Immerhin bleiben im speciellen Falle noch genug Räthsel übrig, deren Beantwortung aber an eine andere Stelle gehört.

Liegt dem Austausch gelöster Stoffe zwischen Zelle und Medium vermuthlich in allen Fällen das gleiche Princip zu Grunde, so beruht dagegen die Mechanik des Austausches geform ter Stoffe in den einzelnen Fällen auf sehr verschiedenartigen Grundlagen. Allen Fällen des Austausches geformter Stoife ist nur gemeinsam, dass dieser Austausch lediglich durch active Bewegungen der be- treffenden Zelle vermittelt wird, aber das Zustandekommen dieser Be- wegungen kann in den verschiedenen Fällen auf sehr verschiedene Weise durch die Einwirkung der Nahrung bedingt sein. Wir finden die Aufnahme und Abgabe geformter Stoffe nur wenig verbreitet, und zwar nur einerseits bei nackten Protoplasmamassen, wie Rhizo- poden, Leukocyten etc., und andererseits bei Infusorien, soweit sie eine besondere Mundöffnung besitzen. Bei vielen Infusorien , wie z. B. Stentor, Vorticella, also namentlich bei solchen, die eine festsitzende Lebensweise führen, scheint die Nahrungsaufnahme lediglich dem Zufall überlassen zu sein , der gelegentlich kleine, freischwimmende Nahrungspartikel, wie Algenzellen, Schwärmsporen^ Bakterien etc., in den Bereich des charybdisähnlichen Strudels führt, welcher durch den Schlag der Peristomwimperreihe erzeugt wird. Dieser Strudel wird in seiner Richtung durch Veränderungen im Wimperschlag in ganz bestimmter Weise beeinflusst und zeitweilig so" geregelt, dass er direct in die Mundöffnung des Zellkörpers leitet. Freischwimmende Infusorien und die meisten nackten Protoplasma- massen dagegen suchen die geformte Nahrung selbst auf. Dabei werden sie entweder durch chemische Reize, welche von den Nahrungsmassen durch Diffusion gewisser Stoffe ausgehen, aus der Ferne herbeigelockt, oder sie werden bei directer Berührung mit den Nahrungsmassen durch mechanische Reizung zur Aufnahme veranlasst. Im ersteren Falle ist die Nahrungsaufnahme eine Form von positiver Chemotaxis, indem die Zelle sich nach der chemischen Reizquelle hin bewegt, und ihr Protoplasma in engste Beziehung zu den betreffenden Stoffen tritt, im letzteren Falle eine Form der positiven Thigmotaxis, indem die Zelle die Berührung mit dem betreffenden Nahrungskörper möglichst auszudehnen sucht und ihn mit ihrem Protoplasma umfliesst. Sehr häufig sind beide Momente vereinigt. Immer aber wird der Nahrungs- ballen vom Protoplasma allseitig umflossen, wenn er mit ihm in Be- rührung getreten ist, sei es an der Oberfläche des nackten Proto- plasmakörpers, sei es im Grunde der Zellmundöffnung eines Infusors. Diese Umfliessung erklärt sich sehr einfach aus der expansorischen Wirkung, Avelche der Reiz des Nahrungsballens auf das Protoplasma ausübt: denn Avenn sich die Oberfläche des Protoplasmas um den Nahrungsballen ringsherum vorwölbt, muss derselbe schliesslich vom Protoplasma umflossen sein. Die Aufnahme von geformter Nahrung findet also ihre Erklärung in dem Mechanismus der chemotaktischen und thigmotaktischen Reizwirkungen, den wir bereits an anderer Stelle genauer kennen lernten ^). Wie die Abgabe geformter Stoffe stattfindet, ist noch wenig untersucht. Es scheint, als ob sie mehr oder weniger dem Zufall überlassen ist. Wenigstens macht es bei Amoeben den

') Vergl. pag. 504.

Vdiii Mta'liaiiiMiHis des Luliciis. 533

Eindruck. Die geformten Stoffe liegen in der Kegel in Vacuolen, und wenn einmal die Vaeuole bei der fortwährenden Bewegung des Proto- plasmas dicht an die; Körperoberflächc zu liegen k(nnmt, platzt ge- legentlich die dünne \A'and, welche sie vom umgebenden Medium trennt, und der Inhalt wird frei. Vielleicht aber sind zu diesem Platzen der Vacuolenwand auch irgendwelclie Reize von Seiten des Excretballens nothwendig. Ob die Abgabe der Excremente durch die Afteröffnung, wie sie bei Infusorienzellen vorkommt , ebenfalls auf einer Reiz- wirkung beruht, muss dahingestellt bleiben, bis dieser Vorgang genauer studirt ist.

Als eine ganz wunderbare Erscheinung, die der mechanischen Erklärung besondere Schwierigkeiten mache, hat man mehrfach die sogenannte Nahrungsauswahl von Seiten gewisser Zellen hin- gestellt, d. h. die Thatsache, dass gewisse Zellen unter den ihnen zur Verfügung stehenden Stoffen nur ganz bestimmte Stoffe in sich auf- nehmen ^). So hat Bunge-) von dem Aufsuchen der Spirogyrafäden seitens der Vampyrella Spirogyrae und von der Auswahl der Fetttröpfchen aus dem Darminhalt von Seiten der Darmepithelzellen gesagt: „An eine chemische Erklärung dieser Erscheinungen ist gar nicht zu denken." Weshalb das aber der Fall sein soll, ist eigentlich nicht recht zu verstehen. Schält man aus diesen scheinbar isolirt stehenden Erscheinungen das Princip heraus, das ihnen zu Grunde liegt, d. h. die Thatsache, dass jede Zelle nur ganz bestimmte Stoffe in sich aufnimmt und andere nicht, so giebt es im Gegentheil eigent- lich kaum etwas, was selbstverständlicher erscheint. Jede Zelle hat ihre charakteristische Zusammensetzung aus ganz bestimmten Stoffen und hat ihren ganz eigenthümlichen Stoffwechsel. Ist es da unver- ständlich, dass nur diejenigen Stoffe aus dem Medium in den Stoff- wechselkreislauf der Zelle hineingezogen werden, die chemische Be- ziehungen zu den Stoffen des Zellkörpers haben und zur Unter- haltung des Stoffwechsels nöthig sind, während die anderen, die keine solchen Beziehungen zur lebendigen Substanz der Zelle besitzen, die für die Zelle indifferent sind, nicht aufgenommen und bei freier Orts- beweglichkeit nicht aufgesucht Averden? Das Princip, das dieser Er- scheinung zu Grunde liegt, ist offenbar kein anderes als das, welches die ganze Welt der Atome und Moleküle überhaupt beherrscht, als das Princip der Affinität. Dass sich ein Phosphoratom mit einem Sauerstoff'atom sehr leicht verbindet, mit einem Platinatom dagegen nicht, ist sicherlich nicht weniger wunderbar, als dass eine Darm- epithelzelle zwar Fettkügelchen in sich aufnimmt, aber niemals Pigment- körnchen. Und dass eine Vampyrella gerade nur Spirogyrafäden mit ihrem Körperprotoplasma umfliesst und verdaut und andere Körper nicht, ist offenbar nicht weniger verständlich, als wenn ein ranziger Oeltropfen, wie Gad^) gezeigt hat, auf einer alkalischen Flüssigkeit amoeboide Fortsätze aussendet und das Alkali zur Seifen- bildung benutzt, auf einer saueren dagegen in Ruhe bleibt. Das Be- nehmen der Vampyrella und der Darmepithelzelle steht aber auch in Wirklichkeit gar nicht isolirt da; vielmehr zeigt jede lebendige

^) Vergl. pag. 152.

^) Bunge: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie." 2. Aufl. Leipzig 1889.

^) J. Gad: „Zur Lehre von der Fettresorption." In Du Bois-Reymond's Arch. f.

Physiologie Jahrg. 1878.

534 Sechstes Capitel.

Zelle das gleiche Verhalten. Im menschlichen Körper z. B. nimmt jede GfeweVjezelle aus der gemeinsamen Nährflüssigkeit, dem Blute, nur ganz bestimmte Stoffe in sich auf, andere nicht, wie aus der Thatsache hervorgeht, dass Drüsen-, Muskel-, Knorpelzellen etc. auch ganz verschiedene und nur für sie charakteristische Stoffe produciren. La dieser Beziehung verhält sich die Zelle, wie bereits Haeckel ^) be- tont hat, genau wie ein Krystall, etwa von Alaun, der aus einer zahl- reiche Salze in Lösung enthaltenden Mutterlauge immer nur Alaun- moleküle auswählt um sie zu seinem "Wachsthum oder, wenn man ihn verletzt hat, zu seiner Regeneration zu benutzen. So ist das mystische Dunkel, das man künstlich um die sogenannte Auswahl von Xahrungs- stoffen seitens der einzelnen Zelle zu verbreiten gesucht hat, in Wirk- lichkeit gar nicht vorhanden. Was man in anthropomorphischer Ueber- tragung eine „Nahrungsauswahl" von Seiten der Zelle genannt hat, ist schlechterdings eine nothwendige Consequenz aus der Thatsache, dass jede Zelle ihre eigene specifische Zusammensetzung der lebendigen Substanz und ihren eigenen charakteristischen Stoffwechsel besitzt.

So lassen sich die Erscheinungen des Stoffwechsels der Zelle sämmtlich auf chemische und physikalische Verhältnisse zurückführen, wie sie auch in der anorganischen Natur gefunden werden, und wenn wir auch bisher ausser Stande sind, die speciellen Glieder des Stoff- wechsels im einzelnen Falle bis in ihre Feinheiten hinein zu verfolgen, so gewinnen wir doch die Gewissheit, dass der gesammte Stoffwechsel rein mechanisch zu Stande kommt, und dass wir nirgends auf Er- scheinungen stossen, die in "U'ahrheit einer mechanischen Erklärung unzugänglich sind. Die eiserne Schlussfolgerung, dass Alles, was aus Materie besteht, auch den Gesetzen der Materie gehorchen muss, kann selbstverständlich auch nirgends eine Ausnahme erleiden.

2. Die Formwechselmechanik der Zelle.

Obwohl wir bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse von den Vorgängen in der Zelle nicht wissen, mit welchen speciellen Leistungen sich die einzelnen Bestandtheile der Zelle am Gesammtstoffwechsel derselben betheiligen , mit welchen chemischen Processen Kern und Protoplasma sammt ihren speciellen Inhaltsmassen in die Geschichte der Biogene verwebt sind, so genügen doch unsere bisherigen Er- fahrungen über die allgemeinen Stoffwechselverhältnisse in der Zelle, um zu erkennen, dass sich auch die Formwechselerscheinungen, d. h. die Erscheinungen des Wachsthums und der Fortpflanzung, der Ent- wicklung und der Vererbung, als mechanische Consequenz aus diesen Stoffwechselverhältnissen herleiten lassen.

a. Das "Wachsthum als G-runderscheimiiig des Formwechsels.

Das Wachsthum bildet die Grunderscheinung des organischen Formwechsels, denn das Wachsthum der Zelle ist nicht nur der ein- fachste Fall des Formwechsels überhaupt, sondern es enthält zugleich die inneren Ursachen für die complicirteren Erscheinungen der Fort- pflanzung und Entwicklung der Zelle, wie die folgende Betrachtung

^) Haeckel: „Generelle Morphologie der Organismen." Bd. I, 1866.

Vom Meclianismiis des Lebens. 535

alsbald ergeben wird. Den Wachsthumsmodus der lebendigen Sub- stanz haben wir bereits an einer andern Stelle ^ ) bei'ührt. Wir wissen, dass wir in der lebendigen Substanz Molekide haben, die eine ausser- ordentliche Neigung zur Polymerisirung besitzen, d. h. Moleküle, welche bestrebt sind, unter gegebenen Bedingungen durch weiter und weiter fortschreitende Anlagerung gleichartiger Atonigruppen sich zu vergrössern und Ketten von vielen gleichen Gliedern zu bilden. In den nativen Eiweisskörpern haben wir solche polymere Moleküle der lebendigen Substanz kennen gelernt, und so ist es schon von vornherein wahrscheinlich, dass die sog. lebendigen Eiweisskörper, die wir als Biogene bezeichneten, diese Eigenschaft ebenfalls besitzen werden, um so mehr, als wir Grund haben, mit Pflüger anzunehmen, dass im Biogen- molekül das vielfach zu Polymerisirungen Anlass gebende Cyanradical enthalten ist. Wäre aber nicht schon aus diesen Gründen die Poly- merie des Biogenmoleküls mehr als wahrscheinlich, so würden wir nothwendig zu ihrer Annahme gezwungen durch die Thatsache des Wachsthums. Das Wachsthum der lebendigen Substanz selbst, d. h. die Vermehrung der lebendigen Substanz im Verein mit dem Um- stände, dass neue lebendige Substanz nur dort entsteht, wo bereits lebendige Substanz vorhanden ist, verlangt als Substrat unbedingt ein Molekül, das durch Polymerisirung sich vergrössert. Wir können uns das Wachsthum der lebendigen Substanz nur vorstellen, indem wir uns ein Biogenmolekül denken, das aus den Stoffen der Umgebung (Nahrungsstoffen) nach und nach gleichartige Atomgruppen an sich an- lagert, die ihrerseits in derselben Weise fortfahren, aus der Umgebung bestimmte Atome an sich zu ziehen und wieder in der gleichen Lagerung zu binden etc.

Dieser Vorgang, den wir uns hier an einem gleichartigen Sub- strat vorstellen, verläuft freilich in der Zelle, deren lebendige Sub- stanz und deren Stoffwechsel bereits sehr weit differenzirt ist, be- deutend complicirter. In der Zelle sind mehr oder weniger eng an der Bildung und dem W^achsthum der Biogenmoleküle sowohl die Substanzen des Kerns als des Protoplasmas mit all' ihren speciellen Differenzirungen betheiligt. Allein es ist bei diesem engen Ineinander- greifen und bei dieser engen Abhängigkeit der einzelnen Bestandtheile der Zelle untereinander sehr verständlich, dass, wenn z. B. gewisse Biogene des Protoplasmas durch Polymerisirung wachsen, dieses nur möglich ist, wenn zugleich auch andere Bestandtheile des Protoplasmas oder des Kerns in einem bestimmten Maasse zunehmen, mit anderen Worten, es wird nicht bloss eine einzelne Substanz des Protoplasmas oder Kerns allein wachsen, sondern ihr Wachsthum wird begleitet sein von dem Wachsthum anderer Substanzen.

Es ist von Wichtigkeit, auf die Verhältnisse, welche sich bei dieser engen Correlation der einzelnen Zelltheile durch das Wachs- thum entwickeln, etwas näher einzugehen. Denken wir uns zum Bei- spiel eine freilebende runde Zelle, welche alle zu ihrem Leben noth- wendigen Stoffe in dem umgebenden Medium in genügendem Maasse zur Verfügung hat, und nehmen wir an, dass die Zelle wächst, so wird sich mit zunehmender Grösse der Zelle das Verhältniss der Ober- fläche zur Masse mehr und mehr verändern, und zwar wird nach be- kannten mathematischen Gesetzen die Oberfläche gegenüber der Masse

1) Vergl. pag. 310 und 492.

536 Sechstes Capitel.

wachsen im Verhältniss des Quadrates zum Cubus. Mit anderen Worten : je kleiner die Zelle ist, um so grösser ist die Oberfläche im Verhältniss zur Masse, und je mehr die Zelle wächst, um so weniger wächst die Oberfläche im Verhältniss zur Masse.

Diese einfache Thatsache ist aber von fundamentaler Bedeutung. Das wird sofort klar, wenn wir daran denken, dass die einzelnen Theile des Zellkörpers in innigen Stoffwechselbeziehungen unter- einander und mit der Aussenwelt stehen. Gegenüber den von aussen aufgenommenen Nahrungsstoffen, sowie dem Sauerstoff wird sich, je mehr die Zelle wächst, um so mehr ein Missverhältniss zwischen den äusseren und den inneren Schichten des Zellkörpers herausbilden, denn da die Oberfläche, durch welche die Nahrung aufgenommen wird, sich in geringerem Maasse vergrössert, als die Masse des Zell- körpers, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo die aufgenommene Nah- rung nicht mehr für den ganzen Zellkörper ausreicht, und die Folge davon muss sich in einer zu geringen Ernährung der inneren Zell- schichten gegenüber den äusseren bemerkbar machen. Während in den äusseren Zellschichten die Ernährung schnell und reichlich er- folgt, geschieht sie in den tieferen Schichten langsamer und spärlicher. Das wird nicht bloss das Protoplasma treffen, sondern auch den Zell- kern. Der Zellkern wird viel weniger Stoffe von aussen empfangen, wenn die ihn umgebende Protoplasmaschicht dicker und dicker wird, als wenn sie nur dünn ist. Umgekehrt aber werden auch die äusseren Schichten der Zelle viel weniger reichlich mit Kernstoffen versorgt werden, als die inneren. Kurz, der Stoffwechsel muss bei dem engen Ineinandergreifen der einzelnen Zelltheile tiefgehende Veränderungen erfahren, die sich immer mehr steigern, je mehr die Zelle wächst. Der Stoff- wechsel der Zelle ist daher, solange die Zelle stetig wächst, in keinem Zeitdifferential genau derselbe wie im vorhergehenden und wie im folgenden.

Diese zwingende Consequenz aus der Thatsache des Wachsthums enthält aber das Princip aller Entwicklung in sich, d. h. die That- sache des Wachsthums reicht bei den engen Stoffwechselbeziehungen, welche zwischen den einzelnen Inhaltsbestandtheilen der Zelle und des Mediums existiren, allein schon vollkommen aus, um nothwendig zu all' den Veränderungen zu führen, die wir als „Entwicklung" be- zeichnen.

Zunächst ergiebt sich aus diesen Verhältnissen, dass die Zelle eine bestimmte Grösse nicht überschreiten kann, denn wenn die Störungen des Stoffwechsels, welche durch das steigende Missverhältniss zwischen den oberflächlicheren und den tieferen Schichten der Zelle entstehen, einen bestimmten Grad erreicht haben, kann die Zelle nicht mehr in dieser Form am Leben bleiben. So erklärt sich sehr ein- fach die ganz auffallende Thatsache, dass wir keine formbeständigen, massigen Zellen kennen, die grösser wären, als einige Millimeter; so lernen wir verstehen, weshalb die Entwicklung grosser Organismen nur möglich ist durch Anordnung der lebendigen Substanz zu einem Congregat von einzelnen kleinen Zellen und unmöglich durch Anord- nung der lebendigen Substanz zu einer einzigen Zelle, etwa von der Grösse eines Menschen. Gleichzeitig ist aber auch verständlich, dass unter Umständen Zellen, deren Oberfläche bedeutend vergrössert ist

Vuiii Moeliniiismus des Lebens. 537

im Verhältniss zur ]\Ias;s(', wie bei den flächenhaften Blättern der Caulerpa, oder Zellen, deren rrotojjlasnia in fortwährender Circula- tion zwischen Oberfläche und Innerem begrift'en ist, wie bei den Plas- modien der Myxomyceten, eine bedeutendere Grösse erreichen können, namentlich wenn auch die Kernsubstanz durch Vervielfältigung eine beträchtliche Vergrösserung aufweist. In diesen Fällen kann sich eine Dift'erenz zwischen den äusseren und den inneren Schichten des Zell- körpers nicht in dem Grade entwickeln, wie bei compacten Zellen. "Wo aber der Zellkörper eine compacte Masse vorstellt, wo ferner eine lebhafte Strömung des Inhalts nach der Oberfläche fehlt, und wo schliesslich nur ein Kern im Protoplasma vorhanden ist, da kann die Zelle eine bestimmte Grösse nicht überschreiten. Soll daher die lebendige Substanz einer solchen Zelle durch Wachsthum nicht zu Grunde gehen, so muss an einem bestimmten Zeitpunkt des Wachs- thums eine Correctur dieses Missverhältnisses zwischen Masse und Oberfläche und der dadurch bedingten Stoffwechselstörungen eintreten, und eine solche haben wir in der That in der Fortpflanzung der Zelle durch Zelltheilung.

Die Fortpflanzung der Zelle durch Theilung ist demnach lediglich als eine Folge des Wachsthums zu betrachten, und mit Recht haben die Morphologen schon seit langer Zeit die Fortpflanzung als eine Fortsetzung des Wachsthums, als ein „Wachsthum über das in- dividuelle Maass hinaus" bezeichnet. Leider sind unsere Erfahrungen über die specielle Mechanik des Zelltheilungsvorgangs bisher noch verschwindend gering. Allein es ist zu erwarten, dass eine ver- gleichend-physiologische Untersuchung der so genau bekannten morphologischen Thatsachen, Avenn sie sich speciell auf die mechani- schen Verhältnisse richtet, wie sie in verschiedenen Zellformen in mannigfacher Weise ausgebildet sind , sehr glückliche Ergebnisse zeitigen wird. Vor Allem ist es wichtig, dabei stets die Stoöwechsel- beziehungen zwischen den einzelnen Zelltheilen im Auge zu behalten und als Ausgangspunkt für die Untersuchung zu wählen. Die mecha- nischen Folgen, welche durch die Stoftwechselbeziehungen unter den einzelnen Zelltheilen und dem Medium hervorgerufen werden, sind geeignet, einiges Licht auf die zum Theil ganz wunderbar compli- cirt erscheinenden Vorgänge bei der Zelltheilung zu werfen. Vor Allem dürften die durch die chemischen Beziehungen zwischen den einzelnen Theilen der Zelle verursachten mechanischen Bewegungen, unter denen jedenfalls Diffusionsvorgänge, sowie Veränderungen der Cohäsion und Oberflächenspannung vei'schiedener Zellelemente eine hervorragende Rolle spielen, das wichtigste Moment für die mechanische Erklärung der charakteristischen Zell- und Kerntheilungsfiguren ab- geben. Schon vor längerer Zeit hat Bütschli ^) die Vorstellung aus- gesprochen, dass die Strahlungstigur, welche sich bei der Kerntheilung um das Centrosom im Protoplasma bildet, ein Ausdruck von Diflusions- vorgängen sei, die zwischen dem Centrosom und dem Protoplasma ent- ständen, und später hat Bltschli^) gezeigt, dass beim Eintrocknen und Gerinnen warm auf eine Glasplatte gegossener Gelatineschäume um

') Bütschli: „Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, die Zelltheilung und die Coujugatiou der Infusorien." In Abhandl. d. Öenckenberg. uaturf. Ges. Bd. X, 1876.

2) Derselbe: „Ueber die künstliche Nachahmung der karyokinetischen Figur." In Verh. d. naturhist.-med. Vereins zu Heidelberg. X. F. Bd. V, 1892.

538

Sechstes Capitel.

Luftblasen herum durch die Zugwirkung der sich zusammenziehenden Luft Strahlungserscheinungen entstehen, die denen der karyokineti- schen Figur vollständig gleichen (Fig. 262). Wir werden also wohl vermuthen dürfen, dass die Strahl ungsfigur, welche sich um das Centrosom bildet, ebenfalls ihren Ursprung hat in Zugkräften, die sich zwischen dem Centrosom und dem schaumigen Protoplasma geltend machen, und dass sich diese Zugkräfte herleiten aus den chemischen Beziehungen und Diffusionsvorgängen, die sich zwischen beiden Zellbestandtheilen entwickeln. Allein erst eine methodische Untersuchung und eine vergleichende Verfolgung dieser Vorgänge wird Sicherheit in diesen Fragen schaffen können. Die mechanischen Theorieen der Zell- und Kerntheilung, welche in neuester Zeit M. Heidenhain ^) , Drüner^), Rhumbler^) und Andere aufgestellt

W!m;s^m^^^mwmmm

I II

Fig. 262. Photographische Aufnahine von Strahlungsfiguren. I Kern- strahlungsfigur aus einem Cephalopodenembryo. II Strahlungsfigur um zwei Luftblasen in einem Gelatineschaum, der durch Chromsäure zum Gerinnen gebracht wurde. Nach Photographieen von Bütschli.

haben, sind untereinander noch so widersprechend und zudem so lückenhaft und voller Hypothesen, dass es zur Zeit ganz unmöglich erscheint, etwas Sicheres, und sei es auch nur allgemeinster Natur, über die Mechanik dieser complicirten Vorgänge zu sagen. Vor allen

^) Heidenhain: „Neue Untersuchungen über die Centralkörper und ihre Be- ziehungen zum Kern- und Zellenprotoplasma." In Arch. f. mikrosk. Anat. 1894. Derselbe: „Cytomechanische Studien." In Arch. f. Entwicklungsgesch. 1895. Der- selbe: „Ein neues Modell zum Spannungsgesetz der centrirten Systeme." In Verhandl. d. anatom. Ges. zu Berlin 1896.

2) L. Drüner : „Zur Morphologie der Centralspindel." In Jen. Zeitschr. f. Naturw. N. F. Bd. XXI, 1894.

^) L. Rhumbler: „Versuch einer mechanischen Erklärung der indii-ecten Zell- und Kerntheilung. I. Theil: Die Cytokinese." In Arch. f. Entwicklungsgesch. 1896. Derselbe: „Stemmen die Strahlen der Astrosphäre oder ziehen sie?" Elbenda 1897.

Vom Meclianisinus des Lebens. 539

Dingen sind in denselben meist, wie R. FickV) sehr richtig hetont, die molekuhir-pliysikalischen Verhältnisse viel genauer zu berück- sichtigen, was uisher eigentlich nur Rhumbler in etwas ausgedehn- terem Maasse gethan hat. Für eine methodische Untersuchung der Kerntheilungsmechanik wird es ferner von wesentlicher Bedeutung sein, von den einfachsten Formen der Kerntheilung auszugehen, d. h. von der sogenannten dirccten Kerntheilung, bei der es nicht zur Ent- wicklung complicirter Theilungsfiguren kommt. Die Erscheinung, dass sich hier der Kern in die Länge zieht und einfach durchschnürt, so dass zwei Kerne entstehen, ist ein einfacher Modus der Oberflächen- vergrösserung des Kerns bei gleichbleibender Masse, und die darauf folgende Durchschnürung des Protoplasmas bedeutet das Gleiche für den ganzen Zellkörper. Es ist die einfachste Form einer Correctur des zwischen Oberfläche und Masse bei fortgesetztem Wachsthum ent- standenen jNIissvcrhältnisses, und gerade diese einfachste Form der Fortpflanzung dürfte einst der mechanischen Erklärung verhältniss- mässig die geringsten Schwierigkeiten in den Weg stellen.

Mit der Theilung der Zelle in zwei selbständige Zellen wird in den beiden Theilproducten das Verhältniss von Oberfläche zu Masse wieder ein ganz anderes, als es in der grossen Zelle vor der Theilung war. Die Folge davon ist, dass sich auch die StofFwechselverhältnisse wieder verändern werden, und dass die Zelle wieder denselben Zu- stand annimmt, den die Mutterzelle hatte, als sie durch Theilung ent- standen war und als selbständiges Individuum zu wachsen begann. Es wiederholt sich also von einer Zelltheilung zur andern derselbe Cyclus von Veränderungen, der durch das Wachsthum des Zellkörpers und die dadurch veranlassten Störungen im. Stoffwechsel bedingt ist. Sind diese Veränderungen gering, so werden sie sich äusserlich in der Formbildung der Zelle, abgesehen von der Grössenzunahme, nicht be- sonders bemerkbar machen. Die Mehrzahl aller Zellen zeigt dieses Verhältniss, indem sie einfach Avachsen und, wenn sie eine bestimmte Grösse erreicht haben , sich theilen und so fort. Wo dagegen die durch das Wachsthum verursachten Stoffwechselstörungen bedeutender sind, da werden dieselben auch in einer Veränderung der äusseren Form des Zellkörpers zum Ausdruck kommen, und wir bekommen eine typische Entwicklung der Zelle. Eine grosse Anzahl der freilebenden einzelligen Organismen weist diese Erscheinung auf, und zwar besonders diejenigen, deren Zellkörper bei der Theilung nicht in zwei Hälften, sondern in eine grössere Anzahl von Theilen oder ., Sporen" zerfällt. Die Grössendifferenz der Spore und des aus- gew^achsenen Infusors ist allerdings ganz bedeutend. Daher müssen auch die Stoffwechselunterschiede ganz bedeutend sein, und es bedarf einer längeren Entwicklung, bis die Spore sich wieder zu einem aus- gewachsenen Infusor ausgebildet hat.

So ergiebt sich die Entwicklung der Zelle, die periodische Wiederkehr eines und desselben Cyclus von Formveränderungen von einer Zelltheilung bis zur andern, von einer Sporenbildung bis zur andern als einfacher Ausdruck der Veränderungen, welche durch das Wachsthum im Stoffwechsel der Zelle hervorgerufen werden. Freilich müssen sich während des Wachsthums bei der engen Correlatiou aller

^) R. Fick: .,Bemerkungen zu M. Heidenhain's Spannungsgesetz." In Arch. f. Anat. u. Phjsiol., Anatom. Abth., 1897.

540 Sechstes Capitel.

Zelltheile unter sich und mit den Factoren des Mediums noch unzäh- lige andere, soAvohl chemische als physikalische Momente herausbilden, die sämmtlich wieder mit eingreifen, um die Veränderungen der Zellen- form zu unterstützen und zu befördern. Aber als fundamentale Ur- sache aller dieser Veränderungen brauchen wir keinen andern Factor anzunehmen, als das Wachsthum. Das \^'achsthum allein genügt, um die cyklische Folge von Formveränderungen verständlich zu machen, die wir Entwicklung nennen. Das Wachsthum selbst ist das G r u n d p h ä n o m e n des F o r m w e c h s e 1 s.

b. Entwicklungsmechaoik.

Eine Frage, Avelche die Entwicklung des vielzelligen Organismus durch fortgesetzte Theilung aus der Eizelle betrifft, ist in neuerer Zeit Mittelpunkt lebhafter Erörterungen geworden. Das ist die Frage: Wie kommt die Theilung einer Zelle in zAvei ungleiche Hälften zu Stande, eine Thatsache, welche die Grundbedingung für die Ent- wicklung jedes differenzirten Zellenstaates bildet? Diese Frage, die von fundamentaler Bedeutung für d-as Verständniss der Entwicklung aller höheren Organismen ist, wird auf zwei sehr verschiedene Weisen beantwortet. Die Ansicht einer Reihe von Forschern schliesst sich der Theorie von His^) über die „organbildenden Keimbezirke" an. Roüx-) und Weismann ^) sind die neuesten Vertreter dieser Ansicht, welche besagt, dass bereits in der Eizelle verschiedene Bezirke vor- handen sind, die bei der fortgesetzten Theilung auf verschiedene Theil- zellen übertragen werden, und deren jeder das Material für die Ent- wicklung ganz bestimmter Gewebe und Organe liefert. Mit anderen Worten : Die Anlagen für die verschiedenen Körpertheile des fertigen Organismus sind bereits in verschiedenen Theilen des Eies getrennt nebeneinander. Die Hauptstütze dieser Ansicht bilden die Experimente, welche Roux am Froschei angestellt hat, bei denen er beobachtete, dass nach künstlicher Zerstörung einer der beiden ersten Furchungs- zellen sich aus der anderen zunächst nur Hemiembryonen entwickelten, d. h. Embryonen, denen die eine Körperhälfte ganz fehlte, dass freilich die fehlende Hälfte später durch „Postgeneration", Avie Roux sich ausdrückt, nachgebildet werden kann. Dem steht die Ansicht einer andern Reihe von Experimentatoren, vor Allem von Pflügee^), 0. Hektwig^) und Driesch*^) gegenüber, welche die Existenz „organ-

^) W. His: „Unsere Körperform und das pliysiolngische Problem ihrer Entstehung. Briefe an einen befreundeten Naturforscher." 1874.

^) Roux : „Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen." Leipzig 1895.

*') Weismann: „Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung." Jena 1892.

■*) Pflügkr: „lieber den Einfluss der Schwerkraft auf die Theilung der Zellen." In Pflüger's Arch. Bd. XXXI, XXXII, XXXIV.

■'^) O. Hertwig: „Die Zelle und die Gewebe." Jena 1892. Derselbe: „lieber den Werth der ersten Furchungszellen für die Organbildung des Embryo. Experimentelle Studien am Frosch- und Tritonei." In Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. XLII, 1893.

^) Deiksch : „Entwicklungsmechanische Studien. I. Der Werth der beiden ersten Furchungszellen in der Echinodermeneutwicklung. Experimentelle Erzeugung von Theil- und Doppelbildungen." In Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. LIIl, 1892. Derselbe: „Zur Verlagerung der Blastomeren des Echinideneies." In Anatom. Anzeiger Nr. 10 u. 11, 1898.

Vom Mechanismus des Lebens. 541

bildender Keimbezirke" in der Eizelle leugnen und sich vorstellen, dass die Differcnzirung der gleichartigen Eizelle in verschiedenartige Theilzellen lediglich durch die Einwirkung äusserer Factorcn auf die verschiedenen im Ei enthaltenen Stoffe herbeiget'ührt wird. So wirkt z. B, bei Eiern, die, wie das Froschei, verschieden schwere Substanzen im Froschei findet sich eine weisse, dotter- reichere und eine pigmentirte, protoplasmareichere enthalten, die Schwerkraft in der Weise, dass sie sich polar dififerenzii-en, so dass die schwerere Substanz unten, die leichtere oben zu liegen kommt und bei Drehung dos Eies immer wieder in diese Lage zurückkehrt. Bei der ersten Theilung des Eies wird diese polar differenzirte Zelle durch eine senkrechte Furche in zwei gleiche Hälften getheilt, von denen jede gleichviel weisse und schwarze Substanz enthält. Brachte Pflüger aber Froscheier in eine abnorme Lage und fixirte sie darin, so wurden die Eier bei der Furchung häufig in zwei ganz ungleiche Theile gefurcht, von denen der eine vorwiegend die helle, der andere die dunkle Masse enthielt, und trotzdem entwickelten sich normale Larven daraus. Der Inhalt des Eies kann also nicht schon so diffe- renzirt sein, dass sich aus jedem Theil nur gewisse Organe entwickeln können, vielmehr müssen im Ei die verschiedenen Bezirke noch durch- aus gleichwerthig sein für die spätere Entwicklung. Dafür spricht übrigens schon von vornherein die von Hertwig beobachtete Thatsache, dass sogar einzelne kleine Stücke der Eizelle, wenn sie nur lebensfähig sind und befruchtet werden, sich zu ganzen Individuen entwickeln. Gegenüber den Beobachtungen von Roux stellte ferner Driesch an Seeigeleiern fest, dass aus jeder der zwei, vier oder acht ersten Furchungszellen , wenn er sie durch Schütteln von einander isolirt hatte, sich stets vollkommene Individuen entwickelten, die sich nur durch ihre geringere Grösse von den normalen unterschieden, eine Thatsache, die übrigens seitdem von zahlreichen Beobachtern an ver- schiedenen Thierarten, unter anderen auch von O. Hertwig an Roux's eigenem Versuchsmaterial, dem Froschei, bestätigt worden ist. Dass sich ferner aus den einzelnen durch die Theilung der Eizelle ent- stehenden Furchungszellen durchaus nicht ganz bestimmte Theile oder Organe des Embryo entwickeln, konnten Diersch und Hertwig im Verfolg des bereits von Fflüger angestellten Versuches noch auf andere Weise zeigen, indem sie, wie Pflüger, Froscheier zwischen zwei Glasplatten so einklemmten, dass sich die aus der Theilung hervorgehenden Zellen nur in einer Ebene lagern konnten, statt in einem kugligen Haufen, dass also eine ganz abnorme Verlagerung der Furchungszellen gegeneinander eintrat. Trotzdem entwickelten sich daraus vollständig normale Embryonen. Aus dieser Thatsache müssen wir nothwendig den Schluss ziehen, dass die einzelnen bei der Fur- chung entstehenden Theilzellen keine bestimmten Organanlagen reprä- sentiren, und dass auch in der Eizelle mithin keine „organbildenden Keimbezirke" vorhanden sein können.

Fassen wir die Gegensätze, die sich in beiden, noch immer un- vermittelt gegenüberstehenden Theorieen aussprechen, kurz zu- sammen, so ist die Vorstellung von Weismann und Roux im Wesent- lichen nichts Anderes als die alte, hier mehr, dort weniger klare Präformationslehre, wie sie zur Zeit Haller's blühte, nur in etwas modernerem Gewände, während die Ansicht von Pflüger, Hertv^-ig und Driesch den Standpunkt der Epigenesislehre Caspar Friedrich

542 Sechstes Capitel.

Wolff's repräsentirt, wie ihn in der neueren Entwickelungsgeschichte vor Allem Haeckel stets mit grosser Entschiedenheit vertreten hat. In diesem Gegensatze sind beide Lehren unvereinbar miteinander. Allein es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dass die Thatsachen durchaus gegen eine Präformation organbildender Keimbezirke in der Eizelle sprechen, wie sie namentlich Weismann und De Vkies ^) in minutiösester Form angenommen haben. Die Thatsache, dass auch kleine Stücke einer Eizelle, ferner die isolirten Furchungshälften und -Viertel noch einen normalen vollständigen Organismus von ent- sprechend geringerer Grösse liefern, sowie dass bei der Verlagerung der Furchungskugeln Thiere mit völlig normaler Lagerung der Organe entstehen, liefert uns den Beweis dafür, dass die verschiedenen Par- tieen der Eizelle für die Entstehung der aus ihr hervorgehenden Zellen, Gewebe und Organe noch durchaus gleichwerthig sein müssen, und dass von einer localisirten Präformation bestimmter Anlagen in der Eizelle nicht die Rede sein kann; mag man nun bloss 10, 100 oder 1000 An- lagen, wie Roux, oder mehrere Billionen annehmen, das ist schliesslich gleichgültig^). Während ferner die Theorie von Weismann und Roux die Ursachen für die Entstehung differenzirter Tochterzellen aus der Theilung des Eies in der Eizelle selbst sucht, findet sie die Vorstellung von Pplüger und Hertwig vorwiegend in den von aussen her auf die Zelle einwirkenden Factoren. Während nach der einen Ansicht die Zellen sich aus inneren Gründen in ungleiche Theilproducte theilen, sind es nach der andern Meinung wesentlich äussere Momente, welche die Ungleichheit der Zellen bei fortgesetzter Theilung erzeugen. Hier haben zweifellos beide Ansichten Recht, und hier ist der Punkt, wo eine Vereinbarung möglich ist.

Nach unserer oben entwickelten Vorstellung vom Mechanismus der Entwicklung und Fortpflanzung der einzelnen Zelle auf Grund der durch das Wachsthum entstehenden Stoffwechselveränderungen liegt es auf der Hand, dass innere und äussere Ursachen der Form- veränderung sich überhaupt nicht von einander trennen lassen. Die gesammte Formbildung und Formveränderung ist danach ein Com- promiss, eine Wechselwirkung zwischen den innerhalb und den ausser-

^) De Veies: „Intracellulare Pangenesis." Jena 1889.

^) Da Roux sich dagegen verwahrt, zu den Präform isten gerechnet zu werden, was nicht bloss von mir, sondern sogar von zahlreichen (ich vermuthe den meisten) Forschern seines eigenen .Specialgebietes geschieht, so möchte ich, um ihm in keiner Weise Unrecht zu thun, diese Erklärung nicht unerwähnt lassen, muss aber gleich- zeitig bemerken, dass ich mich auf Grund seiner eigenen Arbeiten mit gutem Gewissen nicht habe entschliessen können, mein obiges Urtheil zu ändern und seine Erklärung für mich anzunehmen. Da es ferner, wie Roux selbst zugesteht, „zur Zeit wohl nur wenige Autoren giebt, die seine Ansichten richtig kennen", so bleibt mir, um dem Leser die Möglichkeit eines selbständigen Urtheils über Rocx's hierher gehörige Ansichten zu geben, nichts Anderes übrig, als die eigenen Worte von Roux zu citiren, in denen sein .Standpunkt zu Tage tritt. In Virchow's Arch. Bd. CXIV, 1888, sowie in den Verhand- lungen der anatomischen Gesellschaft zu Wien 1892 fasst Roux das Ergebniss seiner Experimente und Speculationen zusammen und erklärt, dass „die P^urchung den die directe Entwicklung des Individuums vollziehenden Theil des Keimmaterials, insbeson- dere das Kernmaterial, quantitativ scheidet imd mit der dabei stattfindenden Anordnung dieser verschiedenen gesonderten Materialien daher zugleich die Lage der späteren differenzirten Organe des Embryo bestimmt". „Für sie gilt His' Princip der organ- bildenden Keimbezirke; für sie wurde nachgewiesen, dass die Gastrulation eine Mosaik- arbeit ist." Der Leser, welcher mit den Begriffen der Prätbrmation und Epigenese vertraut ist, wird hiernach leicht selbst ermessen können, inwieweit Roüx Pi-äformist ist und inwieweit nicht.

Vom Mechanismus dos Lebens. 543

hall) der Zelle i;ele<4cnen Factoreii. Daclurcli, dass die Zelle in Folge der eharakteristiselien Beschaft'enlieit ihrer lebendigen Substanz; die innere Fähigkeit besitzt, von aussen Stoffe in sieh aufzunehmen und Stoffe von innen nach aussen abzugeben, ist schon in dem elemen- taren Lebensvorgang, dem Stoffwechsel selbst, ein Compromiss zwischen inneren und äusseren Momenten gegeben, ohne den das Leben der Zelle nicht möglieh ist. Indem die Zelle aber bei sonst gleichbleiben- den äusseren I3edingungen in Folge der inneren Zusammensetzung ihrer lebendigen Substanz wächst, werden dadurch wieder die Be- ziehungen mit den äusseren Factoren verändert, so dass dieselben jetzt in anderer Weise einwirken, als vorher. So wird in jedem Zeitmoment ein anderer Compromiss zwischen Zelle und Medium, zwischen inneren und äusseren Factoren geschlossen, dessen Ausdruck die Veränderung, die Entwicklung und schliesslicli die Fortpflanzung der Zelle ist. Hiernach ist es klar, dass wir weder sagen können : die Veränderung der Zelle oder die Abänderung ihrer Theilungsproducte sei allein die Folge ihrer inneren Beschaffenheit, noch auch: sie sei allein die Wirkung äusserer Factoren. Wir können nur sagen: die Ent- wicklung und Fortpflanzung derZelle ist einAusdruck der durch das Wachsthum bedingten Veränderungen in den Wechselbeziehungen zwischen Zelle und Medium.

Das fundamentale Unterscheidungsmoment zwischen der einzelnen freilebenden Zelle und der sich zum Zellenstaat entwickelnden Eizelle liegt ganz allein darin .^ dass bei der Entwicklung der Eizelle die aus dem Theilungsprocess hervorgehenden Tochterzellen miteinander im Zusammenhang bleiben, während sich die bei der Theilung des ein- zelligen Organismus entstehenden Tochterzellen sofort nach der Theilung von einander trennen. Beim einzelligen Organismus machen daher die Wechselbeziehungen zwischen Zelle und Medium immer nur wieder denselben kurzen Cyclus von Veränderungen durch ; bei der Theilung der Eizelle dagegen ändern sich die Wechselbeziehungen zwischen Zelle und äusseren Factoren mit jeder der schier unzählbaren Thei- lungen wieder in ganz neuer Weise. Daher kommt es, dass die Ei- zelle bis zur Entwicklung des vielzelligen Organismus eine so unge- heuer lange Reihe von Formveränderungen durchlaufen muss, während der einzellige Organismus entweder eine kaum merkbare Entwicklung oder doch nur einen kurzen Kreis von Veränderungen durchzumachen braucht. Lässt das Wachsthum im vielzelligen Organismus allmählich nach, so erfahren die Zellen auch immer weniger Formveränderungen, und manche Gewebezellen, wie z. B. die Ganglienzellen, die im fer- tigen Organismus zum Theil überhaupt nicht mehr wachsen, bleiben anscheinend ganz unverändert; sie theilen sich nicht mehr und differen- ziren sich nicht weiter. In Wirklichkeit hört indessen, wie wir a. a. O. ^) sahen, die Entwicklung überhaupt nie ganz auf bis zum Tode; nur treten später die Veränderungen so überaus langsam auf und sind verhältnissmässig so gering, dass wir sie nur innerhalb langer Zeit- räume bemerken. In diesem scheinbar stationären Zustande sind die Gewebezellen wieder mehr jenen einzellig lebenden Organismen ähn- lich, die noch keine wahrnehmbare Entwicklung haben: bei beiden ändern sich die Wechselbeziehungen zwischen inneren und äusseren Factoren nur in unmerklicher Weise, indem sie bei den Gewebezellen zu langsam verlaufen, bei den Einzelligen zu gering sind und immer

1) Vergl. pag. 344.

544 Sechstes Capitel.

wieder zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren. Bei beiden nehmen wir daher keine wesentlichen Formveränderungen wahr.

Aus dieser Ueberlegung geht hervor, wie verkehrt es ist, wenn man aus der Thatsache, dass sich die kleine Eizelle zu einem so erstaunlich complicirten Zellenbau differenzirt, die Vorstellung her- leiten will, dass die lebendige Substanz der Eizelle gegenüber der jeder andern Zelle, sowohl jedes einzelligen Organismus wie jeder Gewebezelle, sich durch eine ganz undenkbar feine und complicirte Structur auszeichnen müsse. Diese Vorstellung, auf die man ziemlich häutig stösst, ist aber ebenfalls weiter nichts als noch ein heimlicher Rest der Präformationslehre und, wie wir sahen, ebenso überflüssig wie unberechtigt ; denn die Entwicklung und DifFerenzirung des Zellen- staates aus der Eizelle beruht lediglich auf den mit dem continuirlichen Zellwachsthum, mit jeder Zelltheilung sich fortwährend weiter ver- ändernden Wechselbeziehungen zwischen der lebendigen Substanz der Zellen und den äusseren Factoren. Das Wachsthum ist die Ursache aller Entwicklung überhaupt, sowohl der einzelnen Zelle als des ganzen Zellenstaates, und wir können diese fundamentale Thatsache kaum besser ausdrücken, als mit den Worten des Altmeisters der Entwicklungs- geschichte selbst, mit den Worten, in denen einst Karl Ernst VON Baer ^) das allgemeinste Ergebniss seiner Studien über die Ent- wicklungsgeschichte der Thiere zusammenfasste: „Die Entwick- lungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung."

Fassen wir unsere Erörterungen über die Mechanik der Ent- wicklung in einem übersichtlichen Bilde zusammen, so kommen wir zu folgender Vorstellung. Die sich entwickelnde Zelle repräsentirt wie jede Zelle einen Tropfen lebendiger Substanz, der durch einen ganz bestimmten Stoffwechsel charakterisirt ist. Dieser Stoffwechsel ist der Ausdruck der Wechselbeziehungen, welche zwischen dem Medium mit seinen einzelnen Factoren einerseits und der Zelle mit ihren mannigfachen Inhaltsdifferenzirungen andererseits bestehen. In- dem die Zelle wächst, ändern sich nothwendiger Weise die Wechsel- beziehungen zwischen dem Medium und der Zelle, weil sich das Ver- hältniss von Oberfläche und Masse der lebendigen Substanz mehr und mehr verschiebt. In Folge dessen finden wir auch eine Veränderung des Stoffwechsels. Wir haben also in der wachsenden Zelle eine con- tinuirliche Aufeinanderfolge verschiedener Stoffwechselzustände in ganz allmählichem Uebergang, in der Weise, dass jeder folgende Zustand mit Nothwendigkeit aus dem vorhergehenden resultirt. Da die Form, wie überall in der Körperwelt, unter Anderem eine Function des Stoffes ist, so ist es erklärlich, dass sich mit der Veränderung des Stoffwechsels auch die Form der Zelle unter Umständen verändern Avird, und so haben wir Hand in Hand gehend mit der Aufeinander- folge verschiedener Stoffwechselzustände auch eine continuirliche Auf- einanderfolge verschiedener Formzustände, mit anderen Worten : wir haben eine Entwicklung. Es ergiebt sich daraus, dass die Entwicklung der Zelle eine wirkliche „Epigenese" ist, im Sinne Caspar Friedrich Wolff's, d. h. eine Aufeinanderfolge immer neuer Formzustände, nicht ein deutlicheres Hervortreten schon vorher präformirter, aber noch

1) Karl Ehnst von Baer: „Ueber die Entwicklungsoeschichte der Thiere. Be- obachtung und Reflexion." Erster Theil. Könifsbero- \>>2><.

Vom Mechanismus des Lehens. 545

nicht wahrnehmbarer 8tructurdiffercnzirungen der lebendigen Substanz. Je nach dem Grade der Verilnderungen in den Wechselbeziehungen zwischen i\ledium untl Zelle wird aber die Foi'mveränderung in einem Falle weniger, im anderen Falle mehr zum Ausdruck kommen, am meisten in den Fallen, wo sich die Beziehungen zwischen Zelle und Medium rapide und andauernd ändern, indem die in Folge des Wachs- thums sich theilenden Zellen im Zuhammenhange miteinander bleiben und gegenseitig aufeinander wirken , wie bei der Entwicklung des Zellenstaates der Pflanzen und Thiere aus der Eizelle.

c Structur und Flüssigkeit.

Wir haben an einer andei-en Stelle besonderen Werth darauf gelegt, dass die lebendige Substanz im Wesentlichen die Eigenschaften einer Flüssigkeit besitzt. Bei der Formbildung spielt aber noch ein anderes Moment eine bedeutende Rolle, das ist ihre Structur. Da es auf den ersten Blick scheinen könnte, als ob Structur und Flüssigkeit zwei Dinge sind, die sich gegenseitig ausschliessen, so wird es zweck- mässig sein, erst kurz auf diese Frage einzugehen^).

Wenn wir unter Structur eine bestimmte gegenseitige Anordnung der kleinsten Theijchen verstehen, aus denen eine Substanz zusammen- gesetzt ist, so liegt das Grunderforderniss für die Existenz einer Structur in der gegenseitigen Anziehung und Gruppirung bestimmter Theilchen. Nur avo sich gewisse Theilchen gegenseitig anziehen und gruppiren, kann von einer Structur die Rede sein. Diese Forderung ist aber nicht bloss im festen Körper erfüllt, sondern in gewissem Maasse auch in der Flüssigkeit; denn auch in der Flüssigkeit ziehen, Avie die Cohäsion zeigt, die einzelnen Theile einander an. Der Unterschied in der Structur der Flüssigkeiten und festen Körper ist in Wirklichkeit nur ein gradueller und hängt, da unmerkliche Uebergänge zwischen flüssigen und festen Substanzen bestehen, ganz von dem Consistenz- grade ab. Er besteht im Wesentlichen darin, dass die Moleküle, je fester ein Körper ist, in um so geringerer Bewegung sind. Die Bewegung ist am geringsten in den härtesten Körpern, am grössten in den dünnsten Flüssigkeiten, bei denen die Intensität der Bewegung schon fast der Molekularbewegung der Gase gleichkommt, die bekanntlich so gross ist, dass sich die Moleküle gegenseitig stossen. Zwischen den Grenzen sehr dünner Flüssigkeiten und sehr harter Körper schwankt auch die Festigkeit der Structur, die um so grösser wird, je härter ein Körper ist. In der That besteht schon in jeder einfachen Lösung eine gewisse Molekularstructur. Legen wür z. B. in ein Gefäss mit destillirtem Wasser einen reinen Salzkrystall, so löst sich derselbe nach einiger Zeit auf, und die Salzmoleküle vertheilen sich durch Diffusion gleichmässig in der Flüssigkeit, so dass in jedem kleinsten Volumen der Flüssigkeit der gleiche Procentsatz an Salz- molekülen enthalten ist. Es findet also eine Anziehung zwischen den Molekülen des Salzes und denen der Flüssigkeit statt, und jedes Salz- molekül gruppirt um sich eine bestimmte Anzahl von Wassermolekülen. Der Unterschied in dieser Gruppirung oder Structur zwischen der beweglichen Flüssigkeit und dem festen Körper ist nur der, dass bei

^) Veeworn: „On the relation hetween the form and the metabolism of the cell." In Science Progress N. S. Vol. I, No. 3, 1897.

Verworu, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 35

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der lebhaften Bewegung der Moleküle in der Flüssigkeit fortwährend Moleküle aus dieser Gruppirung herausgerissen und durch andere verdrängt werden, so dass die Structur fortwährend zerstört und wieder neugebildet wird, während sie im festen Körper, wo die Be- wegung der Moleküle nur eine geringe ist, lange Zeit ungestört be- stehen kann. Diese fortwährende Neubildung der Structur in der Flüssigkeit ist aber von fundamentaler Bedeutung für die lebendige Substanz ; denn nur wo die Möglichkeit des fortwährenden Aus- und Eintritts von Molekülen gegeben ist, kann ein Stoffwechsel bestehen, ohne den ja keine lebendige Substanz denkbar ist. Aber dieser fort- währende Wechsel der Moleküle verhindert nicht, dass auf Grund der betreffenden Molekül- und Atomgruppirungen in der lebendigen Sub- stanz an gewissen Stellen dauernde Formdifferenzirungen zu Stande kommen. Ebenso wie ein Wasserstrahl oder eine Gasflamme dauernd eine ganz bestimmte Form haben kann, obwohl es in keinem Augenblick dieselben Moleküle sind, welche die Form bilden, wie im Augen- blick vorher, ebenso kann auch die lebendige Substanz trotz ihrer flüssigen Natur gewisse dauernde Form- differenzirungen zeigen, die so lange bestehen, wie die Ursachen für die bestimmte Gruppirung der Moleklüe und Atome die gleichen bleiben.

Diese Ueberlegung ist von grosser Wichtigkeit, denn sie eröffnet uns das Verständniss für die allgemeinen Erscheinungen der Formbildung der lebendigen Substanz. Die anscheinend paradoxe Thatsache, dass die lebendige Substanz, obwohl sie in fortAvährendem Wechsel ihrer Stoffe begriffen ist, dennoch in vielen Fällen eine dauernde und oft ausserordentlich complicirte Form besitzen kann, erklärt sich hiernach ohne Weiteres. Denken wir uns z, B. eine Zelle mit verschiedenartigen Differenzirungen, etwa eine Zelle, die, wie das Geisselinfusorium P o t e - riodendron ausser ihrem Kern noch eine Geissei und einen contractilen Myoidfaden besitzt (Fig. 263), so sind hier in jeder der einzelnen Differenzirungen die Theil- chen in besonderer Weise angeordnet, im Kern anders als an der Oberfläche des Protoplasmas, in der Geissei anders als im Myoidfaden etc. Aber dennoch treten einerseits aus allen diesen einzelnen Differenzirungen fortwährend Atome und Atomgruppen in bestimmter Richtung aus, und andererseits treten in die Differenzirungen fortwährend neue Atome und Moleküle hinein, so dass die Structur ununterbrochen zerstört und wiedergebildet wird. Es ist also ein fortwährender Stoffstrom da, der äusserst complicirt, in den verschiedenen Differenzirungen verzweigt und in seinen Theilen ganz verschieden zusammengesetzt ist. Dieser Stoffstrom ist der Ausdruck der complicirten Stoffwechselbeziehungen zwischen den einzelnen Theilen des Zellkörpers, und er ist es, welcher gerade diese eine, ganz bestimmte, eigenthümliche Form der betreffenden Zelle bedingt. Nur wenn bestimmte Atome immer wieder zur rechten Zeit an der nöthigen Stelle sind, kann sich die Structur immer wieder herstellen und dauernd erlialten. Hört der Stoffstrom auf, so zerfallen die Moleküle, und die bestimmte Gruppirung löst sich auf. Solange dagegen der Stoffstrom ununterbrochen dauert, solange fügen die

Fig. 263. Poterioden-

dron. Ein einzelnes Indi- viduum eines Stockes. Der

Zellkörper sitzt, auf einem

Myoidfaden befestig-t, in einem glocken- förmigen Kelch und schlägt mit seiner Geissei.

Vom Mechanismus des Lebens. 547

einzelnen Moleküle und Atome durch Anziehung immer wieder die nöthigen Thoilchen ein, und die Structur bleibt bestehen; ändert sich aber der Stoftstrora in Richtung und Zusammensetzung seiner Theilchen, so muss sich auch die Form der Zelle und ihrer DifFerenzirungen ändern, und wir haben eine Entwicklung.

Den Vergleich der Lebenserscheinungen mit einer Flamme haben wir schon in mehrfacher Hinsicht als sehr treffend erprobt. Auch hier wieder ist er geeignet, uns das Verhältniss zwischen Form- bildung und Stoffwechsel in besonders anschaulicher Weise klar zu machen. Die Schmetterlingstigur einer Gasflamme hat eine sehr charakteristische Formdifferenzirung. An der Basis, unmittelbar über der Schlitzötfnung des Brenners, herrscht noch völlige Dunkelheit, darüber befindet sich eine blaue, nur matt leuchtende Zone, und dar- über erhebt sich zu beiden Seiten schmetterlingsflugelartig ausgebreitet die helle, leuchtende Fläche. Diese eigenthümliche Form der Flamme mit ihren charakteristischen Differenzirungen, die dauernd bestehen bleibt, solange wir die Stellung des Gashahns und die Verhältnisse der Umgebung nicht verändern, rührt lediglich davon her, dass an den einzelnen Stellen der Flamme die Gruppirung der Leuchtgas- und Sauerstoffmoleküle eine ganz bestimmte ist, obwohl die Moleküle selbst in jedem Zeitdifferential wechseln. An der Basis der Flamme sind die "Leuchtgasmoleküle noch so dicht gedrängt, dass der zum Verbrennen nöthige Sauerstoff nicht dazwischen treten kann ; in Folge dessen herrscht hier noch Dunkelkeit. In der bläulichen Zone haben sich bereits einige Sauerstoffmoleküle mit den Leuchtgasmolekülen vereinigt; die Folge ist ein mattes Licht. In der grossen Flammen- fläche dagegen liegen die Leuchtgasmoleküle mit den Sauerstoff- molekülen der Luft gerade in einem solchen Zahlenverhältniss zu- sammen, dass eine lebhafte Verbrennung stattfindet. Der Stoffwechsel der Flamme zwischen dem zuströmenden Gase und der umgebenden Luft ist aber so geregelt, dass an derselben Stelle immer wieder die- selben Moleküle in derselben Zahl zusammentreffen. In Folge dessen behalten wir auch dauernd dieselbe Flammenform mit ihren Diffe- renzirungen, Aendern wir aber den Stoffstrom ab, indem wir weniger Leuchtgas ausströmen lassen, so ändert sich auch die Form der Flamme, weil jetzt die gegenseitige Lagerung der Leuchtgas- und Sauerstofftnoleküle verändert wird. So liefert uns die Betrachtung der Leuchtgasflammenform bis in die Einzelheiten genau dieselben Ver- hältnisse, wie wir sie für die Formbildung der Zelle als maasgebend gefunden haben.

Eine andere interessante Gruppe von Formbildungserscheinungen wird unter diesen Gesichtspunkten ohne Weiteres klar, das sind die Erscheinungen der Regeneration. Schneiden wir eine Zelle, am besten eine mit recht charakteristischen Oberflächendifferenzirungen versehene Infusorienzelle, wie sie z. B. der zierliche StentorRoeselii vorstellt, in zwei Stücke, aber so, dass jedes Stück einen Theil des Kerns mitbekommt und somit noch den Werth einer Zelle besitzt, so regenerirt, wie wir bereits a. a. O. ^) gesehen haben, in kurzer Zeit jedes der beiden Stücke die ihm fehlenden Theile. Die Wundstelle der Theilstücke schliesst sich, und der untere Theil der Stentorenzelle ordnet seine Substanz alsbald wieder so an, dass ein neues Peristom

^) Vergl. Fig. 6 pag. 64.

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Sechstes Capitel.

mit der charakteristischen Wimjjei'spirale und einer MundöfFnung ent- steht, während sich der obere Theil in die Länge zieht, so dass sich ein neues Fussstück entwickelt, mit dem sich der neue Stentor wieder anheftet. So entsteht durch Anlagerung von Theilchen aus dem Innern des Körpers an die Wundstelle aus jedem Theilstück in kurzer Zeit wieder ein vollständiger Stentor (Fig. 264). Diese That- saclie der Regeneration ist jetzt sehr leicht verständlich. Da in den mit Structur versehenen Formendifferenzirungen der Zelle jedes Theilchen nur ganz bestimmte andere Theilchen anzieht und festhält und bei Absprengung derselben im Stoffwechsel sofort wieder die ent- sprechenden Theilchen von Neuem anzieht und fesselt, so müssen die Theilchen an der Wundstelle, welche durch den Schnitt von ihren Nachbarn getrennt sind, sofort wieder entsprechende Theilchen, wenn sie ihnen zur Verfügung stehen, an sich ziehen und anlagern. Da

. ...üäMÄI

Fig. 264. Stentor Roeselii. A Quer zer- schnitten. B n. C Die beiden Theilstücke ha- ben sich zu vollständigen

Stentoren regenerirt. Die helle, langgestreckte Masse im Innern be- zeichnet den Kern.

aber der Stoffwechsel keine tödtliche Störung erfahren hat durch die Theilung, werden ihnen nach wie vor durch den Stoffstrom die nöthigen Theilchen zugeführt, und so kann sich ein Theilchen nach dem andern anlagern, wie es die eigenthümliche Beschaffenheit eines jeden erfordert. Ist der Stoffwechsel dagegen unheilbar geschädigt worden bei der Thei- lung, so ist die Regeneration nicht mehr möglich, weil dann die nöthigen Moleküle und Atome nicht mehr producirt und an die nöthige Stelle gebracht werden. Deshalb finden wir ganz allgemein ohne jegliche Ausnahme überall die fundamentale Thatsache, dass kernlose Theilstücke einer Zelle, d. h, Theilstücke, bei denen eine tödtliche Störung des Stoffwechsels eingetreten ist, obwohl sie unter Umständen noch Tage lang am Leben bleiben können, dennoch die verlorenen T heile nicht mehr regeneriren.

Eine Erscheinung, die bis vor einigen Jahren noch ganz räthsel- haft erschien, wird durch die Thatsache der Structuren im Zellproto-

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plasma dem Verstiiiidniss selir nahe gerilckt. Das ist die Bildung der überaus regelmässig geformten Kiesel- und Kalkskelette, wie sie vor Allem bei den zierlichen Kadiolarien, Foraminiferen und Spongien vorkommen. Schon F. E. Schulze*) hatte darauf aufmerksam gemacht, dass eine Bildung von Dreistrahlern, Vierstrahlern (Fig. 265 II) etc., wie sie in den Kiesel- und Kalkskeletten der Spongien eine so grosse

^

I II

Y\g. 265. Kiesel na dein von Schwämmen. / Schema der Entstehung: eines

Vierstraliiers zwischen vier blasenförniigen Hohlräumen. Nach F. E. Schdlze.

II Verschiedene Formen von Kieselnadeln.

Rolle spielt, zu Stande kommen müsse, Avenn sich mehrere kugelige Körper aneinander legen und in die feinen Syjaltenräume zwischen sich eine skelettbildende Substanz, also etwa kohlensauren Kalk oder Kieselsäure, ausscheiden (Fig. 265 J). Neuerdings hat dann Dreyer^) dieselbe Idee an mehreren speciellen Beispielen weiter durchgeführt und gezeigt, wie verschiedene und zum Theil ausserordentlich complicirte Skeletttheile, besonders der Radiolarien, sich leicht auf die Ausscheidung der skelettbildenden Substanz in den protoplasmatischen Wänden eines

Fig. 266. Schema der Entstehung verschiedener Skelettformen durch Ausscheidung von Skelettsubstanz in den Wänden eines Vacuolen-

systems. Nach Dreyer.

Vacuolenlagers zurückführen lassen. Je nach der Form der Vacuolen und der Dicke der Wandschicht, je nach der Ablagerungsstelle und der Menge der secernirten Skelettsubstanz muss dabei eine ganze Fülle von verschiedenartigen Skelettformen resultiren, wie wir sie thatsächlich

^) F. E. Schulze : „Zur Stammesgeschichte der Hexactinelliden." In Abhandl. d. kgl. preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1887.

2) Fr. Dreyer : „Die Principien der Gerüstbildung bei Rhizopoden, Spongien und Echinodermen. Ein Versuch zur mechanischen Erklärung organischer Gebilde." In Jenaer Zeitschr. f. Naturwissensch. N. F. Bd. XIX, 1892.

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Sechstes Capitel.

in dem Formenreichthum der Radiolarienskelette realisirt finden. So wird die früher so wunderbare Thatsache, dass die einfachen, fort- während in Strömung und Pseudopodienbildung begriffenen Proto- plasmamassen der Rhizopodenzellen , so staunenswerth regelmässige, complicirte und zierliche Skelette zu bilden vermögen, ohne Weiteres aus dem Umstände verständlich, dass das Protoplasma der Radiolarien- zelle in einer gewissen Körperzone eine vacuolige oder wabige

A B

Fig. 267. Kieselskelette von Eadiolarien. Nach Haeckel. A Dorataspis,

B Theoconus.

Structur besitzt. Je nach der Form, der Lage, dem Umfang dieser Vacuolenschicht und ihrer Vacuolen müssen auch die durch Aus- scheidung von Skelettsubstanz zwischen den Vacuolen entstehenden Abgüsse, welche das Skelett bilden, ausserordentlich verschieden sein (Fig. 267). Und eine ähnliche Rolle wie die Vacuolenstructur des Protoplasmas bei der Bildung mancher Radiolarienskelette wird zweifel- los auch die Structur des Protoplasmas, sowie die Form und der gegen- seitige Druck der einzelnen Zellen bei der Skelettbildung in anderen Organismen spielen.

d. Verer1}uiigsmeclianik.

Es bleibt uns schliesslich noch übrig, auch kurz auf den Mechanismus der Vererbung einzugehen. Die Verhältnisse der Vererbung liegen am einfachsten bei den niedrigsten einzelligen Or- ganismen, etwa bei den Am o eben, bei denen, abgesehen von einer Grössenzunahme des Körpers, noch keine deutliche Entwicklung be- merkbar ist. Hier, wo die Fortpflanzung des Organismus einfach durch Theilung der Zelle in zwei Hälften erfolgt, ist der Vorgang der Ver- erbung sämmtlicher Eigenschaften der Mutterzelle auf beide Tochter- zellen ohne Weiteres verständlich. Die lebendige Substanz der Mutter- zelle mit ihrem charakteristischen Stoffwechsel und ihren eigenthüm- lichen Lebenserscheinungen lebt in beiden Tochterzellen selbständig weiter, kein Wunder also, dass die Theilstücke, wenn sie unter den- selben äusseren Bedingungen leben, genau dieselben Eigenschaften be-

Vom Meclianismus des Lebens. 551

sitzen, wie sie die ungetlieilte Zelle bfsass. Allein dieser einfachste Fall der Vererbung zeigt uns die wesentlichen Momente dieser Er- scheinung gerade am allerdcutliciisten, wie ja überhaupt alle Lebens- erscheinungen am klarsten zu übersehen und zu verstehen sind da, wo sie in ihrer einfachsten Form auftreten, d. h. an den einfachsten Zellen. Wir sehen hier, dass die Uebertragung der Eigenschaften von den Vorfahren auf die Nachkommen geschieht durch Ueber- tragung von Substanz, welche die Eigenschaften der Vorfahren besitzt. Damit diese Substanz aber alle Eigenschaften der Vorfahren besitzen kann, muss sie eine vollständige Zelle sein, mit allen wesentlichen ßestandthoilen derselben. Die charakteristischen Eigenthümlichkeiten der Mutterzelle sind der Ausdruck ihres Stoffwechsels. Wenn daher die Eigenthümlichkeiten der Mutterzelle auf die Tochterzellen vererbt werden sollen, so muss ihr ganzer Stoffwechsel vererbt werden. Das ist aber nur möglich, wenn eine gewisse Menge von allen wesentlichen Bestandtheilen, d. h. von Protoplasma und Kern der Mutterzelle auf die Tochterzelle übergeht, denn sonst würde der Stoffwechsel der Tochterzelle nicht dauernd bestehen können, und die Tochterzelle müsste zu Grunde gehen. In der That sehen wir ja auch nicht bloss bei den einzelligen Organismen, sondern überall in der organischen Natur, wohin wir auch blicken, dass die Vererbung von den Vorfahren auf die Nachkommen ausnahmslos durch Uebertragung einer voll- ständigen Zelle mit Kern und Protoplasma geschieht.

Wenn wir unter Vererbung die Uebertragung der Eigenthümlichkeiten von den Vorfahren auf die Nach- kommen verstehen, und wenn die Eigenthümlichkeiten eines Organismus lediglich der Ausdruck seiner stoff- lichen Beziehungen zur Aussenwelt sind, so ist der Schluss schlechterdings unabweisbar, dass bei der Ver- erbung die lebendige Substanz mit ihren eigenthüm- lichen Stoffwechselbeziehungen übertragen werden muss. Das ist aber nurmöglich, wenn allewesentlichenTheile der Stoffwechselkette übertragen werden, sowohlProto- plasma als auch Kernsubstanz, mit anderen Worten: eine ganze Zelle.

So logisch und einleuchtend diese einfache Schlussfolgerung ist, und so vollkommen sie auch durch die thatsächlichen Verhältnisse bestätigt wird, so ist sie doch von Seiten der Morphologie, die sich mit dem Problem der Vererbung bisher fast allein beschäftigt hat, eigentlich nirgends mit Klarheit gezogen worden. Wie wir gesehen haben, hat sich vielmehr unter den Morphologen, besonders im An- schluss an die Ansichten O. Hertwig's, Strasburger's, Weismann's, BovERi's und Anderer, die Vorstellung sehr weit verbreitet, dass die Vererbung der elterlichen Eigenschaften auf die Kinder allein in der Uebertragung von Kernsubstanz, durch Ei- und Samenzelle geschehe, und man hat speciell das Nuclein des Zellkerns als die „Vererbungs- substanz" bezeichnet. Nur wenige unter den Morphologen, wie Rauber, Beroh und Haacke, haben sich bisher gegen diese Auffassung aus- gesprochen. Wie uns aber bereits unsere frühere Auseinandersetzung ^) gezeigt hat, sind die Gründe, auf welche sich diese Auffassung stützt, nicht geeignet, einer strengeren Kritik Stand zu halten. Für den Phy-

') Vergl. pag. 511.

552 Sechstes Capitel.

siologen ferner ist diese Vorstellung etwas zu morphologisch gedacht, denn sie trägt dem wesentlichsten Moment des Lebens, dem Stoff- wechsel, keine Rechnung. Mit dem Gedanken einer blossen „Ver- erbungssubstanz-, die irgendwo in der Zelle localisirt sein und bei der Fortpflanzung übertragen werden soll, wird sich die physio- logische Denkweise kaum jemals befreunden können. Eine Substanz, welche die Eigenschaften einer Zelle auf ihre Nachkommen übertragen soll, muss vor allen Dingen lebensfähig sein, d. h. muss einen Stoff- wechsel haben, und dieser ist nicht möglich ohne ihren Zusammen- hang mit den anderen, zum Stoffwechsel einer Zelle nöthigen Sub- stanzen, d. h. ohne die Integrität aller wesentlichen Zellbestandtheile. Dann fehlt aber jede Berechtigung, einen einzigen Zellbestandtheil als besonders differenzirten Vererbungsträger zu bezeichnen, dann ist das Protoplasma der Zelle genau von dem gleichen Werth für die Ver- erbung wie der Kern, und wir müssen immer wieder darauf verweisen, dass in der That auch in der ganzen lebendigen Natur kein Fall bekannt ist. in dem nicht stets eine vollständige Zelle mit Kern und Protoplasma die Vererbung vermittelte.

\^'as den Charakter einer jeden Zelle bestimmt, ist ihr eigen thümlicher Stoffwechsel. Sollen also die Eigen- thümlichkeiten einer Zelle vererbt werden, so muss ihr charakteristischer Stoffwechsel vererbt werden, und das ist nur denkbar, wenn Kern Substanz und Proto- plasma mit ihren Stoffbeziehungen auf die Tochter- zellen übertragen werden. Das gilt von der geschlecht- lichen Fortpflanzung der höheren Thiere ebenso wie von der ungeschlechtlichen Fortpflanzung der ein- zelligen Organismen; nur wird bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der Stoffwechsel zweier Zellen, der Ei- und Samenzelle, durch den Befruchtungsvorgang com- ponirt zu einer einzigen Resultante, dem Stoffwechsel der Nachkommen, die aus der befruchteten Eizelle her- vorgehen und daher Charaktere von beiden Eltern be- sitzen.

3. Die Energi e wechsel-M echanik der Zelle.

Die dritte Seite, nach der die Veränderungen eines Körpers in die Erscheinung treten, ist neben dem Wechsel des Stoffes und der Form der Wechsel der Energie. Alle drei sind von einander un- trennbar und stellen den Ausdruck alles Geschehens in der Körper- welt vor. Wäre eins der drei bis in die letzten Einzelheiten hinein gegeben, so wären damit die beiden anderen bestimmt. Das gilt von den lebendigen Körpern ebenso wie von den leblosen , denn beide sind materielle Systeme und müssen den ehernen Gesetzen aller Materie gehorchen.

a. Energiekreislanf in der organischen Welt.

Vom Energiewechsel des lebendigen Organismus sind uns leider bisher nur Bruchstücke bekannt. Die Anfangs- und Endglieder sind uns gegeben ; aber zwischen beiden liegen die maeandrischen Wege, welche die Energie auf ihrem Durchgang durch die lebendige Sub-

Vom Mechanismus des Lebens. 553

.stanz vortblgt, und von diesen Wegen sind bis jetzt nur kleine Strecken erschlossen worden. Allein so viel liegt auf der Hand : der Energie- wechsel ist im Sj3eciellen ebenso mannigfaltig, wie der Stoffwechsel und Formwechsel, und jede Zcllform ist ebenso durch einen ganz speci- tischen Energiewechsel charakterisirt, wie sie sich durch einen ihr eigenthüralichen Stoffwechsel und Formwochsel auszeichnet. Dennoch können wir in grossen Zügen einige fundamentale That.sachen des organischen Energicwechsels schon jetzt skizziren. Da die grüne Pllanzenzelle diejenige Form der lebendigen Substanz ist, die gewi.sser- maassen die Grundlage alles jetzigen Lebens auf der P^rdoberfläche vorstellt, insofern sie das Laboratorium ist, in dem aus anorganischen Stoffen organische Verbindungen hergestellt werden, die für alle übrigen Organismen nothwendige Lebensbedingung sind, so muss sich bei der Feststellung des allgemeinen Energiekreislaufs in der leben- digen Natur unsere Aufmerksamkeit auf die grüne Pflanze lenken, als den Ausgangspunkt für den Eintritt der Energie in die lebendige KörperAvelt.

Diejenige Form, in welcher die Energie in die grüne Pflanzen- zelle eingeführt wird, liefert vorwiegend die Energie des Sonnen- lichts. Chemische Energie wird fast gar nicht in die Pflanze ein- geführt; denn die chemischen Stoffe, aus welchen die Pflanze ihre lebendige Substanz aufbaut, also die Kohlensäure, das Wasser und die darin gelösten Salze sind Verbindungen, die in dieser Form fast gar keine chemischen Energiepotentiale enthalten. Erst bei Zufuhr von Licht werden durch die Thätigkeit des Chlorophylls in der grünen Pflanzenzelle diese Verbindungen in Stoffe mit chemischen Energie- potentialen übergeführt. Erst dadurch, dass z, B. die Kohlensäure CO2 in Kohlenstoff und Sauerstoff gespalten Avird, werden die Afflni- täten des Kohlenstoffs und Sauerstoffs verfügbar. Zu dieser Spaltung wird aber Energie verbraucht, und die dazu erforderliche Energie- menge wird bestritten allein aus den Energiewerthen , die durch das Licht in die Pflanze eingeführt Averden. Man hat daher gesagt: alles Leben stammt in directerDescendenz vom Sonnenlichte ab, und so wäre der uralten poesievollen Licht- und Sonnenverehrung asiatischer und amerikanischer Völker gewissermaassen ein exacter naturwissenschaftlicher Hintergrund gegeben. Allein die nüchterne wissenschaftliche Ueberlegung zwingt uns doch, dem obigen Satze noch eine Klausel anzuhängen. Dass die Lichtstrahlen der Sonne diejenige Energieform vorstellen, von der alle Energie der lebendigen Welt in letzter Instanz herrühre, diese Vorstellung gilt, wenn man sie über- liaupt in dieser Allgemeinheit aussprechen zu dürfen glaubt, jedenfalls nur für die Verhältnisse, wie sie jetzt auf der Erdoberfläche herrschen. Gehen wir aber bis zu den Zeiten zurück, wo die erste lebendige Sub- stanz auf der Erdoberfläche entstand, so werden wir unser Augenmerk zweifellos auf die chemische Energie lenken müssen, als diejenige Energie- form, welche beim Zusammentritt der einfachsten lebendigen Ver- bindungen zuerst in die eben entstehende lebendige Substanz eingeführt worden ist. Freilich stammt unsere lebendige Substanz, wie alle Sub- stanz, mit ihrer Energie zuletzt von der Sonne her, denn unser Erd- körper ist ja nur ein abgesprengter Theil der Sonnenniasse; aber wir werden wohl kaum gerade das Licht als diejenige Energieform be- trachten dürfen, welche auf der sich abkühlenden Erde den Zusammen- tritt derjenigen Verbindungen mit ihren Energiepotentialen bewirkte,

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die wir als lebendige Substanz bezeichnen. Ja, in Wirklichkeit ist es aucli heute auf der Erde nicht unmittelbar das Licht, welches die Spaltung der Kohlensäure und den Zusammentritt der Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatome zum ersten Assimilationsproduct, zur Bildung der Stärke bewirkt. Diese Vorstellung, die durch eine ungenaue Ausdrucksweise vielleicht erweckt werden könnte, ist durchaus falsch. Es ist in Wirklichkeit nur die chemische Energie gewisser Verbindungen der Chlorophyllkörper, welche in der grünen Pflanzenzelle die Tren- nung der Kohlenstoffatome aus dem Kohlensäuremolekül und ihre Vereinigung mit den Wasserstoff- und Sauerstoffatomen zu Stärke vollzieht. Die Energieform der Lichtstrahlen allein kann niemals Kohlensäure spalten, geschweige denn Kohlenstoffatome mit Wasser- stoff- und Sauerstoffatomen zu Stärkemolekülen zusammenkoppeln. Die Energie der Lichtstrahlen ist nur insofern unerlässlich, als sie diejenige Energieform ist, welche in gewissen Verbindungen der Chlorophyll- körper die Umlagerung der Atome begünstigt, so dass dieselben mit den Atomen der Kohlensäure in chemische Wechselwirkung zu treten und so die Kohlensäure zu spalten vermögen. Die Energie der Licht- strahlen wird also erst umgesetzt in chemische Energie, und die chemische Energie der Chlorophyllkörper ist es, welche die Kohlen- säurespaltung bewirkt und damit die unabsehbare Kette von Energie- w^echselvorgängen hervorruft, die das Leben nicht bloss der Pflanzen, sondern auch der Thiere charakterisiren. Die Rolle des Lichtes ist eine ähnliche, wie die der zugeführten Wärme, die im Pflanzen- wie im Thierkörper zum Leben unentbehrlich ist und dazu dient, die intra- molekularen Schwingungen der Atome zu verstärken , so dass die Atome zu Umlagerungen geneigt werden. Immer aber ist es die che- mische Energie, welche diese Umlagerungen bewirkt. Es muss also auch in der Pflanze schon chemische Energie in den Chlorophyll- körpern vorhanden sein, und diese wird nur durch Zufuhr und Um- wandlung von photischer Energie so gesteigert, dass sie diese erste, so überaus folgenschwere Spaltung des Kohlensäuremoleküls vollziehen kann. Wo nicht schon lebendige Substanz mit ihrer chemischen Energie vorhanden ist, da kann auch die Zufuhr von Licht kein Leben erzeugen. So wirkt die einstmals in unvordenklicher Zeit bei der Entstehung der ersten lebendigen Substanz in die organische Welt eingeführte chemische Energie noch jetzt in allen lebendigen Organismen fort, ohne dass sie jemals eine Cotinuitätsunterbrechung erfahren hätte. Ist es auch immerhin nur eine winzige Menge chemischer Energie, die in der mikroskopischen Eizelle auf die Nachkommen übertragen wird, so vermittelt diese winzige Menge doch die Continuität mit der chemischen Energie der lebendigen Substanz, von der sie herstammt, ebenso wie die kleine Menge lebendiger Substanz selbst durchaus nothwendig ist, um die Continuität der lebendigen Organismen fort- zupflanzen. Ohne eine auch noch so kleine Menge lebendiger Substanz mit ihrer chemischen Energie kann kein Leben von einem Organismus auf den anderen übertragen werden, und wenn wir den Energiewechsel eines jetzt auf der Erde lebenden Organismus verstehen wollen, so dürfen wir nie vergessen, die kleine Menge chemischer Energie zu beachten, die jeder Organismus von seinen Vorfahren auf den Lebensweg mit bekommen hat. Ist sie auch noch so klein, so ist sie es doch, die es allein ermöglicht, dass das Leben sich fortpflanzt, und die gewissermaassen durch fermentartige Wirkung zum stetigen Wechsel

Vom Mechaiiismns des Lebens. 555

immer grösserer und grösserer Energiemengen den Anstoss giebt und schliesslich die gewaltige Kraftcnttaltung des erwachsenen Organismus veranlasst, Sie ist das Anfangscapital, mit dem der sich entwickelnde Organismus zu wirthschaften beginnt, ohne welches seine Existenz un- möglich wäre. In diesem Sinne können wir sagen: Diejenige Energieform, aus der sich in letzter Instanz alle Lei- stung e n der O r g a n i s m e n w e 1 1 herleiten, ist die chemische Energie. D a s z u g e f ü h r te L i c h t u nd d i e z u g e h r t e W ä r m e wirken nur dadurch, d a s s sie chemische E n e r g i e d i s p o - nibel machen.

Es liegt auf der Hand, dass dieser Satz für die Thierwelt in gleichem Maasse gilt, wie für die Pflanzenwelt. Aus der ursprünglichen, in der Pflanze verfügbaren chemischen Energie werden nicht nur die mannigfaltigen nach aussen hin gehenden Leistungen der Pflanze be- stritten, sondern es wird auch eine hervorragende Menge als chemische Energie in den organischen Verbindungen des Pflanzenkörpers auf- gespeichert. Diese complicirten organischen Verbindungen aber liefern dem Pflanzenfresser die Nahrung, während das Fleisch des Pflanzen- fressers wieder dem Fleischfresser den Lebensunterhalt gewährt. So gelangt also mit der Pflanzennahrung die Energie als chemische Energie in die Thierwelt und liefert die Energiepotentiale, aus denen sich die Leistungen des durch seine mächtige äufsere Kraftentfaltung von den Pflanzen so charakteristisch unterschiedenen Thierkörpers herleiten. In der That bildet die mit der Nahrung in den Thierkörper ein- geführte chemische Energie, abgesehen von der geringen Menge der von aussen auf alle Organismen einwirkenden Wärme, die einzige Energiequelle des Thierkörpers. Die Probe auf diesen Satz ist durch die calorimetrischen Untersuchungen der neuesten Zeit, besonders durch die sehr genauen Arbeiten von Rubner ^) in wünschenswerthester Weise geliefert worden. Drückt man auf Grund calorimetrischer Verbren- nungen den chemischen Energiewerth der Nahrung im Wärmemaass aus, so bekommt man ebensoviel Calorieen, wie das Thier liefert, wenn alle seine Energieproduction sich lediglich in Wärmeabgabe äussert. Die Differenzen zwischen der V\^ärmemenge, die durch Ver- brennung der Nahrung bis zu chemisch-energiefreien Stoffen geliefert wird, und der Wärmemenge, welche das Thier bei gleicher Nahrung in der Ruhe producirt, sind bei den ausserordentlich feinen Versuchen Rubner's so gering, dass sie vollkommen innerhalb der unumgäng- lichen technischen Fehlergrenzen gelegen sind, und wäre es überhaupt noch nöthig, in unserer Zeit die Gültigkeit des Gesetzes von der Er- haltung der Kraft auch für die lebendige Natur zu beweisen, so würde der beste Beweis dafür in den neuen calorimetrischen Versuchen Rubner's gelegen sein.

Mit der Abgabe der Wärme oder mechanischen Arbeit von Seiten des Thierkörpers ist der Weg der Energie durch die Organismenwelt beendigt. Chemische Energie, die weiter verfügbar wäre, giebt der Thierkörper, abgesehen von der an der Eizelle bei der Fortpflanzung haftenden Menge, nicht nach aussen ab. Die Stoffe, welche den Thier- körper verlassen, wie Wasser, Kohlensäure etc., sind sämmtlich solche Verbindungen, die in dieser Form keine chemischen Energiepotentiale

') Rübner: .,Die Quelle der thierischeu W.änue." In Zeitschr. f. Biologie Bd. XII, 1894.

556 Sechstes Capitel.

mehr besitzen, und es bedarf erst wieder der Einfuhr des Lichts in die grüne Pflanzenzelle, damit diese aus jenen Stoffen verfügbare chemische Energie schaffen kann. So ist der Kreislauf des Energie- wechsels zwischen lebendiger und lebloser Natur geschlossen. Das Licht macht in der Pflanzenzelle chemische Energie verfügbar. Aus dieser chemischen Energie stammen alle chemischen, mechanischen, thermischen Leistungen der Pflanze in complicirter Descendenz ab. Der Pflanzenfresser nimmt die chemische Energie, die in den organi- schen Verbindungen der Pflanze aufgespeichert ist, mit der Kahrung in seinen Körper auf und liefert mit den Stoffen seiner Leibessubstanz selbst wieder dem Fleischfresser die unentbehrliche Quelle chemischer Energie, aus der die gesammte thermische und mechanische, im ge- gebenen Falle auch photische und elektrische Energie sich herleitet, die der Thierkörper als Wärme, als mechanische Energie der Muskel- bewegung oder auch als Licht und Elektricität nach aussen abgiebt. Aus den an mechanischer Energie armen Stoffen, der Kohlensäure und dem Wasser aber, die den Thierkörper verlassen, schafft die Pflanzenzelle unter Einwirkung der Lichtstrahlen von Neuem che- mische Energie, und so beginnt der ewige Kreislauf von vorn.

b. Das Princip des chemischen Energiewechsels in der Zelle.

So klar hiernach das Bild des organischen Energiewechsels in seinen groben Umrissen vor uns liegt, so dunkel sind uns noch die Einzelheiten desselben. Es liegt das nicht allein an unserer lücken- haften Kenntniss des Stoffwechsels in der lebendigen Substanz, sondern zum grossen Theil auch an dem ausserordentlich geringen Ausbau, den die allgemeine Energielehre in der Physik und Chemie bis jetzt erfahren hat. Vorgänge, die Avir in Bezug auf die stoffliche Seite ihrer Erscheinung bis in die feinsten Einzelheiten hinein kennen, sind in Bezug auf ihren Energiewechsel vielfach noch völlig dunkel. So wissen wir z. B. von vielen Arbeitsleistungen, die wir bei chemischen Umsetzungen beobachten , noch gar nicht einmal , ob die dabei frei- werdende mechanische Energie direct aus Umwandlung chemischer Energie stammt oder erst auf dem Wege durch andere Energieformen, wie Wärme, Elektricität etc. entsteht. Ueberhaupt ist die directe Umwandlung chemischer Energie in mechanische bisher noch fast gar nicht Object des Studiums gcAvesen, so genau und eingehend man dem gegenüber die Umwandlung chemischer Energie in Wärme und Elektricität untersucht hat. Ja dieser Umstand hat sogar vielfach zu dem Glauben verführt, dass chemische Energie überhaupt nicht direkt in mechanische übergehen könne, sondern nur etwa durch Ver- mittelung von Wärme, eine Vorstellung, die vollkommen unbegründet ist. Dazu kommt, um eine Verständigung noch zu erschweren, der Umstand, dass die Begriffe der einzelnen Energieformen durchaus nicht fixirt sind, dass z. B. die Ausdrücke: molekulare Energie, mechanische Energie etc. in sehr verschiedener Weise verwendet werden, eine Erscheinung, die daraus resultirt, dass die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Energieformen obwalten, bisher so gut wie gar nicht aufgeklärt sind. Und doch müssen wir annehmen , dass solche und sogar sehr enge verwandtschaftliche Beziehungen vorhanden sind. Demnach liegt es auf der Hand, dass die speciellere Energetik der lebendigen Substanz vorläufig noch eins der dunkelsten Gebiete

Vom Meflianismns des Lcljcns. 557

der Physiologie repräsentirt. Was wir bis jetzt davon wissen, sind nur ganz vereinzelte und unzusannnenliängende Thatsachen.

Als feststellend haben wir die allgeiueinc Thatsache zu betrachten, dass die gewaltigen Leistungen des Organismus alle in letzter Instanz aus chemischer Energie stammen. Damit ist indessen niciit j;esagt, dass jede Leistung im JNIomente ihres Zustandekommens unmittel- bar aus chemischer Energie entspringt. Es giebt zaldreiche Leistungen, die erst auf Umwegen aus chemischer Energie entstammen. Für das Pflanzenreich hat Pfeffer') diese Thatsache in neuerer Zeit besonders beleuchtet. So ist es z. B. sehr häutig, dass beim Stoffwechsel chemische Energie zunächst in potentielle mechanische Energie über- geht und als Spannkraft aufgesj)eichert wird, um bei bestimmter Ge- legenheit erst in die kinetische Energie einer mechanischen Leistung umgesetzt zu werden. Die springenden Früchte und Samen gewisser Pflanzen liefern Beispiele dafür. Die chemische Energie des Wachs- thums ist hierbei zunächst in Form mechanischer Spannkraft auf- gehäuft worden, und diese geht erst bei Berührung der Frucht in lebendige Bewegung über: die Frucht platzt auf und schleudert mit grosser Gewalt die Samenkörner heraus. Analoge Fälle der mittel- baren Abstammung einer Leistung aus chemischer Energie giebt es mehrfach in der Pflanzenwelt wie in der Thierwelt. Immerhin aber stammen vielleicht die meisten Leistungen des Organismus unmittelbar aus der Umsetzung chemischer Energie.

Die wesentlichen Leistungen, in denen sich die Energieproduction der Zelle äussert, zeigen sich in der Erzeugung von mechanischer Energie und in Wärmeentwicklung. Die Produktion von Licht und Elektricität ist viel beschränkter. Die Hauptmasse jeder dieser Energieformen aber stammt, soweit wir bis jetzt wissen, direct aus der Umformung chemischer Energie, wenn auch die speciellen Umsetzungen, die daran betheiligt sind, vorläufig noch völlig unbekannt bleiben. Wir müssen uns daher, wenn wir überhaupt einen Blick in das Energiegetriebe der Zelle gewinnen wollen, zunächst an das Haupt- gesetz erinnern, das den Energiewechsel bei chemischen Umsetzungen beherrscht, und das wir in dem Satze fanden: Werden bei einem chemischen Process stärkere Affinitäten gebunden als getrennt, so wird Energie für Leistungen verfügbar; werden dagegen stärkere Affinitäten getrennt als gebunden, so verläuft der Process mit Energie- verbrauch -). Nur wenn wir diese Thatsache fest im Auge behalten, dürfen wir hoff'en, allmählich tiefere Einblicke in die Wege des orga- nischen Energiewechsels zu erlangen.

Das allgemeine Fundamentalprincip, auf dem der organische Energiewechsel beruht, gewissermaassen die Idee desselben, ergiebt sich unter Berücksichtigung dieses Satzes aus den bekannten That- sachen des Stoffwechsels der lebendigen Substanz bereits mit voller Klarheit : Wir haben in der lebendigen Substanz gewisse Verbindungen mit starken chemischen Affinitäten. In die lebendige Zelle werden von aussen her weitere chemische Affinitäten mit der Nahrung und dem Sauerstoff eingeführt. Wir wissen ferner, dass diese eingeführten einfacheren Stoffe verwendet werden zum Aufbau complicirterer und

') W, Ppeffkr: „Studien zur Energetik der Pflanze." In Abhandl. d. mathem. phys. Classe d. kgl. sächs. Gesellscli. d. Wiss. Bd. XVIII. Leipzig 1892, 2) Vergl. pag. 220.

558 Sechstes Capitel.

ausserordentlich complicirter Verbindungen , die wir als lebendige Eiweisskörper oder Biogene bezeichnet haben. Dabei geht die che- mische Energie j welche in die lebendige Substanz eingeführt worden ist, in Form von potentieller Energie mit in diese complicirten Ver- bindungen über und hilft das Gefüge derselben lockern. So wissen wir z. B., dass namentlich durch die Einfügung des Sauerstoffs das Biogenmolekül eine ausserordentlich labile Constitution gewinnt, d. h. dass seine intramolekulare Wärme sehr gross wird. In Folge dessen neigt das Biogenmolekül zum Zerfall und explodirt theils schon spontan , theils auf geringe äussere Reize hin. Dieser explosive Zer- fall beruht auf einer Umlagerung der Atome, wobei im Bereich ein- zelner Atomgruppen des grossen Biogenmoleküls, wie bei allen explo- siblen Körpern, stärkere Affinitäten gebunden werden, als vorher im labilen Molekül gebunden waren. Es wird also die Summe aller dis- similatorischen Processe im Ganzen genommen mit bedeutender Energie- production verknüpft sein müssen. Schliesslich wissen wir, dass die aus diesem Zerfall der Biogene hervorgehenden Verbindungen, soweit sie den Körper verlassen, wie Kohlensäure, Wasser etc., kaum noch nennenswerthe chemische Energiepotentiale enthalten, während die im Körper zurückbleibenden Verbindungen, die Biogenreste, wieder che- mische Affinitäten zu den Nahrungsstoffen und dem Sauerstoff besitzen, die sie auf Kosten derselben binden. Die dabei verfügbare Energie- menge wird wieder zur Auflockerung der Biogenmoleküle verwendet, und so schliesst sich hier die Kette des Energiewechsels in der leben- digen Substanz. Das ihm zu Grunde liegende Princip er- scheint danach klar: es ist ein fortwährendes Auf- speichern potentieller chemischer Energie und ein Ueb erführen derselben in andere Energieformen; die Quelle der chemischen Energie ist die Nahrung und der Sauerstoff, das Betriebscapital die chemische Energie, welche jedes winzige Tröpfchen lebendiger Substanz von seinen Vorfahren überkommen hat, und das Ergeb- niss sind die energetischen Leistungen der lebendigen Su bstanz.

Die Energieverhältnisse, die sich bei Einwirkung von Reizen in der lebendigen Substanz entwickeln, werden auf Grund dieser Ver- hältnisse in ihren allgemeinen Zügen verständlich. In denjenigen Fällen, wo wir eine dissimilatorische Erregung als Reizwirkung haben, liegen die Dinge am einfachsten. Es handelt sich ja, wie wir an an- derer Stelle sahen ^), dabei nur um eine Steigerung der schon spontan sich vollziehenden Leistungen. Die potentielle Energie, die in den labilen Biogenmolekülen aufgehäuft ist, wird schon spontan in gewissem Maasse in aktuelle Energie übergeführt, indem beim explosiven Zer- fall die Atome unter Umlagerung durch stärkere Affinitäten aneinander gebunden werden. Dass gewisse Reize durch Erschütterungen der Atome im Biogenmolekül die intramolekulare Bewegung derselben steigern und dadurch mehr Gelegenheit zu Umlagerungen und zum explosiven Zerfall der Biogenmoleküle geben, ist ohne Weiteres ver- ständlich, und so bedarf die Steigerung der Leistungen unter der Ein- wirkung gewisser Reize weiter keiner Erklärung. Auch diejenigen Fälle der Reizwirkungen, wo es sich um eine dissimilatorische Läh- mung handelt, bedürfen kaum einer weiteren Erörterung, denn alle

1) Vergl. pas'. 479.

^'oIll Mcfliaiiisnuis ik-s Li'be-ns. 559

diejenigen Keize, welche die intramolekulare Bewegung der Atome im Biügenmolekül verringern oder die Umlagerung und Vereinigung be- stimmter Atome in irgend einer Weise hindern, wie etwa die Kälte oder die Narkotika, müssen selbstverständlich auch die normalen Leistungen der Zelle herabsetzen. Allein nicht alh; Leistungen der lebendigen Substanz siiul mit der dissimilatorischen Phase des Stoftwechscls ver- knüiit't. jManche wichtige Lebenserscheinungen lauten grade mit dem assimilatorischen Aufbau der ]3iogene Hand in Hand. So werden also assimilatorisch erregende Reize, wie gesteigerte Nahrungszufuhr etc. derartige Erscheinungen steigern, indem sie mehr Gelegenheit für die Bildung neuer Biogenmassen liefern , und umgekehrt werden assimi- latorisch lähmende Reize die entgegengesetzte Wirkung hervorrufen. Grade diejenigen Lebenserscheinungen, die mit der assimilatorischen Phase des Stoffwechsels verknüpft sind und durch assimilatorisch erregende Reize gesteigert werden, verdienen in Zukunft ein be- sonderes Interesse, nachdem sie so lange auf Kosten der viel augen- fälligeren mit der Dissimilation verbundenen Leistungen vernachlässigt worden sind.

Mit dieser Vorstellung von der Wirkung der Reize ist indessen nicht gesagt, dass die in Folge einer Reizung sich an bestimmten Leistungen äussernde Veränderung des Energiegetriebes immer direct und allein aus der Erregung oder Lähmung dieses oder jenes Gliedes der Stoffwechselkette stammt. So folgt z. B. dem explosiven Zerfall des Biogenmoleküls nach unserer Vorstellung immer die Bindung der freigewordenen Affinitäten des Biogenrestes, d. h. seine Regeneration, auf dem Fusse nach. Wir werden also darauf Rücksicht nehmen müssen, dass unter gewissen Umständen im Reizerfolg nicht bloss die durch den Zerfall der complicirten Verbindungen frei werdende Energiemenge enthalten ist, sondern auch Energiemengen, die bei den vmmittelbaren Folgevorgängen des Zerfalls actuell werden, und dasselbe gilt von den anderen Fällen der Reizwirkungen. Das Energie- getriebe in der Zelle ist eben in allen seinen Gliedern ausserordentlich eng verkettet. Das geht mit Nothwendigkeit aus den früher erörterten Thatsachen des Stoffwechsels hervor. Die ungeheure Schwierigkeit, den feineren Energieumsatz, der bei einer gegebenen Leistung, sei es spontan, sei es auf Reizung hin, abläuft, in seinen Einzelheiten zu verfolgen, liegt demnach auf der Hand, und es ist daher bei den ausserordentlich spärlichen Untersuchungen, die bisher auf diesem Gebiet vorliegen, zur Zeit schlechterdings unmöglich, die Energetik auch nur der äusserlich am deutlichsten hervortretenden Leistungen der Zelle, wie ihre Lichtentwicklung, ihre Elektricitätsproduction, ihre Entfaltung mechanischer Energie in den verschiedenen Bewegungs- formen, mit einiger Sicherheit festzustellen. Die überaus interessanten Vorgänge des Energiewechsels, der sich in den einzelnen inneren und äusseren Leistungen der lebendigen Zelle abspielt, genauer zu analy- siren, wird daher als eine der anregendsten Aufgaben der künftigen Physiologie vorbehalten bleiben.

0. Die Quelle der Muskelkraft.

Wenn wir sagen müssen , dass bisher über die Mechanik des Energiegetriebes in der lebendigen Substanz im Allgemeinen nur spärliche Untersuchungen von der Physiologie angestellt worden sind,

560 Sechstes Capitel.

SO gilt diese Bemerkung von einem Gebiet der Energiewechsel-Er- scheinungen nicht. Das sind die Contractions- und Expansions- bewegungen. Vor Allem die Mechanik der Muskelcontraction, bei der die Energieentfaltung der lebendigen Substanz in hervorragendster und erstaunlichster Gewalt zum Ausdruck kommt, hat von alten Zeiten her den Scharfsinn der Physiologen in lebhaftestem Maasse beschäftigt, und die Zahl der Theorieen, welche über die Mechanik der Muskel- bewegung aufgestellt Avorden sind, wird nur wenig kleiner sein als die Zahl der Forscher selbst, die sich mit diesem Problem eingehender beschäftigt haben. Ks ist ein interessantes Stück Entwicklungs- geschichte des menschlichen Denkens, das sich in diesen Theorieen von den Zeiten Galen's an bis in unsere Tage hin wiederspiegelt, und es gewährt einen historischen Genuss, diese Theorieen von ihren naivsten Anfängen an zu verfolgen. Wer Interesse an diesem Capitel aus der Geschichte der Physiologie nimmt, der findet die Litteratur der älteren und ältesten Theorieen bis zum vorigen Jahrhundert zu- sammengestellt bei Haller ^j. Die neueren Theorieen der Muskel- bewegung hat Hermann ^) in seinem Handbuch der Physiologie im Wesentlichen angeführt, und die neuesten Anschauungen, soweit sie grösseres Interesse besitzen, sind gesammelt und kritisch beleuchtet in einer jüngst erschienenen Arbeit, die das alte Problem von vergleichend- cellularphysiologischer Seite in Angriff genommen hat^).

Die Muskelarbeit ist zweifellos diejenige Leistung in der ganzen Organismenwelt, bei der in kürzester Zeit der grösste Energieumsatz stattfindet. Die Energiemengen, welche bei der Muskelthätigkeit frei werden, erreichen bekanntlich ganz erstaunliche Werthe. Es liegt daher zunächst die Frage nahe, welche von den in den Körper ein- geführten Energiepotentialen die in der Muskelthätigkeit frei werdenden Energiemengen liefern, mit anderen Worten, wo die Quelle der Muskelkraft zu suchen ist.

Dass es chemische Energiepotentiale sein müssen, liegt auf der Hand, da ja der Thierkörper ausschliesslich aus chemischer Energie seine Leistungen bestreitet. Aber die Frage ist, welcher von den in den Körper eingeführten Kahrungsstoffen durch seine Umsetzung die zur Muskelthätigkeit nöthige chemische Energie liefert. Sind es die Eiweisskörper, oder sind es die Kohlehydrate und Fette, deren Um- setzung im Körper die Quelle für die Muskelkraft bildet?

Um diese Frage ist ein heftiger Kampf geführt worden, der in neuester Zeit wieder heisser entbrannt ist. Die ursprüngliche und sehr klare Lehre Liebio's*), dass das Eiweiss als der Hauptbestandtheil des Muskels auch die Quelle seiner Leistungen sein müsse, ist schon zu seinen Lebzeiten befehdet Avorden, und Jahrzehnte lang glaubte man die richtige Lösung des Problems gefunden zu haben. Die Be- weisführung, die zu dieser bis in unsere Tage geltenden Vorstellung geführt hatte, ist interessant genug. Man hatte nämlich folgende Üeberlegung angestellt: Liegt die Quelle der Muskelkraft in der Zer-

') Haller: „Elementa physiologiae corporis humani." Tomus IV. Lausanne 1762.

2) Hermann : „Handbuch der Physiologie " Bd. I. Leipzig 1879.

^) Verworn: „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Line vergleichend-physio- logische Untersuchung der Contractionserscheinungen." .Jena l'^92.

*) Liebig: „Chemische Briefe" 1857. Derselbe: „Ueber Gährung, über Quelle der Muskelkraft und Ernährung." Leipzig und Heidelberg 1870.

Vom Mechanismus des Lebens. 561

Setzung des Eiweisses, so muss bei angestrengter Muskelthätigkeit der Eiweissumsatz gesteigert sein. Da man nun in der .Stickstoffaus- scheidung durch den Harn einen absohiten Maa.ssstab für den Umfang der Eiweisszersetzung im Körper zu besitzen glaubte, so schien die Frage entschieden zu sein, wenn man den Stickstoffgehalt im Harn bei der Kühe und bei angestrengter Muskelthätigkeit miteinander ver- glich. War er bei der Arbeit bedeutend erhöht, so konnte das nur von dem vermehrten Eiweissumsatz herrühren; war er der gleiche, so war die Quelle der Muskelkraft nicht im Eiweiss, sondern in den stickstofffreien Nahrungsstoffen zu suchen. Das Problem war also in schärfster Weise zugespitzt, und so konnte die Entscheidung nicht auf sich warten lassen. Fick in Gemeinschaft mit Wislicenüs^) zeigten an sich selbst und Voit^) am Hunde, dass die Stickstoff- ausscheidung im Harn auch bei der grössten Muskel- anstrengung nicht bemerkenswerth gesteigert wird.

Damit schien die Frage in exactester Form gelöst. Man schloss, dass die Eiweisszersetzung nicht die ausschliessliche Quelle der Muskel- kraft sein könne. Von den stickstofffreien Kahrungsstoffen kommen vor Allem die Kohlehydrate und eventuell auch die Fette in Betracht, und in der That ist es bekannt, dass bei angestrengter Muskelthätigkeit das im Muskel aufgespeicherte Glykogen verschwindet, um sich erst wieder in der Ruhe anzuhäufen. So wurde in Folge dieser scheinbar durchaus e i n w a n d s f r e i e n B e w e i s f ü h r u n g die Ansicht allgemein angenommen, dass die Quelle der Muskelkraft hauptsächlich i n d e r Z e r s e tz u n g d e r K o h 1 e - hydrate gelegen sei.

Allein die Vorstellung, dass das Eiweiss bei der angestrengten Thätigkeit der Muskelzelle nicht in erster Linie betheiligt sein soll, musste Jemandem , der mit den allgemeinen Lebenseigenschaften der lebendigen Substanz etwas näher vertraut war, überaus paradox er- scheinen. Das Eiweiss ist derjenige Körper, mit dessen Bildung und Zersetzung das Leben untrennbar verknüpft ist, und so musste es sehr wunderbar sein, dass bei einer gesteigerten Lebensthätigkeit, wie sie die angestrengte Muskelbewegung vorstellt, der Eiweissumsatz der gleiche sein sollte, wie in der Ruhe. So konnte sich auch Pflüger nie mit dieser Ansicht befreunden. In einer Reihe von ausgezeichneten Arbeiten eröffnete er in neuerer Zeit, gestützt auf einwansdfreie Ver- suche, gegen die bisher allgemein verbreitete Vorstellung einen Feldzug, in welchem er die Zersetzung des Eiweisses als die Hauptquelle der Muskelkraft hinzustellen suchte. Dass sich Hunde mit Fleischnahrung allein erhalten lassen, war schon Voit bekannt. Pflüger^) fütterte daher einen Hund viele Monate hindurch allein mit möglichst reinem und fettfreiem Fleisch und Hess ihn mehrmals Wochen lang jeden Tag die schwerste Arbeit verrichten. Dabei zeigte das Thier dauernd „eine ganz ausserordentliche Stärke und Elasticität in allen Be-

^) Fick und Wislicencs: „Ueber die Entstehung der Muskelkraft." In Vierteljahrs- schrift d. Züricher naturforsch. Ges. Bd. X, 1865.

-} Voit: „Ueber die Entwicklung der Lehre der Quelle der Muskelkraft und einiger Theile der Ernährung seit 25 Jahren." In Zeitschr. f. Biologie Bd. VI, 1870. Der- selbe: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung." In Hermann's Handb. d. Physiol. Bd. VI, 1881.

^) Pflüger: .,Die Quelle der Muskelkraft Vorläufiger Abriss." In Pflüger's Arch. Bd. L, 1891.

Verworu, AUgemeine Physiologie. 2. Aufl. 36

562 Sechstes Capitel.

wegungen". Da die geringen im Fleisch enthaltenen Spuren von Kohlehydraten und Fett schlechterdings für die Ernährung nicht in Betracht kommen, so war damit bewiesen, dass die ganze in der schweren Arbeit des Hundes producirte Energie aus der Umsetzung von Ei weiss stammte. Um aber zu prüfen, ob etwa das Eiweiss nur bei Mangel an Kohlehydraten und Fetten in der Nahrung als Ersatzquelle für die Muskelkraft diene, stellte PflCger ^) Versuchsreihen mit gemischter Nahrung an , und diese führten zu dem wichtigen Ergebniss, dass bei einer aus Eiweiss, Kohlehydraten und Fetten gemischten Kost die Menge von Kohle- hydraten und Fetten, welche im Stoffwechsel zersetzt wird, ganz allein davon abhängt, ob viel oder wenig Eiweiss gefüttert wird. „Allgemein ist die Menge des zur Zersetzung gelangenden Kohlehydrates und Fettes um so kleiner, je grösser die Eiweisszufuhr gemacht wird." Die nicht zersetzten Mengen der Kohlehydrate und Fette werden in Körperfett umgewandelt und als Reservematerial im Körper aufgehäuft, während, wie bekannt, das eingeführte Eiweiss, wie viel es auch sei, bis auf einen verschwindend geringen Rest sämmtlich zersetzt wird. Man kann also sagen : „Das N a h r u n g s b e d ü r f n i s s wird in erster Linie durch Eiweiss befriedigt." Das Eiweiss bildet die „Urnahrung", die Kohlehydrate und Fette nur eine „Ersatznahrung" bei Eiweissmangel.

Wenn es demnach zweifellos feststeht, dass die Muskelarbeit in erster Linie durch die Zersetzung von Eiweiss bestritten wird, so rauss die ebenso unurastössliche Thatsache, dass die StickstofFaus- scheidung im Harn bei der angestrengtesten Muskelthätigkeit nicht entsprechend erhöht erscheint, zunächst Befremden erregen. In dieser Beziehung verdient ein anderer Versuch Pflüger's Beachtung. Pflüger fand nämlich, dass auch bei reiner Eiweissnahrung und bei gleichem Kostmaass in der Ruhe und in der Arbeit die StickstoflF- ausscheidung durch die Muskelthätigkieit nur ganz unbedeutend, ja unter Umständen überhaupt nicht vermehrt wird. Und dennoch musste die gesammte Arbeitskraft allein aus der Zersetzung von Eiweiss stammen, da keine Kohlehydrate und Fette verfüttert wurden. Diese merkwürdige Erscheinung wäre bei Ueberschuss an Eiweissnahrung zwar ohne Weiteres verständlich, wenn wir daran denken, dass ja schon in der Ruhe alles in den Körper eingeführte Eiweiss zersetzt wird. Wenn daher, wie sich gezeigt hat, die Energie der Muskel- arbeit trotzdem aus dem zersetzten Eiweiss stammen muss, so könnte man daraus schliessen, dass das Eiweiss, welches bei der Thätigkeit verbraucht wird, an anderen Punkten gespart worden sei, und das wäre um so begreiflicher, als wir wissen, dass alles über ein bestimmtes Maass hinaus genossene Eiweiss gewissermaassen eineLuxusconsumption vorstellt und daher jeden Augenblick, sobald Bedürfnisse auftreten, für diese zur Verfügung steht. Wenn wir aber sehen, dass, wie Voit^) gezeigt hat, auch im Hungerzustande des Hundes durch die Arbeit im Tretrade die Stickstoffausscheidung im Harn entweder gar nicht oder unwesentlich vermehrt ist, dann können wir diesen Schluss nicht ziehen, und die obige Erklärung reicht nicht mehr aus.

1) Pflügeh: „Ueber Pleisch- und Fettmästung-." In Pflüger's Arch. Bd. LH, 1892.

^) Voit: „Untersuchungen über den Einfluss des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskelbewegungen auf den Stoffwechsel." München 1860, feiner Zeitschr. f. Biologie Bd. II, 1866.

Vom Mechanismus des Lebens. 563

Dann bleibt uns noch Eine Mögliclikeit übrig, eine Möglichkeit, die Pflüger nur gestreift hat: das ist die Vorstellung, dass bei der Arbeit ein Eiweissumsatz im Muskel stattfindet, ohne dass der Stickstoff des um- gesetzten Ei weisses im Harn erscheint.

In der Tliat ist diese Vorstellung, zu der wir hier durch die Thatsachen gedrängt werden, wenn sie auch einem althergebrachten Dogma in der Physiologie direct wider.spricht, durchaus nicht so paradox, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Dieses Dogma, das den Fortschritt in der Erkenntniss der Lebensvorgänge nicht wenig gehemmt hat, und das nur entstehen konnte, weil man sich bisher ausschliesslich mit den Lebenserscheinungen der höheren Thiere be- schäftigt hat, besteht in dem Satz, dass die Stickstoffausscheidung im Harn ein absolutes Maass für den Eiweissumsatz im Körper sei. Aber eine solche Annahme ist wenigstens in dieser Form durchaus unerwiesenM. Mit voller Berechtigung können wir zwar sagen: der im Harn ausgeschiedene Stickstoff stammt aus der Zersetzung des Eiweisses; wenn wir aber umgekehrt behaupten: der gesammte Stickstoff des im Körper umgesetzten Eiweisses erscheint im Harn, so haben wir dazu nicht das mindeste Recht, denn die That- sache, dass alles über ein gewisses Maass genossene Nahrung s - ei weiss im Körper in solche Atomgruppen umgesetzt wird, deren Stickstoff durch den Harn zur Ausscheidung gelangt, gestattet keine Verallgemeinerung, vor allen Dingen keine Uebertragung auf den Zerfall des organisirten Eiweisses, des Biogens. Wie wir wissen , entstehen beim Zerfall des Biogenmoleküls stickstofffreie und stickstoffhaltige Atomgruppen. Die stickstofffreien, wie Kohlensäure, Wasser, Milchsäure etc., verlassen alsbald den Körper. Aber nichts zwingt uns zu der Annahme, dass auch die stickstoftlialtigen Atom- gruppen sämmtlich den Körper sofort verlassen. Wir können uns vor- stellen, dass der stickstofl'haltige Biogenrest, der beim Zerfall des Biogenmoleküls nach Austritt der Kohlensäure, des Wassers etc. übrig geblieben ist, unter Umständen sich auf Kosten der Nahrungsstoffe und des Sauerstoffes oder im Hunger auf Kosten der Reservestoffe wieder zu einem vollständigen Biogenmolekül regenerirt. Dann hätten wir einen Biogenzerfall, der keine Stickstoffausscheidung im Harn zur Folge hat. Es giebt aber keine einzige Thatsache, die dagegen spräche, dass bei der Muskelthätigkeit das Biogenmolekül zerfällt, und dass im Allgemeinen der stickstoffhaltige Rest die verloren gegangenen stick- stofffreien Atomgruppen auf Kosten der Nahrung immer wieder regenerirte. Eine solche Sparsamkeit ge- rade mit dem kostbaren Stickstoff würde imGegentheil ganz im Sinne des organischen Haushaltes liegen.

Diese Vorstellung, die uns hier zunächst als blosse Möglichkeit erscheint, auf die wir durch die Erscheinungen hingewiesen werden, gewinnt aber bei genauerer Betrachtung ausserordentlich an Wahr- scheinlichkeit.

Vor Allem nämlich steht sie im Einklang mit unseren allgemein- physiologischen Ansichten vom Wesen des Lebensprocesses und wird den Vorstellungen gerecht, die wir uns von den Vorgängen in der

1) Vergl. pag. 180.

36*

564 Sechstes Capitel.

lebendigen Substanz auf Grund zahlloser Thatsachen machen müssen. Wie wir wissen, bilden die Eiweisskörper nicht nur die Hauptmasse aller Stoffe, aus denen die lebendige Substanz besteht, sondern sie sind auch die einzigen von allen organischen Stoffen, aus deren Umsatz allein sämmtliche Leistungen des lebendigen Organismus dauernd bestritten werden können. Dazu kommt, dass, wie wir schon früher sahen ^), alle anderen Stoffe, die sich sonst noch in der Zelle finden, theils zum Aufbau der Eiweisskörper und Biogene dienen, theils aus dem Umsatz derselben entstehen. Es kann also kein Zweifel bestehen, dass das Leben auf das Engste an den Aufbau und den Zerfall ge- wisser hochcomplicirter Eiweisskörper gebunden ist, die wir eben deshalb als Biogene bezeichneten. Giebt man das zu, dann wäre es aber im höchsten Maasse paradox, Avenn eine Steigerung, und zwar eine so enorme Steigerung der Lebensprocesse, wie sie bei ange- strengter Muskelthätigkeit zum Ausdruck kommt, nicht auch noth- wendig mit einer Steigerung des Biogenumsatzes im Körper verbunden sein sollte. Deshalb glaubte auch Liebig, der Altmeister der physio- logischen Chemie, bis an sein Lebensende unermüdlich die Ansicht vertreten zu müssen, dass die Eisweisskörper, welche die Hauptmasse der organischen Muskelbestandtheile bilden, welche die Hauptrolle im ganzen Lebensprocess spielen, diejenigen Stoffe sind, deren Zersetzung die Quelle der Muskelkraft liefert, und deshalb bekämpft auch Pflüger, einer der weitestblickenden unter den Physiologen, heute wieder von Neuem die Vorstellung, dass die Muskelthätigkeit ohne Zerfall der Eiweisskörper bestehen könne. Wenn aber bei der Muskelthätigkeit ein gesteigerter Biogenumsatz stattfindet, und wenn trotzdem bei der Muskelthätigkeit nicht mehr Stickstoff ausgeschieden wird, als in der Ruhe, dann bleibt eben nichts Anderes übrig als der Schluss, dass der stickstoffhaltige Biogenrest sich wieder zum vollständigen Biogenmolekül regen erirt. In der That sind auch ohne ein solches Regenerations- vermögen des Biogenmoleküls die einfachsten und allgemeinsten Lebenserscheinungen nicht zu verstehen. Wie wäre zum Beispiel die Thatsache des Wachsthums, die Thatsache, dass lebendige Substanz immer nur von anderer lebendiger Substanz gebildet wird, anders zu begreifen, als dadurch, dass das Biogenmolekül die Fähigkeit hat, nach und nach bestimmte Atome und Atomgruppen au sich zu binden, um so zu einem polymeren Molekül anzuwachsen. Bei dieser Poly- merisirung des Biogenmoleküls kann ein neues Glied der polymeren Kette immer nur durch successive Einfügung seiner einzelnen Atom- gruppen erfolgen, da ja die einzelnen Kettenglieder erst gebildet werden müssen und nicht schon fertig zur Verfügung stehen. Jede Rege- neration ferner beruht im Princip auf denselben Vorgängen wie jede neue Bildung. Auch die Thatsache der vollkommenen Erholung nach gänzlicher Ermüdung und manche andere Grunderscheinung der lebendigen Substanz setzen unbedingt die Regenerationsfähigkeit des Biogenmoleküls voraus.

Was aber besonders wichtig ist, das ist, dass die hier entwickelte Vorstellung beiden sich unversöhnt gegenüberstehenden Auffassungen über die Quelle der Muskelkraft gerecht wird. Sowohl die Eiweiss- körper wie auch die Kohlehydrate der Nahrung können nach dieser Auffassung als Quelle für die Muskelkraft dienen. Wenn der Angel-

1) Vergl. pag. 169 ff. und 485.

Vom Mecliauismus des Lebens. 565

punkt der Muskelthätigkeit in dem Zerfall und \^'iederaufbau des Biogenmoleküls gelegen ist, und wenn beim Zerfall nur .stickstofffreie Atomgruppen das Molekül verlassen, so ist es selbstverständlich, dass auch zur Regeneration nur stickstofffreie Atomgi-uppen verwendet werden, und die Thatsachen beweisen, dass dazu sowohl die Eiweiss- körper als auch die Kohlehydrate der Nahrung dienen können, wenn auch, wie PflCger gezeigt hat, bei gemischter Nahrung und genügender Eiweisszufuhr das Eiweiss den Vorzug erhält. So ist die unbe- streitbare Thatsache, dass bei der Muskelthätigkeit die EiAveissnahrung bis zu einem gewissen Grade durch Kohlehydrate vertreten werden kann, ohne Weiteres verständlich, und es ist ebenso berechtigt, zu sagen : die Kohlehydrate liefern die Quelle der Muskelkraft, w^ie zu behaupten : die Eiweisskörper leisten diesen Dienst. Beide können dieselbe Rolle spielen, aber eben nur dadurch, dass sie dem Biogen- rest die stickstofffreien Atomgruppen zu seiner Regeneration zur Ver- fügung stellen. Der Lebensprocess im Muskel liegt immer im Stoffwechsel der Biogene und bleibt derselbe, ob er sein Material aus dem Eiweiss oder aus dem Kohlehydrat und Fett der Nahrung bezieht.

Die hier erörterte Auffassung, nach der die Energieentfaltung bei der Muskelbewegung aus dem Zerfall und Wiederaufbau der Muskel- biogene stammt, besitzt den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit, den eine wissenschaftliche Erklärung haben kann. Sie entspringt den Forderungen unserer allgemein-physiologischen Erfahrungen, sie ist im Stande, alle einschlägigen Erscheinungen verständlich zu machen, und steht mit keiner einzigen Thatsache im Widerspruch.

Das wird sich zeigen, wenn wir das Problem der specielleren Energie Wechselmechanik bei der Bewegung der eontractilen Substanzen etwas näher ins Auge fassen.

d. Theorie der Contractions- und Expansionsbewegungen.

Ohne auf die schier zahllosen Theorieen, die über den Mechanis- mus der Muskelcontraction aufgestellt worden sind, im Einzelnen ein- zugehen , können wir unter den wichtigeren der in der neueren Physiologie geäusserten Auffassungen zwei wesentlich verschiedene Gruppen bemerken. Dass die Quelle der Muskelkraft die chemische Energie liefert, darüber heiTscht allgemeine Einstimmigkeit, und kann auch nach unseren Vorstellungen über den Lebensvorgang kein Zweifel bestehen. Während aber nach der Meinung einiger Physio- logen die mechanische Energie der Muskelarbeit direct aus dem Um- satz chemischer Energie hervorgeht, wird nach der Ansicht anderer die chemische Energie bei der Muskelcontraction erst auf dem Um- weg durch Wärme in mechanische Energie übergeführt. Die erstere Ansicht wird von PflCger^), Fick") und Anderen^) vertreten, die

^) Pflügek : ^Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen.'^ In Pflüger's Arch. Bd. X, 187-5.'

^) Fick: „Mechanische Arbeit und Wärmeentwicklung bei der Muskelthätigkeit.'^ In Intemation. wissenschaftl. Bibliothek Bd. LI. Leipzig 1881. Derselbe: „Einige Bemerkungen zu Engelmann's Abhandlung über den Ursprung der Muskelkraft.'^ In Pflüger's Arch. Bd. LUX, 1893.

^) Verwoen : „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend-physio- logische Untersuchung der Contractionserscheinungen." Jena 1892.

566 Sechstes Capitel.

letztere besonders von Engelmann ^). Eine Theorie des Göttinger Philosophen Elias Müller^), welche die mechanische Energie der Muskelcontraction erst auf dem Umwege durch Wärme und dann durch Pyroelektricität aus der chemischen Energie herleitet, liegt noch nicht in ihrer vollständigen Begründung vor.

Wir wählen zum Ausgangspunkt für unsere Betrachtung am besten Engelmann's thermo-dynamische Theorie der Contractions- erscheinungen. Engelmann sieht eine Schwierigkeit bei der directen Herleitung der Muskelarbeit aus chemischer Energie in folgendem Umstände. Berechnet man aus der vom Muskel producirten Energie- menge auf Grund der Annahme, dass dieselbe durch Verbrennung von Kohlehydraten geliefert werde, unter Zugrundelegung einer Ver- brennungswärme von 4000 Kalorieen pro Gramm Kohlehydrat, die Menge von Substanz, welche zu der Leistung des Muskels bei einer Zuckung nöthig ist, so findet man, dass sie eine ganz erstaunlich geringe ist im Verhältniss zur Masse des Muskels. Engelmann findet, dass nur etwa ein Viermilliontel der ganzen Masse als Quelle für die bei einer Zuckung gelieferte Energie in Betracht kommen kann. Bei dem grossen Wassergehalt der Muskeln, den er auf etwa 70 80 *^/o an- nimmt, hält er es daher für unverständlich, wie durch die directe Wirkung der nur am Orte wirkenden chemischen Energie einer so geringen Menge von wirksamer Substanz eine so ungeheure passive Masse in Bewegung gesetzt werden kann. Er hält das letztere nur für möglich, wenn die chemische Energie erst in Wärme umgesetzt wird, die sich überallhin verbreiten kann und daher in ihrer Wir- kung nicht auf ihren Entstehungsort beschränkt ist. Die Umformung eines Theils der Wärme in mechanische Energie kommt nach der Vorstellung Engelmann's durch Verkürzung quellungsfähiger Elemente in Folge der Erwärmung zu Stande. Bei der letzteren Annahme stützt er sich einerseits auf die Thatsache, dass alle positiv-einaxig- doppeltbrechenden Substanzen , wenn sie quellbar sind , bei der Quellung sich in der Richtung der optischen Axe verkürzen, und andererseits auf den Umstand, dass quellbare Körper stärker quellen, wenn sie erwärmt werden. Im Muskel haben wir aber nach Engelmann's Untersuchungen in der anisotropen Substanz positiv- einaxig-doppeltbrechende Elemente, und wie Engelmann ebenfalls gezeigt hat, geht bei der Contraction des Muskels aus der isotropen, dünnflüssigeren Masse des Muskelsegments flüssige Substanz in die festere Masse der anisotropen Schicht über, so dass diese an Volumen zunimmt. Engelmann stellt sich daher vor, dass die Elemente der anisotropen Muskelsubstanz, die er als „Inotagmen" bezeichnet, bei der Muskelerregung in Folge der aus chemischer Energie stammenden Wärme quellen und sich verkürzen, so dass eine Zuckung des Muskels erfolgt. Besonders anschaulich zu machen sucht Engelmann seine Vor- stellung durch einen Versuch, in welchem die Contraction des Muskels nach dem thermo-dynamischen Princip durch Wärmequellung und Verkürzung einer Darmsaite nachgeahmt wird. In einem mit Wasser gefüllten Becherglase befindet sich in Verbindung mit einem Schreib- hebel eine aufgespannte Violinsaite, die umgeben ist von einer Draht- spirale. Durch Schliessung eines Stromes kann die Drahtspirale er-

^) Engelmann: „Ueber den Ursprung der Muskelkraft." Leipzig 1893.

^) G. E. Müller: „Theorie der Muskelcontraction." I. Theil. Leipzig 1891.

Vom Meclianisimis des Lebens. 567

wärmt werden, so dass sich die Wärme der Darmsaite mittheilt. Die Folge davon ist, dass sich die Darmsaite durch Quellung verkürzt und durch Hebung eines Gewichts eine gewisse Arbeit leistet. Bei OefF- nung des Stromes und Abkühlung der umgebenden Drahtspirale erfolgt dann wieder eine Streckung der Saite. Durch seine geniale Einfach- heit macht dieser Versuch die ENGELMAXN'sche Auffassung ausser- ordentlich anschaulieh, und es ist nicht zu leugnen, dass er dadurch auf den ersten Blick sehr für die therrao-dynamische Theorie ein- nimmt. Dennoch lassen sich mehrfache Bedenken gegen diese Theorie geltend machen, und in der That sind auch besonders von Fick ') gegen Engelmann's Auffassung bereits verschiedene, schwerwiegende Einwände erhoben worden.

Leider ist es nicht möglich, hier die verschiedenen Schwierig- keiten zu erörtern, welche sich der Annahme der ENGELMANN'schen Theorie entgegenstellen. Nur eine Schwierigkeit mag hier kurz hervorgehoben werden, weil uns ihre Betrachtung hinüberleitet zu einer anderen Auffassung, die sich auf Grund der mikroskopischen Thatsachen den chemischen Theorieen der Muskelcontraction an- schliesst. Wir müssen nämlich von einer Theorie der Muskel- contraction fordern, dass ihr Princip nicht bloss für die Erklärung der Muskelbewegung, sondern auch für die Erklärung aller anderen Formen der Contractionsei'scheinungen, d. h. also auch für die Proto- plasmabewegung und Flimmerbewegung, Gültigkeit besitzt. „Da die- selben durch alle Uebergänge unter sich und mit der Muskelbewegung verbunden sind, muss dasselbe Erklärungsprincip bei allen Anwendung finden können." Dieser ersten und obersten Forderung, die Exgelmann selbst aufstellt, entspricht aber die obige Theorie nicht ganz. Sie ist z. B. nicht im Stande, die Bewegungserscheinungen amoeboider Proto- plasmamassen zu erklären. Grade diese einfachste aller Contractions- erscheinungen macht der Exgelmann 'sehen Auffassung unüberwindliche Schwierigkeiten. Um die Erscheinungen der amoeboiden Bewegung mit seiner Theorie in Einklang zu bringen, ist Engelmann ^) zu der Annahme gezwungen, dass auch im amoeboiden Protoplasma die con- tractilen Elemente eine langgestreckte Form haben und in der Weise quellbar sind, dass sie bei der Quellung kugelig werden. Allein diese ad hoc gemachte Annahme lässt sich einerseits durch nichts begründen, andererseits ist sie auch nicht im Stande, die Erscheinungen wirklich zu erklären. Trotz genauer Untersuchung ist es nämlich Engelmann nicht gelungen, im amoeboiden Protoplasma ähnliche doppeltbrechende Elemente zu finden, wie in den faserig differenzirten Formen der con- tractilen Substanz. Die Beobachtung, dass beim Acti n osphaerium die Pseudopodien einen doppeltbrechenden Axenstrang haben, ist nicht verwendbar, weil der Axenstrahl der Actinosphaerium Pseudopodien überhaupt nichts mit der Contraction zu thun hat, sondern nur eine Gleitbahn vorstellt, auf der das contractile Protoplasma strömen kann, analog den Radiolarienskelettstrahlen, wie sie besonders bei der Gruppe der Acanthometriden sehr verbreitet sind. Aber selbst wenn das con-

^) Fick: „Einige Bemerkungen zu Engelmäsn's Abhandlung über den Ursprung der Muskelkraft." In Pflüger's Arch. Bd. LIII, 1893. Derselbe: „Noch einige Be- merkungen zu Engelmans's Schrift über den Ursprung der Muskelkraft." In Pflüger's Arch. Bd. LIV, 1893.

^) EsGELMAXx: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung." In Her- mann's Handb. d. Physiol. Bd. I, 1879.

568 Sechstes Capitel.

tractile Protoplasma der Rhizopoden etc. aus lauter langgestreckten und bei der Quellung kugelig werdenden Elementen bestände^ wäre auf Grund dieser Annahme das Ausstrecken so ausserordentlich langer und dünner fadenförmiger Pseudopodien, wie sie die meisten Fora- miniferen und Radiolarien und zahllose Rhizopodenformen des Süss- wassers charakterisiren, vollkommen unbegreiflich. Und dennoch ist die Bildung dieser Pseudopodienformen nichts Anderes als die Aus- streckuug der kürzeren, stumpfen oder zerfetzten Ausläufer einer Amoebe oder eines Leukocyten. Aber selbst die Bildung dieser Pseudopodien kann man sich nach der ExGELMANx'schen Auffassung nicht erklären. Wie sollte man sich das Zustandekommen einer auch nur einigermaassen bemerkenswerthen Formveränderung des Amoeben- körpers durch blosse Streckung zahlloser, in ihrer Grösse weit unter der Grenze der Wahrnehmbarkeit befindlicher Elemente vorstellen, die, wie Engelmann selbst annimmt, regellos nach allen Richtungen durch- einander liegen? Diese Schwierigkeiten sind unüberwindlich.

Hier sind wir aber gerade bei dem Punkte angelangt, wo das Problem der Contractionsbewegungen am ersten mit Aussicht auf Er- folg in Angriff genommen werden kann. In der amoe- boiden Zelle haben wir die primitivste Form der con- tractilen Substanz; hier lie- gen die Verhältnisse unleug- bar viel einfacher als bei den faserig entwickelten Formen mit ihren complicirten Sub- ^ stanzdifferenzirungen. Dazu

■El- oßQ A i, TT TT T X kommt noch, dass wir an

1 lg. Zoo. Amoebe im Umriss. Im Innern hegt -, r -i i j j

der Kern. A Pseudopodien nach verschiedenen Ci^n treiiebenden und ver- Eichtungen ausstreckend, B in einer Richtung hältnissmässig grossen Pro- kriechend, C kugelig contrahirt. toplasmamassen der amoe-

boi'den Zellen unvergleich- lich viel leichter die Erscheinungen des lebendigen Objects experimentell untersuchen können, als an den sehr kleinen Bestandtheilen des Muskels, die aus der Continuität mit den Nachbarn getrennt unfehlbar in kürzester Zeit zu Grunde gehen.

Gehen wir daher aus von der amoeboiden Bewegung der nackten Protoplasmamassen ^). Was allen Contractionserscheinungen gemeinsam ist, das ist, wie wir früher-) gesehen haben, der Wechsel von zwei entgegengesetzten Phasen, einer Contractionsphase, bei der die Ober- fläche im Verhältniss zur Masse verkleinert wird, und einer Expansions- phase , bei der die Oberfläche wieder vergrössert wird. Bei der amoeboi'den Bewegung äussert sich die Expansionsphase in der Aus- streckung und die Contractionsphase in der Einziehung der Pseudo- podien und dem Streben nach Kugelgestalt (Fig. 268). Der Wechsel zwischen beiden bildet die Gesammterscheinung der amoeboiden Be- wegung. Stellen wir uns daher zunächst einen nackten Protoplasma- tropfen vor, etwa eine Amoebenzelle, so verhält sich, wie wir wissen,

^) Verworn : „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend-physio- logische Untersuchung der Contractionserscheinungen.'" Jena 1892. 2j Vergl. pag. 2.38 und 2Ö6.

Vom Meclianismus des Lebens, 569

diese Protoplasmamasso ])liyäikaliscli wie eine Flüssigkeit. Ihre Be- wegungen müssen also, wie vor Allem Bkrthold ') in consequenter Weise für zahlreiehe specielle Fälle durchgeführt hat, den allgemeinen Gesetzen tropfbarer Flüssigkeiten gehorchen. Physikalisch betrachtet ist aber jede Bewegung eines FIüs8igkeitstro])fens der Ausdruck von Veränderungen seiner Oberflächenspannung, d. h. der Cohäsionsenergie, mit der sich bei einem freischwel^end gedachten Tropfen die einzelnen Theilchen untereinander anziehen. Ist die Oberfl;U'hensj)annung an allen Punkten der Oberfläche gleich gross, so nimmt der Tropfen Kugelform an. Wird sie an einer Stelle durch irgend welche Ursachen vermindert, so erfolgt hier in Folge des Druckes von den anderen Seiten her eine Vorwölbung des Tropfens, die so lange Avächst, bis ein neuer Gleichgewichtszustand hergestellt ist. Wird die Oberflächen- spannung an der vorgewölbten Stelle wieder grösser, so geht die Protuberanz in entsprechendem Maasse wieder zurück. Demnach ist die Kugelgestalt einer Amoebenzelle der Ausdruck für eine an der ganzen Oberfläche gleich grosse Oberflächenspannung, die Aus- streckung von Pseudopodien an einzelnen Stellen der Oberfläche das Kriterium für eine Verminderung der Oberflächenspannung an diesen Punkten. Das Problem der amoeboiden Bewegung, in dieser Weise präcisirt, gipfelt also in der Frage, aus welchen Ursachen einerseits eine Verminderung der Oberflächenspannung ( A u s s t r e c k u n g d e r P s e u d o p o d i e n) und andererseits wieder eine Erhöhung der Oberflächen- spannung (Einziehung der Pseudopodien und Streben nach Kugel form) zu Stande kommt.

Ueber die Art und Weise der Verminderung der Oberflächenspannung geben uns die bereits früher besprochenen Versuche Kühne's^) an Am o eben und Myxom yc eten Aufschluss. Wenn Kühne einen Tropfen mit Am o eben in ein sauerstofffreies Medium brachte, das im Uebrigen indiff"erent war, wie etwa Wasser- stofi", so blieb die amoeboide Bewegung allmählich stehen, und die Am 0 eben verharrten in den Gestalten, die sie gerade beim Kriechen angenommen hatten. Liess er aber nunmehr wieder Sauerstoff hinzu- treten, so begann die Bewegung von Neuem, es wurden neue Pseudo- podien ausgestreckt, und die Am o eben krochen weiter. Nicht minder deutlich sind die Versuche Kühne's an Myxomycetenplasmodien. Kühne brachte ein Klümpchen eines eingetrockneten Didymium- plasmodiums in ein Kölbchen, das mit sauerstofFfreiem Wasser gefüllt war. In diesem Zustande blieb jede Pseudopodienentwicklung tage- lang aus, Liess er indessen einige kleine Luftblasen in das Kölbchen hineintreten, so begann die Pseudopodienausbreitung sofort, und nach fünf Stunden hatte sich das Protoplasmaklümpchen an der Innenwand des Kölbchens zu einem reichverzweigten Netzwerk ausgestreckt. Hiernach liegt es auf der Hand, dass es die chemische Affinität gewisser Theile des Protoplasmas zum Sauer- stoff sein muss, welche die Oberflächenspannung an bestimmten Stellen herabsetztund so zurPseudopodien- bildung führt. Bei einseitiger Einwirkung des Sauer-

1) Berthüld: „Studien über Protoplasmanieclianik." Leipzig 1886. -) W, Kühne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Contractilität," Leipzig 1864.

570

Sechstes Capitel.

Stoffs muss dieses Princip zur positiven Chemotaxis führen, wie sie auch thatsächlich durch Stahl ^) bei nackten Protoplasmamassen nachgewiesen worden ist. Bezüglich der Art und Weise, wie die chemische Affinität der Proto- plasmatheilehen zum Sauerstoff des Mediums die Oberflächenspannung des Protoplasmatropfens vermindert, werden wir uns jedenfalls zu denken haben, dass durch die Einfügung der Sauerstoffatome in das Biogenmolekül die Cohäsion der einzelnen BiogenmolekiUe untereinander gelockert wird.

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Fig. 269. Verschiedene Ausbreitungsformen von Oeltropfen in alkali- scher Flüssigkeit.

Dass durch chemische Affinität gewisser Bestandtheile eines Flüssigkeitstropfens zu Stoffen des umgebenden Mediums amoeboide Formveränderungen und Bewegungen des Tropfens hervoi'gerufen werden, dafür haben wir übrigens ein sehr anschauliches Analogen in der unbelebten Natur. Dasselbe liefern uns die interessanten Ver- suche von Gad^) über das Verhalten von Oeltropfen in alkalischen

^) Stahl: „Zur Biologie der Myxomyceten." In Bot. Zeitung 1884 vergl. pag. 435.

^) J. Gad: „Zur Lehre von der Fettresorption." In Du Bois-Reymond's Arch. f.

Physiol. 1878. In meiner Arbeit über „Die Bewegung der lebendigen Substanz" ist

Vom Mechanismus des Lebens. 571

Medien, die später auch von Quincke V) studirt worden sind. Be- kanntlich entlialten ranzige Fette und Oele zwischen den reinen Fett- und Oehnolekülen auch Moleküle von freien Fett- resp. Oelsäureu. Bei Berührung- von freien Fett- resp. Oelsäuren mit Alkalien verbinden sich aber beide zu löslichen Seifen. Bringt man daher einen ranzigen Oeltropfen in eine schwach alkalische Flüssigkeit, so tritt an der Be- rührungstläche beider eine fortwährende Seifenbildung ein. Dadurch wird die Oberflächenspannung local hier und dort vermindert, und es erfolgt eine richtige Pseudopodienbildung des Oeltropfens. Durch Abstufung der Alkalescenz des Mediums und des Gehalts des Oel- tropfens an freien Säuren kann man die verschiedensten Aus- breitungsformen erzeugen, von denen manche eine verblüfiende Aehnlichkeit mit den Pseudopodienformen bestimmter Rhizopoden be- sitzen (Fig. 2(59).

Wird demnach durch chemische Aftinität gewisser Theilchen eines Tropfens zu Stoffen des umgebenden Mediums die Oberflächen- spannung vermindert, so muss umgekehrt eine Oberflächen- spannungsvermehrung zu Stande kommen durch gesteigerte An- ziehung zwischen den Theilchen des Tropfens. Eine solche Steigerung der Cohäsion zwischen den Biogenmolekülen selbst oder zwischen ihnen und anderen Stofi'en des Zellkörpers wird verständlich , wenn wir daran denken, dass ja die Stärke der Molekular- Attraction durch Veränderungen der chemischen Constitution der Moleküle be- einflusst Avird. Oben hatten wir gesehen, dass die Cohäsion durch die Oxydation der Biogenmoleküle vermindert wird. Tritt nunmehr der Zerfall der Biogenmoleküle ein, so liegt wohl die Vorstellung nahe, dass diese tiefgehende Aenderung ihrer chemischen Constitution wieder mit einer Zunahme der Cohäsion verbunden ist.

Auf Grund dieser Vorstellung würden wir uns etwa folgendes Bild von dem Mechanismus der amoeboiden Protoplasmabewegung machen können. Gehen wir aus von der Kugelform der amoeboiden Zelle, so würde durch die Einfügung des Sauerstofls in die Biogen- moleküle an einer beliebigen Stelle der Peripherie die Oberflächen- spannung local herabgesetzt werden, das Protoplasma würde sich vor- buchten, und da hierdurch immer neue Biogenmoleküle mit dem Sauerstoff des umgebenden Mediums in Berührung kämen, würde sich je nach der eigenthümlichen Beschaffenheit des Protoplasmas ein mehr oder weniger langes Pseudopodium bilden. Das wäre die Mechanik der Expansionsphase. Durch die Einfügung des Sauerstoffs hätten dann die Biogenmoleküle den Höhepunkt ihrer labilen Constitution erreicht. Sie würden in gewissem Grade schon spontan zerfallen, in höherem Maasse aber bei Einwirkung dissimilatorisch erregender Reize. Mit ihrem Zerfall würde die Oberflächenspannung wieder grösser, und so müsste das gereizte Protoplasma in centripetaler Richtung wieder zurückfliessen , so dass das Pseudopodium sich einzöge, eine

durch ein Versehen die Untersuchung von Gad aus dem Jahre 1888 statt 1878 datirt ■worden, so dass es dem Text zu Folge den Eindruck machen muss, als sei die erst 10 Jahre später erschienene Arbeit von Quincke „Ueber periodische Ausbreitimg von Flüssigkeits-Oberflächen'^ etc. schon vor Gad's Arbeit veröti'entlicht worden. Ich möchte daher nicht verfehlen, mein Versehen au dieser Stelle zu berichtigen.

') G. QcixcKE: „Ueber periodische Ausbreitung von Flüssigkeits-Oberflächen und dadurch hervorgerufene Bewegungserscheinungen." In Sitzungsber. d. kgl. preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin Bd. XXXIV, 1888.

572

Sechstes Capitel.

wieder zu regeneriren , ihren Weg von Xeuem

um zu

Erscheinung, die ja durch die verschiedensten Reize in so überaus charakteristischer Weise hervorzurufen ist. Das wäre die Mechanik der Conti'actionsphase. Nach ihrer Rückkehr zum centralen Zellkörper hätten die Biogenmoleküle Gelegenheit, sich mit Hülfe der vom Proto- plasma und Zellkern producirten Stoffe, die zum intakten Leben der Zelle unumgänglich nothwendig sind, dann nach Einfügung des Sauerstoffs beginnen.

Auf Grund dieser Vorstellung werden ferner alle speciellen Er- scheinungen, die sich bei der Bewegung amoeboider Protoplasmamassen zeigen, verständlich. Vor Allem erklären sich daraus auch ohne Weiteres die Nekrobiose-Erscheinungen nackter Protoplasmamassen, wie man sie z. B. bei den abgeschnittenen, kernlosen, hyalinen Pseudo- podien von Difflugien etc. sehr schön verfolgen kann (Fig. 270): das anfängliche Fortbestehen der amoeboiden Bewegung, das allmähliche Aufhören der Pseudopodienbildung und endlich das Absterben im

I i 0 9 8

Fig. 270. Difflugia lobostoma mit zwei aus dem Sandgehäuse tretenden Pseudopodien, von denen das grössere durch einen Schnitt abgetrennt wird. Daneben von links oben bis rechts unten die Veränderuugen, welche die ab- geschnittene Protoplasmamasse im Verlauf einiger Stunden durchmacht. Zuerst normale Bewegung durch Pseudopodienbildung, schliesslich Absterben in der Kugelform.

kugligen Contractionszustande^). Anfangs, gleich nach dem Abschneiden der Masse, stehen noch eine Menge der Kern- und Protoplasmastoffe welche die Biogenmoleküle zu ihrer Regeneration brauchen, im Proto- plasma zur Verfügung. Die Ausstreckung und Einschmelzung der Pseudopodien geht daher Anfangs wie vorher noch ungestört weiter. Allmählich werden diese Stoffe aber verbraucht, die oxydirten Biogen- moleküle zerfallen, die Pseudopodien ziehen sich ein, die Regeneration der Biogene wird unmöglich, und die unfertigen Biogenreste sind nicht fähig, sich zu oxydiren. Es werden daher keine neuen Pseudopodien mehr gebildet, und wenn alle oxydirten Biogenmoleküle zerfallen sind, stirbt die Masse ab, ohne mehr ihre Kugelform zu verändern.

Die oben entwickelte Vorstellung vom Mechanismus der amoeboiden Protoplasmabewegung hat aber zugleich auch den grossen Vortheil, dass sich ihre Principien unter Berücksichtigung der besonderen Ver- hältnisse im einzelnen Falle auf sämmtliche andere Contractions- erscheinungen, auf die Erscheinungen der Protoplasmaströmung in den

^) Vergl. pag. 334.

Vom Mechanismus des Lebens.

573

Pflanzeiizellen ebenso wie auf die der Flimmerbewegung und auch der Muskelbewegung anwenden lassen. Wir wollen hier nur noch den complicirtesten Fall, die Bewegung der quergestreiften Muskeln, herausgreifen. Beim Muskel müssen wir das einzelne Muskelsegment in's Auge fassen, denn der Bewegungsvorgang spielt sich schon an jedem einzelnen Muskelsegment ab. Wie wir bereits früher sahen ^),

II

U"üii4-

B

A

B

Fig^. 271. Muskelsegmente in der Ruhe und in der Contraction. /In der Ruhe, II in der Contraction; A in gewöhnlichem, B in polarisirtera Licht, a Aniso- trope, i isotrope Schichten.

besteht das Muskelsegment aus zwei verschiedenen Substanzen, der in der Mitte gelegenen, festeren anisotropen Substanz und der zu beiden Seiten der letzteren aufgelagerten isotropen Substanz (Fig. 271). Die mikroskopisch sichtbaren Erscheinungen bei der Contraction und Expansion, wie sie Engelmann ^) und Andere bis in die Einzelheiten festgestellt haben, bestehen im Wesentlichen darin, dass bei einer auf Reizung erfolgenden Contraction isotrope Substanz von beiden Seiten in die anisotrope hineinfliesst, so dass die anisotrope an Volumen zunimmt und breiter wird, während die Höhe des ganzen Seg- ments entsprechend abnimmt. Das, was wir als die elementare Grunderscheinung bei der Muskel- contraction beobachten, ist also eine Vermischung zweier Substanzen, die in der Ruhe ungemischt an- einander grenzten, und zwar dringen Stoffe der isotropen Substanz als der beweglicheren in die anisotrope, die fixe Substanz hinein. Dabei ist die Thatsache beachtenswerth , die E. A. Schäfer^) fand, dass nämlich die anisotrope Substanz , die ihren Ort nicht verändert, durch das bereits früher erwähnte Röhrchensystem ^) dem Zufluss der iso- tropen Stoffe eine möglichst grosse Oberfläche dar-

Fig. 272. Muskel- segmente von der "Wespe mit den Röhrchen der an- isotropen Sub- stanz, a Anisotrope Schicht von oben ge- sehen, b von der Seite; c drei Muskelsegmente. Nach ScHÄFKR.

M Vergl. pag. 248.

2) Vergl. pag. 249.

^) E. A. ScHÄFEK : „On the minute structure of the muscle-columns or sarcostyles which form the wing-muscles of insects. Preliminary note. In Proceedings of the Royal Society Vol. XLIX, 1891. Derselbe: „On the structure of cross-striated muscle." In Monthly International Journal of Anatomy and Physiology Vol. VIII, 1891. Derselbe: „On the structure of amoeboid protoplasm, with a comparison between the nature of the contractile process in amoeboid cells and in muscular tissue, and a Suggestion regarding the mechanism of ciliary Motion." In Proceedings of the Royal Society Vol. XLIX, 1891.

*) Vergl. pag. 250.

574 Sechstes Capitel.

bietet, so dass die Durchmischimg sehr schnell geschehen kann. Denken wir uns nun, dass beim explosiven Zerfall der Biogene, sei es in der iso- tropen Substanz, sei es in der anisotropen, die von Engelmann für das speciell contractile Element gehalten wird, sich die chemische Constitution der zerfallenen Biogenmoleküle derart änderte, dass eine molekulare Attraction zwischen ihnen und gewissen Stoffen der andern Substanz entstände, so müsste sich die Oberflächenspannung zwischen beiden Schichten vermindern resp. gleich 0 werden, d. h. es müsste eine Ver- mischung, eine Durchdringung beider Substanzen eintreten. Dabei müsste die isotrope als die beweglichere in die anisotrope als die am Orte lixirte Substanz hineindiffundiren , d. h. das Muskelsegment müsste an Höhe ab- und an Breite zunehmen. Wir hätten dann hier im Princip denselben Vorgang wie bei der Quellung, nur dass es sich nicht, wie Engelmann annimmt, um eine blosse Wasseraufnahme handelte, sondern um eine chemische Quellung, bei der mit dem Wasser gleichzeitig ein Uebei'tritt anderer chemischer Stoffe statt- findet, vor Allem jedenfalls solcher, die bei der Regeneration der zer- fallenen Biogenmoleküle in Frage kommen. In dem Maasse aber, wie die Biogenmoleküle sich wieder regenerirten und schliesslich durch Einfügung von Sauerstoff wieder den Höhepunkt ihrer labilen Con- stitution erreichten, wäre wiederum die Ursache für eine Veränderung der Molekularbeziehungen gegeben, und so könnten wir uns vorstellen, dass jetzt umgekehrt wie vorher eine Entmischung, eine Trennung der beiden Substanzen stattfände, die dem Muskelsegment wieder seine frühere Gestalt gäbe. Mögen sich nun auch die Vorgänge, die sich ja zur Zeit noch vollständig unserer Kenntniss entziehen, in Wirklichkeit noch bedeutend anders abspielen, jedenfalls scheint das Princip der Beeinflussung der Molekularattraction durch die Ver- änderungen der chemischen Constitution der Moleküle, dasselbe Princip, das die amoeboide Bewegung verständlich macht, auch im Stande zu sein, künftig die noch so dunkle Erscheinung der Muskelbewegung in ihren wesentlichen Punkten aufzuhellen. Dann aber wären es directe Energiewechselbeziehungen zwischen chemischer und mechanischer Energie, welche ohneVermittelung einer andern Energieform, wie etwa der Wärme oder der Elektricität, die Contractionsbewegungen in ihren wesentlichsten Punkten beherrschen.

Hier mündet aber unsere Betrachtung des Mechanismus der Contractionsbewegungen von selbst wieder in unsere Vorstellung von dem Energiewechsel bei der Muskelthätigkeit ein, und wir sind Avieder zu derselben Auffassung gelangt, die wir auf einem ganz andern Wege bereits gewonnen hatten, dass nämlich die Thätigkeit des Muskels auf dem Wechsel von Zerfall und Rege- neration der lebendigen Protoplasmat heilchen beruht.

Wir stehen jetzt am Ende unserer Untersuchungen über die Mechanik des Zelllebens. Ausgehend von der Vorstellung, dass im Stoffwechsel der eigentliche Lebensvorgang liegt, dessen Ausdruck die mannigfachen Lebenserscheinungen sind, mussten wir die elementaren Lebenserscheinungen der Zelle auf die Kette der Stoffwechselvorgänge, durch welche die einzelnen Theile der Zelle untereinander und mit

Vom Mechanismus des Lebens. 575

der Aussenwclt verbunden sind, zurückzufUliren suchen, und gerade unsere letzten Erörterungen über die Bewegungserscheinungen in der Zelle liefern uns das beste Beispiel dafür, wie die p]rscheinungen des Form wechseis und Energie wechseis untrennbar mit den Vorgängen des Stoffwechsels verknüpft sind, wie alle drei in Wirklichkeit ein einziges Ganzes bilden, das nur der Betrachtung verschiedene Seiten bietet. Soweit es unsere wissenschaftlichen Erfahrungen bisher er- möglichen, haben wir unsere Aufgabe zu lösen gesucht. Freilich hat dabei manche Vermuthung, manche Hypothese die weiten Zwischen- räume zwischen den bisherigen Kenntnissen ausfüllen müssen, und manche empfindliche Lücke bleibt trotzdem noch offen. Aber die Cellularphysiologie ist eben erst im Entstehen begriffen, und die eiserne Nothwendigkeit ihrer Entwicklung, verbunden mit ihrer grossen Leistungsfähigkeit, ermuthigen zu den höchsten Erwartungen von ihrer Seite.

III. Die Verfassungsverhältnisse des Zellenstaates.

Hat bis jetzt bei allen unseren Untersuchungen und Experimenten, Erörterungen und Theorieen immer die einzelne Zelle als selb- ständiger Elementarorganismus im Vordergrunde des Interesses ge- standen, so bleibt uns nunmehr am Ende des langen Weges, den wir im Verfolg des physiologischen Problems zurückgelegt haben, noch übrig, auf den Mechanismus einzugehen, der aus dem Zusammenleben der Zellen im Zellenstaate resultirt. Das Leben des vielzelligen Orga- nismus ist nicht bloss eine einfache Summationserscheinung aus dem Leben der einzelnen Zellen, die seinen Zellenstaat zusammensetzen ; es sind vielmehr durch das Zusammenleben der einzelnen Zellen noch mancherlei besondere Verhältnisse bedingt, die in den Lebens- erscheinungen des vielzelligen Organismus ebenfalls zum Ausdruck kommen.

A. Selbständigkeit und Abhängigi(eit der Zeilen.

Wir haben an einer andern Stelle gesehen, dass die Grösse der einzelnen Zelle nur eine sehr beschränkte ist und sein kann ^). Aus dieser Thatsache ergiebt sich eine wichtige Consequenz. Ein grösserer Organismus kann niemals von einer einzigen Zelle gebildet werden, die Entstehung eines grösseren Organismus ist vielmehr nur möglich durch Aufbau aus vielen einzelnen Zellen. In der That wissen wir ja, dass alle grösseren Organismen Zellen Staaten sind. Aber durch die Vereinigung mit anderen ihres Gleichen sind Verhältnisse gegeben, die das Leben der einzelnen Zelle bedeutend beeinflussen, so dass sich die Lebenserscheinungen der Zelle anders gestalten, als wenn sie frei lebte. Wie jede Staatenbildung erfordert auch die Bil- dung des Zellenstaates einen Compromiss zwischen den einzelnen Indi- viduen. Ohne einen solchen Compromiss ist keine Staatenbildung denkbar. Der Compromiss besteht darin, dass jede Zelle ein Stück ihrer Selbständigkeit aufgiebt für den Nutzen, den sie aus dem Zu-

') Vergl. pag. 82 und 536.

576

Sechstes Capitel.

sammenleben mit anderen Zellen zieht. Die specielle Form dieses Compromisses zwischen den einzelnen Contrahenten ist aber im ge- gebenen Fall ungeheuer verschieden. Wir finden in den Zellenstaaten der Organismenreihe noch viel mannigfachere Verfassungsformen ver- wirklicht, als wir sie in der menschlichen Gesellschaft entwickelt sehen, und es w^ürde eine überaus lohnende Aufgabe sein, die moderne Sociologie einmal unter Berücksichtigung der thatsächlichen Ver-

A B

Fig. 273. J Carchesium polypiuiim, ein Ciliatenstock. ^ Die einzelnen Individuen

auf ihren Stielen sind ausgestreckt. £ Die einzelnen Individuen sind in Folge einer

Erschütterung zusammengezuckt. IIA Eudorina elegans, eine Flagellaten-Colonie,

B Magosphaera planula, eine Ciliaten-Colonie. Nach Haeckel.

fassungsformen verschiedener Zellenstaaten zu behandeln. Es würden zAveifellos manche sociale Reformvorschläge ganz anders ausfallen, als wir sie jetzt bisweilen vernehmen.

Selbstverständlich kann ein Zellenstaat nur leben, wenn seine ein- zelnen Constituenten ein eigenes Leben führen, denn das Leben des Zellenstaates ist nur der Ausdruck des Lebens der einzelnen Zellen. Ausser den Zellen ist nichts Lebendiges im Zellenstaat. Die selb- ständige Lebensthätigkeit der einzelnen Zelle ist also unumgängliche

Vom Mechanismus des Lebens. 577

Vorbedingung;; für das Leben des zusammengesetzten Organismus. Wie viel aber die einzelne Zelle von ihrer Selbständigkeit aufgiebt, dadurch, dass sie sich mit anderen vereint, das unterliegt einer un- geheuren ^Mannigfaltigkeit. Etwas niuss sie immer aufgeben, das ist ohne Weiteres klar, wenn wir daran denken, dass durch das Zusammen- leben verschiedener Zellen die cäusseren Lebensbedingungen für die einzelne Zelle in hohem Grade verändert werden. Ja, Zellen, die das freie Einzelleben dauernd mit dem Leben im Zellenstaate vertauscht haben, wie die Gewebezellen der höheren Pflanzen und Thiere, gehen sogar meistens in kurzer Zeit zu Grunde, wenn sie aus dem Verband mit ihren Genossinnen getrennt werden. Die übrigen Zellen des Zellen- staates sind geradezu eine äussere Lebensbedingung für die Gewebe- zelle geworden.

Dieses Abhängigkeitsverhältniss, in dem die Zellen des Zellen- staates zu einander stehen, ist um so geringer und die Selbständig- keit der einzelnen Zelle um so grösser, je tiefer wir in der Orga- nismenreihe hinabsteigen , je mehr noch die einzelnen Zellen des Zellenstaates einander gleichen.

Die einfachsten Verhältnisse haben wir im Reiche der Protisten. Hier finden wir noch Zellenstaaten mit dem Urtypus einer echt repu- blikanischen Verfassung, Zellenstaaten, in denen jede Zelle der anderen thatsächlich noch gleich ist und die Fähigkeit besitzt, auch un- abhängig von den anderen allein für sich zu existiren. EinCarche- si um stöckchen (Fig. 273 2), eine Eudorinacolonie, eine Mago- sphaerakugel (Fig. 273 ii) sind solche wahren Zellen-Republiken. Bisweilen trennen sich die Mitglieder dieser Staaten von einander und führen ein unabhängiges Leben weiter. Aber solange sie im Staate miteinander vereint sind, besteht selbst in diesen echt repu- blikanischen Zellenstaaten trotz der hohen Selbständigkeit der einzelnen Zellen ein gewisses Abhängigkeitsverhältniss. Das einzelne Carche- sium wird durch seine Nachbarn beeinflusst. Zuckt einer seiner Nachbarn plötzlich zusammen, so wird es durch die Erschütterung ebenfalls zu einer Zuckung veranlasst. Die einzelne Eudorina- oder Magosphaerazelle ist ebenfalls in ihrer Bewegung abhängig von den anderen. Der Schlag ihrer Wimpern treibt sie nicht hin, wo sie bei freier Beweglichkeit hinschwimmen würde, sondern er ist nur eine der vielen Componenten, aus denen die Bewegung der ganzen kugeligen Colonie resultirt.

Viel grösser als in diesen wahren Zellenrepubliken des Protisten- reiches ist aber die Abhängigkeit der Zellen schon in den Zellen- staaten der Pflanzen und der niedrigsten, in socialer Beziehung mit ihnen auf gleicher Stufe stehenden Coelenteraten. Man hat auch die Verfassung der Pflanzen noch als eine republikanische bezeichnet im Gegensatz zu der mehr monarchischen Verfassung der Thiere. Das ist richtig; allein die Verfassung des Zellenstaates der Pflanzen, Schwämme, Hydroidpolypen ist nicht mehr die primitive Form der Republik, wie wir sie bei den Protistencolonieen sahen. Wir finden hier schon nicht mehr die Fähigkeit der einzelnen Zelle, aus der Ge- meinschaft der anderen getrennt selbständig für sich existiren zu können. Die Abhängigkeit von den anderen Zellen ist schon zu gross. Dagegen können kleinere Gruppen von Zellen sich noch selbst er- halten und gesondert <N'eiter leben. Man kann z. B. die Blätter

Verworii. AUgenieine Physiologie, i. Aufl. o7

578

Sechstes Capitel.

mancher Pflanzen, wie Vöchting ^) gezeigt hat, in winzig kleine Stücke zerhacken und aus dem Brei wieder ganze Pflanzen züchten, und ebenso lebt jedes Stück einer zerschnittenen Hydra, wie wir sahen, selbständig weiter (Fig. 2 pag. 60).

Noch enger wie bei den Pflanzen und niedrigsten Coelenteraten ist die Abhängigkeit der einzelnen Zellen von einander in manchen Geweben der höheren Thiere. Hier herrscht bereits eine ausgesprochene Despotie. Ein interessantes Beispiel liefert die Verfassung der Flimraer- epithelien. Bekanntlich besteht ein Flimmerepithel aus vielen neben- einander liegenden Reihen hintereinander angeordneter Flimmerzellen, deren jede eine Anzahl Flimmerhaare besitzt (Fig. 2747). Die Flimmer- haare dieser Zellen sind in einem schnellen, rhythmischen Schwingen begriffnen. Dabei fällt aber in die Augen, dass die Flimmerbewegung

WiWm" i'HM fmmtr" "-

I II

Fig. 274. Flimmer epithel. / Drei aneinander hängende Flimmerzellen aus dem Nebenhoden. Nach Sciiiefferdecker. II Beroe ovata mit den vier Flimmerplättchenreihen der einen Seite. /// Flimmerreihe einer Beroe von der Seite. Das Plättchen bei * ist mit einer feinen Lanzette durch Zurück- biegen fixirt, so dass es nicht schlagen kann. In Folge dessen laufen die Wimperwellen von oben her nur bis zu diesem Plättchen, während die davon abwärts gelegenen Plättchen stillstehen.

III

der einzelnen Zellen einer Reihe nicht regellos und unabhängig von einander geschieht, sondern dass eine Metachronie des Wimperschlages besteht^) in der Weise, dass die Flimmerhaare sämmtlicher Zellen, von der obersten Zelle der Reihe angefangen, in regelmässiger Reihen- folge hintereinander schlagen. Viel besser als am mikroskopischen Flimmerepithel der Wirbelthiere kann man übrigens diese Erscheinung an den Flimmerplättchenreihen der Ktenophorenrippen beobachten (Fig. 274 II). Hier, wo die Flimmerplättchen mit blossem Auge sehr deutlich zu sehen sind, und wo die Bewegung oft sehr langsam geht, bemerkt man ohne Weiteres, dass jedes Plättchen nur schlägt, wenn das vorhergehende geschlagen hat, und dann wieder in Ruhe bleibt, bis vom ersten Plättchen her eine neue Schlagwelle kommt. Schneidet

^) H. Vöchting: „lieber die Regeneration der Marchantien." Jahrb. f. wissensch. Bot. Bd. XVI, 18i<ö. 2) Vergl. pag. 252.

In Pringsheim's

Vom Mechanismus des Lebens. 579

man aus einer Beroe eine solche Rippe mit dem darunter liegenden Gewebe heraus, so hat man eine Flimmerreihe in übersichtlichster Form. Beim obersten Plättchen beginnt die Bewegung und pflanzt sich fort auf alle folgenden. Ist das oberste Plättchen in Ruhe, so sind es auch alle folgenden, nie schlägt ein Plättchen in der Mitte der Reihe, während die vorhergehenden in Ruhe sind. Hält man ein Plättchen mitten in der Reihe fest, so laufen die Flimmerwellen von oben her nur bis zu diesem Plättchen, hier bleiben sie stehen und alle Plättchen abwärts in der Reihe stehen still (Fig. 274 III). So steht also jedes Plättchen in engstem Abhängigkeitsvcrhältniss von dem nächstoberen und kann sich niemals selbständig bewegen. Alle Plättchen aber werden auf diese Weise von dem ersten Plättchen der Reihe in ihrer Bewegung bestimmt (Fig. 275 Ä). Trotzdem besitzt jedes Plättchen in potentia noch eine gewisse Selbständigkeit. Schneidet man z. B. die Reihe durch, so übernimmt das Plättchen, das jetzt als erstes in der Reihe steht, die Führung und beherrscht durch seinen Schlag und seine Ruhe die sämmtHchen abwärts in der Reihe stehenden Plättchen, so dass die beiden getrennten Hälften der Reihe nun in

Fig. 275. A lutacte Wimperreihe mit ungestörter Metachronie des Schlages. Die

oberste (linke) Wimper giebt den Rhythmus an, und die übrigen folgen in demselben

Rhythmus nach. B Wimperreihe, die in der Mitte durch einen Einschnitt in zwei

Hälften getrennt ist. Jede Hälfte schlägt in eigenem Rhythmus.

gesondertem Rhythmus schlagen (Fig. 275 B). Ja, jedes einzelne aus der Reihe herausgenommene Plättchen, vorausgesetzt, dass noch die zu ihm gehörigen Zellkörper daran haften, schlägt selbständig in rhythmischer Weise für sich. Wir haben hier einen interessanten Fall vollständiger Subordination. Jede Flimmerzelle eines Epithels besitzt isolirt, solange sie am Leben bleibt, vollkommene Autonomie ihrer Bewegung, im Verbände mit ihres Gleichen dagegen hat sie die Selbständigkeit ihrer Bewegung vollkommen aufgegeben. Dieses Ver- hältniss ist nöthig, damit ein metachroner Flimmerschlag, der in moto- rischer Beziehung wesentliche Vortheile bietet, zu Stande kommt. Daher finden wir auch dasselbe Verhältniss nicht bloss zwischen den einzelnen Flimmer z eilen eines Epithels, sondern auch schon zwischen den einzelnen Flimmer haaren einer Zelle. In einer langen Reihe von Flimmerhaaren, -wie sie z. B. bei Wimperinfusorienzellen besonders deutlich zu sehen sind, besteht dieselbe Metachronie des Schlages. Kein Flimmerhaar schlägt, ehe das vorhergehende geschlagen hat. Steht das oberste ruhig, so steht die ganze Reihe still. Und dennoch zeigt auch hier jedes einzelne Haar, aus dem Connex mit den anderen getrennt, vollkommene Selbständigkeit der Bewegung. Schneidet man

37*

580 Sechstes Capitel.

z. B. bei S p i r 0 s 1 0 m u m die lange Peristomwimperreihe an einer Stelle ein, so können beide Hälften unabhängig von einander schlagen ^). Ja, trennt man ein einzelnes Wimperhaar mit einem Tröpfchen daran hängenden Protoplasmas vom Zellkörper ab, so schlägt es rhythmisch selbständig weiter, bis es zu Grunde geht. Wir müssen also annehmen, dass die vollständige Abhängigkeit, in der das einzelne Flimmerhaar ebenso wie die einzelne Flimmerzelle von den nächstoberen steht, bedingt ist durch irgend einen Mechanismus des basalen Protoplasmas, der jede selbständige Bewegung verhindert und nur Impulse von oben her übermittelt^). Das ist aber nur möglich, wenn beim Flimmer- epithel eine ununterbrochene Continuität des basalen Protoplasmas durch die ganze Zellenreihe hin besteht. In der That wissen wir auch, dass protoplasmatische Verbindungen zwischen den einzelnen Zellen im Zellenstaat der Pflanzen wie der Thiere weit verbreitet sind.

Die weitgehendste Despotie aber haben wir schliesslich beim höheren Thier in der Herrschaft der Nervenzellen über die Zellen der verschiedenartigsten Gewebe. Je höher wir in der Thierreihe hinauf- steigen, um so mehr sehen wir die Tendenz der Nervenzellen, ihre Herrschaft auf alle Gewebe des Körpers auszudehnen. Dabei geht der Verlust der Selbständigkeit bei vielen Gewebezellen so weit, dass ihre Lebensthätigkeit, solange sie nicht durch Impulse von den Nervenzellen her erregt wird, auf ein Minimum herabsinkt. Die Spontaneität geht scheinbar ganz verloren. Ein Muskel führt bei den Wirbelthieren nie mehr spontan eine Zuckung aus, nur allein die Ganglienzellen des Centralnervensystems können ihn durch ihre Im- pulse zu einer Contraction veranlassen. Freilich dürfen wir uns durch das Fehlen der spontanen Zuckungen beim Muskel nicht verführen lassen, zu glauben, dass die Stoffwechselvorgänge, welche die Muskel- thätigkeit charakterisiren, während der Ruhe vollständig stillstehen. Das ist nur scheinbar der Fall. Wie uns der Vergleich des zum Muskel strömenden arteriellen Blutes mit dem aus dem Muskel kommenden venösen Blute lehrt, verlaufen auch während der Ruhe im Muskel dieselben Stoffwechselprocesse wie in der Thätigkeit, aber in so geringem Umfange und so gleichmässig, dass es nicht zu einer Zuckung kommt. Erfahren sie aber durch Nerveneinfluss eine plötz- liche Steigerung, so tritt die Zuckung ein. Ganz analog dem Ab- hängigkeitsverhältniss der Muskelzellen ist das Verhältniss vieler anderer Gewebezellen, z. B. der Drüsenzellen zum Centralnerven- system, und sogar das Verhältniss der Ganglienzellen untereinander ist zum Theil von derselben Art.

Das allgemeine Princip, das der Bildung des Zellenstaates und damit der Entstehung eines mehr oder weniger engen Abhängigkeits- verhältnisses der einzelnen Zellen von einander zu Grunde liegt, ist dasselbe Princip, das überhaupt alle Entwicklung beherrscht. Es ist das Princip der Utilität. Das Zusammenbleiben der Zellen nach der Theilung und damit zunächst die Entstehung eines aus mehreren gleichartigen Zellen bestehenden Staates, wie wir sie bereits im Pro- tistenreich finden, hat schon den Vortheil des grösseren Schutzes für die einzelne Zelle. Durch das blosse Zusammenbleiben der Zellen ist aber, wie wir sahen, schon ein gewisses Abhängigkeitsverhältniss

^) Verworn: „Psycho-physiologische Protistenstudien." Jena 1889, ^) Verworn : „Studien zur Physiologie der Flimmerbeweguno-." In Pflüger' s Arch. Bd. XLVIII, 1890.

Vüui Muchaiiisiiiu.s des Lebens. 581

der einzelnen Zellen von einander bedingt. Dass dieses Abliängigkeits- verhältniss, je weiter wir in der Entwicklungsreihe der Organismen aufwärts steigen, um so enger und fester wird, beruht wiederum nur auf der Wirkung des Utilitätsprincips: denn je grosser die Ein- heitlichkeit in der Verwaltung des ganzi-n Zellenstaates, um so sicherer und grösser ist nicht nur die Leistung des Ganzen, um so grösser ist auch der Nutzen, den die einzelne Zelle von dem Zusammenleben hat. Die Einheitlichkeit der Verwaltung des Zellenstaates wird aber durch das Abhängigkeitsverhältniss der einzelnen Zelle von den übrigen Zellen wesentlich bestimmt. Wie schliesslich derartige zweckmässige Einrichtungen sich auf natürliche Weise entwickeln müssen, dafür hat uns die Selectionstheorie Darwin's, die eine allgemeine Erklärung aller Zweckmässigkeit in der organischen Welt enthält, das Verständ- niss erobert. Freilich sind die unmittelbaren mechanischen Ursachen in jedem einzelnen Falle erst zu untersuchen.

B. Differenzirung und Arbeitstheilung der Zellen.

In der Entwicklung eines Abhängigkeitsverhältnisses der Zellen von einander bei der Entstehung des Zellenstaates haben wir nur Eine Folge des Zusammenlebens der Zellen kennen gelernt. In der That ist das auch die einzige Folge, solange der Zellenstaat gewisse Dimensionen nicht überschreitet. Wird der Zellenstaat nach allen Dimensionen grösser, entwickelt er sich zu einer compacten Masse, so macht sich aber eine andere nothwendige mechanische Folge des Zusammenlebens bemerkbar, das ist die Differenzirung und Arbeits- theilung der Zellen.

Die Differenzirung der Zellen besteht bekanntlich darin, dass die Zellen verschiedenartige Charaktere annehmen, so dass ein Zellenstaat entsteht, der nicht mehr aus gleichartigen Zellen zusammengesetzt ist, sondern aus Zellen und Zellgruppen verschiedener Art. Damit sind nicht nur morphologische, sondern auch physiologische Unterschiede zwischen den einzelnen Zellen des Staates gegeben, d. h. die Leistungen der einzelnen Zellen oder Zellgruppen werden verschieden , und es findet eine Arbeitstheilung der einzelnen Zellen oder Zellgruppen statt. Differenzirung und Arbeitstheilung sind von einander untrennbar.

Die mechanischen Ursachen der Zellendifferenzirung im Zellen- staat liegen ziemlich klar zu Tage. Wir wissen, dass die sämmtlichen Eigenschaften eines Organismus, morphologische wie physiologische, der Ausdruck von der Wechselwirkung zweier Factoren sind, nämlich der Beziehungen zwischen seinen inneren und äusseren Lebens- bedingungen ^). Verändert sich einer dieser beiden Factoren, so ist damit auch eine Veränderung der Eigenschaften des Organismus ver- knüpft. Stellen wir uns daher eine Zelle vor, die sich durch fort- gesetzte Theilung in lauter gleiche Nachkommen theilt, und nehmen wir an, dass alle diese Nachkommen zusammenbleiben und einen Zellenstaat begründen, so werden sämmtliche Constituenten dieses Zellenstaates, die aus den fortgesetzten Theilungen hervorgehen, einander immer gleich bleiben, solange die äusseren Bedingungen, unter denen jede Zelle steht, dieselben sind, wie für jede andere. Solche Zellenstaaten haben wir im Protistenreich bereits kennen

') Vergl. pag. 301.

5S2

Sechstes Capitel.

gelernt. Aber ein solcher Staat ist nur möglich, wenn die Zellen alle linien- oder tlächenartig nebeneinander geordnet sind. Das ist in der That hier der Fall. Die gi'össten, aus gleichartigen Zellen zusammen- gesetzten Zelleustaaten. die wir unter den Protisten kennen, die bereits zu den Pflanzen hinüber führen, die Algen, sind entweder Fäden, wie die Conferven (Fig. 276), oder blattartige Gebilde, wie die mächtigen Ulvaceen, in denen in einer Fläche Zelle an Zelle gereiht ist, so dass der Theil ihrer Oberfläche, welcher frei bleibt, und der Theil, welcher von den Nachbarn begrenzt wird, in jeder Zelle derselbe ist. So steht jede Zelle unter den gleichen äusseren Lebensbedingungen. Denken wir uns aber, dass die aus der Theilung einer Zelle hervorgehenden Zellen nicht sämmtlich unter den gleichen äusseren Bedingungen bleiben, so müssen sich mit der Zeit Verschiedenheiten herausbilden, falls nicht die Zellen zu Grunde gehen. Dieser Fall ist realisirt bei der Bildung eines jeden Zellenstaates, dessen Zellenarten nicht flächen-

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Fig. 276. Spirogyra, eine vielzellige Alge des Süsswassers. A Stück eines

vielzelligen Fadens. £ Einzelne Zelle. Der Chlorophyllkörper zieht sich in jeder

Zelle spiralig längs der inneren Zellwand hin.

Fig. 277. Protospongia Haeckelii. Nach Lang.

haft angeordnet sind, sondern sich als grössere solide Complexe nach allen Seiten des Raumes vertheilen. Hier stehen die Zellen, welche im Innern des massigen Zellenstaates liegen, unter völlig anderen äusseren Lebensbedingungen, als die Zellen an der Obei-fläche. In Folge dessen müssen sie auch morphologisch und physiologisch in einen Gegensatz zu den letzteren treten, so dass eine DifFerenzirung und Arbeitstheilung erfolgt. Die einfachsten Beispiele dafür haben wir ebenfalls schon in gewissen Formen der Protisten, die so ein äusserst interessantes Uebergangsglied zu den Zellenstaaten der Pflanzen oder der Thiere bilden. Eine derartige Organismenform ist z. B. die Protospongia Haeckelii (Fig. 277), eine Colonie von Geissei- infusorien, die im histologischen Bau eine gewisse Aehnlichkeit mit den niedrigsten Spongien hat. An der Oberfläche einer gallertigen Masse sitzen zahlreiche Kragengeisseizellen, im Innern der Gallert- masse dagegen befinden sich viele amoeboide Zellen ohne Geissei. Hier haben wir also eine Diff'erenzirung der im Innern und der an der Oberfläche lebenden Zellen, die bereits ausserordentlich augenfällig

Vom Meclianisimis des Lebens. 583

ist und deren Ursache ohne Weiteres auf der Hand liegt. Ik'sonders interessant ist aber an dieser Organisnienform, <hiss die Differenzirung nur so lange exi-stirt, als die Ursachen bestehen. Die anioeboiden Zellen des Innern haben nämlich die F.ähigkeit, an die Oberfläche zu wandern, und in diesem Falle entwickeln sie sich ebenfalls zu Kragen- geissclzellen. Bei diesen niedrigsten Formen des differeiizirten Zellen- staates besitzen also die einzelnen Zellen noch die Fähigkeit der Um- wandlung in andere f^ormen im höchsten Maasse.

Was wir im Protistenreiche nur in den ersten Andeutungen finden, die Differenzirung der Zellen durch Anpassung an die durch verschie- denartige Lagerung gegebenen äusseren Bedingungen, das ist für den Aufbau des pflanzlichen und thierischen Zellenstaates das fundamentale Princip, das in weitestgehendem Maasse und bis in die feinsten Einzel- heiten hinein verwirklicht ist, und das schliesslich zum Aufbau eines so complicirten Organismus führt, wie ihn der Zellenstaat des mensch- lichen Körpers bildet. Die ganze Entwicklung des complicirtesten Thier- körpers mit allen seinen Difterenzirungen beruht allein auf dem Princip, dass die aus fortgesetzter Theilung der Eizelle hervorgehenden Zellen und Zellenhaufen, je weiter die Zellvermehrung fortschreitet aus dem einfachen mechanischen Grund ihrer verschiedenartigen relativen Lage, um so verschiedenartigere Wechselbeziehungen mit einander eingehen und um so verschiedenartigere äussere Lebensbedingungen ertragen müssen, so dass sie durch Anpassung an die sich immer mehr ver- ändernden äusseren Verhältnisse schliesslich in allen ihren Eigen- schaften immer mehr divergiren und sich differenziren. Die Mechanik der ontogenetischen Entwicklung durchläuft hier, wie wir aus dem biogenetischen Grundgesetz wissen, soweit nicht speciellere Anpassungen ins Spiel kommen, im Wesentlichen dieselben Wege, welche die Ent- wicklung der Organismen in der phylogenetischen Formenreihe durch- laufen hat. Die mechanischen Ursachen für die Differenzirung der Zellen bei der Bildung des Zellenstaates sind offenbar in ihren wesent- lichsten Punkten die gleichen bei der Ontogenie wie bei der Phylo- genie eines jeden Organismus. Freilich bleibt es noch der embryo- logischen Forschung der Zukunft vorbehalten, die überaus mannig- faltigen speciellen Verhältnisse, die ebenso verschieden sind, wie die Organismenformen selbst, im Einzelnen aufzudecken.

Wenn wir die mechanischen Ursachen der Zellendifferenzirung im complicirten Zellenstaat in der Veränderung ihrer Wechselbeziehungen mit der Umgebung suchen müssen , die für jede Zelle und Zellen- generation durch die fortgesetzte Zelltheilung bedingt ist, so ist damit auch der Grund für eine Arbeitstheilung der Zellen bei der Entwick- lung des Zellenstaates von selbst gegeben ^). Die Leistung eines jeden vielzelligen Organismus ist Ausdruck der Thätigkeit seiner einzelnen Zellen. Sind die Zellen verschieden , so tragen sie auch in verschie- dener Weise zur Gesammtleistung des ganzen Organismus bei. Dass dieses Zusammenarbeiten ein einheitliches und zweckmässiges werden muss, das ergiebt sich aus dem Princip der Selection, das alle orga- nische Entwicklung, die phylogenetische in gleicher Weise wie die ontogenetische , beherrscht. Nur solche Zellenstaaten . in denen die aus der fortgesetzten Theilung der Eizelle hervorgehenden Zellen- generationen den speciellen Verhältnissen, unter die sie treten, in zweck- mässiger Weise entsprechen, bleiben am Leben. Alle, bei denen das

^) Vergl. pag. .54.S.

584 Sechstes Capitel.

nicht der Fall wäre, müssten im Kampf ums Dasein durch Selection zu Grunde gehen. Die vollkommenste Zweckmässigkeit ist aber da, wo die Einzelleistungen der verschiedenen Zellen so ineinandergreifen, dass, obwohl jede Zelle oder Zellgruppe eine andere Leistung zu ihrer Specialität entwickelt hat, dennoch diese Leistung allen übrigen Zellen zu Gute kommt, ja, für alle übrigen nothwendig ist. So wird die ausserordentlich weitgehende Differenzirung und erstaunlich feine Ar- beitstheilung der einzelnen Zellen und Gewebe im Zellenstaat nach be- kannten Principien verständlich.

In Folge der weitgehenden Arbeitstheilung übernimmt jede Zellen- art, jedes Gewebe, jedes Organ im vielzelligen Staate eine ganz specielle Aufgabe, und diese Aufgabe bezeichnet die Physiologie seit alter Zeit als die „physiologische Function" des betreffenden Zellen- complexes. Alle elementaren Lebenserscheinungen, die sich bei den niedrigsten Organismen in der einzelnen Zelle abspielen, werden im vielzelligen Organismus als specielle Functionen in besonderem Grade von bestimmten Zellgruppen entwickelt und in weitestgehender Weise besonderen Zwecken angepasst. So entwickelt sich die Bewegung durch einseitige Ausbildung der Contractilität bei den höheren Thieren zur besonderen Function der Muskelzellen. So bildet sich die Reiz- perceptionsfähigkeit in besonders hohem Grade als Function der Sinnesorgane aus. So steigert sich die Reizleitungsfähigkeit in erstaun- licher Weise zu der Function der Nerven. So erfährt die Erscheinung der Secretion in der Function der Drüsenzellen ihre höchste Ausbildung etc. Trotzdem behält jede Zellenart alle elementaren Lebenserscheinungen bei, nur wird die eine Lebenserscheinung in besonders hohem Grade als Specialität entwickelt. Je mehr aber die Specialitäten der einzelnen Zellen und Zellgruppen allen Zellen zu Gute kommen und die Lebens- processe derselben unterstützen, um so mehr entwickelt sich ein Zellen- staat, der, wie vor Allem der Körper der höheren und höchsten Thiere einen Mechanismus vorstellt, welcher trotz seines ausserordentlich grossen Umfanges und seiner ungeheueren Complication doch in allen seinen Theilen ein einheitliches Zusammenwirken zeigt.

C. Centraiisation der Verwaltung.

Verfolgen wir den letzten Punkt, die Entwicklung einer Einheit- lichkeit im Zusammenwirken der Zellen und Gewebe des Zellenstaates, noch etwas genauer, so finden wir, dass in dieser Beziehung ausser dem Princip der Abhängigkeit und der Differenzirung der Zellen noch ein drittes Princip in Betracht kommt: das ist das Princip der Cen- traiisation der Verwaltung. Aber dieses Princip ist mit den beiden andern aufs Engste verbunden, es ist, unter dem Gesichtspunkte der natürlichen Selection betrachtet, gewissermaassen eine nothwendige Folge der beiden ersteren Momente, die sich um so mehr geltend macht, je mehr diese sich entwickeln.

Je weiter die Differenzirung der Zellen geht, je enger das Ab- hängigkeitsverhältnis der Zellen von einander wird, um so mehr macht sich die Nothwendigkeit geltend, auch entfernter gelegene Zellen, Ge- webe, Organe des Zellenstaates miteinander in Beziehung zu setzen, damit ein einheitliches Zusammenwirken entstehen kann, ein Ver- hältniss, das sich durch Selection in immer tiefer gehender Weise ent- wickeln muss, je complicirter der Aufbau des Zellenstaates wird.

Vom Mechanismus des Lebens.

585

Damit ist aber die Tendenz zur Entwicklung einer Centralisation im Zellenstaate gegeben.

Der erste Schritt in der Richtung zur Centralisation ist eigentlich schon durch die Arbeitstheilung gethan, indem gewisse Zellgruppen oder Organe eine bestimmte Function für den gesammten Zellenstaat übernehmen. 80 wird die betreffende Function für den ganzen Körper an einer Stelle centralisirt, und es entstehen so viel Centren, als sich Organe für bestimmte Functionen differen- ziren. Diesen ersten Schritt im Sinne einer Centralisation der Verwaltung finden wir bereits im Zellenstaate der Pflanze. Hier schon ist die Funktion der Starkesynthese, von der die Ernährung der ganzen Pflanze abhängt, in den grünen Blattzellen cen- tralisirt. Hier sehen wir ferner die Function der Wasseraufnahme, ohne die kein Leben auf die Dauer existiren kann, in den Wurzeln allein localisirt, und so fort. Im thierischen Zellenstaate sind ganz ent- sprechende Localisationen vorhanden. So ist die Ernährung und Athmung der einzel- nen Gewebezellen bei den höheren Thieren centralisirt in der Thätigkeit des Herzens, welches das ernährende und sauerstoffreiche Blut zu allen Zellen der verschiedenen Gewebe und Organe hintreibt.

Im thierischen Zellenstaate ist aber auch der zweite wichtige Schritt zur Cen- tralisation gethan, das ist die Verbindung aller einzelnen Functionscentra oder Organe unter einander durch Entstehung eines Centralnervensystems mit allen seinen Lei- tungsbahnen. Dieses Princip ist es, welches in seiner weiteren und weiteren Ausbildung in der Thierreihe schliesslich zu jener w^eit- gehenden Centralisation führt, wie wir sie im complicirten Zellenstaate der Wirbel- thiere und besonders des Menschen ent- wickelt finden. Im Centralnervensystem haben wir ein Centralorgan, das allein die Function hat, bestimmte Zellen, Gewebe, Organe unter einander so zu verbinden, dass ein zweckmässiges Zusammenwirken derselben möglich wird, und je weiter wir in der Thierreihe aufwärts steigen, um so

mehr finden wir die Tendenz des Centralnervensystems, im Sinne einer einheitlichen Verwaltung seine Herrschaft auf alle Zellen und Zellencomplexe des Thierkörpers zu erstrecken.

Um uns das Princip, das der Mechanik des Centralnervensystems zu Grunde liegt, zu veranschaulichen, ist es am zweckmässigsten, die einfachste Form seiner Function ins Auge zu fassen: den Mechanis- mus des Reflexes.

Das Wesen des Reflexes besteht darin, dass ein Reize percipirendes und ein auf Reize reaffirendes Element durch ein centrales Ver-

Fig. 278. Schema des Blut- kreislaufs beim Menschen. Centralisation der Ernährung aller Zellen im Blutstrom. Die schwarze Hälfte ist das venöse, die helle das arterielle Gefäss- system. Beide sind durch das Capillarnetz der Lungen (oben) und der Gewebe (unten) mit ein- ander verbunden. In den Ca- pillaren umspült der Blutstrom alle Gewebe, deren Zellen aus ihm ihre Xahrung nehmen und an ihn ihre unbrauchbaren Stoffe abgeben. Aus Rakke.

586

Sechstes Capitel.

bindungsstück so untereinander in Beziehung gesetzt werden , dass jeder auf das reizpercipirende Element einwirkende Reiz zum Centrum und von hier als Impuls für eine Reizreaction zum reagirenden Ele- ment geleitet wird. Ein solcher Mechanismus, in dem jeder am sen- siblen Ende eintretende Reiz mit maschinenartiger Sicherheit eine Reaction am anderen Ende hervorruft, ist ein „Reflexbogen". Die primitivste Form eines Reflexbogens haben wir bereits bei einzelligen Organismen, deren Zellkörper einerseits sensible, andererseits moto- rische Elemente besitzt und selbst als centrales Verbindungsstück für beide fungirt. So stellt z. B. ein einzelnes Individuum von Poterio- dendron einen solchen Reflexbogen einfachster Art vor (Fig. 279 7). Der auf einem Myoidfaden am Boden eines zierlichen Hüllkelches befestigte Zellkörper besitzt eine Geissei, die ausserordentlich sensibel ist. Der geringste Reiz, welcher auf die Geissei einwirkt, wird centri- petal zum Zellkörper und von hier aus centrifugal zum Myoidfaden geleitet, so dass der Einwirkung des Reizes auf die Geissei die Con- traction des Myoidfadens blitzschnell auf dem Fusse folgt. Ganz analog verhält sich z. B. Vorticeila, nur dass hier die sensiblen

Fig. 279. Primitiver Re- flexbogen an der einzel- nen Zelle. J Poterioden- dron, eine Flagellatenzelle in einer kelchförmigen Hülle auf einem Jlyo'idfaden befestigt. 77 N e u r o m n s k e 1 z e 1 1 e n von einer Actinie. 77 Nach Hert-

■WIG.

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Elemente in Gestalt der Wimpern des Peristomwimpergürtels in der Mehrzahl vorhanden sind. Dieselben Verhcältnisse haben wir ferner bei den sogenannten Neuromuskelzellen der Coelenteraten (Fig. 279 77). Hier besitzt ebenfalls eine Zelle auf der einen Seite ein sensibles Element und auf der andern eine contractile Faser, die sich con- trahirt, sobald das sensible Endorganoid gereizt wird. Was aber in allen diesen Fällen an einer einzigen Zelle differenzirt ist, das ist im Nervensystem der Thiere auf mehrere Zellen vertheilt. Hier haben wir im einfachsten Falle drei verschiedene Zellen. Eine Zelle, die Sinneszelle, nimmt den Reiz auf; von dieser geht eine centripetal- leitende Nervenbahn nach einer centralen Zelle, der Ganglienzelle, und von hier eine centrifugalleitende Nervenbahn zu einer Zelle, welche die Reaction ausführt, der motorischen Endzelle (Fig. 280 Ä). Allein diese Form des Reflexbogens ist vielleicht nur bei wirbellosen Thieren realisiert. Bei den Wirbelthieren ist, soweit wir die Verhält- nisse bis jetzt kennen, mindestens noch eine vierte Zelle in den Reflex- bogen eingeschaltet, indem nämlich statt Einer centralen Gangiienzelle wenigstens zwei vorhanden sind, von denen die eine den Reiz von der Sinneszelle empfängt und ihn zu der anderen leitet, während die andere ihrerseits den Impuls auf die motorische Endzelle überträgt (Fig. 280 B). Ebenso wie motorisch kann die Endzelle der centrifugalen

Vom Mechani.sinu.s des L Ijius

587

Bahn im gegebenen Falle aber auch secretoriscli oder lichtproducirend oder auch electricitätsentwickelnd sein. 80 wei-den auf refiectori.schem Wege durch die Ganglienzellen des Centralnervensystenis ganz ver- schiedene und weit auseinander liegende Theilc des Zellcnstaates mit einander in Verbindung gesetzt und durch Impulse vom Centralnerven- system her zur Thätigkeit veranlasst.

Die weiteren Äloraente, welche beim Mechanismus des Central- nervensystems in Betracht kommen, sind, wenn wir vom Schema des Reflexbogens ausgehen, sehr einfach. Sie bestehen lediglich darin, dass einerseits zwisclien sensibles und motorisches Endorgan noch mehr als zwei Ganglienzellen verschiedener Function eingefügt sind, und dass andererseits gewisse Ganglienzellen nicht bloss von einer einzigen Seite, von einer einzigen anderen Ganglienzelle her innervirt werden, sondern von mehreren, unter Umständen von zahlreichen anderen Zellen. So treten die Ganglienzellen und weiter die einzelnen Ganglienzellensysteme, welche nichts Anderes als die Centren ganz bestimmter Lebensprocesse und damit die Heerde bestimmter Impulse sind, vermittelst ihrer Nervenfasern in überaus complicirte und ver- wickelte Verbindungen untereinander, so dass ein scheinbar un-

Fig. 280. Keflexbogenschemata. A Einfachstes Schema eines Reflex- bogens. Links unten Sinneszelle, in der Mitte oben centrale Ganglienzelle, rechts unten Muskelzelle. £ Schema eines Reflexbogens der Wirbelthiere. Links unten Sinneszelle, links oben sensorische Ganglienzelle, rechts oben motorische Ganglienzelle, rechts unten

^ Muskelzelle. Nach Gegknbaor.

A B

entwirrbares Netzwerk von Ganglienzellen und verbindenden Nerven- fasern entsteht, das aber in Wirklichkeit nur ein ganz bestimmtes und einheitliches Zusammenwirken der verschiedenen Theile des Or- ganismus herstellt, die es untereinander verbindet. Indem vom Centralnervensystem her, dessen Zellen bei den Wirbelthieren haupt- sächlich das Gehirn und Rückenmark, sowie das sympathische Nerven- system bilden, die verschiedensten Zellen, Gewebe, Organe des Zellen- staates in zweckmässiger Weise innervirt werden, entsteht ein centrales Verwaltungssystem des ganzen Zellenstaates, das vom Gehirn und Rückenmark her durch seine langen Leitungsbahnen selbst die ent- ferntesten Theile des Zellenstaates einer einheitlichen Herrschaft unter- wirft (Fig. 281). Man hat daher das Nervensystem sehr anschaulich mit einem Telegraphennetz verglichen, dessen Drähte die entferntesten Regionen eines Landes mit einer centralen Verwaltungsstelle in Ver- bindung setzen. In der That ist der Vergleich des Centralnerven- systems mit einer grossen Telegraphenstation und der Nervenfasern mit den Telegraphendrähten in Bezug auf das beiden zu Grunde liegende Princip der Centralisation ein sehr glücklicher. Allein man darf denn doch solche Vergleiche nicht zu weit treiben und schliess- lich in den Nerven wn'rklich nur noch Leitungsdrähte für Elektricität erblicken, wie das mitunter in der Physiologie geschehen ist. Die Nerven sind in Wirklichkeit Ausläufer der Gantrlienzellen und be-

588

Sechstes Capitel.

Ganglien- ^C^-

zelle -r

Fig. 281. Nervensystem des Men- schen. Vom Gehirn und Rückenmark aus verlaufen die Nervenstränge, welche centri- petale und centrifugale Leitungsbahnen enthalten, nach allen Körpertheilen und verbinden sie so durch das Centralnerven- system zu einem einheitlichen Ganzen. Nach IvANKt;.

Dendriten

Nerven- fortsatz

Collaterale

Markscheide

Axencylinder

Neurilemm

Fisr. 282.

Fig. 282. Schema eines Neuron, a Freier Axencylinder; b Axencylinder, nur vom Neurilemm umgeben; c Axencylinder, nur vom Nervenmark umgeben; d Axen- cylinder, vom Nervenmark und Neurilemm umgeben und durch RANViER'sche Schnür- rino-e in Segmente getheilt. Aus Stöhk.

Vom Mechanismus des Lebens. 589

stehen ebenso aus lebendiger Substanz wie diese, d. h. sie haben einen Stoffwechsel, mit dem ihr Leben und daher ihre Function untrennbar verknüpft ist. Das ^^eht ohne Weiteres aus der Thatsache liervor, dass der Nerv nach Abtrennung der Clangiifnzelle, zu der er gehört, als kernlose Protoplasmamasse unfehlbar zu Grunde geht.

Die Art und \\'ei.>e. wie anatomiscii und functionell die Elemente des Nervensystems untereinander verbunden sind, verdient noch unsere besondere Aufmerksamkeit, da die neueren Untersuchungen über den feineren Bau des Centralnervensystems, welche durch die namentlich von GoLGi, Weigert, Ehelich und Anderen so ausserordentlich hoch- entwickelte mikroskopische Technik ermöglicht worden sind, hier ganz eigenthümliche, gesetzmässige Verhältnisse aufgedeckt haben. Wie wir bereits wissen, ist das Element des Centralnervensystems die Ganglienzelle, aber die Ganglienzelle mit ihren charakteristischen Diffe- renzirungen. Von dem Zellkörper der Ganglienzelle gehen nämlich, je nach ihrer Function mehr oder weniger zahlreiche Fortsätze aus, unter denen sich zwei verschiedene Arten scharf von einander unter- scheiden. Die Einen bilden ein mehr oder weniger reich verästeltes Gezweig und werden^ daher zweckmässig als „Dendriten" bezeichnet. Es sind die sogenannten „Protoplasmafortsätze", wie sie die älteren Histologen nannten. Die Anderen sind die „Nervenfortsätze". Soviel wir bisher wissen, giebt es nach der Anzahl der letzteren nur zwei verschiedene Arten von Ganglienzellen, unipolare (früher multipolare wegen der zahlreichen Dendriten) mit nur Einem Nervenfortsatz und bipolare mit zwei Nervenfortsätzen. Diese Nervenfortsätze sind nichts Anderes als der Anfang der Nervenfasern, die nicht selten eine Länge von 1 m und mehr erreichen. Der Nerv nämlich ist es, welcher die entferntesten Zellen des Thierkörpers mit der Ganglienzelle in reiz- leitende Verbindung setzt und die Impulse, welche von dem Ganglien- zellkörper ausgehen, den betreffenden Gewebezellen oder im gegebenen Falle anderen Ganglienzellen übermittelt. In seinem Verlauf vom Ganglienzellkörper bis zu der Zelle, die er innervirt, zeigt der Nerven- fortsatz an verschiedenen Punkten aber ein sehr verschiedenes Ver- halten. Er sendet hier und dort collaterale Aeste ab und umgiebt sich bald nach seinem Ursprung mit einer aus Myelin bestehenden Hülle, dem „Nervenmark", die durch die sogenannten RAXviER'schen Schnür- ringe in einzelne Segmente getheilt ist und erst wieder kurz vor der Zelle verschwindet, die der Nerv versorgt. Das Nervenmark selbst, in dem die Nervenfaser als „Axencylinder" verläuft, ist meist von einer membranartigen Scheide, dem „Neurilemm", umgeben. Das Ende des Nerven zeigt je nach der Art der Zelle, welche er inner- virt, sehr charakteristische Differenzirungen. Ein solches einheitliches Zellganzes, d. h. eine Ganglienzelle mit allen ihren Anhängen, stellt den Elementarbestandtheil des Nervensystems vor und kann zweckmässiger Weise mit Waldever als .Neuron" bezeichnet werden (Fig. 282). Die Verbindung der zahllosen Neurone untereinander bildet das Nerven- system der Thiere. Nach den neueren Untersuchungen von Golgi, Kolliker. His. Ramon' y cajal und Anderen scheint die Verbindung der Neurone untereinander überall derartig zu sein, dass die Den- driten der Ganglienzelle die Reizimpulse aufnehmen, während der Nervenfortsatz die Impulse von einer Ganglienzelle her auf die Den- driten einer anderen überträgt. Nur die bipolaren Ganglienzellen, welche hauptsächlich in den zu beiden Seiten des Rückenmarks ge- legenen Spinalganglien enthalten sind, besitzen in dem einen Nerven-

Dendriten

Zellkörper

Nervenfortsatz

Fiff. 288.

weisse

Mark-

aubstanz

Fig. 283. PcBKiNJE'sche Ga ngl i e n ze 1 1 e aus der grauen Kinden- schicht des Gehirns. Aus Stöhb.

Fig.284. Schnitt durch die Kleinhirnrinde eines Kalbes. Die grossen verästelten Zellen sind PcRKixjE'sche Gang- lienzellen.

Nach SCHIEFFERDECKEE.

Fi?. 2S4.

Vom Mechanismus dt'S Lebens. 591

fortsatz eine sensible Bahn, welche von der Peripherie her in Form von äusseren Keizen Impulse aufnimmt und aut den Ganglienzell- körper überträgt, von wo der Inijjuls dann durch den anderen Nervon- fortsatz zu anderen Neuronen fortgepflanzt wird. Die Dendriten sind also in Bezug auf den zugehörigen Ganglienzellkörper immer centri-

f»etal leitend, während die Nervenfortsätze bei den unipolaren Gang- ienzellen immer centrifugal leitend sind. Die grössere oder geringere Anzahl der Dendriten einer Ganglienzelle scheint davon abzuhängen, mit wieviel anderen Neuronen die betreffende Ganglienzelle in Ver- bindung steht. So haben z. B. die PuRKiN.iE'schen Ganglienzellen in der grauen Kindenschicht des Gehirns, in der wir uns die complicir- testen psychischen Vorgänge localisirt denken, ein ganz ausserordent- lich reich entwickeltes Dendritensystem (Fig. 283 und 284). An die Dendriten der einen Ganglienzelle treten die Nervenfasern anderer Ganglienzellen heran. Dabei ist es eine bemerkenswerthe Thatsache, dass nach den neueren Untersuchungen die Verbindung zwischen beiden nicht durch directen Uebergang ihrer Substanz, oder wie man sagt, „per continuitatem" , sondern durch blosse Berührung, „per contiguitatem" erfolgt. Das Ende einer Nervenfaser und das Ende eines Dendritenzweiges treten mit ihren Spitzen aneinander, aber so, dass noch ein Schaltstück dazwischen ist, welches nicht aus Nerven- substanz besteht. Immerhin werden wir annehmen müssen , dass dieses Schaltstück, das im Uebrigen nur mit sehr starken Vergrösse- rungen zu sehen ist, auch aus lebendiger Substanz besteht, sonst wäre es schwer vorständlich, wie es die Erregung vom Nervenfortsatz zum Dendriten zu leiten vermöchte.

Zeigt sich in der Verbindungsweise der Neurone untereinander eine grosse Einheitlichkeit, so ist die Art des Ueberganges der Nerven- fasern in die Endzellen, welche sie innerviren, oder aus denen sie ent- springen, eine sehr mannigfaltige. Die von der Peripherie des Körpers her centripetal leitenden (sensiblen) Nerven sowohl wie die centrifugal nach der Peripherie hin leitenden (motorischen, secretorischen, elek- trischen etc.) Nerven sind je nach dem Organ, in dem sie endigen, verschieden. Unter den centripetal leitenden, d. h. sensiblen Nerven giebt es welche, die, ohne mit einer Sinneszelle in Verbindung zu stehen, in Form eines Endkölbchens frei in der Haut endigen (Fig. 285 11). Die anderen scheinen direct aus einer Sinneszelle hervorzugehen, die speciell für die Aufnahme des Reizes entwickelt ist, wie z. B. die Stäbchen- und Zapfenzellen des Auges, die Härchenzellen des Ohres, die Riechzellen der Nase (Fig. 285 I) etc. Unter den centrifugal leiten- den Nervenendigungen sind die der motorischen Nerven in den quer- gestreiften Muskeln am meisten charakteristisch. Hier wird der Ueber- gang der Nervenfaser in die Muskelsubstanz durch ein besonders differenzirtes Nervenendorgan, die „motorische Nervenendplatte", ver- mittelt eine platten- oder geweihförmige Ausbreitung des Axencylinders im Sarkoplasma. Das letztere , das an dieser Stelle sehr körnig und durch viele Zellkerne charakterisiert ist, wird vom Sarkolemm der Muskelfaser bedeckt, welches hier direct in das Neurilemm des Nerven übergeht (Fig. 285 111). Viel weniger complicirt scheint die Endigungsweise der centrifugalen Nerven in anderen Organen, wie glatten Muskelzellen, Drüsenzellen, Leuchtzellen etc. , zu sein, aber diese Verhältnisse bedürfen zum Theil noch genauerer Untersuchung. Durch die centrale Verwaltung aller Functionen des ganzen Or- ganismus im Nervensystem allein ist es möglich, dass der Zellenstaat

592

Sechstes Capitel.

des Thierkörpers sich in so weitgehender Weise differenziren konnte. Nur wenn im geeigneten Augenblick dieses oder jenes Organ in Thätigkeit tritt oder in Ruhe bleibt, nur wenn in zweckmässiger Weise dieses oder jenes Organ auf eine Einwirkung an dieser oder jener Körperstelle reagirt, nur wenn in feinster Harmonie diese und jene Zellen, Gewebe, Organe zusammenwirken, kann sich ein so über- aus complicirter Mechanismus entwickeln, wie wir ihn im Zellenstaat der Wirbelthiere und vor Allem des Menschen vor uns haben.

Hier mündet die allgemeine Physiologie in die specielle Physiologie des thierischen und pflanzlichen Zellenstaates und seiner verschiedenen Entwicklungsformen ein. Es ist die Aufgabe der speciellen Physiologie,

CpS

ii?jjatii^.'--vi 1 1 u 1 lataan

III

A

B

Fig. 285. Nervenendigungen. I Kiechzellen, A vom Frosch, B vom Menschen. Die schmalen spindelförmigen Zellen sind die Riechzellen, an die der Nerv tritt, die breiten, unten verzweigten, sind epitheliale Stützzellen. Nach Frkv. II Nervenendplatte aus der Conjunctiva sclerae eines Kalbes. Nach ScHiEFFERDECKEK. /// Motorischc Nervenplatte im quer- gestreiften Muskel von der Seite gesehen. Aus Lang.

die besonderen Mechanismen, welche sich aus dem Zusammenleben der Zellen im Zellenstaat ergeben, im Einzelnen zu untersuchen und ihr Zusammenwirken zu erforschen. Das Gebiet der allgemeinen Physiologie ist hier zu Ende, denn die allgemeine Physiologie reicht nur so weit, als es sich um den Mechanismus derjenigen Lebens- erscheinungen handelt, die allen Organismen gemeinsam sind. Object der allgemeinen Physiologie bleiben daher die elementaren Lebens- erscheinungen der Zelle ; denn die Zelle ist dasjenige Element, welches aller lebendigen Substanz zu Grunde liegt. Es giebt keine lebendige Substanz, die nicht zu Zellen angeordnet wäre, und es giebt keine Function der lebendigen Substanz, die nicht in einer elementaren Lebens- erscheinung der Zelle ihren Ursprung hätte. Wenn daher die Physiologie in der Erklärung der Lebens- erscheinungen ihre Aufgabe sieht, so kann die allgemeine Physiologie nur eine Cellularphysiologie sein.

Sacliverzeichniss.

Seite

A.

Abstammungslehre des Anaxi-

MANDBK und Empedokles . 8, 28

Lamarck's 28

Acanthocystis, Myopodien von . 256 Achromatische Kernsubstanz . . 94 Actionsstrom des Muskels . 271, 432 Actinosphaerium Eichhornii, An- passung an Reize 362

chemische Reizung von . . 372

Doppelbrechung der Axen- strahlen von 102, 567

Ermüdung von 465

galvanische Reizung von 420, 478

körniger Zerfall von .... 478

mechanische Reizung . . . 384

mechanischer Tetanus . . . 391 Aethalium septicum, Chemotaxis

von 435

Phototaxis von 454

Plasmodium von 77

Rheotaxis von 450

Thermotaxis von 457

Adenin . . . . 111, 113, 167, 180, 488 Agaricus, Kohlensäureproduction

während des Leuchtens von 259 Albumine, Eigenschaften der . . 110 Albuminoide, chemischer Begriff

der 112

Albumosen 157

Alchymie, Bestrebungen der mit- telalterlichen 58

Aleuronkörner in keimenden

Pflaiizensamen .... 86, 111 Aloe verrucosa, Betheiligung des Zellkerns an der Verdickung der Epidermiszellwände von 520 Amblystoma.galvanische Reizung

von . . 423

Amoeba diffluens, Galvanotaxis

von 463

limax 190, 240

fralvanotaxis von . . . 462

Thermotaxis von . . . 457 Verworii, Allgemeine Physiologie. J. Aufl

Seite Amoeba polypodia, Fortpflan- zung durch Theilung von 197, 209

Proteus . 190, 420

Gralvanotaxis von . . . 463

radiosa .• ^^^^

verrucosa.Gralvanotaxisvou 463 Amoeben, Absterben in Kugel- gestalt 333

als Organismen ohne Organe 122

Bewegungen der . . . 240, 569

chemische Reizung der . . 372

Excretion unverdauter Nah- rungsreste 175, 533

Form der A. in verschiedenen

Medien .•••.• 1^9

Formveränderung beim Krie- chen 78, 568

Fortpflanzung der 123

_ Galvan. Reizung der 424, 427, 499

in Narkose 379

im sauerstofffreien Medium 288, 569

Kältestarre der 399

_ künstliche Zerschneidung

der 299, 514

mit Sandkörnchen im Proto- plasma 87

Nahrungsaufnahme der . . 149

Nahrungsstoffe als Reiz für

die 3j7

Nahrungsvacuolen der . 149, 174

pulsirende Vacuole der . . 172

Protoplasmabewegung in der 97

Schleimsecretiou der .... 518

thermische Reizung der . . 397

Thermotaxis der 457

Tod beim Einfrieren .... 294

Tod bei höherer Temperatur 296

Verdauungsfähigkeit kern- loser Theilstücke 518

Vererbung bei den .... 550

Wärmestarre der . . . 400, 477

Amphimixis 321

Amphistegina lessonii, galvani- sche Reizung von 422

38

594

Sachverzeichniss.

Seite Amphistegina lessonii, Narkose

von 382

Amyloidmetamorphoae .... .338

Amyloidsubstanz 338

Anabiose eingetrockneter Orga- nismen 133

Anaerobien 291

Anaesthetica, "Wirkung der 341, 376, 474 Anastatica . Quelluugsbewegun-

gen der 228

Anatomie, vergleichende A. als

.Stütze der Descendenzlehre 318

Animistisches System Stahl"s . 17

Anode i 409

Anophrys, Chemotaxis von . . . 442

Anpassung an Eeize 362

als formveränderndes Mo- ment 212

individuelle 188

phyletische 191

Apposition, Wachsthum durch 125, 173 Arbeitstheilung der Zellen im

Zellenstaat 581

Arcella. specifisches Gewicht der 101, 233

Archaeopteryx macrurus ... 11.8

Archeus. Lehre va.n Helmont"s vom 14

Artemia Milhauseni 189

salina 189

Aroideen, Wänneproduction der

Blüthenkolben von .... 262 Ascaris megalocephala. Centro-

sora in den Samr-nzellen von 73

Assimilation, Begriff der . . 155, 491

Astronomische Kenntniss ... 33

derStärkeinderPflanzenzelle 163

^'organg der 163

Atavismus 1^5

Athmung als allgemeine Lebens-

erscheinun^ 147, 179

Gietanner"s Entdeckung der Sauerstoff- A 20

Matow's Theorie der 16, 20, 286

Atom. Begriff des .33, 214

Atrophie 325

Grösse des Biotonus bei der 494

Inactivitäts-A .327, 357

senile 327, 343

Auferstehungspflanzen .... 227 Ausfallserscheinungen nach vi vi-

sectorisr-hen Operationen an

der Zelle 517

Auslese, natürliche 191

Auslösung. Begriff der 360

Aussalzen der Eiweissköi-jicr . . 110 Aussen weit, Verhältniss zur In- nenwelt 48

Verhältniss zur Psyche . . .38 Axeneinstellung freibeweglicher

Organismen bei einseitiger

Reizunf' 502

Ayur Veda des Slskctas .... 8

B.

Bacillus butyrieus 115

Sporenbildung von .... 285

Seite

Bacterium ehlorinum, Phototaxis

von 4.54

laetieum II.5

lineola 70

photometricum, Lichtrei-

zuiig von 405

Phototaxis von .... 4.54

termo 371

Bärenthierchen, eingetrocknete . 1.32

Baetylien der Phönicier .... 8

Bakterien, auaerobe 291

Chemotaxis der 437

eingetrocknete 1.33

Ernährung der 146

Kerndifferenzirung der . . 70

Lähmung des Wachsthums durch mechanische Reizung 393

Rheotaxis der 4-50

Barotaxis 445

Befruchtung, Vorgang der . . . 203

BKLL'sches Gesetz 20

Beroe ovata, Schwimmplättchen

von 253, 578

Bewegung als Charakteristicum

des Lebens 4, 8

amoeboide 239, 569

automatisches, der Flimmer- haare 252

der Blutflüssigkeit .... 224

Eintheilung der B. -Arten . 224 Bewusstsein. Entstehung des . . 33 Bienen. Wärmeproduction der . . 262

Bindesubstanzen 178

Bioblasten Altmanx's 66

Biogen. Begriff" des 487

Bildung des 489

Wachsthum durch Polymeri- sirung der B.-Moleküle . . 535

Zersetzung des 489

Biomyxa vagans 79

Biotonus. Begriff des 493

Veränderung des B. bei to- taler Reizung 495

Verändenuig des B. bei ein- seitiger Reizung 502

Blut, Strömung des B. in den

Capillargefässen 224

Blutkreislauf, Entdeckung des . 13

Schema des 585

Botrydium granulatum, Photo- taxis der Schwärmsporen von 4-54

Branehlpus stagnalis 189

Brand, feuchter 330

trockener 328

Brandblase, Colliquation in der . 330

C.

Calorie, Begriff der 216, 266

Calorimeter 265

Calorimetrie .... 27, 46, 265, 555 Cannabis sativa. Betheiligung des Zellkerns am "Wachsthum der

Wurzelhaare von -520

Carchesium polypinum, mecha- nische Reizung von . . 389, 576

Sachverzeichiiiss.

595

Seite

Carchesium polypinum, Verdau- ung bei 159

Veihiilten des Zellkerns bei

der Verdauung,' .... 159, 522 Carica papaya, peptonisirende

Fermente von 176

Caulerpa als viclkcrnige Zelle 75, 537 Causalitätsbedürfniss .... 6, 35 Cellularpathologie, ViRCHow's Be- gründung der 26, 51

Cellularphysiologie 26, 48, 483, 593

vergleieliende 55

Cellulose als Secret der Pfianzen-

zelle 178

Betlu'iligung von Kern und Protoplasma an der Bildung

der 519

in der Membran der Pflauzen- zellen 116

Cenogenie 212

Centralisation im Zelleustaat . . 584

Centralkörperchen 72

Centralnervensystem 585

Centrcsom 72

bei der Zelltheilung . . 199, 587

im Protoplasma 72

im Zellkern 78

Centrotaxis 452

Chaetomorpha , Phototaxis der

Schwärmsporen von .... 454

Chemotaxis 434, 532, 570

Chemotropismus 434 Anm.

Chilomonas paramaeeium, Pho- totasis der Sehwärmsporen

von 454

Chitin 178

Chlorophyllkörper im Proto- plasma 84

Kolilensäurespaltnng in den 222 Cholerabakterien, Sauerstoff be-

dürfuiss der 292

Cholestearin 113

Chondrin 178

Chondrioderma difForme, Ent- wicklung der Plasmodien von 77 Chromatisehe Kernsubstanz . . 94 Circulation des Protoplasmas in

den Pflanzenzellen .... 244 Clematis, Zellwand der Markzellen

von 173

Clepsidrina blattarum, eine Gre-

garinenzelle 83

Closterium , Molekularbewegung

in den Vacuolen von . . . 225

Phototaxis von 455

Secretionsbewegungen von . 235 Coagulation, siehe Gerinnung.

Coagulationsnekrose 329

Coleps hirtuB, Nahrungsaufnahme

von 152

Colliquation 330

Collo'idsubstanzen 108

Colonie, Begritf der 62

Colpidiura colpoda im Hunger- zustande 280

Seite

Colpoda cucuUus, Cysten von , 209

Eiitwicklungsgeschiclite von 209 Colpodella, .Xahrungsauswaiil von 153

Conchiolin 112

Condensation, chemische, Begriff

der 45

Conjugation der Difflugien . 95, 205

der Infusorien . . . 95, 205, 523

Contactwirkung 161

Contractilität 238

Contraction 238

Contractionsbewegungen, Be- deutung der amoelDoiden

Zellen für die Ei'forschungder .54

Exgklmann's Theqrie der . , 566

Mechanik der 560, 565

verschiedene Formen der . 238

Cornein 112

Correlation der Theile im Orga- nismus 186

der Theile in der Zelle 528, 535 Cucurbita pepo, Betheiligung des

Zellkerns an der Bildung der

Wurzelhaare von 520

Cyan in lebendigem Eiweiss . 310, 488

Cyansäure, Vergleich mit dem

lebendigen Eiweiss .... 310

Cyanverbindungen, Entstehung

der 311

Cyphoderia, Thigmotaxis von . . 447

Cypripedium insigne, Betheili- gung des Zellkerns an der Verdickung der Zellwände

von 520

Cystenbildung von Colpoda cu-

cullus 210, 285

Cytoden, Begriff der 71

D.

Dampfmaschine, Vergleich mit

dem Organismus 126

Darmepithelzellen , Resorption

durch die 148, 538

vom Leberegel ...... 150

vom Wirbelthier 1-50

Degeneration, wachsartige . . . 329 Dendriten der Ganglienzellen bei

Narkose . ." 383

Descendenzlehre ... 8, 28, 183, 817 Desmidiaceen, Bewegungen der 2-35 Diabetes mellitus , Entstehung von Traubenzucker aus Ei- weiss bei 169

Dialysator 107, 529

Diastase 160

Diatomeen, Bewegung der . . . 236

Lähmung der Bewegung durch mechanische Reize . 393

Lichtreizung der 407

Phototaxis der 455

Didymium , Sauerstoffwirkung

auf 375, 569

Differenzirung der Zellen im

Zellenstaat 581

DifiFerenztheorie 271

Ov *

596

Sacliverzeichniss.

Seite

Difflugia, Conjugation von ... 95

Gelläusebau von 154

mechanische Reizung von . 386

Nekrobiose kernloser Proto- plasmamassen von 572

Schleimsecretion von kern- losen Theilstücken von . . 518

specifisches Gewicht der 101, 233

Reizleitung bei 367

Diphtheriebaeillen 181

Disaeeharide , chemische Formel

der 114

Dissimilation, Begriff der . 156, 491

Vorgang der 167

DÖBEHEINER'sehes Feuerzeug 45

Dorataspis, ein Radiolar . . 178, 550 Drosera, peptonisireude Fermente

von 176

Veränderungen des Zellkerns bei der Thätigkeit der secer- uirenden Zellen von .... 522

Dualismus von Körper und

Seele 8. 15, 17, 39, 42

Dytiscus marginalis, Verhalten der Zellkerne in den Eizellen

von 520

E.

Eehinus mierotubereulatus, Ba- stardbefruchtung mitSphaer-

echinus 512

Eibildung bei Insecten 195

beim Seeigel 195

Eier als Aveibliche Geschlechts- zellen 195

Befruchtung kernloser Theil- stüeke von 512

Eieralbumin 110

Einfrieren von Thieren . . . 293, 294 Einschaclitelungstheorie (siehe

„Präformationslehre") ... 17 Eintagsfliegen. Lebensdauer der 344 Eisenbakterien, Stoffwechsel der 283 Eiweiss als Quelle der Muskel- kraft 561

circulirendes 166

Dissociation des lebendigen

309, 488

lebendiges u. todtes 309, 487, 488

Zersetzungsproducte des le- bendigen und todten . . . 309

Eiweisskörper als Charakteristi-

cnm des Organismus 128, 314, 485

als Nahrung der Thiere . . 146

chemische Eintheilung der . 110

chemische Proben der ... 110

domiuirende Stellung der E.

in der Zelle 485

einfaches Grundmolekül der 109

Gerinnung (Coagulation) der 109

Grösse des Moleküls der . 107

krystallisirende 108

polymere Moleküle der . . 109

quantitative Formeln der . 107

Seite Eiweisskörper, Unfähigkeit, durch

Membranen zu diffundiren . 107

Verbindungen der 111

Verdauung der 156

Zersetzungsproducte der . . 112

Zusammensetzung der . . . 106 EiweissmetamorphoBe, Stoffe der

regressiven 112, 167

Eizelle eines Kalkschwamms 79, 203

eines Seeigels 79, 203

Lage des Zellkei-ns in der . 523

mit Centrosomen 72

vom Frosch 200

vom Seestern 200

vom Spulwurm 207

von Fabricia 200

von Insecten 195, 201

von Kephalopoden .... 201

Elastin 112

Elateren, siehe Schachtelhalme. Elektricität als Todesursache . . 342

Entstehung von .... 268, 408

therapeutischeBedeutungder 357

thierische 268

Elektroden, unpolarisirbare 272,411,461 Elementarorganismus, die Zelle

als 63

Elemente, galvanische . . . 268, 409

organische 103

System der chemischen . . 102

thermoelektrische 262

Vorkommen der organischen

E. in der leblosen Natur . 104 Embryologie, siehe Outogenie. Emulsion, das Protoplasma als . 99 Energie, Begriff' der 214

Gesetz der Erhaltung der 26, 215

kinetische (actuelle)". . 27, 216

Lehre von der specifischen

E. der Sinnessubstanzen 22, 479

Modificationen der .... 216

potentielle 27, 216

verschiedene Formen der . 214 EnergieTvechsel bei chemischen

Processen 218

der lebendigen Substanz . . 553

Wirkung der Reize auf den 558 Entwicklung der Zelle 536

ontogenetische 192, 209, 319, 583

phylogenetische . 183, 319, 583

von Colpoda cucullus . . . 209

Enzyme 112, 156

Epidermiszellen vom Fro-^ch . 79, 83

Schaumstructur der E. des Regenwurms 90

Epigenesis, Lehre von der 18, 541, 544 Epithelzellen, mehrkernige ... 75 Erbsen, Erwärmung der E. beim

Keimen 262

Ergograph von Mosso 467

Erholung des Muskels 471

Erkennen, Begriff des 35

Ermüdung 465

Ermüdungscurve des Muskels . 467 ErmüdungsstoflFe 473

Sachverzeichniss.

507

Ernährung der Thioi-e und Ptian-

z(Mi 143

Erodium cicutarium, Quellungs-

bewegnnijcn der Samen von 228

Erregbarkeit, Steigerung der . . 499

Herabsetzung der 499

Erregung 361, 474, 496

Ersatznahrpng, Kohlehydrate und

Fette als 147, 562

Erschöpfung 474

Erstickung 287

Euastrum, eine Desmidiaeeenzelle 80

Eucorallium rubrum 61

Eudorina elegans ... 63, 211, 576 Euglena viridis, ein Geisselinfu-

soriuni 81

AxeneinsteUung bei einsei- tiger Reizung 505

Excret, Begriff des 171

Excretion 171

Expansion 238

Experimentum mirabile de ima-

giuatione gallinae 501

F.

Pakire, lebendig begrabene . . . 129

Parbenkreisel 499

Farbentheorie, HERiNG'sche . . . 499

Farne 321

Federmyographion 366

Fermente, chemischer Charakter

der . 112

Secretion der 176

VAN Helmont's Lehre von

den 14, 16

Wirkung der 156, 160

Fermentorganismen 162

Fett, Abnahme beim Hunger . . 282

als Si'hutzmittel 177

Entstehung aus Eiweiss

113, 169, 486

im Protonlasma der Zellen . 119

in den Zeilen der Milchdrüse 86

Synthese des F. im Thier- köi'per 166

Verdauixng des 160

Zusammensetzung des ... 116

Fettinfiltration 335

Fettmetamorphose 335

Fettsäuren 116, 160

Fibrin 111

Fibrinogen 111

Fischembryonen, Galvanotaxis

der 460

Fleischfresser 145

Fliegenmaden, Histolyse der Ge-

webe bei den 327

Entstehung von Fett aus Ei- weiss bei den 169

Flimmerbewegung 251

Erregung durch chemische Reize 373

Erregung durch galvanische Reize 423, 428

Seite Flimmerbewegung , Erregung

durch mechanische Reize 392, 578

Erregung durch thermische Reize 398

im .sauerstoflFfreien Medium 290

Kraft der 256

liähmung durch galvanische Reize 433

Metachronie der .... 252, 579 Flimmerzellen 81, 252, 578

schleimig metamorphosirte . 338 Force hypermecanique .... 19 Fortpflanzung der Zelle .... 537

durch Eier 195

durch Knospenbildung . . . 196

durch Theilung .... 194, 195

geschlechtliche 195

Verhältniss zum Wachs- thum 193, 537

Frosch, allgemeiner Reflextonus

des 364

Kalkkryställchen an der Wirbelsäule des 5, 225

Froschlarven, Galvanotaxis der . 460

Histolyse des Schwanzes der 326

Fruchtzucker 114

Function, Begriff der physiolo- gischen 584

Functions Wechsel bei Raja cla-

vata 274

Q.

Gäbrung, Alkohol-G 114, 162

Milchsäure-G 115

Buttersäure-G 115

Gährungsröhrchen 115, 376

Galvanischer Strom 268

Galvanisches Element 268

Galvanismus 267

Galvanometer 262

Galvanotaxis 460

Ganglienzelle als Theil eines

Neurons 588

aus dem Rückenmark des Menschen 80

Ermüdung der 469

Erregung der 500

Hemmung der 500

Lähmuno- der 500

Morphiumnarkose der . . . 381

PüRKiNJE'sche 590

Verhalten des Zellkerns bei angestrengter Thätigkcit 469, 522

Verkalkung der 340

Zellkernstructur der ... . 96

Gangrän 330

Gasflamme, Formgestaltung der . 547

Gaskammer, ENOELMANK'sche 288, 525 Gastrula als Stammform derMeta-

zoen 321

Gehirn 587

Qeisselzellen, siehe Flimmerzellen. Gelatineschäume, Strahlungs- figuren in 537

Gentiana. Phototaxis von .... 453

598

Sachverzeichniss.

Seite

Geotaxis 451

Gerinnung (Coagulation) der Ei-

weisskörper 109

der Kieselsäure 109

Geschwülste, Entstehung der . . 371

Gesetz, OnM'sches 412

der polaren Erregung durch

den galvanischen Strom . . 419

der Erhaltung der Energie 26, 215

Gewebe, Begriff des 63

Gewicht, specifisches 6. der

Zelle 100, 233

Gewöhnung 362

Gifte 341

Gleichgewicht, dynamisches . . 127

stabiles 127

Gliederthiere 321

Globuline, Eigenschaften der . . 110

Glutin 178

Glyeerin 116, 160

Glykogen als Produet derEiweiss-

zersetzung .... ILS, 170, 486

Entstehung aus Trauben- zucker 166

in den Leberzelleu 86, 116, 117

Glycoproteide 111

Granula im Protoplasma .... 86 Granulahypothese, Altmann's . 66, 91

Graphische Methode 25

Gregarinen, Bewegung der . . . 237 GromiaDujardinii, siehe „Hyalopus". Grundgesetz, biogenetisches

30, 211, 319, 583

des Energiewechsels bei che- mischen Processen 220

Guanin . 111, 113, 167, 180, 181, 488 Guaninkalk in Pigmentzellen 86, 182

H.

Haeraotocoecus, Phototaxis der

Schwärmsporen von .... 454

Haemoglobin als eisenhaltige Ei-

weissverbindung 111

im Muskel 291

Krystalle des 108

Halteria, Galvanotaxis von . , . 464 Hammer, NEKF'scher oder Wagner-

scher 416

Harnsäure als Stoff der regressi- ven Eiweissmetamoi-phose

113, 167, 180, 488

Bildung im Thierkörper 168, 180 Harnstoflf als Stoff der regressiven

Eiweissmetamorphose

113, 167, 180, 488

Ausscheidung bei Phosphor- vergiftung 337

Bildung aus kohlensaurem Ammon in der Leber . . . 167

künstliche Synthese des . 23, 45 Hefezellen 5, 114, 162

Erregung des Stoffwechsels

der H. durch Wärme . . . 394

Narkose der 376

Seite Hefezellen, Wärmeproduction der 262 Heilkunde, ältere Entwicklung der 8 Heliotropismus 434 Anm., 452 Anm. Hemiembryonen von Fröschen . 540 Hemmungserseheinungen . . . 500 Herzmuskel, Arbeit des .... 251

Ermüdung des 466

Fettmetamorphose des . . . 336

galvanische Reizung des . . 426 Heubacillus, Sporen des H. beim

Kochen 296

Hexamitus inflatus, ein Geissel-

infusorium 252

Hippursäure 113, 167, 180

Bildung im Körper der Pflanzenfresser 168

Histolyse 325

Holothuria Poli, Schleimmeta- morphose von 338

Homoiotherme Thiere, siehe Warmblüter.

Homunculus, Problem der Dar- stellung des H. im Mittel- alter 58

Huhn, Experimentum mirabile des

Pater Kircher 501

Hunger, körperliche Erscheinun- gen des 280

Hyalopus Dujardinii, körniger

Zerfall des Protoplasmas von 331

Hydra, künstliche Zertheilung und

Regeneration von ... 59, 578

Hydrotaxis 435

Hypnose 354

Hypoxanthin (Sarkin)

111, 113, 167, 180, 488

I.

latrochemische Schule 15

latromechanische Schule ... 15

Ignorabimus Du Bois-Reymond's 35

Immunität 364

Impatiens, Schleuderbewegungen

der Früchte von 237

Inactivitätsatrophie 357

Inanition, siehe Hunger. Individualität als Vorstellung der

Psyche 39

Individuum, Begriff des organi- schen 59

reelles und virtuelles ... 65 Inductionsstrom, Entstehung des 415 Infusorien, Conjugation der 95, 105, 523

eingetrocknete 133

Entdeckung der .... 16, 303

Urzeugung der 20

Interferenz der Reizwirkungen . 498 Intussuseeption, Wachsthum

durch 125, 173

Invertin 162

Invertirung des Rohrzuckers . . 115 Irritabilität als Charakteristicum

des Organismus 127

Lehre von der 15, 18

Sachverzeicbniss.

599

Seite

K.

Kältestarre 399

Kalknadeln von Eehinodormon

und Scluväinnien . . . 174, 178 Kalkoxalat in Pflauzenzellen . . 86

Kaltblüter 222, 261

Kampf um's Dasein bei Dakwin

28, 191, 321

boi 1Ikraki.it lind PjMpkdokles 8 KatalytischeWii-kungder Metalle 161

Kathode 409

Katze, Ermüdung der C4anglion-

zellen bei der 469

Keimbezirke, Lehre von den or- ganbildenden 540

Keimesentwicklung (üntogenie)

183, 192, 213

Keratin 112

als Nahrung der Pelzmotte 146 Kernkörperchen (Xueleolus) . . 94

Kernmembran 94, 523

Kernsaft 94

Kerntheilung, directe 197

Figuren der 198

indirecte oder mitotische . 198

Mechanik der 539

Kieselsäure als skelettbildendes

Seeret 178

Coagulation der 109

Polymere Moleküle der . . 109 Kleisterälchen, eingetrocknete . 133

Knochenzellen 174

Knorpelzellen 174

Knospenbildung 196

Körnchenströmung auf den

Pseudopodien d. Rhizopoden

225, 243 Körperwelt , Verhältniss zur

Psyche 36

Kohlehydrate als Quelle der

Muskelkraft 561

chemische Natur der. ... 113

Eintheilung der 114

Kohlensäure als Spaltungsproduct

der Eiweisskörper . . . 113, 170

als Spaltungsproduct der Kohlehydrate 116

als gasförmiges Excret . . . 178

Spaltung in dergrünen PHan- zenzelle . . . 164, 222, 370, 403

Kollagen 112

Kometenköpfe, Spectrum d.Eigen-

lichts der 305

Kosmologie der ionischen Philo- sophen 8

Kosmozoen, Lehre von den . 304, 312

Kraft, Begriff der 213

Kreatin 113, 167, 180, 488

Bildung im Muskel .... 168

Kreatinin 113

Krystalloide Körper 108

Ktenophoren, Flimmerreihen der 253 Kymographion , Lcdwig's Erfin- dung: des 24

Seite

L.

Lachs, Verhalten im Uungerzu-

stande 282

Lacrymaria, Bewegung kernloser

Theilstücke von 515

Lähmung 361, 474, 496

LAPLACE'scher Geist 33

Leben. :utuelli<s 136

Anfaniislosigkeit des . . . 307

Inhalt des Begrift^ .... 3

Lehre von der Continuität

des . 124, 306

potentielles 136

Lebensalter 105

Lebensbedingungen, allgemeine

und specielle 278

«äussere 278

Begriff der 277

innere 299

Lebenserscheinungen, als Aus- druck des Stoffwechsels . . 134

Lebenskraft, Lehre von der

19, 23, 31, 43, 126

Lebensmaterie 105

Lebensvorgang, der Stoffwechsel

als 134

Leberzellen, Granula in den . . 66

Lecithin 113

Leuchten bei chemischen Pro- cessen 260

der Thiere und Pflanzen . . 258 Leukocyten, Absterben der L. in

Kugelgestalt 333

amoeboüle Bewegung der . 240

Betheiliguug an der Histo- Ivse . . . 327

Centrosomen in den .... 72

Chemotaxis der 435

Degeneration der L. bei acuter Leukaemie 328

Nahrungsaufnahme der . . 150

Nahrungsauswahl der . . . 154

schleimig metamorphosirte . 338

Verhalten des Zellkerns bei

der Narkose der 526

vom Frosch mit aufgenom- menen Bakterien 86

vom Krebs 79

"Wirkung des Chinins auf die Bewegung der 380

Licht, AA'irkung des L. in den

grünen Pflanzenzellen . 164, 222

Lieber kühnia.Nahrungsanfnahme

und Verdauung von .... 157

Luzula maxima, Epidermiszellen

von 520

M.

Mästung 280

Magnetismus, thierischer .... 354 Magoephaera planula . . . 211, 576 Makrobiotus Hufelandi, Aua-

biose von 133

600

Sachverzeichniss.

Seite

Makronucleus der Infusorien 95, 523

Mantelthiere 321

Massenwirkung, chemischer Be-

grifif der 45

Materie, Wesen der 33

Maximum der Erregung . . 401, 476

der Reizwirkiing 354

der Temperatur . . . . 295, 400 Mechanisch-dynamisches System

HOFFMAXX'S 16

Meerschweinchen, tonische Er- regung des 363

Mesembryanthemum erystalli-

num, Wasserhaushalt des . 285

Metaehronie der Flimmerbe- wegung 252, 579

Metamorphose, Amyloid-M. . . . 338

Fett-M. 335

Nekrobiotische Processe der

335 ff., 497

Schleim-M 337

Metaphysik.VerhältnisszurNatur-

forsehung 41

Meteorsteine , kohlenwasserstoff-

haltige 305

Mikronucleus der Infusorien 95, 523 Mikroskop, Erfindung des ... 16

Milchbildung 336

Milchsäure bei der Harnsäure- synthese 180

als Zersetzungsproduct der Eiweisskörper . . .113, 170, 179

als Zersetzungsproduct der Kohlehydrate 115, 116

Milchzucker 115

Miliola , Structur des Pseudo-

podieuprotoplasmas von . . 90 Milzbrandbacillen, Sporen derM.

beim Kochen 296

Mimosa pudica, Bewegung der . 232

Galvanische Reizung der . 431

Mechanische Reizung der . 385

Narkose von 379

Minimum der Reizwirkungen . . 354

der Erregung 401, 476

der Temperatur .... 293, 401

Molekül, Begriff des 214

Molekularbewegung , Bkow.n-

sche, bei Closterium .... 225

der Kalkkry ställchen des

Frosches 5, 225

-- in den Speichelkörper-

cheu 225

Moneren Haeckels 69, 320

Urzeugung der .... 304, 316

Monismus 34, 42

Monosaccharide, chemische For- mel der 114

Moose 321

Mucigen 337

Mucin .... 111, 116, 175, 176, 337 Mucor, Anpassung an concentrirte

Salzlösungen 190

Multiplicator 262

Mumienweizen 134

Seite Musca vomitoria, Ermüdung der

Flugmuskeln von 469

Muskel, Bewegung im sauerstoff- freien Medium 290

chemische Reizung des . . 373

Einfluss der Wärme auf den 398

Erholung des ermüdeten . . 471

Ermüdung des .... 467, 469

galvanische Reizung 420, 429, 499

galvanische Ströme des . . 271

Haemoglobin im 291

mechanische Reizung des . 392

Stoffwechsel Avährend der Thätigkeit 392

Todteustarre des 137

Verhalten in der Narkose . 381

Muskelbewegung 245

Muskelfaser, Bau der . . . 245, 246

Form der 81

glatte und quergestreifte 82, 246

Histolyse der 326

Länge der 82

Lichtreizung der 407

optische Eigenschaften der quergestreiften .... 102, 566

Muskelfibrille 245

Muskelirritabilität 15, 18

Muskelkraft, Quelle der .... 559

Muskelschreiber 429

Muskelsegment, Bau des .... 247

Veränderungen bei der Con- traction des 249, 573

Myographien 429

Myosin 111

Myrianida, Fortpflanzung durch

Theilung 195

Myxomyceten , Bewegung im

sauerstofffreien Medium 288, 569

Chemotaxis der 435

Entwicklung der 77

Grösse der Plasmodien . . 537

Phototaxis der 454

Rheotaxis der 450

Thermotaxis der 457

Wirkung des Sauerstoffs auf 375

X.

Nachwirkung der Reize .... 363 Nährlösung für Pflanzen .... 143

Nahrung, Bogriff der 278

Nahrungsauswahl der Zellen 152, 533

Mechanismus der 583

Nahrungsvacuolen 149, 152, 174, 533 Naja Haje. ägyptische Brillen- schlange 501

Narkose 376

Narkotica, siehe „Auaesthetica". Naturerkenntniss, Du Bois Rey-

moxd's Definition der ... 32

Grenzen der 31

Naturforschung, Verhältniss zur

Metaphysik 41

Zweck der 1

Naturphilosophie 20, 21

Sncliverzeichulss.

601

Seite

Nekrobiose, Hci^^ritV der. . . l:W, 324

Nekrose, Iio,i;riff ilcr .... 324, 328

(iuix'h (Jonguliitiou 329

Ful^c (Um- JJc'htwirkuiig . . 402 Neoskopelus makrolepidotus,

ein Fisi'h ans 15U0 m Tiefe 298

Weovitalismus 46

Nepa, Kinne in den Zellen der

Eistrahlen von 521

Nerven, ccntripetale nnd centri-

fngalo 591

Dnu'kliilnnnnf^ der .... 393

Ernuidnng der 466

Nervenendigungen, sensible nnd

motorische 592

Neuromuskelzelle, Begriff der . 586

Neuron, ]>cgriff des 589

Niedersehlagsmembran .... 173 Nierenzellen, excretorische Thä-

tigk.'it der 172

Nisus formativus 19

Nitella, Einfluss der Wärme auf

die Protoiilasmastrümung von 397 Nitroglycerin, explosiver Zerfall

des 127, 220, 490

Nitromonas 146

Noctiluea miliaris, chemische

Eeiznng der 375

C-alvanische Reizung der . . 432

m Narkose 382

Leu cht vermögen der . . . 258

mechanische Reizung von . 392 Nuelein, chemische Zusammen- setzung des 111

Localisation in der Zelle . 119

Vorhalten bei der Secretion

in Drüsenzellen 522

Nucleinbasen 111, 113, 167, 180, 488

Nucleinsäure 111

Nueleoalbumin ...' 111

Nucleolus, siehe „Kernkörperchen". Nueleus, siehe „Zellkern'-.

0.

Objeettisch, heizbarer 396

Oelschäume, Wabenstructur mi- kroskopischer 90

Oeltropfen , Ausbreitungsbewe- gungen von 533, 570

Opalina, Infusorium aus dem Darm

der Frösche 75

Vermehrung der Zellkerne

bei ... 193

Optimum der Reizwirkungen . . 355 Orbitolites, mechanische Reizung

von 391

Nekrobiose kernloser Proto- plasraamassen .... 138, 334

Frotoplasmaströmung auf

den Pseudojoodien von . . . 243

Reizleitung bei 368

Thigmotaxis von 446

Tropfen- und Kugelbildung

des Protoplasmas bei ... 98

Seite

Organ, Hegriff des 62

Organeiweiss 166

Organisation der lebendigen Sub- stanz 96, 122

Organismen, Stammbaum der . . 320

Vergleich mit anorganischen Körpern 121

Organphysiologie 51, 483

Oscillarien, Bewegungen der . . 235

Lähmung der Bewegung durch m(^chanische Reize . 393

Phototaxis der 454

Oxalsäure 113

Oxytricha, Thigmotaxis von . . 448

P.

Paeonia, Entstehung von Fett aus

Stärke in den Samen von 165, 485 Palaeontologie als Stütze der

Descendenzlehre 317

Palingenie 212

PARACELSTTS, theosophisches

System des 12

Par amae cium aurelia alsWimper-

zelle ; . _ 85, 252

Axeneinstellung bei ein- seitiger Reizung 507

Chemotaxis von 443

Conjugation von . 95, 205, 523

Galvanische Reizung von . 424

Galvanotaxis von 461

Geotaxis von 451

Mechanische Reizung von . 388

pulsirende Vacuolen von 85, 172

specifisches Gewicht von . . 100

Thermotaxis von 458

Tliigmotaxis von 449

Vermehrung 371

Paramaecium bursaria, lufuso-

rienzcUe mit parasitären

Algen 87

Paramaecium caudatum, Conju- gation von 206

Parthenogenese 195, 209

Pelomyxa pallida 70, 92

Pelomyxa palustris, Ermüdung

von 466

galvanische Reizung von . 423

körniger Zerfall von . . 331, 477

Wirkung des Lichtes auf . 404

Pepsin 112, 156, 160, 176

Pepton 109, 156

Rückverwandlung in natives Eiweiss 165

Peranema, ein Geisselinfusorium 252

galvanische Reizung von . 428

mechanische Reizung von . 387 Periplaneta orientalis, Thigmo- taxis der Spermatozoen von 448

Perpetuum mobile, Problem des 39

Person, Begriff" der 62

Pflanzen, Ernährung der .... 144

fleischfressende 176

602

S achverzeichniss .

.Seite

Pflanzen, Galvanotaxis der Wur- zelspitze von 461

nacktsamige und bedeckt- satniL''e . r,21

Pflanzenalbumin llö

Pflanzenfresser 145

Pflanzenglobulin Kleber) . . . 111

Pflanzenphysiologie 20, 26

Pflanzensamen. Einfluss der Tem- peratur auf die Keimfähig- keit der 396

Keimfähigkeit eingetrock- neter 133

Stillstand des Stoffwechsels

in eingetrockneten . . . 165, 286

Pflanzenthiere 321

Pflanzenzelle aus den Staubfaden- haaren von Tradescantia . 85

mit Chlorophyllkörpern . . 84

mit Stärkekörnern ... 86, 115

Narkose der 377

Primordialschlauch der . . 229

Protoplasmaströmung in der

97, 243

Zellsaft der 229

Phagocyten 148

Philosophie, Bacox's monistische 14

des Descaetes 14

Pholas. Absonderung der Leucht-

substauz 259

Phosphor, Verhalten in reinem

Sauerstoff 287

Phosphorvergiftung. Entstehung

von Fett aus Eiweiss . 169, 336

Hamstoffausscheidung bei . 337

Photometrie 454

Phototaxis 452

Physiologie, Aufgabe der .... 3

allgemeine 25

Begriff des Wortes .... 3

chemische Richtung der . . 23

.Johannes Müllers Hand- buch der 22

physikalische Richtung der 24

psychologische Richtung der 25

Stand der modernen .... 50

vergleichende .... 21, 22, 52

Verhältniss zur Psychologie

21, 22

<PiGi;, Begriff des Wortes .... 3 Phytogenesis. Schleidex's Theorie

der 69

Pigmentkörnchen 86, 177

Pigmentzelle, Bewegungen der . 241

von der Froschlarve .... 79

vom Hecht mit Centrosom . 72 Pilze, Ernährung der 145

Stellung im Stammbaum der Organismen 321

Pisum sativum, ßetheiligung des Zellkerns an der Bildung

der Wurzelhaare von . . . .520

Plankton 238, 257

Plasmodium der Myxomyceten . 77

Seite Pleuronema chrysalis, Galvano- taxis von 464

Lichtreizung von 405

mechanische Reizung von . .388 Pleurotaenium, Phototaxis von . 455

Pneumalehre 9 ff .

Poikilotherme Thiere, s. „Kalt- blüter-.

Polarisationsstrom .... 272, 410

Polkörperchen 72

Polymeri e des Biogenmoleküls 492, 535

des Eiweissmoleküls .... 109

des Kieselsäuremoleküls . . 109 Polysaccharide, chemische Formel

der 115

Polystomella, Xahmngsaufnahme

kernloser Theilstücke von . 517

Schalenregeneration von . . .518 Polytoma uvella, Galvanotaxis

von . 463

Mechanismus der Axenein- stellung bei einseitiger Rei- zung 506

Polzellen, Bildung der 200

Poteriodendron als Neuromuskel-

zelle 586

Differenzirungen des Zell- köipers von .546

Praeformation. Lehre von der 17, 541 Principium nervosum Boee-

haave's 16

Proteide 111

Proteine, siehe „Eiweissköiper". Proteus anguineus im Hunger- zustande 281

Lichtreizbarkeit 402

Protisten als physiologische Ver-

suchsobjecte .53

als Stammformen der Orga- nismen las, 320

Protococcus, einzellige Alge . . 182

Protophyten 321

Protoplasma, Begriff des . . . 83, 488

als Emulsion 99

fibrilläre Structur des ... 88

flüssige Consistenz des. . . 97ff.

hvalines 88

Inhalt des 84

Mohl"s Entdeckung des . . 68

Netzstructur des 88

specifisches Gewicht des . . 100

Tropfen- und Kugelbildung

des 97, 98

Wabenstructur des .... 89 Protoplasmaströmung in der

Pflanzenzelle 97, 243

in Rhiznpodenzellen 97, 225, 243 Protoplasmatheorie Max Schcltze's 68 Protospongia Haeckelii .... 582

Protozoen 321

Pseudopodien 240

Psychologie, Verhältniss zur Phy- siologie 21, 22

Psychomonismus 39

Ptomaine 180, 181

S.icliverzeiclmiss.

603

Ptyalin 112, 160, 176

Pyrophorus noctilucus, Spec-

triiin dos Liclites von . . . 258

Quadratur des Cirkels, Problem

ilor 39

Quadrille des centres 208

Quellung dor PHauzciizellwüiule 227

R.

Räderthierchen, eingetrocknete. 132

Haja clavata 273

Ranatra, Kerne in den Zellen der

Eistrahlen von 521

Rauschbrandbakterien, anaerobe

Lebensweise der

Reflex, Begriff des

Reflexbogen

Regeneration der Krystalle. . .

Mechanik der

Vorgang der

Reifungsprocess des Eies . . .

Reizbarkeit

Reize, assimilatorische

Begriff der

dissimilatorische

Intensität der

Interferenz der

-- Qualitäten der

Trophische 357

Reizleitung, Geschwindigkeit der 366

Reizschwelle 356

Reserveeiweiss 166, 177

Reservestoffe der Zelle . . , 177, 280 Resorption, Begriff der . . . 147, 156

5lechanik der 529

Rheochord 413

Rheotaxis 450

Rhizoplasma Kaiseri, Einfluss

der Temperatur auf die Protoplasmabewegung von . 397

in sauei'stofffreiem Medium. 289 Rhythmicität der Flimmerbewe- gung 252

Richtungskörperehen . . . 200, 201

Rohrzucker 115

Rose von Jericho 228

Rotation des Protoplasmas in

den Pflanzenzellen .... 244 Rückenmark 587

S.

Saeoharomyces siehe „Hefezellen". Salze, anorganische, der lebendigen

Substanz 117

Sarkin, siehe ,,Hypoxanthin".

Sarkode, Begriff der 68

Sarkolemm 247

Sarkoplasma 246

292 586 586 534 .547 492 204 358 496 352 496 354 498 3.53

Seite Sauerstoff, Aufnalime durch den

Organismus 147, 179

Ausscheidung durch die grünen Pflanzen 178

Eiitdeekun.ii- des 12, 286

Partiardruck des . . . 286, 297

Procentgehalt der Atmo- sphäre an 286

Schachtelhalme , Elateren der

Sporen von 228

Pliototaxis der Sporenzellen

dpi- 453

Scheintod 131, 136

Schlangenbeschwörer , Experi- ment der ägyptischen . . . 501

Schlangengift 181

Schleim, sielie ..Mucin".

Schleimmetamorphose 337

Schleimsecretion 175

Schleimzellen 17-5, 337

Schliessungsdauercontraction . 419 Schlingpflanzen, Thigmotaxis der 447

Schlitteninductorium 416

Schmeissfliege , Entstehung von Fett aus Eiweiss in den

Maden der 169

Schutzmittel, chemische Seh. der

Thiere und Pflanzen . . . 177 Schwärmsporen, Chemotaxis der 437

Phototaxis der 4-54

I Schwefelbakterien, Stoffwechsel

I der 283

I Schwefelsäure, Fabrication der

englischen 128, 162, 490

Sehwimmplättchen der Kteno-

phoren 253

Secret, Begriff des 171

Secretion 171

Mechanik der 529

Seelenlehre der Aegypter .... 8

Seifen 117

Selaginella lepidophylla, Qucl-

lungsbewegungen von . . . 228 Selbststeuerung des Stoffwechsels

der lebendigen Substanz . . 495 Selection, künstliche 192

natürliche 191, 192, 322

Selectionstheorie Darwin's

28, 191, 321, 581

des Empedokles 9, 28

Sensibilität der Nerven 18

Serumalbumin 110

Serumglobulin 111

Skelettformen der Zelle 549

Skelettsubstanzen als Secrete der

Zelle 178

Ausscheidung der . . . 172, 178

chemische Zusammensetzung

der 112

Spannkraft 27, 216, 360

Specialforschung, Fehler der ein- seitigen 2

Specifische Energie. Johannes

Müller's Lehre von der 22, 479

604

Sachverzeichniss.

Seite Speeifisehes Gewicht der leben- digen Substanz 100

Speichelkörperchen, Molekular- bewegung in den 225

Speicheldrüsenzellen. . . . 471, 522 Sperling, Ermüdung der Granglien-

zellen beim 470

Spermatozoen als männliche Ge- schlechtszellen 195

Chemotaxis der 440

Entdeckung der 16, 203

Kopf und Schwanz der . . 204

Rheotaxis der 450

vom Salamander 82

vom Mensehen 252

verschiedene Formen der . 204 Sphaerechinus granularis, Ba- stardbefruchtung mit Echi-

nus mikrotuberculatus . . . 512 Spinndrüsenzellen, Zellkerne der

Sp. von Raupen 93, 521

Spirillum undula 71, 371

Chemotaxis von 442

Spiritus animales, Lehre von den

13, 105

Spirochaete 439

Spirogyra, Anordnung der Zellen

von 582

Athmung des Protoplasmas

in den Zellen von 526

Narkose von 377

Stärkebildung in kernlosen Protoplasmamassen von . . 524

Verhalten des Zellkerns bei

der Narkose der Zelle . . . 526

Verhalten kernloser Theil- stücke von 519

Spirostomum ambiguum, Gal- vanotaxis von 465

körniger Zerfall von. . . . 331

Metachronie der Peristom- wimperbewegung von . . . 580

Narkose von 476

Spongin 112

Sporen der Bakterien 285

der Myxomyceten 77

der Schachtelhalme . . 229, 453

desHeubacillusbeimKochen 296

des Milzbrandbacillus beim Kochen 296

von Colpoda cucullus . . . 210 Sporenbildung 202

von Bacillus butyricus. . . 285

von Colpoda cucullus . . . 210 Staat, morphologischer Begriff des 62

Stachelhäuter 321

Stärke, Assimilation der 164

im Protoplasma der Zellen. 119

in Chloiophyllkörpern . . . 164

in Pflanzenzellen . . . .86, 115

Verdauung der 160

Stärkekörner in Pflanzenzellen 86, 115

von der Kartoffel, vom Mais,

von der Erbse 86, 115

Stammbaum der Organismen . 320

Seite Stammesentwicklung(Phylogenie)

183, 213 Staphyloeoccus pyogenes albus 436

Steapsin 160, 176

Stentor, Zellkern des 93

Stentor coeruleus, Contractions-

bewegungen von 245

mechanische Reizung von . 389

Nahrungsaufnahme von . . 532

Narkose von 380

Stentor polymorphus, Fortpflan- zung durch Theilung . . . 194

Stentor Roeselii, Regeneration

der Theilstücke von 64, 300, 547

Zerschneidung des . . . .63, 547 Stephalia corona, Anatomie der 62 Stiehopus , Schleimmetamorphose

von 338

Stickstoffausscheidung im Harn 180

Stickstoff bakterien 146

Stickstoffgleichgewicht . . 279, 370 Stoff, Gesetz von der Erhaltung des 26 Stoffwechsel als Charakteristicum

des lebendigen Organismus

128, 134, 315

als Lebens Vorgang .... 484

bei der Fabrication eng- lischer Schwefelsäure . . . 128

Schema des St. in der Zelle 527 Stoffwechselgleichgewicht . 279, 494

Strom, galvanischer 268, 408

Stromschlüssel 410

Structur, Begriff der 544

Stylonychia, e'nWimperinfusorium 81 Syncytium, Begriff des 78

T.

Tange 821

Teleologie in der Naturwissen- schaft 187, 323

Temperaturmaximum 295

Temperaturminimum 293

Tetanus, galvanischer 430

mechanischer 390

vollkommener und unvoll- kommener 431

Tetanusbakterien, anaerobe Le- bensweise der 292

Thalassicolla nucleata, eine Ra-

diolarienzelle 85

Isolirung des Zellkerns von 512

Lichtproduction der .... 375

mechanische Reizung von . 384

Nahrungsaufnahme des kern- losen Protoplasmakörpers der 518

Schaumstructur des intra- capsulärcn Protoplasmas von 90

Sporenbildung von 348

Steigen und Sinken der . . 234 Theoconus, ein Radiolar . . 178, 550 Theoria generationis Caspar

Friedrich Wolb'f's 18

Thermotaxis 457

Thiere, Ernährung der 146

Sachverzeiclmiss.

605

Seite

Thigmotaxis 445, 582

Tod als Aiipnssinigsersc'hoimiuf;^ . 846

Eutwiokliuig des . . . 1:57, :3'24

Moment des 18(3

nutürlielier 848

Ursache des 849

Todtenstarre der Muskeln . . . 187

Tonus 863

Torpedo, siehe „Zitterrochen".

Toxalbumine 181

Toxalbumosen 181

Toxine 180, 472

Tradescantia, galvanische Rei- zung von 428

Protoplasmaströmung in den Zellen der Staubfädenhaare

von . . . , 98, 244, 897

Vacuolen in den Zellen der Staubfiulenhaare von ... 85

Transpiration der Pflanzen . . . 179 Traubenzucker als Product der

Eiweisszersetzung . . . 118, 169

Zusammensetzung des . . . 114

Trophotaxis 485

Trypsin 112, 160, 176

Tubei'culin 181

Tuberkelbaeillen, Eintluss der

Temperatur auf 896

Turgor der Zelle 280

Turnfieber 472

U.

Ueb erleben der Flimmerzellen in

der Luftröhre 187

der Leukocyten 187

der Muskeln und Nerven beim Kaltblüter 1.37

Ueberreizung 476

Ulothrix, Phototaxis der Schwärm- sporen von 454

Ulva, Phototaxis der Schwärra-

sjjoren von 454

Unsterblichkeit, körperliche . . 345

Urdarmthiere 321

Urnahrung, Eiweiss als. . . 147, 562 Urostyla grandis, Wimperbe- wegung von 255

Urzeugung der Fische, Insecten

und Würmer _. . 802

der Infusorien und Bakterien 302

EinAvände gegen die Lehre

der 306

in der Jetztzeit 804

in früherer Zeit 804

Lehre von der . . . 16, 20, 802

V.

Vacuolen im Protoplasma ... 85 pul sir ende oder contractile

85, 171 Vampyrella spirogyrae, Nah- rungsauswahl von . . . 158, 533

Seit« Variabilität, individuelle . . 191, 321 Vaucheria Kugelbildung des Pro- toplasmas von 97

Verdauung, cxtracellulare und

intriici'Ilulari- 156

Vererbung als formerhaltendes

Moment 212

Beziehung zum Stoffwechsel

der Zelle ,551

der Zellkern als angeblicher Träger der 511

erworbener Eigenschaften

185, 822

Mechanik der 'thO

Verkalkung der Zellen 340

Vervollkommnung in der Ent- wicklung 323

Verwandtschaft , Begriff der

natürlichen 184

Verwesung 380

Vie latente 186

Vitalismus 19, 48

mechanischer 46

psychischer 47

Vitelline, Eigenschaften der. . . 111 Vivisection, Ctalen's Einführung

der 10

der Zelle 55

Vorticella als Neuromuskelzelle 586

chemi che Reizung von . . 378

mechanische Reizung von . 892

Myoide der 246

Nahrungsaufnahme der 151, 532

Zellkern der 93

W.

Wachsthum, Bewegungen durch 287

Beziehung zur Assimilation 492

Beziehung zur Fortpflanzung 193

Einfluss der Temperatur auf

das 896

Lähmung des W. durch Nar- kotica 877

Mechanik des 534

Warmblüter 222, 261

Wärmeregulation der . . . 395 Wärmeeinheit, siehe „Calorie".

Wärmeäquivalent 217

Wärmestarre 400

Wärmetönung, positive und nega- tive 219

Wasser als allgemeine Lebens- bedingung 284

Excretion von 172, 179

Proceutgehalt der lebendigen Substanz 117

Weichthiere 821

Weltformel, Du Buis-Reymond's

Fiction einer 83

Wimperzellen 81, 251

Winterschlaf 131

Wirbelthiere 321

Würmer 821

606

Sachverzeichniss.

.Seite

X.

Xanthin . . . 1 11, 113, 167, IbO, 488

Z.

Zellen als Elementarorffanismen . 63

als Objecte der Pliysiologie 51

amoeboide Formen der . . 79

Aufbau der Organismen aus 27, 65

Definition der 72

Entwicklung der. . 209, 536, 539

Fortpflanzung der 537

Kern und Protoplasma im Stoff'wechsel der 517

künstliche 173

Schema des StoffAvechsels der 527

specifisches Gewicht der 100, 233

Turgor der 230

vielkernige 75

Wachsthum der 535

Zellenstaat, Abhängigkeit und

Selbständigkeit der Zellen

im 575

Zellentheorie 28, 68

Zellinhalt, flüssige Natur des . . 97 Zellkern, Betheiligung an der

Thätigkeit der Zelle. . . 117 flf.

Seite Zellkern der Samenmutterzellen

vom Pferdespulwurm ... 94

Entdeckung des 27, 69

Formen des 92

Inhaltsbestandtheile des . . 94

Membran des 523

ruhender 198

Structur des 95

Theilung des ... .. 197, 198

Theorie von der Alleinherr- schaft des 510

Verhalten bei der Ermüdung

der Zelle 470

Zellknorpel 75

Zellmembran 68

Wachsthum der 173

Zell theilung, Mechanik der . . . 537

verschiedene Formen der 196, 200

Zerfall, körniger 321

Zitteraal 273

Zitterrochen 272

Zooehlorellen 87

Zooxanthellen 87

Zuchtwahl, natürliche 322

Zuckungscurve des Muskels . . 429 Zweckmässigkeit, Entstehungder

Z. in der lebendigen Natur 187 Zygnema , kernlose Tlieilstücke

von 519

Pierer'sche Hofbucbdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg

COLUMBIA UNIVERSITY

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V612 1897

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